Neue
Jahrbücher für
Philologie und
Paedagogik
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I
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NEUE JAHRBUCHER
FÜR
PHILOLOGIE UND PAEDAGOGIK.
GEGENWÄRTIG HERAUSGEGEBEN
VON
ALFRED FLECKEISEN und HERMANN MASIUS
PROTZSSOIl IX DK KS DK 5 PROPTKSOR tW LRIPZtO.
Eun U ND SECHZIGSTER JAHRGANG.
EINHUNDERTUNDVIERUNDVIERZIGSTER BAND.
LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER.
1891.
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JAHRBÜCHER
FÜR
PHILOLOGIE und PAEDAGOGIK.
ZWEITE ABTEILUNG.
HERAUSOEGEBEN
VON
HERMANN M A S I U S.
SIEBENUNDDREISZIGSTER JAHRGANG 1891
ODER
DER JAHNSCHEN JAHRBÜCHER FÜR PHILOLQGIE UND PAEDAGOGIK
EINHUNDERTUNDVIERUNDVI ERZIGSTER BAND.
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LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER.
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v. M
ZWEITE ABTEILUNG
FÜB GYMNASIALPiDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
DIE NACHAHMUNG CICEROS AUF UNSEREN GYMNASIEN.
Jeder fachmann weisz, dasz bedenken wegen des freien latei-
nischen aufsatzes auf dem gymnasium vereinzelt schon im vorigen
Jahrhundert laut geworden sind und im laufenden Jahrhundert von
Jahrzehnt zu jahrzehnt in verstärktem masze. zur zeit unserer väter
und groszv&ter lag aber die sache doch noch wesentlich anders als
jetzt, bei der machtstell ung, die das latein damals in den lebrplKnen
und im ganzen leben der gelehrtenschule noch hatte, konnte bei
niemandem der zweifei auftauchen, ob etwa der jugend durch jene
forderung zu viel zugemutet werde, nach dem vieljährigen latein-
lesen, lateinsprechen und lateinsprechenhören fiel auf der obersten
stufe der freie aufsatz gleichsam wie eine reife frucht vom bäume,
ebenso wenig konnte der praktische nutzen dieser Übungen in zweifei
gezogen werden in einer zeit, da die hälfte der wissenschaftlichen
Schriften noch lateinisch geschrieben wurde, lateinische Vorlesungen,
disputationen, festreden u. dgl. noch im schwänge waren, bedenken
gegen den lateinischen aufsatz konnten daher damals im wesentlichen
nur darauf hinauslaufen , ob aus idealen rücksichten andern schrift-
lichen Übungen im latein nicht der vorzug zu geben sein möchte.
Das ist alles anders worden in dieser neuen zeit, nur von alt-
classischen philologen und theologen wird das lateinsprechen und
•schreiben heutzutage einigermaszen gepflegt, immer seltener er-
scheint in Deutschland neben tausenden von deutsch abgefaszten ein
lateinisch geschriebenes umfängliches werk; denn die groszen kri-
tischen classike rausgaben bieten zusammenhängende lateinisch ge-
schriebene erOrterungen doch meist nur in den prolegomenen. ganze
disciplinen der al tertums Wissenschaft , z. b. litteraturgeschichte,
mythologie, altertttmer, vergleichende grammatik, haben sich der
lateinischen gewandung völlig entwöhnt, so dasz der doctorand,
H. jahrb. f. phil. u. päd. Ii «bt. 1891 hfl. 1. 1
MIT AU88CHLU8I DKK CLA8S ISCHEN PHILOLOGIE
HERAU8GEGEBEN VON PROF. DR. HERMANN MaSIUS.
L
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2 Die nachahmung Ciceros auf unseren gymnasien.
welcher die anlegung der lateinischen Zwangsjacke geboten erachtet,,
sich nicht nur unbehaglich in derselben fühlt, sondern öfters wegen
der kunstausdrticke ernstlich in Verlegenheit gerät, lateinische fest-
reden hört man fast nur noch in den valedictionsacten der abi-
turienten.
Dazu hat sich unzweifelhaft herausgestellt, dasz schwächer©
schtiler der meisten gymnasien einigermaszen annehmbare lateinisch©
aufsätze nicht mehr lief ern können, wenn sie für diese leistung"
nicht auf kosten ihrer allgemeinen entwicklung künstlich gedrillt
werden, das sei nur unumwunden zugestanden, an einzelnen schulen
mag sich die Sachlage etwas günstiger darstellen, im allgemeinen
steht es wohl, wie wir sagten.
Ist doch zu den Schwierigkeiten, die in der aufgäbe an sich
liegen, in diesem jahrhundert noch eine neue besondere gekommen,
die neuere lexicographie , Synonymik, Stilistik, welche alle früheren
leistungen auf diesen gebieten in tiefen schatten stellen, haben
massen von einzelbeobachtungen aller art aufgehäuft, die kaum der
fachmann notdürftig zu bewältigen vermag, der Sprachgebrauch
zahlreicher lateinischer schriftsteiler ist so genau durchforscht wor-
den, dasz über denselben Zusammenstellungen von fast statistischer
genauigkeit vorliegen, die ihrer zeit mit recht so hoch gehaltenen
stilistisch. antibarbaristischen arbeiten eines Cellarius, Vavassor,
Vorstius und Noltenius haben heutzutage , abgesehen von ihrer ge-
schichtlichen bedeutung, nicht viel mehr als maculaturwert. die
hälfte der behauptungen, welche jene vielbelesenen lehrmeister der
casta Latinitas ausgesprochen haben , müssen wir neueren nach der
oder jener seite beanstanden auf grund unanfechtbarer einzelfor-
schungen. das Verhängnis des deutschen gymnasiums hat es nun
gewollt, dasz dasselbe von diesen neuen errungenschaften der latei-
nischen Sprachwissenschaft mehr als billig zu kosten bekommen hat.
von aufläge zu aufläge wurden die schulgram matiken reicher an
feinen Unterscheidungen, an geboten und verboten, von denen sich
die gefeiertsten Latinisten früherer zeit nichts hatten träumen lassen,
die nachahmung Cicero 8 insbesondere, welche in früheren zeit-
läufen wesentlich aufs viele lesen und anempfinden angewiesen ge-
wesen war, erhielt in den weit verbreiteten Übungsbüchern des treff-
lichen M. S e y f fe r t ein werk- und rüstzeug , das man in seiner art
clasBisch nennen durfte, wie viel schülerfleisz und noch mehr lehrer-
fleisz ist auf die palaestra, scholae und progymnasmata Seyfferts
verwendet worden! sicher nicht ohne gewinn; denn jede ernste,
uneigennützige arbeit fördert den arbeiter und bleibt nicht ohne
frucbt. überwiegend aber, das ist unsere entschiedene ansiebt, hat
sich diese richtung als nachteilig für die schüler erwiesen, als
um 1850 die Seyffertschen bücher sich den eingang in die gymna-
sien zu bahnen an fi engen , war geläufigkeit im lateinschreiben und
lateinsprechen kaum noch auf den fürstenschulen und verwandten
anstalten zu finden, nun kam das kalte sturzbad der enthüllungen
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Die nachahmung Ciceros auf unseren gymnasien. 3
darüber, was in bezug auf Wortschatz, Wortverbindung, Wortstellung,
satzverkntipfung usw. f Ciceronianisch, sei , was nicht, was folgte,
liesz sich voraussagen, die geübtesten Lateiner wurden kopfscheu,
bestand doch vor dem richterstuhle des vielbelesenen Ciceronianus
Seyffert kein modernes latein mehr, auch nicht das eines F. A.Wolf,
Böckh und G. Hermann, wer damals mitten in der lehrarbeit ge-
standen hat, wird es bestätigen, dasz alle, lehrer wie schüler, mit
ihrem lateinschrei ben immer zaghafter wurden, immer mehr hilfs-
bücher wälzten und dabei doch nie zu einer genüge kamen. Cicero
und Caesar waren für den Stilisten die einzigen Standard authors.
ihnen suchte man 'jedes räuspern und spucken (nach bekanntem
Schillers chcn kraftwort) abzugucken'; eine kleine einschmuggelung
von Sallost oder Liviüs galt schon als contrebande.
Der erfrischende hauch der siebenziger jähre hat ja viel von
alledem hinweggeweht, freiwillig oder notgedrungen ist man davon
zurückgekommen, Ciceronianischen color in den schülerarbeiten zu
verlangen, muste man doch vielfach froh sein, wenn diese überhaupt
lateinischent ragen, aber die alte Harmlosigkeit ist dahin — für
immer, der geschulte lehrer kann sich dessen selbstverständlich
nicht entäuszern, was er gelernt hat. übt er auch dem schülerlatein
gegenüber weitgehende nachsieht; für seine person wird er sich
nimmer entschlieszen können, des sermo vulgaris der alten latein-
redenchen herren sich zu bedienen, nachdem die Wissenschaft in diesem
solöcismen und barbarismen in menge nachgewiesen hat.
Nach der bisherigen erörterung könnte es scheinen, als sollte dem
freien lateinischen aufsatz, der schon so gut wie ausgelebt hat, noch
ein unnötiger todesstosz versetzt werden, das ist nicht unsere absieht,
als maszgebende Pflichtleistung, als ständige Übung für prima dürfte
der aufsatz kaum irgendwo in Deutschland das jähr 1892 überleben,
nach dieser seite würde somit ein abwägen des für und wider ziem-
lich unnütz sein, hoffentlich verfällt man aber auch nicht in das
andere extrem, Übungen dieser art ganz zu verpönen. das hiesze der
schule untersagen, einem natürlichen trieb der strebsamen schüler
befriedigung zu gewähren, wer sechs, sieben jähre lang eine fremde
spräche betrieben hat, wird bei seinen schriftlichen Übungen nicht
immer nur am leitseil gehen mögen, abhandlungen freilich mit teilen
und unterteilen zu schreiben möchte wohl wenige jünglinge gelüsten,
aber die au ff orderung, etwas zusammenhängend lateinisch nachzu-
erzählen oder zu erörtern, einen selbst erdachten lateinischen brief
zu schreiben u. dgl. wird dem strebsamen sicher nirgends unwill-
kommen sein , zumal wenn derartige Übungen nicht die regel , son-
dern die ausnähme bilden, also nicht der aufsatz an sich ist uns
anstöszig, sondern der druck, den die sorge für die classicität des
lateins, d. b. im letzten gründe die nachahmung Ciceros noch
immer auf die schreibübungen der schüler und auf den ganzen latei-
nischen Unterricht ausübt, in diesem punkte möchte nicht blosz —
wie dies bereits seit jähren in beachtlicher weise geschehen ist, —
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Die nachahmung Ciceros auf unseren gymnasien.
am bestehenden gebessert, sondern mit dem ganzen sy stein
herzhaft gebrochen werden.
Latein schreiben müssen unsere gymnasiasten, das steht mir
fest, mag man den zweck des Unterrichts in den alten sprachen
feststellen, wie man will, ein gewisses masz von schreibttbungen
auch in den oberclassen ist schlechterdings unentbehrlich, selbst
der reife mann, der fremde sprachen erlernt, wird das gefühl der
beherschung derselben erst dann erhalten, wenn er sie schreiben oder
sprechen kann, kein professor des altenglischen oder arabischen,
und wenn er zu den schwierigsten litteraturwerken noch so gelehrte
commentare schreibt, wird das geftlhl der freien yerfUgung über
diese sprachen haben , dafern er nicht neben dem lesen sich auch in
der handhabung derselben irgendwie geübt hat. beim latein auf dem
gyninasium kommt dazu, dasz bis zu einem gewissen grade die spräche
doch auch um ihrer selbst willen erlernt wird.
Die forderung der classicität aber in der weise, wie sie der
lateinunterricht hier und da noch immer stellt, läszt sich meines er-
achtens unter keiner rücksicht mehr aufrecht erhalten, der sprach-
gebrauch des Caesar und Cicero ist durch lexica und einzelschriften
so ziemlich festgestellt (bezüglich Ciceros bekanntlich noch lange
nicht vollständig), wie Varro, Asinius Pollio und manche andere
gediegene Schriftsteller der classischen zeit geschrieben haben, davon
wissen wir herzlich wenig; denn von Varro sind uns gerade nur zwei
ziemlich trockene Schriften erhalten, genauer von der einen nur ein
fünftel, an der geschichtserzählung des Livius erbaute sich das
Zeitalter des August us, wenn feine groszstäd tische obren auch einige
provincialismen an ihr auszusetzen hatten, der bescheidene Quinti-
lian schaut zu Cicero zwar ehrerbietig auf als zu einem nicht zu er-
reichenden rednerischen vorbilde, aber das gefühl, als sei er ein
halber barbar diesem classiker gegenüber, ist ihm, dem Spanier,
völlig fremd, dasz bezüglich des Wortschatzes, des wortgebrauchs
eine wirkliche kluft bestehe zwischen ihm und seinem groszen meister,
wird ihm nicht beigekommen sein anzunehmen, auch lag zu solcher
annähme für ihn gar kein anlasz vor; so sehr hatte sich das neue
durch naturgemäsze Weiterbildung aus dem alten entwickelt, noch
weniger wird der selbstgefällige jüngere Plinius gemeint haben eine
andere spräche zu reden als die des Urbanen Ciceronianischen lateins.
von Livius ab hatte man sich allmählich, wie bekannt ist, gewöhnt,
dem prosaischen stil durch dichterische freiheiten und dichterischen
redeschmuck einen gewissen schwung zu verleihen, eine andere
richtung knüpfte dagegen an an die körnige sentenziöse kürze der
älteren zeit, man wurde pathetischer, declamatorischer ; man fieng
an glänzend zu schreiben; dabei kam, wie zugegeben ist, neben
packendem und geistvollem auch viel bombast und manier zu tage,
das alles kann man unumwunden zugeben; damit ist aber noch nicht
gesagt, dasz mit Ciceros tode der mustergiltigen latinität der lebens-
odem ausgegangen sei. es war nicht anders damals, als z. b. in unserem
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Die nachahmung Ciceros auf unseren gymnasien. 5
jahrbundert mit dem deutschen stil. die prosa von Goethes Wilhelm
Meister, dichtung und Wahrheit usw. schreibt heutzutage kein mensch
mehr, kann sie nicht mehr schreiben und möchte sie wohl auch kaum
schreiben, unser geschmack ist eben ein anderer geworden; wir
immer gehetzten modernen bedürfen raschere tempi und kräftigere
reizmittel der darstellung, um überhaupt bei einer lectttre auszu-
haken, unbewust sind daher alle modernen Stilisten auf gewisse
reizmittel bedacht gewesen, der eine ergeht sich in groszartigen,
reich ausgestatteten perioden; der andere zerhackt seine gedanken
in kurze, nach art Senecas sentenziös zugespitzte sätzchen ; ein dritter
coquettiert mit einer studierten einfachheit der darstellung; ein
vierter sucht zu fesseln durch geistesblitze, durch blendendes wort-
und gedankenspiel; andere wirken durch 'schneidigkeiten'/schnauzig-
keiten', f schnotterigkeiten', um für die moderne sache auch ganz
moderne ausdrücke zu brauchen, genau so war es in der argen tea
aetas. leicht könnte man den angesehensten Schriftstellern jenes
Zeitalters deutsche Stilisten unseres jahrhunderts von ähnlicher art
gegenüberstellen, keiner unserer neueren deutschen Stilisten, so sehr
er sich auch sonst bescheidentlich als epigone fühlen mag, wird aber
meinen, er schreibe ein toto genere anderes neuhochdeutsch als
Schiller und Goethe, man ist sich gewisser unterschiede der Zeit-
alter bewust, wie Quintilian es war und die Sprecher in Tacitus dia-
logus gegenüber dem Zeitalter des Cicero, aber keiner tiefgehenden
und wesentlich trennenden.
Wozu die ganze ausführung? sie soll darthun, dasz es durchaus
ungerechtfertigt ist, die mustergültige periode der lateinischen prosa
in die kurze spanne etwa von 70—40 vor Christi geburt einzuengen,
allerdings stammt diese, wie wir meinen, engherzige auffassung schon
aus dem altertum. indem die antiquarii von Hadrians zeit ab, ver-
ächtlich die leistungen des ersten jahrhunderts ignorierend, nur die
antiqui von Cato bis Cicero und auszerdem blosz die schriftstellerei
gewisser neuerer archaisierenden grammatici gelten lieszen, haben
sie der irrtümlichen auffassung die wege gebahnt, als beginne mit
Ciceros tod nach allen seiten der verfall der lateinischen prosa , als
seien die von da ab eingeschlagenen wege nur abschüssige gewesen,
jene einseitige auffassung hat ihren verhängnisvollen einflusz aus-
geübt auf die späteren sammelnden römischen grammatiker. der
humanismus setzte bekanntlich wieder mit einer verherlichung Ciceros
ein , welche bei einzelnen namhaften Vertretern der neuen richtung
gar seltsame biUten trieb, die folgenden jahrhunderte wurden, wie
alle sachkundigen wissen, bezüglich des lateinischen stils weither-
ziger, wenn Cicero auch verdientermaszen als höchstes Vorbild glatten
stils und rednerisch wirksamer ausdrucks weise seine ehrenstellung
behielt, einzelne namhafte gelehrte scheuten sich nicht, für ihre
person muster wie Livius, Sallust, Tacitus sich auszuerlesen. so
bildete sich allmählich das gelehrte 'Vulgärlatein' heraus, welches
im allgemeinen zwar an den usus des Cicero sich anlehnte, im ein-
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6 Die nachahmung Ciceros auf unseren gymnasieo.
zelnen aber zahlreiche , in den fachdisciplinen oft recht weitgehende
freiheiten sich gestattete.
Der harmlose wahn, dasz man in gelehrten kreisen ein ganz
gutes latein von Uberwiegend Ciceronianischer färbe schreibe, wurde
in Deutschland nun um die mitte dieses Jahrhunderts, somit gerade
zu einem Zeitpunkte verscheucht, da das deutsche gymnasium bereits
sich in der notlage befand , bezüglich des altclassischen Unterrichts
ein segel nach dem andern einziehen zu müssen, das muste ver-
hängnisvoll werden.
Ehedem bildete sich jeder philologisch gut geschulte landpastor
ein, ein latein zu schreiben, das sich könne hören lassen, nun kamen
die Haarspaltereien der Ciceronianissimi bezüglich der hunderterlei
einzelheiten des classischen Sprachgebrauchs, dazu noch, um die un-
behaglichkeit zu verstärken, moderne Orthoepie mit ihren kleinlich-
keiten. was wunder, wenn einer nach dem andern von den tren
bewährten bejahrten fürsprechern der lateinisch-griechischen schul -
Studien das geltibde that, fortan höchstens im geschlossenen kreise
der 'alten herren' ein lateinisches sätzchen zu sprechen?
Dazu kam nun der Umschwung aller unserer ideen in dieser
neuen zeit, bis ins zweite drittel des vorigen jahrhunderts hatte das
wort nachahmung noch keinen widerwärtigen beigeschmack in
ästhetischen kreisen, von nachahmung des Horaz, Anakreon, Yergil,
Homer, Shakespeare usw. war sattsam damals die rede, mit Herder,
Goethe und den romantikern sind wir Deutsche nun zwar keine
'originalgenies' geworden und die meisten von uns werden daher
nach wie vor sehr gut thun, bei irgendwelchen geistigen Schöpfungen
sich thatsächlich an grosze Vorbilder bescheidentlich anzulehnen,
immerhin, aus dem ganzen nachahm ungsgedankenkreis haben
wir uns völlig herausgelebt, und nun eine nachahmung Ciceros,
des einen Cicero, in den jähren der frischestenjünglingsentwicklung!
eine unerträgliche losung für die jetztzeit. bekanntlich ist nun nahezu
gleichzeitig mit M. Seyfferts Schulbüchern die erste aufläge von
Mommsens römischer geschichte in den bereich der schule einge-
drungen, die überaus geringschätzige beurteilung, welche der ge-
nannte grosze meister dem Staatsmann und menschen Cicero ange-
deihen liesz, konnte nicht ohne einflusz bleiben, so redlich man auch
bestrebt gewesen ist, für den herabgesetzten der jugend gegenüber
einzutreten, die letzten jahrzehnte haben auszerdem bekanntlich
noch dahin zu wirken gesucht, dem ehedem so gefeierten noch den
letzten kränz vom haupte zu reiszen , den Mommsen ihm gelassen
hatte, den der stilistischen meisterschaft. in dem unerfreulichen
schulstreit, von dem manches geplänkel sich leider auch in viel-
gelesenen tagesblättern abgespielt hat, ist manches vernichtende
wort gefallen über die breite, gedankenarmut und phrasenhaftigkeit
des Ciceroniauischen stils. aus dieser ganzen Sachlage vermag ich
nur das einzige facit zu ziehen: brechen wir mit der imitatio
Ciceronis grundsätzlich und endgültig!
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Die nachahmung CiceroB auf unseren gymnasien. 7
Weder volks- noch staatsreden hat heutzutage jemand in latei-
nischer zunge zu halten; lateinische briefe schreiben sich nur noch
wenige gelehrte Sonderlinge, alle unsere Wissenschaften sind aus
dem Prokrustesbette der lateinschreiberei befreit, nur im bereiche
der Universität und der schulprogrammlitteratur spielen die latei-
nisch geschriebenen abhandlungen noch eine bescheidene rolle, sehen
wir uns diese aber genauer an, so werden wir finden, dasz dieselben
— abgesehen vielleicht Von einigen rednerisch gefärbten anfangs-
und schluszpartien — weit mehr an den stil des Quintilian, des
ältern Plinius, des Frontin und Vitruv als an den des Cicero ge-
mahnen, angestrebt wird natürlich auch in ihnen Ciceronianische
Phraseologie ; aber die ganze färbung des stils ist keine Ciceronia-
nische, und sehr mit recht, da Cicero eben redner und popularschrift-
steller, nicht aber gelehrter war.
Also soll alles künftig in lateinischer rede und scbrift frei
passieren , was nicht gerade gegen die eingeführte schulgraramatik
verstöszt? wir nehmen nicht anstand die frage zu bejahen mit der
beschränkung: wenn es aus eigner lectüre stammt, die römischen
Prosaiker vor Sallust und nach Tacitus, bzw. Sueton lernt der schüler
heutzutage durchschnittlieh überhaupt nicht kennen, von dem aber,
was zwischen diesen grenzen liegt, sollte ihm, das ist unsere meinung,
nichts durch abwägen der gröszeren oder geringeren classicität ver-
leidet werden, es kann dabei doch nichts ordentliches in wissen-
schaftlicher beziehung herauskommen und den eindruck einer vor
der modernen Weltanschauung schwer zu rechtfertigenden* kleinlich-
heit wird es nur zu leicht auf die frische jugend machen, wenn
Wörter und Wendungen in den scriptis von 1891 beanstandet wer-
den, welche Römer wie Livius und Quintilian wenige jahrzehnte
nach der blütezeit der classischen prosa gebraucht haben.
Der befürchtung, dasz nach der niederreiszung der näher be-
zeichneten engen schranken in den lateinischen stilübungen der
schüler nun eine wahre Verwilderung einreiszen werde, gebe ich
keinen raura. auf den gedanken, irgend einen lateinischen schrift-
steiler i Ucksicht lieh des ganzen genus dicendi copieren zu wollen,
wird sicherlich kein schüler der jetztzeit verfallen; dazu ist er mit
keinem derselben vertraut genug, indem er öfters sich darin übt,
das deutsch von ihm gedachte und empfundene nach gewissen scbul-
regeln und leetüre-erinnerungen lateinisch auszudrücken, wird jeder
schüler eine art von lateinischem stil sich allmählich selbst bilden,
die ihm gemäsz und, so zu sagen, sein eigentum ist. die gefahr, dasz
ein schüler Ciceronianische und Livianische perioden mit abgerissenen
Taciteischen sätzen zusammenmenge , ist thatsächlich nicht vorhan-
den, das wird jeder erfahrene lateinlehrer in oberclassen bestätigen,
dazu gehörte eine ganz anders umfangreiche und vertiefte lectüre, als
unsere gymnasialjugend sie kennt, somit würde das laxere verfahren,
das wir befürworten, im wesentlichen doch nur den nachteilhaben,
dasz ungescheuter als bisher Wörter, Wortverbindungen, wortstel-
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Die nachahmung Ciceros auf unseren gymnasien
lungen in scbülerarbeiten sich herauswagen, welche das drohende
anathema 'nicht bei Caesar und Cicero' bisher verscheucht hatte,
würde das ein misstand sein des aufhebens wert? wir meinen nicht,
wälzt ein schüler einmal das lexikon, so mag er nach wie vor auf an-
weisung die classische phrase vor der nachclassischen bevorzugen,
aber ihm zu verbieten, beim sprechen und schreiben ex tempore die
erinnerungen aus seiner gesamten lateinischen lectüre zu verwerten,
ist eine härte an sich und der neuzeit gegenüber musz es erscheinen
als eine philologische borniertheit. was classisches latein ist, was
nicht, weisz heutzutage, da alle einschlägigen einzelfragen so viel
untersucht und zugespitzt sind, kein lehrer ohne seinen gelehrten
ap parat, hinweg darum mit der antibarbari- und Stilistiken Weisheit
in einer zeit , die am liebsten die ernsteren altertumsstudien ganz
hinwegfegen möchte!
Was dadurch an zeit und kraft gewonnen wird , komme vor-
nehmlich der Vertiefung und erweiterung der lectüre zu gute, ja,
auch der erweiterung trotz allem tiberbürdungsgeschrei ! wenn
Cicero , der ein geachteter schulschriftsteller hoffentlich immer blei-
ben wird, als der popanz des lateinunterricbts beseitigt ist, dann
findet sich hoffentlich zeit, dasz unsere deutsche jugend von den be-
deutenden Schriftstellern ab excessu divi Augusti bis zum tode Tra-
jans noch einig? andere auszer Tacitus kennen lernt, wenn auch nur
(wie dies in England und Frankreich längst geschieht) in sorgfaltig
bearbeiteten Chrestomathien, unsere bedenklichkeitskrämer werden
voraussichtlich gegen diesen gedanken sich erklären mit den be-
kannten einwendungen gegen alle blumeniesen, wir aber meinen,
dasz das bessere nicht der feind des guten sein dürfe.
Dresden. Theodor Vogel.
2.
EINIGE FRAGEN ZUR REFORM DES GYMNASIAL-
UNTERRICHTS.
Nicht einen neuen reformvorschlag zu der ohnehin schon unge-
bührlich groszen zahl von versuchen die brennende frage des höheren
Unterrichts zu lösen wollen sich die folgenden Zeilen zu fügen unter-
fangen, die Überschrift, mit welcher sie eröffnet sind , soll weiter
nichts bedeuten, als dasz sie auf gewisse Schäden, welche dem huma-
nistischen gymnasium anhaften und welche nur allzu geeignet sind
unsere sache auch bei den freunden der altclassischen bildung in
miscredit zu bringen, die aufmerksamkeit lenken und zur heilung
derselben und somit zur gesunden reform des gymnasiums ein scherf-
lein beitragen wollen, selbst auf die gefahr hin, dem Vorwurf be-
gegnen zu müssen schon öfter und von berufenerer seite gesagtes
wieder vorzutragen.
Zunächst möchten wir die Stellung der grammatik im alt-
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Einige fragen zur reform des gjmnasialunterrichts.
9
sprachlichen Unterricht einer prüfung unterziehen, wir sind
weit davon entfernt, die hohe bedeutuog der grammatischen Schulung
für den jugendlichen geist überhaupt wie im besonderen die not-
wendigkeit grammatischen wissens und könnens für das Verständnis
der antiken Schriftwerke zu verkennen, im gegenteil, wir glauben
sogar in mancher beziehung einer gröszeren Vertiefung des gramma-
tischen Unterrichts das wort reden zu sollen, lassen wir hier die
frage nach der behandlung der deutschen grammatik unberührt und
nehmen wir keine Stellung zu den Kernschen reformen, so viel ist
gewis, dasz die grammatischen kategorien im lateinischen und grie-
chischen Unterricht zu gröszerer klarheit entwickelt werden müssen,
als das gemeiniglich zu geschehen pflegt — wie wir wohl aus dem
weitverbreiteten gebrauch der Ellendt- Seyffertschen grammatik im
lateinischen schlieszen können, schon in den untersten classen musz
in einem der betreffenden classenstufe angemessenen grade von der
mechanischen erlernung der fremden spräche zu einem die denkarbeit
in den Vordergrund stellenden Verständnis der sprachlichen gebilde
vorgeschritten werden, es seien ein paar beispiele zur erläuterung
angeführt: so darf die behandlung der casuslehre im lateinischen
nicht in dem äuszeren erlernen der bekannten summe von regeln
bestehen , bereits der quartaner musz über die Verschiedenheit der
lateinischen und deutschen auffassung bezüglich des gebrauchs des
abl. instrum. , bzw. der localen bestimmung in einem copias castris
continere und 'die truppen im lager halten' zur klarheit kommen,
der abl. modi und der abl. qualit. müssen ihm scharf als adverbiale
und als attributive bestimmung auseinandertreten, das prädicats-
nomen musz ihm im accusativ ebenso gut wie im nominativ vertraut
werden, Uber den verschiedenen gebrauch des acc. c. inf. als der
form der abhängigen aussagesätze und derut-sätze als der abhängigen
befehlssätze musz er durch stete Überlegung der natur der ihm auf-
stoszenden dasz-sätze und deren Verwandlung in unabhängige sätze-
ins klare kommen, überhaupt musz der lateinische grammatische
Unterricht sich streng auf der Satzlehre aufbauen, weiter hinauf
musz der schüler es aus dem wesen der tempora heraus verstehen,
warum in einem satze mit priusquam das plusquamperfectum (ind.)
unmöglich ist. für die syntax , besonders aber für die Stilistik und
Synonymik ist im weitesten umfang auf den oberen stufen, nach
möglichkeit auch schon früher die etymologie heranzuziehen, ja selbst
die formenbildungsgesetze sind in den oberen classen möglichst
durch eingehen auf ihre historische entwicklung, vor allem in hin-
blick auf die griechische formenlehre, zu erklären, wir sind uns wohl
bewust mit alle diesem nichts neues zu sagen: wird aber in der that,
so möchten wir fragen, der grammatische Unterricht derartig gehand-
habt, dasz er die beziehung der sprachform zu den denkkategorien
stets festhält? und doch können die grammatischen Übungen nur
dann, wenn sie nicht sowohl Übungen für das gedächtnis als für das
denkvermögen sind, für die geistige entwicklung des Schülers von
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10 Einige fragen zur reform des gymnasialunterrichts.
nutzen sein , andernfalls verliert der grammatische Unterricht sein
recht eine selbständige lehrdisciplin zu sein, wird, fragen wir noch
einmal auch bezüglich des griechischen grammatischen Unterrichts,
beispielsweise dem schüler nicht etwa blosz die mechanische regel ge-
geben: edvc.coui.pr.ies. entspricht dem lateinischen si c. fut. I, ddv
c.coni.aor. dem lateinischen si c. fut.exact., anstatt dasz ihm die frage
beantwortet wird, warum dieser unterschied stattfindet? ist doch das
system der griechischen moduslehre so klar und einfach aufgebaut,
wenn der lehrer von der bedeutung der tempusstämme ausgeht und
womöglich das wesen dieser aus den tempusformen erklärt (vgl. diesen
versuch in Frick-Meiers lehrgängen und lehrproben heft XIX s. 29)
und wenn die grundfunction der einzelnen modi klar gestellt wird,
wird die construction von öttujc c. ind. fut. auch in Zusammenhang
mit den relativsätzen, in welchen das fut. die folge einer besch äffen -
heit bezeichnet, behandelt? im finalsatz der conjunctiv als der be-
gehrungsmodus, der optativ als opt. obliquus? und wie steht's mit
den Sätzen nach den verben des fürchtens und mit dem verneinten
infinitiv nach den negativen verben des zweifelns usw.? begnügt
sich der unterriebt nicht etwa damit, die construction der verba
ükoiilu, uav0dvu), oiba. utuvr)uai , aicxuvouai usw. mit dem inf.
oder dem part. mechanisch lernen zu lassen, oder geht er zur erklä-
rung auf die grundbedeutung beider verbalformen zurück? wird
die griechische casuslehre auf die entsprechende lateinische aufge-
baut, so dasz der griechische genetiv auch als ablativ (entsprechend
dem lateinischen abl. comp, und abl. separ., oder richtiger, da der
abl. comp, ein abl. separ. ist, beide in umgekehrter reihenfolge zu
nennen !) , der dativ auch als locativ und Instrumentalis aufgefaszt
wird? die griechische grammatik ist ja in dieser beziehung ungleich
besser gestellt als die lateinische, die vielgebrauchte Kochsche gram-
matik beispielsweise sucht in den meisten der berührten punkte dem
•Unterricht eine stütze zu bieten, und die griechische formenlehre
läszt sich ja durch stetes betonen der lautgesetze dem Verständnis
des sehülers nahe bringen, so aber allein vermag auch der griechische
Sprachunterricht gewinn und bereichern nur des geistigen lebens des
sehülers in formaler beziehung zu erreichen.
Für diesen grammatischen Unterricht im lateinischen und grie-
chischen nun sind lehrplanmäszig bestimmte wöchentliche stunden
angesetzt, nutzt man diese für die erlernung und einübung der
grammatik verfügbare zeit aus, so wird es nicht nötig werden die
leetüre der classiker zu ihren gunsten zu schädigen, wir kommen
damit auf den gesichtspunkt , welchen wir von vorn herein im auge
hatten und den vor misverständnissen zu schützen die vorstehenden
zeilen allein bestimmt waren : ist der Vorwurf, das gymnasium treibe
grammatisterei, nicht wirklich berechtigt? wird nicht in der that
trotz der kaum eine irrige, der grammatisterei günstige auslegung
ermöglichenden lebrpläne von 1882 noch vielfach die leetüre als
eine fundgrube für grammatische Übungen verwendet, wird nicht
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Einige fragen zur reform des gymnasialunterrichta.
11
immer noch die lectüre zu einer grammatikstunde herabgewürdigt,
wird wenigstens nicht der Schwerpunkt des altclassischen Unterrichts
zu Ungunsten der Verarbeitung des inhalts des gelesenen auf die
formale, grammatische und sprachliche seite der lectüre gelegt? wir
sehen nicht so schwarz, um zu glauben, dasz in der tbat in den äugen
altsprachlicher lehrer noch immer die lectüre nur um der grammatik
und der spräche willen eine daseinsberechtiguug hätte — obwohl es
nach dem ausweis der programme so scheinen könnte, als ob die aus-
wahl der lectüre um ihres inhaltes willen etwas ganz nebensächliches
sei, aber wir können es als unsere Überzeugung aussprechen, und
meinen mit dieser durchaus nicht vereinzelt dazustehen, dasz die
grammatik lange nicht die untergeordnete rolle im betrieb der alt-
sprachlichen lectüre spielt, welche ihr zukommt, freilich ohne hilfe
der grammatik ist kein fremdsprachlicher satz ins deutsche zu über-
tragen, und wenn wir die alten in ihrem fremden classischen ge-
wande lesen, so thun wir das ja auch um des reichen gewinnes willen,
welchen die erschlieszung der gedankenweit der schriftsteiler mittels
der erkenntnis der originalen form gewährt, man vergleiche bezüg-
lich dessen nur den überaus lehrreichen aufsatz von 0. Weissenfeis,
z. £ d. g.-w., 40r jabrgang s. 513 ff. und diese arbeit möchten wir
der Unterrichtsstunde nicht erspart wissen : fordern müssen wir aber,
um dem sonst berechtigten Vorwurf der grammatisterei entgegen-
treten zu können, dasz in der leetürestunde jegliche grammatische,
stilistische oder sprachliche erörterung überhaupt unterbleibt, die
nicht strenge zur erschlieszung des sinnes der gelesenen oder zu
lesenden stelle erforderlich ist. wir haben, abgesehen von gröberen
pädagogischen misgriffen, vor allem die gewinnung grammatischer
und sprachlicher gesetze im anschlusz an die lectüre im auge — sie
gehört in die grammatikstunde, in welcher man an das gelesene ja
am fruchtbarsten anknüpft — , die gelegentliche repetition gramma-
tischer regeln, besonders im griechischen Unterricht das abfragen
der sog. unregelmäszigen verba, überhaupt Übungen in der formen-
lehre usw. wir halten es geradezu für eine grausamkeit die behand-
lung des altclassischen autors durch grammatische besprechungen zu
stören und die schüler um die schönsten früchte zu bringen, welche
ihnen das gymnasium für das leben mitzugeben vermag, würde
man eine religionsstunde , in welcher das neue testainent im urtext
gelesen wird, noch als den hohen zielen des religionsunterrichts
dienlich erachten, wenn der lehrer den heiligen text benutzt, um an
ihn grammatische Übungen anzuschlieszen ? — und doch soll das
vorkommen, was an grammatischen erörterungen für das Verständ-
nis der zu lesenden partie nötig ist, das mag, ebenso wenn sich der
lehrer zur controle der präparation zu fragen nach der sprachlichen
form, in lexikalischer oder in grammatischer beziehung, genötigt
sieht, etwa in den ersten 5 — 10 minuten der Unterrichtsstunde ab-
gemacht werden, aber dann nicht mehr den Unterricht, vielleicht gar
ständig, unterbrechen, sonst wird der hauptgewinn, welchen der alt-
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12 Einige fragen zur reform des gymnasialunterrichtB.
classiscbe unterriebt zu bieten vermag in der erscblieszung der antiken
weit, aufs empfindlichste geschädigt, ja gänzlich in frage gestellt
Ja, aber da sind die schriftlichen arbeiten, für welche jede ge-
legenbeit zur Vorbereitung ausgebeutet werden musz ! so lange die
dinge that sächlich so liegen, dasz die extemporalien, bzw. lateinischen
aufsätze, statt als eine wertvolle stütze des Unterrichts angesehen zu
werden, den Schwerpunkt des altsprachlichen Unterrichts bilden, so
lange wird die Versuchung zur grammatisterei unüberwindbar sein,
und geben denn nicht wirklich in den altsprachlichen fächern für die
beurteilung eines Schülers seine leistungen in der grammatik noch
vielfach den ausschlag? er mag mit noch so groszer gewandtheit
den schriftsteiler übersetzen und an verständnisvollem erfassen der
leetüre und an interesse für sie seine mitschüler weit tiberragen, ge-
lingt es ihm in den schriftlichen arbeiten, d. h. in dem übersetzen
in die fremde spräche nicht, so mag wohl günstigsten falls sein guter
wille anerkannt werden, seine leistungen werden einer gewissen
geistigen geschicklichkeit zugeschrieben, aber das gesamturteil wird
gegen ihn ausfallen, und dieser bestimmende einflusz der extempo-
ralien als maszstab für die beurteilung der leistungen des schülers
reicht bis oben hin, bis zum abiturientenexamen. der deutsche auf-
satz mag hier von klarheit des denkens und reife des Urteils zeugen
und das geforderte masz von können in der darstellung der gedanken
beweisen, auch der lateinische aufsatz inhaltlich genügen und die
leistungen im Verständnis der vorgelegten autoren anerkannt werden,
wird das urteil wohl günstig ausfallen, wenn in den fremdsprach-
lichen schriftlichen arbeiten ein paar gröbere fehler untergelaufen
sind ? in der that wiegen ein paar falsche lateinische formen mehr
als bildung und reife des Urteils! und leider wird die bedeutung
der extemporalien zu einer völlig ungerechtfertigten höhe herauf-
geschroben, dadurch dasz sogar revisoren ihr urteil über den stand
einer classe von den schriftlichen leistungen abhängig machen, da
sieht sich freilich der lehrer gezwungen diese in den mittelpunkt
seines Unterrichts zu stellen und — grammatisterei zu treiben, und
geben denn die schriftlichen arbeiten überhaupt von dem wissen und
können des schülers auch nur in formaler beziehung ein so sicheres
bild? wir meinen, dasz der mündliche Unterricht dies viel richtiger
herauszustellen vermag, wir sehen in der so stark bevorzugten Stel-
lung der extemporalien auf dem gymnasium nicht blosz eine Unge-
rechtigkeit gerade gegen die besseren schüler, sondern geradezu eine
schwere Schädigung des gymnasiums überhaupt; ist es doch sattsam
bekannt, dasz die besten extemporalienscbreiber lange nicht die reif-
sten schüler sind und dasz grammatisches können mit dem gewinn,
welchen die altsprachlichen studien dem schüler gewähren sollen,
sich längst nicht deckt, scheinen möchte es dem unbefangenen be-
urteiler freilich so, wenn er hören musz, wie beim abiturienten-
examen die in der secunda gelernten griechischen syntaktischen regeln
abgefragt werden, anstatt dasz die erfassung der gedankenweit der
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Einige fragen zur reform des gymnasialunterrichta. 13
griechischen autoren — und um ihretwillen treiben wir doch wohl
griechisch — gezeigt wird, freilich sind wir uns der Schwierigkeiten
wohl bewnst, welche in der ausführung dieser letzteren forderung
liegen, aber wir fürchten, dasz das abiturientenexamen hier nur ein
abbild des Unterrichts ist, welcher auch in den oberen classen noch
die grammatik mehr oder weniger dominieren läszt. will das gym-
nasium den nur zu berechtigten Vorwurf, grammatisterei zu treiben,
erfolgreich bekämpfen und so den gegnern die wirksamste warte ent-
winden, so dränge es die grammatik in die bescheidene dienende Stel-
lung zurück, welehe ihr allein gebührt, man gebe von der forderung
festen grammatischen wissens und können* nichts nach, aber man
mache dasselbe nicht zum maszstabe der beurteilung des schülers,
man beschränke den cultus — der ausdruck scheint mit rücksicht
auf die Wirklichkeit nicht zu hart — der schriftlichen arbeiten, welche
übrigens auch dadurch den Unterricht auf das empfindlichste schädigen,
weil sie einen starken bruchteil der so kostbaren zeit für sich in anspruch
nehmen, und lege vor allem, wie es ja in den lehrplänen gefordert
wird, den Schwerpunkt des altsprachlichen Unterrichts in die lectüre.
Aber auch angenommen, die griechische und lateinische lec-
türe komme zu ibrem rechte auf dem gymnasium, sie bilde in der
that den mittelpunkt des altclassischen Unterrichts, ein sorgfältiges
eingehen auf den inbalt und den gedankengang der Schriftwerke sei
wirklich dem lehrer in ihm die hauptsache , so müssen wir dennoch
fragen: legt das gymnasium mit seinem betrieb der alten sprachen
thatsächlich den grund zu einer classischen bildung bei seinen Zög-
lingen, steht das resultat dieses Unterrichts in einem nur einiger-
maszen entsprechenden Verhältnis zu der aufgewandten zeit und
mühe, so dasz wir versichert sein könnten, die wichtigsten bildungs-
momente des altertums seien zu einem geistigen eigentum der schüier
geworden und versprächen eine dauernde einwirkung auf deren vor-
stellungswelt? ohne diesen erfolg würde die für diese Unterrichts-
fächer angesetzte zeit . vergeudet sein und die heftigsten angriffe
unserer gegner nur allzu berechtigt sein, freilich wollen und können
wir nicht verlangen, dasz die resultate der beschäftigung mit den
alten bei unseren Schülern handgreifliche wären; gleicht doch die
thätigkeit des lehrers auch in dieser beziehung nur zu sehr der arbeit
des säemanns, ein aufgehen der gestreuten saat darf er nicht so bald zu
sehen verlangen, auch hängt dasselbe ja noch an vielen anderen sich
semer mitwirkung entziehenden factoren ab. aber auf der anderen
seite können wir uns nicht dazu entschlieszen, uns mit dem bewust-
sein zufrieden zu geben , dasz die antike weit, in welcher wir durch
eine ganze reihe von jähren den schüier festhalten, für ihn nur einen
formalbildenden wert habe und ihre Schuldigkeit gethan habe, daher
mit recht überflüssig sei, wenn er die scbulbank verläszt: nein, die
anschauungsweit des altertums soll auch einen bleibenden materiellen
grund legen für das reifende Urteilsvermögen auch über die fragen
des modernen lebens, welche ihn dann bestürmen, und wie steht es
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14
Einige fragen zur reform des gymnasial Unterrichts.
mit der erfüllung dieser forderung ? wie viele unserer schüler nehmen
denn — ich will nicht sagen lust und liebe die classiker weiter zu
lesen, dazu möchten die hohen anforderungen, welche unsere zeit an
specialstudien und beruf stellt, schwerlich zeit lassen, dies ziel müssen
wir schon aufgeben — den schätz von bildungsstoffen, welchen die
beschäftigt] ng mit der antike gewährt, mit ins leben hinaus, so dasz
sein einflusz für das reifende politische, sociale, ethische und ästhe-
tische urteil mitbestimmend wird? nehmen doch, und man musz es
eingestehen, wenn man sich nicht absichtlich der Wahrheit ver-
schlieszen will, bei weitem die meisten — gott sei dank, gibts ja
auch viele ausnahmen — nicht einmal die freude an der alten weit
mit hinaus, warum das? blosz weil ihnen vielfach durch die leidige
grammatisterei alle freude an den alten genommen ist? — denn an
diesen kann die schuld nicht liegen, sind sie doch wie geschaffen für
das dem idealen zugewandte jünglingsgemüt. die schuld scheint uns
an einer anderen stelle noch zu liegen, unterrichten wir denn auch
so, dasz wir einen erfolg unserer thätigkeit erwarten könnten?
Es ist das hohe verdienst der an den namen Herbarts anknüpfen-
den pädagogik, im besondern das verdienst der in seinen Lehrgängen
und lehrproben' hauptsächlich niedergelegten theoretisch -didakti-
schen thätigkeit 0. Fricks, durch zurückgehen auf die gesetze des
Seelenlebens auch dem altsprachlichen Unterricht erfolgreiche und
fruchtbringende wege gewiesen zu haben, ohne den dem gegner
manche blösze bietenden Schematismus formaler art zu billigen,
können wir doch nur mit lebhaftem dank auf die reichen anregun-
gen zurückblicken, welchen diese wissenschaftliche didaktik für den
altsprachlichen Unterricht darbietet, gewis kann nur durch stete
lebendige Verknüpfung der vorstellungsreihen eine starke bestim-
mende vorstellungsmasse entstehen, gewis ist jede einzelvorstellung,
welche mit dem schon gefestigten geistigen besitz nicht in engen
inneren Zusammenhang gebracht wird, dem baldigen erblassen aus-
gesetzt, demnach haben wir die pflicht, wollen wir die gedanken-
schätze der alten für die schule heben, sie durch stete Verbindung
der in ihr enthaltenen vorstellungsmassen unter einander, sowie
durch Verbindung mit dem übrigen geistigen leben zu einem seeli-
schen besitztum der Zöglinge zu machen, die aus ihnen geschöpften
bildungsmomente dürfen nicht für sich vereinzelt bleiben, sondern
müssen in möglichst engen Zusammenhang mit dem gesamten Seelen-
leben gebracht werden, so entsteht für uns im altclassischen Unter-
richt eine doppelte aufgäbe: nemlich einmal die in der antiken Ii tte-
ratur liegenden bildungsmomente möglichst stark und kräftig zu
gestalten , also diejenigen in ihr niedergelegten vorstellungsmassen,
welche für die bildung des jugendlichen geistes die wichtigsten sind,
in möglichster stärke und klarheit dem schüler zuzuführen, d. h.
nur das didaktisch beste für die schule auszusuchen und diese bil-
dungsstoffe durch einen plan- und zielbewusten aufbau zu einem
starken bildungsfactor zu machen — sodann aber auch die lectüre
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Einige tragen zur reform des gymnasialunterrichts.
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jeder classenstufe mit rücksiebt auf die sonstige bildungsarbeit zu
bestimmen, es erwachst aus der ersten Forderung unabweisbar die
aufgäbe für das gymnasium, die griechisch-römische litteratur auf
die didaktisch wertvollsten Schriftwerke hin zu untersuchen (den
anfang damit macht die Fricksche Sammlung pädagogischer auf-
sätze), welche damit noch nicht gelöst ist, dasz infolge des gesunden
sinnes und taktes schon früherer jahrhunderte ja in der that die
besten autoren gelesen zu werden pflegen, und nun die weitere, die
Schriftwerke, bzw. lesestücke den einzelnen classen zuzuweisen, diese
aufgäbe läszt sich aber nur lösen, wenn wir bei der auswahl der
antiken autoren bewust den zweck der gewinnung bestimmter vor-
stellungscentren verfolgen, wir sehen wohl, dasz dieselbe eine
äuszerst schwierige ist, und eine längere zeit mit vielen versuchen
wird vergehen müssen, ehe zwischen den widerstrebenden ansichten
eine einigung erreicht wird, aber der versuch musz ernstlich ge-
macht werden; ohne dies ziel fest ins auge zu fassen, verliert das
humanistische gymnasium seine daseinsberechtigung.
Wie steht es nemlich in Wirklichkeit mit der auswahl der grie-
chischen und lateinischen leetüre auf dem gymnasium? sieht man
wirklich bei derselben ein pädagogisch-didaktisches bestreben nicht
blosz das an sich beste, sondern auch das nach didaktischen grund-
sätzen wertvollste der jugend zu bieten und so zu bieten , dasz eine
dauernde Wirkung desselben gehofft werden kann? wir müssen
diese frage leider im allgemeinen verneinen, es scheint, als ob man
von der ansieht ausgienge, dasz die griechischen und römischen
autoren, soweit sie auf die bezeiebnung classiker anspruch machen
können, für die jugendbildung unter einander schlechthin gleich-
wertig seien und für ihre Verwertung zur Unterrichtsarbeit nur äuszere
gesichtspunkte wie der grad der Schwierigkeit der einzelnen Schrift-
werke hinsichtlich der Verteilung auf die classen ausschlag gäben,
eine nach irgend welchen bedeutsamen didaktischen gesichtspunkten
angelegte auswahl der leettire vermögen wir wenigstens aus den
schulprogrammen nicht zu erkennen, wir wollen beispielsweise auf
einen jahrgang programme der monarchie für ein fach einen blick
werfen und wählen dazu den griechischen Unterricht in secunda für
das jähr 1885/86, d. h. einen jahrgang, in welchem die lehrpläne
von 1882 schon vier jähre lang in kraft waren, es mögen des all-
gemeinen interesses halber, welches die sache finden dürfte, nähere
angaben hergesetzt werden.
Untersecunda fällt für unsern zweck so ziemlich weg, da in
dieser classe glücklicherweise fast allgemein wenigstens für das erste
halbjahr die Anabasis gelesen wird, bedauerlich ist es, wenn sich
wie in Dillenburg und Coblenz dieselbe durch die Hellenika ersetzt
findet, bei combinierter secunda musz die leetüre von Memor. L II
(ßogasen), welche sich das ganze jähr hindurchzieht, entsprechend
die von Hell. V. VI (Hadersleben), Cyrop. I — V ausw. (Meldorf),
aber auch die der Anabasis für beide semester, wie in Moers, Meppen,
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Einige fragen zur reform des gymnaaialunterrichts.
Sagan, auffallen, das dürfte denn doch für die* Anabasis zu viel des
guten und für die bildungszwecke des gymnasiums zu wenig sein,
die lectüre der obersecunda zeigt ein buntes allerlei, da findet sich
an 117 anstalten Herodot 1. 1. VI — IX (auswahl), an 64 gymnasien
auswabl aus den Memorabilien, 57 mal des Lysias Eratosth. und
Agorat. gelesen, 50 mal die kleineren reden desselben; es folgen
die Hellenika 44 mal, die ersten bücber Herodots 38 mal, die Cyro-
paedie 29 mal, Plutarcbiscbe viten 15 mal, Piatos Apologie lOmal,
Lykurg , Isokrates' Panegyricus und Lucian je 6 mal notiert.
Die schrift C. v. Oppens 'die wähl der lectüre im altsprachlichen
Unterricht, wie sie getroffen wird und wie sie zu treffen wäre' (Berlin,
Gärtner, 1885) hat das unbestrittene verdienst gezeigt zu haben, wie
viel nach ausweis der schulnachrichten (des Jahrgangs 83/84) noch ge-
sündigt wird gegen die einfachsten und einleuchtendsten didaktischen
grundsätze, wie wenig die lectüre auf die forderungen der Vertiefung
und der angemessenheit derselben nach dem grade ihrer Schwierig-
keit rücksicht nimmt, wir meinen aber, viel höher als diese gewis
beachtenswerten formellen gesicbtspunkte stehen doch erwägungen
Uber den didaktischen wert der einzelnen Schriftwerke, dasz dieselben
vielfach gänzlich auszer acht gelassen werden, weisen unsere Pro-
gramme nach, sollte wirklich, um noch einige beispiele anzuführen,
die durch ein ganzes Schuljahr für den Unterricht in obersecunda
zu gründe gelegte bebandlung des vierten buches der Memorabilien
(Gütersloh) oder Herodot I (Minden) oder Cyropaedie I. II (War-
burg) oder Memor. I. II(Rogasen) oder Herodot I — III (Schweidnitz)
oder Cyrop. I (Münstereifel) dem schüler tiefere einblicke in die
griechische litteratur ermöglichen ? sollten nicht an stelle der ganzen
genannten partien andere Schriftwerke, bzw. andere bücher der ge-
nannten autoren, bzw. werke ungleich mehr ausbeute gewähren?
sollten wirklich irgend welche pädagogische , bzw. didaktischen er-
wägungen zu der beschäftigung einer secunda mit dem ersten buche
der Cyropaedie durch ein ganzes Schuljahr geführt haben? wir
fürchten, nein; man liest eben, wohl unter dem motto 'beati possi-
dentes', nach willkür und belieben die alten, vielleicht dasz lang-
jährige tradition hier und da den weg weist, aber wir sagten schon
oben, den alten sprachen droht verlust ihrer langjährigen herschaft
auf den gymnasien, wenn der Unterricht nicht ernstlich bemüht ist
die in ihnen verborgenen bildungsschätze für den jugendlichen geist
wirklich zu heben, die phrasen von den 'goldenen früchten in sil-
bernen schalen', wie man gern die classiker nennt, und von der her-
lichkeit der Griechenwelt werden uns schwerlich dagegen schützen.
Wir fordern also, dasz die auswahl der lectüre wirklich nach
didaktischen gesichtspunkten geregelt werde, soll aber darum einem
bindenden kanon für das gymnasium das wort geredet werden? oder
wird man uns auch vorhalten 'nicht früh genug aufgestanden zu
sein', da doch schon eine stattliche reihe von directorenconferenzen
mit der aufstellung eines kanons der altsprachlichen lectüre sich be-
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Einige fragen zur reform des gyinnasiaiunterriehta. 17
scbäftigt haben? was den ersten punkt betrifft, so sind wir uns
wohl bewust, dasz es das gerade für den in rede stehenden Unter-
richt nötige masz von freiheit der bewegung beeinträchtigen hiesze,
wollten wir einen den lehrer unbedingt bindenden kanon fordern,
macht doch gerade hier der stoff das wenigste, die bebandlung des-
selben alles, sie vermag aus dem scheinbar undankbarsten stoff didak-
tischen gewinn zu erzielen , während anderseits der herlichste stoff,
wie eine griechische tragödie, für die schüler völlig ergebnislos blei-
ben kann, wenn der Unterricht seine Schuldigkeit nicht thut. dazu
kann bei der fülle des lesenswerten doch wohl dem lehrer die mög-
lichkeit offen gelassen bleiben im Unterricht das zu bebandeln, was
er gemäsz seiner individuellen persönlichkeit seinen schillern am
fruchtbarsten machen zu können glaubt, also wohl eine gesunde
freiheit, aber keine Willkür, sondern didaktische gcsichtspunkte
müssen die lectüre bestimmen, als grundsatz für ihre auswahl kann
nach dem oben gesagten nur das didaktische gesetz der concentra-
tion in erster linie maszgebend sein, in einem doppelten sinne : zu
wählen sind diejenigen Schriftwerke, welche die engste berührung
mit den gedankenkreisen des gesamten sonstigen Unterrichts der
classe aufweisen, aber auch die continuität des gesamten sprach-
lichen Unterrichts in seiner eigenart, d. h. mit dem ziele den schülern
die antike weit in religion und sitte, in kunst und Wissenschaft, in
geschiente und politik zu erschlieszen.
Der altsprachliche Unterricht steht ja darin fast sämtlichen
gymnasialfacbern nach, dasz es ihm schwer gelingen will, abgesehen
von der behandlung der alten sprachen selbst, die ergebnisse des
Unterrichts in eine einheitliche Verbindung zu bringen, die mathe-
matik und auch die natur Wissenschaften, die geographie und die
geschiente, der religions- und der deutsche Unterricht bauen sich
systematisch von stufe zu stufe auf. für diese lache r gilt der satz,
dasz von den in früheren classen gewonnenen resultaten nichts ver-
loren wird, sondern, sei es unmittelbar, sei es mittelbar, der gesamte
herausgearbeitete Unterrichtsstoff dem in der höheren classe zu be-
handelnden zu gründe gelegt wird, ja erst recht in der obersten
classe noch durch Zusammenfassung und Vertiefung zur geltung
kommt, es mag ja in dem wesen des altsprachlichen Unterrichts
liegen , dasz vieles auf früheren stufen gewonnene nur schwer eine
Verwertung weiter oben bin zuläszt; aber das streben auch dieser
unterrichtsfacher musz, wenn anders sie dauernden erfolg haben
sollen, darauf gerichtet sein, diesen grundsatz an sich zu verwirk-
lichen, was soll es auch für ergebnisse haben , wenn der lehrer der
höheren classen einfach unbeachtet läszt, was an vorstellungs- und
begrifflichem material auf der Vorstufe gewonnen ist? man kann
die probe machen, wie wenig von den früher gelesenen autoren oft
noch in prima eigentum der schüler ist, trotzdem der anknüpfungen
sich doch so viele geboten haben, aber wir meinen, diese an-
knüpfungen müssen wir suchen, und in diesem sinne müssen wir
N. fmhrb. f. phii. u. pid. IL ibt. 1891 hft. 1. 2
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] 8 Einige fragen zur reform des gymnaualunterrichts.
concentrische kreise zu bilden bemüht sein bei der auswabl der
lectOre, oder ohne bild, wir müssen die bedeutendsten vors teil ungs-
massen , welche die alten darbieten , durch wohl ausgesuchte lectüre
im steten Zusammenhang der einzelnen classen behandeln, bis sie
auf der obersten stufe ihre letzte Vertiefung finden, diese didak-
tiche forderung halten wir für ebenso wichtig, ja ihre geltend-
machung im hinblick auf die Wirklichkeit für noch dringender als
das gesetz der Verknüpfung des altsprachlichen Unterrichtsstoffes
der einzelnen classen mit dem gesamten geistigen leben der scbüler,
welches nach dem oben gesagten gleichfalls bei der auswahl der
lectüre bestimmend sein musz.
Es ist hier nicht der ort diese gedanken, welche wir in groben um-
rissen gezeichnet vorgetragen haben, weiter auszuführen, wir begnü-
gen uns damit, zur erlauterung des gesagten ein beispiel herzusetzen,
nemlich für den griechischen Unterricht in obersecunda, wenngleich
auch nur als einen versuch, nicht als ein abschlieszendes resultat :
1. Nachdem in III* die lectüre von Xenophons Anabasis be-
gonnen ist, wird dieselbe in IIb während des sommersemesters fort-
gesetzt und (im durchblick) beendet, so dasz der schüler mit den
bedeutsamsten momenten des rückzuges der zehntausend bekannt
wird und ein anschauliches bild von der persönlichkeit des feldherm
wie nicht minder des Schriftstellers Xenophon gewinnt.
2. Für das zweite Semester der IIb empfiehlt sich nicht die
lectüre des Herodot1, auch nicht Xenophons Hellenika*, sondern
dessen Cyropaedie im durchblick (etwa I 1. 2. 5. 6. IV 4. 6.
VIII 1. 7), aus welcher sich ergeben müssen die hauptzüge des
Xenophontischen königsideals und eine erweiterung der kenntnis
des Politikers und bedeutsame züge des Sokratikers Xenophon
(parallelen für diesen Unterrichtsstoff bieten im religionsunterricht
die theokratie des alten bundes, im deutschen das heldenepos, in
der geschiente der Orient, besonders aber die politische ent Wick-
lung Griechenlands, in der geographie Asien).
3. In das erste Semester der II* fällt die lectüre der Perser-
kriege in Herodots geschichtswerk (VI — IX mit auswahl).
4. Im zweiten Semester sind in II * zu lesen : Xenophons Age-
silaus3 (welcher eine schnellere lesung ermöglicht, daher auch eine
wertvolle Wiedereinführung in den attischen dialekt darbietet), dessen
lectüre die Xenopbontische idee des königtums sowohl nach der
philosophischen seite (vgl. vorher Cyrop., nachher Memor.) wie
nach der geschichtlichen seite (vgl. besonders die Memor.) vertieft
1 auch aus äusseren gründen, da Herodot schnelles lesen verlangt
und sein dialekt nicht neben dem Homerischen her erlernt werden kann.
* Uber sie geht wohl das allgemeine urteil dahin, dasz sie, abge-
sehen von einzelnen wertvollen partien, kein für die schule geeignetes
Schriftwerk ist, vgl. auch unten.
* über dessen didaktischen gehalt verf . sich an anderer stelle auslassen
wird, im übrigen bitten wir den von O. Altenburg (Oh Inn} in Frick- Richter
lehrproben und lehrgttnge hft. X aufgestellten lehrplan zu vergleichen.
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Einige fragen zur reform des gymnasialunterrichts. 19
und schon die grundzüge des Sokratischen tugendideals enthält, zu-
gleich aber auch eine typische weltgeschichtliche bewegung dar-
stellt , und Xenophons Memorabilien als abschlusz des Xenophonti-
schen bildes des Sokrates, dessen geschichtliche bedeutung als des
refonnators seines Volkstums zugleich aus ihnen klar wird wie nicht
minder die geschichtliche epoche des niederganges Athens über-
haupt, zugleich als abschlusz der beschäftigung mit dem bilde Xeno-
phons , endlich als Vorbereitung auf Plato.
5. Abzuweisen für II a sind Lysias und Xenophons Hellenika,
empfohlen dagegen wird Lucians träum (parallel Memor. II l) zur
beleuchtung der Weltanschauung des Hellenismus.
Zum bessern Verständnis des vorstehenden lehrplanentwurfs
setzen wir noch die folgenden thesen über die aus wähl der griechi-
schen prosalecttire überhaupt her, freilich ohne dieselben an dieser
stelle zu begründen:
1. Unter rdem bedeutendsten aus der classischen griechischen
litteratur, dessen lectüre geeignet ist einen bleibenden eindruck von
dem werte der griechischen litteratur hervorzubringen' (lehrpläne
von 1882), sind diejenigen litteratur werke zu verstehen, welche am
deutlichsten die eigenart des griechischen geistes in der blüte seiner
ent wicklung auf den gebieten des sittlich- religiösen, des geistigen
und des politischen lebens widerspiegeln , und zwar hat ein Schrift-
werk um so gröszeres anrecht auf aufnähme in den schulkanon, je
mehr in ihm der antik-griechische geist in seiner gesamterscbeinung
zur geltung kommt.
(Auszuschheszen sind darum von der schule als einer späteren
entwicklung des griechischen geisteslebens angehörig vor allem
Plutarch, auch Arrian und im allgemeinen Lucian — die gerichtsreden
des Lysias, weil im allgemeinen des sittlichen gehaltes entbehrend.)
2. Abzuweisen ist darum eine einseitige bevorzugung der poli-
tisch-geschichtliche Stoffe darstellenden Schriftwerke; dieselben sind
nur soweit heranzuziehen , als sie typische politische einrichtungen,
entwicklungen und gestalten behandeln.
3. Der didaktische wert eines Schriftwerkes hängt nicht minder
von dem Charakter des Verfassers als einer erziehlich wirksamen per-
sönlichkeit wie von den in ihm enthaltenen bildungsmomenten ab.
4. Wenn in den schulkanon nicht aufzunehmen sind diejenigen
werke, deren Verständnis übergrosze Schwierigkeit bereiten würde
(wie manche Platonische dialoge), so ist auch bei der Verteilung der
Schriftwerke auf die einzelnen classenstufen der grad ihrer Schwierig-
keit mit entscheidend.
5. Diese Verteilung ist in erster linie zu bestimmen nach dem
didaktischen gesichtspunkte der concentration des Unterrichts so-
wohl im sinne der Verbindung der griechischen lectüre mit den
übrigen Unterrichtsstoffen der einzelnen classen wie im hinblick auf
den steten Zusammenhang der griechischen lectüre auf dem gymna-
sium überhaupt.
2*
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20 Zum späteren beginn des lateinischen Unterrichts.
6. Abzuweisen sind für die lectüre alle äuszeren gesichtspunkte,
wie solche hergeleitet werden von den litteraturgattungen und der
spracht«, bzw. den mundarten.
7. Nicht bruchstücke, sondern ganze Ii tteratur werke sind zu
lesen, derart dasz der schüler wenigstens im durch blick mit ihnen
vertraut wird.
Endlich sei mit rücksicht auf den ersten teil unserer dar-
legungen noch gesagt:
8. Die lectüre hat auf die sprachliche form nur soweit einzu-
gehen, als es zum vollen Verständnis des inhalts erforderlich ist;
eine weitere berücksiehtigung verdient nur ihr etwaiger künstleri-
scher wert.
Mit der aufstellung dieser grundsätze schlieszen wir unsere dar-
legungen ab : wir glaubten nur unsere pflicht zu thun, wenn wir auf
gewisse wunde stellen, welche sich am Organismus unseres gymna-
siums zeigen und deren heilung als lebensfrage für dasselbe er-
scheint, hinwiesen und auf wege aufmerksam machten, auf welchen
unseres erachtens eine besserung herbeigeführt werden kann; ohne
offene ausspräche ist diese undenkbar, wenn die angegebenen wege
schon mehrfach beschritten werden mögen , wie sich der unter-
zeichnete keineswegs verhehlt, so glaubt er im hinblick auf die
geringen anfange , welche doch im groszen und ganzen damit erst
gemacht sind, nichts überflüssiges gesagt zu haben.
Ohlau. ________ Paul Dörwald.
3.
ZUM SPÄTEREN BEGINN DES LATEINISCHEN
UNTERRICHTS.
Im zweiten band der Jahresberichte von Rethwisch faszt der
berichterstatter Ziemer seine beobachtungen in folgenden worten
zusammen: 'trügen nicht alle an /eichen, so dürften sich die Verhält-
nisse einmal ändern und eine ausgleichspartei , die anhänger einer
weniger starren richtung sich mehren, welche dem latein das Über-
gewicht im lehrplan nehmen oder einen späteren an fang wollen.'
Als hervorragender Vertreter der letzteren richtung ist Stein-
thal aufgetreten in der philologischen Wochenschrift 1888 nr. 48.
von seinen ausführnngen gebe ich hier folgende stellen:
'Die forderung, dasz in unsern schulen nicht zu früh mit den
fremden sprachen begonnen werde, wird mir derjenige lehrer am
leichtesten zugestehen, der mit betrübnis bemerkt, wie in unserer
zeit eine Verderbnis der deutschen spräche um sich greift, welch
ein erschreckender mangel an reinem Sprachgefühl im gebrauche der
ino di , der partieipien, der composita, der synonyma und überhaupt
der Wortbedeutungen, in der bildung der wortformen usw. und
dies bei unsern vielen schulen, bei der ausdehnung eines wissen-
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Zum späteren beginn des lateinischen unterrichte. 21
schaftlichen Unterrichts über alle stände des deutschen volks? weist
das nicht sicher auf einen fehler der schuleinrichtung? nach erinne-
rungen aus meiner eignen kindheit und Schulzeit behaupte ich, dasz
der eigentliche grammatische Unterricht in der muttersprache sich
daran als rechtzeitig und gut gegeben erweist, dasz er dem schüler
von allem Unterricht der angenehmste ist. der schüler hat dabei
nicht das gefühl des anstrengenden lernens, sondern des sichbesinnens
auf sich selbst; er lernt nichts neues, sondern er wird sich seines
inneren Schatzes bewust: es fällt ihm wie schuppen von den äugen,
er lernt in sich blicken, das kann aber erst geschehen, wenn er den
besitz schon erworben hat und sicher hat.'
'Der edlere Wortschatz, die vollere und feinere grammatik in
formenlebre und syntax musz vom kinde gelernt werden, kann aber
vor dem neunten jähre nicht nach methodischer analytik oder syn-
thetik begriffen, sondern zunächst nur durch den gebrauch ange-
eignet werden, die spräche musz also in dieser zeit dem kinde vor-
geführt werden : es ist ein anscbauungsunterricht. solcher Unterricht
in der muttersprache dauert ja unbewust durch den ganzen verlauf
der Schulzeit und darüber hinaus; denn es ist wesentlich die ent-
wicklung des denkens und der gedanken in der form des Sprechens
und der rede, um was es sich hierbei handelt, daneben aber bietet
doch die schule noch den methodischen begrifflichen Unterricht zum
tieferen Verständnis der muttersprache. ist dieser natürlich abge-
stuft, so bestimmen sich die stufen desselben nach dem masze, in wel-
chem der schüler durch den (wie ich ihn so eben nannte) anscbauungs-
unterricht schon vorgebildet ist. und so erkläre ich mich bestimmter
dahin:
* 1) der anscbauungsunterricht in der muttersprache beginnt
mit dem eintritt des scbülers in die schule.
1 2) während sich dieser ohne Unterbrechung fortsetzt, beginne
mit dem zurückgelegten neunten jähre der begriffliche Unter-
richt in den bestimmungen des einfachen satzes der muttersprache.
*3) während sich dieser doppelte Unterricht in der muttersprache
fortsetzt, beginne mit dem zurückgelegten zwölften jähre der
Unterricht in den fremden sprachen.'
Alsdann erinnert Steinthal daran, dasz über das wesen des be-
wustseins erst in neuerer zeit von der psychologie die richtige an-
sieht gewonnen worden sei, und zeigt, wie jene drei sätze in der
realen dialektik der culturgesebichte und der einzelentwicklung be-
gründet seien, dasz nemlich
1) der zu anfang natürliche (instinetive, naive, unbe wüste) geist
die eigentliche Schöpferkraft in sich trägt ; dasz
2) diese geistige natur ihren gegensatz, den bewusten geist,
den reflectierenden verstand, die Überlegung erzeugt; und
3) dasz der verstand zur natur zurückkehrt, oder dasz der natur-
geist in seinem von ihm selbst geschaffenen gegensatze auch seine
eigne wahre natur wieder herstellt, wodurch er Schöpferkraft mit
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22 Zum späteren beginn des lateinischen unterrichte.
bewustsein vereinigt, wodurch er zur andern natur wird, die nicht
mehr die erste, die naive natur ist (wodurch der naive geist znr
geistigen natur wird).
Steinthal spricht sich also gegen den beginn jeglichen fremd-
sprachlichen Unterrichts vor zurückgelegtem zwölften lebensjahre
aus. man kann ihm darin grundsätzlich beistimmen, mit ihm for-
dern vollere einführung in die realien, gründlichere Übung in der
muttersprache, tiefer gehende grundlegung für die anschau ungs weit
und allgemeine bildung und sich doch für den beginn mit einer
modernen fremdsprache schon in sexta aussprechen , da dieser letz-
tere die erfüllung jener f orderungen erheblich fördern würde.
Die durch die geschichtlichen Verhältnisse, unter denen sich
unsere cultur gegründet hat, entwickelte schulüberliefernng wider-
streitet aufs entschiedenste für die nächste zukunft einem solchen
hinausschieben des gesamten fremdsprachlichen Unterrichts.
Von dem letzteren gesichtspunkt geleitet, bekennt Lattmann
sich jetzt zu dem grundsatz, dasz das französische in sexta, das latein
in quinta zu beginnen sei. er thut dies in der programmabhandlung
des gymnasiums zu Clausthal 1888: 'welche Veränderungen
des lehrplans in den alten sprachen würden erforder-
lich sein, wenn der fremdsprachliche Unterricht mit
dem französischen begonnen wird?' dieses Zugeständnis
des hervorragendsten lebenden methodikers auf dem gebiete des
lateinischen elementarunterrichts ist ein sehr schwer wiegendes.
Ziemer meint (jahresberichte von Rethwisch bd. III s. 63), in dem
streit der gegensätze könne die stimme dieses ehrwürdigen Vor-
kämpfers für den lateinischen Unterricht nicht unbeachtet bleiben,
dennoch ist sie fast unbeachtet geblieben, oder will man sie tot
schweigen? auszer Ziemer, der a. o. nach den ihm gesteckten
grenzen sich nur kurz mit dem gegenstände beschäftigen konnte,
hat nur 0. Weissenfeis im Wochenbericht für classische philologie
1888 s. 925 sich zu Lattmanns Vorschlägen geäuszert und zwar in
ablehnender weise. F. Müller bespricht sogar in der philologischen
Wochenschrift 1889 s. 1013 Lattmanns schrift: 'über den in quinta
zu beginnenden lateinischen Unterricht nebst einem entsprechenden
lehrbuche', 1889, ohne zu der priorität des französischen, auf wel-
cher diese ganze schrift fuszt und auf welche sie häufig bezug nimmt,
auch nur mit einem worte Stellung zu nehmen, ich selbst habe die
programmabhandlung ausführlich besprochen in dem pädagogischen
archiv 1888 s. 289 — 324, will aber auch an dieser stelle noch ein-
mal die leitenden didaktischen grundsätze dieser schrift sowie der
im jähre 1889 erschienenen hervorheben.
Von vorn herein erklärt Lattmann, er sei zu seiner arbeit ver-
anlaszt worden durch meine die Ostendorfschen Vorschläge behan-
delnde schrift. da ich darin sehr oft auf seine gegen Ostendorf geführte
polemik und andere seiner äuszerungen bezug nehme, so halte er sich
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Zum späteren beginn des lateinischen Unterrichts.
23
für verpflichtet, zu erklären, wie er nach dem erscheinen meines
bochs zu der sache stehe, er entwickelt dann, wie er seit 23 jähren
durch eine reihe methodischer Schriften und lehrmittel sich bemüht
habe, eine angemessenere behandlung des lateinischen Unterrichts
herauszubilden, er war der ansieht, dasz für den lateinischen ele-
mentarunterricht dasselbe verfahren zur anwendung kommen könne,
welches man jetzt lebhaft für die neueren sprachen erstrebt, indem
man zugleich die berech tigung ihrer priori tat zu begründen sucht,
aber mehr und mehr hat er erkannt, welche Schwierigkeiten es macht,
jene methodischen grundsätze auf den lateinischen Unterricht anzu-
wenden, vor allem hat er eingesehen, dasz die erlernung der um-
fangreichen formenlehre eino bedeutende gedächtnisarbeit ist, dasz
die einübung der so manigfaltigen formen eine menge von Übungs-
sätzen notwendig macht, welche nur zu einem geringen teile aus
dem langsam anwachsenden lebrstoffe der fabeln entnommen werden
können, zwar hat er sich bemüht, die Übungssätze aus dem durch-
schnittlich jedem schüler nahe liegenden erfabrungskreise zu ent-
nehmen, aber bei dieser arbeit ist es ihm immer mehr zum bewust-
sein gekommen, wie beschränkt dieses gebiet ist, wenn es
in gutem latein dem sextaner faszbar zum au* druck kommen und zu-
gleich der formenlehre dienstbar gemacht werden soll, alsdann hat
er 18 jabre lang veranlassung gehabt, den lateinischen Unterricht in
sexta bei der einfuhrung von probecandidaten eingehend zu beob-
achten und teilweise selbst zu erteilen, seine lehrbücher wurden auf
grund der hierbei gemachten erfahrungen verbessert, der Unterricht
wurde von hervorragend tüchtigen lehrern ganz nach seinen metho-
dischen grundsätzen behandelt, und zwar — nach den urteilen der
aufsichtsbehörde — mit gutem erfolg, aber bei aller befriedigung,
welche dieser Unterricht ihm bereitete, verliesz er die stunden doch
oft mit einem daneben hergehenden gefühle des misbehagens, das
ihm sagte: 'das ist alles recht schön, aber trotz alledem
— es ist und bleibt ein unsinn, das lateinische in sexta
anzufangen.' etwa ein drittel oder viertel der schüler folgte dem
Unterricht mit lebhaftem interesse und faszte alles so gut auf, dasz
mit diesen allein das ganze pensum in einem halben jähre oder in
drei Vierteljahren hätte durchgemacht werden können, aber das
zweite drittel oder etwas mehr liesz die Spontaneität vermissen, be-
durfte häufiger anstacbelungen und erreichte das ziel nur eben ge-
nügend, dagegen hieng der rest wie bleigewicht an dem unterrichte,
offenbar übte die lange arbeit au diesen stümpern auf die ganze
classe einen abstumpfenden einflusz; es muste den besseren der
Unterricht langweilig werden, und jene schwachen selbst fühlten
sich nur gepeinigt, unter diesen waren zwar mehrere überhaupt
unfähige schüler, welche nicht auf ein gymnasium gehörten, aber
einige davon genügten wenigstens in allen andern fächern, nament-
lich im rechnen ; und unter dem lateinischen mittelgute fanden sich
solche, welche sich in andern fächern auszeichneten und geweckt er-
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24 Zum späteren beginn des lateinischen unterrichte.
schienen, so mußte denn Lattmann stets mit innigem bedauern
sehen , dasz einer groszen anzahl guter jungen etwas zugemutet
wurde, wozu ihre ganze geistige entwicklung noch nicht reif war.
Bemerkenswert ist die beobachtung, dasz es auch den schlech-
testen Lateinern nicht an regsamkeit fehlte, wenn der inhalt
eines satzes aus ihrem erfahrungskreise besprochen und
erläutert wurde, für die Sachen hatten sie alle interesse,
und das blosze auswendigleinen der formen konnte auch genügen,
aber sobald es auf die Verwendung der formen ankam , dawar
es, als ob das gehirn seine function versagte, 'die äugen ver-
gl asten', so war auf die mehrzahl der schüler anzuwenden , was
Herbart (umrisz 289) sagt: 'wo das interesse nicht erwacht und
nicht kann erweckt werden, da ist das einzwingen der fertig-
keit (und von diesem erbfehler der alten methode ist auf der sexta
nicht loszukommen) nicht blotz wertlos, weil es zu einem geistlosen
treiben führt, sondern auch schädlich, weil es die gemtitsstim-
mung verdirbt.' — fJa, das empfangende interesse aufzustacheln,
ist sehr leicht, aber das weiter verfolgende, fortführende zu wecken
und auf denjenigen punkt hinzuführen, auf den es ankommt, auf
die erlernung der spräche, die Verwendung der formen, das
ist noch eine andere aufgäbe! gewis werden viele schulmänner der
ansieht Völckeis s. 104 zustimmen, dasz wir weniger grund haben,
von einer Uberbürdnng durch ein zu groszes quantum häuslicher
arbeiten zu sprechen, als von einer Uberspannung der geisti-
gen kräfte der jugend, aber wahrscheinlich sind es noch wenige,
welche mit ihm diese Überspannung in erster linie auf den zu früh-
zeitigen beginn des lateinischen zurückführen.'
Früher hatte Lattmann den wünsch, dasz das latein nach quinta
verschoben werde, doch aber immer noch den anfang des fremd-
sprachlichen Unterrichts bilden solle, jedoch die neueren erörte-
rungen über flie erstrebte methode des französischen anfangsunter«
richts haben ihn Uberzeugt, dasz das für diesen empfohlene metho-
dische verfahren gerade für den ersten fremdsprachlichen Unterricht
das angemessenste sei und dasz deshalb die neuere spräche dem
latein vorauszugehen habe, diese Überzeugung wurde besonders ge-
fördert durch die sich darbietende gelegenheit, die erstrebte neue
methode des französischen in der praxis zu beobachten, hier ergab
es sich ganz von selbst, stets von dem mündlichen Unterricht
auszugeben, den schülern die spräche zuerst durch sprechen vorzu-
führen, die ganze classe wurde gleichmäszig herangezogen, die aus
dem munde aufzufassenden regelmäszigen laute der französischen
ausspräche übten offenbar gerade durch ihre auffällige neuheit einen
starken reiz auf die schüler aus. sie hatten lust an der mit den
äuszerlichen mittein ihres noch leicht bildsamen organs zu übenden
nachbildung, das französische wort interessierte allein schon durch
seinen laut, was im lateinischen Unterricht nur selten zu bemerken
war. — Ferner konnte hier ohne langes bedenken gleichsam hinein-
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Zum späteren beginn deß lateinischen unterrichte.
25
gegriffen werden ins volle leben der jugend : kleidung und speise,
tagesordnung und schule, häusliches leben, Familienverhältnisse,
reisen, jedes tagesereignis, die stadt mit ihren bewohnern und deren
beschäftigungen , die umgegend, geschichtliche erinnerungstage,
stoff aus jedem beliebigen unterrichte, auch das kirchliche leben
und die ethischen Vorstellungen des kindergemüts, alles das liesz
sich zwanglos und ohne hindernisse sprachlicher bedingungen, welche
dem lehrer im lateinischen so oft entgegentreten, herbeiziehen, und
damit war denn auch ein reichliches 'inductionsmaterial' ge-
wonnen, um die formen aus der lebendigen spräche erfassen zu
lassen. — Dieser formen bedurfte es in weit geringerer und leichter
aufzufassender menge und art, um kurze sätze des raanigf altigsten
inhalts zu bilden, wie bald war die declination erfaszt, und für den
freieren gebrauch von Zeitwörtern kam die dem deutschen entspre-
chende Verwendung von avoir und ctre sehr zu statten, indem die
dazu gehörigen participien leicht als vocabeln gefaszt werden. —
Ferner die notwendige forderung, dasz der französische satz in einem
fortlaufenden flusse mit heraushebung des satztones gesprochen
werde, zwingt den knaben zur auffassung der beziehung der Satz-
teile zu einander und des ganzen gedankens, während man im latei-
nischen nur gar zu leicht mit dem bloszen mosaik der worte sich zu
begnügen geneigt ist. ohne zweifei ist die denkübung bei auffassung
der bildung des lateinischen satzes eine schwerere, man igf altigere,
combiniertere; aber sie ist in der that für den neunjährigen knaben
eine noch zu schwierige, wie oft bemerkt man nicht, dasz über der
anstrengung, eine lateinische form zu entziffern oder bei der Über-
setzung aus dem deutschen eine solche nach dieser oder jener regel
zu bilden, der Zusammenhang der Satzteile, der gedanke verloren
gebt, worauf dann der schüler anfängt, ganz äuszerlich weiter zu
tappen und den lehrer mit einer confusion über die andere zur Ver-
zweiflung zu bringen. — Endlich hat Lattmann bemerkt, dasz die
gelernten französischen sätzchen, gleich von dem M on jour, monsieur'
an, von den schülern zu hause oder unter einander angebracht wur-
den und dann eine freudige teilnähme der angehörigen erregten,
teils weil diese fremde spräche häufiger verstanden wird, teils weil
sich auch der gedanke damit verbindet, dasz das söhnchen da etwas
lernt, was er einmal im leben gebrauchen kann, während die sauere
stille bucbarbeit am latein oft genug bedauert wird, das wirkt natür-
lich sehr in entsprechenden richtungen auf das interesse am Unter-
richt. — Eine spräche lernen, heiszt zunächbt sprechen lernen;
und dasz darauf das französische hinzielt und gleich vom ersten
schritte an auf dieses ziel handgreiflich sich richten kann, während
das lateinische sogleich merken läszt, dasz es nur zum lesen zu
bringen ist, darin liegt ein vorsprung des Unterrichts in einer neueren
spräche, der von der ersten stunde an packend ist. — Im ganzen ge-
nommen war bei der beobachtung dieses französischen Unterrichts
(im vergleich zu dem lateinischen) weit mehr ein andauerndes
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26 Zum späteren beginn des lateinischen Unterrichts.
spontanes interesse zu bemerken, und die leistungen waren
gleichmäsziger fortgeschritten.
Der schlusz aus alle dem ist, dasz ich jetzt dem satze
Ostendorfs: «der fremdsprachliche Unterricht ist mit
dem französischen zu beginnen», entschieden zustimme:
dasz das früher nicht geschehen ist, hinderten nicht nur die oben
angeführten gründe, sondern namentlich auch der umstand, dasz da-
mals der streit vorflochten war mit dem heftig tobenden kämpfe der
realschule gegen das gymnasium und mit all den äuszerliehen ten-
denzen dieser rivalität. betrachtet man dagegen die sache nach den
neuesten ruhigeren darlegungen, so merkt man, dasz die frage jetzt
eine rein pädagogische geworden ist. möchten die neusprachler
dieselbe nur immer streng von diesem Standpunkte aus betreiben ;
es stehen ihnen in dieser beziehung so gute, sachlich
wahre gründe zur seite, dasz sie ohne zweifei ihr ziel
erreichen werden, wahrscheinlich bald.'
Schon in dem programm von 1871 hat Lattmann den beginn
des latein in quinta empfohlen, um bei den knaben das verlangen
nach realien zu befriedigen und weil er das lange hinziehen des
lateinischen elementarunterrichts durch drei classen für ein groszes
pädagogisches übel hielt. rman denke sich', sagte er schon da-
mals, rdie kenntnisse des lateinischen, welche ein guter sextaner ge-
wonnen hat, in dem köpfe eines 1 1—12 jährigen knaben; würde der
nicht sehr wohl den Cornelius Nepos lesen können ? denn mit den
notwendigen syntaktischen regeln wird man ihn neben der lectüre
ausreichend bekannt machen können.' — Wegen der herabsetzung
der lateinischen stunden beruft er sich auf den lehrplan von 1816,
der in VI und V nur 6, in allen übrigen classen 8 stunden ansetzte,
wenn man damit habe auskommen können zu einer zeit, wo der ge-
brauch der lateinischen spräche von allen studierenden gefordert
wurde, so werde man es auch wohl jetzt können, zumal nach ab-
schaffung des latein. aufsatzes. er räumt auch cm , dasz das latein,
an und für sich genommen, wohl auch auf dem gymnasium erst in
quarta begonnen werden könne, doch die rücksicht auf das in tertia
beginnende griechische bestimme ihn für den anfang in quinta.
Die zuletzt (1889) veröffentlichte schrift Lattmanns ist eine
ergänzung der besprochenen programm abhandlung. in der dar-
gebotenen form eines lehrbuchs soll gezeigt werden, dasz sich das
pensum der beiden unteren classen in dem einen jähre der quinta
wirklich bewältigen lasse, auch erschien es notwendig, einige er-
läuterungen und begründungen jenes Vorschlags und eine genauere
Schilderung des neuen methodischen Verfahrens diesem lehrbuche
voraufzuschicken, der in dem programm gegen das herkömmliche
verfahren erhobene Vorwurf, dasz es eine 'gros ze Zeitvergeu-
dung' in sich schliesze, wird näher nachgewiesen durch einen über-
blick des üblichen lehrgangs nach den beiden verbreitetsten lehr-
büchern von Spiess und Ostermann.
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Zum spateren beginn des lateinischen Unterrichts.
27
Es möge hier die Zusammenstellung aus Ostermann folgen :
sexta.
einzelsätze latein und deutsch.
MÜS
erste u. zweite declination . 1—7
adjectiva us, a, um. . . . 7—9
dritte declination. adjectiva 10 — 24
vierte u fünfte declination 24 — 28
comparation 29—32
esse und composita .... 33—37
Zahlwörter 48—50
pronomina 51 — 56
erste conjagation 38—47
zweite conjugation .... 57 — 66
dritte conjugation regelm.
nnd unregelm 67 — 79
vierte conjagation 80 — 88
deponentia 89 — 98
. .99-112
quinta.
einzelsätze, kleine zusammenhän-
gende stücke beigegeben.
erste u. zweite declination .
seit»
fabeln, erzählungen .
quinta.
dritte declination 5 — 9
vierte u. fünfte declination 10 — 12
comparation 12—14
numeralia 15 — 16
pronomina 17 — 18
adverbia, präpositionen, con-
junctionen.
erste conjugation 29 — 32
zweite conjugation .... 33 — 37
dritte conjugation
verb. mit dopp. nom.
- acc.
acc. ranm und zeit.
Städtenamen.
dat. bei esse.
gen. subj. obj.
- part.
(besondere Übungen
zum ablativ fehlen.)
acc. c. inf.
participia.
abl. abs.
vierte conjugation .... 52 — 56
verba anomala 67 — 68
gemischtes und zusammen-
hängendes.
quarta. tertia.
regeln mit latein. musterbeispielen, sonst nur
deutsche einzelsätze u. zusammenhängende stücke
übereinst, subj. präd.
apposition.
übereinst, des pron.
nominativ doppelter,
accusativ
räum, zeit, alt.
Städtenamen,
dat. esse c. dat.
medeor, esse gereichen zu.
gen. subj. obj. qual.
part.
begierig, erinn., schätz.,
beschuld., esse c. gen.
abl. instar, auct.,
bei verben, qual. modi,
tempor., bei comparat.
conj. abhängig von conj.
ut, ne, quo, quin usw.
conj. in relativsätzen.
acc. c. inf.
participia.
abl. abs.
gerund,
supinum.
übereinst, d. Satzteile.
nominativ doppelter,
accusativ
dativ.
genitiv.
tempora indicativ.
conj. in unabhängigen
Sätzen,
conj. abhängig von
conj. ut, ne usw.
dazu quasi, dum-
modo, nedum.
conj. in relativsätzen.
conj. in abh. fragen,
imper. infin. ut u. quod.
oratio obliqua.
participia.
gerund. u. gerundiv.
supinum.
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28
Zum späteren beginn des lateinischen unterrichte.
Danach werden ateo formenlehre und syntax je zweimal hinter
einander das jahrespensum der sexta in dem ersten halb jähr der
quinta, das jahrespensum der quarta im laufe der zwei jähre der
tertia je wiederum in der nemlichen reihenfolge durch-
gearbeitet; für die syntax bietet auszerdem das zweite halbjahr der
quinta einen dritten an dieselbe reihenfolge sich anschlieszenden
auszugsweisen lebrgang. die wiederholungsstufen umfassen aller-
dings auch erweiterungen , aber doch innerhalb der durchgehenden
Wiederholung des nemlichen Stoffes. f ein solcher ganz äuszerlich den
Paragraphen der grammatik wiederholt nachgehender gang kann
nicht — meint Lattmann — als eine methodische anläge des lehr-
plans gelten.' die Verfasser derartiger lehrbücher pflegen das auf-
steigen vom leichteren zum schwereren als ihre 'methode' zu be-
zeichnen, was dadurch erzielt werde, dasz in den Übungssätzen
anwendungen des früher gelernten fortwährend so häufig als mög-
lich angebracht werden, aber abgesehen von der lästigen Übertrei-
bung dieses princips kommen wunderbare Verwicklungen heraus, wie
8. 5 ff. ausführlich gezeigt wird.
Weiter spricht L. die hoffnung aus, dasz durch einen späteren
beginn des lateinischen in Verbindung mit einer wirklich metho-
dischen gestaltung de9 Unterrichts eine beschleunigung und
Zeitersparnis erzielt werden könne, dieser grundsatz ist seit
1882 schon anerkannt, indem man sich damit tröstet, dasz, 'was an
zeit genommen ist, durch methode ersetzt werden musz'. 'aber was
ist denn — fragt er — seit dieser zeit als besserung der methode
zum Vorschein gekommen?' doch nur das bestreben, den 'unnötigen
ballast aus den grammatiken über bord zu werfen.' das ist aber
kein methodisches princip, sondern zielt auf eine Verminderung des
lebrstoffes ab. gleichwohl ist eine Vereinfachung des lernstoffes im
elementarunterricht dankbarst anzunehmen, 'es musz aber auf-
fallen, dasz trotzdem noch niemand ausgesprochen hat,
dasz dem zufolge gerade in den unteren classen eine
zeiteinschränkung zulässig sei.' — 'eine Verkürzung des
lateinischen unterrichte, welche den so dringenden und begründeten
forderangen der modernen bildung einen erheblichen räum abtreten
kann, wird also nur dadurch möglich werden, dasz man das bis-
herige methodenlose verfahren in ein methodisches umzu-
wandeln sucht.'
Ich füge hinzu, dasz eine solche Verkürzung keine beeinträch-
tigung ist, weil sie diesen Unterricht in dem richtigen alter beginnen
läszt, nachdem die knaben durch einen ausgibigeren Unterricht in
der muttersprache und durch die vorangehende moderne fremd-
sprache zu dem latein 'zubereitet' worden (wie Herder sagte),
dasz die lehrer dann gezwungen wären, ihren lehrgang planmäsziger,
methodischer zu gestalten, grammatischen 'ballast' über bord zu
werfen; und ich behaupte mit hinweis auf jene Zusammenstellung
aus Ostermann, dasz nicht nur das pensum der sexta und quinta
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Zum späteren beginn dea lateinischen Unterrichts.
29
einerseits, sondern auch das syntaktische der quarta und Untertertia
anderseits in je einem jähre sehr gut bewältigt werden , dasz also
volle zwei jähre ohne Schwierigkeit, ja zum vorteil des lateinischen
Unterrichts selbst gespart werden können, gerade mit dem allzu
langen hinschleppen des lateinischen Unterrichts stehen die verhältnis-
mäszig geringen leistungen im engsten Zusammenhang, es ist eine
bekannte psychologische thatsache, dasz eine intensivere arbeit in
kürzerer zeit innerhalb eines gewissen maszes mehr erreicht als wenn
dieselbe kraft allzu lange und über dieses masz hinaus angespannt
wird. — Mehr als sechs stunden am tage dürfen unsere Soldaten
nicht exercieren, weil sonst ihre kräfte mehr geschwächt als gestärkt
werden. —
Es würde mich zu weit von meinem vorhaben abführen , wenn
ich die nun folgenden trefflichen methodischen ausführungen Latt-
manns behandeln wollte, sie reihen sich würdig an seine bekannten
methodischen Schriften von 1866, 1871, 1882, 1885 an und gehören
wie diese zu dem eisernen bestand der Schriften, mit denen jeder
junge philologische lehrer sich bekannt machen musz. erwähnen
will ich nur noch, dasz er s. 10 bei erörterung der fapperception'
hervorhebt, dasz für die erlernung der lateinischen vocabeln eine
voraufgehende neuere spräche eine reiche ausbeute geben werde.
In einem 'nachtrug' erklärt Lattmann: er wolle die frage offen
halten, ob nicht das englische als erste fremdsprache wenigstens für
das nördliche Deutschland zweckmäsziger sei. er meint, die englische
litteratur sei für die pädagogischen zwecke deutscher schulen ge-
eigneter, auch habe Vieweger nachgewiesen, dasz die Schwierigkeit
des zu .früh begonnenen und an erste stelle gesetzten lateinischen .
Unterrichts daraus entspringe, dasz der schüler mit einer überreichen
complicierten formenbildung überschüttet werde, ehe er noch die
begriffliche grundlage allen Sprachunterrichts, die bedeutung der
kategorien genügend aufgenommen habe, dasz dagegen das englische
gerade wegen seiner auszerordentlichen formeneinfachheit vor allen
andern sprachen geeignet sei, diese begrifflichen grundlagen als
solche zur klaren anschauung zu bringen, die lexikalische Verwandt-
schaft des englischen mit dem deutschen und seine einfache formen-
lehre ermögliche weit früher und in umfangreicherem masze eine
zusammenhängende lectüre. — In meinem aufsatze : 'werden die
grammatischen grundbegriff e besser an der lateini-
schen oder an der französischen spräche erkannt?' (neue
jabrbücher 1889) habe ich mit bezug auf Vi e wegers bekannte schrift
zn zeigen versucht, dasz das französische zwar nicht so gut als das
englische geeignet ist, die grammatischen kategorien erkennen zu
lehren, jedoch weit mehr als das lateinische mit seinen 'volleren,
plastischen* formen, für die priori tät des französischen fällt
schwer in die wagschale, dasz es diejenige fremdsprache ist, welche
allen höheren schulen gemeinsam ist, dasz es also den grün d stock
bildet für einen gemeinsamen unterbau des gesamten höheren schul-
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30
Zum späteren beginn des lateinischen Unterrichts.
wesens , welcher sicher gelegt werden wird , weil er gelegt werden
musz.
Das französische bat sich als erste fremdsprache zur vollen Zu-
friedenheit der aufsichtsbehörden bewährt vor allen schon seit zehn
jähren in Altona, dann in Güstrow und Magdeburg, das englische
in Geestemünde.
Zum schlusz versichert Lattmann , er veröffentliche seine Vor-
schläge ohne das drückende gefühl, nur notgedrungene concessionen
machen zu müssen , vielmehr im bewustsein , als altphilologe durch
pädagogische gründe geleitet zu sein, welche zunächst auf eine
innere belebung des altsprachlichen Unterrichts und eine zeitgemäsze
werterhöhung desselben abzielen.
Der treffliche philologe war stets in erster linie pädagoge, als
leiter eines gymnasiums einer kleinen stadt, in welcher auszer
diesem keine höhere schule vorhanden ist, hat er die not, das
elend des lateinzwanges von sexta an zu erkennen reichliche ge-
legenheit gehabt, der begeisterte humanist hat sich aus eigner Er-
fahrung zu der Überzeugung durchgerungen , dasz auch auf dem ge-
biete des staatlich geleiteten höheren Schulwesens nur auf dem wege
des compromieses befriedigende zustände zu erreichen sind.
Von den mir bekannten viernndzwanzig besprechungen meiner
erwähnten schrift ist die von 0. Weissenfeis (Zeitschrift f. gymnasial -
wesen 1888 s. 693—614) die ausführlichste und gründlichste, ob-
gleich sie freilich die darin enthaltenen didaktischen erörterungen
und die von den grundsätzen der psychologie hergeleiteten metho-
dischen principien wenig berührt, ich bin dem herrn collegen sehr
dankbar für die wohlwollende, sachgemäsze, objective art der be-
handlung des gegenständes, welche trotz seiner grundsätzlich ab-
lehnenden Stellung zu der frage einen weiteren meinungsaustausch
wohl ermöglicht hätte, eine erwiderung auf einige punkte der
kritik in derselben Zeitschrift wurde mir jedoch durch die scbrift-
leitung unmöglich gemacht mit der er klarung, dasz für sie die
erörterung des gegenständes abgeschlossen sei. daher gestatte ich
mir, an diesem orte jene absieht auszuführen, nicht etwa aus irgend
welchen persönlichen gründen , sondern rein um der hochwichtigen
frage willen, welche, wie der verstorbene Bonitz mir in seinem
letzten lebensjahre schrieb, 'nicht wieder von der tagesord-
nung der pädagogischen erörterungen verschwinden
darf. — Weissenfeis sagt:
1) Das latein stehe in einer glücklichen mitte zwischen der
verwirrenden Überfülle der älteren sprachen mit ihren zahlreichen
endungen zur bezeichnung von allerlei nebensächlichem und der
formenarmut der modernen sprachen, die einen ausgedehnten ge-
brauch des artikels, der fürwörter und eine streng logische Wort-
stellung brauchen, um sich verständlich zu machen, im ganzen seien
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Zum späteren beginn des lateinischen Unterrichts. 31
es nur wesentliche unterschiede, die durch den formenreichtum des
lateinischen ausgedrückt werden.
Von einer verwirrenden überfülle und zahlreichen endungen
zur bezeichnung von allerlei nebensächlichem hat das latein nach
meiner meinung sich nicht frei gemacht, schon wiederholt habe ich
darauf hingewiesen, dasz es häufig für eine deutsche form verschie-
dene formen bietet, von denen manche recht gut au3 der grammatik
weggenommen werden könnten ohne einbusze an klarheit. die
geistige besitznahme der denkformen einer einzigen declination
würde z. b. für die unterste stufe genügen, das latein mutet da-
gegen den sextanern die erlernung von fünf declinationen zu. für
den anfang kommt es darauf an , dasz der scbtiler erkenne , welche
mittel die fremde spräche zum ausdruck der verschiedenen gramma-
tischen beziehungen anwendet; die menge der formen kann nur ver-
wirren, sie verhindert das scharfe erfassen der begrifflichen grund-
lage, dessen der grammatische Unterricht bedarf, erschwerend
wirkt auch die mehrdeutigkeit der lateinischen endungen : ein Sub-
stantiv auf us kann sein nom. sing, der zweiten, nom. und acc. sing,
der neutra der dritten, nom. und gen. sing, und nom. und acc. plur.
der vierten declination. ähnlich verhält es sich mit den endungen
a, e, i, o, um, em, deren keine nur auf eine form anwendbar ist. fast
alle lateinischen endungen passen auf verschiedene casus, numeri
und declinationen. sehr richtig hat Vieweger gesagt, der grund-
irrtum , dasz die lateinischen endungen besonders 'plastisch' seien
und dasz deshalb nur das latein die begriffliche grundlage bilden
könne, beruhe auf der Verwechslung von logischen und gramma-
tischen beziehungen (näheres s. in meinem aufsatz: 'werden die
grammatischen grundbegriffe besser an der lateinischen oder an der
französischen spräche erkannt?'). — Wenn der weg vom leichteren
zum schwereren der weg aller erkenntnis ist, so musz auch die erste
fremde spräche von den für den zweck der erkenntnis nutzlosen
Schwierigkeiten möglichst frei sein, zu diesen Schwierigkeiten
rechnet auch Maurer1 die flexionsformen , soweit sie nicht in be-
grifflicher Unterscheidung, Bondern nur in dem zufall der Stammes -
verschiedenheit ihren mehrheitsgrund haben, dadurch dasz das
französische die Casusbeziehungen präpositional , also auf die denk-
bar einfachste weise ausdrückt, bat es einen groszen vorzug vor dem
lateinischen, das mit seinen verschiedenartigen declinationen einen
aufwand an zeit und kraft erfordert, welche damit dem eigentlichen
zweck entzogen werden, derselbe Maurer weist in ähnlicher weise
wie ich die ansieht zurück, dasz die 'volleren' formen des lateini-
schen ganz besonders geeignet seien , das Verständnis der gramma-
tischen beziehungsbegriffe zu vermitteln, er sagt darüber a.o. s. 17 :
1 in seiner inhaltschweren schritt: 'die lateinfrage oder in welcher
richtnng musz die reform des gymnaaiums sich bewegen?' beilage zum
Programm der St. Gallischen kantonsschule 1889.
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32
Zum späteren beginn des lateinischen Unterrichts.
'aber wo sind denn diese vollen formen, welche deutlicher sprechen
sollen als die anderen? sagt denn die endung -is von patris mehr
als das -s des deutschen genitivs vaters oder als die präposition in
du pere? um den beziehungswert in domus patris zu verstehen, gibt
es schlechterdings kein anderes mittel als das, welches auch beim
entsprechenden deutschen oder irgend einem fremdsprachlichen aus-
drucke zum ziele führt: eine reflexion über das sachliche Verhältnis
von haus und vater, eine reflexion, welche lehrt, dasz das eine besitz
des andern sei, welche also auf den begriff des besitzverhältnisses,
eine species des angehörigkeitsverhältnisses führt, oder läszt sich
etwa aus veniat der conjunctivbegriff leichter gewinnen als aus
'komme* oder vienne? nur eine reflexion über die Situation, d. h.
hier über das Verhältnis des sprechenden (sofern die aussage eine
selbständige ist) zu dem satzsubjecte lehrt, was der conjunctiv meine
i'wille, erlaubnis, wünsch), musz man wirklich bei den alten an-
klopfen, um zu ersehen, was das perfect bedeute, als ob «ich habe
gethan» oder j'ai fait nicht sogar eine deutlichere spräche redete als
feci? man sollte glauben, dasz die formen der alten spräche die
begriffe nur ablesen lieszen, und doch ist augenscheinlich, wie wenig
dies der fall ist: von den beziehungscomponenten aus-
gehende besinnung über das sachliche Verhältnis ist
dort der erkenntnisweg wie anderswo, vermutlich denkt
man bei einer behauptung, wie die oben angeführte ist, an die per-
sonalendungen des verbums, aber wenn es gilt, das finite verbum
als ein compositum aus verbalstamm und Personalpronomen zu ver-
stehen, so wird, wenn doch einmal eine fremde spräche zu dieser
erkenntnis verhelfen soll, das französische nicht schlechtere dienste
leisten als das lateinische.' . . . 'man identificiert mit ver-
hängnisvollem irrtum das begriffliche Verständnis der
sprachformen mit der erkenntnis der ursprünglichen
wort formen, bzw. mit dem wissen von den lautlichen Wand-
lungen derselben, aber die geschichte der grammatischen formen
kommt in der regel nicht über blosze laute hinaus; es bleibt nicht
nur die auch in den modernen ausläufern noch gegebene möglich-
keit verschiedene bestandteile zu unterscheiden, ohne dasz die bil-
dungssilbe mit Sicherheit sich identificieren liesze mit einer be-
grifflichbestimmten lautgruppe, von der das licht der erkennt-
nis auf jene, bzw. die damit gebildete form zurückfiele, und was auf
diesem wege sich etwa als ursprüngliche begriffsau ffassung gewinnen
läszt, ist wiederum weit davon entfernt, die bedeutung der ausgebil-
deten spräche zu bieten, der sanskritische genitivausgang -asya ist
so stumm wie das -i des lateinischen; seine kenntnis vermittelt wohl
die verschiedenen genitivbildungen der griechischen o-stämme, ist
aber für die erkenntnis des genitivbegriffs schlechthin wertlos.' *
* sehr richtig bezeichnet Maurer die ansieht, man müsse die alten
sprachen schou darum studieren, weil man mit ihrer bilfe die fremd-
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Zum späteren beginn des lateinischen Unterrichts
33
2) In den alten sprachen überwiege, raeint Weissenfeis, im
allgemeinen die tendenz zum concreten ausdruck, während in den
modernen der bang zum abstracten lebe.
Aber jenes concreto des ausdrucks ist fUr schüler doch ein ab-
stractea, weil in der modernen Umgebung die anschaulichen gegen-
bilder davon fehlen, wie Weissenfeis selbst andeutet, viel mehr ent-
scheidend ist doch die Verteilung der in der spräche zum ausdruck
gebrachten begriffe Überhaupt, die starke ab weichung der begriff-
lieben Ordnung des lateinischen von der des deutschen, die von den
zu lernenden worten vertretenen begriffe müssen dem knaben ge-
läufig sein, also womöglich keine abstracta sein, vielmehr benennun-
gen der ihn umgebenden sinnlichen gegenstände, da dies jedoch bei
dem groszen unterschied der antiken und modernen realien sich von
selbst verbietet, so musz der lateinische Unterricht sich mit vocabeln
und sätzen alsbald auf das gebiet der abstraction begeben, und hier
beginnt bei den starken und häufigen ab weich ungen der begrifflichen
Ordnung des lateinischen von der des deutschen für den sextaner eine
arbeit, die viel intensiver ist als die mit den syntaktischen regeln,
bei keinem lateinischen worte ist er sicher, dasz sich nicht in dem
Zusammenhang, in welchem es sich gerade befindet, hinter ihm eine
Vorstellung verbirgt, deren Vertreter erst durch eine mühevolle arbeit
gefunden werden kann.3 gewis ist dieses suchen nach der richtigen
vocabel die beste geistige gymnastik, welche der lateinische Unter-
richt bietet, eine bessere als die beschäftigung mit den syntaktischen
regeln, aber eine solche Verfolgung der differenzier ung der begriffe,
wie sie der lateinische Unterricht von anfang an verfolgt, sollte man
dem jugendlichen geiste nur dann auferlegen , wenn er durch einen
ausgibigeren gebrauch der muttersprache und durch die Vermittlung
einer modernen fremdsprache auf dem gebiete des abstracten einiger-
raaszen heimisch geworden ist.
Das f concreto' für die erkenntnis der sprachlichen formen ist
der satz, das inhaltliche Verständnis des satzes. je klarer sein inhalt,
desto besser werden die grammatischen beziehungen erkannt, der
knabe denkt, wie der erwachsene, in der muttersprache, und kann
nur in ihr denken, will man nun durch die fremde spräche den be-
griffst eh atz der muttersprache bewust machen, so ist diejenige
spräche geeignet, die zur Vertiefung und er Weiterung der erkennt-
wörter besser verstehe, als eine durchaus irrtümliche, ein wort ver-
stehen heiszt seinen begriff kennen, was sachliches wissen voraussetzt,
die etymologie eines Wortes hilft nicht zu dem verstehen eines begriffes,
sie führt sogar häufig irre, auch erfordert ihre erkenntnis doppelte arbeit,
weil der etymologische sinn nnd der moderne begriff sich nicht decken,
kein wortwissen kann die kenntnis der den begriff bildenden sache er-
setzen, weshalb leute ohne kenntnis der alten sprachen sehr oft mit
den fremdwürtern in einem vertrauteren Verhältnis stehen als diejenigen,
welche sich classischer bildung rühmen.
• man vergleiche die trefflichen ausführuugen von Lichtenheld in
seinem bekannten werke.
N. jührb. f. phil. u. pid. IL abU 1891 hfl. I. 3
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34
Zum späteren beginn des lateinischen unterrichte.
nis beiträgt und das lautliche abbild von zuständen ist , welche den
eignen zwar nicht ganz gleich sind, aber das wesen der vorgeschrit-
teneren zeit ausdrücken; weniger ist geeignet die spräche, welche
der ausdruck eines ärmeren und einseitigeren lebens ist. der schüler
musz in dem alter, in dem er die fremde spräche beginnt, seiner
eignen zeit sich bewust werden, was durch bekanntschaft mit der
stofflichen seite der ersten fremdsprache geschieht, erkennt er die
begriffiBspaltungen des französischen, so blickt er in seine Umgebung,
in seine zeit , was bei dem beginn des lateinischen Unterrichts nicht
möglich ist. — Die gröszere manigfaltigkeit der Wortbedeutungen
der alten sprachen und die gröszere Sinnlichkeit ihrer auffassungs-
weise verlangen gröszere reife des geistes. ist die in der fremden
spräche niedergelegte begriffliche Ordnung eine vollständig ver-
schieden geartete, materiell abweichende und unvollkommenere, so
ist eine Übersetzung überhaupt nur teilweise möglich, in der latei-
nischen spräche , welche eine stofflich anders geartete und ärmere
begriffsbildung aufweist, können viele unserer modernen begriffe
nicht ausgedrückt werden. 4
Also: die erste fremdsprache musz — für den sextaner
— der muttersprach e gleichartig und an reichtum der
begriffsspaltungen mindestens gewachsen sein.
Dies dürfte sich noch deutlicher ergeben durch eine betrach-
tung der arbeit des Übersetzens : bei dem hinübersetzen findet statt
eine Übertragung der begriffe der muttersprache. diese Übertragung
ist eine be wustmachung, eine aneignung von wissen in der
muttersprache. bei dem hertibersetzen findet statt eine einkleidung
der schwierigeren fremdsprachlichen begriffe in das gewand der
muttersprache. diese arbeit erfordert den besitz des Wissens,
weil sie zu seiner anwendung zwingt, die aneignung des Wissens
geht aber auch hier, wie überall, seiner anwendung voraus, die erste
arbeit geschieht im bereiche des muttersprachlichen denkens, die
zweite fordert ein denken in der fremden spräche, sie verlangt, dasz
aus der fremden spräche heraus in der muttersprache gestaltet werde,
die zweite arbeit erfordert also eine gröszere geistige reife, daraus
folgt, dasz die erste fremdsprache eine solche sein musz,
deren wortbegriffe gröszere bestimmtheit aufweisen,
um die aneignung des begrifflichen wissens zu ermög-
lichen .. . sie musz daher eine moderne fremdsprache sein, an
ihr erringt der schüler klarheit der begriffe und — da sein denken
in der muttersprache sich vollzieht — Sicherheit in der anwen-
dung der muttersprache. dann erst ist der geist erstarkt für
das latein, welches anwendung des bewust gemachten
wissens verlangt, wir beginnen das latein früher als jene be-
wustmachung, jene aneignung des wissens, das heimischwerden auf
4 man vergleiche auch hierüber die vortrefflichen erörterungen
Maurers a. o.
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Zum späteren beginn des lateinischen unterrichte. 35
dem gebiete des abstracten erfolgen kann, und darum tritt das latein
zu unvermittelt an die schOler heran. — Es ist ganz natürlich, dasz
darunter die Sicherheit im gebrauch der muttersprache leidet, da ja
das denken an sich und der ausdruck in der muttersprache in not-
wendiger Wechselwirkung stehen und das um so mehr, je jünger der
mensch ist.
Herder sagt in seinem livländischen schulplane: 'die spräche
(die französische) ist einförmig, philosophisch an sich schon, ver-
nünftig: ungleich leichter als die deutsche und lateinische, also
schon sehr bearbeitet, zudem hats auch den Vorzug, wenn man an
ihr philosophische grammatik recht anfangt, dasz ihr genie zwi-
schen der lateinischen und unserer steht: von dieser
wird also ausgegangen und zu jener zubereitet.'
3) Weissenfeis meint: soll seine (des werdenden menschen) bil-
dung tiefere wurzeln treiben, so ist es wichtig, dasz frühzeitig, ehe
noch ein zweites modernes sich an seine moderne seele drängt, die
keime einer fremden cultur in ihm gepflegt werden ... es musz
eine verjüngende kraft in die höher strebende seele gepflanzt wer-
den, ehe im angestrengten verkehr mit einer zweiten modernen ge-
dankenform jene jugendlichkeit des sinnes eine neue Schwächung
erfahrt ... die seele des knaben ist dem latein verwandt ... so
setzen wir der modernen ältlichkeit mit dem latein den typus einer
jugendlichen geistesform gegenüber, den wir allerdings viel reicher
und reiner im Homer entwickelt sehen.
Mit nicbten! soll des werdenden menschen bildung tiefere
wurzeln treiben, so musz er im kleinen den geistigen entwicklungs-
gang durchmachen, den die menschheit im groszen durchgemacht
hat. wie diese aus der naiven anschauung heraus durch zusammen-
fassen des angeschauten sich begriffe gebildet hat, so musz sich auch
das kind möglichst lange durch die anschauung zum begriffe durch-
arbeiten, wobei freilich selbstverständlich ist, dasz infolge des von
den eitern ererbten geistigen besitzes der weg unendlich viel kürzer
ist. daher der bekannte grundsatz Pestalozzis und Diesterwegs: es
darf nichts von auszen an das kind gebracht werden,
alles musz von innen heraus entwickelt werden und
einem bedürfnis des kindes entsprechen, wohl läszt sich
bezweifeln, dasz dieser satz in seiner ganzen unmittelbarkeit auf die
schule anwendung finden kann, denn wie sollte z. b. deutschen kna-
ben jemals das bedürfnis, das sehnen nach den alten sprachen kom-
men? aber Weissenfeis scheint dies zu meinen: er sagt, die seele
des knaben sei dem latein verwandt, die neigung der knabenseele zu
dem alten will er schleunigst befriedigen, ehe das böse moderne sich
zum zweiten mal an die moderne seele des knaben herandrängt. —
Das erste üble moderne ist also unsere geliebte muttersprache.
(auffallend ist, dasz die seele, die er als modern bezeichnet, doch
dem antiken verwandt ist.) — Ich dächte, ehe die seele sich zu dem
latein begibt, seien erst moderne culturkeime in noch viel vollerem
3*
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36
Zum spateren beginn des lateinischen unterrichte
masze ihr einzupflanzen, damit sie zu dem latein 'zubereitet'
werde, wie Herder sagte, unseren kleinen jungen musz das alter-
tum vermittelt werden, ehe sie interesse für dasselbe fassen können,
müssen sie über ihre nächste Umgebung wenigstens im wesentlichen
aufgeklärt sein, sie müssen ihre engste heimat kennen lernen, dann
die weitere, dann das Vaterland, endlich die Verhältnisse eines frem-
den landes und volkes der gegenwart. dann erst sind sie vorbereitet
für die bekanntschaft mit den alten Völkern, zur Vorbereitung für
die alten sprachen musz das gefühl für die muttersprache
geweckt werden und dann die Vermittlung durch eine moderne
spräche bewirkt werden.5 so würde alles, was in den geist der
schüler eindringt, sich an verstandenes anschlieszen und somit würde
jenem von Pestalozzi aufgestellten satze in etwa9 rechnung getragen
werden, so würde auch die bildung des werdenden menschen (der
kleinen jungen, die noch nicht einmal in der muttersprache einiger-
maszen sichern boden gewonnen haben) tiefere und bessere wurzeln
treiben.
Was nun die 'jugendliche geistesform', die 'verjün-
gende kraft' des latein anlangt, so dachte Herder, den Weissen-
fels als pädagogen hochschätzt6, ganz anders, in seinem noch viel
zu wenig beachteten reisejournal sagt er : 'man lobt das kunststück,
eine grammatik als grammatik, als logik und Charakteristik des
menschlichen geistes zu lernen; schön! sie ists, und die lateinische,
so sehr ausgebildete grammatik ist dazu die beste, aber für kinder?
die frage wird stupide! welcher quintaner kann ein kunststück von
casibus, declinationen , conjugationen und syntaxis philosophisch
übersehen? er sieht nichts als das tote gebäude, das ihm
qual macht, ohne materiellen nutzen zu haben, ohne eine spräche
zu lernen, so quält er sich hinauf und hat nichts gelernt, man sage
nicht, die toten gedächtniseindrticke, die er hier von der philosophi-
schen form einer spräche bekommt, bleiben in ihm und werden sich
zeitig genug einmal entwickeln, nicht wahr! kein mensch hat mehr
anläge zur philosophie der spräche als ich, und was hat sich aus
meinem Donat je in mir entwickelt.' — Ebenda sagt Herder: 'man
verliert seine jugend , wenn man die sinne nicht gebraucht, eine
von Sensationen verlassene seele ist in der wüstesten einöde und im
schmerzlichsten zustand der Vernichtung . . . man gewöhnt die seele
des kindes, um nicht in diesen zustand zu kommen, wenn man sie
in eine läge von abstractionen , ohne lebendige weit, von lernen
ohne sachen , von Worten ohne gedanken hineinquält, für die seele
des kindes ist keine grössere qual als diese: denn begriffe zu er-
5 ich erlaube mir den hinweis auf meinen aufsatz: rin welcher weise
würde die prioritUt des französischen auf den deutschen elementarunter-
richt einwirken' (neue jahrbücher 1888>.
6 er sagte einmal in der Zeitschrift für gymnasialwesen sehr treffend:
Herder habe die deutsche natur aus den banden eines engherzigen classi-
cismus erlösen wollen.
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Zum späteren beginn des lateinischen Unterrichts. 37
weitem wird nie eine qual sein, aber was als begriffe einzubilden,
was nicht begriff ist, ein schatten von gedanken, ohne Sachen; eine
lehre ohne vorbild, ein abstracter satz, spräche ohne sinn — das ist
qual, das ältert die seele.'
4) f Je flacher der sinn ist — sagt W. — um so leichter findet
er sich ohne stutzen und staunen in dem modernen zurecht, und je
tiefer er ist, um so gröszer ist sein dunkles verlangen, in der ferne
ein correctiv und eine ergänzung des gegenwärtigen zu suchen.'
Es bandelt sich doch nicht um erwachsene, sondern um unsere
neunjährigen knaben. ihr interesse ist vor allem auf die sie um-
gebende weit gerichtet, nach meinen beobachtungen ist es der natur-
wissenschaftliche Unterricht , dem sie ein wirklich reges — sagen
wir spontanes — interesse entgegenbringen, das latein ganz gewis
nicht, des Stutzens und Staunens bietet ihnen das letztere allerdings
genug, aber nicht etwa ein solches, bei welchem ihr dunkles ver-
langen , in der ferne ein correctiv und eine ergänzung des gegen-
wärtigen zu suchen , befriedigung fände.
5) 'Es läszt sich nicht das harmloseste auf französisch sagen,
ohne dasz sich gleich das moderne grau Uber den gedanken breitet,
für den sextaner ist sie (die französische spräche), auch wenn sie ein-
faches behandelt, stets zu keck und altklug, selbst vornehme ge-
danken klingen naiv , wenn sie den alten sprachen gemäsz ausge-
drückt werden, wogegen die modernen sprachen, selbst wenn sie sich
zu den kindern herablassen , die gröste mühe haben, ihre ältlichkeit
zu verbergen.'
Weissenfeis hat mit diesen Sätzen einen gegenständ berührt, zu
dessen gründlicher erörterung sehr weit ausgeholt werden müste.
das 'moderne grau' ist eins der worte, die für einen etwas nebel-
haften begriff zu rechter zeit sich einstellen. Weissenfeis scheint zu
meinen , dasz das französische als moderne spräche allzu sehr von
des gedanken* blässe angekränkelt sei, vielleicht meint er auch, dasz
es ganz hervorragend vor den andern lebenden spra-
chen eine reflectierende spräche sei. in gewissem sinne könnte
man das letztere wohl zugeben, 'ce qui n'est pas clair n'est pas
francais' ist ein stolzes wort, aber ein nicht unberechtigtes, indes
schlägt die logik dieser spräche bei manchen meistern derselben
leicht um in eine raffinierte und pointierte Sprechweise, wer kennt
nicht die witzworte Voltaires, in denen die spräche die gedanken-
funken fast ebenso hervorzulocken als trägerin derselben zu sein
scheint, frau von Stael sagt in ihrem prächtigen werke über Deutsch-
land, da das französische mehr als irgend ein anderer dialekt Europas
gesprochen werde, so sei es zugleich abgeschliffener durch den ge-
brauch und zugespitzter für die berechnung, keine spräche sei klarer,
schneller, deute leichter an, was man sagen wolle, man höre selten
unter den Deutschen sogenannte bon mots, sie seien stark in den
gedanken selbst, nicht in dem cclat, den man ihnen gebe, aber die
geistvolle beobachterin war doch weit entfernt, diese seite der
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38 Zum späteren beginn des lateinischen Unterrichts.
spräche als ihre wichtigste und stärkste anzusehen, und in der
that hat das hochbegabte volk die besten schätze seiner reichen litte-
ratur doch nicht blosz auf dem gebiete des esprit und der satire
aufzuweisen, so sehr auch der alte esprit gaulois und railleur in
allen Jahrhunderten seine Vertreter gefunden hat. aber der von
f rau von Stael angedeutete gegensatz ist es, der uns
D eutschen in die äugen sticht, uns die übrigen Vorzüge der
spräche leicht übersehen läszt und glauben macht, die ätzende lauge
des spottes, der 6clat des esprit habe alle blüten des gemüts er-
stickt. V. Hugos spräche ist bei uns bekannt als grotesk, manieriert,
raffiniert; aber wie viele kennen die harmlose, tiefinnige, gemüt-
volle spräche der kinderlieder , die er seinen enkeln gedichtet bat?
gewis ist das französische keine eigentlich poetische spräche, aber
des harmlos gemütvollen , der frischen lebensvollen blüten bietet es
für unsere jugend genug, und selbst wenn dem nicht so wäre, würde
wirklich das in französischem gewand gebotene einfache unseren
sextanern zu 'keck und altklug' erscheinen? nein, noch viel weni-
ger als etwa unsere tertianer beim beginn des griechischen diese
spräche als eine jugendfrische und harmlose empfinden und schätzen,
das Verständnis für die ästhetische seite der spräche beginnt bei
unserer jugend ziemlich spät, im allgemeinen wohl kaum vor dem
sechzehnten jähre. — Keck und altklug wären die sextaner, welche
das französische keck und altklug fänden.
Wie steht es denn aber mit der harmlosigkeit und jugend-
frische des lateinischen? ich behaupte: es ist durchaus verkehrt,
die lateinische spräche in ihren formen wie in ihren syntaktischen
Verbindungen als naiv zu bezeichnen, und was die römische litteratur
anlangt: gibt es — um von der prosa ganz zu schweigen — einen
römischen dichter, in dem nicht die reflexion herscht? beides, spräche
und litteratur, sind rhetorisch zugespitzt, so urteilte Goethe, über
eine lateinische Ubersetzung von Hermann und Dorothea äuszerte
er: es falle ihm auf, dasz die römische spräche nach dem begriff
strebe, dasz, was im deutschen sich unschuldig verschleiere, zu
einer art von sentenz werde. — Weissenfeis behauptet, die modernen
sprachen haben mühe, ihre ältlichkeit zu verbergen, selbst wenn sie
sich zu den kindern herablassen, ich frage: hat dies einer von den
alten gethan? sie schrieben nicht für die jugend, sondern für männer,
Staatsbürger, politiker.7 das that Cornelius Nepos, mit dem wir in-
folge dessen unsere Staatsbürger und politiker schon im elften lebens-
jahre bekannt machen, dasselbe gilt von Caesar. 'da Caesar ur-
sprünglich nicht für unsere tertianer , sondern für seine landsleute
(männer) , die gleich von kindheit an latein sprechen konnten , ge-
schrieben bat, so sind die Schwierigkeiten des textes, sprachliche wie
7 es wird immer wieder übersehen, dasz es für uns sehr schwer ist,
das ältliche an den alten zu erkennen, weil sie für uns in die anreole
unserer jugenderinnerungen getaucht sind, während wir die modernen
erst im spätem alter, bei vorwiegender reflexion kennen gelernt haben.
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Zum späteren beginn de» lateinischen Unterrichts. 39
sachliche, oft so grosz, dasz der arme schuler beim redlichsten be-
mühen dieselben ohne einige hilfsmittel nicht Uberwinden kann;
brauchen doch selbst wir, seine lehrer, auch solche bilfstruppen bei
unserer präparation' (bericht der Posener directorenversammlung
1888, W. 8. 63). — Herbart war der ansieht, es gebe keinen ein-
zigen lateinischen Schriftsteller, der auch nur erträglich tauge, um
ins altertum einzuführen, und weil es an einer geeigneten lateini-
schen leetüre für knaben fehle , so sei es unmöglich , für den latei-
nischen Unterricht interesse zu wecken, daher wollte er mit dem
griechischen und zwar mit der Odyssee beginnen. — Erst seit dem
Christentum hat man sich zur jugend herabgelassen, erst christliche
erzieher haben eine wirkliche, echte, segensreiche jugendlitteratur
geschaffen, ganz besonders hat England hierzu fruchtbare anregung
gegeben, wo die berühmtesten Schriftsteller es nicht verschmäht
haben, für die jugend und die familie zu schreiben, und wenn man
die in französischen schulen gebrauchten lesebücher durchsieht, so
wird man finden, dasz auch Frankreich eine treffliche jugendlitteratur
besitzt, da sind die das kindergemüt ansprechenden fabeln aus der
Sammlung le petit monde von Cb. Marelle, Volksmärchen, reizende
kindergedichte , kleine erzählungen und vor allen die in Frankreich
so sehr beliebten, von den Unterrichtsbehörden stets aufs neue
empfohlenen lecons de choses (stoffe für den anschauungsunter-
richt). sehr erfreulich ist, dasz die in den letzten jähren bei uns
entstandenen französischen lehrbücher diese stoffe aufgenommen
haben, so namentlich das vortreffliche lebrbuch von Kühn, welches
ausdrücklich an einigen stellen bezug nimmt auf die bekannten an-
schauungabilder von Uölzel. da haben wir einen lesestoff, wie ihn
der lateinische Unterricht niemals unsern sextanern und quintanern
bieten kann, einen solchen, der Sprachunterricht und sachunterricht
ermöglicht, da die lebende spräche für alle gegenstände und thätig-
keiten, welche dem knaben in seiner muttersprache bekannt gewor-
den sind, entsprechende ausdrücke hat, so kann ein elementarunter-
richt in ihr auf ganz naturgemäsze weise verfahren, um an bekanntes
anzuknüpfen und zunächst klarheit der Vorstellungen und Sicherheit
des Wissens hervorzubringen, wird er zweckmäßiger weise zunächst
das alltägliche leben in der familie und schule und die uns umgeben
den naturerscheinungen in seinen kreis ziehen, bald auch auf acker-
bau, ge werbe und handel sich erstrecken, nachdem so ein guter
grund gelegt ist, ist es leicht, aus der reichen fülle der litteratur,
welche jeder modernen cultursprache eignet, abschnitte auszuwählen,
welche geist und gemüt in manigfaltiger weise anregen, beim weitern
fortschritt kann man die geschichte zum hauptgegenstand der leetüre
machen , und da eine fast zu reiche aus wähl von werken zur Ver-
fügung steht, stets diejenigen teile der geschichte wählen, welche
schon in deutscher spräche sich der phantasie und dem gedächtnis
der schüler eingeprägt haben.
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40 Zum spateren beginn des lateinischen Unterrichts.
In diesem Zusammenhang gestatte ich mir eine durchaus irrtüm-
liche darstellung meiner reform Vorschläge als solche zu kennzeich-
nen, in den Jahresberichten von Rethwisch III s. 118 berichtet
H. Löschhorn u. a. : 'in der pädagogischen litteratur ungemein belesen,
weisz der Verfasser die formal bildende kraft des französischen gegen
die des lateinischen fein abzuwägen ; er weist nach, dasz den moder-
nen sprachen dieselbe formal bildende kraft innewohnt wie dem
latein und zieht nun die folgerung: dann entferne man das lateinische
aus unseren schulen , da doch der inhalt der schriftsteiler die mühe
der Spracherlernung nicht aufwiegt.' es ist mir niemals eingefallen,
die entfernung des latein aus den gymnasien und realgjmnasien vor-
zuschlagen, ganz im gegenteil möchte ich seine Stellung stützen und
stärken, da ich tiberzeugt bin, dasz dieser Unterricht, zu richtiger
zeit begonnen und über längere zeit sich ausdehnend, ganz von selbst
ein lebendigerer, strafferer und für schüler und lehrer lohnenderer
sein würde, wie denn in der that den schülern des Altonaer real-
gymnasiums der lateinische Unterricht der liebste fremdsprachliche
Unterricht ist. — Jene von Löschhorn angeführte stelle findet sich
8. 59 meiner schritt, sie ist aber hypothetisch zu verstehen, ihr geht
voraus der satz: 'wenn wirklich die modernen sprachen dieselbe for-
mal bildende kraft besitzen wie das lateinische, weshalb dann noch
der ganze streit, ob dem lateinischen oder dem französischen die
Priorität gebühre.' darauf folgt: 'dann entferne man' usw. vorher
habe ich s. 40 — 69 die urteile hervorragender pädagogen über die
formal bildende kraft der neueren sprachen und das latein angeführt
und verglichen, darauf sämtliche äuszerungen Herbarts und Benekes
über denselben gegenständ gegen einander abgewogen, daraus ergab
sich, dasz Beneke der erlernung der spräche an sich, dem studium
der grammatik im gegensatz zu Herbart eine grosze pädagogische
bedeutung beimiszt, dasz der erstere zwar eine allgemein for-
male bildung leugnet, dagegen eine 'relativ allgemeine' bil-
dung gelten läszt , da jede von einer entwicklung zurückbleibende
spur (jeder erwerb von kenntnissen, Vorstellungen usw.) zugleich
kraft sei, wobei es dann nur darauf ankomme, die spuren so zu be-
gründen, dasz sie nicht träge und unfruchtbare kräfte, sondern
lebendig regsame, aufstrebende und vielseitig weit reichende seien,
während Herbart eine weiter greifende formale bildung überhaupt
in viel beschränkterem sinne annimmt, darauf fahre ich fort: fira
sinne und in der spräche Benekes könnte man etwa sagen: die
lateinische spräche weckt dieselben kräfte wie die neueren spra-
chen, aber sie vermag die geweckten kräfte in ganz besonders in-
tensiver weise zu lebendig regsamen, aufstrebenden und
weit reichenden zu machen, zu dieser auffassung bekenne ich
mich rückhaltlos, indem ich meine: die antike bat ihren beruf,
die modernen Völker durch ihren litterarischen gehalt und die form
der darstellung zu erziehen, für uns erfüllt; um so mehr aber
hat für uns geltung als intellectuelles erziehungsmittel das Studium
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Zum späteren beginn des lateinischen unterrichte. 41
der lateinischen spräche selbst and die methode dieses Sprach-
studiums.'
Die daran sich anschlieszenden Sätze sind doch wohl deutlich
genug! 'zur beachtung für andersdenkende will ich aber noch fol-
genden gesichtspunkt hervorheben : nehmen wir einmal an, dasz die
bildenden kräfte des neusprachlichen und des lateinischen Unter-
richts etwa gleich seien, so ist doch jedenfalls einzuräumen, dasz die
Verwertung derselben im lateinischen viel häufiger stattfindet, weil
bei dem gröszeren abstand des lateinischen von der muttersprache
und der infolge dessen viel gröszeren begrifflichen differenz der
schüler bei dem Obersetzen fortwährend auf abstracto stöszt, zu
wählen und zu sichten hat, mit dem so sehr abweichenden Satz-
gefüge ringen, das einzelne scharf erfassen und sich bewust machen
musz. wenn man nun meint, man könne alle diese kraft entwickeln-
den momente bei dem neusprachlichen Unterricht nicht minder frucht-
bar machen, so wäre doch zu erwidern, dasz nichts dienecessitas
urgens zu ersetzen vermag, es würden da anforderungen an den
lehrerund den schüler gestellt, die nur selten erfüllt werden könnten;
die menschen sind zu nehmen , wie sie sind, nicht wie man sie gern
haben möchte.'
Schliesziich wende ich mich noch zu einigen stellen aus 0. Jägers
sebrift: 'das humanistische gymnasium und die petition um durch-
greifende Schulreform.'
Es heiszt dort 8.29: 'die frage nach der möglicherweise besten
methode scheint uns auf der untersten stufe, von sexta bis quarta,
nicht von so einschneidender Wichtigkeit; es handelt sich gar nicht,
was der grundirrtum der Perthesianer ist, um leichteres oder schnel-
leres beibringen von latein, sondern darum, die kinder arbeiten, in
ihrer weise wissenschaftlich arbeiten zu lehren, den grundsatz durch-
zuführen, dasz alles erarbeitet sein musz. ... die sogenannte 'alte
methode', welche den knaben die regel als dogma sagt, an bei-
spielen erläutert, durch Ubersetzung lateinischer Ubungssätzchen be-
stätigen, durch Übersetzung deutscher Übungsbeispiele, also auf dem
wege elementarer induetion aufbauen läszt, thut den zu leistenden
dienst, und stützt sich dabei auf das natürliche interesse, welches
bei jedem normalen menschen durch die arbeit an der arbeit ent-
steht.'
Dagegen möchte ich doch darauf hinweisen, wie die aufmerk-
same betrachtung der geschiente des lateinischen elementarunter-
richts der letzten jahrzehnte uns zeigt, dasz an ihm manches krank
ist. die klagen — nicht etwa der eitern , sondern der lehrer , direc-
torenconferenzen , behörden — sind über die schlechten erfolge ge-
rade des lateinischen Unterrichts der unteren classen mit stets wach-
sender beharrlichkeit und eindringlichkeit laut geworden, obgleich
das latein schon in sexta mit einer groszen Stundenzahl auftritt und
fast die ganze häusliche arbeitszeit für sich beansprucht, die behörden
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42 Zum späteren beginn des lateinischen Unterricht«.
haben wiederholt sich veranlaszt gesehen, durch besondere Verfügun-
gen die methodik des lateinischen elementarunterrichts zu verbessern,
und noch die erläuterungen zu den neuen lehrplänen geben für kein
gebiet so eindringliche mahnungen als für dieses, es wird dort sehr
scharf die gefahr gekennzeichnet, 'dasz dieser Unterricht zu
einer drückenden bürde für den schüler werden kann'.
Seitdem das latein seinen realen halt im leben verloren, könne
dieser Unterricht, meint Lattmann, heftige angriffe und eigne depra-
vationen nicht mehr ertragen; seine Stellung sei daher eine gefähr-
dete, und man habe alle Ursache, auf die methode sorgfältig zu
achten, woraus die zahlreichen versuche von reformern zu erklären
seien, 'denn dasz das bestehende verfahren im altsprachlichen Unter-
richt seine mftngel hat, wird vielfach anerkannt und selbst von sol-
chen, welche es nicht eingestehen wollen, doch gefühlt, warum sonst
die immer wiederkehrenden Verteidigungen der hohen bedeutung der
alten sprachen , namentlich des latein ? von zweifellosen freunden
derselben , ja von den vorgesetzten behörden sind mehrfach mängel
der unterrichtsweise gerügt und besserungsversuche anerkannt, so
dasz man nicht berechtigt ist, so ohne weiteres sich auf die ralte,
bewährte methode' zu berufen.' * — Der erste methodiker auf diesem
gebieto denkt also ganz anders als 0. Jäger.
Um von den Perthesianern abzusehen, so hatte doch Perthes
selbst ein viel tiefer gehendes pädagogisches bestreben als das 'leich-
tere oder schnellere beibringen', mit heiszem bemühen suchte er den
lateinischen elementarunterricht auf psychologisch richtiger grund-
lage aufzubauen, seine methodischen grundsätze herzuleiten von der
beobachtung der kinderseele, von einer unbefangenen Würdigung der
geisteskräfte des jugendlichen alters. — Aber darin stimme ich Jäger
vollständig bei, dasz nach den von Perthes aufgestellten grundsätzen
der lateinische Unterricht unmöglich in sexta und quinta sich ge-
stalten kann, wohl aber kann es nach meiner meinung der neusprach-
liche, ich habe in meiner (bon gre mal gre) schon mehrfach erwähn-
ten schrift s. 98 ff. gezeigt, wie diejenigen schulen, welche nach den
Perthesschen Vorschriften und mit benutzung seiner lehrbücher das
latein lehren, sich genötigt sehen , in der praxis von seinen wichtig-
sten methodischen grundsätzen abzuweichen, um nicht die nötige
Sicherheit und gründlicbkeit der grammatischen kenntnisse preiszu-
geben. — So wurde noch unlängst von der unter dem vorsitz des
provinzial-scbulrats Labmeyer abgehaltenen conferenz der latein-
lehret der Frankfurter gymnasien und realgymnasien (an welchen
die Perthesschen bücher eingeführt sind) beschlossen: 1) eine grosze
zahl sätze und stücke sei als zu schwierig zu entfernen; 2) für VI
und V seien Übungsbücher für das hinübersetzen zu schaffen ; 3) der
grundsatz, nur die primitiva einzuprägen, sei aufzugeben. — Wenn
fast sämtliche lateinlehrer trotz dieser psychologisch so wohl be-
8 Lattmaun, combination der methodischen prinetpien usw. s. 3.
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Zum späteren beginn des lateinischen Unterrichts.
43
gründeten reform Vorschläge bei der alten Übersetzungsmethode be-
harren, so thun sie das in der erkenntnis des Charakters der lateini-
schen spräche, der natürlichen Schwierigkeiten ihrer erlernung, welche
scharfes erfassen der einzelnen worte und formen, fortwährende ver-
gleichung der lateinischen begriffsbildung mit der des schülere, be-
wustmachung der unterschiede erheischt.
Auch darin stimme ich Jäger bei, dasz von der mit so beredten
worten empfohlenen induction im lateinischen Unterricht neun- und
zehnjähriger knaben nicht die rede sein kann, ich habe a. a. o. ge-
zeigt, dasz sie in bescheidenen grenzen — die selbst der naturwissen-
schaftliche Unterricht einhalten musz — viel eher im französischen
Unterricht geübt werden kann , dasz die versuche der Herbartianer
in Göttingen und Hannover, im Zi lierschen seminar u. a. alle ge-
scheitert sind an der Starrheit der alten spräche, ihrem fremdartigen
für scbüler dieses alters. — Etwas deutlicher hat Jäger sich darüber
ausgesprochen bei den Verhandlungen der letzten rheinischen direc-
toren Versammlung, wo er (W. s. 388) äuszerte: 'durch das hinüber-
setzen wird der scbüler zur selbstschaffenden thätigkeit angeregt,
es ist verwerflich, dasz Perthes das sachliche interesse
betont hat, weil es zerstreut und das wissenschaftliche erken-
nen nicht fördert, dazu ist nötig der kategorische imperativ : das
kannst und sollst du lernen, in dem binübersetzen liegt das, was
für den sextaner von induction übrig bleibt, weil er hier findet und
schafft.9 — Ich reihe diesen Sätzen das von mir a. a. o. angeführte
bekenntnis unserer strammen lateinlehrer an: 'der scbüler wird
durch eine interessante erzählung geradezu zur Zer-
streutheit und ungenau igkeit gewöhnt.'
Also: der inhalt des gelesenen ist nicht nur gleich-
giltig, sondern der zweck des la teinischen Unterrichts
der unteren classen wird durch einen langweiligen
stoff gefördert, durch einen interessanten gehemmt.'
Diese ehrlichen bekenntnisse beruhen auf einer durchaus sach-
lich und logisch richtigen grundlage, aber sie kennzeichnen aufs deut-
lichste, dasz es eine pädagogische unnatur ist, das latein mit sex-
tanern zu beginnen, ich musz bestreiten, dasz sie an dem latein 'in
ihrer weise wissenschaftlich arbeiten' lernen, dasz sich dabei ein
'natürliches interesse' einstellt, die Sprachgesetze können auf diesem
unnatürlichen wege in ihnen nicht zu psychischen kräften werden, sie
lernen nicht wissenschaftlich arbeiten, sondern sie werden zu mecha-
nischer arbeit, zur passivität, zum verbalismus erzogen.
S. 20 sagt Jäger: 'im einzelnen hat jetzt Hermann Planck in
einer sehr fleiszigen und sehr einsichtigen programmarbeit ('das recht
des lateinischen als wissenschaftliches bildungsmittel') des Stutt-
garter realgymnasiums (1888) dargethan, weshalb das latein als
sprachliches, d. h. wissenschaftliches bildungsmittel sein erstge-
burtsrecht dem französischen und englischen gegen-
überbehaupten musz, und wer Uberhaupt wissenschaftlich denkt,
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44
Zum späteren beginn des lateinischen Unterricht«.
den musz diese darlegung eines gründlichen kenners beider sprachen,
der dabei für die moderne, die französische, offenbar Vorliebe hegt,
unbedingt überzeugen/
Aber derselbe Planck sagt in derselben schrift s, 24 wörtlich :
'vielen erscheinen die Schwierigkeiten des lateinischen, besonders
der formen lehre, für neunjährige knaben zu grosz. auf diese Über-
zeugung gründet sich die bekannte these von Ostendorf: der fremd-
sprachliche Unterricht ist mit dem französischen zu be-
ginnen, der Vorschlag ist neuerdings wieder auf die tagesordnung
gebracht und sehr warm empfohlen worden vonVölcker: die reform
des höheren Schulwesens, Berlin 1887. dasz sich eine reihe von
gründen für die priorität des französischen geltend
machen läszt, ist unleugbar, und der Vorschlag nicht
ohne weiteres abzuweisen, neuestens hat sich auch Lattmann,,
früher ein eifriger gegner Ostendorfs, zu dieser reform bekannt,
ebenso verdient beachtung, dasz Völckers befürwortung dieser reform
sich stützen kann auf eine zehnjährige erfahrung, welche das Altonaer
realgymnasium liefert.'
An derselben stelle sagt Jäger: 'die lateinische rede hat sich
auf dem forum und im senat — wo es galt, durch den klarsten
und wirksamsten ausdruck zu tiberzeugen — dem gesetz, also den
staatlichen Willensmeinungen die klarste und nachdrücklichste form
zu geben — ausgebildet, und dieses volk wurde überhaupt durch
seine ganze entwicklung zu höchster schärfe und klarheit sprach-
licher filierung menschlicher beziehungen und Verhältnisse gedrängt/
Was die viel gerühmte schärfe und bestimmtheit des lateini-
schen anlangt, so habe ich bereits oben angedeutet, dasz es als arme
spräche hierin entschieden hinter dem deutschen und noch viel mehr
hinter dem französischen zurücksteht, der lateinische ausdruck er-
möglicht sehr oft nicht die scharfe, bestimmte auffassung, sondern
erst die erkenntnis des Zusammenhangs (der Situation) thut dies, und
weil die lateinische lectüre zu diesem veratändnis zwingt, ist sie eine
so vortreffliche logische Übung, eine gründlichere und vielseitigere
als die neusprachliche lectüre. — Daher ist die anfertigung eines
guten lateinischen exercitiums leichter zu erzielen, als die Sicherheit
einer guten Übersetzung ins deutsche, ich bin darum ganz mit Latt-
mann darin einverstanden, dasz man auch in der prima des gymna-
siums auf schriftliche Ubersetzungen aus dem lateinischen ins deutsche
das bauptgewicht legen sollte. — Wohl besitzt das lateinische als
ältere spräche ausgedehnte etymologische Wortfamilien, zu deren Ver-
ständnis die grundbedeutung des Stammworts den Schlüssel gibt,
aber dieses für den Unterricht sehr förderliche moment kann doch
erst in den höheren classen verwertet werden. — Sehr häufig be-
zeichnen die lateinischen Wörter einen begriff nicht vollständig oder
sie bezeichnen nicht immer nur einen begriff, so dasz Unklarheiten
und Verwechslungen für den lernenden unausbleiblich sind. Jäger
beruft sich auf die manigfache Übersetzung des Wortes sklave (man-
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Zum späteren beginn des lateinischen unterrichte. 45
cipium, servus, famulus, verna, puer, minister) und sucht darzuthun,
dasz das latein ohne weiteres zur scharfen Unterscheidung der begriffe
zwinge; aber dieses beispiel steht mit einigen andern (z.b. exercitus,
agmen, acies für beer) vereinzelt da und ist in den culturverbält-
nissen begründet, gerade darum ist es erst für ältere schüler ver-
wertbar, dasz diese beispiele ausnahmen bilden, ergibt sich schon
aus der bekannten armut der lateinischen spräche an Substantiven,
viele worte dienen zum ausdruck verschiedener, kaum mit einander
verwandter begriffe, z. b. res, fides, consilium, religio, weite und
Unbestimmtheit des begriffs finden sich auch bei den adjectiven7
namentlich bei den von personennamen abgeleiteten (hostilis heiazt
z. b. feindlich, feindselig, aber metus hostilis furcht vor dem feinde).
— In seiner trefflichen abhandlung: 'der Unterricht in der lateini-
schen spräche und die formale bildung' (päd.archiv 1888 s. 145— 60)
sagt Schlee mit recht, der lateinische ausdruck sei sehr oft weiter,
umfassender, meist kürzer, um so viel aber auch unbestimmter,
logisch ungenauer trotz aller lobreden auf die kürze, prägnanz und
kraft desselben. — Schlee entwickelt, dasz die wähl eines mit dem
begriff sich nicht deckenden ausdrucks nicht immer aus notbehelf
geschehe , dasz die lateinische spräche sie übe aus einem gewissen
künstlerischen spiel um der abwechslung willen, die römische poesie
bediene sich in sehr starkem masze der paronomasie und metonymie,
in der prosa führe diese neigung zu einer gewissen fahrlässigkeit des
ausdrucks, wie denn z. b. Caesar und Tacitus natio und gens will-
kürlich einmal für den weiteren, ein andermal für den engeren be-
griff gebrauchen, an der ungenauigkeit der lateinischen bezeichnung
liege es, dasz die lateinischen beschreibungen von Schlachtfeldern
so dunkel sind , dasz die erklärung von Caesars brücke noch immer
nicht fest stehe, das veränderungslustige spiel mit dem worte setze
die constmction in Widerspruch mit der etymologie, so dasz z. b.
defendere aliquid heisze : 'etwas verteidigen' und 'gegen etwas ver-
teidigen*, wenn die neueren sprachen statt der bloszen casus sich
der präpositional Verbindungen bedienen, so geschehe dies gewis nicht
aus umständlicher Schwerfälligkeit, sondern um der bestiramtheit
des ausdrucks willen.9 Unbestimmtheit entstehe auch infolge der
bezeichnung der verschiedenartigsten, teilweise ganz entgegengesetz-
ten Verhältnisse durch dieselbe Casusverbindung, z. b. des ablativs
und namentlich des genitivs. keine andere spräche auszer der latei-
nischen setze die abhängige frage nach der thatsache und die that-
" feminae kann bedeuten: de la femme, d'une femme, h la femme,
k une femme, les femmes, des femme« (partitiv), o femmes. von solcher
Unbestimmtheit, welche ein höhn auf den reiehtum an declinationsfor-
men ist, sagt Maurer a. a. o.: sie kennzeichne sprechend die noch in
den Zufälligkeiten einer unfreien historischen entwicklung gebunden
liegende spräche, die noch nicht dazu gelangt sei, den luxus der zahl-
reichen flexionsbildungen auch nnr zu unzweideutigem begrirTsausdruck
zu benutzen. — Man vergleiche dazu Viewegers schritt: 'das einheits-
gymnasium.'
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46
Zum späteren beginn des lateinischen Unterricht*.
sachliche folge in den conjunctiv, in der bezeichnung der logischen
beziehnngen der sätze stehe das latein hinter den andern sprachen
zurück wegen seines mangels an partikeln, und was es durch die
participialconstructionen an kürze gewinne, gehe an bestimmtheit
verloren, da z. b. hostibus victis causale, temporale, condicionale und
concessive bedeutung haben könne. Scblee bietet noch weiter sehr
beachtenswerte erwägungen, welche mich in meiner meinung bestärkt
haben, dasz es ein irpÜJTOV ujcuboc ist, dasz am latein an
sich die vollkommenste spräche der logik erlernt werde,
wohl aber musz behauptet werden, dasz vermöge der groszen Ver-
schiedenheit desselben vom deutschen in dem lateinischen Unter-
richt eine fortwährende nötigung zu scharfem erfassen, vergleichen,
schlieszen, bewustmachen des wissens an die schüler herantritt, die
eine vortreffliche geistige zucht bildet, aber diese scharfe, ange-
strengte geistige zucht kann nicht fruchtbringend wirken auf schüler
der untersten classen, ja sie kann als solche dort Uberhaupt nicht
geübt werden, sie wird zum mechanischen 'einstampfen* (Lattmann).
Die fremde spräche, welche zur grammatischen erkenntnis dienen
soll, musz nicht nur in ihren formen einfach und klar sein , sondern
sie darf auch syntaktisch nicht unbestimmter und schwieriger
sein , als die eigne selbst noch erst zum Verständnis zu bringende
spräche, soll sie die muttersprache begrifflich erläutern, so darf sie
nicht undeutlicher sein als diese und ihre auffassungen dürfen von
denen des logischen denkens nicht weiter abliegen als die der mutter-
sprache. die französische spräche ist viel logisch correcter und be-
stimmter als die lateinische und eben darum für den anfang leichter,
denn die unbestimmten und unlogischen begriffe des lateinischen
nötigen, erst das Verständnis des deutschen beizubringen und dann
erst, so gut es geht, die fremde erscheinung zu verdeutlichen.
Also weil die begriffe der einzelnen Wörter bei den
Römern vielfach einen viel weiteren umfang haben, als
bei den modernen und weil diese begriffe sich in einer
für uns fremdartigen weise entwickelt haben, ist der
beginn des latein bei den bestehenden Verhältnissen zu
schwierig, das zeigen auch die special Wörterbücher, welche trotz
alles eifern» dagegen stets sich vermehrt haben, um von den viel-
deutigen Substantiven abzusehen, so ist es nicht möglich, dasz sex-
: aner, qu in tan er. quartaner den Stammbaum der bedeutungen von
ago, gero, peto, capio, mitto usw. oder die entwicklung der bedeu-
tungen von zusammengesetzten Zeitwörtern verfolgen können. —
Indes weisz philologische pädagogik sich auch über diesen Ubelstand
zu trösten, so sagt der berichterstatter der Posener directorenver-
sammlung 1888 (W.s.63) : 'denjenigen herren collegen aber, welche
meinen, das gymnasium erziehe seine schüler nicht zur rechten
wissenschaftlichkeit, wenn dieselben nicht schon in IV und III dicke
lexika wälzen lernen, möchte ich entgegnen: darin sollen sie ja noch
später in II und I tüchtig geübt werden, wo niemand Speciallexika
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Zum späteren beginn des lateinischen Unterrichts. 47
(auszer für Homer) empfiehlt noch gebraucht; an den vorher schon
abgehenden schulern aber hat das gymnasium nur sehr unvollkom-
men und unvollständig sein werk gethan ; warum also nicht auch in
bezug auf das wälzen umfangreicher Wörterbücher.' — Ebendaselbst
(W. s. 68) werden die neuesten nebenproducte des altsprachlichen
Unterrichts, die gedruckten präparationen empfohlen, nicht minder
auch die commentierten ausgaben, von den ersteren heiszt es : man
käme mit ihnen doch entschieden schneller vorwärts, und es dürfte
sich doch fragen, ob nicht das mehr an lectüre voll und reichlich die
der methode etwa anhaftenden mängel aufwiege.
Also so weit sind wir mit unserem lateinischen Unterricht ge-
kommen, dasz in einer solchen Versammlung die gedruckte präpa-
ration , der papierne lehrer als retter in der not gepriesen wird. —
diese art, die schüler am latein wissenschaftlich arbeiten zu lassen,
wird Jäger gewis nicht gefallen.
Ist man also mit Jäger der ansiebt, dasz die erste fremdsprache
höchste schärfe und klarheit sprachlicher fizierung menschlicher be-
ziehungen und Verhältnisse aufweise, so ist die französische zu neh-
men, nicht die lateinische, der fortschritt der cultur bringt es durch
die abschwäcbung der voll tönenden formen der spräche von selbst
mit sich, dasz die gedanken unverhüllter hervortreten, (daher schätzte
J. Grimm die englische spräche so hoch.) jeder logische fehler, jede
ungenauigkeit im ausdruck wird viel leichter in der neuen spräche
bemerkt. Ostendorf sagte: 'man übersetze Livius ins französische
und man wird, um ein erträgliches französisch zu erhalten, oft un-
bestimmte ausdrücke in bestimmte verwandeln, schiefe beziehungen
richtig stellen müssen.' er konnte so urteilen auf grund reicher er-
fahrung, da unter seiner leitung fortwährend solche Übungen in den
oberen classen angestellt wurden.
Zu der klarheit des ausdrucks kommt für das französische noch
hinzu die streng logische, dem denken natürlich sich anschmiegende
wort»tellung, das einfachste und wirksamste mittel der analytischen
sprachen, die an der muttersprache erworbenen kategorien unter
den fremden worten wiedererkennen zu lassen, es liegt darin eine
nicht zu schwierige Übung im richtigen, klaren denken für den sex-
taner, der bei den lateinischen Sätzen erst combinieren, den inhalt
zu erfassen suchen musz, um subject und object zu erkennen.
S. 30 a. a. o. sagt Jäger: 'wenn demnach Vinet in der vorrede
zum ersten band seiner französischen Chrestomathie die französische
prosa — ich denke mit recht — la plus parfaite des pro^es und zu-
gleich — ebenso mit recht — das lateinische la raison, die vernunft-
gmndlage des französischen nennt, so sollte das, denkeich, aus-
reichen, um die seichte rednerei von der Selbstgenügsamkeit der
modernen culturelemente abzuweisen.'
Vinet war ein bedeutender theologe, ein tiefer philosoph, ein
gründlicher und vorurteilsloser kenner der französischen litteratur,
aber die ergebnisse der neuen romanischen Sprachforschung waren
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48
Zum späteren beginn des lateinischen unterrichta.
ihm nicht bekannt, was sich allein aus verschiedenen äuszerungen
der vorrede des zweiten bandes seiner Chrestomathie ergibt, er
leitete das französische her von der classi&chen lateinischen Schrift-
sprache (f le latin contient les racines et par consequent la raison du
francais'), die maszgebende Weiterentwicklung der schon zu Ciceros
zeit neben dieser bestehenden , von den römischen legionen in Gal-
lien gesprochenen Volkssprache zog er nicht in betracht und darum
schlug er — wie noch heute vielfach geschieht — das, was die
schüler durch das latein für die erlernung des französischen gewin-
nen, viel zu hoch an. für die aneignung der französischen Orthogra-
phie ist das latein ohne zweifei förderlich, für die erlernung der
französischen Wörter nutzt es dagegen nur wenig, denn ein plan-
volles zurückführen der französischen wortformen auf die lateinischen
setzt ein Verständnis voraus, welches den schülern der unteren classen
picht eignet, will man aber die Wirkung des latein auf das franzö-
sische im wesentlichen dem zufall überlassen, so scheiden sich, wie
Bratuscheck seiner zeit richtig bemerkt hat, die französischen Wörter
in dem köpfe des schülers allmählich in zwei unbestimmt begrenzte
massen. die einen stimmen mit dem lateinischen merklich Uberein,
die andern erinnern an kein lateinisches wort, jene erleichtern ihm
das übersetzen aus dem französischen auf kosten der gründlichkeit,
da er den sinn ganzer sätze mit hilfe der anklingenden lateinischen
Wörter und des Zusammenhangs errät, von der grundbedeutung der
französischen Wörter, welche mit der des lateinischen etymon so
häufig nicht übereinstimmt, erhält er so eine ganz falsche Vorstel-
lung, und die scharfe Unterscheidung der formen, welche das latein
herbeiführen soll, wird gerade durch seinen einflusz verhindert, die
vielen Wörter aber, welche er nicht auf seinen Ursprung zurückführen
kann , stehen entweder ganz unvermittelt neben den andern , oder,
falls er auf ihre etymologie aufmerksam gemacht wird , erscheinen
ihm ihre formen als ganz regellos und willkürlich, was doch das
gegenteil der wissenschaftlichen einsieht ist. der nutzen also, wel-
chen der voraufgehende lateinische Unterricht für das verstehen und
erlernen der französischen wortformen hat, ist ein ziemlich geringer
und wird durch den nachteil, welcher daraus entspringt, mehr als
blosz aufgewogen.
Nach dem gesagten brauche ich kaum zu versichern , dasz ich
der folgenden äuszerung des berichterstatters der schlesischen direc-
torenversammlung von 1888 (W.s. 13) nicht zustimme: 'das latein
ist als das leichtere und thatsächlich frühere, wenigstens dem fran-
zösischen gegenüber, dessen erlernung obenein durch kenntnis des
latein gefördert wird und als das wichtigere an den anfang zu stellen.*
Seine volle beleuchtung erhält dieser satz in dem lichte des fol-
genden, den derselbe Verfasser ebendaselbst aufgestellt hat: rdie
pflege des auges und die Übung der sinnlichen Wahrnehmung kann
besonders bei dem sprachlichen Unterricht stattfinden.' (sie!)
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Zum späteren beginn des lateinischen Unterrichts. 49
Aber wie werden bei einem späteren beginn der beiden alten
sprachen die leistungen am ende sich gestalten? ich verweise auf
die erfolge des Altonaer realgymnasiums, dessen einrichtung von
vorbildlicher bedeutung ist trotz der anzweifelungen Ziemers (in
band III der Jahresberichte von Rethwisch b. 6ö — 68), der zugleich
die auch von herrn von Gossler hoch geschätzte schrift Viewegers
(man vergleiche seine am 6 märz 1889 im abgeordnetenhause gehal-
tene rede) über den beginn des englischen in sexta tändelnd behan-
delt, indem er sich die Wiederholung der anmutigen bemerkung
Hellwiga gestattet: in consequenz dieses Standpunktes komme man
wohl 8chlieszlich noch zur einfuhrung des volapük in sexta. — Von
meinen eignen beobachtungen des lateinischen Unterrichts der Alto-
naer schule will ich hier schweigen, wohl aber wiederholen, dasz die
aufsichtsbehörde nach immer wieder angestellten prüfungen ausge-
sprochen hat, dasz die dortigen leistungen in dem mit III b begon-
nenen lateinischen Unterricht in ihrem endziel vollständig denen der
andern realgymnasien gleichkommen, hinzufügen will ich, dasz
director Sehlee der festen Uberzeugung ist, das was dort geleistet
werde, könne unter normalen Verhältnissen überall geleistet werden,
die erfolge in Güstrow und Magdeburg haben diese Überzeugung
durchaus gerechtfertigt.
Was das griechische anlangt, so wird in nicht ferner zeit an
einer schule der versuch gemacht werden, dasselbe in secunda zu
beginnen, ich bin überzeugt, dasz man dort Homer und Sophokles
mit nicht geringerem Verständnis lesen wird, diese ansieht wird be-
reits von vielen gymnasiallehrern geteilt, die nur noch nicht in der-
selben weise öffentlich Stellung zu dieser frage genommen haben wie
gymnasialdirector Eitner in Görlitz es gethan hat in einer festrede
znr feier des fünfzigjährigen bestehens der Görlitzer realschule (man
vergleiche päd. archiv 1889 s. 113 — 119).
Von denselben grundsätzen ausgehend wie ich im jähre 1887,
entwickelt er, dasz jeder systematische Unterricht, auf der sinnlichen
anschauung beruhend, sich in concentrischen kreisen fortbewegen und
erweitern müsse, aus der kenntnis der geschichtlichen ereignisse
der hemmt , des Vaterlandes sei in dem schüler der boden zu ebnen
für das interesse an den Schicksalen eines fremden Volkes und hierauf
erst der Völker des altertums. das gefühl für die muttersprache
müsse hinreichend geweckt sein, ehe eine lebendige teilnähme für
die modernen oder alten sprachen vorausgesetzt werden dürfe, nichts
dürfe in den ideenkreis des Schülers eindringen , was sich nicht in
steter aufeinanderfolge an bekanntes und verstandenes anschlieszt.
die erlernung einer fremden spräche, zumal einer alten, verlange von
dem neunjährigen schüler ein zu hohes masz abstracter denkopera-
tionen, für die er nicht genügend vorbereitet sei; es häufe sich regel
aufreget, deren grund und Zusammenhang ihm unverständlich bleibe,
die er nur mechanisch lerne und mit denen er nur mechanisch ope-
riere, das mechanisch erlernte könne aber kein dauerndes interesse
N.jihxb. f. phii.u. pid. 11. abt. 1891 hfl.l. 4
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Über gymnastische, musikalische
erregen, 'würde daher die erlemung des lateinischen bis ins zwölfte,
die des griechischen bis ins vierzehnte lebensjahr verschoben , dann
würde ein groszer teil der gegenwärtig vorhandenen und unleug-
baren Übelstande verschwinden, die schüler würden geistig mehr
vorbereitet an die erlernung dieser sprachen herantreten , der ledig-
lich mechanisch grammatische betrieb derselben würde beseitigt
werden, da nun die sprachlichen regeln und gesetze auf die erkennt-
nis ihrer logischen notwendigkeit begründet werden könnten: und
damit würde, wie ich fest überzeugt bin, auch die leidige tiberbür-
dungsfrage . . . mit einem schlage verschwinden. — Aber wo bleiben
die resultate? wird man mir einwenden; nun, ich habe den mut, zu
behaupten, die resultate würden auf diesem wege sicherlich nicht
geringer, wahrscheinlich sogar gediegener und, weil mit gröszerem
Verständnis erworben , auch erfreulicher sein ; ich könnte zahlreiche
beispiele aus meiner eignen erfahrung anführen, wie junge leute von
mittelmäsziger begabung, die sich zur reifeprüf ung vorbereiteten,
in einem bis zwei jähren latein und griechisch sich so weit ange-
eignet hatten, dasz sie ohne Schwierigkeit den anforderungen der
prüfung zu gentigen vermochten.'
Schönebeck a. E. 6. Völcker.
4.
ÜBER GYMNASTISCHE, MUSIKALISCHE
UND DECLAMATORISCHE SCHULFEIERLICHKEITEN.
Kaum eine frage ist für das leben der schule von solcher prak-
tischen bedeutung als die Herstellung eines richtigen Verhältnisses
zwischen schule und haus, je mehr die schule eine institution des
Staates geworden ist, desto freier hat sie sich von den subjectiven
einflüssen des hauses gemacht, anderseits ist dabei gerade in neuerer
zeit viel geschehen , um einen regen Zusammenhang zwischen schule
und haus herzustellen trotz der gröszer gewordenen Schwierigkeiten,
welche der häufigere Wechsel des schülerpersonals und der jetzt so
vielgestaltige gesichtskreis der so verschiedenen elternhäuser bietet,
nur ein geräuschvollerer masseneinblick in das leben der schule, wie
er früher fast an allen anstalten in den sogenannten öffentlichen
Prüfungen stattfand, ist mehr und mehr im schwinden, gerade hier-
über ist in letzter zeit viel geschrieben und gesprochen worden, und
es werden bei dieser gelegenheit stimmen laut, welche überhaupt
jedes Öffentliche hervortreten von schülern für wenig segensreich
halten.
Deshalb scheint mir die frage wohl der anregung und weiteren
besprechung wert: darf die schule mit irgend welchen leistungen
an die Öffentlichkeit treten? bei welcher gelegenheit und in welcher
weise soll sie es thun?
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und declamatoriache eehulfeierlicbkeiten.
51
Die erste frage vor den beiden folgenden zu beantworten wäre
ein theoretisches, formelles philosophieren um eine sache, deren
wesen noch gar nicht festgestellt ist. eine thatsache ist es , dasz an
allen anstalten im ein Verständnis mit den wünschen der vorgesetzten
behorden gewisse Schulfeierlichkeiten stattfinden, zu denen weniger
oder mehr die ungehörigen der sehnler, sowie behörden und freunde
der jugend eingeladen werden, am wenigsten angefochten sind wohl
die öffentlichen schulacte, durch welche dem hause ein einblick in die
körperliche erziehung gegeben wird, hier ist die forderung auch am
berechtigtsten, selbst zu sehen, wie die notwendigsten güter des lebens,
die gesundheit und körperliche kraft und gewandtheit, von der schule
gepflegt werden, auch ein allgemeineres Verständnis ist bei dem
grösten teile des publicums für solche körperlichen leistungen vor-
auszusetzen, während bei geistigen leistungen oft nur die angehö-
rigen einen verständnisvollen einblick in das schulleben gewinnen,
welche selbst einen ähnlichen bildungsgang durchgemacht haben,
vor allem aber ist es gerade in unseren tagen eine pflicht der schule,
hierin dem hause von zeit zu zeit durch öffentliche schulacte einen
einblick zu gewähren, weil dadurch am besten die zur mode gewor-
denen ausfälle Ober schlechte körperliche ausbildung unserer schüler
bekämpft werden, einseitig beschränkte und die lehrerweit durch
Verbreitung falscher thatsachen beleidigende Schriften würden nicht
das aufsehen haben erregen können, wenn das publicum selbst
überall einen besseren einblick in die körperliche erziehung der
jugend hätte.
Wie sollen nun solche turnfeste — denn so sollen zunächst
einmal alle diese öffentlichen schulacte genannt werden — veran-
staltet werden? der turnunter rieht hat seit der mitte unseres
jahrbunderts manche Wandlungen durchgemacht, bis er mit den
wissenschaftlichen lehrfachern eine möglichst gleichbedeutende Stel-
lung hinsichtlich seiner einreihung in den Stundenplan erhalten hat.
ähnlich haben auch die turnfeste der schulen hie und da ihren Cha-
rakter geändert von geräuschvollen, wenig methodisch geordneten
Volksfesten hin zu der Vorführung bestimmter, übersichtlich auf
einander folgender lectionen auf dem schulplatze oder gar in der
turnballe.
Die letztgenannte art eines Schauturnens ist zwar nicht schlech-
terdings zu verwerfen, denn sie kann durch das fehlen gewisser Vor-
aussetzungen eines frischeren Schauturnens in einzelnen fällen ge-
boten sein; sie ist aber nicht das ideal eines turnfestes, das dem
publicum den einblick in einen frischen, anregenden turnunterriebt
gibt und zugleich dem schüler zu weiterem streben von bleibender
erinnerung ist. das Schauturnen, welches die volkstümlichen
güter der Jugenderziehung: kraft und mut, gewandtheit und festen
willen zeigt, wird am besten an einem patriotischen gedenk-
tage, der jahreszeit nach am geeignetsten am Sedantage gefeiert
werden, da sonst eine geräuschvollere bürgerliche feier dieses tagea
4*
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Über gymnastische, musikalische
berechtigter weise mehr und mehr schwindet, so ist es um so passen-
der, wenn im engeren rahmen der schüler und ihrer angehörigen an
passendem orte während einiger nachmittagsstunden ein volkstüm-
liches turntest veranstaltet wird, um so die jugend auch in frischer,
froher weise an die groszthaten der väter zu erinnern, welche ihr an
den vier gedenktagen der beiden hochseligen kaiser Wilhelm und
Friedrich in ernster rede in der aula vom lehrer vorgeführt werden.
Feiert eine Stadt in geeigneter jahreszeit einen besonderen histo-
rischen gedenktag, so ist auch ein solcher für ein schauturnen ein
würdiger tag. so wird z. b. in Colberg der 2 juli, der tag der be-
freiung der festung von der belagerung der Franzosen durch die
schulen in der vorgeschlagenen weise festlich begangen.
Eingehender hier über den verlauf eines solchen turnfestes zu
handeln, würde zu weit führen; immerhin mag es aber für diesen
und jenen anregend sein, ein kurzes programm vorgeschlagen
zu sehen:
Etwa um 2 oder 3 uhr nachmittags findet ein ausmarsch von
dem schulgebäude nach einem passenden festplatze statt, womöglich
mit musik. in diesem festzuge nehmen die Vorturner eine ehren-
volle Stellung dadurch ein, dasz sie an der seite ihre in zwei oder
mehreren gliedern marschierende riege führen und bei dem zuge
durch gutes beispiel und, wenn es sein musz, durch ein mahnendes
wort für richtigen tritt sorgen, drei kräftige turner werden durch
das amt des fahnenträgers und der fahnenjunker ausgezeichnet; be-
sondere abzeichen sind bei höheren leh ran st alten für diese Chargen
so wie für die Vorturner nicht durchaus nötig, dagegen ist es wohl
als eine gute sitte anzusehen, dasz, wo bei turnfesten eichenkränze
mit bedruckten schleifen den besten turnern als preise verteilt wer-
den, die erinnerungsschleifen früherer preise bei dem auezuge zum
neuen turntest e an brüst oder schul ter geheftet werden, es ist dies
keine äuszerlicbe prahlerei, sondern eine hochschätzung der ehren,
welche die schule verleiht.
Als fest platz eignet sich am besten ein in der nähe der staut
gelegenes Wäldchen, wie z. b. in Colberg die gewis vielen bekannte
Maikuhle, wo es hieran fehlt, da läszt sich das schauturnen auch in
einem vor der Stadt gelegenen gröszeren Vergnügungsgarten feiern,
selbst ein ebenes , mit einigen bäumen umgebenes exercierfeld ge-
nügt; ich selbst habe in meiner Vaterstadt Stargard in Pommern
manch fröhliches schauturnen als schüler mitgemacht auf einem weit
vor der stadt gelegenen platze, der auch nicht viel anderes vorstellte
als ein militärisches Ubungsfeld.
Ist man auf dem festplatze angelangt, so wird unter musik an
dem vorher bestimmten platze die fabne aufgepflanzt; alsdann löst
sich die bisherige aufstellung in einen marsch in stirnreihe auf, und
es wird hierdurch der zunächst fUr reigen und freiübungen zu be-
nutzende räum vor dem betreten des publicums abgeschritten, hier-
mit ist der erste und ernstere teil des turnfestes eröffnet.
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und declomatorische gchulfeierliebkeiten.
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da in den meisten fallen transportable turngeräte nach dem fest-
platze geschafft werden müssen , so werden , wie dies auch in der
schule selbst nicht möglich ist, bei weitem nicht alle schüler zugleich
an geräten turnen können, es empfiehlt sich daher eine dreitei-
lung der schüler in die obere, mittlere und untere abteilung. dann
wird sich für das nun folgende turnen der plan ergeben, dasz immer
eine abteilung auf dem abgeschrittenen platze in freiübungen turnt ,
wahrend eine zweite das spalier bildet, die dritte aber für die dann
folgenden gerätübungen etwaige zurüstungen trifft, den schlusz
dieses turnens in freiübungen und an den geräten bildet ein reigen,
welchen wohl auch zwei abteilungen vereinigt aufführen können.
An das riegenturnen und die freiübungen schlieszt sich als
glanzpunkt des ganzen festes das kürturnen der besseren turner
an mehreren geräten. für das gerätspringen ist es hier praktisch
und besonders wirkungsvoll, mehrere geräte, etwa bock, kästen,
pferd in bestimmten Zwischenräumen hinter einander aufzustellen,
so dasz der zum sprung antretende gleich an drei geräten drei ver-
schiedene Übungen ausführt
Hiermit ist der erste und offiziellste teil des festes vorüber,
and die schüler verteilen sich nach einer pause an verschiedenen
stellen des festplatzes zu tu rn sp ielen und volkstümlichen Übungen
(steinstoszen!). ist der platz dazu geräumig genug, so können auch
Wettspiele um preise stattfinden, hierzu eignen sich für die oberen
classen besonders eine erneuerung des fünfkampfes (prof. Fedde,
Strauch -Leipzig) und als parteispiel das englische fussball- und
thorbalispiel. für die unteren und mittleren classen ist die auswahl
solcher spiele ja eine äuszerst grosze. besonders scherzhaft wirkt bei
den kleineren schülern auf das publicum immer das alte bekannte
sacklaufen, das topfschlagen und klettern, als schlusz dieses zweiten
teiles des schauturnens empfiehlt sich ein wettlauf der schüler, der
besonders in breiter frontreihe bei den erwachseneren jünglingen
einen imposanten anblick darbietet.
Nach diesem wettlaufe wird das signal zum sammeln gegeben,
und nachdem der director oder ein turnlehrer die festrede gehalten
hat, erfolgt die Verteilung der preise, diese bestehen für gutes
turnen in eichenkränzen mit schleifen, auf welche der name der
anstalt und das datum des festes zur erinnerung gedruckt ist; für
wettlauf und Wettspiele empfehlen sich auch wohl geschenke von
bestimmtem werte.
Als schlusz eines turnfestes liesze sich ein Vorschlag machen,
welcher vielleicht hie und da auf Widerspruch stoszen wird; ich
meine einen harmlosen tanz im freien mit den dazu geladenen
Schülerinnen der höheren mädchenschule. dieser Vorschlag hat be-
sonders für kleinere und mittlere städte seine bedeutung. hier sind
die familien der schüler und Schülerinnen mehr oder weniger be-
kannt, die meisten eitern nehmen an dem feste teil, und gerade
durch eine derartige harmlose auffassung des Verkehrs zwischen
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54
Über gymnastische, musikalieche
schillern und Schülerinnen wird mancher tadelnswerte, heimliche Um-
gang eher vermindert als hervorgerufen.
Noch auf einen punkt mag hier zur erhöhung der heiteren Stim-
mung bei dem turnfeste aufmerksam gemacht werden, es ist dies
die einlage irgend einer scherzhaften turnerischen Vorführung
während des zweiten teiles des festes, so führten am Sedantage
1887 die sextaner, quintaner und quartaner des Schwetzer progym-
nasiums mit gesang und trommelschlag, halb und halb uniformiert,
die Überführung Napoleons von Sedan nach Wilhelmshöhe auf.
'Napoleon* sasz trübselig mit seinem adjutanten in einem Hand-
wagen , ihm folgten die escortierenden preuszischen Soldaten aller
möglichen truppenteile und einige gefangene Franzosen, die unifor-
men waren in einfachster weise, zum teil recht komisch wirkend
hergestellt; selbst gefangene Turkos und Zuaven und preuszische
ulanen und husaren, auf den schultern kräftiger mitschüler reitend,
fehlten nicht ; ein vierschrötiger 'landwehrmann' mit pfeife im munde
und hosen im Stiefelschafte trug eine stange mit der inschrift: cWif
Lampenröhrl' vor dem publicum wurde front gemacht, präsentiert
und ein passendes lied gesungen.
Auch die schüler der mittleren und oberen classen können bei
einem feste, welches den beweis für körperliche ausbildung ablegen
soll, neben den vorher genannten ernsteren leistungen sich und den
ihrigen gelegentlich etwas heiteres oder künstlerisches bieten, be-
sonders die freiübungen oder der reigen geben gelegenheit zu schönen
schluszgruppen. da empfehlen sich pyramiden mit canonischem ge-
sange, zu der die turner aus jeder Stellung leicht Ubergehen können ;
da bieten sich bei den gemeinübungen mit eisenstäben schöne scblusz-
gruppen, wie sie z. b. die deutsche turnzeitung (1888 nr. 27. 28 ff.)
entwickelt und abbildet; da ist die darstellung gewisser gruppen
aus der griechischen heeresstellung (Wassmannsdorf : die Ordnungs-
übungen, anhangt die griechisch - makedonische elementartaktik)
und plastischer gruppen der antiken künstler gewis eines gymna-
siums würdig.
Ernstes streben und die pflege eines gesunden humors und ge-
meinsinns widersprechen sich niemals; beides macht erst den wahr-
haft humanistisch gebildeten menschen aus, der es versteht, mit
seinen mitmenschen zu leben !
Den schlusz des turnfestes bildet noch vor beginn der dunkel-
heit der marsch in die stadt. die bekränzten eröffnen den zugt und
unter den klängen der musik geht es zur anstalt zurück.
Sicherlich wird dies programm eines gymnasialen turnfestes,
so einfach es ist, bei einigermaszen geschickter leitung anregend auf
ferneres streben wirken und für schule und haus eine bleibende
erinnerung sein.
In den rahmen der gymnastischen feste gehören auch die
schwimm- und eis feste, gerade in den letzten jähren ist mehr-
fach anregung dafür gegeben worden, dasz das schwimmen und eis-
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und declauiatorische schulfeierlichkeiten.
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laufen von der schule begünstigt werde, nicht überall sind hier die
bedingungen gleich günstig, doch scheint mir besonders für das
schwimmen an städtischen anstalten mehr gethan zu werden als an
königlichen, ein schwimmfest kann ganz gut an einem schulfreien
n ach mittag e oder am Sonntage abgebalten werden, an stoff hierfür
kann es einem des schwimmens kundigen lehrer nicht fehlen.
Da wird eine kurze entwicklung des Schwimmunterrichts vor-
geführt: die stösze als freiübungen auszer dem wasser, darauf die-
selben an der angel und dann das schwimmen an angel, leine und
ohne leine, hiernach treten die besseren Schwimmer zu Sprüngen
und zum tauchen nach der gummipuppe an und vereinigen sich als-
dann zu einem reigenschwimmen. den schlusz des festes bildet ein
Wettschwimmen, wobei die schüler natürlich ebenso wie beim wett-
lauf der grösze nach in mehrere teile geteilt werden, auch beim
schwimm feste ist ebenso wie beim Schauturnen eine heitere einlage
angebracht, so sah ich einmal unter groszer heiterkeit aller Zuschauer
Schillers Taucher dramatisch bei einem schwimmfeste dargestellt,
ehrenpreise sind hier ebenso angebracht wie beim schauturnen.
Was den eislauf anbetrifft, so ist neuerdings mehrfach darauf
hingewiesen, dasz die schule zu demselben nicht nur ermuntern
sollte, sondern bei besonders guter bahn und schönem wetter schul-
freie zeit dazu gewähren sollte, auch von medicinischer seite hebt
das von provincialschulcollegien empfohlene büchlein des oberamts-
arztes Engelhorn (scbulgesundheitspflege, Stuttgart, bei Krabbe) dies
hervor, ein gemeinsames eisfest zu empfehlen, liegt mir hier jedoch
durchaus fern, denn die schule ist selbstredend kein vergnü-
gungsinstitut. dagegen könnten wohl einzelne classen mit dem
turnlehrer oder auch mit einem andern lehrer, welcher besonderes
Verständnis für die kunst des scblittschuhlaufens hat, bei schönem
wetter statt in der leider oft staubigen und hie und da auch wohl
dunstigen turnballe zu turnen, auf die eisbahn zu gemeinsamen
Übungen ziehen, wenn hierbei eine wissenschaftliche stunde oder
ein teil derselben einigemal am winternachmittage freigegeben würde,
so wäre dies vielleicht ein wieder einzubringender augenblicklicher
schaden, welcher gute zinsen trägt, im sommer werden wohl ein
oder früher zwei ganze tage für Wanderungen freigegeben; wie viel
mehr ist dies doch im winter nötig, wo mehrere monate bald nach
dem schul8chlusz die dunkelheit eintritt, wo das wetter oft wenig
verlockend ist, wo kurzum viel mehr in der stube gehockt wird als
im sommer.
Den stoff für die gemeinsamen Übungen auf dem eise bietet
dem leitenden lehrer wieder der turnunterricht. fast alle reigen
lassen sich, und zwar oft in gefälligerer form, auf dem eise auffüh-
ren, von dem einfachen laufen in zweier-, vierer-, achterreihen bis zu
verwickeiteren kreuz- (moulinet!) und kettenfiguren (grand chene!).
ein frisches lied in klarer winterluft wird die lust beim eislaufe noch
erhöhen, auch eine weitere excursion zu einem benachbarten orte
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56
Über gymnastische, musikalische
ist bei genügend sicherer eisfläcbe mindestens ebenso die gesundheit
fördernd als die turnfahrt im sommer. nur darf hierbei, wie über-
haupt beim eislaufen, die einem lehrer unterstellte anzahl von schülern
wegen der gröszeren Verantwortlichkeit keine zu grosze sein, aus
diesem gründe schon ist ein gemeinsames schulfest auf dem eise ein
verfehlter gedanke.
Ist so das hinaustreten der schule in die Öffentlichkeit mit
körperlichen leistungen nach einfachen» mehr oder weniger wieder-
kehrenden Ordnungen leicht zu regeln , so hat dies um so gröszere
manigfaltigkeiten und Schwierigkeiten bei der Vorführung von mehr
geistigen leistungen musikalischer, declamatorischer und
dramatischer art.
Hier ist einmal der stoff ein viel reichhaltigerer, und es handelt
sich daher zuerst um eine glückliche auswahl des für das augenblick-
liche schülerpersonal und für die betreffende feier passenden, ferner
setzt auch die einübung ein weit gröszeres geschick der leitenden
lehrer voraus, denn in vielen punkten, besonders bei declamatori-
schen und dramatischen aufführungen, ist ein guter erfolg durchaus
an das persönliche beispiel, d. h. an das f vormachen* des lehrers
geknüpft, hierzu kommt noch als gröste Schwierigkeit, dasz gegen-
über dem schauturnen bei solchen declamatori sehen und dramatischen
aufführungen in den meisten fällen nicht die Schulstunden zur ein-
übung ausreichen, bei den musikalischen aufführungen müsten aller-
dings, ähnlich wie beim schauturnen, bei rechtzeitigem beginnen der
Übungen die lehrplanmäszigen stunden im wesentlichen genügen,
denn hier decken sich diese Übungen weit mehr mit dem fortlaufen-
den lehrstoffe als bei den declamatorischen und dramatischen leistun-
gen. allein eine rein musikalische aufführung kann aus den ver-
schiedensten gründen kaum in einer schule für statthaft gehalten
werden, da ein nicht unbeträchtlicher teil der schüler unmusikalisch
ist und da die schule doch möglichst das interesse aller ihr anver-
trauten schüler im auge haben soll, dann wird auch in mittleren
und kleinen anstalten der sängerchor leicht zu schwach sein, um
allein eine Vorstellung auszufüllen; die Unterstützung durch fremde
kräfte aber sollte möglichst vermieden werden, damit die schule
nicht womöglich die nebensache und die Vorstellung an sich die
Hauptsache wird, füllen die musikalischen leistungen nur einen teil
des programmes aus , so wird es dem gesanglehrer leicht sein , die
nötige auswahl des Stoffes zu treffen und das ausgewählte auch in
den gesangstunden einzuüben; sollen dagegen die musikalischen
leistungen aus bestimmten gründen in den Vordergrund treten , so
hat auch der gesanglehrer seine Schwierigkeiten in der auswahl und
einübung. daher mag es angebracht sein, hier einige bewährte arten
musikalischer scbüleraufführungen kurz zu besprechen und aus eigner
erfahrung und erkundigungen bei fachmännern verschiedener an-
stalten die titel einiger für schülerchor geeigneter compositionen zu
nennen.
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und declamatorißche Schulfeierlichkeiten.
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Von gröszeren musikalischen aufführungen, die eine Schulfeier
oder einen teil derselben ausfüllen können, stellen wohl die gering-
sten anforderungen an die gesangkräfte die melodramen. dieselben
sind, wie z. b. die melodramatischen behandlungen der roärchen,
meist für Schüleraufführungen geschrieben und vermeiden schon aus
diesem gründe Schwierigkeiten, besonders die progymnasien, sowie
kleinere vollanstalten werden daher mit erfolg derartige auffuhrun-
gen wählen, das gröszere publicum ist denselben gegenüber mit
seinem beifall oft bereiter als bei gröszeren Oratorien und drama-
tischen compositionen , da der text und die musik der melodramen
leicht verständlich sind, oft kommt auch hinzu, dasz die musik eine
gewisse äuszerliche tonmalerei verfolgt, die womöglich noch durch
diesen und jenen überraschenden effect, wie plötzliches einfallen einer
harmoniumbegleitung oder nachahmung der dumpfen schlage einer
turmuhr (z. b. das glöcklein von Innisfär) u. a. unterstützt wird,
derartige mittel wirken immer befriedigend auf die grosze masse der
aufmerksamen zuhörer, und sie sind auch dem jugendlichen alter der
Schüler durchaus entsprechend, was die declamation anbetrifft, so
mosz der inhalt entscheiden, ob dieselbe von einem schüler oder
von mehreren vorgetragen wird, wenn es dem inhalte nach möglich
ist, so ist es selbstredend besser die declamation unter mehrere
schüler zu verteilen, über die Vorbereitungen zur declamation wird
später gehandelt werden; hier sei nur daran erinnert, dasz dieselbe
zunächst nicht sache des gesanglehrers ist, sondern dasz dieser nur
die letzte hand ans werk legt, d. h. das richtige ineinandergreifen
von text und melodie einübt.
Eine zweite, schwierigere art musikalischer aufführungen sind
die Oratorien und cantaten , da dieselben auszer dem geübteren chor
auch bessere Solostimmen voraussetzen, an letzteren musz es aus
natürlichen gründen selbst in gröszeren anstalten mangeln, da die
männlicbe stimme erst nach dem zwanzigsten lebensjahre den nötigen
grad der Vollendung erreicht, der zum öffentlichen Sologesänge be-
rechtigt , und da ferner die theoretische musikalische fähigkeit und
der Vortrag bei schülern selten so entwickelt ist, dasz sie den solo-
stellen bekannterer Oratorien, welche selbst gesangvereine durch
kfinstler zu besetzen pflegen, gewachsen ist.
Darum sind neuerdings auch wohl Oratorien eigens für schüler-
chor componiert worden und andere, um hier die treffendere deutsche
bezeichnung zu w&hlen, mit benutzung gröszerer bekannter Orato-
rien zusammengestellt worden, so bin ich von musikalisch masz-
gebender seite auf mehrere Oratorien artige Zusammenstellungen auf-
merksam gemacht worden, welche mit vielem erfolge in den letzten
jähren in rheinischen gymnasien aufgeführt worden sind, vor mir
liegt das programm einer solchen aufführung des gymnasiums zu
M. -Gladbach: der freiheitskampf der Griechen gegen die Perser,
eantate für chor, soli und declamation, frei bearbeitet nach dem vor-
gange des realgymnasiums zu Cöln. die eantate zerfallt in vier
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Über gymnastische, musikalische
scenen. die erste spielt bei den olympischen spielen 492 v. Chr. zur
zeit des ersten zuges des Mardonius, die zweite in der Volksversamm-
lung auf dem marktplatze zu Athen 490 v. Chr. zur zeit der scblacht
bei Marathon, die dritte scene spielt während der scblacht bei Sala-
mis auf Salamis 480 v.Chr., die vierte bei der befreinngsfeier (Eleu-
therien) in Platää 478 v. Chr. declamation, chor- und Sologesang
wechseln in wdrdiger art : herolde und boten treten in dramatischer,
rhapsoden in lyrisch -epischer declamation auf; der sängerchor der
schule bildet den chor des Volkes und der priester und geschickt und
kunstvoll sind eine reihe von arien und recitativstellen aus berühm-
ten opern für Sologesang eines priesters, eines greises, eines kriegers
oder eines boten in den text gewoben, ohne dasz das gefühl der Zu-
sammengehörigkeit gestört wird, so singt in der zweiten scene nach
der arie aus Elias : fherr gott Abrahams' der priester des Zeus: fhör'
mein flehen an , herr des Hellenenvolkes ! lasz heut kund werden,
dasz du gott bist und wir dein volk! Zeus von Olympia!' so wird
an anderer stelle die arie aus Paulus : f ich danke dir, herr, mein gott!'
geschickt benutzt zum dankliede für den sieg bei Platää: 'ich danke
dir, höchster Zeus!' hier und da werden text und melodie auch fast
genau aus einem Oratorium übernommen, so ist am Schlüsse der
dritten scene der lobgesang aus Händeis Judas Makkabäus auf den
siegreich heimkehrenden Themistokles angewandt: 'seht, er kommt
mit preis gekrönt!' der text der declamation ist eigens zu dem
zwecke gedichtet; an einer stelle, wo ein rhapsode in der vierten
scene die schlacht von Platää besingt, ist die declamation sogar eigne
arbeit des schülers, eines primaners. es ist hier etwas eingebend auf
eine derartig zusammengestellte cantate aufmerksam gemacht worden,
weil mir eine solche auffuhrung sehr wohl dem geiste und den fähig-
keiten einer höheren schule zu entsprechen und der weiteren Ver-
breitung und nacheiferung wert scheint, eine andere, in derselben
weise zusammengestellte cantate für soli, chor und declamation unter
dem titel : 'Widukind, des Sachsenherzogs bekehrung zum Christen-
tum' wurde gleichfalls von dem gymnasium zu Gladbach aufgeführt,
von geeigneten melodramen, Oratorien, gröszeren und kleineren can-
taten seien hier nach eigner erfahrung und nach empfehlung durch
sachverständige collegen verschiedener anstalten genannt:
Anacker: bergmannsgrusz, mit decl. Hofmeister, Leipzig.
Abt: Aschenbrödel, cyclus von neun, durch declamation verb. ge-
sängen für sopran und alt. Offenbach, bei J. Andre.
Abt: die sieben raben, mit decl. sopran, alt. ders. verlag.
Abt: reisebekanntschaften, volkstümliches Singspiel, sopran, mezzo-
sopran, alt, tenor, bariton, basz. ders. verlag.
Abt: Rotkäppchen, mit decl. sopran, alt. ders. verlag.
Abt: Rübezahl, märchendichtung mit decl. sopran, alt. ders. verlag.
Abt: Sneewittchen, mit decl. sopran, alt. ders. verlag.
Vorgenannte märchen kosten im clavierauszuge durchschnitt-
lich 6 mk.
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und declamatorische schulfeierlichkeiten.
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Abt: hurrah Germania! patriot. festspiel. dreistimmiger jugendchor
mit verb. decl. ders. vorlag.
Abt: siegesgesang der Deutschen nach der Hermannsschlacht, für
gemischten chor bearbeitet von Urban, vorlag von Siegel, Leipzig.
Becker: Columbus, mit decl. Hofmeister, Leipzig.
Bellermann: Ajax und die Hermannsschlacht.
Börnicke: Columbus. Max Hesse, Leipzig.
Bruch: Normannenzug (mit baritonsolo).
Dratb : die monate, mit decl. Merseburger, Leipzig,
v. Haydn : die Schöpfung und die vier Jahreszeiten.
Kipper: Sedan. Max Hesse, Leipzig.
Kipper: das lied vom braven mann. ders. vorlag.
Knauer: der gesang, ein begleiter durchs leben, mit decl. Appun,
Bunzlau.
Löwe: auferweckung des Lazarus. Heinrichshofen, Magdeburg.
Löwe: Johann Huss.
Mayer: das glöcklein von Innisfär oder ein Weihnachtsabend in
Schottland, mit decl. G. Schmid, Schwabisch-Gmtind.
Reinecke, prof. des Leipziger conservatoriums : mehrere empfehlens-
werte compositionen für drei stimmen mit verbindender decla-
mation.
M. Ring: chöre aus der braut von Messina.
Romberg: die glocke. Peters, Leipzig.
J. Springer: lustiger schülerchor. Siegel und Schimmel, Berlin,
K einigst r. 41c.
J. Springer: der zwölfjährige Jesus im tempel.
Von weniger umfangreichen gesängen , wie motetten , kleinere
cantaten, kirchliche, patriotische gesänge, einzelchöre und arien aus
Oratorien und opern seien nach empfehlung von fachmännern ver-
schiedener anstalten und nach vergleichung von Programmen noch
folgende genannt: zunächst einige Sammelwerke für kirchliche
gesänge: Krauss und Weeber, kirchliche chorgesänge. Kuntze
op. 122. leicht ausführbare dreistimmige motetten, verlag von Fr.
Brandstetter, Leipzig. Klein: 14 fest motetten, für gemischten chor
bearbeitet von Palm6, verlag von Bahn, Berlin, vierzig Choräle von
Bach, für gemischten chor zusammengestellt von Nöbring, verlag
von ßreitkopf und Härtel, Leipzig, für classischen chorge-
sang: classisches choralbum von Rieh. Müller und Rob. Schaab,
clavierauszug mit text, verlag von Peters, Leipzig. Sammlung be-
rühmter arien, verlag von Peters, Leipzig, für allgemeinen ge-
sang: Erk und Greef, sängerhain. Sering, auswahl von gesängen
für gymnasien. 7 hefte, verlag von Schauenburg, Lahr. Noak und
Günther, liederschatz. Zanger, deutscher liederschatz für männer-
chor, verlag von Hauser, Neuwied und Leipzig, liederborn von
R. Franz, verlag von Hientzsch, Breslau, liederschatz von Ballieu,
Berlin, Selbstverlag. Odenwald, 60 Volkslieder , für drei stimmen
arrangiert.
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60 Über gymnastische, zuusikal. und declamator. schulfeierlichkeiten.
Im einzelnen sei noch von kirchlichen gesängen aufmerk-
sam gemacht auf: Bortniomski: adoramus. Bortniomski: die
grosze doxologie, cbor und soloquartett. Gofctwald: op. 3, 'gott
sei mir gnädig', cantate für gemischten chor , Orchester und orgel.
vorlag von Leuckart, Breslau. Grell: motetten für gemischten chor,
z. b. fherr, deine güte reicht so weit1, op. 13. Händel: aus dem
Messias : 'ich weisz,dasz mein erlöser lebt' unisono von er. 12 sopran-
stimmen, hallelujab, vierstimmig mit begleitung. classisches Chor-
al Im m von Müller und Schaab. H ay d n : f te deum.' gemischter chor.
Homilius: die liebe gottes, motette zu Weihnachten. Jomelli
(1714 — 74): bitte um ein seliges ende (requiem!). cbor und solo-
quartett, aus Erauss und Weeber heft 3 nr. 14. Klinkmüller:
psalm 100. Mendelssohn: ave Maria, aus der unvollendeten oper
Loreley. knabenchor mit sopransolo (op. 98 nr. 2). Mendels-
sohn: die psaimcompositionen , besonders für schüler psalm 100.
Mendelssohn: hoflfnung auf gott Krauss und Weeber. Mendels-
sohn: aus dem Elias, chor der engel, dreistimmiger chor. Simrock,
Berlin. Mendelssohn und Feska: sechs verschiedene chöre, mit
berücksichtigung des Stimmumfanges des gemischten chors an
höheren schulen herausgegeben von Palme. op.44heftl. vertag*
von Max Hesse, Leipzig. Mozart: de profundis. Peter Rogers
(1620): 'o hilf uns herr.' Krauss und Weeber heft 2. von compo-
sitionen mit patriotischem inhalte seien genannt: Kothe: das
k aiser 1 and. vorlag von Kothe, Leobschütz. Kremser: altnieder-
ländische Volkslieder. Lachner: Makte, Senex Imperator, mit vier-
händiger clavierbegleitung oder Orchester. Löwe: salvura fac regem.
Mendelssohn: der freie Rhein, aus Noak und Günther, liederschatz
teil III. Protze: ältere deutsche märsche (Torgauer, Hohenfried-
berger). Protze, Leipzig. Rietz: altdeutscher schlachtgesang, ein-
stimmiger männerchor mit begleitung. Ring(?): Gotenzug, ein-
stimmiger männerchor. Schlichteisen: Choräle zur gedächtnisfeier
der kaiser Wilhelm I und Friedrich III. 8 ering: der trompeter an
der Katzbach, vierstimmiger männerchor. Urban : gedenkbtichlein.
sechzehn geistliche lieder für die erinnerungstage der kaiser Wilhelm I
und Friedrich III. Berlin, bei Raabe und Plothow. Volkmar: zum
Rhein, vierstimmig, aus Zanger, liederkranz.
Auf umfangreichere lieder allgemeinen inhalts hinzuweisen,
würde zu weit führen, doch sei hier auch für die schule auf die be-
kannten compositionen für gesangvereine von Abt, Franz, Beschnitt,
Schumann usw. hingewiesen, die immer noch eine reiche und gute
aus wähl bieten.
(schlusz folgt.)
Berent in Westpreuszen. Stoewer.
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Kaemmel: deutsche geschichte.
61
5.
DBÜT8CHE Geschichte, von prof. dr. Kaemmel. Dresden 1889.
Höckner. VI u. 1266 8.
Ein jeder fühlt, dasz es die würdigste und liebste aufgäbe des
gescbichtscbreibers sein müsse, die geschiebte des eignen Vaterlandes
zu schreiben, dasz es aber die schwerste und undankbarste aufgäbe
des deutschen geschieb tschreibers sei, hat bisher noch jeder er-
fahren, der nicht nur zeit und fleisz, sondern auch köpf und herz
daran gewagt, der deutsche leser, der eine geschichte seines Vater-
landes zur hand nimmt, will sie mit doppelt warmer empfindung aus
der hand legen, allein, wer erinnerte sich nicht aus der schönsten
jünglingszeit jener häßlichsten und schmerzlichsten erfahrung, wenn
er mit wärmster und reinster Sehnsucht, etwa in Boettigers zwei-
bändiger geschichte der Deutschen, kenntnis und Verständnis seines
Vaterlandes suchte und immer wieder zu der Uberzeugung zurück-
kehrte: die geschichte meines Vaterlandes ist geisttötend langweilig,
ein kummer, wie verschmähter liebe, presste das herz, langweilig
aber ist nur, was der Vorstellung kein vollkommenes bild und dem
geiste keinen faden zeigt, der den anfang mit dem ende verbindet.
Gustav Freytag hat in künstlerischer weise aus der deutschen Ver-
gangenheit eine lange kette von so reizvollen und fesselnden bildern
gegeben, dasz es seitdem feststeht, auch der gewissenhafteste er-
forseber der deutschen geschiebte — denn das ist Freytag auch —
habe nicht unbedingt nötig langweilig zu sein. Kaemmel bat sehr
wohl gethan, sich ihn zum muster zu nehmen, die zweite aufgäbe
ist dem Verfasser der deutschen geschichte durch die ereignisse der
letzten zwanzig jähre erleichtert, zum teil erst ermöglicht, und
Kaemmel ist der erste, der mit dem vollen rüstzeug einer auszer-
ord entlichen gelehrsamkeit, eines ungewöhnlichen historischen tief-
blicks und einer edlen begeisterung es unternommen bat, das einst
und das jetzt zu verbinden , das gewordene vor unsern äugen und
unserm gemüt werden zu lassen, wenn auch der oberflächlich ge-
bildete bedauern wird, dasz der verf. grundsätzlich alles anekdotische
verwirft, ja bisweilen absichtlich auf die reize einer spannenden er-
zählung verzichtet, so wird der sinnige vaterlandsfreund mit höch-
stem interesse der darstellung folgen , wie die germanischen , slavi-
schen und römischen bildungselemente jabrhunderte lang die ge-
staltung eines wahrhaft deutschen Staates und reiches verhinderten
und doch zugleich das fundament bereiteten, auf dem das neue reich
in seiner gegenwärtigen grösze erbaut werden konnte, zum ersten
male werden hier die wirtschaftlichen und rechtlichen grundlagen
nach den vortrefflichen arbeiten des verstorbenen K. W. Nitzsch
stärker betont, zum ersten male das gesamte deutsche leben in kunst
und Wissenschaft mit in den bereich der darstellung gezogen, allein
als das eigentliche ziel, auf dessen erreichung das auge des Verfassers
immer gerichtet bleibt, erscheint doch die gründung eines starken
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62
Kaemmel : deutsche geschiente.
auch nach auszen bin ehr furcht gebietenden reiches, obwohl er für
die eigentümlichkeiten der einzelnen stamme, wie für die eonder-
interessen ihrer fürsten ein gerechteres Verständnis an den tag legt,
als Treitschke. auf jenes weist schon die vollkommen neue und eigen-
artige einteilung hin. Kaemmel unterscheidet nach dem aufhören
des kampfes mit dem römischen reiche (476 nach Ch.) nur zwei
grosze Zeiträume, den der reicbsbildungen auf germanisch- römischer
grundlage (476 oder 481 bis 1273) und den der auflösung des
römisch- deutschen kaisertums und der entstehung des deutschen
bundesreiches (1273 — 1871); den erstem behandelt er auf 375, den
zweiten auf 819 Seiten, es ist für die bedeutung des herlichen Werkes
von geringem belang, wenn mancher leser bedauern möchte, als
höchstes ideal eines römisch-deutschen reiches, das alle Vorzüge des
deutschen und römischen wesens in sich vereinigte , nicht die her-
schaft Karls des groszen dargestellt zu sehen, sondern die Friedrichs I,
der doch schon zwei undeutsche und unrömische dinge lernte: dasz
man durch knien bisweilen mehr erreiche, als durch kämpfen, und
dasz die lorbeeren im Orient billiger seien, als in der deutschen
heimat. der Verfasser führt selbst aus (s. 446), dasz die volkssage
sich mit ihrem schmerz und ihrem hoffen nicht an Barbarossa an-
klammerte , trotz seiner wahrhaft blendenden erscheinung , sondern
vielmehr an Friedrich II, der beiden abhold war, obwohl er die
deutsche reiebsgewalt durch Zersplitterung noch tiefer erniedrigte,
als der groszvater. wie schwer es ist, in dem bunten durcheinander
von auflösenden und aufbauenden elementen, das man deutsche ge-
schiente nennt, eine marke zu entdecken, die das neue vom alten
scheide , das zeigt recht klar des feinsinnigen und vaterlandslieben-
den J. Möser Vorschlag zu einem neuen plan der deutschen reichs-
geschichte\ er will 'nach art der epischen dichter' die gänzliche
Zertrümmerung der monarchie Karls des groszen bis zum ausgange
des mittelalters in eine einzige darst eilung verwandelt sehen, die
gewissermaszen nur ein einleitungscapitel bilden solle zum Land-
frieden Maximilians (1495). 'zu diesem verbinden sich einige fürsten
und stände, laden andere zu und so kommen endlich alle zu einem
gemeinsamen reichsgericht und bundesrecht mit vorgeschriebenen
formen der executive. seitdem erst hat jede landesobrigkeit ruhe
und zeit polizei- und Verteidigungsanstalten zu bessern, endlich an-
dere gute einrichtungen folgen zu lassen.' die ganze folgende ge-
schiente sollte nur als 'Verbesserung oder Verschlimmerung des neuen
Systems gelten', wie geringen erfolg die vielgerühmten , dem weit
tiberschätzten kaiser Maximilian mühsam abgerungenen reformen
gehabt haben, zeigt auf grund der besten forschungen unser ge-
Schichtschreiber in überzeugender weise (s. 565 f.). erst die voll-
kommene Zertrümmerung des alten reichsgebäudes im dreiszigjähri-
gen kriege konnte — nach unserer unmaszgeblichen Überzeugung
und eigentlich auch nach K.s darstellung — räum und mittel
schaffen zum neubau auf dem gründe des rein 'weltlichen fürsten-
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Kaemmel : deutsche geschieht*.
63
tums und der Glaubensfreiheit', seit dem westfälischen frieden war
die ausschlieszung des hauses Österreich, das krampfhaft an dem
römiach-by zantinischen gedanken des glaubenszwanges festhielt, aus
dem deutschen reichsverbande nur eine frage der zeit und der macht,
uoen nie ist es in einer deutschen geschiente so wahr, so warm und
ao schön dargestellt (s. 787 ff.), dasz Friedrich Wilhelm von Branden-
burg der erste deutsche fürst war, der nicht nur eine mustergiltige
Ordnung im eignen lande schuf, sondern auch in seiner gesamten
politik, wie er selbst 1661 sagte, nicht kaiserlich, nicht spanisch,
nicht französisch, nicht schwedisch, vielmehr einzig 'gut reichisch'
gesinnt war. von diesem Zeitpunkt an gewinnt die darstellung
Kaemmels natur- und saebgemäsz an einheit und kraft, er zeigt,
wie aueb die edlen bestrebungen der kaiserin Maria Theresia und
Josefs II, ja mancher andern deutschen fürsten, nach preuszisebem
muster im eignen lande zu reformieren, die erstarrte reichsverfas-
sung unberührt lieszen und die ohnmacht des kaisertums nur sicht-
barer machten (s. 949). wohl hat er für die Verlassenheit und Ver-
legenheit der Rheinbundfürsten gerechte und milde (s. 1033), für
den niedergang Österreichs seit 1810 (s. 1068) tiefbeklagende und
doch nur allzu wahre worte, aber zu ergreifender Schönheit schwingt
sich die Schilderung der reform in Preuszen (s. 1053) sowie der
freiheitskriege auf und ermattet auch nicht in der darstellung der
tiefen erniedrigung des gesamten deutschen Volkstums in der zeit
von 1815—1858. dasz die erzählung dergroszen thaten und Schick-
sale von 1864 — 1871 unter dem dränge, einen abschlusz zu ge-
winnen, gar zu kurz fortgekommen ist, wird jeder vaterlandsfreund
bedauern; um so mehr, als die 60 Seiten stellen genug enthalten,
welche den lebhaftesten wünsch erzeugen , dasz gerade dieser gott-
begnadete Verfasser auch Deutschlands neugestaltung — etwa in
doppelter oder dreifacher Ausführlichkeit — der pbantasie und dem
herzen der nachgeborenen einzuprägen vor andern berufen ist. ge-
wis wird die nächste aufläge auch diesen wünsch erfüllen, ohne da-
durch den sonst so bequemen umfang des buches zu vergröszern.
wenn wir auch heute nicht mehr der ansieht Mösers huldigen, dasz
alles, was vor 1495 das deutsche volk gethan und gelitten, nur als
einleitung zu behandeln sei, wenn wir auch keineswegs die ge-
schieht« des römischen kaisertraumes zu sehr verkürzt sehen möchten,
so glauben wir doch, dasz sich der platz gewinnen liesze. einer der
gprösten Vorzüge von K.s deutscher geschichte besteht darin , dasz
fast jeder deutsche stamm, ja manche deutsche Stadt, manche deutsche
familie ihre thaten und Schicksale darin wiederfindet, nur ein so
eingeweihter und gelehrter forscher konnte sich solche riesenaufgabe
stellen, trotzdem wird ein groszer teil der leser hier gern über-
schlagen und , da gerade zum überschlagen kenntnis und Übung ge-
hört, wohl gar das ganze buch zuschlagen, auch agrarische und
rechtliche Verhältnisse sowie Schlachtenschilderungen haben für die
Vorstellungskraft und den verstand einen geringen reiz, wenn nicht
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64
Personalnotizen.
fortwährende vergleiche einen bequemen maszstab an die hand
geben, was das in seiner art einzige werk durch solche beschrän-
kungen an wissenschaftlichem werte verlöre, würde es an künst-
lerischem gewinnen, um so heller würden dann jene wunderbaren,
eines Ranke nicht unwürdigen, geistesblitze leuchten (s. 16. 100.
137. 260. 871 usw.), mit welchen Eaemmel den beschwerlichen weg
erhellt, den das deutsche volk hat wandeln müssen, um zu seiner
heutigen macht emporzuklimmen, wir verzichten gern auf eine be-
sprechung einzelner stellen und danken dem Verfasser, dasz er dem
deutschen volke von 1890 eine seiner und der zeit würdige darstel-
lung der deutschen geschichte geboten hat, die in keiner schüler-,
ja in keiner familienbibliothek fehlen sollte.
Dresden. Diestel.
Ernennungen, befttrderungen, Verteilungen, amzelchnnnge».
Albert, dr., privatdoc. in der philo», facultät der univ. Halle, zum
Birch-Hirschfe 1 d , A., dr., prof. an der univ. Gieszen, als ord. prof.
der romanischen sprachen an die univ. Leipzig berufen.
Braun, M., dr., prof. an der univ. Rostock, als ord. prof. der Zoologie
an die univ. Königsberg berufen.
Keil, Br., dr., ord. Iehrer am Sophien-gymn. in Berlin, als aord. prof.
der class. philologie an die univ. Straszburg berufen.
Klein, B., dr., privatdoc. in der pbilos. facultät der univ. Marburg,
zum aord. prof. ernannt.
Koken, £., dr., privatdoc. in der philos. facultät der univ. Berlin, ala
ord. prof. der mineralogie und geologie nach Königsberg berufen.
Schmidt, C, dr., ord. Iehrer am gymn. in Elberfeld, als rector des
progymn. in Sobernheim berufen.
am 18 dec. prof. dr. Schnelle, rector der fürstenschule zu Grimma,
am 26 dec. dr. Heinrich Schliemann, der bekannte altertumsforsch er,
zu Neapel im 69n lebensjahre.
am 20 jan. geh. ministerialrat dr. Otto Gilbert zu Dresden, um die
entwicklung des sächsischen Schulwesens vielverdient.
6.
PERSONALNOTIZEN.
Gettoi-beni
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ZWEITE ABTEILUNG
FÜR GYMNASIAIPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AUSSCHLUSS DER CLA88I8CHKN PHILOLOOIK
HERAUSOEGEBEN VON PROF. DR. HERMANN MA8IUS.
7.
DAS DAKTYLO - EPITRITISCHE VER8MASZ BEI PIN DAR
UND DIE NEUERE RHYTHMOLOGISCHE THEORIE.
Die daktylo-epitri tischen atrophen bei Pindar bestehen aus zwei
dementen, die gewöhnliche grundform des einen dementes ist eine
wenigstens anscheinende daktylische tripodie, deren letzter fusz ein
spondee ist: xv« a— , während das epitritische versmasz teils
in einzelnen sich an dieses Schema am ende oder am anfange an-
schlieszenden füszen, teils in selbständigen stichischen dipodien oder
tripodien aufzutreten pflegt, es entsteht hieraus ein schöner, ein-
facher und kraftvoller rbythmus , dessen genauere herstellung aber
wohl nicht allein nach den anschauungen und grundsätzen der neue-
ren rhytbmologiscben schule erfolgen dürfte, man hat diese grund-
sätze wohl vielfach überschätzt und es sind bereits spuren einer
reaction des rein metrischen oder eigentlich sprachwissenschaftlichen
Standpunktes in dieser frage hervorgetreten, es ist freilich wahr,
dasz das antike versmasz im allgemeinen immer von dem rhythmus
der musik begleitet gewesen ist; aber sowohl die alten als auch die
neueren rbythmologen scheinen doch die ganz besondere eigenart
und den scharf ausgeprägten Charakter der antiken metrischen form
übersehen und in manigfacher weise verkannt oder verunstaltet zu
haben, man lasse sich hierbei nicht imponieren durch die autorität
der zum teil in falschen oder doch schiefen Aristotelischen Vorstel-
lungen befangenen antiken theoretiker selbst, wir stehen den metri-
schen kunst werken oder Schöpfungen des altertums doch zuletzt
immer in einer ganz ähnlichen weise gegenüber als dieses im Ver-
hältnis zu den werken seiner sichtbaren kunst der fall ist. hier fragt
der archöolog doch immer nur darnach , was das an der sache ihrer
selbst wegen schöne, richtige oder angezeigte sei. die Schönheit des
antiken versmaszes aber verstehen auch wir aus ihm selbst und
N. j»hrb. f. phil. u. päd. IL «bt. 1891 hfl. 2. 5
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66 Das daktylo-epitritiache versmasz bei Pindar
seinen eignen Verhältnissen heraus zu würdigen, während der musi-
kalische rhythmus doch immer nur etwas äuszerliches und accesso-
risch zu ihm hinzutretendes gewesen ist. alles versmasz aber ist
zuerst und vor allem eine erscheinung oder inhärenz auf der einen
seite an der spräche und auf der anderen am wesen oder gehalt der
poesie und es wird dasselbe darum nur von hier aus in seiner wahren
natur erkannt oder begriffen werden können.
Jene daktylische tripodie glauben wir vielmehr als eine tetra-
podie auffassen zu müssen, deren letzte beide thesen vom sprach-
lichen silbenstoff unausgefüllt geblieben sind : ±ww.l~~j.axa.
hierauf scheint schon die doppelte lange silbe am ende derselben
hinzuweisen, überhaupt möchten wir das ganze schema einer dak-
tylischen tripodie eigentlich für eine Unmöglichkeit oder ein künst-
lerisches unding erklären, man läszt neuerlich auch gern den hexa-
meter aus der Vereinigung einer doppelten solchen tripodie entstehen,
alle diese einfachen versmasze aber sind zuerst doch wohl immer nur
in einer geraden zahl von füszen als tetrapodien und dipodien zu
versen vereinigt worden, auch der hexameter ist wohl wie alle an-
dern ähnlichen langverse aus der Vereinigung zweier kürzerer stro-
phischer verse, einer tetrapodie und einer dipodie entstanden, die
älteste oder natürliche cäsur ist deswegen auch gewis die am ende
des vierten fuszes gewesen, an das gegebene motiv und vorbild des
sechsfüszigen daktylischen versmaszes schlieszt sich wohl auch die
hier vorliegende tetrapodie an. alle diese einzelnen versmasze sind
jedenfalls naturgemäsz und in organischer weise das eine aus dem
andern entstanden, das letzte dritteil des hexameters trägt auch jetzt
immer noch einen besonderen und in beschleunigter folge dem ab-
schlusz zueilenden Charakter, in dem daktylo-epitritischen langvers
aber, mit dem sogleich die dritte olympische ode bei Pindar eröffnet,
ist an der steile dieses dritteiles der in seiner länge damit einstim-
mige epitritische fusz eingeschoben worden: -iww iA:*|iwi»,
zu einleitender Vorbereitung auf diesen ungewöhnlichen ausgang
aber sind die beiden letzten sprachlichen thesen der tetrapodie aus-
gefallen oder eliminiert worden, ein solcher ausfall des sprachlichen
silbenstoffes aber im unveränderten fortgang des rhythmus geschieht
niemals ohne irgend einen grund, sondern hat überall einen ganz
bestimmten künstlerischen zweck oder effect. es wird durch den-
selben immer eine bestimmte erwartungsvolle Spannung oder gestei-
gerte intensität des poetischen empfindens hervorgerufen, es darf
also mit dieser ganzen erscheinung keineswegs blosz in einer äuszer-
lich gleichgültigen oder mechanischen weise operiert und umgegangen
werden, es werden z. b. wohl auch die sogenannten Ionici a minori
— ü richtiger als anapästische verse unter ausfall der zweiten sprach-
lichen these der dipodie anzusehen sein : aber der effect oder
das ethos dieser verse ist immer ein ganz anderes als das der reinen
oder vollständigen anapästen ; z. b. Aesch. Pers. TT€7T^paK€V Jli^V 6
TTepdnToXic fjbr| usw., wobei auch zugleich eine bestimmte, angstvoll
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und die neuere rhythmologische theorie. 67
gespannte seelenstimmung zum ausdruck gelangt, überhaupt gehen
Vier aus immer die manigfachsten mittel und modificationen in der
rhythmischen ausmalung des poetischen empfindens hervor, die dak-
tylische tetrapodie aber wird in diesen Strophen gelegentlich wohl
auch einmal vollständig vom sprachlichen silbenstofif ausgefüllt, sie
bildet überall das eine wesentliche haupt- oder grundmotiv der-
selben , wenn auch ihre äuszere form oder stilistische durchführung
gewissen weiteren Variationen unterliegt.
Das andere element ist das epi tri tische, welches sich an sich
oder seiner entstehung nach an den trochäischen rbytbmus an-
schlieszt. das Schema der epitriten ist anscheinend dasselbe als das
einer trochäischen dipodie mit verlängerter zweiter thesis. die zahl
der sprachlichen moren ist für beide formen die gleiche, 7, während
die reine oder zeitliche länge der trochäischen dipodie notwendig
auf 8 moren zu veranschlagen ist wir halten es nemlich für ein
unbedingtes erfordernis, dasz auch im zweisilbigen oder trochäisch-
iambischen versmasz die reine oder zeitliche länge der thesis not-
wendig oder doch bei jedem genauen und richtigen Vortrag die
gleiche , d. i. die von zwei moren , sein müsse , als die der arsis. es
würde auszerdem durchaus unmöglich und unerträglich sein, dasz
zuweilen und an gewissen stellen die thesis durch Verlängerung dieses
masz erreichen könnte, bei einem jeden aufmerksamen und correc-
ten Vortrag macht sich ganz von selbst das bedürfnis geltend, durch
hinzufügung einer zweiten leeren, blinden oder gleichsam in der luft
schwebenden mora der thesis des fuszes das gleiche gewicht oder die
gleiche zeitliche länge zu geben als der arsis. das richtige Schema
der trochäischen und der iambischen dipodie ist daher allein dieses :
iwA^,^iAvi. die zeitliche länge der füsze dieses versmaszes
ist daher überhaupt vollkommen dieselbe als bei dem dreisilbigen
oder daktylisch-anapästischen versmasz, nur dasz bei dem letzteren
die thesis überall vollständig durch den sprachlichen silbenstofif aus-
gefüllt wird, es sind daher z. b. auch der iambische trimeter und
der daktylische hexameter zwei verse von der gleichen reinen oder
zeitlichen länge, d. i. von 24 moren, während die zahl der sprach-
lichen moren bei dem ersteren 18 — 21, bei dem letzteren 23 — 24
beträgt, das antike versmasz hat überhaupt sein ganz eignes rhyth-
misches oder zeitliches gesetz für sich, welches vollkommen unab-
hängig ist von der künstlichen rhythmischen begleitung durch die
musik. man musz hierüber das auge aufmachen, um sich zu befreien
von den unheilvollen und verkehrten einflössen der neueren rhyth-
mologischen theorie. die ganze natur und der begriff des metrischen
fuszes ist durch diese vollständig verkannt und verunstaltet worden,
das antike versmasz hat überhaupt eine ganz eigne und selbständige
theorie oder wissenschaftliche kunstlehre für sich, welche den neue-
ren rhythmologischen bestrebungen gegenüber in ihrer reinheit auf-
recht erhalten und hergestellt werden musz.
Die antike rhythmologische theorie schlosz sich bei ihrer auffas-
5*
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68
Das daktylo-epitritische versmasz bei Pindar
sung der einheit des fuszes allein an das Verhältnis der äuszerlichen
länge oder der sprachlichen morenzahl der arsis und thesis an. da der
langen zweizeitigen arsis im ganzen nur entweder im trocbäisch-iambi-
schen versmasz eine einfache oder im daktylisch-anapästischen eine
zweifache oder endlich im päonischen eine dreifache kurze einzeitige
silbe in der thesis zur seile gestellt werden kann, so ergab sich hieraus
die lehre, dasz nur in der dreifachen Zahlenproportion 2:1, 2:2, 2:3
oder in den Verhältnissen des doppelten zum einfachen, des gleichen
zum gleichen und des einfachen zum anderthalbfachen der künst-
lerische Charakter oder die entscheidende eigentümlich keit der drei
rhythmengeschlechter oder stilgattungen , des sogenannten yivoc
biTrXdciov, T- fcov und T- rmiöXiov enthalten sein könne, diese
theorie gründete sich jedenfalls zunächst auf eine analogie und Uber-
tragung der schon von den Pythagoreern gemachten beobachtung
über die arithmetischen oder meszbaren Verhältnisse der töne in der
musik. man glaubte also hierin gleichsam eine sichere oder ezacte
basis für die auffassung der Verhältnisse des versmaszes zu besitzen,
es kam ferner hinzu die falsche anwendung der beiden begriffe des
puOuoc und des puGjji£oue vo v, von denen jener im sinne des Aristo-
teles das reine oder allgemeine formprincip, dieser aber den speciel-
len empirischen stoff oder das material alles zeitlich schönen, also
einmal den ton der musik, dann das versmasz oder die spräche,
XÖic, endlich das orchestische element in marsch oder tanz in sich
vertrat oder umfaszte. das musikalische tonelement aber schien als
der reine ausdruck des rhythmischen formprincipes an sich zu gelten
und es wurde dasselbe in einer ungeschickten, pedantischen und
täppischen weise auf den hiervon völlig verschiedenen Charakter des
versmaszes übertragen, beide, musik und versmasz, grenzen an ein-
ander und werden von einander begleitet, sind aber doch immer
ihrem wesen und ihrer structur nach unbedingt verschieden, die
töne der musik differieren von einander wesentlich immer nur nach
der höhe und tiefe ihrer läge, während das versmasz sich immer nur
aus der doppelten differenz der sogenannten quantität oder zeitlichen
länge und der stärke des tones oder dem accente der einzelnen silben
der spräche erbaut, alle ausdehnung oder dimension des tones kann
an sich immer nur diese dreifache der höhe, der länge und der stärke
desselben sein, die erste von ihnen aber ist der musik specifisch
eigentümlich, während sie sich mit der spräche an und für sich nicht
regelmäszig, sondern nur im gesange zu verbinden pflegt, alles auf-
und nieder wogen des tones in der dimension der höhe ist an sich der
natürliche und specifische ausdruck einer inneren subjectiven em-
pfindungsbewegung der seele, welcher der spräche als dem ausdruck
des denkens eigentlich fremd ist und sich nur als eine gelegentliche
unterstützende coloratur oder in einzelnen füllen , wie bei der er-
höhung des tones in der frage, mit ihr verbindet, alles zusammen-
werfen des sprachlichen oder metrischen aecentes mit der musika-
lischen tonhöhe ist vollkommen falsch und verwerflich, sondern es
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und die neuere rbythmologiache theorie.
69
ißt der metrische accent oder ictus seiner physischen beschaffenheit
nach vollkommen derselbe als der gewöhnliche oder prosaische wort-
accent selbst, nur dasz seine Stellung im versmasz allein durch den
unterschied der quantität oder der länge der silben bestimmt wird,
die regel des antiken versmaszes ist überall blosz die, dasz der accent
seine sonstige Stellung in der silbengruppe des Wortes verläszt und
zu einem bloszen unterscheidungscharakter der langen und der kurzen
silben der spräche wird, das antike versmasz kennt deswegen an
sich nur den unterschied der beiden classen der betonten langen und
der unbetonten kurzen silben der spräche, wenn auch gelegentlich
wohl das kurze silbenelement in der arsis für das lange und umge-
kehrt das lange in der thesis für das kurze functioniert. eben hieraus
aber geht die volle und sinnlich schöne plastische abrundung des«
selben im unterschied von dem immer an den gewöhnlichen wort-
accent gebundenen neueren versmasz hervor, alles versmasz ist eine
baukunst aus den beschaffenheiten oder bestandteilen der spräche
und wird hierdurch zu einer wohnstätte für den empfindungsgehalt
des denkens der poesie, während die musik nur an dem reinen inne-
ren oder subjectiven empfindungsieben der seele haftet.
Es ist schlechthin unmöglich oder unfaszbar, dasz dasspecifische
der einzelnen versmasze in den bloszen äuszerlichen Verhältnissen
der sprachlichen morenzahlen der arsis und thesis enthalten sein
könne, es kommen hierbei überall noch alle andern eigenschaften
oder bestandteile des fuszes in betracht. wir glauben auch für den
viersilbigen oder päonischen rhythmus das gleiche gesetz oder die
gleiche naturgemäsze forderung in anspruch nehmen zu müssen, dasz
die reine oder zeitliche länge beider hälften des fuszes immer nur
dieselbe , d. i. die von zwei moren sein könne, die wirkliche länge
einer jeden der drei kurzen tbctischen silben kann hier nur auf den
betrag einer halben zeitlichen mora veranschlagt werden und es tritt
dann zur ergänzung noch eine vierte halbe leere oder blinde mora
hinzu, das bedürfnis einer solchen engeren zusammenziehung des
thetischen silbenstoffes macht sich hier überall ganz von selbst gel-
tend und es wird dann wohl auch gelegentlich einmal der vierte
halbe leere zeitteil mit vom sprachlichen silbenstoff ausgefüllt, wir
sehen z. b. den vers Pindar Pyth. II 3
ßa8U7TOX^|iOU x^uevoc vAp€OC övbpujv
als eine reihe von vier mit der thesis anfangenden päonischen füszen
unter zunehmend fortschreitender Verkürzung des sprachstoffes an:
w ^ ^ w 1. Awww« \ \ v/ v - /\ A A A «
Nicht weniger aber macht sich auch immer das naturgemäsze
bedürfnis einer zunehmenden Verstärkung des arsischen accentes im
Verhältnis zu der anzahl der kurzen thetischen silben geltend , was
z. b. deutlich in den gemischten versen :
rex Olympie caelicola
und
pinifer Olympus et Ossa
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70
Das daktylo-epitritische veremasz bei Pindar
hervortritt, das richtige Schema aller dieser einfachen von der arsis
und von der thesis anfangenden füsze ist daher überhaupt dieses:
* » // 090 A
A ß — vx ^ — w \* sx A
A t ** A
A — . | w w — | A w w
Was wir in der einheit des fuszes mit einander vergleichen, sind
überall nur die allgemeinen gesamtbeschaffenheiten seiner beiden
hälften, der arsis und thesis. es musz zwischen diesen beiden hälften
notwendig immer eine bestimmte gegensätzliche Verschiedenheit und
ebenso auch ein bestimmtes gleichge wicht stattfinden, weder ein
Verhältnis der einfachen Verschiedenheit noch ein solches der voll-
kommenen gleichheit wird jemals künstlerisch schön oder wohlge-
fällig genannt werden können, arsis und thesis sind einander ihrer
zeitlichen länge nach in allen drei versmaszen gleich , während die
stärke des arsischen accentes und die zahl der thetischen silben immer
in einem bestimmten proportionierten Verhältnis stehen, es ist dieses
das Verhältnis eines ästhetischen major und minor oder einer an sich
stärkeren und einer schwächeren half te eines ganzen, von denen aber
doch die letztere immer wieder der ersteren in gewisser weise als
gleichgewichtig oder gleichwertig an die seite tritt, der unterschied
der drei arten des versmaszes ist wesentlich nur der, dasz der con-
trast oder die gegensätzliche Spannung beider hälften des fuszes auf
der grundlage ihres allgemeinen gleichgewichtes zunehmend eine
höhere oder schärfere ist. hierauf gründet sich auch der besondere
Charakter oder das ethos und die verschiedene Verwendbarkeit der-
selben zu den zwecken der poesie. es sind dieses gleichsam drei
wellen von verschiedener höhe, welche der rhythmus der spräche im
dienste der poesie schlägt und durch die sich die innere Eigentüm-
lichkeit und die gebrauchsanwendung derselben bestimmt.
Durch das vorantreten des kurzen thetischen silbenelementes
wird das gewicht oder die bedeutung desselben immer um ein be-
stimmtes erhöht und es haben infolge hiervon alle von der thesis
anfangenden versmasze einen lebhafteren oder erregteren Charakter
als die von der arsis anfangenden, hierbei aber ist die meinung
durchaus zu verwerfen , als ob die erste einleitende thesis oder ana-
krusis überhaupt nicht mit zum eigentlichen rhythmus des vers-
maszes gehöre oder dieses an sich notwendig nur mit der arsis an-
fangen könne, es sind aber aus diesen einfachen versmaszen zuerst
alle weiteren rhythmen durch modification oder eliminierung ein-
zelner elemente entstanden, das griechische versmasz ist hierdurch
ungemein reichhaltig an formen für die ausmalung besonders gestei-
gerter oder exceptioneller effecte des poetischen empfindens.
Nicht weniger als der begriff des fuszes ist auch der des verses
von der antiken rhythmischen theorie vollkommen verkannt und
falsch aufgefaszt worden, man sah in ihm wesentlich nur einen ver-
gröszerten fusz und nicht eine andere und selbständige metrische
einheit für sich, weil der vers im allgemeinen durch die cäsur in
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und die neuere rhythmologiache theorie.
71
zwei hiilften geteilt wird, 30 glaubte man dieses Verhältnis nach der
analogie der beiden teile des faszes , der arsis und thesis , auffassen
zu müssen, die erste hälfte des verses sollte demnach auch die höher
oder stärker betonte sein als die zweite, dieses ist vollkommen irrig,
ebenso wie auch die ansieht, dasz nur die erste arsis des verses einen
höheren oder stärkeren ton habe als die folgenden, ein vers besteht
vielmehr an sich oder seinem reinen Charakter nach nur aus einer
bestimmten anzahl oder reihe einzelner gleichartiger metrischer
füsze, zwischen welche nur des notwendigen wechseis wegen gewisse
ähnliche prosodische ftisze eingeschoben zu werden pflegen, die ganze
einheit des verses ist deswegen eigentlich nur dazu da, das einfache
vorstellungsbild oder silbenschema eines bestimmten metrischen
fuszes durch dessen mehrmalige Wiederholung für uns zu einer nach-
drücklichen und wirksamen künstlerischen geltung zu bringen, der
einzelne fusz für sich allein hat noch keinen künstlerischen wert oder
charakter, weil er als solcher nur der gewöhnlichen oder prosaischen
rede angehört, die einheit des verses ist insofern an und für sich
nichts als ein umschlieszender rahmen für das in ihm erscheinende
bild der einheit des fuszes. er hat auszerdem allerdings ebenso wie
ein solcher rahmen auch einen bestimmten kunstcharakter für sich,
indem er namentlich durch die cäsur der regel nach in zwei einander
proportionierte hälften geteilt wird, dieses ist mindestens bei dem
längeren und selbständigen auszerstrophischen verse der fall, dieser
vers ist im ganzen in der echten und classischen poesie der Griechen
ein vierfacher, und zwar einmal der sechsfüszige iambische und dak-
tylische und anderseits der achtfüszige trochäische und anapästische
vers. hierin aber zeigt sich ein bestimmtes gesetz oder eine charak-
teristische erscheinung für den wahren und echten künstlerischen
sinn der Griechen, das von der thesis anfangende oder ansteigende
zweisilbige iambische und das von der arsis anfangende oder abstei-
gende dreisilbige daktylische versmasz haben als die strenge oder
sollenne form ihres auftretens die kürzere form des trimeter oder
hexameter, umgekehrt aber das von der arsis anfangende absteigende
trochäische und das von der thesis anfangende ansteigende anapä-
stische versmasz die längere form des tetrameters für sich verlangt,
die entgegengesetzten Verbindungsformen aber sind von den Griechen
im allgemeinen nicht gebilligt worden oder doch nicht in den regel-
mäßigen und stehenden gebrauch der poesie übergegangen, gelegent-
lich und in zeiten der entartung ist allerdings fast alles nur mög-
liche versucht worden , während der strenge und classische stil der
kunst immer das eigentlich schöne von dem falschen und erkünstelten
unterscheidet, trochäische und anapästische trimeter sind als regel-
mäszige formen misfällig gewesen und höchstens ausnahmsweise zu
gewissen zwecken gebildet worden , wie denn überhaupt auch das
an sich nicht oder doch weniger schöne zuweilen an gewissen stellen
in der kunst seine Verwendung findet, die vierfüszige daktylische
zeile kommt als ein strophisches element vor; aber auch der acht-
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72
Das daktylo-epitritische versmasz bei Pindar
füszige daktylische vers ist im ganzen verschmäht worden, ein iam-
bischer tetrameter aber ist z.b. dieser:
cl jioi t^voito iräpöevoc KCtArj t€ Kai T^peiva,
welcher vers aber doch immer ein ganz besonders und ezceptionell
aufgeregtes ethos besitzt (in quo versu magna hilaritas est. G. Her-
mann), es ist also überhaupt keineswegs gleichgiltig, in welcher
stichischen form ein bestimmtes rhythmisches element zur erschei-
nung gelangt, ebenso wie auch die grösze und form eines künst-
lerischen r ah mens immer zu dem in ihm erscheinenden bilde in
einem bestimmten Verhältnisse stehen musz. jenes gesetz zu con-
statieren aber erscheint uns zunächst wichtiger als dasselbe in seiner
inneren Vernunft und notwendigkeit zu begründen, dieser grund
aber dürfte wohl nur darin zu suchen sein, dasz die allgemeine har-
monie oder das ästhetische gleichgewicht des arsischen und des
thetischen elementes im iambischen und im daktylischen versmasz
eine reinere und vollkommene ist als im trochäischen und im ana-
pästischen, da bei dem ersteren von diesen das arsische und bei dem
letzteren das thetische element in zu einseitigem und gesteigertem
grade überwiegt, jene beiden ersteren versmasze scheinen eben des-
wegen mehr die einfachere, leichtere und gefälligere form des sechs-
füszigen, diese letzteren beiden aber mehr die strengere oder schwerere
pathetische form des achtfüszigen verses als die geeignete für sich
zu verlangen, der trochäische und anapästische tetrameter sind des-
wegen auch zwei verse, die wegen ihres erhabenen und mehr auf
eine bestimmte einseitige spitze gestellten Charakters immer nur in
kürzerer folge zur anwendung kommen können, ein in specifischem
sinne vollkommener vers aber ist tiberall nur derjenige, der bei auch
noch so andauernder Wiederholung doch niemals ein gefUhl der ab-
spannung oder ermüdung in uns hervorruft, dieses gilt aber allein
vom iambischen trimeter und daktylischen hexameter, sowie überhaupt
das reine, mittlere oder gemäszigte schöne überall dasjenige ist, zu
dem wir fortwährend ohne jede durch einseitigen reiz hervorgerufene
Übersättigung zurückkehren können, der daktylische hexameter aber
ist an sich überhaupt der vollkommenste und schönste aller verse,
während der iambische trimeter doch immer ein wenigstens für den
gebrauch des neueren dramas viel zu steifer, feierlicher oder pathe-
tischer vers ist. aus ihm ist zuerst der pedantische und geschnör-
kelte Alexandriner und dann unser neuerer fünffüsziger iambischer
vers entstanden, dieser ist an sich ein ungemein kunstloser und der
gewöhnlichen prosaischen rede nahe stehender vers. ich habe in
meinem drama: die deutschen Studenten (M. Schäfer, 1878) dem-
selben eine höhere Vollkommenheit teils durch einbaltung einer deut-
lich wahrnehmbaren cäsur, am besten am ende des zweiten oder in
der mitte des dritten fuszes , teils durch einen wenigstens für ge-
wöhnlich beobachteten Wechsel des stumpfen und klingenden aus-
ganges der einzelnen verse, teils endlich durch eine möglichste be-
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und die neuere rhythmologiache theorie.
73
autzung der allitterierenden und sonstigen anklänge des lautelementes
va. geben versucht.
Eine andere kunsteinrichtung des längeren auszerstropbiscben
und auch sonst mancher kürzeren strophischen verse ist diejenige
der katalexis oder der sprachlichen Verkürzung des letzten schlieszen-
den gliedes einer reihe, von ihr ist unter jenen vier versen nur der
jambische trimeter ausgenommen, während der daktylische hexa-
meter im letzten fusze eigentlich auf einen trochäen ausgebt, für den
nur subsidiarisch auch der spondee eintritt, die beiden tetrameter
aber immer um den letzten halben fusz verkürzt werden, da bei
diesen beiden versen die cäsur in die strenge mitte hineinfallt , so
wird allein hierdurch die auszerdem unerträgliche vollkommene
gleicbheit beider hftlften derselben vermieden, auszerdem tritt da-
durch , dasz ein jeder vers mit demselben arsischen oder thetischen
demente des sprachstoffes schlieszt, mit welchem er angefangen hat,
zwischen den einzelnen verszeilen immer eine bestimmte rhythmische
pause ein, infolge deren sich eine jede derselben mehr als eine selb-
ständige einheit aus der reihe hervorhebt als dieses bei jenen kürze-
ren versen der fall ist. da aber bei diesen die cäsur in der regel
kurz vor die mitte derselben fällt, so geht schon hierdurch ein ge-
wisser unterschied zwischen der kürzeren ersten und der längeren
zweiten hälfte hervor , der dann vielleicht wieder durch ein etwas
rascheres tempo der letzteren auf die gleiche länge des reinen zeit-
maszes zurückgeführt werden kann, vollkommene Symmetrie oder
strenger parallelismus beider hälften des verses aber musz immer
als künstlerisch falsch oder an und für sich unschön erscheinen.
Die drei haupteinheiten alles versmaszes sind der fusz, der vers
und die Strophe, das Verhältnis derselben schlieszt sich an die reihe
der drei grammatischen einheiten, des Wortes, des einfachen satzes
und des zusammengesetzten satzes oder der periode an , ohne dasz
deswegen die grenzen dieser einheiten überall mit einander zusam-
menfallen dürften, die kunst der Griechen aber hat auszerdem noch
eine weitere reihe von metrischen einheiten durch Verdoppelung oder
engere paarung derselben erschaffen, diese sind einmal die dipodie,
dann das distichon und endlich das aus strophe, gegenstrophe und
epode bestehende strophische System, die dipodische Vereinigung
zweier gleichartiger füsze des verses gibt dem auftreten desselben
einen strengeren, ernsteren und geschlosseneren Charakter, von
dieser regel ist unter den einfachen versmaszen nur das daktylische
ausgenommen, da dieses in seinen einzelnen füszen an sich schon die
reinste und vollkommenste harmonie besitzt, das distichon aber ist
eine kunstform, welche zwischen der einfachen oder fortlaufend
stichischen und der strophischen poesie in der mitte steht und welche
durch die hieraus hervorgehende zerreiszung der rede in kleinere
abschnitte vorzugsweise dem bedürfnis der satire, des epigramms
usw. adäquat ist. in dem vorzugsweise sogenannten daktyliscb-
lieiametrischen distichon bildet der zweite vers, der fälschlich so
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74
Daa daktylo-epitritische versmasz bei Pindar
bezeichnete pen tarne ter eine durch katalektische Verstümmelung des
dritten und sechsten fuszes abgeleitete ergänzende nebenform oder
ein gegenbild des vorangehenden regelmäßigen hauptverses. das
strophische System aber ist im allgemeinen die form für die höhere
und freie selbständige metrisch-rhythmische composition, indem das
neu erfundene schema der ersten strophe dann in der zweiten strophe
noch einmal in vollständiger gleichheit wiederholt wird und zuletzt
in der epode demselben ein zwar ähnliches, aber doch immer abge-
wandeltes und umgekehrtes gegenbild an die Seite tritt.
Das für die einfachen oder nur aus langer arsis und kurzer
thesis bestehenden versmasze geltende gesetz von der zeitlichen
gleichheit dieser beiden demente wird bei den abgeleiteten oder
durch modification hieraus entstandenen versmaszen aufgehoben oder
durchbrochen, weil es sich bei diesen überall nur um die erzielung
eines ganz besonderen und einseitig gesteigerten künstlerischen
effectes handelt, dieses gilt hier namentlich von dem siebenzeiligen
schema des epitriten im Verhältnis zu dem achtteiligen der trochäi-
schen dipodie. wie verschieden diese beiden versmasze sind, geht
insbesondere auch aus der vollkommen anderen und abweichenden
art ihrer stichischen behandlung oder ihres auftretens in der form
des verses hervor, denn während für die trochäische dipodie ± ~ a ± c=.
der tetrameter oder die tetrapodie, so bildet dagegen für den epi-
triten die tripodie die höchste oder vollkommenste sollenne
form ihres auftretens in der poesie. es würde offenbar ebenso falsch
und künstlerisch unmöglich sein, etwa den vers :
di ßotGuEiuvüJV dvacca TTepcibwv uTrepTäTr)
nach epitritischem, als den :
Awpiiu qpuuvctv £vapuö£cti TreMXin
nach trochäischem rhythmus zu lesen oder zu scandieren. diese epi-
tritische tripodie ist überall ein mit so gewaltiger und nachdrück-
licher wucht einhertretender vers, dasz auch nicht zwei dieser verse
unmittelbar nach einander vorkommen können, während dagegen
das trochäische versmasz den gebrauch der tripodie als einen für
sich ungeeigneten verwirft.
Das schema der dritten olympischen ode ist nach unserer auf-
fassung dieses :
hauptstrophe:
2. iwwiwwiAiA|iwA_
3. i«wi«wiAi A|ivi_
4. iwwiww.!.A.».A|.Lwi_
6.
7. iwwJ.wwJ.Ai |iwiA
8. iwi_|iwi»|iwi_
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und die neuere rhythniologische theorie.
75
epode: *
8. J.vwiw^iAiA|iwi_
4. £wX«*wJ.^w.!.-_ | i y i. .
5. Xww-lwwiAiA|iwJ.A
6. lv»/J.wwJLAIA|iwi_
7. iv/viwviA;A|t-T_
8. iwi_|iwi_|l«i-
Es ordnen sich alle bestandteile dieser Strophen leicht und ein-
fach in den daktylo-epitritischen rhythmus ein, wenn man sich nur
von dem Vorurteile befreit, dasz die worte am ende der verse nicht
abgebrochen werden und dasz auch innerhalb der einzelnen worte
keine sprachlichen lücken oder leere rhythmische stellen eintreten
können, gegen keine von diesen beiden annahmen aber liegt irgend
ein berechtigtes bedenken vor. innerhalb des strophischen Verbandes
ist sogar das abbrechen der worte am ende der verse gewissermaszen
angezeigt und natürlich gerechtfertigt, weif hierdurch das ganze der
rede mehr zu einer flieszenden und leicht fortlaufenden folge ver-
bunden wird, ebenso wenig wird auch durch die trennung der silben
eines Wortes das Verständnis der rede oder der harmonische eindruck
des rhythmus irgendwie abgeschwächt oder verdunkelt, man ist aber
hierbei keineswegs etwa genötigt , zu dem gewis oft falsch verstan-
denen und Übel angewandten mittel der sogenannten Tovrj oder der
übermäszigen und unnatürlichen ausdehnung einer langen silbe der
spräche zu greifen, auch dieses scheint zu den unwahren und er-
künstelten erfindungen der rhythmischen theorie zu gehören, es ist
überhaupt kaum möglich oder würde doch immer im äuszersten
grade störend und unschön erscheinen müssen, auf einer silbe über
das natürliche masz ihrer länge hinaus ohne irgend eine singende
modulation der stimme zu verweilen, in der neueren musik wird
allerdings sehr häufig eine einzelne silbe mit einer ganzen längeren
reihenfolge von tonschwingungen belastet und insofern weit über
ihr natürliches masz hinaus ausgedehnt, das antike versmasz aber
kann im allgemeinen oder doch in seinen einfacheren bildungen nicht
sowohl gesungen als vielmehr nur recitiert oder scandiert worden
sein, nur der begleitende rhythmus hat hier überall die verbindende
brücke zwischen dem einen teile des Wortes und dem anderen ge-
bildet, das versmasz selbst schwimmt gleichsam nur wie ein boot
auf dem in gleichmäsziger folge fortgehenden rhythmus der musik
und läszt diese seine tragende basis in einzelnen stellen aus sich hin-
durchschimmern, in der composition dieser ode aber ist im allge-
meinen der daktylo - epitritische langvers die vorhersehende form,
eine einziehung oder Verkürzung des sprachstoffes aber ist insbeson-
dere teils am ende der zweiten, teils an dem der vorletzten verszeile
zu bemerken, der am ende ausgefallene epitrit wird dann wohl
immer rhythmisch ersetzt oder vertreten worden sein, in der epode
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76 Das daktylo-epitrit.masz bei Pindar u. die neuere rhythmol. theorie.
ist die daktylische tetrapodie auch zweimal um die letzte ihrer vier
arsen verkürzt worden , indem Uberhaupt der rhythmus der epode
oft gröszere freiheiten und unregelmäszigkeiten zeigt, als der der
hauptstrophe. wir möchten hier auch die bemerkung einfügen, dasz
nicht wohl in einer solchen strophe unmittelbar nach einander mehr
als drei verse von vollkommen gleicher metrischer und rhythmischer
beschaffen heit vorkommen können, und zwar darum, weil mit der
vierzahl derselben schon der umfang der kürzesten einfachen oder
regelmäszigen strophe erreicht sein würde, in den fünf ersten vers-
zeilen der hauptstrophe ist daher die gleichförmigkeit jenes verses
schon durch den metrischen ausfall des epitriten in der zweiten zeile
unterbrochen worden, so kommen auch in einer späteren strophe
einmal drei epitritische dipodien, aber nicht mehrere unmittelbar
nach einander vor. die epitritische tripodie aber darf, wie erwähnt,
auch nicht zweimal unmittelbar nach einander vorkommen, dieselbe
bildet in der sechsten olympischen ode das bestimmende hauptmotiv,
indem sie in der hauptstrophe viermal, aber immer durch andere
verse getrennt, vorkommt, zuerst in der form (vers 1) :
Es scheint überhaupt von der annähme einzeln stehender ein-
leitender silben auszerhalb des strengen und eigentlichen rhythmus
abgesehen und dieselben immer als die Vertreter vollständiger füsze
oder regelmäsziger metrischer glieder aufgefaszt werden zu müssen,
in der ersten verszeile der siebenten olympischen ode ist ferner von
der daktylischen tetrapodie der ganze einleitende choriambe sprach-
lich unterdrückt worden :
sowie auch umgekehrt ein choriambe zuweilen den ganzen übrigen
rest der tetrapodie anzeigt oder vertritt, und man wird finden, dasz
sich in allen diesen Strophen durch derartige sich natürlich dar-
bietende annahmen der echte und reine charakter des daktylo-epitri-
tischen versmaszes sich ohne jede weitere rhythmische künstelei her-
stellen läszt. wir glauben es endlich auch als ein natürliches gesetz
oder bedürfnis ansehen zu müssen , dasz die beiden hauptstrophen
und die epode eines jeden Systems ihrer reinen oder zeitlichen länge
nach einander gleich sein müssen, ist der sprachstoff oder ist die
anzahl der verse der epode anscheinend eine gröszere als die der
hauptstrophe, so kann, da der verlauf des tempos in jener leicht ein
rascherer ist, wohl auch eine zusammenschiebung zweier metrischer
verse auf eine einzige rhythmische zeile angenommen werden , wäh-
rend im entgegengesetzten falle vielleicht auch einzelne leere oder
vom sprachstoff unausgefüllte rhythmische zeilen anzunehmen sein
werden, unter allen umständen aber ist der versuch berechtigt, das
antike versmasz auch aus sich und aus seinen eignen natürlichen
bedingungen heraus zu begreifen , wozu hier ein bestimmter beitrag
gegeben werden sollte.
Leipzig. Conrad Hermann.
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Über gymnastische, niusikal. und declamator. schulfeierlichkeiten. 77
(4.)
ÜBER GYMNASTISCHE, MUSIKALISCHE
UND DECLAMATORISCHE SCHULFEIERLICHKEITEN.
(schlusz.)
Die höchsten an forder ungen von allen musikal isch-declamatori-
schen werken stellt die dramatische aufführung der tragödien der
griechischen meister. zwei tragödien besonders sind in dem letzten
decenninm von vielen gröszeren und mittleren gymnasien aufgeführt
worden: die Antigone des Sophokles , übersetzt von Donner und
componiert von Mendelssohn, und die Perser des Aeschylos, ver-
deutscht und ergänzt von Köchly, herausgegeben von K. Bartsch
(Heidelberg, C. Winter, Universitätsbuchhandlung), componiert von
E. B. (verlag von Bote u. Bock , Berlin).
Da diese compositionen einen männerchor voraussetzen , wel-
cher sich verschiedentlich noch in chor und gegenchor teilt , so ist
die aufführung schon aus diesen gründen nur in anstalten möglich,
deren obere classen einen starken sangerchor haben, auch die dra-
matische declamation stellt bei einem antiken drama höhere anfor-
derungen als bei einem modernen, haben doch selbst die grösten
deutschen bühnen bei der Wiederbelebung antiker tragödien, wie sie
etwa Adolf Wilbrand in Wien versuchte, grosze Schwierigkeiten,
schon die erinnerung daran, dasz bei dem antiken drama alle rollen
nur unter drei Schauspieler verteilt wurden, zeigt, wie wenig ein
dramatischer effeot in unserem sinne bezweckt war. spielte in der
Antigone derselbe Schauspieler die Antigone, den Teiresias und den
boten der katastrophe; ein zweiter die Ismene, den Wächter, den
Hämon, einen diener und vielleicht noch die Eurydike; der dritte
den Kreon, so konnte wenigstens mit ausnähme der rollen des
Kreon und teilweise der Antigone nur ein gemütvoller Vortrag , ein
sprechen mit verteilten rollen erzielt werden, höheres wird nun
aber bei den modernen aufführungen der antiken dramen verlangt
und auch versucht, jede rolle hat ihren dramatischen darsteller;
aber für eine gute dramatische darstellung wird der Schauspieler
nicht durch die mittel des modernen dramas unterstützt, weder die
scenerie noch ein schnelles ineinandergreifen des dialogs erleichtert
den dramatischen Vortrag, über den dialog hinaus aber erhebt sich
das antike drama überhaupt nicht; denn greift hier und da die dritte
person ins gespräch ein, so tritt die zweite vielleicht mit einer be-
merkung des chors zurück, die haupteflfecte liegen in den für dra-
matischen Vortrag so überaus schwierigen monologen, in den pathos-
scenen und botenscenen. selten nur wird ein schüler einem solchen
dramatischen monologe recht gewachsen sein , zumal das moderne
publicum für solch langes ausströmen der inneren empfindungen
nicht so dankbar ist als das Hellenenvolk, welches durch den natio-
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78
über gymnastische, musikalische
nalen inhalt ganz anders berührt wurde, dort saszen die krieger,
welche in den Perserkriegen selbst mit ge fochten hatten, als Zu-
schauer im theater, dort der fischer, welcher noch gestern die fluten
des saronischen meerbusens durchfahren hatte; hier aber bei uns
der schüler , welcher oft mühsam seine griechische geschiente und
mythologie gelernt hat, oder die eitern und freunde, welche ge-
wohnt sind auf der modernen bühne alles für auge und ohr leicht
faszlich dargestellt zu finden, auch der chorgesang, so groszartig er
in den compositionen Mendelssohns und der den griechischen chor-
gesang vielleicht noch treffender wiedergebenden composition der
Perser auf den zuhÖrer wirkt, erhöht die Schwierigkeiten einer dra-
matischen darstellung für den Schauspieler; denn eine würdige dra-
matische ausfüllung der pausen ist für den gereiften Schauspieler
eine schwere aufgäbe , wie viel mehr für einen schüler. dazu kom-
men die phonetischen Schwierigkeiten bei dem vortrage mancher für
die moderne anschauung ermüdender Wiederholungen des ausdrucks
innerer erregungen. eine wie schwierige aufgäbe ist es die klagen
des Kreon und besonders die vielfachen weherufe des königs Xerxes
in an- und absch wellungen wiederzugeben 1
Allein alle solche Schwierigkeiten dürfen im gymnasium mit
einer starken prima nicht von der aufführung einer griechischen
tragödie abschrecken ; sie enthalten vielmehr die mahnung für die
schüler und die leitenden lehrer alle kräfte dem würdigen zwecke
entsprechend auszubilden, einmal musz es mit der einübung der
dramatischen declamation ernster genommen werden als es gewöhn-
lich geschieht, es ist nicht genug, dasz der text genügend beh erseht
wird und dasz die betonung nach den grundsätzen des satzbaues
und der logik die richtige ist. das ist eine selbstverständliche for-
derung des geringsten Vortrages der Volksschule, der dramatische
Vortrag eines primaners oder secundaners aber soll, zumal bei einer
antiken tragödie, unter kundiger leitung des lehrers alle stimm-
mittel des vortragenden dem inhalte entsprechend zur geltung
bringen ; er soll ferner die den Vortrag veranschaulichenden gesten
und Stellungen des Schauspielers mit peinlicher genauigkeit ein-
üben, eine antike tragödie mit ihren einfachen handlungen läszt
gerade in diesem letzten punkte selten ein schwanken zwischen ver-
schiedenen auffassungen zu ; um so unangenehmer wirken deshalb
aber auch die fehler, welche bei mangelhafter einübung in diesem
punkte gemacht werden.
Noch eine frage kommt bei dramatischen auffuhrungen über-
haupt, bei den antiken tragödien aber ganz besonders in betracht:
wie weit soll den antiken formen in bezug auf scenerie und costüme
rechnung getragen werden? gerade hier sind die ansichten durch-
aus schwankend, so konnte ich in den letzten jähren drei auffüh-
rungen der Perser und der Antigone beiwohnen, welche in diesen
äuszerlichen punkten recht verschieden waren, das gymnasium zu
Stargard in Pommern führte im jähre 1882 die Perser ohne ge-
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und declamatorische schulf'eierlichkeiten.
79
Agende antike scenerie und ohne costüme des chors auf. nur die
Ecnauspieler hatten costüme ; die sänger des chors standen im fracke
in etwas gedrängter Stellung links und rechts vor der vorcoulisse
nahe an dem rande der bühne. im jähre 1883 konnte ich selbst
mitwirken bei einer aufführung der Perser durch das gymnasium
zu Colberg. der ort besitzt ein eignes Schauspielhaus mit geräumiger
bühne und den nötigsten requisiten, und deshalb war hier etwas
mehr für die antike scenerie gethan. da die mittel geschafft waren,
so hatten sowohl die Schauspieler als auch der chor costüme. aber
für Stellung und bewegung der Schauspieler und des chors war auch
hier nicht das nötige gethan. der chor stand rechts und links auf
der bühne selbst, so dasz der gesang, besonders aber der text etwas
hinter den coulissen verhallte und durch die im Zuschauerraum be-
findliche orchestermusik übertönt wurde; die Schauspieler aber waren
auf einer geringen erböhung zu sehr in den hintergrund gedrängt,
am vollendetsten war in diesen äuszeren punkten eine aufführung
der Anügone, welche ich im jähre 1887 von den schülern des gymna-
siums zu Culm a. W. sah. die aufführung wurde nicht durch die
gröszere bühne eines stadttheaters unterstützt , sondern die scenerie
war möglichst den antiken formen entsprechend in der geräumigen
turnballe hergestellt, im hintergrunde die drei thüren der antiken
scene, rechts und links in den Zuschauerraum vorspringend ein ge-
räumiges podium für den chor, dazwischen, also in der mitte der
sänger, die begleitende orchestermusik. Stellungen und bewegungen
des chors und der Schauspieler waren gut eingeübt und das rechte
Verständnis der handlung wurde wesentlich hierdurch unterstützt,
eine benutzung der turnhalle zu diesem oder ähnlichem zwecke scheint
mir wegen des passenden raumes (gröszere länge, geringere breite)
überhaupt empfehlenswert, dasz die turnhallen gewöhnlich nur einen
eingang haben, ist kein hindernis, denn der weg zur bühne kann
durch das fenster hergestellt werden.
Da zum schlusz von den declamatorischen und besonders von
dramatischen schüleraufführungen die rede sein soll , so ist es wohl
angebracht, hier einige worte über die bühnenfrage nach praktischen
erfahrungen zu sagen.
Könnte bei einer antiken tragödie allenfalls von einer bühne
ganz abgesehen werden, so ist dies bei modernen dramen weit
schwerer möglich, die benutzung einer öffentlichen bühne hat ein-
mal oft Schwierigkeiten, ist ferner meist mit nicht unerheblichen
kosten verbunden und schlieszlich besonders wegen der damit ver-
bundenen proben überhaupt nicht im sinne einer schule, deshalb
ist die frage wohl berechtigt, wie in der aula des gymnasiums oder
in der turnhalle ohne gröszere kosten und Schwierigkeiten eine bühne
hergestellt werden kann.
Ein erhöhter räum pflegt für den sängerchor und für decla-
mationen in jeder aula vor dem katheder angebracht zu sein, dieser
läszt sich leicht durch benutzung gewisser turngeräte zu einer bühne
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80
Über gymnastische, musikalische
umwandeln, die leiterböcke, welche als stützen der wagerechten
Leitern in der turnballe dienen, und die freisprungs tänder werden
als gerügte für die coulissen aufgestellt und durch darangebundene
gerstangen nach belieben verlängert, der schule gegenüber wird
der besitzer einer bühne oder in gröszeren orten die direction des
Schauspielhauses meist das entgegenkommen zeigen, auf einige stun-
den einige sei ten coulissen zu leihen, sollte sich die einrichtung be-
währen, so werden solche coulissen auch bei gelegenheit angeschafft
werden können, der vordere abschlusz nach oben und nach den
seiten ist leicht durch draperien herzustellen, zu denen die fenster-
vorhänge der durch die bühne verdeckten aulafenster benutzt wer-
den können, an den seiten können auch passende bettschirme oder
fenstervorhänge benutzt werden , welche wieder durch freispringel
einen festeren halt bekommen, die bühne wird alsdann von vorn
den anblick eines zeltes darbieten, ist ein Vorhang unbedingt nötig,
so kann derselbe von der decke herabgelassen werden und zugleich
den btihnenhimmel bilden.
Durch eine bühne, ist dieselbe auch noch so einfach, wird die
lußt und liebe zum dramatischen spiele entschieden gesteigert und
ein besseres gelingen besonders der dramatischen Handlungen und
Stellungen gesichert
Weniger notwendig sind bei aufführung eines dramas
costüme. dieselben sind für unsere classischen stücke in
beschaffenheit meist nicht ohne erhebliche kosten zu beschaffen, und
mancher jugendliche schüler, der vielleicht im vortrage und spiel
gutes leistet, passt auch noch recht mangelhaft in das costüm eines
beiden eines classischen dramas hinein.
So viel von der äuszeren technik des dramas. sie unterstützt
das gelingen einer aufführung, aber sie ist nicht die hauptsache;
denn der eigentliche wert einer dramatischen Schüleraufführung liegt
doch in der innerlichen Vertiefung in den inhalt und die spräche des
dramas, und diese wird bei unsern classischen dramen in erster linie
durch einen seelenvollen, würdigen Vortrag zum ausdruck ge-
bracht.
Dasz dieser Vortrag erreicht wird, das kann nicht durch die
Übungen zu dieser oder jener einzelnen aufführung von einem ein-
zelnen lehrer erzielt werden ; es soll vielmehr ein ziel des gesamten
gymnasialen Unterrichts, besonders aber des deutschen und hier
wieder des declamatorischen Unterrichts sein, von der Vorschule
an musz streng auf eine phonetisch klare , die modulationsfähigkeit
der Stimmwerkzeuge voll ausnutzende Vortragsart auch bei kleineren
gedichten gehalten werden, auch der dramatische Vortrag, der den
oberen classen vorbehalten ist, findet in den kleinsten epischen und
lyrischen gedichten schon seine Vorübungen, fast jedes epische ge-
dieht, besonders aber die lyrik und epik vereinenden baliaden, welche
in den mittleren classen gelernt werden, fordern bei fragen und ant-
worten hohe ausbildung im dramatischen vortrage, man denke z. b.
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und declamatoriache Bchulfeierlichkeiten
81
an Goethes Erlkönig, Schillers Bürgschaft, Unlands Blinden könig,
Arnds Leipziger Schlacht u. a. in den unteren classen sind von ganz
besonders vorbereitendem werte für ein tieferes nachdenken beim
vortrage und für eine höhere ausbildung der stimmmittel die refrain-
lieder , wie Goethes Heideröslein oder Bückerts Bestrafte u n genüg -
samkeit. eine gute natürliche beanlagung in den Stimmmitteln und
eine gewisse musikalische befähigung erleichtert den Vortrag hier
allerdings wesentlich, aber der lehrer, welcher durch jahrelange
Übung und benutzung aller mittel sich selbst in diesem punkte zu
fördern sucht und bestimmte, klare ziele einer phonetisch richtigen
declamation verfolgt, wird auch bei geringerer beanlagung der
schüler durch das eigne vorsprechen einen brauchbaren Vortrag er-
reichen.
Leider kann hier nicht verschwiegen werden, dasz diesem die
edelsten güter der erziehung verfolgenden streben von vielen lehrern
nicht der genügende wert beigelegt wird, das altertum und das
mittelalter hatte hierin vielleicht eine bessere erkenntnis als unser
jahrhundert. bei den Griechen, bei den Deutschen des Tacitus und
bei unsern ahnen zur zeit des minnesanges genügte nicht die lectüre
mit den äugen allein, auch nicht ein vorlesen der dichtungen in
unserem gewöhnlichen sinne; nein, der vortragende, meist der dichter
selbst , war ganz mit der seele dabei , und wes das herz voll war,
des gieng der mund über nicht in der gewöhnlichen spräche des
täglichen Umganges, sondern aus voller brüst im gesange, welchen
das Saiteninstrument begleitete, wie nahe aber ein edler Vortrag
und eine edle natürliche composition sich berühren, dafür ist ein
beweis die neuere classische richtung der dramatischen composition,
besonders K. Wagner, auch die modernen recitatoren greifen bei
manchen gedicbten zu einer art singendem vortrage, so z. b. Palleske
und seine schüler bei der wiedergäbe der geisterstimmen im Erl-
könige.
Nicht jeder lehrer wird neben seiner stimmlichen beanlagung
und seiner poetischen auffassungsgabe noch die fahigkeit haben die
declamationsübungen in dem verlangten sinne in den mittleren und
oberen classen zu leiten, aber viele, welche diese Fähigkeit besitzen,
haben dieselbe nicht ausgebildet aus irgend einer Voreingenommen-
heit, welche sie häufig genug von der Universität her mit ins prak-
tische leben bringen, ich selbst habe mehr als einmal von jungen
Germanisten, die eben die hochschule verlassen hatten, die ansieht
vortragen hören, so ein Schauspieler — es war von den grösten
bühnen die rede! — könne doch gar nicht so in das wesen der dich-
tung eindringen wie 'unsereiner' ! es sei alles gewisse angelernte
technik und effeeth ascherei ! bei solcher geringen auffassung von
dem letzten ziele dramatischer dichtung kann auch bei Schülern nicht
ein würdiger Vortrag erreicht werden.
Dem entspricht es auch , dasz es zwar eine grosze reihe com-
mentare für die inhaltliche erklärung der auf der schule gelesenen
I». jnhrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1891 hfl. 2. 6
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82
Über gymnastische, musikalische
dichtungen gibt, aber nur sehr wenige über den Vortrag, erst die
letzten jähre haben hier den anfang gemacht, und es sei hier auf-
merksam gemacht auf das buch von Humpendink über den Vortrag
epischer und lyrischer dichtungen mit zahlreichen commentierten
musterstücken für monologischen und dialogischen Vortrag wie auch
für chorische aufführungen (bei Du Mont-Schauberg , Köln, preis
3,20 mk.'j. auch das buch von Pasow: der Vortrag von gedienten
als bildungsmittel und seine bedeutung für den deutschen Unter-
richt (R. Gärtner, Berlin) wurde in der Zeitschrift ftlr gymnasial -
wesen (juli-august 1887) angezeigt, auch Palleske hat durch seine
'kunst des Vortrages' viel gutes gewirkt, aber für den lehrer, wel-
cher nicht schon seit jähren sich bemüht hat tüchtige recitatoren
und Schauspieler mit neidloser anerkennung ihres könnens zu hören
und seinen eignen Vortrag mit der für die schule nötigen mäszigung
daran zu bilden, ist dieses buch noch zu allgemein, eine lohnende
aufgäbe wäre es , im einzelnen gedichte aus dem kanon sowohl der
unteren als auch der oberen classen nach dem phonetisch richtigen
vortrage zu besprechen, hier kann bei einer so allgemeinen abhand-
lung selbstredend kein lehrbuch eines phonetisch richtigen und
schön modulierten Vertrages gegeben werden ; es würde dies über-
haupt eine viel schwierigere aufgäbe sein als bestimmte dichtungen
nach den allgemeiner anerkannten Vortragsgesetzen zu besprechen;
immerhin mag aber doch auf einige häufiger vorkommende
mängel hingewiesen werden.
So fällt es oft unangenehm auf, dasz das löbliche streben nach
deutlicher ausspräche in Volksschulen und in der Vorschule und den
unteren classen des gymnasiums zu der pedanterie ausartet, dasz
auch die flexionssilben mit gleichem , ja infolge eines widernatür-
lichen zwanges, welchen sich der schüler anthun musz, noch mit
stärkerem ton gesprochen werden als die Stammsilben, vielleicht
soll durch solche Übungen die grammatik gewinnen, sicherlich ist
aber der schaden, den das gefühl für die Schönheit der spräche hierbei
hat, ein gröszerer als der nutzen, umgekehrt dürfen allerdings auch
die Stammsilben nicht verstümmelt oder verschluckt werden, beson-
ders nicht in den fallen, wo stamm und endung verschmelzen, so
dasz man etwa fvates' statt 'vaters' spricht
Andere punkte, welche auch schon auf der Unterstufe nicht
häufig genug betont werden können, damit von klein auf eintönig-
keit in der spräche vermieden und die modulationsfähigkeit
der sprachorgane geübt wird , sind das zurücktreten der reimworte
und das anschwellen der stimme bei der aufeinanderfolge gleich-
artiger begriffe, es mag vielen überflüssig erscheinen, dasz auf eine
so selbstverständliche vortragsregel wie die forderung des zurück-
tretens der reimworte noch hingewiesen wird, und doch wird selbst
von guten recitatoren , welche viel gröszere Schwierigkeiten über-
winden, oft diese kleine regel nicht genug beachtet, ich möchte auf
ein ganz einfaches lyrisches gedieht, welches in das pensum der
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und declamatorische schulfeierlicbkeiten. 83
sexta und quinta gehört, als beispiel hinweisen, indem ich die pausen
der ersten Strophe durch senkrechte striche markiere: M. Claudius,
abendlied :
Der mond | ist aufgegangen, |
die goldnen sternlein | prangen =■
am bimmel | bell und klar. |
der wald steht schwarz | und schweiget, |
und aus den wiesen | steiget =
der weisze nebel | wunderbar!
gewis sind hier die pausen einfach und bestreitbar, und doch achte
man darauf, wie oft dagegen gesündigt wird.
Ein leichtes beispiel für anschwellen oder Steigerung in der
höhe und kraft des stimmtones bietet das Kernerscbe gedieht 'der
reichste fürst', wenn es zum schlusz heiszt: 'und es rief der herr
von Sachsen, der von Baiern, der vom Rhein: graf im bart' . . .
(die letzten drei worte wieder tiefer und mit voller wucht !).
Auch in ganzen Strophen kann der ton der stimme anschwellen
und abschwellen, so verlangt Körners 'Harras' eine solche Steige-
rung im vortrage bis zum anfange der zweiten strophe, weil bis da-
hin das herandämmern des morgens und das herannahen der reiter-
schar geschildert wird, einige vereinzelte worte müssen noch beson-
ders mit heller, accentuierter stimme gesprochen werden, so wie
auch schon aus der ferne beim herannahen einer schar bewaffneter
reiter ein scharfer hufschlag oder waffengerassel zum ohre dringt,
ehe vielleicht der zug um die waldecka sprengt und dem auge sicht-
bar wird. z. b. strophe 1 'klingt', 'waffengeklirr', 'hufschlag', die
höchste kraft im stimmtone erreicht der Vortrag dann bei den worten :
'vorbei mit wildem ruf, worauf die stimme allmählich abschwillt
bis zum schlusz der zweiten strophe.
Dann musz auf das sinken der stimme zum schlusz des satzes
und besonders des ganzen gedichtes noch mehr aufmerksam gemacht
werden, ein passendes beispiel ist der schlusz des Geibelschen
Wanderliedes: 'wie bist du doch so schön, o du weite, weite
weit.' auch bei gegensätzen kann zuweilen die modulationsfUhig-
keit der stimme geübt werden, so müssen z. b. in demselben Geibel-
schen liede strophe 3 die worte: 'wohl Uber die berge' leicht und
mit einem in der höhe sich steigernden stimmtone gesprochen wer-
den, während die darauffolgenden worte: 'wohl durch das tiefe thal'
in dumpferem abschwellenden tone zu sprechen sind, ganz beson-
ders sind derartige Verschiedenheiten in der höhe und tiefe (kopf-
stimme, bruststimme 1) in gemäszigter weise bei einem plötzlichen
Wechsel der sprechenden personen innerhalb eines gedichtes zu üben,
ein gutes beispiel bietet Chamissos Riesenspielzeug str. 6 und 7 :
'ei, vater, lieber vater, ein spielding wunderschön!
eo allerliebstes sah ich noch nie auf unsern höhn.»
diese verse sind mit hellem, leichten tone der köpf stimme zu spre-
chen, und gleich darauf sind mit wuchtiger, tieferer bruststimme
6*
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84
Über gymnastische, musikalische
die worte zu sprechen, welche so schon durch die häufung des vollen
a-lautes wirken:
'der alte sasz am tische und trank den kühlen wein.»
Wie der reim, so ist auch der rhythmus nicht zu stark her-
vorzukehren, wenn der Vortrag nicht monoton, leierig wirken soll,
und doch kann schon in den unteren classen darauf aufmerksam ge-
macht werden, wie anderseits an vereinzelten stellen ein rhythmi-
sches sprechen gerade ein wirkungsvolles kunstmittel des Vortrags
ist. um bei denselben gedichten zu bleiben, so kann wieder aus
dem Geibelschen liede ein beispiel genannt werden, bei den Worten :
rim winde die linde, die rauscht mich ein gemach' wird ein hervor-
kehren des rhythmus die wiegende, einschläfernde Stimmung her-
vorbringen, zahlreiche beispiele würden sich gerade hierfür aus den
gedichten Goethes und Unlands anführen lassen ; haben doch schon
die alten in ihrer metrik z. b. in der hervorkehrung des spondeus,
bzw. anderseits des dactylus dieses princip anerkannt, zuweilen
kann ein rhythmischer Vortrag auch das zusammensprechen mehrerer
personen des gedieh tes, eine art chorsprechen, von den übrigen
teilen des gedientes abhebend, wiedergeben, so in Unlands Blindem
könig, str. 7 und 8.
rder räuber ist gefallen, er hat den blut'gen lohn,
heil dir, da held vor allen, du starker königssohn!'
zur Übung könnten derartige stellen gelegentlich überhaupt im chore
gesprochen werden; es wird hierdurch das Verständnis der form und
des inhalts des gedientes oft wesentlich gehoben, und die schüler
zeigen stets ein besonderes interesse für eine derartige 'dramati-
sierung' eines epischen gedientes, überhaupt sollte das chorsprechen
schon von früh auf geübt werden, da gerade auf der Unterstufe hier-
durch oft die probe gemacht werden kann, ob gewisse einfache regein
des Vortrages allgemein verstanden worden sind. Palleske spricht
in seiner kunst des Vortrages eingehend von der Wirkung eines guten
chorischen Vortrages und gibt die nötigsten anleitungen zu dem-
selben.
Auch die klangvollere ausspräche der volleren vocale a, o und
u gegenüber den schärfer klingenden vocalen e und i kann leicht
schon früh geübt werden, worte wie sang, klang, gold, dorn
u. a. bieten hierfür ein beispiel.
'von dem hohen dorn zu Speier hört man dumpf die plocken schallen.'
dieser vers ist ein beispiel für vollen vocalismus und rhythmisches
sprechen.
Ebenso kann auf gewisse consonantische effecte bei vielen
gedichten aufmerksam gemacht werden. Körners Harras, Chamissos
Riesenspielzeug und besonders Bürgers gediente bieten hierfür leichte
beispiele: 'die Schwerter entfliegen der scheide', 'die Schwerter
klirren', 'es schäumt in den zügel\ fer spornt's, dasz die fersen
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and declamatorische schulfeierlichkeiten.
85
bluten', res kriecht das kleine wesen', 'es glitzert in der sonne der
pflog so blank und klar' u. a.
Nach solchen allgemeinen erwägungen , welche sich meist auf
die einübung eines schön modulierten Vortrages beziehen , sei noch
kurz auf einige landläufige mängel des phonetisch richtigen Spre-
chens hingewiesen, am meisten wird bekanntlich gegen eine rich-
tige ausspräche des g und r gesündigt, abgesehen davon , dasz von
lehrern und schillern besonders in den nordöstlichen deutschen Pro-
vinzen das g am anfange besonders vor dem vocale e wie j gespro-
chen wird ('jejeben'), sind durchaus unklare ansichten über die
ausspräche des g im auslaute vorhanden, man hört hier oft den
umgekehrten fehler bei Sängern und declamatoren , nemlich ein zu
scharf gesprochenes g nach kurzen vocalen im auslaute, z. b. der
tak (di-es). wohl hat man nach langem vocale tage, selige, weg (via)
hart , der griechischen media entsprechend (aber nie explosiv, d. h.
'wekMj zu sagen, aber im kurz gesprochenen auslaute (gegen Notkers
gesetz!) mehr aspiriert, als eine art reibungslaut, etwa: täch, seilen,
wech (= fort), ebenso wird nach dem nasalen n das g fast durch-
gehend falsch wie der explosivlaut k gesprochen, d. h. gesank,
klank, drank, enk, während es auch im auslaute durativ ebenso
wie in fiexionssilben, d.h. wie im da Li v gesang(e), klang(e), drang(e),
eng(e) nach den regeln des Wohlklanges gesprochen werden musz.
Was den reibungslaut r anbetrifft, so gibt es drei möglichkeiten
denselben hervorzubringen, nemlich das zungen-r, das gaumen-r und
das kehlkopf-r, welches letztere etwa der Mecklenburger in dem
wort Ko(a)rl (Karl) spricht, das rhetorisch wohlklingendste und
den sprachorganismus am meisten schonende zungen-r wird meist
nur durch frühzeitige Übung flieszend erlernt; aber nach gewissen
lauten, bei denen die Stellung der mundhöhle und der sprechorgane
schon eine ähnliche ist wie beim zungen-r, z. b. nach den dentalen,
kann auch meist noch in späterem alter das zungen-r erlernt werden. *
Als ein passendes Übungsbeispiel für sanger und declamatoren
zu den eben besprochenen phonetischen regeln über das g, ng und
das zungen-r in Verbindung mit dentalen sei der an fang des be-
kannten Heineschen liedes angeführt:
'Auf flügeln des gesanges,
herz Iii.- bchen , trag ich dich fort,
fort nach den Auren des Ganges,
dort weis» ich den schönsten ort;
da liegt ein rotblühender gurten
im stillen mondenschein ,
die lotosblumen erwarten
ihr trautes achwesterlein.»
Diese wenigen, aus der praxis herausgegriffenen winke über
einen phonetisch richtigen, klangvollen Vortrag müssen hier ge-
* siehe hierüber, was Palleske im anfange seiner knnst des Vor-
trages über die erlernnng des zungen-r mit hilfe des dentalen d sagt.
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86 Über gymnastische, musikal. and declamator. schulfeierlichkeiten.
nügen. wer eingehendere Studien hierüber machen will, möge die
lautpby biologischen lehrbücher durcharbeiten, wie Brücke: grund-
züge der physiologie und Systematik der sprachlaute (Wien, bei Karl
Gerolds söhn), ferner Sievers: grundzüge der phonetik zur ein -
fuhrung in das Studium der laut.lehre der indogermanischen sprachen
(Leipzig , bei Breitkopf und Härtel), ferner auch Palleske: die
kunst des Vortrages u. a. in kurzer, faszlicher form gibt die grund-
züge der phonetik in einer programmabhandlung des realgymna-
siums zu Stralsund ostern 1888 Oberlehrer Badke: die anfangs-
gründe im französischen auf phonetischer grundlage.
Zum scblusz sei auch hier auf einige für Schüleraufführungen
geeignete gröszere dramatische und epische dichtungen hingewiesen.
Von den dramen der alten ist bereits vorher eingehend gespro-
chen worden; von den dramatischen meisterwerken unserer classi-
schen dichter lassen sich die meisten wenigstens in bearbeitung oder
in auszügen, d. h. besonders nach Streichung oder kürzung der
frauenrollen und liebesscenen verwenden, von Schillers dramen
eignen sich am meisten für Schüleraufführungen scenen aus der
Wallenstein-trilogie, besonders ohne Streichung Wallensteins lager;
ferner die volkstümlichen scenen aus Teil, z. b. die apfelschuszscene
und die Rütliscene. von Goethes dramen sind geeignet die volks-
scenen aus Egmont, welche auch an sich einen gewissen Zusammen-
hang bieten, dann, wenn auch mit manchen Schwierigkeiten ver-
knüpft, einige scenen aus dem ersten teile des Faust, auch von
Shakespeares dramen sind einige scenen zu empfehlen, so aus den
königsdramen z. b. aus Heinrich IV und ganz besonders aus dem
Sommernachtstraum die handwerkerkomödie 'Pyramus und Thisbe'.
letztere kann auch in der dramatischen bearbeitung von Gryphius :
Peter Squenz aufgeführt werden, unter den modernen meistern sei
hingewiesen auf Gutzkow: Zopf und schwort, zusammengezogen und
in den damenrollen stark gekürzt Paul Heise: Oolberg. die volks-
scenen. eigens für schülerauffUhrungen geschrieben sind jüngst von
dr. Hans Meyer, lehrer am Berliner gymnasium zum grauen kloster,
drei patriotische Schauspiele: Roszbach (am meisten zu empfehlen !),
die Lützower, Weihnachten vor Paris, ferner sei genannt Rackwitz:
Vor Paris. Rackwitz: im neuen reiche, für sextaner und quintaner
ist sehr geeignet : Schneewittchen , eine märchenscene von Theodor
Storm.
Von epischen patriotischen dichtungen eignen sich zum vor-
trage von mehreren schülern einige gesönge aus Wildenbruchs epos :
Sedan. auch der Verfasser dieser abhandlung hat einen liedercyclus
für die Sedanfeier der schule unter dem titel «von Ems nach Sedan'
veröffentlicht, ferner sei hingewiesen auf Dahns Harald und Theano
und Baumbachs Horand und Hilde.
Für die auswahl kleinerer Vorträge bieten die verschiedenen
lesebücher und die Sammlungen patriotischer gediente (Scherer:
Germania , Meyer : poetisches vaterlandsbuch , Ruthardt und Föhr :
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C/Varrentrapp : J. Schulze u.d. höh. preusz. unterrichtawes. seinerzeit. 87
patriotisches gedenkbuch (Stuttgart, bei Levy und Müller) genügen-
den stoff.
Es ist hiermit wenig erschöpfendes in der aufzählung des ge-
eigneten declamationsstoffes geboten ; denn eine weitere aufzählung
auf grund von erfahrungen anderer collegen oder vergleichung von
Programmen würde an dieser stelle zu weit führen, der zweck dieser
seilen aber ist erfüllt, wenn dies wenige, zumal die allgemeinen aus-
fübrungen für einen zu beachtenden teil der Jugenderziehung auch
nur in engem kreise fordernd oder anregend wirken.
BERENT IN WESTPREU8ZEN. Stoewer.
8.
Johannes Schulze und das höhere preuszische Unterrichts-
WESEN IN 8EINER ZEIT VON DR. C. VaRRENTRAPP. Leipzig,
druck und verlag von B. G. Teubner. 1889.
Über die geschichtliche entwicklung des preuszischen unter-
richtswesen8 sind wir verhältnismäszig sehr gut unterrichtet, in
den sächsischen landen hatten sich namentlich die humanistischen
anstalten schon früher als in Preuszen einer besondern pflege zu er-
freuen, das stand offenbar damit im zusammenbange, dasz von dem
kurfürstentume Sachsen die reformatorische bewegung ausgegangen
und alle bestrebungen unt erstützt worden waren, welche die hebung der
niederen und höheren schulen, die bildung der menschen überhaupt
zum zwecke hatten, in Leipzig und in Wittenberg, wo vor allen an-
dern Philipp Melanchthon , der praeceptor Germaniae , eine tief ein-
greifende pädagogische Wirksamkeit entfaltete, waren die classischen
Studien eifrig betrieben, besonders in ihrer bedeutung für die evan-
gelische kirche gewürdigt worden, in Leipzig hatten später iniinner
wie Christ, Morus Beck, Joh. Aug. Ernesti, zuletzt Gottfr. Hermann,
Ad. Becker, B. Klotz, M. Haupt, 0. Jahn, Fr. Bitsehl, Georg Curtius
u. a. zu der blüte der philologischen Studien wesentlich beigetragen,
so war es natürlich, dasz die sächsischen gymnasien, in erster linie
die drei fürstenschulen Meiszen, Grimma, Pforta sich eines
besonders guten rufes erfreuten, auch in Preuszen war durch die
umsichtige pflege, welche Friedrich der grosze der Volksbildung zu
teil werden liesz, für die Verbesserung der schul Verhältnisse vieles
geschehen, was überall anerkonnung fand, vor allem hatte der
minister des groszen königs freiherr von Zedlitz mit bewunderns-
würdiger energie die hebung des Unterrichts auf schulen und Uni-
versitäten sich eifrig angelegen sein lassen, diesen verdienstvollen
Staatsmann darf man mit recht als einen würdigen Vorläufer von
Wilh. v. Humboldt, Süvern, v. Altenstein und Schulz betrachten.
Zedlitz war es, welcher die von Joh. Matthias Gesner, von Joh. Aug.
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88 C. Varrentrapp : J. Schulre u. d. höh. preusz. uuterricbtaweB. seiner zeit.
Ernesti und von den schillern dieser männer für die erklärung clas-
sischer Schriftsteller aufgestellten grundsätze ergriff und für die
durchfuhrung derselben sich eifrig bemühte. Zedlitz war es, wel-
cher den damaligen rector des gymnasiums von Osterode Fr. A.
Wolf als professor der philologie an die Universität Halle zog und
dadurch einen nachhaltigen Umschwung in der art der betreibung
classischer Studien herbeiführte, die von diesem genialen manne ange-
regten jünglinge Aug. Böckh, J. Bekker, Heindorf, Passow, Cioettling
u. a. trugen die bessere metbode der bebandlung der classiker in
immer weitere kreise und wurden die veranlassung, dasz die Staats-
regierungen in einer den neuen errungenschaften entsprechenden
weise anordnungen trafen, so erwarb sich der Staats- und justiz-
minister freiherr C. Abr. v. Zedlitz, welcher am 18 jan. 1771 an die
spitze des geistlichen departements in lutherischen kirchen- und
schulsachen trat, unvergänglichen rahm, auf seine anregung hin er-
richtete könig Friedrich Wilhelm II durch cabinetsordre vom 24 jan.
1787 das ober8chulcollegium zum zweck einer 'allgemeinen Ober-
aufsicht, welche über das ganze des gesamten Schulwesens Unserer
länder sich erstrecken und dabei nach einerlei geprüften grund-
sätzen verfahren soll*, das oberschulcollegium soll sich nach der
Instruction vom 22 febr. 1787 angelegen sein lassen, 'das gesamte
Schulwesen in Unserem lande aufs zweckmäszigste einzurichten und
nach den umständen derzeit und der beschaf fenheit
der schulen immer zu verbessern, es musz darauf acht
haben, dasz nach Verschiedenheit der schulen in jeder der nützliche
und notwendige Unterricht erteilt werde; es musz mit nachdruck
darauf halten, dasz überall zweckmäszige Schulbücher gebraucht und
eingeführt, und wo solche mangeln, durch tüchtige männer herge-
stellt werden', das aufsichtsrecht des oberschulcol legi ums wurde
freilich thatsächlich nicht auf sämtliche höhere schulen der mon-
archie ausgedehnt, der chef der neuen behörde wurde der minister
v. Zedlitz, präsident der geh. oberfinanzrat Wöllner, mitglieder: der
kanzler der Universität Halle v. Hoffmann, consistorialrat prof. Stein-
bart zu Frankfurt a. 0. und die gy mnasialdirectoren J. H. Meierotto
und Gedike in Berlin, welche letztere auch mit revisionsreisen in
die provinz beauftragt wurden, dieser Instruction folgte am 23 dec.
1788 die circularverfügung, durch welche die abiturientenprüfung
eingeführt wurde, am 3 juli 1788 ernannte der könig den geh. rat
Wöllner zum staatsminister und zum chef des geistlichen departe-
ments. als solcher wurde er auch chef des oberschulcollegiums und
blieb es bis zum 27 dec. 1797. durch das vielbesprochene religions-
edict vom 25 juli 1788 wurde natürlich auch die schule, die höhere
und niedere, in mitleidenschaft gezogen und das, was durch die um-
sichtige Verwaltung und fürsorge auf dem gebiete des Unterrichts
geordnet war, wieder mehr oder weniger in frage gestellt, man darf
wohl sagen , dasz, wenn auch die absichten des edicts ganz gute ge-
wesen sein mögen, die folgen desselben durchaus als ungünstige zu
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CVarrentrapp: J. Schulze u. d. höh. preusz. unterrichtswes. seiner zeit. 89
bezeichnen sind, man kann eben Frömmigkeit nicht befehlen.* der
\tön\g Friedrich Wilhelm III ernannte an der stelle Wöllners den
justizmmister v. Massow zum chef des unterrichtswesens, präsident
des oberschulcollegiums war 1797 — 1800 C. Fr. v. Irwing und nach
ihm Ad. Fr. v. Scheve. durch die im jähre 1808 erfolgte neu-
gestaltung der Staatsbehörden wurde das oberschulcollegium auf-
gehoben und die Unterrichts Verwaltung dem ministerium des innern
zugeteilt, welches die gesamte innere landesverwaltung, mitausnahme
der jubtiz-, finanz- und militärangelegenheiten umfassen sollte und
in sechs sectionen geteilt wurde , deren dritte section die für den
cnltus und für den öffentlichen Unterricht bildete, zum minister des
innern ernannte der könig durch die cabinetsordre vom 13 dec. 1808
den kammerpräsidenten grafen zu Dohna, die dritte section wurde
unter die unmittelbare leitung des geh. Staatsrats Wilh. v. Humboldt
gestellt, der vom 17 dec. 1808 bis zum 23 juli 1810 die unterrichts-
angelegenheiten leitete und eine neue epoche für die bildungs Verhält-
nisse Preuszens heraufführte, als technische räte traten in die section
zwei ausgezeichnet« für kunst und Wissenschaft und deren pflege
ebenso wie der chef derselben begeisterte männer ein: G. H. Nico-
lovius und J. W. Süvern. in unvergleichlicher weise haben sich
diese drei geistvollen beamten um das vaterländische bildungswesen
hoch verdient gemacht und eine blüte der Universitäten und gymna-
sien herbeigeführt , wie sie bis zu dieser zeit noch nicht dagewesen
war. die aufrichtung der Berliner hochschule, in einer zeit, wo die
vaterländischen interessen durch die französische fremd herschaft
einen so schweren schlag erlitten hatten , legt glänzendes zeugnis
ab von dem werte, den der könig Friedrich Wilhelm III und seine
berater auf die hebung des geistigen lebens des deutschen volkes
legten, nach dem ausscheiden des grafen Dohna aus seinem amte,
den 17 nov. 1810, übernahm der staatskanzler fürst v. Hardenberg
die leitung des ministeriums des innern , an die spitze der dritten
section trat geh. Staatsrat v. Schuckmann und für die unterrichts-
angelegenheiten wurde Staatsrat Nicolovius zum director ernannt
(cabinetsordre vom 20 nov. 1810). als der staatskanzler fürst
v. Hardenberg von der leitung des ministeriums des innern zurück-
trat, wurde geh. Staatsrat v. Schuckmann (cabinetsordre vom 3 juni
1814) minister des innern; cultus und Unterricht blieben in seinem
ressort, bis endlich durch die wichtige cabinetsordre vom 3 nov.
1817 ein selbständiges ministerium für geistliche und unterrichts-
angelegenheiten ins leben gerufen wurde. ' die würde und Wichtigkeit
der geistlichen, der erziehungs- und schulsachen macht es rätlich,
diese einem eignen ministerium anzuvertrauen.' bei der ausdehnung,
welche der preuszische Staat gewonnen und bei den gewaltigen auf-
gaben, welche das Unterrichtsministerium zu lösen hat, wird es sich
• beil. zur Vossischen ztg. juli 1888, D. Paul. Cassel Friedrich
Wilhelm II, Gotha 1886, a. 143 ff.
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90 C. Varrentrapp : J. Schulze u. d. höh. preuaz. unterrichtswes. seiner zeit.
bald als eine notwendigkeit herausstellen, dasz eine abermalige
teilung der arbeit eintreten musz. die Unterrichtsangelegenheiten,
die sorge für kirchliche dinge und die pflege der medicinalangelegen-
heiten gewinnen einen immer gröszern umfang, verlangen eine immer
eingehendere berücksichtigung, so dasz in gar nicht ferner zeit die
eben ausgesprochene notwendigkeit eintreten wird, zu wünschen
ist ja, dasz die sorge für diese wichtigen zweige der Staatsverwal-
tung männern von fach übertragen wird, der erste minister der
geistlichen usw. angelegenheiten wurde der freiherr von Alten -
stein, der sich in den verschiedenen staatsämtern, in denen er
thätig gewesen, als einen höchst tüchtigen beamten bewährt und
namentlich in Verbindung mit Wilh. v. Humboldt im jähre 1815
das reclamationsgescbäft gegen Frankreich, das wegen erfolglosig-
keit im jähre 1814 fast aufgegeben war, mit gutem erfolge betrieben
hatte, in seiner von 1817 bis 1840 dauernden Verwaltung des
ministeriums der geistlichen usw. angelegenheiten hat er sich, unter-
stützt von einsichtigen räten, die grösten Verdienste um gymnasien
und Universitäten erworben, hat wesentlich dazu beigetragen, dasz
unter seiner amtsführung das preuszische unterrichtswesen für an-
dere Staaten vorbildlich und maszgebend wurde, als ein bleibender
rühm musz ihm die wesentliche förderung der gründung der rheini-
schen hochschule Bonn angerechnet werden, unter dem minister
v. Altenstein fahrte vom 21 mai 1824 bis zum 9 febr. 1832 der be-
kannte director des polizeiministeriums v. Kamptz den vorsitz bei
den beratungen über Unterrichtsangelegenheiten, nachdem der
minister v. Altenstein gestorben war, übernahm dr. Eichhorn bis
zum 18 märz 1848 das ministerium der geistlichen usw. angelegen-
heiten, ihm folgten vom 28 märz bis 26 juni 1848 der graf Schwerin,
vom 25 juni bis zum 3 juli 1848 Rodbertus, dann vom 8 nov. bis
zum 19 dec. 1850 v. Ladenberg, nach ihm trat Carl Otto v. Baumer
bis zum 8 nov. 1858 an die spitze der geistlichen usw. angelegen-
heiten, welchen bis zum 10 märz 1862 dr. v. Bethmann-Hollweg
ablöste, durch den einflusz des zum Präsidenten des staatsministe-
riums ernannten prinzen Adolf von Hohenlohe -Ingelfingen wurde
H. v. Mühler, den gleich nach seinen ersten arbeiten in dem ministe-
rium des cultus im nov. 1840 der minister Eichhorn für geeigneter
und fähiger hielt als alle seine andern räte, minister der geistlichen
usw. angelegenheiten, am 18 märz 1862. unter schwierigen Ver-
hältnissen verwaltete er bis zum 17 jan. 1872 sein verantwortungs-
volles amt. nach ihm wurde dr. Falk an die spitze des geistlichen
ministeriums gestellt, nach welchem hr. v. Gossler cultusminister
wurde, wir besitzen über die grundsätze, nach welchen die ver-
schiedenen minister ihr amt verwalteten, vortreffliche Schriften, in
welchem sinne W. v. Humboldt in verein mit Süvern und Nicolovius
die Unterrichtsangelegenheiten verwaltete, ist uns durch eingehende
darstellungen des lebensganges dieses ausgezeichneten Staatsmannes
und groszen gelehrten, den wir als Schöpfer der neuern sprach-
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C.Yanentrapp: J.Schulze u.d. höh. preuez.unterrichtswes. seiner zeit. 91
Wissenschaft betrachten müssen, genau bekannt, er, der freund
Goethes, Schillers, Herders, Fr. A. Wolfs, des groszen philologen,
legte den grösten wert auf die betreibung der alten litteratur auf
den gymnasien und war bemüht, die interessen der hochschulen des
preuszischen Staates nach allen Seiten hin zu fördern und die Wissen-
schaft im weitesten umfange zu pflegen, in der erinnerung an
W. v. Humboldt von 6. Schlesier (Stuttgart 1854), der ausgezeich-
neten biographie W. v. Humboldts von R. Haym (Berlin 1856) und
dem gründlichen werke über Fr. Aug. Wolf in seinem Verhältnis
zum Schulwesen und zur pädagogik von dr. Arnold (Braunschweig
1861 und 1862) findet man über die Wirksamkeit dieses trefflichen
mannes den besten aufschlusz. die Wirksamkeit des ministers v. Alten-
stein wird uns in dem schönen werke von prof. Varrentrapp Uber
Joh. Schulze in anziehender weise geschildert, die art, wie der nach-
folger des freiherrn v. Altenstein, dr. Eichhorn, seines amtes waltete,
ist von Eilers in seiner schritt : zur beurteilung des ministeri ums
Eichhorn (Berlin 1849) und in seinen Wanderungen (Leipzig 1850)
dargestellt worden, über den staatsminister C. 0. v. Raumer ist
Berlin 1860 von dem geh. rat Bindewald eine sehr orientierende
schrift erschienen. Uber die amtsführung des hrn. v. Mühler und
des hrn. dr. Falk findet man in den trefflichen lebenserinnerungen
des geh. rats D. Wiese wertvolle aufschlüsse. man ist unter solchen
Verhältnissen in der läge, über die geschiente des preuszischen unter-
zieh tswesens sich aufklarungen aller art zu verschaffen, vor allen
dingen ist von der grösten Wichtigkeit die bereits in zweiter auf-
läge erschienene schrift: 'der Staats min ister freiherr v. Zedlitz und
Preuszens höheres Schulwesen* von dr. Conr. Rethwisch, dieser aus-
gezeichneten schrift reiht sich das von prof. dr. Varrentrapp neuer-
dings veröffentlichte werk über Johannes Schulze und das höhere
preuszische unterrichtswesen in seiner zeit würdig an. Varrentrapp
hat es verstanden , aus dem ihm in reicher fülle vorliegenden mate-
rial uns ein bild von dem lebensgange des bedeutenden mannes, der
vom 1 aug. 1818 bis zum 30 dec. 1858 einen maszgebenden ein-
fiusz auf schul- und Universitätsangelegenheiten ausgeübt hat, zu-
sammenzustellen und uns über die manigfaltigen bestrebungen der
verschiedenen minister für die ausgestaltung des preuszischen unter-
richtswesens , das ja immer auch auf die andern deutschen Staaten
von einflusz gewesen ist, einen allen gebildeten sehr erwünschten
überblick zu geben, von Seiten der regierung sind dem geschichts-
forseber die arebive zur benutzung überlassen und seinem unter-
nehmen überhaupt jede förderung zu teil geworden, so ist es ge-
schehen , dasz wir ein auf actenmäsziger forschung beruhendes bild
einer auf dem gebiete des Unterrichts so wichtigen, für die ent Wick-
lung unserer vaterländischen Verhältnisse so bedeutungsvollen zeit
dem Verfasser des vorliegenden buches zu danken haben, die schrift
ist gerade in unsern tagen um so wichtiger, als sie uns von der be-
deutung der pflege der classischen Studien, auf grund deren sich
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92 C. Varrentrapp : J. Schübe u. d. höh. preusz. unterrichtuwes. seiner zeit,
unsere deutsche Wissenschaft so herlich entwickelt hat, ein beredtes
zeugnis ablegt und den beweis liefert , wie diese beschäftigung mit
den alten Schriftstellern für die gründliche geistesbildung der jugend
fruchtbar gemacht werden kann, war doch Joh. 8chulze so von dem
werte der classischen bildung durchdrangen , dasz er fort und fort
mit dem alter tum in beziehung blieb, die alten immer wieder las,
sich an ihnen auferbaute und in seiner wichtigen Stellung dafür
sorgte, dasz auf schulen und Universitäten der deutschen jugend die
besten grundlagen dargereicht wurden, auf denen sie eine weitere
gründliche wissenschaftliche bildung auf der Universität sich an-
eignen konnte, er selbst hatte es immer mit seiner wissenschaft-
lichen durchbildung auf der schule und Universität sehr ernst ge-
nommen, hatte für die schwierigen ämter, in die er berufen wurde,
sich gewissenhaft vorbereitet, um ganz und voll den an f orderungen,
welche an seine thätigkeit gemacht wurden , zu genügen, das vor-
liegende werk öffnet uns einen blick in die umfangreiche Wirksam-
keit dieses hoch beanlagten mannes, der von einem enthusiasmus für
alles hohe und schöne beseelt war, der in unserer zeit immer seltener
wird , der den leser äuszerst angenehm berührt. Sch. hat den geist,
wie er zu sagen pflegte, nicht gedämpft, hat der forschenden und
fortschreitenden Wissenschaft kein halt zugerufen; er hielt fest an
dem geiste, den das Christentum in die weit gebracht und die
menschheit in neue bahnen gelenkt hat; überall hatte er nur die
sache im auge, auf dank verzichtete er. 'tbust du was gutes, so
wirfs ins meer; sieht es kein fisch, so sieht es doch gott der herr\
dieser orientalische sprach entsprach der Weltanschauung des treff-
lichen mannes. bei der lebhaftigkeit seiner natur wurde er ab und
zu zu äuszerungen fortgerissen , die ihm bald , da er von natur gut-
mütig war , sehr leid thaten ; er suchte dann wieder gut zu machen,
was er verfehlt hatte; er konnte aufbrausen, wenn nach seiner auf-
fassung etwas mislungen war. so erzählte mir ein verwandter, der
in Weimar sein Schüler gewesen, einer von seinen classengenossen
hätte in einer Schulze durchaus nicht entsprechenden weise ein
Schillersches gedieht vorgetragen, Sch. habe sich während der recita-
tion auf dem katheder hin und her gewunden , das schnupftuch bei-
nahe zerrissen; nach beendigung der declamation habe er ausge-
rufen : 'mensch, Sie sind nicht menschlich gezeugt', und dem schüler
das buch vor die füsze geworfen, einmal revidierte er das stifts-
gymnasium in Zeitz, der lehrer las mit den schülern Vergils Aeneis,
die lection mochte dem revisor nicht eben zusagen, er bat sich das
buch von dem lehrer aus , um ihm zu zeigen, wie man einen dichter
erklären müsse, und bemerkt, dasz der lehrer in seinem exemplare
sich bemerkungen für die interpretation eingetragen hatte, da fährt
er auf und spricht: 'was, Sie beschreiben Ihr eignes exemplar und
verlangen doch von den schülern , dasz sie unbeschriebene texte zur
stelle bringen?' natürlich war der betreffende lehrer durch diese
behandlung in gegenwart der schüler tief verletzt, übrigens war
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C.Varrentrapp : J.Schulze u.d.höh.preusz.unterricht8we8. seinerzeit. 93
4er eonrector, dem dies passierte, ein tüchtiger philolog, der später
als gymnasialdirector und professor der philologie an einer hessi-
schen Universität eine anerkannte Wirksamkeit gefunden hat. so
lieszen sich gewis noch manche misgriffe anführen, misgriffe, welche
aus begeisterung für die sacbe, die er zu vertreten hatte, hervor-
giengen.
Die vorliegende biographie hat ihre Schicksale gehabt, nach-
dem Joh. Schulze am 20 febr. 1869 84 jähre alt heimgegangen war,
wurden die von ihm gemachten aufzeichnungen über sein inhalts-
reiches leben von dem Stiefsohne Schulzes, dem stadtgerichtsrat Max
Schulze-Rössler, dem prof. dr. Ludw. Köpke übergeben, um auf grund
dieser materialien eine biographie auszuarbeiten. Köpke stand der
familie Sch. sehr nahe , war auch durch seine früheren arbeiten auf
dem gebiete der geschiente, durch seine litterarischen Veröffent-
lichungen über Tieck und die Stiftung der Universität Berlin zur
lösung dieser aufgäbe wohl ausgerüstet, aber durch den tod des
trefflichen gelehrten wurde die fertigstellung des lebensbildes ver-
eitelt. Max Schulze , dem sehr viel daran lag , dasz geeignete bände
die arbeit übernähmen , hatte sich , nachdem ein zweiter gelehrter
gewonnen, dann aber wegen anderer arbeiten ablehnte, mit geh.
rat v. Sybel über die wähl eines gelehrten in Verbindung gesetzt,
dieser hatte hierauf mit M. 8chulze in gemeinschaft sich an prof.
Varrentrapp in Marburg, der ja auch den nachlasz F. Chr. Dahl-
manns 1886 herausgegeben hatte, gewandt und dieser hat nun in
mustergültiger weise die schöne für die geschiente des preuszischen
unterrichte wesens so wichtige aufgäbe gelöst, durch die teilnähme,
welche hr. v. Sybel, der director der preuszischen Staatsarchive, dem
Zustandekommen der biographie schenkte, wurde es dem Verfasser
ermöglicht, zutritt zu den acten des cultusministeriums zu erhalten,
um das ihm zugestellte material wesentlich zu ergänzen und zu ver-
vollständigen, so liegt uns ein wichtiger beitrag zur Charakteristik
des für die entwickhing der preuszischen Universitäten und gymna-
sien bedeutungsvollen ministen ums Altenstein vor, in welchem
Joh. Sch. eine besonders einfluszreiche Stellung eingenommen hat.
betrachten wir uns den lebensgang des geistvollen referenten für die
Unterrichtsangelegenheiten etwas genauer.
Sch. wurde am 25 jan. 1786 zuBrüel in Mecklenburg-Schwerin
geboren, sein vater war herzoglicher erbzollverwalter in Dömitz,
nach dessen frühem tode wurde der lebendige knabe der domschule
zu Schwerin zugeführt, damals standen die gymnasien Mecklenburgs
auf einer niedrigem stufe als heute , wo sie den preuszischen höhern
schulen völlig gleich sind, daher kam es, dasz Sch. nach 2 72 jahri-
gem aufenthalte aus der selecta, von welcher die jungen leute auf die
Universität abzugehen pflegten , im gefühl seiner doch noch nicht zu
vollem abschlusz gelangten Vorbildung sich entschlosz, die berühmte
schule zu kloster Berge bei Magdeburg, auf welcher auch Wieland
die grundlagen seiner bildung gewonnen hatte, zu besuchen, um in
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94 C. Varrentrapp : J. Schulze u. d.höh. preusz. unterriehtswes. seinerzeit.
gründlicher weise sich für akademische Studien vorzubereiten, in
der schule zu Berge hatten insbesondere durch den gelehrten päda-
gogisch tüchtig geschulten Joh. Gurlitt, der freilich im jähre 1802
die leitung des Jobanneums zu Hamburg Ubernahm, die classischen
Studien einen neuen aufschwung genommen, der nachfolger Gurlitts,
Fr. Strass, ein ebenfalls sehr gründlich gebildeter gelehrter, von
einem tüchtigen lehrercollegium unterstützt, erwarb sich um die
schule die grösten Verdienste, nach Schuhes urteil ersetzte Strass
den durch gründliche und umfassende classische gelebrsamkeit im
griechischen und lateinischen ausgezeichneten Gurlitt zwar nicht,
übte aber durch seine würdige haltung, durch sein strenges Pflicht-
gefühl und seine frischen Vorträge namentlich auch über preuszische
geschiente einen wohlthätigen einflusz aus. noch als greis gedachte
Sch. dankbar der glücklichen tage, die er in dem anmutig gelegenen
Mindenumgebenen' kloster verlebt, der anregungen und freuden, die
er hier genossen hatte, in den amtlichen berichten, welche über die
schüler erstattet wurden , hob man die sehr glücklichen fähigkeiten
Schulzes , seinen vorzüglichen fleisz, seine gebildeten sitten hervor,
nach 2 V2 jährigem aufenthalt in Berge bezog er im frühling 1805,
mit einem vorzüglichen abgangszeugnisse ausgestattet, die Univer-
sität Halle, um diese zeit war die Hallesche hochschule vielleicht
die bedeutendste, für die entwicklung des wissenschaftlichen lebens in
Deutschland wichtigste; sie wurde das vorbild der Georgia Augusta
in Göttingen; sie war, wie E. Rössler sagt, ein kind jenes geistes der
neuerung, welcher von Halle über Deutschland ausgieng. die träger
einer neuen zukunftreichen wissenschaftlichen entwicklung waren
damals in Halle vereinigt, gaben der Universität einen neuen glänz,
vor allen andern war es Fr. Aug. Wolf, welcher von 1783 an bis zu
der durch Napoleon 1805 erfolgten aufhebung der Universität von
hier weitgehende anregungen für wissenschaftliche forschungen aus-
gehen liesz. die prolegomena zu Homer, das me ister werk eines mehr
als Lessingschen Scharfsinns nach dem ausdrucke Fr. Schlegels , die
er im jähre 1795 veröffentlichte, hatten, wie Dahlmann sagt, den
deutschen köpfen einen anstosz gegeben, dessen Schwingungen weit
über das gebiet der philologie hinausgiengen, die mit den forschun-
gen N iebu hrs auf dem felde römischer geschiebte, die kritische
forschung begründeten, neben diesem ausgezeichneten akademi-
schen 1 ehrer übten auf die studierenden aller facultäten besonders
Steffens und Schleiermacher einen segensreichen einflusz aus.
in jenen tagen, wo Joh. Sch. in Halle seine akademischen Studien be-
gann, befanden sich unter den Zuhörern des groszen philologen Wolf
zwei jünglinge, mit denen Sch. gar bald in nähere Verbindung trat,
Aug. Böckhundlm. Bekker, beide nur wenige monate älter als
Sch. geistig angeregte jünglinge empfanden deutlich, was sie an
dem groszen docenten und hervorragenden gelehrten hatten, daher
war es natürlich, dasz Sch. auszer dem seminar alle collegien Wolfs
fleiszig hörte, insbesondere war eine der wichtigsten Vorlesungen
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CV artentrÄpp : J. Schulze u. d. höh. preusz. unterrichtfewee. seiner zeit. 95
die über encyclopädie der philologie. auszer Wolf war für Schulzes
entwicklung Schleiermacher von groszer bedeutung. man möge die
interessante Schilderung der not, welche über die Hallesche hoch-
schule in französischer zeit dahinzog und endlich die auflösung der
Universität herbeiführte, nachlesen, zur fortsetzung seiner Studien
bezog Sch., nachdem er nach der schlieszung der Universität Halle
in seiner heimat sich längere zeit aufgehalten hatte, die Universität
Leipzig, hier hörte er die Vorlesungen G. Hermanns, Chr. D. Becks,
G. H. Schäfers u. a. im Frühjahr 1808 verliesz er Leipzig, gieng nach
Dresden, um dort die herlichen kunstschätze zu studieren und die
Dresdener Sallusthandschriften zu vergleichen, später hat er diese
collationen dem berühmten herausgeber des Sallust prof. dr. Kritz
in Erfurt pro insigni humanitate zur disposition gestellt, nach mehr-
monatlichem aufenthalt in Dresden wurde er von der gräfin v. Stoscb
eingeladen, ihren söhn zu unterrichten, er reiste über Breslau nach
Löwen, in dem gräflichen hause, in welchem das einschmeichelnde
wesen der Franzosen, die Schlesien besetzt hielten, anerkennung fand,
hatte der patriotische mann harte kämpfe zu bestehen, so dasz er
froh war, als er im mai 1808 durch die bemübungen seines freundes
und landsmannes Franz Passow an das gymnasium in Weimar als
professor berufen wurde, hier, in einer stadt, in welcher vor allem
durch Wieland, Musaeus, Goethe, Herder, Schiller, Boettiger u. a.
geistiges leben , sinn für alles edle und schöne gepflegt wurde, hier,
wo der herzog Carl August und mit ihm seine unvergeszliche mutter
culturelle und patriotische Interessen unterstützten , hatte sich ins-
besondere auch bei der sorge für die thüringische hochschule Jena,
an der am Schlüsse des vorigen jahrhunderts sich die vornehmsten
gelehrten und begabtesten männer eingefunden hatten, ein reiches
geistiges leben entwickelt, ja, Passow schrieb an seine mutter, er
habe Weimar 'immer als einen heiligen ort, als den tempel der
deutschen poesie angesehen*, bis zum jähre 1804 war K. A. Boettiger
director des gymnasiums gewesen und hatte in gemeinschaft mit
seinen collegen Schwabe und Kästner nach allen Seiten hin die
zwecke der ausbildung der gymnasiasten gefördert, ganz besonders
unter dem einflusse Herders, welcher auf dem gymnasium dadurch,
dasz er ephorus der schule war, den betrieb des Unterrichts anregen-
der gestaltete als dies an andern anstalten der fall war. Boettiger
hatte, wie man dies aus dem leben des naturforschers Gotth.
v. Schubert ersieht, der in Weimar sein schüler war, groszes päda-
pogisches geschick. auch der Vorgänger Boettigers, Job. Mich.
Heinze, war für die damalige zeit ein ausgezeichneter schulmann.
nach dem weggange Boettigers (1804) war Chr. Ludw. Lenz, damals
director des gymnasiums in Nordhausen, nach Weimar berufen, auch
Lenz hatte seine Verdienste namentlich um den Unterricht im latei-
nischen. H. Voss, der freilich nur kurze zeit besonders für die
bebung des griechischen Unterrichts ersprieszlich gewirkt hatte, war
ein tüchtiger lehrer der anstalt. im jähre 1807 trat der von G. Her-
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96 C. Varrentrapp : J. Schulze u. d. höh. preusz. unterrichtswes. seiner zeit.
mann in Leipzig empfohlene Franz Passow in das lehrercollegium
«in. Passow hatte etwas ausserordentlich anregendes. Mor. Haupt
hat vielleicht recht, wenn er in seiner gedächtnisrede auf Aug.
Meineke sagt, dasz Meineke durch den Umgang mit dem später
wissenschaftlich wohl überschätzten , aber geistvollen und anregen-
den Passow gefördert worden sei. 'Passow beantragte mit einer
schönen motivierung (s. 70) die einrichtung einer selecta und her-
beiziehung eines jungen, mit frischen kräften ausgrüsteten , für die
Wissenschaft begeisterten manne«, dem minister v. Voigt wurde
Schulze durch Passow empfohlen und so geschah es, dasz er am 5 sept.
1808 seine antrittsrede als professor am gymnasium in Weimar halten
konnte, es ist eine wahre freu de s. 71 zu lesen, in welchem geiste
der 22 jährige professor sein erzieheramt in einer zeit zu führen ge-
denkt, in der unser geliebtes Vaterland unter dem joche Napoleons
seufzte, im vereine mit freund Passow übte er durch die lebhafte,
geistweckende art des Unterrichts einen auszerordentlichen einflusz
auf die schüler aus. C. W. Goettling, W. E. Weber u. a. wüsten
von der art, wie diese männer die alten erklärten, viel zu rühmen,
wollte doch Sch., wie er es in seiner abschiedsrede (s. 80) ausspricht,
seine schüler nicht für dieses oder jenes bestimmte geschäft vor-
bereiten, noch weniger sie zu einer Vorratskammer von manigfaltigen
nützlichen kenntnissen machen, welche zum fortkommen in der so-
genannten weit ersprieszliche dienste leisten und ihrem eigner brot
und ansehen sichern , er wollte sie allmählich zur klaren erkenntnis
der menschheit an sich erheben, zum hellen bewustsein ihrer selbst
und der eigentümlichen weise, wie in jedem einzelnen der gedanke
der menschheit sich geoffenbart; ihre ganze ungeteilte natur und
alle ihre kräfte in ansprucb nehmend, wollte er sie zu ganzen, das
ist zu frommen menschen bilden.' eine pädagogik, welche nicht den
ganzen menschen zu ergreifen, für das höchste und tiefste die seelen
zu stimmen sich bemüht, hat wenig wert, nicht blosz als lehrer
suchte Sch. die herzen der jugend zu gewinnen, sondern auch von
der kanzel herab, auf welcher Herder gestanden und das wort gottes
den seelen seiner zubörer nahe gebracht hatte, wollte er für die
höchsten güter der menschheit liebe und begeisterung wecken, es
wurde noch lange, nachdem Sch. Weimar verlassen hatte, von dem
eindrucke gesprochen, welchen der Unterricht und die predigten
des geistvollen mannes gemacht hatten, in seinen reden, sagt
R. Köpke, wie in seinem ganzen leben, war es Schulzes bestre-
ben, stets aus dem ganzen, aus der umfassenden idee heraus-
zuarbeiten; Wissenschaft und religion, kunst und Vaterland ver-
banden sich bei ihm in einem brennpunkte. dasz ein ästhetisch so
geschulter mann wie Schulze auch an den damals gerade durch den
einflusz Goethes auf der höhe stehenden leistungen des hoftheaters
in Weimar inniges interesse nahm, versteht sich von selbst, von
dem dichterfttrsten hielt er sich in angemessener entfernung, weil
er sah, wie viele sich an den vielbewunderten mann herandrängten.
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C.Varrentrapp : J. Schulze u. d. höh. preusz. unterrichtswes. seiner zeit. 97
Goethe hat in seiner herlichen schritt rWinckelmann und sein Jahr-
hundert' (Tübingen 1805) ausgesprochen (s. 470) : sollte nicht end-
lich der wünsch einer vollständigen Sammlung der schritten Winckel-
manns unter dem volke rege werden« das ihm so vielen nationalruhm
bei den ausländem verdankt? diesen wünsch hat Sch. unter oft
schwierigen Verhältnissen erfüllt, er hat in Verbindung mit Heinr.
Meyer, dem bekannten Kunst-Meyer, eine treffliche ausgäbe der
werke Winckelmanns (1809 bis 1817) zu stände gebracht und sich
dadurch grosze Verdienste erworben, es waren vier glückliche jähre,
die er hochgeehrt von dem Herzog Carl August und seiner gemahlin
und hochgeschätzt in den thüringischen fürstlichen familien als ideal
gerichteter hochangesehener lehrer der jugend verlebte, viel liebe
und viel dankbarkeit hat ihm seine Wirksamkeit in Weimar einge-
bracht, auch er hat die zeit seiner weimarischen Wirksamkeit als
eine gesegnete ihm selbst viel anregung spendende betrachtet und
freute sich immer, wenn ein Weimaraner ihn besuchte, wenn er gerade
einem Weimaraner in irgend einer weise dienstbar sein konnte, es
war natürlich, dasz ein so geistvoller, nach allen richtungen hin tief
gebildeter, immer anregender mann die aufmerksamkeit maszgeben-
der Persönlichkeiten auf sich zog. so kam es, dasz der freiherr v. Dal-
berg, groszherzog von Frankfurt, einst kurmainzischer Statthalter in
Erfurt, den weimarischen kreisen wohl bekannt, ein mann von hoher
wissenschaftlicher bildung, der mit W.v. Humboldt, Wieland, Goethe,
Schiller, Herder und andern bedeutenden persönlichkeiten in nahen
beziehungen stand, Sch. 1812 als professor der alten litteratur, dann
als director des gymnasiums und oberschul- und studienrat nach
Hanau berief, im herbst 1810 hatte Franz Passow Weimar ver-
lassen, da er als mitdirector des Conradin um nach Danzig berufen
worden war. mit dem nacbfolger Passows, Ferd. Hand, einem tüch-
tigen schüler G. Hermanns, der nach Schutzes anschauung den wert
der Sprachkenntnisse zu sehr betonte, den er aber wegen seiner
auszerordentlich gründlichen gulehrsamkeit, wegen seiner groszen
bescheidenheit hochschätzte, blieb er bis zu seinem im jähre 1851
erfolgten tode in freundlichen beziehungen. in einer von vaterlän-
discher gesinnung erfüllten rede nahm er abschied von seinen schülern
und collegen. die anspräche war so patriotisch , dasz der polizei-
minister seines neuen landesherrn die ganze druckauflage einziehen
besz. auch der herzog Carl August hatte ihm früher schon vertrau-
lich geäuszert, dasz er ihn wegen seines energischen Patriotismus
nicht werde* schützen können. Dalberg nahm sich zunächst persön-
lich des wackeren mannes an und 1813 trat ja für unser Vaterland
die ersehnte Wendung der geschicke ein. seine damals erscheinenden
Bchulreden, seine reden an die wiedergeborenen Hessen, manches ge-
dieht in den Zeitungen bezeugen die innige teilnähme an dem gange
der vaterländischen ereignisse. im jähre 1815 begründete Sch. durch
Verheiratung mit der verwitweten frau Caroline Boehm, geb. Rössler
seinen hausstand. die gebildete frau brachte ihm einen söhn mit in
N.jthrb. f. pt.il. u. pid. II. AbU 1891 hfl. 2. 7
Digitize
98 C.Varrentrapp : J. Schulze u. d. höh. preusz. unterrichtawee. geiner zeit.
die ehe, an dessen entwicklung er seine innige freude hatte, mit dem
er innig verbunden war. schon mit beginn des jahres 1816 wurde Sch.
kurfürstlicher oberschulrat, aber bald (am 14 märz 1816) erhielt er
die ernennung zum schulrat bei dem consistorium und schulcollegium
in Coblenz. manner, welche Schnlzes wissenschaftliche Nichtigkeit,
sein lehrgeschick , seine organisatorische thätigkeit, seinen patrio-
tischen eifer zu schätzen wüsten , sahen den hochverdienten Schul-
mann , der unter oft hemmenden einflössen doch segensreich für die
bildung des volkes gewirkt hatte, sehr ungern scheiden. Sch. selbst
war es eine freude in ein Staatswesen einzutreten, dem, wie jedem
einleuchtete, der aufmerksam die entwicklung der dinge verfolgt
hatte, die zukunft gehörte, geh. rat Süvern, der mit groszer umsieht
die Unterrichtsangelegenheiten besorgte, war für die berufung Schulzes,
den er persönlich kennen gelernt hatte, besonders tbfttig gewesen
und hatte auch durch diese wähl gezeigt, dasz er in der person nicht
fehlgegriffen hatte, in Coblenz trat Sch. in einen kreis von männern
ein, welche alle die grosze aufgäbe, an dem Wiederaufbau des von
den Franzosen zerschlagenen Vaterlandes mitzuarbeiten, mit energie
ergriffen, mit geschick und treue durchführten, dort in Coblenz
waren in jenen tagen männer versammelt, welche für die geschiente
unseres Vaterlandes eine grosze bedeutung gewonnen, sich um das-
selbe unsterbliche Verdienste erworben haben, vor allen andern
machte Gneise nau, der ja gern mit 'civil i 8 ten* verkehrte, einen
nachhaltigen eindruck auf den neuen schulrat. mit Sch. liesz sich
Gneisenau in ein gespräch über Alexander M. ein, da er dessen Über-
setzung des Arrian kannte, und meinte sehr zutreffend, dasz Alexan-
der eine poetische natur gewesen sei. auszer Gneisenau fand er dort
den geistvollen Clausewitz, den chef des generalstabes , Carl
v. Gröben, der neben Clausewitz dem trefflichen Gneisenau zur
seite stand, unter den civilisten imponierte ihm der durch seine
groszartigen litterarischen Sammlungen später so bedeutend gewor-
dene C. v. Meusebach, welcher 1816 als präsident des für die rhein-
lande errichteten provisorischen revisionshofes nach Coblenz versetzt
war. sehr freundschaftlich verkehrte Sch. auch mit Max v. Schenken-
dorf, man kann sich denken, dasz der geistig so bewegliche scbulrat
in dieser atmospbäre sich sehr wohl fühlte, dasz ihm ein neues, die
entfaltung seiner kraft weckendes leben aufgieng. doch nicht lange
sollte Sch. in dem ihm so zusagenden kreise verweilen, bereits im
juni 1818 wurde er als vortragender rat in das cultusministerium
berufen, durch die cabinetsordre vom 3november 1817 gelangte der
schon von W. v. Humboldt angeregte gedanke einer loslösung des
departements für den cultus und öffentlichen Unterricht vom mini-
sterium des innern zur ausfuhrung und an die spitze des neuen mini-
steriums wurde freiherr v. Altenstein gestellt, auf s.275 finden wir
eine treffende Charakteristik dieses ausgezeichneten , für alle idealen
güter des lebens empfänglichen Staatsmannes, der es sich ernstlich
angelegen sein liesz, schulen und Universitäten nach allen richtungen
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CV arrentrapp : J. Schulze u. d. höh. preusz. unterrichtswes. seiner zeit. 99
bin zu pflegen, für die bebung des geistigen und sittlichen lebens
auf diesen anstalten alles einzusetzen, einen treuen, in seine ideen
eingehenden, von vaterländischen und wissenschaftlichen interessen
mächtig ergriffenen raitarbeiter an dieser groszen aufgäbe fand der
minister in Joh. Schulze, es war wieder einer von den glücklichen
griffen, durch welche es der preuszischen staatsregierung oft ge-
lungen ist, die rechten manner an die rechte stelle zu setzen und
die Wohlfahrt des landes zu fördern, eine besonders rühmenswerte
thätigkeit entwickelte das ministerium bei der in aussieht genom-
menen grtindung der rheinischen hochschule. galt es doch für alle
facultÄten tüchtige männer zu gewinnen, welche den rühm der neuen
Universität begründen sollten, es ist von groszem interesse, die
gründungsgeschichte der hochschule zu lesen (s. 285 ff.), die ja für
das ganze geistige leben der nation, nicht blosz für die Rheinprovinz
von bedeutung geworden ist. männer, wie die philologen Heinrich,
Näke, F. G. Welcker, Fr. Ritsehl, Otto Jahn, Wilh. v. Schlegel,
Arndt, Niebubr, Dahlmann, Jac. Bernays, die Juristen Walter,
K. Welcker, die mediciner Mayer, Nasse, Stein, Walther, die theo-
logen Lücke, Sack, Augusti, Gieseler u. a. waren zierden der Uni-
versität; auch für die katholisch -theologische facultät wurden ent-
sprechende tüchtige kräfte gewonnen, gar bald wurden die deutschen
Universitäten durch eine denkschrift des jungen Walachen Stourdza,
welche eine revolution in Deutschland in nahe aussieht stellte und
durch den einflusz, welchen Metternichs System überall in unserem
vaterlande übte, als herde revolutionären treibens verdächtigt und
namentlich waren die durch Jahns thätigkeit ins leben gerufenen
turnanstalten auf schulen und Universitäten ein gegenständ der be-
sorgnis, von ihnen werde der geist der empörung, der Widerspruch
gegen regierungsmaszregeln genährt und groszgezogen. der könig
Friedrich Wilhelm III war über die entartungen der zeit sehr erregt,
er hatte eben für die sich kundgebenden regungen einer neuen zeit
kein ausreichendes Verständnis, da er unter andern Strömungen poli-
tischer und geistiger richtungen grosz geworden war. in den folgen-
den abschnitten des trefflichen buches werden wichtige beiträge zum
Verständnis der Zeitgeschichte geliefert, die ja durch neuere Ver-
öffentlichungen uns überhaupt in einem etwas andern lichte erscheint,
als dies früher der fall war. die thätigkeit der regierungsbevoll-
mächtigten an den Universitäten wird ausführlich geschildert und
die gegenströmungen, die gegen das ministerium Altenstein hervor-
traten, insbesondere wurde (s. 325) der regierungsbevollmächtigte
der Berliner Universität, geh. rat Schultz, der mit Goethe, mit Savigny,
Schleiermacber und andern wissenschaftlich bedeutenden männern
in freundschaftlichen beziehungen stand und von dem der minister'
v. Altenstein förderung und pflege der geistigen interessen auf den
Universitäten erhofft hatte , ein heftiger gegner der Universitätspro-
fessoren, er hatte erklärt, dasz gerade die professoren, mit denen er
verkehrt hatte, in amtlicher beziehung am wenigsten sein vertrauen
7»
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100 C. Varrentrapp : J. Schulze u. d. höh. preusz. uuterrichtswes. seiner zeit
erhalten dürften, bereits 1808 (s. 325) hatte dieser regierungsbe-
vollmächtigte bei der beurteilung des publicandums über die ver-
änderte Verfassung der obersten Staatsbehörden den glauben, dasz
durch eine fein erdachte Constitution ein staat an und für sich zum
heil gelangen könne, für einen gefährlichen irrtum der neuesten
afterphilosophischen zeit erklärt; jede mitwitkung des Volkes bei der
fortentwicklung des staatlichen lebens hielt er für ungehörig und
verderblich, die erfabrungen der gährenden zeit nach den befreiungs-
kriegen bestärkten ihn in seinem mistrauen gegen alle populären
agitationen. nach den Carlsbader beschlttssen zum regierungsbevoll-
mächtigten ernannt, glaubte er vor allem zu ihrer rücksichtslosen
durchfuhrung , zur aufspürung und Verfolgung aller verdächtigen
verpflichtet zu sein, fürst Wittgenstein wüste den eifer des leiden-
schaftlich gegen den neu sich regenden Zeitgeist erregten Schultz
anzustacheln und namentlich den könig gegen die intentionen des
minister 8 Altenstein einzunehmen, so kam es, dasz Wittgenstein,
Beckedorff und Schultz gemeinsam dahin arbeiteten, das Unterrichts-
system, was seit 1809 durch den einflusz Fichtes, Schleiermachers,
Fr. A.Wolfs, W. v. Humboldts und anderer hervorragenden männer
festen boden in Preuszen gewonnen hatte, zu verdächtigen, es als
grund des immer weiter um sich greifenden moralischen verderbeng
hinzustellen und auf eine durchgreifende Umgestaltung desselben
hinzudrängen, als hauptpunkte wurden hingestellt: Unterordnung
der schulen unter die kirche, bevormundung der eine selbständige
gesetzgebung und Verwaltung sich anmaszenden Universitäten , auf
welchen die theologische facultät vor allem wieder einen uner-
schütterlichen mittelpunkt der lehre erhalten, die philosophische
dagegen nur als vorbereitend gelten und unter die der übrigen in
eignen Unterabteilungen zerfallen, und endlich eine ganz andere ein-
richtung der geistlichen angelegenheiten eintreten müsse, bei sol-
chen und andern in aussieht genommenen Umwandlungen der bis-
herigen maszregeln richteten die Vertreter reactionärer anschauungen
ihr augenmerk besonders auf die beseitigung der räte des ministers
v. Altenstein , der minister selbst stand auch bei dem könig in so
hohem ansehen, dasz man an dessen entfernung nicht zu denken
wagte, der treffliche Nicolovius, Süvern, Schulze und Frick sollten
aus ihren Stellungen ausscheiden (s. 329 ff.). Frick, justitiar des
ministeriums, wurde von Schultz als ein freund der bur seh ensehaft
tödlich gehaszt. Joh. Schulze rühmt diesen beamten als einen ge-
wandten, geduldigen und mutigen Vorkämpfer für Wahrheit und
recht, es waren bewegte zeiten, in denen sich die reaction gegen
die unter dem ministerium Altenstein auf dem gebiete des höheren
Schulwesens und der aniversitätsangelegenheiten gemachten errun-
genschaften richtete und dem könig, der ohnebin mit dem auf den
hochschulen sich kundgebenden geiste nicht zufrieden war, diejenigen
männer zu verdächtigen suchte, welche für die entbindnng der unter-
drückten und schlummernden geistigen kräfte des volkes mit ihrer
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C.Yaxrentrapp : J. Schulze u.d. höh. preuaz. unterrichtswes. seiner zeit. 101
ganzen persönlichkeit eingetreten waren, das ansehen des ministers
v. AAtenstein stand zu fest, die angriffe richteten sich besonders gegen
¥rick und Joh. Schulze, es ist ein schöner zug des trefflichen Alten-
stein, dasz er seiner räte sich nachdrücklich annahm, von Sch. sagte
er: ernst religiös, sittlich rein und unbescholten und dabei heiter,
habe auch dieser nie in heimlichen Verbindungswesen gestanden
(wie Frick auch nicht), wenn vielleicht früher äuszerungen beiner
lebhaften natur und alte beziehungen anlasz zu besorgnis gegeben,
so seien solche seiner amtlichen thStigkeit gegenüber nicht ge-
rechtfertigt, vielmehr sei auch er für diese in seltener weise ge-
schickt, er besitze bei einer groszen allgemeinen wissenschaftlichen
bildung in mehreren fächern gründliche gelebrsamkeit und dadurch
die nötige autorität bei den gelehrten , mit denen er zu verkehren
habe; seine pädagogische fähigkeit, die er bei der glücklichen leitung
höherer lehranstalten bewährt, setze ihn in den stand in den Unterricht
einzugreifen und selbst ein muster zu werden; seine gewandt hei t
und gefälligen formen förderten wesentlich die geschäfte. die Ver-
setzung in eine andere stelle würde der natur der sache nach für ihn
eine kränkung enthalten; noch viel schwerer als für Frick würde es
sein für ihn einen ersatzmann zu finden (s. 336). rdie maszvolle
darlegung des ministers verfehlte des eindrucks nicht auf den ge-
wissenhaften könig, es wurde wirklich erreicht, dasz die verhängnis-
volle ordre vom 10 april 1822 nicht zur ausführung kam.' nichts-
destoweniger dauerte die traurige Verfolgung freierer regungen auf
politischem und wissenschaftlichem gebiete fort, schwer hat, sagt
Varrentrap mit recht (s. 339), Friedrich Wilhelm III seinen und seines
Staates ruf durch die maszregeln geschädigt, zu denen er sich gegen
den rat seiner sachkundigen beamten durch die Vorstellungen Met-
ternichs und seiner preuszischen helfershelfer bestimmen liesz ; noch
weniger aber als einst in Wöllners tagen war jetzt durch solche
mittel der fortschritt des deutschen geisteslebens zu hindern, dessen
verständnisvolle förderung das preuszische Unterrichtsministerium in
allen wirren mit eifer und erfolg betrieb.
Schulze war immer bemüht fühlung zu behalten mit dem gange
der geistigen entwicklung unseres Vaterlandes, als im jähre 1818
Hegel nach Berlin berufen worden war, wüste der ministerialrat
Sch. mitten unter den acten und dringenden geschäften des tages
zwei jähre hindurch sich so viel zeit abzugewinnen, dasz er die phi-
losophischen Vorlesungen des damals so gefeierten philosopben hörte,
mit ihm nach dem collegium das vernommene durchsprach und so
in das system Hegels in gründlichster weise eingeführt wurde,
später beteiligte er sich ebenso wie bei der herausgäbe der werke
Joachim Winckelmanns auch an der herausgäbe der Hegeischen
scbriften. überhaupt war er für sein verantwortungsvolles amt als
referent in Unterrichtsangelegenheiten gründlich vorbereitet, er
kannte nicht blosz die bedürfnisse der gymnasien, war mit ihrer ge-
schiente vertraut, sondern er hatte auch, um den anforderungen, die
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102 C. Varrentrapp : J. Schulze u. d. höh. preusz. unterrichtswea. seiner zeit.
man an einen referenten in Universitätsangelegenheiten zu stellen
berechtigt ist, eingehende Studien Uber universitäts Verhältnisse ge-
macht und war bei der empfänglichkeit seines geistes für alles grosze
und schöne, bei seiner nicht gewöhnlichen beanlagung, bei der ge-
schäftlichen gewandtheit, die er besasz, wohl geeignet den pflichten
seines hohen amtes zu genügen, dazu kam, dasz er mit den bedeu-
tendsten männern der Wissenschaft in vertraulichem verkehr stand,
sich bei ihnen rat holen konnte. Fr. Ritsehl, Goettling, Hand, Böckh,
Hegel, Passow und viele andere gelehrte standen Sch. persönlich
nahe, unstreitig darf man die zeit der Verwaltung des ministers
Altenstein eine zeit des geistigen aufschwunges nennen : eine Univer-
sität, 13 gymnasien wurden errichtet, wissenschaftliche in st i tute und
gebäude für verschiedene Universitäten neu begründet oder erweitert,
bibliotheken besser ausgestattet, die examina der schulamtscandi-
daten reguliert, die lehrsteilen verbessert und vermehrt, die lehr-
pläne und das programmwesen umgestaltet, das museum wurde
gegründet und durch ankäufe aller art ausgestattet, die Jahrbücher
für wissenschaftliche kritik , an welchen Joh. Sch. durch beiträge
sich beteiligte, wurden ins leben gerufen, kurz. die geistigen kräfte
der nation waren in eine angemessene bewegung gebracht und hatten
schöne früchte gezeitigt, früchte, welche die aufmerksamkeit des aus-
ländes auf sich gezogen und bewirkt hatten, dasz man Preuszen den
Staat der intelligenz nannte, dasz fremde nationen männer aus-
sandten, um das bildungswesen in Preuszen kennen zu lernen und
die dort gemachten erfahrungen für ihre eignen länder nutzbar zu
machen, vor allem aber war es für unser Vaterland von bedeutung,
dasz die andern Staaten, welche den aufschwung in Preuszen bewun-
derten, angereizt wurden, ein gleiches zu thun, hinter dem groszstaat
Preuszen nicht zurückzubleiben, so hat um die hebung des geistigen
lebens unseres ganzen volkes der minister Altenstein und sein treuer
und geschickter ratgeber Joh. Schulze sich die grösten unvergeß-
lichen Verdienste erworben, auch für Job. Schulze kamen bald trau-
rige zeiten. im jähre 1831 starb sein freund Hegel und 9 jähre später
schied der von ihm so hoch verehrte minister Altenstein aus dem leben
(im mai 1840); auch der tod (7 juni 1840) des königs Friedrich
Wilhelm III erfolgte und es trat nun mit der regierung könig
Friedr. Wilhelms IV ein Systemwechsel ein, der auch für Sch. folgen
hatte, es wurde an die stelle Altensteins zum cultusminister Eich-
horn ernannt, wir können nun nicht ganz dem beistimmen, was
Mejer in der allg. deutschen biogr- V 739 sagt, fdasz die Alten-
steinsche Verwaltung gegen ihr ende sowohl auf katholischem wie
auf evangelischem kirchengebiete Schiffbruch gelitten und nicht blosz
verwirrte zustände, sondern zugleich ein mit ihnen verflochtenes,
schwer brauchbares dienstpersonal überliefert habe.' man mag zu-
geben, dasz unter dem ministerium misgriffe mancher art gemacht
worden sind, aber unter welchem ministerium werden sie bei dem
besten willen nicht gemacht? Sch. muste es erleben, dasz unter den
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C.Varrentrapp : J. Schulze u. d. höh. preu»z. Unterrichts w es. seinerzeit 103
äugen des ininisters die gehässigsten anklagen auf irreleitung des
Tolkes gegen den Vorgänger im amte verbreitet wurden, so war es
natürlich , dasz dem bewährten arbeiter im ministerium ein referat
nach dem andern entzogen, seine geistige kraft lahm gelegt wurde,
die wichtigsten dinge wurden jungen assessoren zur bearbeitung
übertragen ; die räte des königs Friedrich Wilhelms III wurden so
rücksichtslos behandelt, dasz der prinz von Preuszen seine misbil-
ligung darüber offen aussprach, zu den amtlichen Widerwärtigkeiten
traten häusliche leiden, seinen ältesten söhn sah er langsam hin-
siechen, von mehreren kindern blieb ihm sein jüngster söhn Max,
an dessen beruf sar bei ten und interessen er lebhaften anteil nahm
und sein Stiefsohn prof. L. Böhm, dem er von ganzer seele zugethan
war. sehr tief ergriff ihn die lange krankheit und der tod der treuen
lebensgefährtin (1846). im herbst 1848 übernahm nach den kurzen
sommerministerien v. Ladenberg das cultusministerium, Schulze wurde
1849 zum dirigenten der Unterrichtsabteilung ernannt und als 1850
dem herrn v. Ladenberg der staatsminister C. 0. v. Raumer folgte,
blieb Joh. Schulze in schul- und Universitätsangelegenheiten, wo
nicht kirchlichedingein frage kamen, der erprobte ratgeber des
ministers. so wurde dem sachkundigen geistvollen rate die ihm von
dem minister Eichhorn versagte anerkennung durch herrn v. Raumer
zu teil, ein geistreiches mitglied des cultusministeriums , geh. rat
Bindewald, erzählte oft, was für angenehme gänge er mit seinem
collegen Joh. Sch. gemacht, es sei eine freude gewesen, ihn über
seine in langen jähren an menschen und Verhältnissen gemachten
erfohrungen reden zu hören. Joh. Sch. bezeugte, dasz er nächst
Altenstein keinen chef gehabt habe , mit dem er lieber gearbeitet
hätte, immer hat es Sch. als ein groszes verdienst Raumers hervor-
gehoben, dasz er alle Schwierigkeiten, welche sich der durch Sch.
besonders betriebenen beruf ung dreier ganz ausgezeichneten gelehr-
ten Tb. ütlommsen, M. Haupt und 0. Jahn, welche in Leipzig
wegen ihrer politischen gesinnung aus ihrer reich gesegneten Wirk-
samkeit entfernt worden waren, entgegenstellten, beseitigte und es
durchgesetzt habe, dasz diese hervorragenden männer an preusziscben
Universitäten angestellt wurden, im sommer 1858 feierte der ver-
dienstvolle rat des cultusministeriums sein 50jäbriges dienstjubi-
l&um, von allen Seiten wurden ihm zeichen der grösten anerkennung
zu teil ; er erkannte, wie viele treue Verehrer er hatte ; auch der stern
zum roten adlerorden II classe mit brillanten wurde ihm verliehen,
bald darauf begann die neue ära. unter dem ministerium des fürsten
von Hohenzollern übernahm herr v. Bethmann- Hollweg das cultus-
ministerium. Joh. Sch. begrüszte im namen der beamten den neu
eintretenden minister in eindrucksvoller rede, sein alter — er war
73 jähre — legte ihm den gedanken nahe, seinen abschied zu er-
bitten, der ihm dann auch in der ehrenvollsten weise gewährt wurde,
bia zum jähre 1864 behielt er seine Stellung in der uiilitärstudien-
commission und als mitglied der kriegsakaderaie bei. in vollem
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104 C.Varrentrapp : J. Schulze u. d. höh. preuBz, unterrichtswes. seiner zeit.
masze genosz er sein otium cum dignitate. durch gescbäfte nicht
gestört, las er im zusammenhange Sophokles, Piaton, Demosthenes
und Thukydides und nahm an den neueren forschungen, die auf dem
gebiete der classischen philologie gemacht wurden, den lebendigsten
anteil. neben den philologischen Studien beschäftigten ihn fort-
laufend philosophische, insbesondere waren Kant und Hegel seine
lieblinge. die ausgezeichnete bibliothek, welche bis auf 20000 bände
angewachsen war, wurde eifrig benutzt, mit hervorragenden ge-
lehrten stand er in innigen beziehungen, mit L. v. Ranke, den er,
wie er sich rühmte, entdeckt hatte (R. war gymnasial lehrer in Frank-
furt a.O.), mitBöckh, Lachmann, Passow, Goettling, Hand, Ritsehl,
M. Haupt u. a. auf 38 foliobogen schilderte er auszerdem in chro-
nologischer Ordnung seine lehr- und wanderjahre bis zu seinem ein-
tritt in das ministerium. so, eigentlich wenig gedrückt von den be-
schwerden des alters, war Sch. rastlos thätig, bis er kurz nachdem
er im kreise der seinigen seinen 84n geburtstag gefeiert hatte , am
morgen des 20 februars 1869 zum ewigen frieden eingieng. ein
rastlos thätiges, an erfolgen reiches leben war abgeschlossen, ein
geistvoller, patriotischer, von idealen interessen tief bewegter mann
schied aus der reihe der lebenden, viele kämpfe hatte der tapfere
mann insbesondere auch in seiner ministeriellen Stellung zu bestehen
gehabt, es war ihm nicht leicht geworden in dem Wechsel der Zeiten
die fahne freier wissenschaftlicher forschung hoch zu halten , viele
hemmnisse musten tiberwunden, vielen anders gerichteten männern
muste entgegengetreten werden, aber unvergessen wird bleiben, was
Job. Schulze für gymnasien und Universitäten gewirkt
Dem Verfasser des vorliegenden, aus den besten quellen ge-
schöpften Werkes gebührt für die inhaltreiche darstellung des lebens-
ganges eines mannes, der für die entwicklung des geistigen lebens
unseres Volkes von groszer bedeutung geworden ist, der innigste
dank aller derer, welche namentlich für unsere gymnasien und Uni-
versitäten lebendiges interesse haben, es ist insbesondere jetzt eine
zeitgemäsze gäbe, wo man die bewährten grundlagen der ehrwür-
digen, für unsere cultur so wichtig gewordenen gymnasien anzu-
greifen sich eifrig bemüht. Job. Sch. bat die classische bildung
immer hoch geschätzt und alles gethan , um die leistungen in den-
selben zu steigern, ebenso hat er den Universitäten stets eine liebe-
volle sorge zugewendet, das Varrentrappsche werk ergänzt nach ge-
wissen seiten hin die trefflichen historischen arbeiten v.Treitscbkes,
v. Sybels u. a. die ausstattung des so wichtigen buches ist eine der
um die Wissenschaft verdienten Teubnerschen buchhandlung würdige.
Halle a. S. G. Lothholz.
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Gedankengang des ersten Johannea-briefes. 105
9.
GEDANKENGANG DES ERSTEN JOHANNES-BRIEFES.
§1.
Kurze Übersicht.
Die Veranlassung zu dem ersten briete des apostels Jobannes
war das auftreten gewisser irrlehrer in den kleinasiatischen gemein-
den, welche behaupteten im besitze besonderer religiöser erkenntnis
(Tvwcic) zu sein, namentlich aber, wie es scheint, die messianität
Christi anfochten, ihnen gegenüber legt der apostel als (letzter?)
authentischer zeuge in eindringlichster weise noch einmal Zeugnis
ab von dem messianischen wesen und wirken des herrn. im an-
schlusz daran entwirft der apostel in groszen zügen ein bild des
wahren Christentums, dessen wesen sich in zwei hauptsätzen zu-
sammenfassen läszt.
1. Das theoretische oder dogmatische princip:
Mrjcoöc ö XpiCTÖC. Jesus ist der im alten testament verheiszene
messias und der erlöser des menschengeschlechtes.
2. Das praktische princip:
'AbeXmoi, äYCtTTÜJUCV dXXnXouc. 'brüder, wir wollen einander
lieb haben.' das Christentum gleicht einer insel, die von der gott-
feindlichen menschheit (xocpoc) umbrandet ist. zwischen den An-
hängern beider gibt es keinerlei gemeinschaft, die einen sind kinder
gottes und stehen durch Christus in lebensgemeinschaft mit gott.
ihr ideal ist der sich für seine brüder selbst opfernde erlöser, ihr
lebenselement die bruderliebe. die andern sind kinder des teufels,
ihr vorbild ist Kain, der brudermörder, ihre herschenden leiden-
schaften sind basz und neid.
Diese darstellung hat der apostel mit vielfachen ermahnungen
durchflochten , treu festzuhalten an der einmal erkannten Wahrheit,
aus dem vaterlichen tone (rCKVia, naibia) darf man schlieszen, dasz *
der brief im höchsten alter verfaszt ist.
§2.
Einleitung (c. 1, 1—4).
In der einleitung gibt der apostel den inbalt und den zweck
seines Schreibens an. als inhalt bezeichnet er die künde von Christus,
als dem menscbgewordenen gottessohn, als zweck die durch Christus
vermittelte glückseligkeit, iva f) xapä uuuiv f\ TreTrXrjpuj^vTi.
§ 3. I. hauptteil (c. 1, 5—2, 11).
Das Christenleben ein lichtwandel.
An die spitze seines briefes stellt der apostel den satz : fgott
ist licht' d. h. Wahrhaftigkeit und heüigkeit (ö 9€OC <pu>c knv), und
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Gedankengang des ersten Johannes-briefea.
finsternis (ckotoc, CKOTia) d. h. sünde und lüge, ist nicht in ihm.
daraus ergeben sieb zwei unmittelbare schluuzfolgerungen:
1. wenn wir in finsternis wandeln (so» haben wir keine lebens-
gemeinschaft mit ihm), und behaupten wir trotzdem, wir hätten
lebensgemeinschaft mit ihm, so lügen wir (irrlehrer!);
2. wenn wir dagegen im licht wandeln, so haben wir lebens-
gemeinschaft (mit gott und dadurch auch) mit einander.
Zu diesem zweiten scblusz macht der apostel noch den zusatz,
dasz wir alsdann gewis sein dürfen, dasz der opfertod des er-
löse« uns von (aller schuld und herschaft) der Sünde reinigt. TÖ
alfia Irjcoö Xpiaroö toö imoü auTOÖ KaOaptfei fiuäc dird Tiäcr]c
äyapiiac. dies setzt voraus, dasz wir noch nicht völlig frei von
Sünde sind, und uns dieser Sündhaftigkeit bewust sind, denen gegen-
über, die dies leugnen, bemerkt der apostel folgendes:
1. wenn wir sagen, wir hätten keine sünde, so betrügen wir uns
selbst (&XUTOÜC TrXavwji€v) und machen ihn zum lügner (ipeuCTrrv
TroioOuev CtUTÖv).
2. wenn wir dagegen unsere Sünden reumütig bekennen (tüv
6hoAoyu)U€V Tdc duapTiac rjnüjv) , so ist er treu und gerecht , dasz
er uns die sünden vergibt (wa depr) fmTv xäc duapTiac). denn
Christus ist unser fürsprecher (TrapdKXrjTOc) beim vater und bringt
uns Versöhnung (iXacjUÖc) für unsere Sünden.
Worin zeigt sich im praktischen leben der christ-
liche lichtwandel und die lebensgemeinschaft mit gott?
Vermittelt wird der eintritt ins Christentum und in die christ-
liche lebensgemeinschaft durch die wahre erkenntnis gottes (yvüjcic).
den irrlehrern gegenüber, welche wahrscheinlich behaupteten im
besitz einer neuen und besonderen erkenntnis von gott und von
der erlösung des menschengeschlechtes zu sein, setzt der apostel
das wahre wesen christlicher erkenntnis in folgenden sätzen aus-
einander :
1. keine erkenntnis gottes ohne erfüilung der geböte, hieraus
* ergibt sich unmittelbar der schlusz : wer behauptet, er habe gott er-
kannt und seine geböte nicht hält, der ist ein lügner (irrlehrer).
2. keine erfüilung der geböte ohne nachfolge Christi. 6 Xctujv
Iv ctÜTip n^veiv öq>€i\€i, Ka9wc diceivoc TrepieTrdTTicev, kcu autöc
oötu) Trepnraxeiv.
3. keine nachfolge Christi ohne gottes- und nächstenliebe, welche
der tiefste quell wahrer gesetzeserftlllung ist.
Demnach bethätigt sich der lichtwandel und die wahre erkennt-
nis gottes in nichts anderem, als in der aus Übung der brüderliche;
wer diese nicht hat, der hat auch nicht die wahre erkenntnis und
ist noch immer mit blindheit geschlagen (fj CKOTia tTucpXujce touc
6q>6aXuouc auTOÜ). irrlehrer ! seinen gemeinden stellt der apostel
das schöne Zeugnis aus , dasz in ihnen der geist der bru de Hiebe zur
Wirklichkeit geworden ist (6 £cnv dXnOfcc dv auxip xai UfiTv).
für sie ist das gebot der nächstenliebe nichts neues, sondern die alte
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Gedankengang des ersten Johannes-briefes. 107
lehre, die sie von anbeginn der bekehrung gebort haben, mit pro-
phetischem bück setzt der apostel hinzu: die finsternis ziehet vor-
über und das wahre licht leuchtet schon (fj CKOTia TrapdyeTai xal
TÖ#<pd»c tö dXr|8ivöv fjbrj q>cuv€i).
§ 4. H. hauptteil (c. 2, 12—28).
Der kosmos und seine Sendboten.
Die worte: Ypdrouj üfiiv . . . unterbrechen den gedankengang
und fuhren zu einer neuen gedankenreihe über, nachdem der apostel
in diesen Worten wiederholt und mit nachdruck betont hat, dasz er
als leser seines briefes wahre Christen voraussetzt (und daraus , aus
diesem Christentum, für sich das recht hergeleitet hat, sie zu warnen
und zu belehren), entwirft er in groszen zügen ein bild des kosmos,
dessen kinder und Sendboten die irrlehrer sind, wie diese das gegen-
stück zu den aposteln bilden, so ist der kosmos das gerade gegenteil
des Christentums; die liebe zum kosmos ist unvereinbar mit der liebe
zu gott (ddv Tic drand tov köcjhov, ouk Ictiv fj drami tou irarpdc
€v auTÜ)). das wesen des kosmos ist die sinnenlust (f| dmeupia ttjc
capKÖc) und die conventionelle lüge (f| dXaZoveia toö ßfou). ihr
vorbild (typus) ist Kain, der brudermörder. dieselben kräfte, die
diesen zum morde trieben (hasz und neid), sind noch immer im kos-
mos tbätig. das ideal der Christenheit ist Christus, der freiwillig
sein leben für seine brüder hingab, wenn wir also Christo nach-
folgen wollen, so müssen wir auch im sinne dieser aufopfernden
bruderliebe thätig sein, vor dem höchsten opfer nicht zurückscheuen,
aber auch in den kleinen Verlegenheiten des lebens unserm nächsten
hilfreich zur seite stehen.
Zwei merkmale gibt der apostel als besondere kennzeichen
der lügenpropheten (lueubOTrpomfjTai , dvTiXpicroi) an:
1. Sie sind aus dem schosze der christlichen gemeinde hervor-
gegangen , sie haben den namen Christi getragen und äuszerlich
seinem reiche angehört (Schein-, Namenchristen), aber niemals an
dem geiste Christi und des Christentums anteil gehabt (t£ fjjuujv
etfjXOov , dXX' ouk t]cüv i£ fjuüjv). denn sonst wären sie nicht ab-
trünnig geworden, es ist gut, dasz sie den leitern der gemeinde
offen gegenübergetreten sind und dadurch t hat sächlich aus der ge-
meinde ausgeschieden sind.
2. Sie leugnen die messianität Christi , dessen stelle sie gern
selbst einnehmen möchten (Tic dcTIV ö ujcucttjc, ei nn ö dpvoti-
uevoc, öti 'ItJCoGc OUK £ctiv ö XpiCTÖc;). sie leugnen den söhn
gottes in Christo, sie verleugnen damit auch den vater (udc ö dpvou-
uevoc töv uiöv oube töv iraTepct fyei).
Der apostel schlieszt diesen abschnitt mit einer herzlichen er-
mahnung (c. 2,24 — 28) an seine gemeinden, treu festzuhalten an der
botschaft, die ihnen der herr gebracht, und sich nicht durch die Vor-
spiegelungen einer angeblich neuen Wahrheit blenden zu lassen (kgu
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Gedankengang des ersten Johannes-briefes.
vöv, TEKVia, u^vctc iv auiw). dann werden sie in gemeinschaft
mit Christo bleiben und dem tage seiner Wiederkunft (napoucia),
welcher ja nahe bevorsteht (v. 18 Traibia, dcxArrj ÜJpa dcriv), ohne
furcht entgegensehen (i'va, läv <pav€pu)6rj, rcappriaav tyuJMCv).
§ 5. III. hauptteil (c. 2, 29— c. 3 ende).
Die biKGtiocuvr) im lichte des Christentums.
Die haupttugend des alten testamentes ist die gerechtigkeit.
gerecht ist, wer das gesetz erfüllt, da Christus gekommen ist, das
gesetz und die propheten nicht aufzulösen , sondern zu erfüllen , da
also das Christentum nur die weitere ausbildung und vollkommenere
entwicklung des Judentums ist, so bleibt auch nach christlicher lehre
die forderung der gerechtigkeit bestehen (c. 2, 29).
Welches ist aber nach christlicher auffassung das wesen der
gerechtigkeit? zwei extreme (diametrale gegensätze) gilt es zu be-
kämpfen:
1. Die umsturzlehren der irrlehrer, welche, wie es
scheint, das gesetz verwarfen und an dessen stelle die eigne willkür
setzten, denen gegenüber weist der apostel auf das vorbild Christi
hin , dessen lehren und verheiszungen für uns ein immerwährender
antrieb zu rechter gesetzeserftillung sind, und erklärt: 'keine ge-
rechtigkeit ohne gesetzeserfüllung, (c. 3, 7 6 ttoiüjv Tf|V biKaiocüvrjv,
biicaiöc £ctiv, xaGibc dKcivoc öikcuöc £ctiv).
2. Die buch s tabengerechtigk ei t der Pharisäer, welche
den kern des gesetzes (sittengesetz) durch einen wust äuszerlicher
gebrauche (ceremonialgesetz) verschütteten, das Christentum sieht
im ceremonialgesetz, welches die Pharisäer zur hauptsache machten,
etwas unwesentliches, das nur für bestimmte Völker und bestimmte
zeiten eine berechtigung hatte (das gleichnis von den Schläuchen),
um so höhere anforderungen stellt das Christentum an das sittliche
leben, jeder, der gegen die stimme seines gewissens, gegen pflicht
und ehre (die vöuoi drpcupoi der griechischen denker und dichter)
handelt , verstöszt auch gegen das gesetz (ttöc ö ttoiwv Tf|v d|uap-
Tiav Kai if|v dvojiriav iroiei).
Wenn somit das gesetz des alten testamentes zwar auch für den
Christen seine gültigkeit behält, das ceremonialgesetz aber unwesent-
lich ist, so bleibt als kern des gesetzes übrig die forderung: 'du
sollst gott lieben und deinen nächsten wie dich selbst.' gegenüber
den anfechtungen der weit, welche freilich die uneigennützige
nächstenliebe als eine thorheit verspottet, musz sich der Christ mit
dem bewustsein trösten, dasz er aus dem tode ins ewige leben durch-
gedrungen ist (c. 3, 1 7 f\\xe\c otbauev , Öri ucTaßcßruccuaev £k toO
OaväTOU €tc Tf|V Zwriv). indem der apostel dann das wesen der
nächstenliebe erklärt (c. 3,10—12) und in der opferwilligkeit findet,
ermahnt er seine gemeinden, nicht blosz mit dem wort und mit der
zunge, sondern in der that und in der Wahrheit die nächstenliebe 'zu
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Gedankengang des ersten Johannea-briefes.
109
üben, mit dem geist der wabren bruderliebe (rrveOua tt[C dXr)0€iac
Kai Tfjc dTdirrjc) wird auch frieden in unsere seelen einziehen (Trap-
pnciav ^XOM^V irpöc töv 6€Öv). die anklagende stimme unseres ge-
wissens wird im verkehr mit gott verstummen, weil gottes gnädige
stimme machtiger ist (ixe\Lu>v law ö Ö€Öc xf|c Kapbiac fjjiüjv
c. 3, 20). gott der allwissende ist nachsichtiger als irdische richter
(yivujckci tt dt via) , er kennt alles (tout comprendre, c'est tout par-
donner), auch wird unser gebet an wärme und innigkeit gewinnen,
wenn wir die gewisheit haben, dasz gott uns erhören wird.
§ 6. IV. hauptteil (c. 4, 1—6).
Die Schwarmgeister.
Mit der Wendung: 'dasz wir aus gott sind, erkennen wir an dem
geist, den er uns gegeben hat', geht der apostel zu einem neuen ab-
schnitt über , in welchem er das gegenteil dieses geist es, den lügen -
geist und seine kinder, die lügenpropheten schildert, in kurz aus-
geprägten Sätzen entwirft der apostel ein bild von ihnen, zwei
merkmale sind für sie besonders kennzeichnend, ein inneres und ein
äuszeres. das innere, ihrer lehre entnommen, liegt in der behaup-
ttmg, dasz Jesus nicht der im alten testament verheiszene messias
ist: näv irvcöua, ö ur) öhoXoycT töv 'Irjcouv dv capici £Xr|Xu8ÖTa Ik
toö Oeoö ouk £cnv. nicht minder bezeichnend für die kinder des
lügengei&tes (itveöua Tfjc irXdvr)c) sind die äuszeren erfolge, die sie
erringen. Verständnis und beifail finden sie nemlich nur bei den
kindern der weit, weil sie im sinne und geiste der weit reden (Ik
toö KÖqiou XaXoöciv), während die mit gottes geist erfüllten ihren
Verführungen widerstehen (v€ViKr|KaTe ctUTOik). die apostel sind
gottes geistes: wer aus gott ist, hört auf sie; wer gott nicht er-
kennet, hört nicht auf sie. (dieser hauptteil ist die weitere aus-
ftlhrung des zweiten hauptteils.)
§ 7. V. hauptteil (c. 4, 7—5, 5).
Das praktische princip des Christentums.
Mit den worten: Ik toutou Yivuuocouev tö Trveö^ia tt^c dXti-
öetac Kai tö irveöva Tfjc irXdvr|C, deutet der apostel an, dasz er eine
gedankenreihe abschlieszt, und geht mit einer neuen anrede (dra-
irnroi, äYa7TaijLi€V dXXr|Xouc) scheinbar ohne jede Vermittlung zu
einer neuen gedankenentwicklung über, welche das wesen des
Christentums nach verschiedenen Seiten beleuchtet, der innere Zu-
sammenhang zwischen beiden capiteln liegt darin, dasz der geist der
Wahrheit, von dem vorhin die rede war, sich im praktischen leben
als der geist der nächstenliebe erweist. Wahrheit und liebe sind also
nur die beiden seiten eines und desselben wesens (vgl. den schlusz
dieses hauptteils).
Ursprung der liebe (v. 7—13). die liebe ist aus gott, wir
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1 10 Gedankengang des ersten Johannes-briefes.
haben die liebe kennen gelernt an den wohlthaten, die uns gott er-
wiesen bat; vornehmlich durch die Sendung seines sobnes. hat uns
aber gott so geliebt, so müssen auch wir ihn wieder lieben; nun
können wir aber gott weder gutes noch böses erweisen (8eöv oubclc
7Tüjttot€ T68&XTCU), praktisch können wir also die liebe zu gott nur er-
weisen an gottes k in dem, unsern brtidern. so ergibt sich die folgerung :
keine gottesliebe |ohne näcbstenliebe (dctv draTrüJjLiev dXXr|Xouc, 6
8eöc iv fmiv M^vei xa\ fj dTdim, auroö T€TeX€iuundvr| dcrlv dv fiuTv).
(v. 14—16.) Die folgenden gedanken, in denen der apostel
die messianität Christi und die unmittelbarkeit seines Zeugnisses von
dieser messianität eindringlichst hervorhebt, fuhren das vorher an-
geschlagene thema nicht in gerader linie weiter, sondern berühren
das, was den Untergrund dieses themas bildet und im folgenden noch
weiter ausgeführt wird, der glaube an Christus als den verbeiszenen
Messias ist die einzige ]> forte, die zum Christentum führt, nur wer
an den freiwilligen tod Christi, an die uneigennützige opferwilligkeit
seiner liebe zu den menschen glauben kann , gewinnt eine richtige
Vorstellung von dem geist wahrer christlicher liebe, daher betont
der apostel immer und immer wieder, dasz er den herrn noch von
angesicht zu angesicht gesehen und zeuge seines lebens und leidens
gewesen sei. mit den worten: kgu f)M€ic dtvujKauev Kai tt€ttict€U-
xauev Tf|v dYdTnrv, n,v Ixei 6 8€Öc dv fjpfv, kehrt der apostel zu
dem unterbrochenen thema zurück.
Das wesen der liebe, die wahre gottesliebe gibt Seelen-
frieden und freudige Zuversicht am tage des gerichts; sie schlieszt
die (knechtische) furcht, die angst aus (&w ßdXXei töv (pößov).
denn die furcht entspringt aus der Vorstellung von strafe (ö opößoc
KÖXacw £x*0- Christus aber hat uns gott nicht blosz als den strengen
richter, sondern auch als gütigen vater der menschheit erkennen ge-
lehrt, wer sich noch fürchtet vor gott, ist nicht vollkommen in
der liebe.
Wie können wir unsere liebe zu gott bethätigen? nur durch
liebe gegen unsere mitmenschen, denn wer seinen bruder nicht
liebt, den er sieht, wie kann der gott lieben, den er nicht siebt?
( ö Tdp un. orfctTTÜJV töv dbeXmöv , öv dwpaKev , töv 8cöv , öv oux
dujpaicev, ttüjc biJvaTai äTairäv;)
Der tibergang zum letzten hauptteil (c. 5, 1 — 5) behandelt das
Verhältnis von liebe und glaube (entsprechend dem im ersten haupt-
teil über das Verhältnis von yvüjcic und dydTTTj v. 2, 4. 5 gesagten),
die liebe ist ein kind des glaubens und zwar des glaubens an die
messianität Christi, diesen satz begründet der apostel durch folgende
schluszfolgerung: wer glaubt, dasz Jesus der Christ ist, ist ein kind
gottes. [ist er ein kind gottes , so wird er gott als seinen vater lieb
haben.] hat er den vater lieb, so wird er auch dessen kinder, seine
brüder, d. h. seine Mitchristen lieb haben, folglich: wer glaubt, hat
auch liebe, ndc ö ttict6vjujv, ö'ti 'Iricouc dcTiv ö XpiCTÖc . . . dYcniä
xal töv T€T€wr)M^vov il auroö (sc. ix toö 8eo0).
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Gedankengang des ersten Johannes-briefes.
111
Wenn somit das princip des christlichen handelns und lebens,
nemlich die ausübung der bruderliebe, nur aus dem glauben an
Christus, als den erlöser des menscbengescblechtes , herflieszt, so ist
dersatz: 'Irjcoöc 6 XpiCTÖC der ausgangs- und angelpunkt alles
Christentums, diesen satz als den wichtigsten bebandelt daher
der apostel im letzten hauptteil, nachdem er noch kurz auf die er-
folge des glaubens , nemlich auf seine weltüberwindende kraft hin-
gewiesen hat. (TIC dCTIV 6 VIKÜJV TOV KOCJLiOV €1 Jlf) Ö 7TICT€ÜUJV, ÖTl
'It]coöc dcnv ö uiöc toO eeoö;)
§ 8. VI. hauptteil (c. 5, 6—17).
Das dogmatische princip des Christentums.
Das Christentum steht und fällt mit dem satze: 3lt]coüc 6
XpicTÖc. daher führt der apostel im letzten teil alle beweise auf,
die für die Wahrheit dieses satzes sprechen, er unterscheidet ob-
jeetive (äuszere) und subjective (innere) Zeugnisse, die objectiven
Zeugnisse sind zweifacher art:
1. himmlische: vater, wort (Xöyoc) und geist. (Ver-
gangenheit, gegenwart und zukunft des gottesreiches von Christi
Zeitalter gerechnet.)
2. irdische: wasser, blut und heiliger geist.
Diesen äuszeren Zeugnissen schlieszt der apostel als subjectiv
stärkstes zeugnis ein inneres an (v. lOTfjv ^apTUpiav tv dauTqj):
die erfahrung, die jeder tiberzeugungstreue Christ an sich selbst
macht, nemlich die gewisheit von der beseligenden kraft des
glaubens. wer weisz, dasz er aus dem tode ins ewige leben hin-
durchgedrungen ist, für den persönlich ist diese erfahrung der
stärkste beweis von der richtigkeit des glaubens.
Nunmehr (v. 13—17) bestimmt der apostel den zweck seines
Schreibens genauer dahin, eben dieses bewustsein, dasz die gläubigen
Christen, für welche er schreibt, durch den glauben an Christus das
ewige leben bereits gewonnen haben, zu erwecken und zu stärken
(Iva eibn,T€, öti lwt\v ^X^tc cuujviov). durch diese erkenntnis wird
dann auch das rechte Verhältnis zu gott wiederhergestellt : der ver-
kehr mit gott im gebet wird an innigkeit und aufrichtigkeit ge-
winnen, da die Christen die Überzeugung haben dürfen, dasz gott
ihre bitten, sofern sie vernünftig sind (kcttci TO G^XrjjLia ai/roö), er-
hört, besonders empfiehlt der apostel noch diejenige bitte, welche
dem christlichen leben eigentümlich ist, die fürbitte. wenn
jemand einen seiner brüder sündigen sieht, von dem er glaubt,
dasz er noch auf den rechten weg zurückgeführt werden kann
und noch nicht vollständig für alles gute verloren ist (duapTctvOVTa
äuapTiav pf) Trpöc Gdvarov), so soll er ihn in sein gebet ein-
8chlie8zen und nach kräften bemüht sein , ihn für das ewige leben
wiederzugewinnen.
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112
Personalnotizen.
§9-
Schlusz.
Zum schlusz faszt der apostel die bauptgedanken seines Schrei-
bens in drei durch die anapher kraftvoll gehobenen Sätzen zusammen,
die im letzten satze (oibauev bk) gipfeln:
1. wir wißsen, dasz die kinder gottes nicht sündigen, weil der
böse ihnen nichts anhaben kann (oux aVreTCti ctuxujv).
2. wir wissen, dasz wir kinder gottes sind, während die ganze
weit in der macht des bösen liegt (dv tüj 7rovr]puJ KCirai).
3. wir wissen endlich (bfc), dasz der söhn gottes in die weit ge-
kommen ist und uns in die kindschaft gottes eingeführt hat; ohne
ihn kein ewiges leben.
Die schluszfolgerung des apostels in den drei Sätzen ist folgende :
1. als Christen können wir nicht mehr sündigen, haben also das
ewige leben erreicht und zwar
2. weil wir gottes kinder sind ; gottes kinder sind wir
3. durch den söhn gottes, Jesus Christus geworden, folglich
verdanken wir nur Christus das ewige leben.
Daher schlieszt der apostel mit der warnung vor den falschen
lehren, welche Christus anfechten. T€KVia, <puXd£aT€ £auiouc
dtnd tüjv elbwXujv.
Hirschberg in Schlesien. P. Regell.
(6.)
PERSONALNOTIZEN.
erhielten den k. pr. roten
adlerorden IV cl.
mutigen , befördern
Anem aller, dr., ord. lehrer am gymn. in Detmold, zum bibliothekar
der dortigen landesbibliothek ernannt.
Beruhardi, drM rector des gymti. in Schneeberg, zum rector des landes-
nnd fürstenschule in Grimma ernannt.
Buchenau, dr., director des k. gymn. zu
Marburg (Hessen),
Ellendt, dr., prof. am Friedrichs-collegiura
zu Königsberg i. Pr.,
Fuss, dr., director des gymn. bei St. Stephan
in Straszburg i. E.,
Goldbeck, dr., director der Charlotten-
schule in Berlin,
Gestorben:
Oesterley, Hermann, dr. prof., Universitätsbibliothekarin Breslau,
anfang fcbruar zu Boppard, 57 jähr alt.
Pestalozzi, Karl, prof. der ingenieurwissenschaften am polytechnicum
in Zürich, am 14 januar, 66 jähr alt (enkel J. H. Pestalozzis':.
Petzhold t, Julius, dr. geh. hofrat, vordem bibliothekar sr. maj. des
königs von Sachsen, am 17 januar in Dresden, 79 jähr alt.
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ZWEITE ABTEILUNG
FÜR GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AUSSCHLUSS DIR CLA88I8CHKN PHILOLOGIE
HERAU8GEOEBEN VON PROF. DR. HERMANN MASIUS.
10.
BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DES HÖHEREN SCHUL
WESENS IN DER OBERLAUSITZ.
L
Die schulen der Sechsstädte von ihren anfangen bis zur
reformation (1520—30).'
Nach den capitula de presbyteris admonendis Karls des groszen
waren die pfarrer verpflichtet , in ihren pfarreien schüler zu halten
und sie mit den gottesdienstlichen Verrichtungen so bekannt zu
machen, dasz sie nötigenfalls für ihren herrn eintreten konnten;
lesen, singen und etwas latein waren die Unterrichtsfächer, trotz
der gleicbgtlltigkeit der nachfolgenden herscher gegen diese schulen
blieben sie doch bestehen, schon deshalb, 'weil der kirchliche dienst
es erforderte, dasz der pfarrer gehilfen um sich habe, die bei der
messe dienen und singen', und Specht gibt in der geschichte des
Unterrichts wesens s. 38 f. einige belege aus dem 1 In, 12n und 13n
Jahrhundert dafür, dasz bischöfe die pfarrer an ihre Verpflichtung
erinnerten.
Dasz auch an den kirchen in der Oberlausitz, womöglich schon
von ihrer gründung an, pfarrschulen bestanden haben, ist nach alle-
1 ein teil der folgenden ausführungen sind in anderer form schon
einmal im programm des gymnasiums zu Zittau 1889 gedruckt gewesen,
dieser wiederholte abdruck war jedoch dem verf. deshalb wünschens-
wert, weil infolge einer sehr liebenswürdigen brieflichen beurteilung
des programms durch hrn. pro f. Knothe in Dresden mehrere Ände-
rungen sich nötig machten, und weil der verf. bei einer Veröffentlichung
derjenigen betrachtungen, welche er wegen raummangels in das pro-
gramm nicht mit aufnehmen konnte, diese von den ersten nicht trennen
wollte, hrn. prof. Knothe zollt der verf. hier nochmals für seine mit-
teilnngen den verbindlichsten dank.
W. frhrb f. pbil. a. pld. II. «bt. 1891 hft. 3. 8
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1 14 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
dem sehr wahrscheinlich, als sicher kann es aber hingestellt werden
für die zeit nach der erhebung der hauptorte zu Städten , welche bei
Bautzen vor 1002, bei Görlitz, Zittau, Lauban, Lübau und Kamenz
am ende des 12n und in der ersten hälfte des 13n jahrhunderts er-
folgt ist. bei dem mangel jeglicher nachrieht läszt sich jedoch über
diese sechs oberlausitzischen pfarrschulen weiter nichts sagen ; das
glauben wir aber im folgenden ausführen zu können, dasz sie die
anfange des höheren Schulwesens in der Oberlausitz darstellen, dasz
aus ihnen die lateinschulen des 14n, 15n und 16n jahrhunderts, und
somit auch die gymnasien hervorgiengen, wovon die eevangelische
schule' zu Bautzen, welche im jähre 1527 bzw. 1542 von der stifts-
schule sich abzweigte , nicht ausgenommen zu werden braucht.
Zunächst wollen wir die ersten erwfthnungen der schulen der
genannten städte, welche im jähre 1346 zu dem oberlausitzischen
Sechsstädtebunde sich vereinigten, angeben und, da diese ersten an-
führungen geradezu dazu einladen, einiges über das Verhältnis der
schulen zur kirche und zum rate sagen.
Des Bautzener Schulwesens wird zum ersten male gedacht im
jähre 1218: unter den kanonikern des 1210 gegründeten collegiat-
stiftes* finden wir auch einen 'scolasticus*. das zweite und dritte
mal erscheint die schule in Urkunden, von denen die eine aus dem
jähre 1331, im Bautzener domarchive, einen Petrus, rector scolarum
in Budissin, die andere aus dem jähre 1333, im hauptstaatsarchive
zu Dresden, origin. nr. 2634, einen Heinricus, rector scolarum in
Budissin, nennt, während wir aus der ersten anführung nur auf
das dasein einer stiftsschule schlieszen , mit den beiden andern aber
weiter nichts anfangen können , erhalten wir gröszere klarheit aus
der Concordia Carolina (1364)*, durch welche wir erfahren, dasz
* nach Vitzk, chronicon venerandi capituli et collegiatae eccles.
Budissin. im Inusitzischen magazin bd. 33 1857 s. 186 ff., s. a. 1210.
die domkirche wurde erst 1221 geweiht.
8 Knauthe hat sie, soweit sie sich auf die schule bezieht, in der
nachlese oberlaus, nachrichten 1771 s. 93 abdrucken lassen: Carolus IV.
divina favente dementia Romanorum Imperator Semper Augustus &
Hohemiae rex. Notum faeimus tenore presentium universis, qvod du-
dum inter honorabiles Praepositum, Decanum & Capitulum ecclesiae
Budissinensis ex uua, & dilectos nobis Judices, Juratos & Com ra Imi-
tate m ejusdem civitatis Budissin parte ab alia supra infra scriptis arti -
culis seu capitibus suborta materia questionis, nos ad petitionem utrius-
que partis eandem quaestionem seu causam venerabilibus, Joanni Olo-
mucensi Episcopo, J. Burkardo, ßurgrgravio Magdeburgensi & Praeposito
Wischerad: Keirni nostri Bohemiae supremo Uancellario, Principibus,
Consiliariis & deuotis nostris dilectis, commisimus audiendam & cora-
positione amicabili aut jure debito decidendam, qui Joannes & Burkar-
dus, cognitis dictae causae seu quaestionis meritis & informatione
sufficienti ac deliberatione diligenti & maturo sapientuin consilio prae-
habitis ordinauerunt & diffinierunt inter partes praedictas prout sequi-
tnr, in hunc modum: Inprimis dixerunt, ordinauerunt & diffinierunt,
quod electio Rectoris scholae spectet & pertineat, spectare & pertinere
debeat ad Praepositum, Decanum & Capitulum ecclesiae Budissinensis
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Beiträge zur geschichte des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 1 15
während der ersten hälfte des 14n jahrhunderts oder noch früher
(^dudum) Streitigkeiten zwischen dem rate und dem capitel bestanden,
weil jener einflusz auf die schule verlangte, und dasz nach einer von
kaiser Karl IV angeordneten Untersuchung im jähre 1364 bestimmt
wurde, dasz die wähl des rectors der schule dem domcapitel zukäme,
eine entscheidung, mit welcher eine zweite aus dem jähre 1388 im
Zusammenhang steht, durch welche fdie vom kaiser Karl vertragene
Sache, insonderheit von des Schulmeisters Annehm- oder erwehlung
auch desselben Verenderung und dasz die Erkenntnis bei den Dom-
herren und nicht bei den Bürgern sein solle', von bischof Nicolaus
bestätigt wurde.
Mit welchem rechte, so fragen wir, stellte der rat jene forde-
rung? die an t, wort scheint leicht zu sein, denn wenn der rat das
recht für sich beanspruchte, den rector zu wählen, so konnte die
schule nur die des rates sein, es wären dann die Verhältnisse in
Bautzen dieselben gewesen wie in andern städten Deutschlands , wo
ein capitel war und der domscholaster das recht sich wahrte, die
schule , vom rate gegründet und unterhalten , mit einem rector zu
versehen , während der rat das recht der kirche zu bezweifeln an-
neng und im interesse der städtischen Selbstregierung auch in den
Schulangelegenheiten allmählich neue zustände herbeizuführen strebte
(Specht s. 187 f. und s. 262).
Die annähme einer städtischen schule ist aber irrig, denn wenn
damals wirklich eine solche bestanden und, woran niemand zweifeln
würde, bis zur reformation fortgeblttht hätte, würden ganz bestimmte
nachrichten aus der ersten hälfte des 16n jahrhunderts geradezu un-
erklärlich sein, in einem 'nachtrag des in der Ferdinandischen de-
cision (1544) ermangelnden (capituli gravamina contra senatum
& quod praedicti Praepositus, Decanus & Capitulum debeant & teneantur
virum idoneum ad dictum regimen quotiescunque vacare contigerit,
assaniere, qui dicto regimini praeesse valeat & sit utilis tarn ecclesiae
quam pueris seu scholaribus & eos possit utiliter in scientia & iu mori-
bus informare, & quod dicti pueri seu scholares teneantur omnibus &
singulis festiuis diebus Missis & vesperis duntaxat in dicta ecclesia
interesse. — — Datum Bndi9sinae etc. — Dem fügen wir zur Vervoll-
ständigung au» dem verz. oberlaus. Urkunden, Görlitz 1799 ff. nr. 395,
folgende inhaltsangabe hinzu: Karolus imp. diffinitionem Joannis ep. et
Joannis Burcardi burggr. inter capitulum ecclesie Budissinensis et iudices
iuratos et coramunitatem ciuitatis Budissin obseruandam preeipit et pro-
mulgat: quod electio rectoris schole spectet ad prepositum, decanum et
capitulam; consules et ciues Budissinenses vitricum seu procuratorem
ecclesie cum consensu capituli eligere teneantur; oblaciones in altari
bospitalis ad capitulum, oblatn in et super crucem ad prouisorem siue
inhrmos pertineant; ad capitulum spectet sepultura mortuorura, potestas
• pulsandi campanas, excepta magna campana, de enius emolumento vitricus
raciones reddet; in causis contra ciues forum rei sit sequendum. d. Bu-
dissin, Mccclxiiij. xiij. kal. July. — Die bestätigung von 1388 siehe bei
Weinart, rechte und gewohnheiten der beiden markgraftümer Ober- und
Niederlausitz, Leipzig 1793, I s. 220 und daraus in dem verz. oberlaus.
Urkunden, Görlitz 1799 nr. 620.
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1 16 Beiträge zur geschichte des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
Budissillensem),4 lesen wir folgendes: fUeberdiesz nette Ein Rath
auch ietzunder etliche jähr hero eine Gemein Schul aufgerichtet,
alda die Stadt von Alters keine, Sondern Sie vom Stifft
die Schule gehabt, Und ob wohl Sie bey der Stadt etwan in
eines Bürgers i laus/ auch einen sonderlichen geschickten Mann ge-
habt, etlich der gewegnigsten Kinder daselbsten, Insonderheit zu
lernen, Nachdem wehre daszelbig des Stiffts Schule nicht nachtheilig
gewest, aber ietzunder weis tu Ein Rath nicht allein fast alle ihre
Kinder in der Stadt von des Stiffts Schule, Sondern auch verwehrten
den Landkindern, in des Stiffts Schul zu kommen.' die in den ein-
gangsworten erwähnte aufrichtung einer 'Gemein Schul' erfolgte
aber um 1530 (oder ein bis zwei jähre früher), als das capitel unter
dem decan Küchler nach vorausgegangener begünstigung der refor-
mation ganz plötzlich zum katholicismus zurückgekehrt, der rat aber
mit der bürgerschaft der Lutherischen lehre treu geblieben war und
fortan für die kirche und schule sorgen muste. damals also hatte
der rat noch keine schule, wohl aber unterhielt er einen privat-
lehrer, und diesem vertraute er nun die leitung der neuen anstatt
an und suchte dieselbe durch Zuwendung alter Stiftungen zu stützen
(vgl. Vitzk s. a. 1529 und 1540).
Die schule in den entscheidungen von 1364 und 1388 kann
daher nur eine stiftsschule gewesen sein , dieselbe , welche in der so
eben angeführten stelle (nach trag usw.) genannt ist. wunderbar ist
es dabei allerdings, dasz der rat auf dieselbe einflusz haben wollte,
auf eine schule , welche dem capitel gehörte.
Auch hierfür glauben wir eine erklärung geben zu können,
nach der Widerlegung seitens des rates auf die 1544 erhobenen gra-
vamina (Weinart s. 222 f.) lagen anfänglich und lang zuvor, d. h.
vor der gründung des capitels, die häuser der geistlichen in stadt-
rechten; daraus gehe hervor, dasz die kirche zu Bautzen eine städtische
war. 1221 wurde sodann diese von der Stadt gebaute und unter
städtischem patronate stehende kirche zur collegiatkirche erhoben,
womit natürlich zusammenhieng, dasz der rat das patronatsrecht
auf die stadtpfarre aufgab; aber nicht nur dieses gab er aus der
hand, sondern auch zugleich, da wir bei der kirche eine pfarrschule
annehmen müssen , das recht auf diese schule , freilich ohne bei der
Sachlage zu jener zeit voraussehen zu können, welche Schlüsse künftig
daraus gezogen werden könnten.5 es musz auch zwischen rat und
capitel sehr bald zum streite gekommen sein, da sich schon 1303
ersterer veranlaszt sah, die bestimmung mehrerer Stiftungen an den
4 in Weinart s rechten und gewohnheiten I s. 218, wo die bemerkung
hinzugefügt ist: raus einer guten handschrifV. die erwähnte stelle steht
auf s. 219. Edelmann, das Franciscanerkloster in Bautzen, laus. mag.
bd. 49. 1872 s. 30, scheint die Handschrift selbst benutzt zu haben.
5 vgl. zu den vom rat erhobenen ansprüchen Neumann, geschichte
der geistlichen administratur des bistums Meiszen in der Oberlausitz,
laus. mag. bd. 36 1860 s. 192. 199 f. 227 f.
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Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 117
kirchen St. Peter und St. Maria extra muros urkundlich festzustellen,
um dadurch eine mögliche misbräuchliche Verwendung zu verhindern.6
und aus der erwähnten Widerlegung ersehen wir , dasz der rat noch
in der mitte des 16n jahrhunderts daran festhielt, dasz die collegiat-
kirebe ursprünglich eigentum der Stadt gewesen sei.
Wie sehr aber der rat auch bestrebt war , den stand der dinge
vor der gründung des capitels bezüglich des patronats wenigstens
annähernd wieder herzustellen, können wir eben aus dem streite er-
kennen, der durch die Concordia Carolina 1364 und durch die be-
stätigung derselben durch bischof Nicolaus im jähre 1388 beendigt
wurde, zwei entscheidungen, welche für unsere behauptung, zugleich
mit der städtischen kirche sei auch die damit verbundene schule an
das capitel übergegangen, von gröster Wichtigkeit sind, wir finden
besonders in der Concordia Carolina nicht blosz der schule gedacht,
sondern so ziemlich alles dessen, was überhaupt hinsichtlich des
patronats in kirchen- und schulsachen eine weltliche behörde von
einem domcapitel verlangen konnte, alle forderungen waren jedoch
vergebens, des rates schule war ganz und gar zur stiftsschule ge-
worden (selbstredend eine sogenannte äuszere schule, schola externa,
für die bürgerkinder, neben welcher noch eine innere oder chor-
schule, schola interna, bestand); während er vor 1210 den rector
wählen durfte, so muste er dies nachher und besonders infolge dieses
kaiserlichen Schiedsspruches dem capitel überlassen, welchem nur
zur p flicht gemacht wurde, bei der wähl mit aller Sorgfalt zu ver-
fahren, aber auch in bezug auf die kirche gewährte die Concordia
Carolina fast nichts : es durfte zwar ein weltlicher kirchenvorsteher
vom rate gewählt werden, aber nur einer, welcher dem capitel ge-
nehm war ; dieser Vertreter des rates hatte zwar die Verwaltung der
Kirchhöfe der stifts- und Marienkirche u. a. m., aber seine Verfügun-
gen wurden erst rechtskräftig durch die Zustimmung des capitels;
der glöckner und der totengräber standen unter der obersten auf-
sieht des capitels. das einzige recht, welches dem rate zuerkannt
wurde, war, dasz die geistlichen in civilsachen sich dem ausspruche
des Stadtgerichtes zu fügen und dessen competenz anzuerkennen
hätten.
Wenn wir demnach auszuführen versucht haben, dasz von
frühester zeit an bei der Bautzener pfarrkirche auch eine schule
war, welche mit jener unter städtischem patronat stand, dasz kirche
und schule bei der gründung des capitels an dieses übergi engen und
dasz etwa bis 1530 neben der stiftsschule eine besondere städtische
schule nicht vorhanden war, so sind wir damit zu anderen ergeb-
nissen gelangt als Job. Müller in einer abhandlung über die anfange
des sächsischen Schulwesens im n. archiv f. sächs. gesch. von Ermisch
bd. VIII s. 23 ff. und s. 258 ff. eine kurze Widerlegung möge hier
platz finden.
6 die Urkunde bei Köhler, cod. dipl. Lusatiae sup. bd. I s. 172.
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118 Beiträge zur geschichte des höh. Schulwesens in der Oberlausitz
Müller nimmt neinlich am domstift nur eine chorschule an,
welche der in Meiszen (über sie a. o. s. 11 ff.) nachgebildet gewesen
sei; in älterer zeit sei sie von dem scholasticus, später (etwa von
1350 an) von einem cantor geleitet worden, mit dem unterrichte
der städtischen jugend Bautzens hatten nach ihm diese stiftsscbule
und die pfründe des scholasticus und das amt des cantors anfangs
gewis nichts zu thun, eine ansieht, welche auch Knothe, archiv V
s. 113 (zur ältesten geschichte der Stadt Bautzen) ausspricht, die
Stadt habe vielmehr eine eigne schule besessen, welche sich bei der
pfarrkirebe entwickelte, für die existenz dieser schule und gegen
die existenz einer äuszeren Stiftsschule werden folgende gründe
vorgebracht: erstens wird in den Konradinischen stifts Statuten
vom jähre 1372 zwar von schülern, nie aber von einem schul-
rector gesprochen, die schüler sind dem stiftscantor und seinen
provisores unmittelbar unterstellt; zweitens wird eine sogenannte
äuszere schule beim stift nie erwähnt und drittens stellt sich die
Bautzener schule in der (von uns späterhin noch genauer zu be-
handelnden) Schulordnung vom jähre 1418 als eine städtische dar;
auch in diesem letzten punkte stimmt Müller und Knothe a. o. s. 114
tiberein.
Von diesen behauptungen geben wir, wie sich oben zeigte, die
erste zu: beim capitel mag eine chorschule bestanden haben, von
welcher wir freilich nicht viel wissen, die zweite leidet aber an einer
groszen unwahrscheinlichkeit. denn wir erfahren aus zahlreichen
beispielen, dasz sich das domstift bzw. der domscholaster Uberall
und während des ganzen mittelalters gegen die gründung neuer
schulen auf« entschiedenste aussprach oder, wenn eine schule doch
gegründet wurde, den patronat beanspruchte und denselben auch
erhielt, beispielsweise sei hier nur auf die Streitigkeiten in Ham-
burg , in Lübeck und ganz besonders in Braunschweig hingewiesen,
anzunehmen dasz es in Bautzen anders war, liegt kein grund vor.
was nun den umstand anlangt, dasz in den Statuten von 1372 eines
vom capitel abhängigen schulrectors nicht gedacht wird, so gibt
Müller selbst zu , dasz dies in bezug auf die von ihm angenommene
städtische anstalt befremde , welche ja acht jähre vorher durch die
Concor diu Carolina ausdrücklich unter die Oberaufsicht des capitels
gestellt worden war. seine erklärung aber, die Stadtschule wäre dem
einflusse des stiftscapitels bald weniger unterstellt gewesen, so dasz
also 1372 (nur acht jähre später!) in den Statuten der rector fehlen
durfte, entspricht sicherlich bei der groszen Zähigkeit, mit der die
domscholaster ihr ziel verfolgten und an dem erreichten festhielten,
auch den Bautzener Verhältnissen durchaus nicht, die richtige erklä-
rung ist vielmehr die, dasz der schulrector in den Konradiniscben
stiftsstatuten von 1372 fehlt, weil überhaupt keine veranlassung
vorlag, ihn zu erwähnen, leider konnte ich die Statuten nicht er-
langen, weshalb ich mich mit dem begnügen musz, was Müller
daraus anführt; ich nehme dabei an, dasz er alle für unsern gegen-
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Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 119
stand wichtigen stellen ausgezogen hat.7 danach ist § 17 derjenige,
in welchem von schtilern gesprochen und in welchem also auch die
erwäbnung des rectors erwartet wird ; an dessen statt erscheint aber
nur der cantor, und zwar, wie ich meine, mit vollem rechte, denn
da alle dort geforderten Verrichtungen rein kirchliche sind (cin choro*
ist fünfmal ausdrücklich hinzugesetzt) und da infolge dessen Müller
mit recht behauptet, die § 17 genannten pueri seien die schüler der
inneren schule, in welcher nur knaben zu gottesdienstlichen zwecken
unterrichtet wurden, was er für Meiszen a. o. 8. 11 f. nachgewiesen
hat, so war eben nur die erwähnung des cantors nötig, desjenigen
kanonikers, welchem die leitung des chorgesanges und der Unter-
richt in demselben oblag, und der schulrector hätte erst erwähnt
werden müssen, sobald in den Statuten auch über den Unterricht
gesprochen wurde, der nicht blosz die abrichtung der knaben für
den gottesdienst zum ziele hatte, daraus folgt also, dasz Müllers
erster grund nichts beweist und dasz er weder von ihm, um die
existenz der schola externa zu leugnen, noch von uns im entgegen-
gesetzten sinne verwendet werden kann.
Der zweite grund Müllers, man höre nie etwas von der äuszeren
stiftsschule , verliert schon an beweiskraft, wenn wir auf die vielen
lücken in der geschichtlichen Überlieferung während des mittelalters
überhaupt hinweisen; überdies wird des stiftes schule in der hand-
schrift bei Weinart, wenn auch erst im 16n Jahrhundert, wirklich
erwähnt, der schwächste grund dürfte aber der sein , welchen
Müller und Knothe aus der Schulordnung vom jähre 1418 für das
Vorhandensein einer städtischen schule entnehmen, wir unsererseits
vermögen nicht einzusehen, warum wir zu einer solchen annähme
gezwungen sein sollten, denn mit weglassung alles dessen, was
etwa einen schlusz auf das patronatsrecht oder ähnliches zuliesze,
bestimmt diese Schulordnung ausschlieszlich , welche abgaben die
schüler bei den verschiedensten gelegenheiten an die lehrer zu ent-
richten haben, und derartiges war doch nicht blosz an Stadtschulen
gebräuchlich, auch die Überschrift, welche sie in einer handschrift
des Bautzener archivs (rep. IV sect. III Aa nr. 1) trägt : f Alte Schul-
ordnung und Gewonheit Anno 1418 bei Heren Niclas Königsberg,
hern Niclas Brügern und Meister Frentzen', bietet uns keine hand
habe zur bestimmung der art der schule, für welche sie verfaszt war.
denn die genannten männer sind die lehrer, unter oder von denen
7 die von Müller angeführten stellen sind diese: rcantor cum pro-
vi6oribus stabit iuxta pueros in choro; surjrent cantor et provisores
et stabunt circa pueros in choro; tunc duo pueri cum thuribulis venient
et thurificabunt ambo, cantorem primo et tunc qailibet i Horum puero-
nun tharificabit unum ex provisoribas, et illa thuriticatione facta cantor
stabit in medio chori ante pulpituro, et provisores stabunt iuxta pueros,
qailibet in uno choro, quoasque dicetur Gloria patri, tunc etiam cantor
ibit et stabit iuxta pueros, quousque compleatur antiphona; et in choro
habeat cantor correctoreui puerornm.'
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120 Beiträge zur geschichte des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
das, was schon längst an der stiftsschule brauch war, aufgeschrieben
wurde (vgl. unten).
Wenn wir nun gezeigt zu haben glauben, dasz die gründe,
welche Müller gegen das Vorhandensein einer äuszeren stiftsschule
vorbringt, nicht stichhaltig sind, beziehentlich sich ebenso gut gegen
seine städtische schule gebrauchen lassen , wollen wir zum schlusz
noch auf das unzutreffende seiner Vermutung, die städtische schule
habe sich bei der pfarrkirche entwickelt, aufmerksam machen, das
ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil diese 1293 geweihte kirche
zu St. Maria als des rates pfarrkirche keineswegs gelten darf, denn
wie aus der gründungsurkunde hervorgeht (cod. dipl. Lus. sup. I
s. 137), war sie 'nicht eigentlich eine pfarr-, sondern nur eine filial-
kirche von der Stiftskirche; der pfarrer war angestellt vom capitel
und lediglich im dienste desselben'; seine parochianen waren nicht
die Bautzener der stadt, sondern die der Vorstädte und dörfer; er
durfte nicht predigen auszer am kircb weihfeste, sondern muste die
gemeinde auffordern zur predigt , ad ecclesiam conventualem (d. h.
zur Stiftskirche) convolare, geradezu unmöglich ist es also, an einer
solchen kirche eine städtische schule zu suchen.
Die ansichten Knauthes, von denen Schulbüchern, welche in
denen oberlausitzischen schulen vor der reformation Lutheri ge-
braucht worden, Görlitz 1759, s. 4 ff., Kliens, kurze nachricht über
die begründung des Budissiner gymnasiums, 1846, 8. 5, und Hesslers,
die milden Stiftungen der stadt Bautzen, 1850, III s. 4, bedürfen
einer besondern Widerlegung oder berichtigung nicht.
Die schule in Görlitz wird im 14n Jahrhundert erwähnt: in
der mitte desselben wirkten an ihr ein meister mit seinen baccalaurei
und einem signator, und in den ältesten ratsrechnungen , aus den
jähren 1376 und 1377, kommt der 'magister schote', mit namen
Peter, und das scbulgebäude selbst ziemlich häufig vor ; z. b. wird im
jähre 1376 'ebirhard cum magistro schole versus Sittavia' geschickt,
rmagist. schole versus Budissin', 'peter rothe magister peter
cum Notario versus Budissin et Kothbus' usw. , naehrichten , denen
wir in den rechnungen deshalb begegnen, weil die den betreffenden
boten gezahlten diäten verzeichnet werden musten ; und über das
schulgebäude finden wir aus dem jähre 1376 die nachricht : 'Domi-
nica ante rogacionib das man die schule Bedelit hat
und gebessirt vor Bret nagil et cymmyr. Xj szo.' damit sind die
stellen zu vergleichen, welche Crudelius, notizen zur geschichte von
Görlitz (handschrift im besitze der oberlaus, gesellsch. d. wissensch.)
bd. II bl. 55 b über das schulgebäude aus den ratsrechnungen aus-
gezogen hat, vollständig abgedruckt in des verf. osterprogramm
Zittau 1889 anm. 26.
Von mag. Peter erfahren wir endlich aus den stadtbüchern,
dasz er 1377 in den rat gewählt worden, 1383 stadtschreiber und
1398 bürgermeister geworden ist.
Nach allen diesen anführungen stellt sich die Görlitzer schule
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Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 121
als eine städtische dar, deren gründungsjahr wir nicht kennen, aus
bestimmten thatsachen aber unter dem hinweis auf das oben gesagte
vielleicht annähernd angeben können.
Es ist sehr wahrscheinlich und Knauthe hat es in seiner schrift
cdas gymnasium Augustum zu Görlitz* (1765) 8. 2 £ weiter aus-
geführt, dasz Görlitz schon im lln jahrhundert eine parochialkirche
and somit auch eine pfarrschule hatte, die läge beider war auszer-
halb der stadt, was bezüglich der kirche unter anderen Joh. Hass
(f 1544) in dem 3n bände der Görlitzer ratsannalen (bd. IV der
scriptt. rer. Lus. s. 244 f.) bezeugt, der kirch- und schulweg mochte
recht unbequem sein (man hatte in der stadt ja nur die Capelle
St Petri und von 1245 an die Franciscanerkirche) , und so kam es,
dasz der rat im anfang des I4n jahrhundert s um die erlaubnis bat,
innerhalb der stadt eine kirche errichten zu dürfen. 1317 wurde
diese erlaubnis vom papst Johannes XXII erteilt, und sehr bald ist
man jedenfalls daran gegangen, die Petricapelle zu der neuen stadt-
kirche umzubauen, wenn sich auch die Vollendung dieser kirche
wegen der unruhigen zeiten lange hinzog , so darf mit Knauthe an-
genommen werden , dasz man mit der gründung der schule inner-
halb der stadt nicht gezögert bat, so dasz sie noch in dem zweiten
oder in dem dritten jahrzehnt des 1 -In jahrhunderts eröffnet wurde,
vielleicht kann diese annähme noch durch folgendes gestützt werden.
1376 finden wir in den erwähnten ratsrechnungen die schule in dem
am Peterskirchenplan gelegenen Sidelhof (Herrenhof) untergebracht,
welcher ursprünglich als waidniederlage gedient hatte (im stadt-
buche vom jähre 1305 8. a. 1330) und nach 1330 vom rate gekauft
worden war — eine thatsache , welche zu folgenden Vermutungen
anlasz gibt: entweder wollte der rat seiner neu zu gründenden schule
genügende räume schaffen oder der bereits gegründeten eine bessere
behausung gewähren, als es bei der gründung möglich gewesen war.
dasz aber Görlitz in jener zeit seiner ganzen entwicklung gemäsz
danach streben muste, eine eigne schule zu haben, kann durch nichts
besser bezeugt werden als durch die kurze Charakteristik Knothes
in der geschiente des oberlaus, adels (Leipzig 1879) s. 610: 'seit
der teilung der Oberlausitz im jähre 1268, durch welche Görlitz die
hauptstadt der östlichen landeshälfte wurde, übte es, mit zahlreichen
Privilegien ausgestattet, zumal mit dem von 1303, wodurch die
gesamte obergerichtsbarkeit im Weichbild, auch die über den adel,
lediglich dem städtischen gerichte zu Görlitz zugewiesen ward, durch
handel und gewerbe wohlhabend und selbstbewust, im besitze vieler
und bedeutender stadtdörfer, von einem thatkräftigen magistrat ge-
leitet, einen in jeder hinsieht maszgebenden einflusz auf die geschicke
der gesamten Oberlausitz. '
In welchem Verhältnis stand aber diese neue schule zur alten?
haben wir sie als parallelanstalt der pfarrschule zu betrachten oder
anzunehmen, dasz mit der gründung der neuen die alte ganz und
gar aufhörte zu bestehen? wir möchten der zweiten möglichkeit zu-
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122 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
neigen, denn da die neue schule mit der parochialkirche St. Nicolai
so lange in Verbindung stand , als diese parochialkirche blieb, d. h.
bis in das 16e Jahrhundert — vgl. weiter unten die Streitigkeiten,
welche im 15n jahrhundert zwischen dem pfarrer und den lehrern
deshalb entstanden , weil jener diesen den freien tisch nicht mehr
gewähren wollte — so hätte es bis dahin zwei schulen gegeben, wo-
für das bedtirfnis gewis nicht vorlag; es müste denn sein, dasz die
pfarrschule nötig war zur heranbildung von schülern für den gottes-
dienst, eine bestimmung, welcher, besonders so lange die Peterskirche
noch nicht vollendet war, auch die neue schule ganz leicht gerecht
werden konnte.
Höchst wahrscheinlich also hat der rat in der ersten hälfte des
14n Jahrhunderts die von der kirche gegründete schule durch irgend
einen vertrag in seine obhut genommen, freilich hat er in dieser
ersten zeit wenig genug für sie gethan: das einzige war, dasz er ihr
ein haus anwies und es in gutem stände erhielt (s. oben), denn
daran, dasz der Schulmeister mit seinen gesellen vom rate einen
gehalt bezog, dürfen wir in Görlitz ebenso wenig wie anderwärts
denken, da dem rate nur geringe mittel zur Verfügung standen und
da er überdies, allerdings nur hierin, der meinung war, dasz die
schule zur kirche gehöre.
So schreibt Hass in dem bericht 'von den priestirzinsen, predi-
gern, schulmeistern, baccalarien, capellann, bospitalien etc., moniebe'
(1536) über des 'Schulmeisters alt einkornen* : 'Der schulmeistir mit
seinen viern baccalaureen vnd cantorj haben sich alle der schule past
(einkommen, von denen einige aufgezählt werden) . . . erhalden
müssen. Vnd ist jnen allen , vom rothause nichts gegebenn.' a. o.
bd. III 8. 303. und wenn wir behaupten, dasz auch anderwärts dem
Schulmeister ein bestimmter gehalt vom rate nicht gezahlt wurde,
so stehen dem ganz vereinzelte fälle als ausnahmen entgegen,
der früheste beleg für den schulmeistergehalt dürfte der in der
Schulordnung für Goch 1419 sein, dem sich der in der Nördlinger
Schulordnung 1443 anschlieszt, bei Joh. Müller, vor- und frührefor-
raatorische Schulordnungen 8. 40 und 50. an andern orten, wie in
Hannover, kam es ja sogar vor, dasz der rat von dem Schulmeister
eine jährliche abgäbe verlangte, man vergleiche die von Ahrens im
Programm 1869 gesammelten Urkunden zur geschiente des lyceums
zu Hannover s. 1 3 ff*.
Die hauptsacbe war also, dasz nun der Görlitzer rat allein den
Schulmeister berief und anstellte, und zwar wie an andern orten auf
ein jähr, weil er auch nur auf ein jähr gewählt war; eine Verlänge-
rung des Vertrages konnte ja leicht vorgenommen werden, auch das
beiderseitige recht der kündigung — gewöhnlich ein Vierteljahr —
liesz man nicht auszer acht; dabei war aber der fall nicht ausge-
schlossen, dasz ein lehrer, wenn er sich gegen die Ordnung und gute
sitte arg vergangen hatte, sofort weggeschickt werden konnte, um
die gehilfen, welche der Schulmeister etwa noch brauchte, hatte sieb
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Beiträge zur geschichte des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 123
der rat gar nicht zu kümmern; diese nahm der meister je nach dem
bedflrfnis an und sorgte für deren unterhalt, für sich und seine ge-
sellen erkannte er aber ausdrücklich den magistrat als seine Obrig-
keit an und gelobte feierlich, bei demselben allein sein recht suchen
zu wollen/ jedweder einflusz des pfarrers auf die wähl des rectors
war ausgeschlossen, selbst der Meiszener bischof oder der Bautzener
domscholaster, welchem nach dem strengen kirchenrecht die Ober-
aufsicht über die schulen der Oberlausitz zustand, haben, so viel wir
wissen, weder in Görlitz noch in den andern oberlausitzischen Städten
(Bautzen ausgenommen) irgendwie in dieser richtung auf die schul-
angelegenheiten eingewirkt.
Wie sich aber auch bei geringfügigen anlassen der rat mit
groszer entschiedenheit den versuchen des Stadtpfarrers , auf die
schule bestimmend einzuwirken, widersetzte, erfahren wir aus dem
groszen streite, der 1489 und in den folgenden jähren zwischen dem
pfarrer und dem rate geführt wurde.9 einer der vielen klagepunkte
war, 'der Rath hatte dem Schulemeister vorbieten lassen, keynen
* worte Ruhkopfs, geschichte des schul- und erziehungswesens in
Deutschland s. 102, welche Tzschoppe, versuch einer geschichte des
schul- und erziehungswesens in Görlitz 8. 11 anführt und welche Schutt,
zur geschichte des gymnasiums in Görlitz, programm 1866, s. 8 für eine
bemerk ung zu halten scheint, die hus einer Görlitzer quelle stammt;
gleichwohl entspricht sie voll und ganz den dortigen Verhältnissen,
vgl. Müller, vor- und frhhreformatorische Schulordnungen s. 14. 22. 34.
9 ursprünglich (1474) war es nur ein streit über die berechtigung,
auf dem pfarrhofe fremdes hier für gehl zu verschenken; nach und nach
kamen aber so viel klagen hinzu, dasz es 1489, als die Verhandlung
vor dem bischof Johannes von Meiszen in Stolpen geführt wurde,
17 punkte waren. Hass hat uns in seinen ratsannalen sowohl diese
anklagen als auch die Verteidigung des rates ('antwort der von Görlitz')
und die entscheidung des bischofs überliefert, Script, rer. Lus. II (rats-
annalen bd. I) s. 215 ff. vgl. die erläuternngen des herausgebers, pastor
Haupt, s. 434 ff. falsch stellt diese Sachlage Joh. Müller, vor- und früh-
reformatorische Schulordnungen s. 327 anm. dar. — Bei der folgenden
angäbe Müllers, am tage St. Thomae (21/12) desselbigen jahres sei der
pfarrer 'zu den eldisten hern vor das gestuel in der kirchen komen
vnd gebeten, sie wulden den schulemeister den hymnum, den man am
cristaband zu singen pfleget, in mensur singen lassen', ist die jahres-
angabe 1492 unrichtig, denn Hass (a. o. s. 225), welcher uns diesen
auftritt mit denselben Worten erzählt, hat vorher davon gesprochen,
dasz rvor dreyen jaren an sandt peterss oband vnder der messen siehe
zum irsten begeben hat, das vnser pfarher zu dem Burgermeister vor
das gestuel jn der kirchen komen ist und begert, her wulde zur vesper
vnd frühe zur messen vff der orgel singen lassen' usw. da nun der
pfarrer nach einer langen abwesenheit erst seit dem anfang des jahres
1489 wieder in Görlitz war, da ferner die erwähnte orgelangelegenheit
(sie hatte sich fzum irsten' begeben) auch zu den anklagepnukten bei
der Verhandlung in Stolpen (märz 1489) gehörte und da endlich aus
Hass s. 225 und 226 deutlich hervorgeht, dasz der streit um das orgel-
spiel am tage St. Petri (22/2) und um das singen am tage St. Thomae
(21 12) in dasselbe jähr fällt, so ist ohne zweifei das jähr 1489 ge-
meint. 1492 ist vielmehr das jähr, in welchem der bericht nieder-
geschrieben wurde.
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124 Beiträge zur geschiente des höh, Schulwesens in der Oberlausitz.
lobegesang als hymnos magnificat ec. in mensuris zu syngen'. bei
der Verhandlung vor dem bischof Johannes von Meiszen im jähre
1489 vertrat der stadtschreiber M. Conrad Nyssmann die sache des
rates; seine antwort auf die erwähnte beschwerde lassen wir hier
vollständig folgen , wie sie uns Hass überliefert hat:
(Czum irsten , des syngens halben in mensuris ist geantwort,
Der Rath habe dorvmbe den Schulemeister als hymnos magnificat
etc., in mensuris zu singyn vorbotben, das die Schüller, eher sie dy
mensur gelernthen , suste an irem studiren vorse wmet vnnd besehe-
diget wurden, Vnnd das die leuthe meber durch dieselben zu jnnyg-
keit vnnd andacht getzogen wurden, so man sie singet, wie sie von
den heyligen vetern awssgesatzt sein, danne so man houereyen
(künsteleien) dorawss machte, Auch dorvmbe das man eine tzeit
vor die ander irkennen muge, wulde aber der Schulemeister be-
weylen an hohen festen pro offertorio eyn Carmen singen, wulde
jm der Rath gerne gönnen , hofften der Rath bette nichts vnbil-
lichs doran begunst, Danne die weile der Rath den Schule-
meister zusetzen vnnd zu bestetigen hette, vnnd nicht
der pfarher, mochte der Rath dem Schulemeister wol
gebieten, vnnd bedorfft den pfarher dorvmbe nicht ir-
su chen.'
Das war prächtig gesprochen ! — Die entscheidung des bischofs
lautete, 'das man die lobgesenge, jn mossen die von den heyligen
vetern awssgesatzt sein, singen sal, Sunder wenne grosse fest komen
mag man pro offertorio ein Carmen singen lassen'.
(forteetzung folgt.)
Dresden. H. Heyden.
11.
EINE STÜNDE CHRONOLOGIE IM GYMNASIUM.
(nach einem Vortrag in der Versammlung der lehrer der höheren schulen
Elsasz - Lothringens.)
Eine sprichwörtliche redensart lautet: 'dem glücklichen schlägt
keine stunde.' so pflegen wir im gewöhnlichen leben zu sagen, um
anzudeuten, wie lästig es ist bei beglückenden ereignissen eine
strenge beobachtung der Zeitabschnitte obwalten zu lassen, ein ähn-
liches gefühl beschleicht uns meist auch bei edleren geistigen ge-
nüssen und freuden. wir empfinden es als eine fessel , wenn sie mit
dem glockenschlag endigen, an eine enge zeitgrenze gebunden sind,
deren berechtigung weder unsere Stimmung noch unser interesse
anerkennen kann.
Eine derartige gesinnung ist wohl auch der Wissenschaft ge-
fährlich geworden, welche hier in betracht kommt: der chrono-
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Eine stunde Chronologie im gymnasium.
125
logie. die Schönheiten einer antiken statue, die anmut eines ge-
dicktes zu empfinden und zu genieszen, scheint uns auch ohne
chronologische einzelheiten über die zeit ihres entstehens möglich ;
ja ein kritisches erforschen der näheren Zeitumstände stört entschie-
den den ästhetischen genusz.
Nichtsdestoweniger wird die Erforschung der Chronologie die
grundlage alter Historie bleiben und in der historischen Wissenschaft
nur derjenige die rechte befriedigung finden, welcher die 'lumina
historiae' nicht gering achtet.
Scaliger, der gröste philolog des siebzehnten jahrhun-
derts, ist hier ein leuchtendes muster. sein werk de emendatione
temporum hat den philologisch-historischen Studien ganz neue bahnen
eröffnet, bis auf Scaliger waren textkritik und interpretati on
der alten classiker die einzigen eigentlichen bauptaufgaben der alter-
tnmswis8enschaften gewesen, durch die feste chronologische grund-
lage , welche Scaligers werk allen einzelangaben geschichtlicher art
gab , gelang es erst , diese geordnet zu sammeln, unter Scaligers
bänden verwandelte sich aber, wie Bernays in seiner biographie
Scaligers treffend hervorhebt, Mie Chronologie aus einem rubricie-
rungsmittel der vorhandenen geschichte zu einem entdeckungsmittel
der verlorenen'.
Keineswegs soll hier jedoch eine oratio pro domo gehalten wer-
den in dem sinne , als sollte die bedeutung der Zeitmessung über-
haupt, speciell der antiken Chronologie betont und indirect dadurch
der wert neuerer arbeiten, speciell über römische Chronologie1
in den himmel gehoben werden.
Nein, nur zur abwehr, einem spöttischen ewas interessiert uns
diese Wissenschaft', 'wie hängt dieses wissen mit der schule zusam-
men' soll hier begegnet werden.
Es wird sich zeigen, dasz die Wissenschaft der antiken, insbe-
sondere der römischen Chronologie in manigfacher, sogar in höchst
enger beziehung zu den gegenständen steht, welche im gy mnasium
zu treiben und zu lehren des gymnasiallehrers pflicht ist.
Das thema dieses aufsatzes ist kurz zusammengefaszt worden
indemsatz: 'eine stunde Chronologie im gymnasium.'
Es war dabei nicht an eine einzelne gymnasialstunde gedacht,
vielmehr war unter stunde verstanden das, was in dem Zeit-
raum von einer stunde an Chronologie bei den verschieden-
sten gymnasial fächern abgehandelt werden könnte, es schien
erwünscht, nachzuweisen, wie vielseitig die belehrung sei, welche auch
nur während des Zeitraums einer einzigen stunde ganz ungezwun-
gen von der Chronologie für die einzelnen gymnasialfächer verwertet
werden könne.
1 vgl. des verf. Schriften: prolegomena zu einer römischen Chrono-
logie (Berlin 1886), die römischen amtsjahre (Freiburg 1888), römische
Chronologie (Freiburg 1889).
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126
Eine stunde Chronologie im gymnasium.
Treten wir also einmal einen kurzen nindgang durch unsere
gymnasialstunden an.
Es ist geograph i es tun de. in der physikalischen geographie
wird die länge des sonnenjahres erwähnt, der schüler wirft unwill-
kürlich die frage auf 'wie erkennt man die länge des sonnenjahres*
und 'seit wann besitzt die menschheit diese erkenntnis ?' die Chro-
nologie gibt hierüber den erwünschten aufschlusz.
Schon Hesiod* hat in seinen £pra Kai fjue'pai ein einfaches
sonnenjahr und zwar das tropische sonnenjahr geboten, von winter-
wende zu winterwende laufend, dessen Unterabschnitte aber meist
durch fixsternaufgänge , d. h. nach teilen des 8 i dorischen jahres
bestimmt, von da, das ist neuerdings festgestellt, ist die künde dieses
sonnenjahres schon zu beginn der römischen republik auch in Italien
verbreitet worden, in den kleinen Latinerstädten Tusculum, Aricia,
Alba finden sich monatsabschnitte von 36, 39, 22, 32, 16 tagen,
welche den Hesiodischen Unterabteilungen des sonnenjahres entspre-
chen und us steht jetzt gleichfalls fest, dasz die Römer an das hohe
alter desselben, so wie es in Rom recipiert war, geglaubt haben,
indem sie ein so construiertes jähr dasjahrdesRomuius nannten
(Plutarch Numa 18). 8
Aber nicht nur die ungefähre künde des sonnenjahres war bei
den Römern lange vor Julius Caesar weit verbreitet, sondern es
folgt, wie mir das der astronom herr professor Becker in Straszburg
zugestanden hat, aus der mehrhundertjährigen anwendung eines
Hesiodisch - Romulischen sonnenjahres, dessen abschnitte durch die
wenden und die wichtigsten fixsternaufgänge bestimmt wurden, dasz
den Römern selbst die präcession der nachtgleichen wenigstens em-
pirisch bekannt gewesen sein musz.
Beispielsweise betrug die differenz zwischen der winterwende
und dem anfang des römischen sonnenjahres am 1 märz (d. h. nach
Arcturs spätaufgang) zur zeit des decemvirats 59 tage , zu Caesars
zeit 66 tage. ,
Weiterhin könnten noch manche capitel der Chronologie in der
geographiestunde einer secunda Verwendung finden, es könnte er-
örtert werden, was frühaufgang, was spätaufgang, frühuntergang,
spätuntergang eines gestirnes sei, welches die dem altertum be-
kanntesten fixsterne waren , oder wie die einzelnen fixsternphasen
unter demselben breitengrade auf der erde zur selben zeit beobachtet
werden können, dagegen für verschiedene breiten notwendig ver-
schieden sein müsten. es könnte auch in der geographie daraufhin-
gewiesen werden, dasz die fixsterne auch die weit verbreitetsten und
bekanntesten Zeitmesser bei den Schriftstellern des altertums waren,
die zeit von Hannibals alpenübergang fixierten Polybius und Livius
* über das Hesiodische und Romulische sonnenjahr s. in Soltau pro-
legomena zu einer römischen Chronologie, abschn. X.
* vgl. Soltau röm. Chronologie, abschn. IV § 5. 6.
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Eine stunde Chronologie im gymnaeiuni.
127
durch den Plejaden Untergang, der Sommersanfang, zeitweise die
antrittszeit der achäischen Strategen, wird durch den Plejadenauf-
gang (mitte Mai) präcisiert. doch damit ist bereits der Übergang zu
einem andern Unterrichtsgegenstand gemacht, treten wir ein in die
Li viusstunde.
Von Livius werden vorzugsweise die ersten bticher und der an-
fang des zweiten punischen krieges gelesen, schlagen wir das erste
buch auf. wir lesen dort die geschieht« der könige von Alba, des
Romulus wunderbare geburt und himmelfahrt (am 7 juli), die regie-
rungszahlen der römischen könige mit einer Sicherheit angegeben,
als ob es die preuszische königsreihe sei.
Der schüler, der wohl schon einmal gehört bat, dasz nach Momm-
sens forsebungen hiervon wenig historisch sei, wirft fragende blicke
nach dem lehrer und wünscht sichere auskunft, wie weit hier ge-
schiente, wie weit hier sage gehe.
Weder der schtiler noch der lehrer darf sich hier zufrieden geben
mit der auskunft, dasz vielleicht sieben könige gelebt hätten, dasz
aber ihre Schicksale mehr oder weniger erdichtet seien.
Hier ist den schülern doch wenigstens so viel mitzuteilen, dasz
noch um 200 vor Ch. sich die gelehrtesten leute in Rom hinsicht-
lich der gründungszeit Roms nicht nur um jähre , sondern um jahr-
hunderte stritten.4 von vieren der bekanntesten schriftsteiler jener
zeit ist dies überliefert. Ennius sang um 180 vor Ch. :
Septingenti sunt paulo plus aut minus anni
Augusto augurio postquam incluta condita Roma est,
nahm also ca. 880 vor Ch. als gründungsjahr an. von seinen Zeit-
genossen setzte Cincius Roms grtindung 729, Fabius Pictor 747,
wieder anders Cato. erstVarro fixierte 753 vorCh. ; noch 181 vor Ch.,
als die särge mit Numas Schriften, rectius mit Pythagoräi scher Weis-
heit gefunden wurden, glaubte man, dasz Numa ein schüler des erst
529 vor Ch. nach Italien gekommenen Pythagoras gewesen sei.
Oewis wäre es auch erwünscht, dasz hier schon dem schtiler
klar gemacht würde, wie dabei eine rechnung nach geschlech-
te rn von 33 V3 jähren, 3 auf ein saeculum, zu gründe liege.
Auch die delphischen priester berechneten ähnlich die regierungs-
zeiten mythischer herscher 'nach generationen , und zwar entweder
30 oder 33V3 jähre auf jeden regenten. in der that sind die auf die
sieben könige gerechneten ca. 240 jähre nur wenig mehr als 233 '/«,
jähre, ja die bei Cicero de republica (nach Polybius) gebotenen
zahlen geben
für Numa 39 jähre,
- Ancus 23 -
- Tarquinius 38 -
100 jähre,
4 Soltau röm. Chronologie, abechn. XI 8. 271 f.
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128 Eine stunde Chronologie im gymnasium.
für Tullus Hostilius 32 jähre,
- Servius Tullius 44
- Tarquinius Superbus 25
1Ö1 jähre,
setzen also den beginn der republik in das 201e jähr nach Romulus
(Soltau röm. chron. abschn. XXI).
Gehen wir über zu Livius dritter dekade, etwa zum
21n buch, welches das erste jähr des Hannibalischen krieges be-
schreibt, hier finden sich neben den selteneren römischen daten
mehrfach natürliche Zeitangaben, so wird, wie bemerkt, erzählt,
dasz Hannibal auf dem gipfel der Alpen angekommen sei, als schon
die Plejaden dem Untergang nahe gewesen seien.
Weshalb diese sonderbare datierung? weshalb nicht römische
monate?
Es ist hier, wenigstens kurz, die frage zu erörtern, in wie weit
die römischen daten den natürlichen Zeitangaben entsprachen; woher
es kam, dasz, wenn auch wohl noch nicht zu anfang des zweiten
punischen krieges, so doch sicher von 200 bis 160 vor Ch. eine sehr
bedeutende differenz zwischen den römischen und unseren monaten
stattgefunden hat5, so grosz , dasz z. b. die Sonnenfinsternis vom
14 märz 190 vor Ch. von den Römern nicht im Martius, sondern in
dem vier monate weiteren Quinctilis angesetzt wurde.
Ähnliche erörterungen sind übrigens selbst in tertia bei der
Caes a r interpretation nicht zu umgehen, die Helvetier brachen
a. d. V kalendas Apriles auf. es ist zu zeigen , dasz dieser termin
höchstens drei bis vier monate vor der ernte in Südfrankreich, d.h.
also um die frühlingsgleiche falle, und wie es anderseits möglich
war, dasz die später erwähnten daten aus Caesars leben eine von der
alten röchnung abweichende Umrechnung erfahren müssen, die
schlacht bei Pharsalus, deren jahrestag später am 9 Sextiiis oder
August gefeiert wurde, ist in Wirklichkeit anfang juni geschlagen,
noch vor der reife des getreides in Thessalien. Caes. de bell, civili
3, 81, 3 sagt wenigstens von sich idoneum locum in agris nactus
plenis frumentorum, quae prope iam matura erant, ibi adventum
exspectare Pompei . . constituit.
Kurz, es sind schon die schüler der III und II zu belehren hin-
sichtlich der hauptfragen des römischen kalenders und der merk-
würdigen Verschiebungen desselben , welche dann Julius Caesar zur
einmaligen einfügung eines jahres von 445 tagen , dann zur einfuh-
rung seines festen sonnenjahres gebracht haben.
Nur bei einer derartigen künde finden auch die verschiedensten
stellen, welche bei der interpretation von Ciceronischen reden,
z. b. bei den Catilinarien, besprochen werden müssen, richtige er-
klarung.
5 Soltau röm. Chronologie, abschn. VII.
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Eine stunde Chronologie im gymnasium.
129
Die erste Catilinarische rede ist bekanntlich im jähre 63 vorCh.
am 8 november römischer datierung gehalten worden, ist dieser
Zeitpunkt etwa, wie das fälschlich in den sonst sorgfältigen römischen
gescbichtstabellen von Fischer angegeben ist, am 12 januar unserer
Zählung gehalten worden, oder, wie von anderer seit« vermutet
wurde, im September? mit beiden Vermutungen streitet schon der
wortlaut der tags darauf gehaltenen zweiten Catil inarischen rede :
num suas secum mulierculas sunt in castra ducturi? quemadmodum
autem illis carere poterunt bis iam noctibus? quo autem pacto
Uli Apenninum atque illas prninas ac nives perferent? bis iam noc-
tibus ist nur für Wintersanfang passend im jul. november!
Geben wir von einer Cicerostunde zu einer Vergil stunde über.
Hier, so wird man denken, könnte man wohl die lästige zahlen
Weisheit der Chronologie entbehren, und in der that kommen bei
Vergil weder die regierungsjahre mythischer fürsten noch kalenda-
rische fragen in betracht.
Nichtsdestoweniger ist auch hier die Chronologie eine wichtige
hiifs Wissenschaft.
Die Aeneis ist gedichtet worden vorzugsweise, um die ahnherrn
des Julischen geschlechts und damit dieses selbst, die providentielle
mission des Aeneas und der Juiier zu verherlichen.
Ist es da nicht von der grösten Wichtigkeit, auch schon den
schülern vor die äugen zu führen, wie dieses bestreben des Augustus,
vergöttert zu werden und sich vergöttern zu lassen, nur ein glied in
einer langen kette von regierungsmaszregeln gewesen ist?
Augustus hat noch einmal wieder den festen julianischen kalender
in Unordnung gebracht, er hat 36 jähre lang schon nach je 3 jähren
schalten lassen, um hernach eine handhabe zu haben, Caesars kalen-
derreform wenigstens zeitweise umzustoszen und zu modificieren. er
hat im jähre 8 vor Cb. dem Sextiiis seinen namen Augustus gegeben
und 20 gedenk- und ehrentage des Julischen hauses als allgemeine
kirchliche reichsfesttage einführen und im kalender verzeichnen
lassen. *
Ja, viele stellen der dichter, des Vergil wie Horaz, finden nament-
lich auch in diesem streben des Augustus, seine höhere herkunft zu
verherlichen, ihre erklärung.
Zwar auch ohne Chronologie zu treiben versteht jeder in Vergils
'tuus iam regnat Apollo' den binweis auf den Apoll, dessen söhn
zu sein Augustus vorgab : habitu ac statu Apollinis hatte sich Augustus
ein Standbild in der palatinischen bibliothek aufstellen lassen.
Aber nur, wenn man weisz, wann, unter welcher consteilation
Augustus und Horaz geboren, nur wenn man weisz, welche Verbrei-
tung die astrologischen berechnungen zu Augustus zeit hatten, kann
man verstehen, wie Vergil in seiner anrede an Augustus zu anfang
seiner Georgica (1, 32) sagt: 'willst du nicht dich unter die steine,
6 Soltau röm. Chronologie, abschn.VI s 177.
N. jthrb. f. phil. u. päd. Ii. abt. 1891 hfl. S. 9
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130
Eine stunde Chronologie im gymnasium
welche die monate regieren , versetzen lassen, zwischen Jungfrau
und Scorpion', d. h. in die Wage.7 das versteht nur, wer weisz,
dasz Augubtus überall das thema variieren liesz : felix aequato genitus
sub pondere librae (Manilius).
Und schon etwas weiter musz jemand in die mystik der astro-
logie eingedrungen sein, wenn er das Horazische (ode 2, 17) ver-
stehen will:
seu Libra seu mo Bcorpius adspieit
formidoloaus, pars violentior
natalis horae, seu tyrannus
Hesperiae Capricormus undae.
man musz dazu nicht nur die theorie kennen über das gegenseitige
erblicken und vernehmen der gestirne (wie sie Manilius und Cen-
sorin entwickeln), sondern auch wissen, weshalb hier das zeichen
des Steinbocks zum tyrannus Hesperiae, zum herscher Italiens, ge-
macht wird. Augustus, unter dem zeichen der Wage geboren, unter
dem zeichen des Steinbocks concipiert, liesz später münzen mit dem
zeichen des Steinbocks schlagen und legte das gröste gewicht auf
diese seine beziehung zu den gestirnen (vgl. Philologus 45, 439).
Es wäre mir hier leicht, von einer Horazstunde einen Über-
gang zu einer deutschen stunde, in der Wallenstein interpretiert
wird, zu machen, es wird jedem bekannt sein, dasz ohne eine ge-
nauere erörterung über astrologie zahlreiche beziebungen im Wallen-
stein nicht verstanden werden können, auch allgemein historisch
betrachtet ist es interessant, zu beachten, wie einige der bedeutend-
sten männer der Weltgeschichte von Augustus und Tiberius ab bis
auf Wallen stein und Kepler in dieser himmlischen schwarzkunst ihre
befriedigung gefunden haben.8
Wir betreten jetzt eine geschichtstunde in secunda.
Dasz hier seitens des lehrers keine hinreichende grundlage ge-
legt werden könne ohne die leuchte der geschiente, ohne eine künde
der Chronologie, ist klar, anderseits aber ist nicht minder klar, dasz
dem schüler hier mehr das gegebene , das feststehende geboten wer-
den musz, controverse einzelheiten, namentlich auch chronologischer
art, übergangen werden müssen.
Danach lnüste also ein guter lehrer selbst eine gründliche chro-
nologische Vorarbeit durchgemacht haben , ohne aber im einzelnen
viel davon merken zu lassen. — In praxi stellt sich die sache jedoch
etwas anders.
Es gibt auch hier des wissenswerten genug, welches schon dem
schüler nicht vorenthalten werden darf, ja dessen künde direct ihm
das lernen erleichtert und das zu erlernende wirklich verstehen lehrt,
von den wichtigsten griechischen nationalspielen wurden bekannt-
7 anne novum tardis sidus te mensibus addas
qua locus Erigonen inter Chelasque sequentes panditur.
8 Häbler, programm, Zwickau 1879.
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Eine stände Chronologie im gymnasium.
131
lieh die pythischen alle acht jähre gefeiert, und nach Censorin. 18, 6
wurden noch viele andere culte in fristen von acht jähren wieder-
holt, andere spiele wurden alle zwei jähre, die olympischen alle vier
jähre gefeiert, woher gerade diese fristen ?
Alle diese festspiele suchten die in jedem Staat verschiedenen
kalender von mondjahren in Übereinstimmung zu bringen, der am
frühesten bekannte und einfachste ausweg, das griechische reine
mondjahr von zwölf mondumläufen und ein sonnenjahr auszuglei-
chen, war die oktaeteris, d. h. die gleichung von acht sonnenjahren
mit 99 mondmonaten. diese drei mondmonate, welche auf 8x12
mondmonate eingeschaltet werden musten, sollten natürlich mög-
lichst gleichmäszig eingelegt werden, die fixierung der einzelnen
nationalspiele alle zwei, vier oder acht jähre in einem der speciellen
kalender muste damit auch die stelle bestimmen, wo geschaltet wer-
den muste. die olympischen spiele wurden z. b. bald nach 49, bald
nach 50 mondumläufen gefeiert, damit war also gegeben , dasz in
den ersten vier jähren nur ein schaltmonat eingelegt wurde, in den
folgenden stets zwei.
Weiterhin ist es auch für die leetüre der alten historiker wie
für die geschieh tsdarstellung unumgänglich, dasz der schüler
Über die im altertum herschenden verschiedenen jahresanfänge
eine gewisse Übersicht gewinnt.
Dasz das attische strategenjahr gleich nach der Sonnenwende,
die olympiadenjahre mit dem zweiten Vollmonde danach beginnen,
ist wichtig, schon für die kenntnis der zeit der hauptschlachten
(Aigospotamoi um die wende des strategenjahres , Salamis um die
zeit der damals um einen monat verspäteten olympischen spiele).
Es ist auch für die römische geschichte von wert, wenn der
schüler weisz, dasz erst seit 153 vor Ch. die consuln kalendis Janua-
riis antraten, vorher längere zeit an den Iden des märz, und dasz
noch früher ein häufig wechselnder antrittstermin für die consuln
bestanden habe.
Diese erörtern ngen führen weiter zu instruetiven belehrungen
über das Verhältnis von consulats- und kalenderjabren , welche nur
gedankenlosigkeit gleichstellen oder vertauschen kann.9
Es musz auch schon dem schüler der höheren classen klar ge-
macht werden, dasz die consulatsjahre nicht selten durch vorzeitigen
rücktritt der consuln Verkürzungen erlitten haben , so dasz die zahl
der consulatsjahre eine etwas gröszere als die der inzwischen ver-
strichenen kalenderjahre gewesen ist.
Es musz wenigstens bei einer der hauptepochen dieses Verhält-
nis zur spräche gebracht und hervorgehoben werden, dasz z. b. die
3908ten consuln vor Christi geburt, d. h. die Zerstörung Roms durch
die Gallier, gleichzeitig waren mit dem frieden des Antalkidas 387
vor Ch. und mit der einnähme Rhegions durch Dionys den älteren.
vgl. Soltau römische atntsjahre, s. 62.
9»
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132 Eine stunde Chronologie im gymnasium.
Es möge dahin gestellt bleiben, ob der lehrer weiter die wich-
tigen folgerungen, die hieraus gezogen werden müssen, hinsichtlich
der correctur ,0, der die consulatsliste zu unterziehen gewesen war,
ehe sie zur jabreszählung brauchbar wurde, mit dem schüler aus-
führlicher besprechen wird, jedenfalls sind sie nicht zu umgehen,
wenn bücher aus Livius' erster dekade gelesen werden, kurz musz
doch wenigstens angedeutet werden, dasz hierdurch die differenz
klar wird zwischen Livius, der nur 506 republikanische jähre zählt,
und derVarronischen datäerung, welche 509 als anfang der republik
ansetzt.
Es wurde gezeigt, dasz es kaum einen Unterrichtsgegenstand in
den höheren classen des gymnasiums gebe, der nicht durch eine gute
kenntnis der Chronologie inhaltreicher und anschaulicher werden und
an gründlichkeit gewinnen könnte.
Gewis wäre es mir lieb, wenn in einigen der leser ein etwas
regeres streben, in die probleme der Chronologie einzudringen, wach-
gerufen würde, aber einen solchen zweck suchten diese erörterungen
doch nur beiläufig zu erreichen.
Denn es ist nur natürlich, dasz die mehrzahl andere special-
interessen hat und schwerlich lieb gewordene Studien aufgeben wird,
nachdem sie einiges zum lobe der chronologischen Studien vernom-
men haben, mein zweck war ein allgemeinerer.
Nicht jeder kann sich mit chronologischen einzelheiten abgeben;
der eine wird mehr interesse an den staatlichen oder sacralen ein-
richtungen des altertums haben , der andere mehr sinn für archäo-
logie, ein dritter für antike poesie, philosophie oder culturgescbichte.
Aber, was hier von einer scheinbar etwas entlegeneren disciplin
gezeigt ward, das gilt auch für die übrigen disciplinen alle, die
specialstudien in denselben, weit entfernt der schule feindlich zu
sein, sind insgesamt im stände den Unterricht jedes lehrers zu be-
fruchten und zu vertiefen.
Dabei bin ich weit entfernt davon , zu behaupten , dasz dieses
notwendigerweise oder gar immer geschehe, gewis wird ein
jeder schon die enttäuschung erlebt haben, dasz er in absieht dieses
oder jenes ihn besonders interessierende aus seinen special Studien
vorzubringen, weniger glück damit hatte, sei es weil seine schüler
gerade weniger aufgelegt waren, tiefer einzudringen, sei es dasz er
es nicht recht verstanden hat, ihnen den stoff mundgerecht zu machen.
Es werden eben an den , welcher in die tiefen der Wissenschaft
herabsteigt, auch gröszere anforderungen gestellt, als an denjenigen,
welcher nur den schon in lehrbüchern präparierten stoff vorträgt,
abusus non tollit usum und wem viel gegeben ist , von dem wird
auch viel gefordert werden.
Von manchen Seiten wird, wie das vor ein paar jähren in einem
aufsatz der Zeitschrift für das höhere Schulwesen geschehen ist, bei
durch die sogenannten dictatorenjahre.
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Antwort auf 'einige iragen zur reform des gymnaeialunterrichts*. 133
dem gymnasiallehrer das specialstudium und das weiterstudieren als
Überflüssiger luxus angesehen, dem gegenüber musz es zunächst
das bestreben des höheren lehrstandes sein , dahin zu wirken , jenen
angriffen keinen anhält zu geben durch tüchtige pädagogische Durch-
arbeitung des erarbeiteten lehrstoffes. dann darf aber auch um so
mehr fest daran gehalten werden, dasz das tiefere eindringen in ein
specialstudium, richtig betrieben, nicht von dem hauptberuf hin weg-
fuhrt, sondern ihm immer wieder neue lebenselemente zuführt, hier
sind die starken wurzeln unserer kraft, welche den lehrer
jung erhalten und vor pedanterie und verknöcherung bewahren
können und bewahren werden.
Zabern im Elsas/. W. Soltaü.
12.
EINE ANTWORT AUF 'EINIGE FRAGEN ZUR REFORM
DES GYMNASIALUNTERRICHTS \
Herr Oberlehrer Paul Dörwald in Ohlau stellt in dem laufen-
den jahrgange dieser Zeitschrift s. 8 ff. nicht nur einige fragen zur
reform des gymnasial Unterrichts , sondern spricht auch einige all-
gemeine urteile aus, zu deren beweis er eine reihe von beispielen
anführt.
S. 15 heiszt es: 'eine nach irgend welchen bedeutsamen didak-
tischen gesichtspunkten angelegte auswahl der lectüre vermögen wir
wenigstens aus den schulprogrammen nicht zu erkennen, wir wollen
beispielsweise auf einen jahrgang programme der monarchie für ein
fach einen blick werfen und wählen dazu den griechischen Unter-
richt in secunda für das jähr 1885/86, d. h. einen jahrgang, in
welchem die lehrpläne von 1882 schon vier jähre lang in kraft
waren, es mögen des allgemeinen interesses halber, welches die
sache finden dürfte, nähere angaben hergesetzt werden . . . bei com-
binierter secunda musz die lectüre von Memor. I. II (Rogasen),
welche sieb das ganze jähr hindurchzieht, auffallen.' ^es folgen an-
dere beispiele von Hadersleben, Meldorf, Moers, Meppen, Sagan.)
S. 16 sagt herr Oberlehrer Dörwald im anschlusz an die Be-
sprechung der v. Oppenschen schrift über die wähl der lectüre: 'viel
höher als diese gewis beachtenswerten formellen gesichtspunkte
stehen doch erwägungen über den didaktischen wert der einzelnen
Schriftwerke, dasz dieselben vielfach gänzlich auszer acht gelassen
werden, weisen unsere programme nach, sollte wirklich, um noch
einige beispiele anzuführen, die durch ein ganzes schuljahr für den
Unterricht in obersecunda zu gründe gelegte behandlung des vierten
buches der Memorabilien (Gütersloh) oder Herodot I (Minden) oder
Cyropaedie I. II (Warburg) oder Memor. I. II (Rogasen) . . . dem
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134 Antwort auf 'einige fragen zur reform des gymnaaialunterrichts'.
schüler tiefere einblicke in die griechische litteratur ermöglichen?
. . . man liest eben, wohl unter dem motto «beati possidentes», nach
willkür und belieben die alten.'
Es bietet wohl wenig oder gar kein allgemeines interesse , ob
einmal in der combinierten secunda bzw. obersecunda irgend einer
kleinen anstalt die Memorabilien oder eine andere schrift gelesen
wurden, ob man daran ein oder zwei semester gewendet habe, wenn
aber diese wähl und diese ausdehnung der lectüre ein misgriff sein,
wenn dieser misgriff nicht nur einmal, sondern wohl gar öfters oder
immer vorkommen und nicht an einer, sondern an vielen anstalten
sich wiederholen, kurz wenn man 'die alten nach willkür und be-
lieben lesen' sollte, dann mögen 'des allgemeinen interesses halber
nähere angaben' gemacht werden, derartige angaben müssen jedoch
auf der gründlichsten beobachtung und prüfung der thatsachen be-
ruhen , damit dieselben nicht zu falschen schluszfolgerungen führen
und nicht zugleich durch nennung von namen der ruf mancher an-
stalten unverdientermaszen geschädigt werde, zuerst musz das ver-
fahren der einzelnen anstalten nicht nach einem, sondern nach einer
reihe von Jahrgängen geprüft werden und danach erst wird es sich
ergeben , ob man allgemeine sätze , die so schwerwiegende anklagen
enthalten, aussprechen bzw. zu den vermeintlich schon erwiesenen
Sätzen diese oder jene anstalt als erläuterndes beispiel namentlich
anführen darf. — Ich wünsche nur zu erweisen, dasz die beiden von
Rogasen angeführten beispiele nicht dazu geeignet sind, zur begrün-
dung der allgemeinen anklagen des herrn Oberlehrers Dörwald irgend
etwas beizutragen.
Sind denn diese beispiele überhaupt so glücklich oder geschickt
gewählt, dasz man daraus auch nur annähernd schlieszen könnte, in
welcher weise man die griechischen Schriften in der combinierten
secunda bzw. der obersecunda zu Rogasen auszuwählen oder zu lesen
pflege? zuerst sei bemerkt, dasz die angaben des herrn Oberlehrers
Dörwald s. 15, die Memor. I. II seien 1885/86 das ganze jähr hin-
durch in der combinierten secunda, und s. 16, die Memor. I. II seien
durch ein ganzes Schuljahr in obersecunda gelesen worden , zu dem
irrtum verführen könnten, als liegen zwei fälle vor. thatsächlich
sind die Memor. I. II seit erhebung der Rogasen er anstalt zu einem
gymnasium michaelis 1873 nur einmal (85/86) durch ein ganzes
jähr gelesen worden, und zwar in der combinierten secunda.
Wer sich die mühe gibt, die programme des Bogasener Gymna-
siums seit michaelis 1873 einer durchsieht zu unterziehen, wird ein
ganz anderes bild von der in II bzw. in ober- und untersecunda
betriebenen lectüre gewinnen, nemlich folgendes:
1. Seit michaelis 1873 ist in der combinierten secunda und seit
der ostern 1878 erfolgten teilung der classe in der obersecunda bis
zu der abermaligen zusammenziehung der classen ostern 1885, also
während lV/2 Schuljahren jedesmal im Sommerhalbjahr Herodot
(VI bzw. ff.) gelesen worden.
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Antwort auf 'einige fragen zur reform des gymnasialunterrichts'. 135
2. Seit der trenn img der secunda ostern 1878 hat die lectüre
der untersecunda und seit der zusammenziehung der classen ostern
1885 bis zur gegen wart in der combinierten secunda, also wäh-
rend der letzten 13 Schuljahre mit ausnähme des ersten jahres der
combination (1885/86) jedes Sommerhalbjahr sich auf die Anabasis
erstreckt.
3. Seit michaelis 1873 bis zur gegenwart, also während 1772
Schuljahren sind in der combinierten secunda (michaelis 1873 bis
ostern 1878) bzw. obersecunda (ostern 1878 bis ostern 1885) bzw.
combinierten secunda (ostern 1885 bis 1891) jedes jähr mit aus-
nähme des jahres 1885/86 zwei prosaische Schriften bzw. Schrift-
steller gelesen worden.
Wollte man aus den zuletzt angeführten thatsachen eine allge-
meine regel abstrahieren, so würde dieselbe lauten: rin der com-
binierten secunda und in obersecunda des Rogasener gymnasiums
werden seit seinem bestehen jedes jähr zwei griechische prosaische
Schriften bzw. Schriftsteller gelesen.' die ausnähme aber würde
lauten: 'nur in einem jahrgange (1885/86) begnügte sich der
lehrer des griechischen in der combinierten secunda aus besonderen
gründen mit einem prosaiker.'
Herr Oberlehrer Dörwald hat sich zur hilfe für seine beweis-
führung nicht der regel, sondern der ausnähme bedient.
Ebenso ist es eine ausnähme, wenn im Sommerhalbjahr 1885/86
gerade die Memorabilien gelesen wurden, während sonst 23 mal die
lectüre der secunda bzw. ober- und untersecunda mit Herodot oder
der Anabasis und niemals während der ganzen jähre mit einer an-
dern schrift begann, aber auch für diesen einen ausnahmefall kann
es nicht zugegeben werden , dasz die erwägungen über den didakti-
schen wert der gelesenen schrift auszer acht gelassen seien, dasz
man unter dem motto 'beati possidentes' die alten nach will kür und
belieben gelesen habe, denn von einem behagen in ungestörtem
besitze kann keine rede sein, wenn der lehrer nach dem beginn der
Herodotlectüre in obersecunda während der ersten schulwoche er-
fährt, dasz die secunden sofort zu combinieren seien und er aus rück-
sicht auf die hinzutretenden untersecun daner den Herodot aufgeben
müsse, als dieser fall ostern 1885 eintrat, da lag es ja nahe, in der
combinierten classe mit der lectüre Herodots zu beginnen , welcher
seit ostern 1874 regelmäszig elf sommer hinter einander in der com-
binierten secunda bzw. in obersecunda gelesen war, oder mit der
Anabasis, welche seit 1878 regelmäszig in untersecunda behandelt
wurde, aber wie trotz des didaktischen wertes der Herodotischen
musen von ihrer lectüre aus rücksicht für die untersecundaner ab-
stand genommen werden muste, so konnte aus rücksicht für die
obersecundaner die lectüre der Anabasis, welche sie im vorhergehen-
den jähre abgeschlossen hatten, nicht nochmals vorgenommen wer-
den, demnach muste, da Plato, Isokrates, Lysias erst recht nicht
in betracht kommen konnten, die wähl auf eine andere Xenophon-
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136 Antwort auf 'einige fragen zur reform des gymnasialunterricht*'.
tische scbrift fallen, die Hellenika wurden deswegen ausgeschlossen,
weil die obersecundaner dieselben bereits im vorhergehenden jähre
kennen gelernt hatten, es blieben somit nur die Memorabilien und
die Cyropaedie übrig, dasz der lehrer des griechischen bei der wähl
zwischen dem griechischen weisen und dem alten Perserkönige sich
für den ersteren entschied , dürfte doch wohl eher ein beweis von
sachlichen erwägungen im interesse der schüler als von willkür und
belieben sein.
Aber auch aus der thatsache, dasz der lehrer nach ablauf des
sommersemesters die lectüre derselben schrift fortsetzen zu lassen
wünschte und dieser wünsch genehmigung fand, ist demselben kein
Vorwurf zu machen, salus iuventutis summa lex. der lehrer hatte
die seit sieben jähren getrennten classen zum ersten male wieder
zusammen zu unterrichten ; da galt es , dasz lehrer und schüler sich
in die neuen Verhältnisse bineingewöhnten, dasz die schüler vor-
sichtig, aber entschieden zu gleichmäszigem arbeiten herangebildet
wurden und ihr interesse zunächst auf eine geringere zahl von gegen-
ständen concentrierten. wenn man ferner die bedeutenden hemmun-
gen erwägt, welche der Unterricht der anstalt in dem betreffenden
sommer nach ausweis der chronik im programm von 1885/86 erlitt,
dann wird jeder besonnene beurteiler die mäszigung des lehrers hin-
sichtlich des umfangs der betriebenen lectüre nur billigen, übrigens
musz es unter den angegebenen auszergewöhnlichen umständen als
ein genügend reicher gewinn des griechischen unterrichte der secunda
bezeichnet werden, wenn unter- wie obersecundaner in die weit der
Odyssee und in die gedankenweit eines Sokrates, wie Xenophon sie
auffaszte, mit gründlichkeit eindringen.
Herr Oberlehrer Dörwald sagt, er wähle für seine beispiele
einen jahrgang, in welchem die lebrpläne von 1882 schon vier jähre
in kraft waren, dieser umstand soll offenbar erschwerend gegen die
namentlich aufgeführten gymnasien in das gewicht fallen, indessen
wird Rogasen auch von diesem argument nicht betroffen, denn nicht
trotz, sondern gerade infolge der lehrpläne von 1882 muste
es ostern 1885 von der elf jähre geübten sitte abgehen, die lectüre
in der combinierten secunda mit Herodot zu beginnen , und muste
nach einem notwendigen Übergangsstadium von einem jähre
(1885/86) dazu übergehen, nunmehr die lectüre der in der Ober-
tertia begonnenen Anabasis fortzusetzen.
Wer am Organismus unseres gymnasiums gewisse wunde stellen
entdeckt zu haben glaubt, von deren heilung das leben desselben
abhängt, der musz zuerst eine richtige diagnose stellen.
RüGA8EN. SlLVIUS DOLEGA.
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K. Hartfelder: Philipp Melanchthon als praeceptor Germaniae. 137
18.
Philipp Melanchthon als praeceptor germaniae. von dr. Karl
Hartfelder, Professor am Gymnasium in Heidelberg. Berlin,
A. Hofmann & comp. 1889. XXVIII u. 687 s. 8.
Rüstig schreitet das von dr. Karl Kehrbach begonnene unter-
nehmen einer ausgäbe der monumenta Germaniae paedagogica weiter;
das vorliegende werk, das den siebenten band jener Sammlung bildet,
ist ein zeugnis dafür, dasz dr. Kehrbach mit seinem unternehmen
einen glücklichen wurf getban , besonders da er für die darstellung
der pädagogischen Wirksamkeit Melanchthons einen bewährten for-
scher gewonnen hat, der wie kein anderer für diese arbeit geeignet
erschien, man konnte zwar in zweifei sein, ob bei der reichen litte-
ratur, die über Melanchthons bedeutung für die pädagogik seit einer
reihe von jähren sich angesammelt hat und namentlich durch die
erinnerungsfeier seines todestages im jähre 1860 ansehnlich vermehrt
worden ist, eine neue darstellung seines pädagogischen wirkens als
ein unabweisbares bedürfnis sich herausgestellt habe ; allein dieses
bedenken wird gehoben, wenn man das vorliegende buch mit den
arbeiten von Planck , Schlottmann u. a. vergleicht, denn so ver-
dienstlich diese auch sind , so leiden sie doch , wie Hartfelder selbst
in der vorrede s. VIII sagt, fast ausnahmlos an dem fehler, dasz sie
Melanchthon zu sehr lostrennen von der älteren generation, von der
er gelernt hat, und von den mitstrebenden Zeitgenossen, denen er
gegeben und von denen er empfangen bat, mit andern worten, dasz
sie das wirken Melanchthons als des gepriesenen lehrers Deutsch-
lands nicht vom Standpunkte der historischen entwicklung aus be-
trachtet haben, gerade darin liegt das grosze verdienst, das sich
prof. Hartfelder erworben hat, dasz er Melanchthon als praeceptor
Germaniae historisch , d. i. im zusammenhange mit seiner zeit ge-
würdigt- hat. dabei kamen ihm seine eignen seit jähren mit Vorliebe
gepflegten und durch vielfache Veröffentlichungen bewährten Studien
auf dem gebiete des humanismus zu statten, auf welchem er sich zu
einer autorität ersten ranges emporgearbeitet hat. daneben geht die
förderung, welche die culturgescbichte des 15n und 16njahrhunderts
durch die in den letzten jahrzehnten hervorgetretenen geschicht-
lichen darstellungen der Universitäten Heidelberg und Tübingen,
welche der junge Melanchthon besucht hat, ehe seine Wittenberger
Wirksamkeit begann, sowie derjenigen schulen, die von Melanchthon
selbst eingerichtet sind oder an deren einrichtung er einen groszen
anteil gehabt hat, erfahren hat. aber auch für Melanchthon selbst
hatte hr. H. schon seit jähren vorbereitende Studien gemacht: er
gab einen nachtrag zum corpus reformatorum , behandelte Melanch-
thons spätere beziehungen zu seiner pfälzischen heimat, sowie seine
beruf ung nach Heidelberg im jähre 1546, und war auch durch den
mit Horawitz herausgegebenen briefwechsel des Beatus Rhenanus
mehrfach auf Melanchthon geführt worden, so dürfen wir uns denn
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138 K. Hartfelder : Philipp Melanchthon als praeceptor Germaniae.
eines werkes erfreuen, das deutschem fleisze, deutscher gelehrsam -
keit und Wissenschaft zu hober ehre gereicht, überall erkennt man
den sorgfaltigen und gewissenhaften forscher, der die entlegensten
quellen aufsucht und neues bisher unbekanntes material an das licht
zieht und zu benutzen versteht, ohne zweifei waren die hervorragen-
den Verdienste, die sich der verf. zuletzt durch das vorliegende werk
um die geschiente der pädagogik im Zeitalter der reformation er-
worben hat, der anlasz für die theologische facultät der Universität
Heidelberg, ihn zum doctor der theologie zu ernennen.
Um die hohe bedeutung des Hartfeiderschen werkes zu wür-
digen, erscheint es zweckmäszig, eine kurze Übersicht über den
reichen inhalt zu geben, in der vorrede führt der verf. die gründe
auf, die ihn veranlaszten den vielgebrauchten titel 'praeceptor Ger-
maniae' beizubehalten, wir erfahren dabei, dasz der einflusz Melanch-
thons sich atch auf katholische gebiete Deutschlands erstreckt haben
musz, da von hrn. H. mehrfach Schriften Melanchthons benutzt sind,
die, wie die eintragungen auf den titelblättern und einbanddecken
beweisen, im besitze süddeutscher klöster gewesen sind (s. s. 258
anm. 2, 272 anm. 3). s. XIII— XXVIII enthält das Verzeichnis der
von H. benutzten sebriften und aufsätze. es sind hier alle für die
ge8cbichte des humanismus und die reformation wichtigen Schriften
auszer den Melanchthon speciell betreffenden, in einem besonderen
abschnitte (XIII c) verzeichneten aufgeführt, das Verzeichnis ist für
solche, die ihre studien auf die genannten Zeitabschnitte richten oder
dieselben auf diesem gebiete vertiefen wollen, sehr lehrreich, und es
scheint jetzt gewohnheit der Schriftsteller zu werden , ihren werken
solche Verzeichnisse voranzustellen; aber dann wird man damit die
absieht verbinden wollen, die anmerkungen von den vollständigen
büchercitaten zu entlasten, indem man nur den namen des Verfassers
nebst den anfangsworten des titels und der Seitenzahl des betreffen-
den werkes angibt, nicht aber noch einmal den ort und das jähr des
druckes oder wenn es die abhandlung einer Zeitschrift ist, diese
letztere wieder mit vollständigem titel aufführt, in dieser beziehung
scheint mir hr. H. nicht das rechte masz eingebalten zu haben ; man
vergleiche nur beispielsweise die citate der vielen arbeiten des früh
verstorbenen Horawitz und seiner eignen in den anmerkungen z. b.
zu s. 7. 120. 122. 123. 285 usw. niemand wird es ungern sehen,
dasz hierin eine möglichst grosze Vollständigkeit erzielt worden ist
und eine wesentliche erleichterung des Studiums herbeigeführt wird,
aber ich glaube, dasz der umfang des sonst ausgezeichneten werkes
bei knapperer einrichtung der anmerkungen nach der angeregten
seite hin sich um ein beträchtliches vermindert haben würde.
Das werk zerfällt in 16 abschnitte; davon bilden die 5 letzten
gewissermaszen einen litterarischen anhang; die übrigen 11 ver-
teilen sich so, dasz abschnitt 1 — 3 den werdenden akademiker, 4 — 6
Melanchthon als gelehrten, 7 — 10 Melanchthon als pädagogen cha-
rakterisiert, worauf in abschnitt 11 eine schluszbetrachtung folgt.
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K. Hartfelder: Philipp Meianchthon als praeceptor Germaniae. 139
es dürfen also abschnitt 1 — 6 als die Vorbereitung auf die haupt-
abschnitte 7 — 10 bezeichnet werden.
Von hervorragender bedeutung ist abschnitt 1, der Melanch-
thons bildungsgang und geistige entwicklung behandelt, hier zeigt
sich des verf.s meisterschaft in der ausnutzung des tiberlieferten
Stoffes, seine Vertrautheit mit den litterarischen und gesellschaft-
lichen zuständen derjenigen bildungsstätten, die der junge Meianch-
thon aufsuchte, was in andern biographischen darstellungen in
wenigen zeilen gegeben ist, wird uns hier in reicher ausfahrung ge-
boten, man vergleiche die einzelnen capitel des ersten abschnittes:
1. Bretten (1497—1507) und Pforzheim (1507 — 1509) s. 1 — 11.
2. Heidelberg (1509 — 1512), a. wissenschaftliches leben an der
hochschule, erinnerungen Melanchthons daran, seine lehrer. b. seine
freunde, erwerbung des baccalaureats, seine sonstigen Studien, c. seine
ersten litterarischen arbeiten, zusammenfassendes ergebnis seines
bisherigen bildungsganges (s. 12 — 34). wir besitzen von hrn. H. in
der Zeitschrift für allgemeine geschiente 1885 s. 177 — 195 eine
populäre Schilderung des Heidelberger humanismus, welche ihm für
die eben genannten abschnitte seines neuen Werkes unstreitig von
groszem nutzen gewesen ist. so erfahren wir von Peter Luder,
Matthias von Kemnat, Jobann von Dalburg, Rudolf Agricola, Conrad
Celtis, Pallas Spangel (die über ihn gemachten interessanten angaben
sind ganz neu), Peter Günther, Johann Sorbillo. von freunden Me-
lanchthons aus der Heidelberger zeit lernen wir Peter Sturm , den
bruder des berühmten stettemeisters von Straszburg Jacob Sturm,
Diebold Gerlach genannt Billicamus * (sind die s. 25 und 28 genannten
verschiedene dieses namens? s. auch den index s. 654), Johann
Brenz, Martin Butzer, während uns aus der Tübinger zeit als lehrer
Heinrich Bebel, Georg Simler, Johann Hiltebrant, Johannes Stöffler,
Franciscus Stadianus, als schüler Franciscus Irenicus, Caspar Kurrer,
Bernardus Maurus und als freunde Paul Geräander, Ambrosius
Blarer, Johannes Oekolampadius , Jobannes Secerius und Johannes
Knoder entgegentreten, in Tübingen legt Meianchthon die wissen-
schaftliche grundlage, die für sein ganzes leben bestimmend werden
sollte, dasz sich um die griechische professur in Wittenberg Petrus
Mosellanus in Leipzig beworben und an Luther und Spalatin fttr-
sprecher gefunden hat, wird aus dem im Weimarer archiv befind-
lichen berichte Spalatins an den kurfürsten vom mittwoch nach
S. Bonifacii 1518 nachgewiesen, aber Keuch lins empfehlung siegte
und bald stellte sich neben den ersten reformator Luther der zweite,
der Humanist Meianchthon, der schöpfer des evangelischen mittel-
schul wesens , der die aufgäbe seines lebens in die Vereinigung des
• Theobalde Billicamns, nicht Billicantis, wird er in den Heidel-
berger Urkunden genannt, denn er stammte aus Billigheim, am 15 sept
1520 wurde er mit Joh. Brenz und drei andere theologen mit der Her-
stellung einer neuen Übersetzung des Aristoteles beauftragt (Winkel-
mann, urknndenbuch der Universität Heidelberg I 213 nr. 160).
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140 K. Hartfelder: Philipp Melanchthon als praeceptor Germaniae.
classischen humanismus mit der durch die reformation erneuerten
kirche gesetzt hat (s. 230).
Der zweite abschnitt (s. 77 — 102) zeichnet uns Melanchthon
als akademischen lehrer. wir werden über die ankündigungs weisen
seiner Vorlesungen, seine gehaltsverhältnisse , die zahl der zuhörer
unterrichtet und erfahren, in welchem ansehen er bei seinen akade-
mischen collegen und bei seinen schülern stand.
überaus grosz ist der humanistische freundeskreis, mit welchem
Melanchthon in Verbindung stand, wie wir aus dem dritten abschnitt
erfahren (s. 103 — 152). der überaus reiche briefwechsel , den Me-
lanchthon mit fast allen gelehrten Zeitgenossen Deutschlands unter-
hielt, brachte ihn in die innigsten freundschaftsbeziebungen zu män-
nern wie Reuchlin, Erasmus, Michael Hummelberg, Beatus Bhenanus,
Ulrich Zasius, Nicolaus Gerbel, Wilhelm Nesen, Wilibald Pirck-
heimer, Christoph Scheurl, Johannes Turmayer (Aventinus), Ulrich
von Hutten , Johannes Sturm u. a. der verf. hat es verstanden uns
unter benutzung jenes briefwechsels ein ansprechendes bild von dem
freundschaftlichen verkehr Melanchthons mit den bedeutendsten Ver-
tretern des humanismus zu liefern, nicht minder wertvoll ist der
vierte abschnitt, in welchem Melanchthons ansieht von dem wesen
der einzelnen Wissenschaften auseinandergesetzt wird (s. 163 — 207).
auch hier zeigt sich überall das sorgfältigste Studium der zahlreichen
Melanchthonschen Schriften, es ergibt sich, dasz Melanchthons urteil
über die bisherigen wissenschaftlichen zustände, besonders über die
Scholastik ein einseitiges ist, dasz er ferner alle Wissenschaften da-
nach abschätzt, inwiefern sie der tbeologie der neuen kirche dienen,
dasz er der griechischen spräche einen hohen wert beilegt, weil sie
die spräche des neuen testaments ist, dasz ihm die Verzichtleistung
auf die erlernung der lateinischen spräche gleichbedeutend ist mit
einem verzieht auf das Universitätsstudium usw. im fünften ab-
schnitt behandelt Hartfelder Melanchthons leistungen als gelehrter
(s.209 — 310). auf dem gebiete der philosopbie war er kein schöpfe-
rischer denker, sondern ein gelehrter, aber auf dem der philologie
entwickelte er eine umfassende thätigkeit, vor allem durch die heraus-
gäbe einer griechischen grammatik, die besonders wegen ihrer ge-
schickten und methodischen form zu groszem ansehen gelangte und
für lange zeit das brauchbarste Schulbuch für den griechischen ele-
mentarunterricht war. zwar beschränkt sie sich auf die formenlehre,
aber Melanchthon hat auch eine syntax unter dem titel rrepi '6AXT]-
viküjv ibiUJ)LidTUJV verfaszt, die er handschriftlich an den grafen
Hermann von Neuenaar in Köln sandte, die aber bis jetzt noch nicht
aufgefunden worden ist auszerdem verfaszte er eine griechische
Chrestomathie (institutio puerilis litterarum Graecarum), die 1525
mit einer hebräischen grammatik des Matth. Aurigallus erschien und
wahrscheinlich für die Zöglinge der schola private bestimmt war,
wie dies mit der unter dem titel Enchiridion elementorum pueriliuw
1524 erschienenen lateinischen Chrestomathie der fall war. dagegen
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K. Hartfelder : Philipp Melanchthon als praeceptor Germaniae. 141
umfaszte die Melanchthon sehe lateinische grammatik formenlebre
and syntax. ihr weist Hartfelder die rechte Stellung an , wenn er
s. 271 sagt: 'sie ist keine grosze wissenschaftliche leistung, welche
<Jie streitigen probleme der lateinischen grammatik gefördert hat,
sondern sie ist ein geschicktes Schulbuch, das kürze und Verständ-
lichkeit in solch harmonischer Verbindung vereinte, dasz bald sein
sieg über ähnliche arbeiten entschieden war.' bedeutungsvoll war
ferner die auf die herausgäbe der texte classischer Schriftsteller ge-
richtete thätigkeit Melanchthons: die griechischen texte wurden mit
lateinischer Übersetzung versehen und in dieser beziehung hat Me-
lanchthon noch bis in das 18e jahrhundert gewirkt, indem die grie-
chischen classikerausgaben mit den Übersetzungen seiner schüler
Camerarius, Micyllus u. a. benutzt wurden. — Von den Wissen-
schaften zog er in den kreis seiner betrachtung die geschiente , die
geographie und die mathematik , aber immer nur insoweit das clas-
sische altertum ihre kenntnis vermittelte, mit ausnähme der ge-
schieh te, indem er auch das mittelalter und quellenschriftsteller des
mittelalters, sowie seine eigne zeit zu einem gegenstände sorgfältiger
forschung machte, die mathematischen Wissenschaften hat er mate-
riell nicht gefördert, aber als humanist die leistungen der alten auf
diesem gebiete erneuert und den Zeitgenossen zugänglich gemacht.
Im sechsten abschnitt charakterisiert Hartfelder treffend Me-
lanchthons leistungen als Stilist und dichter (s. 311 — 323). mit dem
siebenten abschnitt beginnt die darstellung der bedeutung Melanch-
thons als pädagog. zuerst werden seine pädagogischen grundbegriffe
entwickelt (s. 326 — 397). sehr passend wird diesem abschnitt das
Goethesche wort 'und so heb* ich alte schätze' vorangestellt, denn
wir werden nun zu den eigentlichen Werkstätten geführt, in denen
das grosze pädagogische System Melanchthons sich herausgebildet
hat. freilich ist dieses System oder sagen wir das gebäude der Me-
lanchthonschen pädagogik nicht in einem einzigen gröszeren werke
in die erscheinung getreten, sondern es setzt sich aus verschiedenen
Schriften zusammen , in denen pädagogische grundsätze besprochen
werden, nur einmal hat er einen anlauf zu einer systematischen
darstellung gemacht, indem er 1522 eine ratio discendi schrieb, in
der sich eine Übereinstimmung mit dem Erasmischen commentariolus
de ratione discendi in allen wesentlichen punkten zeigt, um so gröszer
ist das verdienst Hartfelders , dasz er aus den zahlreichen Schriften
Melanchthons das raaterial für eine umfassende darstellung seiner
pädagogischen grundsätze gezogen hat. er beginnt dieselbe mit der
entwicklung der eloquentia, eruditio, imitatio, lectio, exercitio stili
und der declamatio, und führt dann Melanchthons urteile Uber die
classischen Schriftsteller an, unter denen Homer die erste stelle ein-
nimmt, es ist merkwürdig, dasz sich Melanchthons ansichten über
die helden Homers mit gedanken Lessings, wie er sie im Laokoon
ausspricht, berühren, fast über alle classischen schriftsteiler bat
Melanchthon Vorlesungen gehalten, mit Vorliebe behandelte er Cicero
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142 K. Hartfelder: Philipp Melanchthon als praeceptor Germaniae.
und Quintilian. er veranstaltete mehrfach ausgaben von scbulsehrift-
stellern oder Ubersetzungen griechischer Schriftsteller ins lateinische,
die einzelnen nachweise sind von Hartfelder mit groszer Sorgfalt ge-
geben, von Übersetzungen nennen wir nur die 18 tragödien des
Euripides, deren Veröffentlichung Xylander besorgte, die Leokratea
des Lykurg, worin Melanchthon ein Vorläufer von Fr. Aug. Wolf
wurde; aus Xenophons Hellenika die rede des Kritias gegen Thera-
menes, aus dessen Memorabilien die erzähl ung des Prodikos von
Herakles am Scheidewege, seine argumente und Scholien zu Cicero*
schrift de officiis wurden in vielen auflagen wiederholt und auch
noch nach seinem tode gedruckt; auch die Germania des Tacitus hat
er zweimal mit erklärungen herausgegeben und als 1 9 jähriger docent
sandte er seine Terenzausgabe in die weit.
Der achte abschnitt behandelt Melanchthons principielle an-
schauungen über schule und lehrerberuf, sowie seine beurteilung
der hochschulen des ausgehenden mittelalters (s.399— 416), worauf
im neunten abschnitt der Organismus der schulen ausfuhrlich be-
sprochen wird (s. 417 — 488). diese schulen sind dreierlei art: die
dreiclassige lateinschule (trivialschule), die höhere humanistenschule,
die hochschule (Universität), der plan für die erstere ist als letztes
capitel dem 'unterricht der visitatoren an die pfarrherrn im kur-
fürstentum Sachsen* (Wittenberg 1528) angehängt und oft gedruckt;
für die höhere humanistenschule war die wahrscheinlich von Me-
lanchthon herrührende ratio scholae Norembergae nuper institutae
(1526) maszgebend. was Uber die hochschule, ihren Organismus,
über die übliche disputatio und declamatio, über die akademischen
grade gesagt wird, gilt zwar im wesentlichen hauptsächlich von
Wittenberg, der akademischen Wirkungsstätte Melanchthons, be-
leuchtet aber auch die akademischen zustände des ausgehenden mittel-
alters und des reformationszeitalters überhaupt, so dasz dieser ab-
schnitt einen wichtigen beitrag zur geschichte der Universitäten liefert,
dazu kommt noch eine ratio studii, die für Juristen, eine institutio,
die für den herzog Jobann Friedrich von Pommern von Melanchthon
entworfen ist, und eine ratio discendae theologiae vom jähre 1530.
endlich werden aus den Schriften Melanchthons auch seine ansichten
und ausspräche Uber die disciplin der lehrer und Studenten , über
alumnate mitgeteilt, im zehnten abschnitt wird Melanchthon als
Organisator und reorganisator verschiedener schulen geschildert (s.489
bis 538); es wird gezeigt, wie er seine theorie in die praxis um-
setzte, und zwar zunächst an der von ihm bald nach seiner Verheira-
tung 1521 angelegten schola privata, die er aber wegen der Ungunst
der zeit und wegen der last der amtsgeschäfte 1529 aufgeben muste.
zu der von L.Koch über diese schola privata verfaszten schrift (Gotha
1859) gibt Hartfelder mehrere beachtenswerte ergänzungen. in be-
treff der aufführungen der komödien des Plautus und Terenz seitens
der Zöglinge der schola privata bin ich der ansieht, dasz sich diese
nicht auf die letzteren beschränkt haben, sondern dasz auch die stu-
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K. Hartfelder: Philipp Melanchtbon als praeceptor Germaniae. 143
denten sich an den dramatischen aufführungen beteiligt haben, ich
habe hierüber in meiner schritt, 'die reformation im spiegelbilde der
dramatischen litteratur des 16n jahrhunderts* (Halle 1886) s. 26 ff.
gehandelt, die daselbst s.28 anm. 1 angeführte Sammlung der pro-
logi aliquot scenicis actionibus praemissi exhibitis in academia Vite-
bergensi (Viteb. mense Septembri 1564) scheint den herausgebern
des corpus reformatorum unbekannt geblieben zu sein, da sie sich
nur auf Hilbrand Grathusens epigrammata Melanchthonis (Viteb.
1.S60) berufen. — Auch die yisitationsreisen Melanchthons bilden
eine seite der praktisch - pädagogischen thätigkeit desselben, be-
sonders aber tritt diese bei der neuerrichtung zahlreicher latein-
und trivialschulen hervor, es gehören dahin die schulen zu Eibleben,
Magdeburg, Zwickau, Soest u. a. der gründung der 'oberen schule'
Nürnbergs widmet Hartfelder ein besonderes capitel (s. 501 — 506).
den grösten einflusz aber übte Melanchtbon mit seinem organisato-
rischen talent auf die Umgestaltung oder neugestaltung der Univer-
sitäten Wittenberg, Tübingen, Prankfurt a. 0., Leipzig, Rostock,
Heidelberg, Marburg, Königsberg, Jena, wir sehen, wie das gelehrte
unterrichtswesen des ganzen protestantischen Deutschland von Me-
lanchthons schaffendem geiste belebt und getragen wird und dasz er
in Wahrheit der lehrer Deutschlands genannt zu werden verdient,
der die Universitäten betreffende titel des zehnten abschnitts stützt
sich nicht ausschlieszlich auf die vorhandenen monographischen dar-
stelltmgen der geschiente jener Universitäten, sondern es ist auch
vielfach das Urkunden- und actenmaterial derselben benutzt worden,
für Heidelberg hatte Hartfelder selbst schon durch seine in den Stu-
dien der evangelisch - protestantischen geistlichen des groszh erzog -
tum8 Baden VIII 111 — 129 und in der Zeitschrift für die geschiente
des Oberrheins n. f. III 112 — 119 erschienenen abhandlungen über
Melanchthons spätere beziehungen zu seiner pfälzischen heimat und
über seine berufung nach Heidelberg eigne forsch ungen gemacht,
die im elften abschnitt angestellte schluszbetrachtung (s.539 — 552)
enthält eine kurze Charakteristik der Stellung, die Melanchtbon zum
Humanismus und zur religiösen bewegung seiner zeit eingenommen
hat. damit schlieszt die zusammenhängende darstellung. was weiter
folgt, ist al s eine art anhang zu betrachten, aber darum nicht minder
wertvoll, im zwölften abschnitt wird nemlich ein Verzeichnis der
Vorlesungen Melanchthons (s. 553 — 566), im dreizehnten die biblio-
graphie gegeben, und zwar a) ausgaben der werke Melanchthons und
ergänzungen dazu, b) chronologisches Verzeichnis der arbeiten Me-
lanchthons, c) Verzeichnis der arbeiten über Melanchthon (s. 567 bis
647). wie reichhaltig diese Verzeichnisse sind, zeigen die nummern
zu b und c, nemlich 709 und 440. zuletzt werden noch einige jugend-
gedichte Melanchthons abgedruckt, die im corp. reform, fehlen, dann
folgen nachtrftge und berichtigungen, endlich ein namen- und Sach-
register (s. 651—684), das mit ebenso groszer Sorgfalt angelegt ist
als das zum briefwechsel des Beatus Rhenanus, wir vermissen jedoch
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144 K. Hartfelder: Philipp Melanchthon als praeceptor Germatriae.
in diesem register die aufnähme von intimatio = anschlag am
schwarzen brett, welche erklärung s. 462 gegeben ist; ferner ein
wort über Gallus Rubeaquensis, über den im briefwechsel des Beat.
Rhenanus so viel steht; der vorname des Pfad ist Andreas; Sera-
phicus ist der ehrende beiname des Scholastikers Bonaventura, Che-
rubicus der des Scholastikers Wilhelm von Occam. auch zuGnapheus
(8. 536) erwarten wir ein wort : er ist der Schöpfer des Acolastus,
des ersten lateinischen dramas vom verlorenen söhn, das für das
ganze 16e jahrhundert muster geblieben ist. unter Herwagen ist
550 zu entfernen und bei H. Holstein 308 zu streichen, da dort vom
lande die rede ist.
So sind wir mit unserer Wanderung zu ende gekommen, und was
Hartfelder s. 307 von zwei Melanchthonschen Schriften , dem Enco-
mium Sueviae und dem Encomium Franciae, rühmt, dasz sie nicht
in einer trockenen und farblosen Zusammenstellung von namen, son-
dern in einer lebensvollen darstellung besteben, die keine seite der
erscheinungen vernachlässigt, das gilt auch von seinem werke, das
alle vorhandenen Schriften über Melanchthons pädagogik an Voll-
ständigkeit und genauigkeit übertrifft, aber Hartfelder wird sich
mit dieser darstellung nicht begnügen, denn an verschiedenen stellen
seines bucbes deutet er an , dasz er noch weitere pläne auszuführen
gedenkt, so verspricht er den einflusz Melanchthons auf die jüngere
generation der humanisten zu schildern (s.151), er will nachweisen,
wie die schüler des groszen meisters auf den verschiedensten ge-
bieten den ganzen kreis des wissens für die bedürfnisse der evange-
lischen kirche und des evangelischen Staates bearbeitet haben (s. 204),
er will die von Melanchthon gegründete schule von historikern schil-
dern (s. 306) und ausführlich zeigen, dasz einerseits Melanchthons
gedanken und leistungen in fast zu überschwänglicher weise ge-
priesen werden (s. 541) und dasz anderseits die nachwirkung der
thätigkeit des groszen praeceptor Gerroaniae eine Uberaus nachhal-
tige gewesen ist (s. 552). es ist das erscheinen eines neuen werkes,
einer art von urkundenbuch über die pädagogische und philologische
thätigkeit Melanchthons , unter dem titel cMelanchthonia paedago-
gica, ergänzung zur ausgäbe von Melanchthons werken im Corpus
Reformatorum' aus der feder Hartfelders bereits in aussieht gestellt
(vgl. mitteilungen der Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner in Leipzig,
1890, nr. 3 s. 56). auszerdem aber beabsichtigt Hartfelder, wie wir
aus unserem buche erfahren , die pädagogischen tendenzen des Mo-
sellanus zu besprechen (s. 142), Rudolf Agricolas commendatio elo-
quentiae zu veröffentlichen (s. 329) und das erste jahrhundert der
Universität Wittenberg monographisch zu schildern (s. 506). viel-
leicht erhalten wir von ihm auch eine buchdruckergeschichte von
Wittenberg und Hagenau, die er schmerzlich vermiszt (s. 220 anm. 4).
man darf dem strebsamen gelehrten forscher von ganzem herzen
glück zur ausführung seiner vielen pläne wünschen.
Es war natürlich , dasz der verf. Melanchthons werke, nament-
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K. Hartfelder: Philipp Melanchthon als praeceptor Germaniae. 145
lieb aber das Corpus Reformatorum zum gegenstände besonderen
und eingebenden Studiums machte; dasz er dabei viele sinnentstel-
lende fehler im texte fand , auch manche kleinere schritt , manchen
wichtigen brief vermiszte, davon zeugen zahlreiche anmerkungen
seines buches. so ist Corp. Ref. III 668 TTaXXdc zu lesen (s. 109
anm. 4), Viil 62 indicat (s. 376 anm. 6), X 19 beruht die angäbe
des Winshemius über Peter Sturm auf einem irrtum (s. 25 anm. 2),
83. 89 ist der text zu ändern (s. 372 anm. 1), 90 r|ÖiKu zu lesen
(s. 365 anm. 6), 259 ist Hiltebrant fälschlich als lehrer Melanch-
thons im griechischen genannt (s. 8 anm. 1) , 463 ist Volfius statt
des unsinnigen Voisius zu lesen (s. 322 anm. 4), 470: das Carmen
rhitmicale Schleuraffs ist keine arbeit Melanchthons (s. 58 anm. 2),
482 nr. 13: textesänderung in der poetischen einladung zur Vor-
lesung über Hesiod (s. 81 anm. 3), 1004 ist amplectente zu lesen
(s. 466 anm. 5), XI 124 ist cum zu lesen (s. 408 anm. 1), zu XIII 493
findet sich eine vortreffliche emendation: Plauto etiam nihil facetius
est für das unsinnige facilius est (s. 390 anm. 3), XXIV 280 ist die
jahreszahl in 1503 zu ändern (s. 17 anm. 2), XXVIII im index s. v.
auditoribus sind manche irrtümer zu beseitigen (s.82 anm. 1). man
vergleiche ferner nur s. 382 anm. 1, 449 anm. 4, 468 anm. 4, wo
Sachen angeführt werden, die Bretschneider entgangen sind; ebenso
hat Bindseil entweder irrtümliche angaben gemacht oder es ist ihm
manches unbekannt geblieben (vgl. s. 49 anm. 2, 273 anm. 4, 363
anm. 3, 459 anm. 1). mehrere im Corp. Ref. fehlende briefe werden
nachgewiesen: s. 15 anm. 3 — wiederholt 8. 24 anm. 2 — ein brief
Melanchthons vom 1 jan. 1560, s. 134 anm.l ein brief Pirckheimers
an Melanchthon, s. 303 anm. 1 ein brief an Aventin; ebenso werden
gedichte nachgewiesen: 8. 82 anm. 2, 109 anm. 2. in welchem
grade Hartfelder die über Melanchthon erschienene litteratur be-
herseht, beweisen die vielen berichtig ungen irrtümlicher angaben
anderer forscher, die sich in den anmerkungen finden ; man vgl. 8. 5.
36. 37. 117. 118. 132. 133. 143. 169. 204. 259. 309. 318. 431.
482. 518. 529, wo Nisard, Pflüger, Manlius, Förstemann, Schmidt,
Elix, Oberländer, Eckstein, Bernhardt, Planck, Lorenz Stein, Kius,
Paulsen, Hautz, gewis eine stattliche reihe von forschem, berich-
tigungen erfahren, dasz sich der verf. öfter Wiederholungen erlaubt
hat, darf bei dem groszen umfange seines buches nicht auffallen ;
ich mache auf folgendes aufmerksam : s. 46 und 295 (Lambert von
Hersfeld und Kaspar Kurrer), s. 279 und 283 anm. 3 (die etymologia
latinae grammaticae), s. 277 anm. 2 und 321 anm. 5 (die lateinischen
tisebgebete), s. 297 und 349 (die declamationes), s. 321 anm. 7 und
494 anm. 1 (Kochs schola privata). daher mag auch die an einigen
stellen hervortretende inconsequenz der Schreibweise sich erklären,
wie wenn wir literae und litterae, überschwenglich und überschwäng-
lich (s. 100. 108), bischen und biszchen (s. 115. 492), ohnedem
und ohnedies (letzteres erst von s. 341 an) lesen, einige ausdrücke
möchte ich beanstanden: geschwänzte collegia (s.27), ankehren statt
K. jahxb. f. pbil.a. päd. II. Abt. 1891 hfl. 3. 10
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146
A. Scheindler: lateinische schulgrammatik.
vorsprechen (s. 136. 141), der eintrag in die matrikel (s. 12), die
süsze rede (s. 369. 371 u.ö.), es scheint ihm keiner vorzuziehen (ein
latinismus : nemo videtur ei praeferendus esse^ s. 378), er redet sich
fast zu tot (wohl zu tode, s.407), leichterdings (s.515). von druck-
fehlem will ich nur die bedeutenderen angeben : es ist zu lesen s. 183
rhetorik, 219 Boöthio, 242 Eberus, 344 cepit me dolor, 367 loov
TÖtp f\ 'Pöboc, 396 Ulixes, 407 von vorn, 426 Paedologia Mosellani,
436 anm.4 1536 und authentisches document, 451 TTpaÖT€pöv ttujc,
484 neugründung der Universität Wittenberg, 496 bei der reorga-
nisation und der neuerrichtung, 654 batrachom jomachie ; einige
andere mag der aufmerksame leser selbst entfernen.
Wilhelmshaven. H. Holstein.
14.
1) LATEINISCHE SCHULGRAMMATIK, HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR.
Aug. Scheindler in Wien. Leipzig, verlag von G. Freytag.
1889. XI u. 212 b. gr. 8.
2) LATEINISCHES LESE- UND ÜBUNGSBUCH. IM AN8CHLU88E AN DIE
LATEINISCHE GRAMMATIK VON DR. ÄUG. SCHEINDLER HERAUS-
GEGEBEN von Josef Steiner und dr. Aug. Scheindler.
i. teil (für die sexta). mit einer wortkunde. Leipzig, verlag
von G. Frey tag. 1889. VIII u. 72 u. 84 s. gr. 8.
1.
In der vorliegenden grammatik, die im ersten teile auf 86 Seiten
die formenlehre, im zweiten auf 104 Seiten die syntax und in einem
anhange die lateinische Verslehre und kurze erlSuterungen und tafeln
zum römischen kalender, zu den abkürzungen der römischen eigen-
naraen und über die münzen und masze enthält, darf man nach des
Verfassers auseinandersetzung in dem ziemlich ausführlichen Vor-
worte etwas ziemlich neues und eigenartiges erwarten.
Die grammatik ist danach rauf sorgfältiger statistischer grund-
lage aufgebaut und berücksichtigt zugleich die heutigen forderungen
einer verständigen methodik'. deshalb ist unter benutzung der vielen
arbeiten über lateinische formenlehre und syntax sowie über den
Sprachgebrauch der Schriftsteller in aufblitzen, grammatiken und
lexicis das material zunächst auf die epoche der lateinischen spräche
beschränkt, die durch die wichtigsten scbulclassiker repräsentiert
wird'; und der Verfasser glaubt dabei 'resultate erzielt zu haben,
über die viele facbgenossen staunen werden* und infolge deren viele
sprachliche einzelheiten getilgt oder doch als untergeordnet und
nebensächlich angesetzt werden konnten.
Leider läszt sich nicht so leicht controllieren, wie weit die gram-
matik selbst dem versprechen der beschränkung auf die schulclassiker
entspricht, da sie eines Stellennachweises, wie er z. b. am Schlüsse
der Stegmannschen grammatik so dankenswert ist, entbehrt und man
unmöglich für alle beispiele das Ursprungszeugnis im gedächtnis
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A. Scheindler: lateinische schulgrammatik. 147
haben kann, gegen die richtigkeit des statistischen Unterbaues, den
der verf. allerdings später klar legen will, müssen sich jedenfalls
hier und da bedenken regen, man wird mistrauisch, wenn für Nepos
kein beispiel eines inf. fut. pass. zugegeben wird, da visum iri Attic.
13, 6 ausgeschlossen sei; etwa weil es im deutschen activisch über-
setzt wird? noch schlimmer wirkt es, wenn s. 154 tan tum absum
ut — ut als das regelmäszige an die spitze gestellt und mit einem
gewis nicht vollwichtigen beispiele aus dem bell. Alexandrinum (!)
belegt und die durch genaue Statistik aus den classikern als
allein üblich nachweisbare construction also angefügt wird:
'auch findet sich tantum abest ohne persönliches subject.' — Dieser
mangel einer wegweisenden Unterscheidung zwischen mehreren con-
structionsmöglichkeiten, dem wir wiederholt begegnen werden, sollte
doch auf grund statistischen materials auch leicht abstellbar sein,
an dem genügenden umfange der Statistik oder doch an der rechten
ausnützung des von ihr gebotenen materials musz man auch zweifeln,
wenn s. 169 für den Wechsel zwischen conjunctiv und indicativ im
ersten zweier durch cum — tum verbundener sätze die Gleichzeitig-
keit oder ungleichzeitigkeit der beiden sätze als entscheidend ange-
geben wird; allein Laelius VTI 23 und noch mehr Cic. ad fam.VI 14
und 15, 9 genügen, um solche aufstellungen als haltlos erscheinen
zu lassen.
Unter den bestaunenswerten neuerungen in seiner darstellung
hebt Scheindler selbst drei dinge hervor: die Streichung der
supina und des infinitivus fut. pass. aus den conjuga-
tions tafeln und die ansetzung der s ubstantiva der drit-
ten declination auf o schlechthin als feminina. weil er
nemlich in allen schulautoren zusammen nur von 70 verben supina
auf um und von 27 solche auf u, sowie nur von 11 den inf. fut. pass.
verzeichnet hat, überdies die ableitung des participium perf. pass.
vom doch activen supinum fdem gesunden verstände unbegreiflich
sein müsse', hat er auszer dem imperativus pass. nach Harres vor-
gange auch noch diese drei formen aus der formenlehre ganz aus-
geschlossen, es wird nichts einzuwenden sein, wenn das supinum
auf u, vielleicht auch nicht, wenn der inf. fut. pass. in ihr nicht er-
scheint, aber das supinum auf um, das nach Scheindlers Zählung
selbst bei Nepos und Caesar Uber ein dutzend male vorkommt, wird
man nicht missen wollen, wenn man auch schon auf seine ansetzung
als Stammform zu verzichten geneigt sein mag. ebenso wenig wird
man es billigen können, dasz s. 56 ein eigner passivstamm allein für
das partic. perf. angesetzt wird, denn der (oft geschwächte) durch t,
bzw. s erweiterte stamm ist dem partic. perf. mit vielen formen ge-
meinsam, die activisch sind, nemlich mit dem part. fut. auf -urus
und dem nomen agentis, mit den supinis und mit den verbis frequent.
und intensivis, die Scheindler 94, 2 und 3 selber also ansetzt:
cant-are, puls-are, es-urire. oder wie rechtfertigt sich die kür-
zung des stamm i in initium, wenn er § 92, 4 ansetzt ini-tium? ich
10*
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148
A. Scheindler: lateinische schulgrammatik.
kann es wenigstens ebenso wenig verständig finden, jene activischen
formen vom passivstamme abzuleiten; Scheindler freilich, der das
umgekehrte Verhältnis für den gesunden verstand unbegreiflich fand,
findet dies in Ordnung und sagt § 214 'die supina werden vom passiv-
stem me der verba gebildet; sie sind Verbalsubstantive mit activer
bedeutung'. die sache ist doch wohl die, dasz das genus verbi über-
haupt nicht durch den stamm, sondern lediglich durch die endungen
zum ausdruck gebracht wird ; vielmehr gibt es von den verben auszer
den präsens- und perfectstämmen noch einen dritten durch t, bzw. s
erweiterten und (wie im deutschen) oft geschwächten stamm , von
dem durch die endung us, a, um eine passive, durch die endungen
or, urus, us, üs und are, ere, ere, ire active formen weitergebildet
werden.
Lassen sich so gegen Scheindlers neuerungen in der conjuga-
tion bedenken nicht zurückhalten, so wird man es dagegen rückhalt-
los gutheiszen, wenn alle Wörter auf o der dritten declination als
feminina angesetzt werden mit nur drei ausnahmen bis Untertertia
(, ordo, sermo; leo), wo sich dann an das concretum leo aus Caesar
noch einige dieser art anreihen lassen, überhaupt sind die de -
clinationen überaus klar, lichtvoll und vereinfacht
dargestellt; die gereimten geschlechtsregeln sind aus allen decli-
nationen verschwunden und mit ihnen viele überflüssige ausnahmen;
die erlernung der wenigen ausnahmen aber, die gelernt werden
müssen, ist durch ihren abdruck in geeigneten Verbindungen, wie
'humus arida', 'Aegyptus est fructuosa' erleichtert, auch ist es nur
zu loben, dasz in den declinationstafeln nominativund vocativ
nur einmal gedruckt sind und dasz bei personalnamen , also
auch bei den personalpronominibus a und cum vor den ablativus ge-
setzt sind ; nur sollte es in der diesbezüglichen erkiärung auf s. 1 2
heiszen 'bei Wörtern, welche lebende wesen bezeichnen', ein wie
guter griff es ferner war, dasz der verf. die ergebnisse der wissen-
schaftlichen forschung zur erkenntnis der Spracherscheinungen heran-
zog, zeigt sich ganz besonders an der darstellung der dritten declina-
tion, welche durch die berücksichtigung der stamm theorie
überaus gewonnen hat. lauten doch nun die hauptgesetze einfach:
consonantische stämme ohne s-bildung im nom. sind masc. oder
neutr. , mit s-bildung im nom. femin., i- stämme mit s- bildung im
nom. sind femin. — Desgleichen sind unter den Substantiven, die
ium im gen. plur. erfordern, sowie unter den adjectiven, die e, bzw.
um oder a verlangen, vielfach gerechtfertigte ausmerzungen erfolgt,
gern hätte man unter den masc. auf is noch das hauptsächlich poe-
tische amnisgemiszt, sowie zwei bemerkungen, zu denen das bestreben
wissenschaftlicher erkiärung und genauigkeit geführt haben dürfte,
die aber in einer schulgrammatik zu viel des guten sind; ich meine
26 , 4 die über den gen. sing, auf l in der vierten declination und
§ 32, 1, 7 das über den ablat. auf d und über den instrumentalcasus
der Ursprache gesagte (trotz modö!).
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A. Scheindler: lateinische scbulgranimatik.
Im übrigen hat Scheindler recht, wenn er sich rühmt, durch
das dben gekennzeichnete verfahren wie durch die ausscbeidung aller
rein stilistischen bemerkungen den lehrstoff um hunderte von einzel-
heiten verringert und trotz Vermehrung der beispiele den äuszeren
umfang der grammatik vermindert zu haben, also dasz auf die formen-
lehre 40 Seiten fast nur tabellen für die erste und 46 für die zweite
stufe und auf die syntax etwa 36 seiten lehr- und 60 Seiten nach-
schlagestoff kommen, der stoff für die erste stufe und der syntak-
tische lehrstoff sind gröszer, der für die zweite und der nachschlage-
stoff kleiner gedruckt, diesen nachschlagestoff denkt sich der
verf. nur gelegentlich behandelt und mit hilfe des — einer Stichprobe
nach zu urteilen rühmlichst sorgfältigen — Wortregisters vom schüler
selbst bei der präparation herangezogen.
Mit recht ist es dem verf. nicht zweifelhaft gewesen , dasz die
sicheren ergebnisse der wissenschaftlichen forschung, soweit sie ge-
eignet sind die erkenntnis der sprachlichen erscheinungen richtiger
nnd tiefer zu gestalten, der schulgrammatik nicht vorenthalten wer-
den dürfen, und wir konnten schon erwähnen, welchen nutzen daraus
z. b. Scheindlers darstellung der dritten declination gezogen hat.
auch der syntax merkt man an, dasz der verf. die vielen neuen arbeiten,
die über grosze capitel und über einzelheiten derselben licht ver-
breitet haben, gekannt und verwendet hat, wenn auch nicht immer
mit vollem erfolge, wie manche später zu machenden ausstellungen
zeigen werden.
Wenn er ferner von derselben rühmt, in der Satzlehre 'zum
ersten male den weg ihrer behandlung nach satzkategorien conse-
quent eingehalten zu haben*, so bat er wohl ein gewisses mehr auch
gegenüber Stegmann, indem er sämtliche nebensätze unter die drei
arten 1) vollständig abhängiger, 2) correlativer, und 3) solcher, von
bald geringerer, bald gröszerer abhängigkeit und dabei unter b) z. b.
den sonst gewöhnlich unter der Überschrift pronomen erläuterten
gebrauch von atque nach begriffen der gleichheit u. ä., die veftre-
tungsformen für quo — eo mit comparat. u. a. m. unterbringt, aber
von consequenz kann noch lange keine rede sein, wenn vom einfachen
satz überhaupt nichts zu lesen ist und im übrigen congruenz, casus-
lehre, pronomina, präpositionen und nominalformen des verbs noch
ebenso behandelt sind wie irgend anderswo; ja Scheindlers behand-
lung der modi im unabhängigen satze ist ein rückschritt gegen die
von Stegmann, bei dem die Unterscheidung von aussage- und begeh-
rungssätzen dann auch wirklich zum einteilungs- und darstellungs-
grunde gemacht ist.
Scheindler betont ferner, dasz er die lateinischen erscheinungen
immer möglichst an die entsprechenden deutschen angeknüpft habe ;
nur nimmt es wunder, dasz er trotzdem den deutschen gleiche latei-
nische erscheinungen — ich denke z. b. an das lange capitel über
die tempora — durch endlose reihen von beispielen erläutert, anstatt,
wie es neuerdings wiederholt gefordert und von ihm z b. 175 über
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150
A. Scheindler: lateinische schulgrammatik.
den indicativ auch gehalten worden ist, einfach die gleicbartigkeit
festzustellen, dagegen liegt eine wirkliche lobenswerte annäherung
an eine parallelgrammatik in Hornemanns sinne darin, dasz für dem
lateinischen mit dem griechischen gemeinsame erscheinungen mit
genehmigung prof. Härtels die regeln in demselben Wortlaute ge-
geben werden, wie in der neubearbeitung , die Curtius' griechische
grammatik durch jenen verdienten Wiener gelehrten gefunden hat,
gewis ein groszer vorteil für anstalten , wo die besagte neubearbei-
tung eingeführt ist. die in anerkennenswerter weise zum groszen
teil aus der schullectüre , besonders Caesar, gewählten beispiele zu
den regeln werden übrigens wie bisher noch meist, 'um den scbüler
nicht zu voreiligen Schlüssen zu verleiten', von dem verf. absichtlich
am fusze derselben angeführt.
Dankenswert ist es endlich - dasz druck und anordnung wirk*
lieh überall deutlich, klar und übersichtlich sind und dasz besonders
in der formenlehre reichlichst die tabellarische darstellungs weise ge-
wühlt wurde; dankenswert ist auch das streben, r aus wüchse des
schuljargons durch bessere stilistische darstell ung fernzuhalten', vor
allem aber verdient noch anerkennung die peinlich genaue und con-
sequente bezeichnung allerlang auszusprechenden vo-
cale; und man wird Scheindler nur recht geben können, wenn er
den bequemen anhängern des alten Schlendrians gegenüber immer
wieder den grundsatz betont, dasz den schülern daraus keine Schwie-
rigkeit entsteht, da sie — von anfang an! — das richtige gleich
leicht lernen, als das falsche, worauf aber fuszt er hier, wenn er
nicht etwa nur die durch zusammenziehung entstandenen formen,
für die es ja ausgemacht ist, sondern ausnahmslos alle perfeetformen
auf isti und istis in den conjugationstafeln wie bei späterem vor-
kommen mit langem \ vor st ansetzt?
Ich verzeichne nun noch, nach der reihenfolge der para-
graphen, was ich im einzelnen an der fassung der regeln und
erklärungen auszusetzen gefunden habe:
§ 42, 2 ist die fassung fbei der Verbindung der zehner mit den
einem von 21 — 99 ist der lateinische gebrauch dem deutschen
gleich; entweder unus et viginti einundzwanzig oder viginti unus
zwanzig einer' falsch, da das gute deutsch die letzte ausdrucksweise
nicht beliebt. — § 47, bem. 1 ist die Verdeutschung 'viele aus uns'
für multi nostrum zu tilgen; undeutsch ist auch unter 56, 2 b der
ausdruck des perfects passiv! — § 63 ist die regel über die conju-
gation der verben auf io der dritten conjugation falsch also ange-
geben : Mio verben auf io nach der dritten conjugation lassen in den
vom präsensstamme gebildeten zeiten die endungen ohne die binde-
vocale i und e an den stamm treten ; das kurze i des Stammes bleibt
in allen formen; nur vor r und im auslaut wird es zu e' ; denn sie
erklärt z. b. die bildung des part. praes., gerundiums und indic. im-
perf. nicht, deren e Scheindler, wie 69, 2 e beweist, ja auch als binde-
vocal auffaszt. aus demselben gründe ist natürlich auch die regel
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A. Scheindler: lateinische schulgrammatik.
151
über die bildung der formen von ferre § 83 nicht treffend. — § 91
ist es nicht zu billigen, dasz in der allgemeinen Vorbemerkung zur
'Wortbildung durch ableitung', die doch dann für subst., adj., verb.
und ad verb. besprochen wird, ausschlieszlich von nominibus verbal,
und denominat., also von der bildung von nominibus gebandelt und
darauf allein auch exemplificiert wird, anstatt von primitivis und
derivatis (seil, vocabulis). desgleichen dürfte sich die besehränkung
der worte mit der endung (^)ura auf nomina rei actae kaum halten
lassen; das angeführte censura ist ebenso oft nomen actionis. auch
ist hier initium — ganz abgesehen von der oben schon angezweifel-
ten richtigkeit seiner Zerlegung in ini-tium — ein schlechtes beispiel
für die bildung von bezeichnungen der eigenschaft auf (t)ium.
Zahlreichere ausstellungen als an der formenlehre sind
an der syntax zu machen:
§ 98, 3 sollten durchaus die lateinischen verba, welche die
dort aufgeführten bedeutungen haben, aufgezählt sein. — Beson-
ders die casus lehre hat neben manchem eigenartigen und guten,
wozu ich z.b. den verzieht auf rhythmische Zusammenstellungen von
verben gleicher construetion , die Zusammenstellung des accusativs
des ausrufs mit dem accusativ bei den verbis affectuum , die erste
erwähnung der verba des kaufens gleich beim genetiv. pretii, die
erklärung mancher construetionen aus der etymologie rechne, auch
reichlich verkehrtes, im einzelnen also dürfte 106 anm. weg-
weisender etwa also zu fassen sein : bei ulcisci steht sowohl die person
oder sache, die man rächt, als auch die person, an der man sich rächt,
und die sache, für die man sich rächt, als accusativobject; nur beim
zusammentreffen von person und sache ist letztere von pro abhängig
zu machen. — 109 zus. 3 vom indir. medium ist — im nachschlage-
stoffe ! — für schüler unverständlich , da der ausdruck vorher nicht
vorgekommen, überhaupt nirgends erklärt ist; ein verfahren, das
z.b. auch 159,2 und 174 zus. 2 zu rügen ist. — Auch ist zu tadeln,
dasz wiederholt die fassung der regeln einfach eine aufzählung der
verschiedenen möglichen construetionen ist, was schon oben gestreift
wurde: 111 b und anm. 2 klingt geradezu irreleitend, ähnlich ist es
121, wo jeder hinweis auf den hauptunterschied zwischen personen-
und sachnamen fehlt, 139 anm., wo man jede andeutung über die
fülle vermiszt, in denen der blosze ablativ von truppenbezeichnungen
unmöglich ist, oder 196, wo man vergeblich eine bemerkung über
das überwiegen des indic. perf. nach priusquam bei verneintem haupt-
satze und über das vorwalten des conjunetivs bei demselben binde-
wort sonst in der erzählung sucht, man vergleiche auch noch 120, 2
anm., 140, 2 anm., 152 anm. 3 und 153 anm. 3.
122 wird der genet. bei den verben der gerichtlichen
bandlung als genet. causae bezeichnet, bei des verf. sonstigem
streben, die construetionen ursächlich zu erklären, um so merkwür-
diger; es ist ein explicativus zu den abl. crimine, nomine u. ä.; eine
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152 A. Scheindler: lateinische schulgrammatik,
redensart von hoc crimine accusatus hätte überdies wenigstens er-
wähnt sein müssen. — Geradezu falsch ist auch 124 die erklärung-
des gen et. bei inte r est als eines gen. possessoris, also dasz inter-
est patris wäre: 'es ist, gehört unter die dinge des vaters* und dasz
er mea, tua, sua, nostra, vestra bei interesse als acc. neutr. plur. ab-
hängig von inter erklärt, wie ist denn dann aber z. b. nihil interest
zu erklären? hiervon ist aber auszugehen: (nihil) interest bedeutet:
es ist (k)ein unterschied, macht (k)einen unterschied, und der gene-
tivus gibt, wie man längst erkannt hat, an, von wessen wegen (causa)
es (k)einen unterschied macht, gleichgiltig oder nicht ^leichgiltig ist !
Von anfang bis zu ende ist die dar Stellung des da-
tivus verfehlt, schon in der Vorbemerkung ist der ausdruck 'mit
dem dativ ist der finale locativ verschmolzen , daher bezeichnet er
auch den erreichten ort und zweck' unklar, es gibt schlechthin nur
einen locativus, und dann bezeichnet der dativus z.b. in auxiliocur-
rere, mittere u. a. durchaus nicht den 'erreichten' zweck; wie er
vollends den 'erreichten' ort bezeichnen soll, ist mir gar unerfindlich
trotz urbi appropinquare oder urbi muros circumdare. — Scheindler
unterscheidet dann zunächst 1) einen dativ der beteiligten person,
zu dem er den dativ des indir. obj. bei verb. trans. (dies gewis ebenso
richtig als eigenartig!), den dativ bei verb. intrans. und den dativ
bei adj. wie nützlich, nötig u. ä. rechnet, und 2) einen dativ des
interesses, 'in dem die person oder sache steht, ftlr welche — in
deren interesse — etwas geschieht' und unter den er den dativus
commodi und incommodi, den bei esse und den beim gerundivum
unterordnet, ich glaube kaum , dasz es vielen verliehen sein sollte,
einen unterschied zwischen diesen beiden arten zu erkennen; und
wie man gar in moderari irae, parcere templis eine beteiligte person
ausfindig machen kann , ist mir rätselhaft, den dativ des Zweckes
bei den verben 'geben, wählen, schicken, kommen' u. ä. setzt er dann
als besondere n. 3 an und gar ungeheuerlich lautet § 131 : 4) 'der
dativ steht als prädicat bei den verben: sum gereiche, do, duco,
tribuo rechne an, lege aus; mit ihnen verbinden sich da her oft zwei
dative.' im einzelnen ist noch zu bemerken, dasz der vers durate
et vosmet rebus servate secundis, den er als beispiel für den dativ
der beteiligten person im indir. obj. ansetzt, vielmehr unter den
dativus commodi ähnlich vitae discere gehört, und 126 anm. sollte
per su ädere in der bedeutung 'überzeugen' nicht mit 'sich raten',
sondern etwa 'sich einreden' verdolmetscht werden.
Auch unter dem ablativ ist nicht alles in Ordnung,
so ist gegen die Vorbemerkung zu erinnern , dasz der abl. nicht in-
folge seiner eigenschaft als adverbialer casus die functionen des ver-
lorenen Instrumentalis und locativus mit übernommen hat, sondern
dasz er vielmehr durch das formale zusammenfallen der drei casus
in dem einen zum adverbialen casus geworden ist. auch ist zu be-
dauern , d asz Scheindler auf eine strenge gruppierung der arten des
abl. verzichtet, indem er die gruppen höchstens durch die fragen:
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A. Scheindler: lateinische schulgrammatik.
153
L woher?, II. wodurch? wie?, III. wo? wann? andeutet, noch sind
139 letzte anm.a. e. fidere, fretus, confidus, bei denen überdies auch
die verbindnng mit dem dativus der person unbedingt erwähnt sein
mtiste, fälschlich unter dem abl. instrum. statt causae aufgeführt;
und 140, 2 ist die erklärung von opus est mit abl.« op(i)s est ganz
willkürlich ; hätte nicht gerade der Süddeutsche mit seinem 'was
schaffen^?' -» 'was wünschen Sie, was bedürfen Sie?* leichter er-
kennen sollen, dasz auch zwischen dem eigentlichen opus 'dem ge-
schaffenen' und dem benötigten, dem, womit uns etwas geschafft,
gedient ist, eine beziehung bestehen kann?
§ 159 hätte vor allem bemerkt werden sollen, dasz dem intran-
sitivum derjenigen deutschen verben, welche die active form zugleich
transitiv und intransitiv gebrauchen, das lateinische passivum ent-
spricht, wie terreor, vehor, lavor u. v. a. — 163 anm. 1 schmeckt
der ansdrnck von der 'einmomentigen auffassung einer lange dauern-
den handlung' so sehr nach 'undeutschem schuljargon', dasz er auch
einea ersatzes durch eine verständige deutsche erläuterung bedarf.
— § 169 zus. 2 erscheint mir die regel von der tempus folge
nach praes. hist in der fassung : 'nebentempora hauptsächlich in
Sätzen, die aus dem sinne des berichter statters gegeben sind, haupt-
tempora in solchen , die aus dem sinne des subjects im übergeord-
neten satze gesprochen sind', kaum haltbar; jedenfalls ist das eine
beispiel aus Caes. b. 6. I 5 post eius mortem e. q. s. nicht glücklich
gewählt, da gerade zwei conjunctivische sätze das umgekehrte Ver-
hältnis zeigen: combürunt, ut domum reditionis spe sublata para-
tiores ad omnia pericula subeunda essent und persuadent Eauricis,
uti . . una cum eis proficiscantnr. — 172 sollte angegeben sein, dasz
es hauptsächlich nur die indirecten fragen, also auch die quin-sätze
sind, die die Umschreibung des conjunct. fut. act. durch die conjug.
periphrast. benötigen, und dasz umgekehrt die sätze nach verbis
limendi, wo sich erfahrungsgemäsz die schüler am häufigsten zu dieser
Umschreibung versucht fühlen, sie nie haben dürfen.
Aus dem capitel über die modi in abhängigen Sätzen
möchte icb zuerst den unglücklichen ausdnick 'substantivsatz', der
zuerst 181 und dann oft erscheint, getilgt sehen; noch dazu heiszt
es von ihnen 205, 2: 'die deutschen substantivsätze sind subject-
oder object8ätze , als ob der verf. weiter keine Satzarten darunter
verstände, und doch bezeichnet er z.b. 193* auch causalsätze ebenso
und nicht minder ebenda c sätze mit 'was anbetrifft dasz' ! — Dann
ist § 183 vor 182 zu stellen, da sich die ut-sätze nach verbis timendi
als ebenfalls objectsätze wohl an die objectsätze in 181 , nicht aber
an die § 182 behandelten adverbialen ut-sätze anschlieszen. 185 darf
in dem für alle folgenden Verwendungen von quin geltenden köpfe
dieses nicht allgemein als fragewort bezeichnet werden, sondern als
interrogatives und relatives adverb.
Mehreres ist auch, abgesehen von dem schon erwähnten, wieder
gegen die paragraphen von den temporalsätzen zu erinnern.
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154
A. Scheindler: lateinische schulgrammatik.
195 wird für die zeitlichen bindewörter postquam, ut(-), ubi(-), cum
(primum), simulac nur ihre Verbindung mit dem indic. perf. in der
erzählung und mit den bauptzeiten in fällen der Wiederholung an-
geführt; und doch haben einige selbst in der erzählung in fallen der
Wiederholung imperf. und plusquamperf. bei sich , wie gleich das in
der anm. freilich von Scheindler fälschlich für eine ganz andere sache
beigebrachte beispiel ausNep. Ale. 1 4: simulac se remiserat neque
causa suberat quare animi laborem perferret, luxuriosus reperie-
batur, man vgl. auch Cic.Verr. IV 3, 5; Caes. b. G. IV 26, 2; Sali,
conj. Cat. IX; und umgekehrt stehen auch die haupttempora dabei,
ohne dasz von einer Wiederholung die rede ist; vgl. Cic: ubi semel
quis peieraverit, ei credi postea non oportet, auch die anmerkung 1
zu 195 ist falsch , von dem oben schon erwähnten vierten beispiel
ganz abgesehen, denn in den ersten drei beispielen für postquam
mit plusquamperf. bzw. imperf., in deren erstem es bei Nepos (Ale.
6, 2) übrigens potuerant heiszt, stehen diese zeiten vielmehr, um
einen seitdem bis zum eintritt der handlung des übergeordneten
satzes andauernden zustand, das imperf. schlechthin, das plusquam-
perf. mit rücksicht auf seinen eintritt, seinen beginn zu be-
zeichnen, und postquam ist dann gewöhnlich und so auch hier mit
'seitdem* zu übersetzen, endlich ist 197 anm. 2 und 3 die ausein-
anderziehung der fälle von cum temporale mit indicativ in solche,
wo der cum-satz vorangeht, und in solche, wo er nachfolgt, kaum
gerechtfertigt.
Zu einer merkwürdigen consequenzmacherei hat sich der
verf. in dem capitel über den acc. cum in f., an dem besonders
die angäbe der manigfachsten Übersetzungen für denselben lob ver-
dient, zumal in § 206 verleiten lassen, als ob nemlich allen accusa-
tivis cum inf. ausnahmslos in Unabhängigkeit aussagesätze entspre-
chen müsten und man nicht vielmehr über die Verbindung mancher
verben und Wendungen mit dieser construetion betroffen wäre, legem
brevem esse oportet (205) soll es heiszen, weil es dem unabhängigen
lex brevis est, me ipsum ames oportet dagegen, weil dies dem unab-
hängigen me ipsum ama entspräche, desgleichen consuetudo populi
R. non patitur, ut Caesar socios deserat soll gesagt sein, weil das
unabhängig laute: Caesar socios deserat!! oder garvolo ne id faftias
wird richtig aus dem unabhängigen ne id facias, die ebenfalls mög-
liche Verbindung volo rem tibi bene evenire aber daraus erklärt,
dasz sie einem satze 'res tibi bene evenit' entspräche!! diese ver-
kehrte auffassung spukt auch in der anmerkung insofern, als in volo
ut mihi respondeas der ut-satz als nötig für den abhängigen befehls-
satz und in 'volunt me hoc dicere' diese construetion wieder als
nötig für den objectsatz bezeichnet wird, doppelt schief, da auch ein
abhängiger befehlssatz ein objectsatz ist und da beide male beide
construetionen möglich sind.
Das partieipium wird 215 ff. als attributives, appositives, ab-
solutes und prädicatives behandelt, eine vierteilung, die mehr be-
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J. Steiner u. A. Scheindler : lateinisches lese- und Übungsbuch. 155
stechend als richtig ist, da das appositive, d. h. das, welches einen
conjunctionalen nebensatz vertritt, mit seinem Substantiv durchaus
nicht anders oder in anderem sinne verbunden ist, als das 'absolute'
im ablat. absol. mit seinem ablativus. endlich dürfte in der Vers-
lehre in § 229 die angäbe über die kurz und lang zu sprechenden
silben überflüssig, die jetzt vermiszte auseinandersetzung über posi-
tionslänge in demselben worte aber unbedingt nachzutragen sein ;
es macht fast den eindruck, als hätten § 5 und § 229, 1 irrtümlich
ihre plätze getauscht.
Aus dem vorstehenden ist ersichtlich , dasz die Scheindlersche
grammatik dem selbstbewustsein, mit dem sie ihr verf. infolge seines
rühmlichen strebens, möglichst alle forderungen der neueren metho-
dik und alle ergebnisse der wissenschaftlichen forschung gleich mäsz ig
zur geltung kommen zu lassen, in die weit geschickt hat, in der aus-
führung des einzelnen noch nicht ganz entspricht, doch wird es
zweifelsohne keiner allzu groszen arbeit mehr bedürfen , um das in
seinen erläuterungen vielfach gediegene und in seiner darstellungs-
art meist geschickte buch bei einer neuen aufläge auf die höhe zu
bringen, welche ihm zu wünschen ist, damit es die Verbreitung finden
kann, welche es ob seiner knappen darstellung des obligatorischen
lehrstoffes und ob der dem darin ratsuchenden ausreichend gebote-
nen belehrung verdient.
2.
Vollkommener als die grammatik, ja ich möchte sagen, ein
geradezu liebenswürdiges buch ist der erste teil des
zugehörigen lateinischen lese- und Übungsbuches, es
bietet nach demgrundsatze, dasz, wie jeder fremdsprachliche,
soanchder lateinische anfangsunterricht den inductiven
oder analytischen weg gehen soll, etwa nur ein viertel deut-
schen übungsstof fes auf dreiviertel lateinischer lese-
stücke, die letzteren sind mit ausnähme weniger, meist espruch-
satze'überschriebener abschnitte durchweg zusammenhängend,
dabei ist wirkliche geschichtsdarstellung, die auf dieser stufe leicht
gekünstelt wird, ja es wohl mehr oder weniger sein musz, die über-
diesjauch ebenso häufig veranlassung wird, fern liegende Wörter und
Wendungen heranzuziehen, als sie schuld daran trägt, wenn der
grammatische stoff nicht hinreichend zur anschauung kommt, fehler,
an denen eben deshalb z. b. der sonst treffliche Meurer leidet, mit
richtigem geftthle im ganzen vermieden, einzelsätze mit fremden,
unvermittelten namen natürlich erst recht; und die abschnitte 31
(die könige der alten Römer), XCVII (vom alten Gallien) und CXVI
(das alte Helvetien) sind vielleicht die einzigen, die man eben des-
halb lieber missen würde, im übrigen herscht ganz die darstel-
lungsart, wie sie dem gesichtskreise 9jähriger sexta-
ner durchaus entspricht, gespräche, geschichtliche
auekdoten, sagen und ganz besonders fabeln, dieser
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156 J. Steiner u. A. Scheindier: lateinisches lese- und Übungsbuch.
musterstoff für die kleinen rekruten, und alles in mustergiltiger
form1, so dasz sie wirklich, wie die Verfasser hoffen, 'einer allmäh-
lichen bildung des gefiibls für das Verhältnis von inhalt nnd form
dienen können.' das gilt selbst von den der sache gemäsz anfangs
überwiegenden stücken, die weder sagen oder anekdoten, noch ge-
spräche oder fabeln sind, sondern, wie die verf. sich bescheiden aus-
drücken, nur 'inhaltlich zusammengehörige einzelsätze Uber einen
durch die Überschrift bezeichneten gegenständ*.
Wie anmutendes hierin frühzeitig geboten wird,
wird am besten durch abdruck einiger stücke gezeigt, so lautet schon
XI (zur zweiten declination) :
Landaufenthalt.
1. quantopere amo vitam rusticam! 2. cum negotiis ac curis
liber sum, laeto animo rectä vis ad villam avunculi propero. 3. populi
procerae viam ornant umbramque praebent 4. en! iam avunculi
villam video in clivo sitam et fagos pulchras villae finitimas. 5. in-
terdiu saepe cum avunculo in umbra fagorum latarum sedeo; ventus
flat per fagos umbrosas; prope rivus murmurat. 6. sub vesperum
quoque sub fago altä et latä sedemus, cenamus, cantamus. 7. quam
incunda est vita rustica!
Oder XXIII (zur dritten declination) :
Dichter und bienen.
1. inter poe'tas et apes non parva est similitudo. 2. ut apes
natura tantum aguntur ad industriam et laborem , sie poe*tae natura
valent et divinä mente incitantur. 3. apium sedularum examina per
campos volitant, variis ex floribus sueum dulcem sugunt digerunt-
que per favos. 4. pofc'tae quasi per nemora Musarum ambulant,
flores colligunt, carmina contexunt. 5. carminibus poe't arura homines
delectantur ut melle dulci. 6. recte igitur poe*tae saepe cum apibus
sedulis comparantur.
Endlich später XC1X (ftfr esse):
Die Unbeständigkeit der menschlichen dinge.
1. en ! in colle illo aprico ante tria fere saecula arx fuit amplis-
sima ac firmissima. 2. nunc illius arcis muri tantum exstant, qni
spatia deserta continent. 3. domini arcis viri fuerunt fortissimi ac
nobiliseimi. 4. nunc nemo ibi habitat; in murorum rimis avium
multarum nidi sunt et densi frutices muros undique cingunt. 5. at-
que in hac planitie, in qua nunc arva laeta, agros fecundos, prata
viridia videmus, antiquis temporibus urbs fuit celeberrima atque in-
signis commercio et studiis artium liberalium ; ingens fuit multitndo
domuum pulchrarum et incolarum industriorum. 6. multa et insignia
1 mir ist wenigstens bei flüchtigem überlesen ausser der unclas&i-
schen Verbindung von institnere (richte ab) mit infin. in CLIII nichts
aufgefallen.
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J. Steiner u. A. Scheindler : lateinisches lese- und Übungsbuch. 157
sunt exempla inconstantiae rerum humanarum. 7. veteres Romani
öomini fuerunt totius fere Orbis terrarum: multae gentes eis ob-
noxiae erant, quae antea potentissimae fuerant. 8. sed nimia potentia
Romanis perniciei fuit. 9. avaritia et luxuria causa fuerunt interitus
<imperii*> veterum Romanorum. 10. ceterum tu quoque, quam in-
finnus es et caducus! 11. tu hodie non es, qui heri fuisti, neque cras
erb, qui hodie es.
Man wird es gewis nur billigen, dasz die verf., um solchen stoff
bieten zu können, bereits gleichzeitig mit der nominal- und
pronominalflexion den indic. praes. act. aller vier conjuga-
tionen lernen lassen, auch der deutsche Übungsstoff besteht z. b.
aus solchen zusammenhängenden stücken; später, wenn die scbüler
bereits einigermaszen selbständig mit einem Wörterverzeichnis um-
zugehen wissen, auch aus erzählungen mit neuem Wörtervorrat, im
allgemeinen ist jedoch der deutsche Übungsstoff nicht so streng zu-
sammenhängend, und das hauptgewicht ist darauf gelegt,
dasz darin der früher dagewesene lateinische wort- und
phrasenschatz möglichst reichlich wiederholt und ge-
übt wird und dasz seine Übersetzung nach beherschung der voraus*
gegangenen lateinischen stücke den schülern leicht, ja spielend mög-
lich ist. hierdurch , wie überhaupt durch schrittweises weitergehen
vom leichten zum schwereren, wird dem scbüler die Zumutung er-
spart, leisten zu sollen, was ihm zu schwer oder gar unmöglich ist,
und er genieszt so jene hebende und fördernde freude am können,
auszer den 153 lateinischen und 66 deutschen lese- und Übungs-
stücken enthält das buch überdies in einem anhange zunächst latei-
nisch und deutsch 65 Sprichwörter bzw. sprichwörtliche redensarten
und dann nur lateinisch als gedächtnisverse 28 hexameter und
6 disticha.
Das grammatische pensum, dessen einübung das buch
dienen will, ist die ganze wirklich regelmäszige formen*
lehre, und zwar in dieser folge: erste bis fünfte declination, com-
paration, adverbia, numeralia, pronomina, sum und composita, erste
bis vierte conjugation. ausgeschlossen sind: unter den compo-
sita von esse: possum, die verben der dritten conjugation auf io, alle
deponentia und die conjugat. periphrastica , sowie auch unregel-
mäßige satzconstructionen, vor allem also bindewörter mit dem con-
junctiv vermieden sind; alles in allem eine beschränk ung , mit der
man nur einverstanden sein kann, da sie es leichter ermöglicht, in
sexta mit einem sicheren können einen fUr immer haltenden grund
zulegen, der lernstoff ist dabei dem schüler in einer jedem
übernehmen, jeder Uberladung vorbeugenden weise in klei-
nen portionen zugeteilt, ich will als beispiel nur das verfahren
bei der dritten declination anführen: erst nach fünf lateinischen und
zwei deutschen stücken über die consonan tischen stämme mit asigmat.
dies wort rate ich einzuschieben]
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158 J. Steiner u. A. Scheindler: lateinisches lese- und Übungsbuch.
nominativ folgen in drei abschnitten die consonantischen stamme
mit sigmat. nominativ, dann in drei lateinischen und einem deutschen
die gleichsilbigen feminina und in ebenso vielen die (eigentlich ja
auch gleichsilbigen) neutra auf e, al, ar und die adjectiva, hierauf in
zwei abschnitten die Wörter mit der durch zwei consonanten im stamm
veranlaszten genitivendung ium und endlich in vielen oft durch wie-
derholungsstttcke unterbrochenen einzelabscbnitten dives und pauper,
vetus, ver und iter, ordo und sermo, leo, die masculina auf is, auf
ns und x, os, cor, caro, bos, Iuppiter, nix, senex, endlich vis. schade
ist es nur, dasz diese erfreulich einfachen gerichte nicht, wie man es
bei einem doch so unverkennbar in Perthes' geiste gearbeiteten
buche erwarten sollte, noch durch teilüberschriften neben den groszen
capitelschildem I., II. declination, I(A). conjugation u. ä. gleich
kenntlich gemacht sind, denn dasz in der wortkunde am Schlüsse,
später am köpfe der gleich numerierten abschnitte die zahlen der
zugehörigen paragraphen der grammatik angegeben und von den
hanptgeschlechtsregeln abweichende substantiva stets in Verbindung
mit passenden adjectiven aufgeführt sind, kann, so willkommen
beides ist, doch nicht vollen ersatz bieten.
In dieser wortkunde, die auch nach ihrem wünsche aus den
bekannten gründen gesondert gedruckt werden soll, geben
sich die Verfasser ganz und gar als anhänger Perthes',
der von stunde zu stunde zu lernende und grosz und fett gedruckte
memorierstoff ist demgemäsz auf diejenigen Wörter je nur der latei-
nischen lesestücke beschränkt, die zu dem grammatisch schon be-
handelten oder eben zu behandelnden pensum gehören, und alle Ver-
treter späterer partien der grammatik sind nur zur beiläufigen
kenntnisnahme und unbewusten aneignung darunter in kleinerem
drucke mitgeteilt, die Wörter sind aber nach redeteilen angeordnet,
innerhalb derselben wieder nach conjugationen und declinationen und
innerhalb der letzteren wieder nach der nominativbildung. endlich
ist für die Wiederholung des Wortschatzes, die zu seiner von
den verf. mit recht geforderten festen beherschung durchaus nötig
istT in zweifacher weise gesorgt : einmal werden von den in vorher-
gegangenen lesestücken dagewesenen Wörtern alle, welche mit einem
neu auftretenden verwandt sind, unter diesem eingerückt wieder
abgedruckt, und auszerdem sind — nicht etwa als ob dies die ein-
zigen Zusammenstellungen bleiben sollten, sondern mehr als niuster,
wonach des öfteren verfahren werden soll — vor den capiteln über
die vier conjugationen die bis dahin dagewesenen sämtlichen v erben
der betreffenden conjugation zusammengestellt.
Eine hieran geknüpfte bemerkung der verf. zeigt übri-
gens, wie sie sich den stoff der lesestücke durch die
schüler beherscht denken, die Wiederholung jener verben soll
so erfolgen, dasz sie der lehrer der reihe nach aus der wortkunde
mit der dort angegebenen grundbedeutung vorliest, und die schüler
sollen nun im allgemeinen imstande sein, aus der erinnerung den
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J. Steiner u. A. Scheindler: lateinisches lese- und Übungsbuch. 159
Zusammenhang anzugeben, in dem sie vorkamen, sowie die speciellere
bedeutung, die sie dort hatten, nun, der stoff ist es ja wert, dasz
also ernst gemacht wird mit dem ausgehen vom satze und dasz die
knaben ihn also einprägen, und wenn es gelingt, das ganze buch so
zu bewältigen, wie seine verf. es wollen, dasz nemlich die schüler
unter anfangs ganz peinlicher und auf jedes wort sich erstrecken-
der, später mehr und mehr zurücktretender leitung durch den lehrer
je in einer stunde einen solchen abschnitt nachlesen und nachüber-
setzen, und die zugehörigen, vom lehrer lateinisch und deutsch aus
der wortkunde vorgelesenen Wörter wiederholen, dasz sie daheim
die fettgedruckten Wörter vollends lernen und die andern durchlesen
und die Übersetzung sowie die in der schule nach Zusammenstellung
der musterbeispiele bereits geübte flexion wiederholen, dasz endlich
in der folgenden etnnde die Wörter genau Uberhört und das letzte
stück noch einmal gelesen und übersetzt wird , dann , ja dann steht
allerdings die erreichung des von den verf. gesteckten Zieles, die
erreichung eines sicheren könnens und die beherschung
eines wertvollen lesestoffes und seines wort - und phra-
senschatzes am ende des sextacursus zu erhoffen.
Dasz übrigens unter den Stammformen der verben auch in der
wortkunde an dritter stelle das partic. perf. angeführt ist, kann nach
dem von Scheindler in der grammatik vertretenen Standpunkte nicht
wunder nehmen, mehr wird mancher vielleicht bedauern und es als
zu weitgehende bescbränkung des lehrstoffes auffassen, dasz alle
thätigkeits Wörter, welche nur in den der einübung der formen vom
prfisensstamme dienenden abschnitten vorkommen, auch nur in dessen
formen angeführt sind und gelernt werden sollen.
Ganz mit recht ist dagegen schon am Schlüsse dieser wortkunde
für sexta eine Zusammenstellung und -erklärung der wich-
tigsten synonjma und Wörter ähnlicher bedeutung ge-
geben; es sind immerhin 91 Wörter, die hier in 34 gruppen geordnet
und erläutert sind, endlich sind ebenfalls ganz im einklang mit den
forderungen, die Scheindler in solcher beziehung im Vorworte seiner
grammatik stellt, auch in der wortkunde alle lang zu sprechen-
den vocale in lobenswerter weise ausnahmslos und gewissenhaft
durch einen — bezeichnet, die wenigen verstösze, die mir in
dieser beziehung beim durchblättern auffielen und hier angegebeil
werden sollen, sind folgende, es ist zu drucken: XII erüca statt
erüca und pirus und pirum statt pirus und p Trum, XIII apis statt
äpis, XCIX incönstantia statt incönstäntia, CIV 2b Agis statt Agis,
CLI, I digitus statt dlgitus, II crucis statt crücis und dir-imo
statt dir-imo, endlich CLIII quamdiü statt quamdiu.
Mögen uns die verf. recht schnell eine reihe von Jahrgängen zu
Scheindlers grammatik gehöriger Übungsbücher schenken, die wir
ebenso willkommen heiszen können, wie ihren Vorläufer, den vor-
liegenden ersten teil für sexta !
Zittau. Theodor Matthias.
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160 R. Thiele: vorlagen zu Übersetzungen ins lateinische.
15.
VORLAGEN ZU ÜBERSETZUNGEN INS LATEINISCHE FÜR DIE PRIMA DE8
GYMNA8IUM8 ZUSAMMENGESTELLT VON DR. BlCHARD THIELE,
GYMnasialdireotok. Breslau, Koebner. 1891. III u. 46 s. 8.
Die zahl der bücher, die bei uns geschrieben sind, um die kunst
des Übersetzens aus dem deutschen ins lateinische zu fördern, ist sehr
grosz, und es wird in ihnen den manigfachsten Standpunkten und be-
dürfnissen rechnung getragen, wozu also abermals ein solches buch,
zumal in einer zeit, die daraufhinarbeitet, dasz der betrieb der deutsch-
lateinischen Übungen zu gunsten einer vielleicht erweiterten, jeden-
falls aber vertieften lectüre eingeschränkt werde? aber gerade diesen
umstand hat der verf. der vorlagen berücksichtigt, wie das refor-
mierte gymnasiuni aussehen wird, kann er natürlich so wenig wie
andere leute wissen; aber er geht sicher nicht fehl mit der annähme,
dasz man auch künftig noch an den primaner die forderung stellt,
einen nicht zu schweren und zur Übertragung in das lateinische
geeigneten deutschen text in das lateinische zu Übersetzen, so passt
er sich der zukunft an, ohne von der gegenwart abzusehen; das
büchlein wird später so gut zu gebrauchen sein wie es jetzt gut zu
verwerten ist. die aufgaben, welche wirklich deutsch geschriebenen
bücbern, u. a. der griechischen litteraturgeschichte von F. Bender,
der Duruyschen geschichte des römischen Kaiserreiches in der Über-
setzung von Hertzberg, der Winckelmannschen geschichte der kunst
des altertums u. a. entnommen sind, sollen je nach der Schwierigkeit,
die sie bieten, für classenarbeiten (extemporalien) , für häusliche
arbeiten (exercitien) oder für die sog. classenexercitien verwandt wer-
den, die Übersetzungshilfen, die der herausgeber in beschränktem,
aber doch ausreichendem masze bietet, sind durchweg passend und
gut lateinisch, womit nicht gesagt ist, dasz man nicht manches auch
anders wenden könnte, und dem schüler wie dem lehrer ist eine er-
wünschte freiheit der bewegung gelassen, warum sich der verf. das
büchlein ausschlieszlich in den händen der lehrer denkt, will mir
nicht recht einleuchten; es ist handlich und billig, und es steht
nicht zu befürchten, dasz ein misbrauch damit getrieben werden
könnte, würden die schüler ohne alle hilfe gelassen, so möchten
doch manche stücke für gymnasiasten der zukunft zu schwer sein;
ernste denkarbeit wird auch so noch von ihnen gefordert, wo es
also angeht, führe man die schrift ein, schon um der Zeitersparnis
willen ; der herausgeber müste dann freilich, wenn alle stücke durch-
gearbeitet sind, rechtzeitig dafür sorgen, dasz aus ähnlichen vor-
lagen, die er praktisch in seinem Unterricht erprobt hat, ein neues
heft zusammengestellt und der öffentlichkeit übergeben würde.
Stettin. Christian Muff.
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ZWEITE ABTEILUNG
FÜB GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AUSSCHLUSS DKK CLA86IHCHKN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. HERMANN MASIUS.
(10.)
BEITRÄGE ZÜE GESCHICHTE DES HÖHEREN SCHUL-
WESENS IN DER OBERLAUSITZ,
(fortsetzung.)
Obwohl also die schule keineswegs unter kirchlicher aufsieht
stand, war sie doch auch mit der kirche verbunden, denn da der
rat, wie bereits erwähnt wurde, keinen gehalt zahlte, und da ferner
das Schulgeld viel zu gering war, als dasz die lehrer dadurch sich
hätten befriedigt erklären können, waren dieselben ganz von selbst
auf die kirche und deren zahlreiche einkUnfte angewiesen, diese be-
zieh ung war um so natürlicher, als einerseits die kirche die schüler
notwendig zum gottesdienst brauchte und anderseits die lehrer
selbst in der weitaus größten anzahl kleriker waren, in Neisse waren
der rector und seine gebilfen an der pfarrschule zu St. Jacob unver-
heiratete kleriker, und ihre haupteinnahmen hatten sie von altären
und von pf runden. 10 in der Breslauer kirche zu St. Elisabeth gab
es 47 altftre mit 122 altaristen, in der kirche zu St. Magdalena gar
58 altäre mit 124 altaristen, unter denen Schulmeister waren, ja es
bestanden geradezu Stiftungen für den rector und seine gehilfen, wie
bei St. Maria Magdalena in Breslau aus dem jähre 1449 , wofür sie
die frohnleichnamsprocession durch ihre beteiligung feierlicher ge-
stalten sollten.
Solche beziehungen zwischen kirche und schule waren auch in
Görlitz, so erfahren wir aus dem vergleich (siehe darüber weiter
10 Pedevritz in der historia ecclesiastica ecclesiae paroch. s. Jacobi
Nissae bei Kastner, programm Neisse 1865 s. 1 f. — Besäglich Breslaus
Tgl. Reiche, gesch. des gymn. zu St. Elisabeth I (progr. 1843) s. 11 und
Schönborn, beitr. zur gesch. der schale und des gymn. zu St. Maria
Magd, (progr. 1843) II s. 18 f.
N.jthrb. f.phil.u. päd. U.»bt. 1891 hfl. 4. 11
*
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162 Beitrage zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
unten)11, durch welchen 1446 der streit zwischen dem pfarrer und
Schulmeister wegen der beköstigung beigelegt wurde, dasz letzterer
mit zur priesterschaft gerechnet wurde , und bei Hass (III s. 303)
lesen wir : fItziger Lutterischer zeit abir hat jsz sich gar vmbgekart,
das der Schulmeister mit seinen gehulffen baccalarien vnd cantorj
alle beweibet, das beyvnsernalden, auch noch für XV. etc.
jaren ein vngehort ding gewest, die mann nhu also mit jren
weibern vnd kindern weiter vnd grosser vorsolden musz . . und
weiterhin (s. 307): c. . . der Schulmeister mit den baccalaureen hat
gehn müssen jn Studenten kappenn, gleich den priestern.. .*
bezüglich der ersten behauptung glaubte allerdings Schütt a. o.
s. 10 auf eine ausnähme aufmerksam machen zu müssen : in Janke,
Mem. I s. a. 1400 stehe neben M. Peters namen am rande: 'Anna
Lemanin, vxor. b. vx. Hedwig filia Petri von Salza.' dieser M.Peter
ist aber sicher der frühere Schulmeister, der, wie oben bemerkt,
1383 stadtschreiber und 1398 bürgermeister wurde, sein schulamt
also niedergelegt hatte, für die mitwirkung beim gottesdienste er-
hielt der Schulmeister vom pfarrer die beköstigung (am tische des
pfarrers hatte er seinen platz neben diesem, siehe anm. 11) und geld,
die gesellen nur geld"; das war seit dem anfange des 15n Jahrhun-
derts, wenn nicht seit noch früherer zeit so gewesen, ja der pfarrer
hatte damals geradezu mit dem Schulmeister einen vertrag abge-
schlossen, in welchem die gegenseitigen Verpflichtungen bestimmt
worden waren, der pfarrer Peter Kalde freilich sah nicht ein, 'wo-
rumb er sulche beschwerunge sines Tisches von einem Schulmeister
leiden dorfiV, und verweigerte um 1445 jenes abkommen seinerseits
zu halten, wobei er übrigens nicht der erste war: klagen aus dem
jähre 1418 über beeinträchtigungen der lehrer seitens des pfarrers
beziehentlich dessen vicars sind uns überliefert." ob diese klagen
11 aus Barth. Scultetus bei Schütt a. o. b. 9 f.; bei Knauthe a. o.
s. 7 ff. Joh. Müller, Schulordnungen s. 282 ff. nach Knauthe mit den
Varianten Schutts auf 8. 360. die angezogene stelle lautet nach Scul-
tetus-Schütt : f . . . sulde ein Pfarrer den Schulmeister gleich andir sinir
Priesterschaft mit Speise vnd tranck beaorgin vnd obir einem Tische
znnehi8t dem Prediger setz in . . .', worte, welche sich am ende des-
selben Schriftstückes wiederholen.
" nach andern nachrichten — vgl. die anm. 18 erwähnte klage vom
jähre 1418 mit einer stelle aus Funckes annalen 8. 502 f. (Schütt s. 8, 6)
— war der pfarrer verpflichtet, auch den gesellen, allerdings nur wöchent-
lich einmal, ressen und trincken zu geben'.
IÄ sie finden sich unter dem jähre 1418 in Funckes annalen (Schütt
8. 9, 11): 'Hoc anno zum ersten, dasz des Pfarrers Schaffer die Capel-
lane die ersten vigilias hatt lasseu singen: welches dem Schulmeister
von rechte hätte gebühret mit zu singen. It.: dasz auch jährlich vier
Bade, dem Schulmeister und seinen Leuten oder Collegis abgebrochen
würden, ohne wasz der Schulen sonst ist abgebrochen. It.: So gehet
auch der Schulen ab, dasz des Meisters Gesellen nicht so offte
des Jahres zu des Pfarrers Tische als zuvor gehen. It.: So
ist auch der Meister von seiner vorigen Stadt, niedriger und herab-
gesetzt über dem Tische. It.: Hiermit musz der Meister die erste Messe
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"Beitrage zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 163
etwas genützt haben, wissen wir nicht, Peter Kalde muste sich aber
dem Schiedsspruch einer commission von sechs männern fügen, die
nach genauer Untersuchung bestimmten, dasz alles beim alten bleiben
sollte (vgl. anm. 11): der Schulmeister und seine nach folger sollen
die rirste mesze, die ZU L MESSE \ und die fvnser liebin frawen
Messe' taglich 'bestellin vnd vszrichten' lassen, doch so, dasz die
letztere von nun an ganz, nicht wie früher blosz bis zu dem Agnus
Dei , gesungen werde (es kam also das f Dona nobis pacem ' noch
hinzu), auch hat sich der Schulmeister oder seine locaten mit den
Schülern an den processionen der andern kirchen, nicht blosz an
denen der Peterskirche, zu beteiligen. f Ouch sol der Schulmeister
fürbasz mehir den pfarrer mit den obind collationib. vnd baden vn-
bekommert laszin : sundir sich alleine by den andern aldin vnd guten
gewonheitin haldin, vnd ist furder an heiligin vnd werktagin, in
Metten, Messen vnd Vespern zu singen, als vor alders bestellin.'
dafür muste der pfarrer sich von neuem verpflichten, den Schul-
meister vollständig zu beköstigen, und zwar ihn * wider obir sinen
Tisch zu setzen', dem signator aber und seinen heifern für die Lieb-
frauenmesse wöchentlich zwei groschen und für die Zollmesse einen
pfennig zu geben, von der beköstigung der gesellen, vgl. anm. 12,
ist also hier nicht die rede, aus Hass' erwähntem bericht über die
priesterzinsen (III s. 307) erfahren wir aber, dasz die 'Collaterales'
bei den bürgern ihren tisch hatten.
Die erste erwähnung der Zittau er schule fallt in das jähr
1310, wo der rat durch einen tausch mit den kreuzherren (Johan-
nitern) einen platz an der schule erwarb; vgl. Köhler, cod. dipl.Lus.
sup. I* s. 195 f. ohne allen zweifei war sie, wie in Bautzen und in
Görlitz, ursprünglich eine pfarrschule, welche bei der hauptkirche
zu St. Johannis bestand, der patronat über diese pfarrkirche stand
jedenfalls dem könige von Böhmen zu , da Zittau auch sonst unmit-
telbar unter ihm stand; zudem haben wir bei Köhler s. 133 f. eine
Urkunde, durch welche Wenzel II im jähre 1291 die Schenkung eines
hauses an die Zittauer parochialkirche genehmigt und dieselbe von
allen steuern befreit; und Wenzel II oder dessen Vormund markgraf
Otto von Brandenburg ist es sicher auch gewesen, der vor 1291 den
Johannitern die pfarrei mit allem zubehör übergab, so dasz der
jedesmalige Vorsteher der Zittauer Johanniterniederlassung, der com-
mendator, von da ab stadtpfarrer war." nur die schule gieng nicht
mit an die neuen besitzer Uber, sie blieb eigentum des rates. für
die richtigkeit dieser ansieht spricht der umstand, dasz die schule
umbsonst mit einem Schüler bestellen, die doch zuvor ein Pfarrer be-
stellt hatte.'
11 1291 nehmen wir mit Knothe (nachtrage zur presbyterologie des
Zittauer weichbildes vor der reform, in dem laus. Mag. bd. 61 p. 138)
als terminus ante quem deshalb an, weil in einer Urkunde (Köhler a. o.
s. 133 f.) vom jähre 1291 der plebanus Fridericus als frater d. h. des
Johanniterordens erscheint.
11«
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164 Beiträge zur geschieh te des höh. Schulwesens in der Oberlansitz.
unmittelbar neben dem pfarrhofe, dem späteren sitze der kreuz-
herren, lag, und dasz diese den ganzen häusercomplex und das ganze
areal rings herum bei der Übertragung der pfarrei erhielten , einzig
und allein das scbulgebäude ausgenommen; eben infolgedessen sah
sich der rat gezwungen, als er den platz an der schule gern haben
wollte, mit den kreuzherren den erwähnten tausch einzugehen.
Da also die schule dem rate gehörte, nahm dieser natürlich auch
für sich das recht in anspruch, den Schulmeister zu wählen und ein-
zusetzen, allein nach und nach mochte er zu der einsieht gelangt
sein, dasz es besser sei , wenn das Schulwesen in der band der geist-
lichkeit liege, und so Ubertrug er das recht der berufung des meisters
dem commendator im jähre 1352 durch einen vertrag (Carpzov,
Anal. Fastor. Zitt. III s. 96; auch bei Joh. Müller, vor- und früh-
reform. Schulordnungen 8. 23 f.). vielerlei, was auch anderwärts
bei der entwicklung der Stadtschulen eine rolle spielte, tritt uns in
den wenigen Worten dieses Schriftstückes entgegen, mit aller be-
stimmtheit verkündet der rat in den eingangsworten, dasz die schule
ihm gehöre, und dasz das recht der Verleihung ihm zustehe, trotz-
dem tritt er die bauptsorge um die anstalt, die wähl des rectors, ab,
weil, wie er sagt, *der comptor sich besser verstehet, welch meiste r
zu der Schule tüchtig sey', in Wahrheit wohl hauptsächlich deshalb,
um dem Schulmeister ein besseres einkommen zu verschaffen, denn
wie in Görlitz wird sich der rat nur darauf beschränkt haben, ihm
die wohnung und das Schulgeld zu gewähren, wozu etwa kleine ein
kttnfte von gottesdienstlichen Verrichtungen und von dienstleistungen
beim Stadtrate kommen konnten (stadtschreiberdienste). günstiger
aber wurde die läge des Schulmeisters , und viel mehr gelegenheit
bot sich ihm, sein einkommen zu erhöhen, wenn er von dem com-
mendator gewählt, engeren anschlusz an die priesterschaft hatte als
früher, wie an andern orten, so kommen auch in Zittau während
der zeit, die wir hier im auge haben, sogar beispiele vor, dasz Schul-
meister ganz in das geistliche amt übertreten: M.Joh. de Lieberosa,
seit 1381 rector, wurde 1403 caplan in Zittau, und M. Michael
Arnold, rector bis 1511, starb als Zittauer messpriester im jähre
1537; siehe Pescheck, handbuch der geschiente von Zittau I 8. 542.
als untergebener des commendators soll der meister 'furcht vor ihm
haben, dass er den chor und auch die schule halte nach ehren und
nach weiszheit und auch nach rechte', die besorgung des chores
wird also besonders hervorgehoben, ein neuer beleg dafür, dasz die
schule eben wegen des gottesdienstes mit der kirche in beziehung
stand und für dieselbe bedeutung hatte, das lehren uns auch einige
Stiftungen, aus denen der Schulmeister sein einkommen vermehrte:
seit 1468 bezog er für seine beteiligung an den donnerstagproces-
sionen zwei groschen, seit 1476 von dem singen des 'Tenebrae' zwei
Schillinge, wovon den locaten ebenso viel zukam, und seit 1519 von
dem 'Salve Regina' zwölf groschen, während seine gesellen vierzehn
groschen erhielten, mit der bemerkung, der rat werde, wenn sich
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Beitrage zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 165
der commendator 'krieglich halten wollte', sein recht wieder zurück-
fordern, schlieszt der vertrag, dieser fall könnte 1511 eingetreten
sein, da in diesem jähre nach Dörings annales gymnasii Zittaviensis
der rector durch den rat eingesetzt wurde, eine erklärung, welche
uns näher zu liegen scheint, als die Gärtners (im progr. zum jubil.
des gymn. zu Zittau 1886 'die Zittauer schule bis zur grttndung des
gymnasiums'), welcher vermutet, 'der rat habe sich bei der wähl des
Schulmeisters gewisse rechte vorbehalten.' davon steht aber in dem
erwähnten vertrage nichts , es müste also weiter vermutet werden,
dasz ein derartiges abkommen erst später getroffen worden sei. —
Im ganzen dürfte sich die Zittauer schule einer ruhigen Entwicklung
erfreut haben, eben weil das recht auf die schule durch jenen ver-
trag von 1352 60 überaus klar angegeben war.
Von der schule in Lauban, deren existenz nach unseren frühe-
ren ausfuhrungen etwa seit der mitte des 13n jahrhunderts anzu-
nehmen ist, erhalten wir die erste künde im anfange des 14n jahr-
hunderts: s. a. 1317 wird in den Chroniken der stadt (im archiv des
magistrates zu Lauban) erzählt, der rat sei 'mit ihren priestern und
Schülern' dem zuge entgegengezogen, der von Friedland her die
leiche des in Prag verstorbenen herzogs Wenzeslaus von Schlesien
durch Lauban geleitete, auch diese schule war eine städtische und
ohne zweifei aus der schule bei der pfarrkirche entstanden, denn in
der zeit, in welche wir die allmähliche entwicklung der schule zu
setzen haben, war in Lauban niemand, der sich um das Schulwesen
kümmern konnte, auszer dem stadtpfarrer und nachher dem rate ;
das nonnenkloster wurde erst 1320 und das der Franciscaner 1332
gegründet, und unter städtischem patronat ist die schule geblieben,
die zeit etwa abgerechnet, in der das nonnenkloster von seiner grün-
dung an das ius patronatus über die kirche und damit vielleicht auch
über die schule ausübte, mag das so gewesen sein , oder mag man
hier Verhältnisse annehmen, die den Zittauischen ähnlich waren,
jedenfalls kam das ius patronatus über die kirche im jabre 1348
wieder an die stadt '*, und ihr verblieb es hinfort trotz vieler ver-
suche seitens des klosters, es ihr streitig zu machen.
Dasz aber zwischen der schule und dem nonnenkloster beziehun-
gen, wenngleich nur äuszerliche, bestanden, ist deshalb von vorn
herein anzunehmen , weil der rat von Lauban ebenso wenig wie der
anderer Städte um den unterhalt der von ihm berufenen lehrer sich
gekümmert, sondern dies der kirebe überlassen hat. ,s da nun das
kloster bei seiner gründung das ganze kirchengut von Lauban er-
hielt, so übernahm es auch die Verpflichtung, für den unterhalt der
15 vgl. Gründer, chronik von Lauban s. 61 ff. nnd Müller, kirchen-
geseb. der Stadt Lanban s. 426 ff., wo eine Urkunde (1447) abgedruckt
ist, in welcher der magistrat von seinen kirchen und Capellen spricht.
16 nach den Laubaner Chroniken (vgl. die Zusammenfassung der-
selben durch Datke im archiv zu Lauban bd. I s. 229) hat der Schul-
meister erst ungefähr seit 1535 eine geringe Unterstützung vom rate be-
zogen, vgl. noch Datke I s. 242 f.
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1 66 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
1 tihrer zu sorgen, oder wenigstens dazu eine beisteuer zu geben.17
dies erhellt deutlich aus dem 1584 zwischen dem rate und dem dorn-
dechanten Leisentritt abgeschlossenen vertrage (abschrift im archiv
zu Lauban, abgedruckt bei Müller, kirch engeschichte s. 211), durch
welchen der rat sich verpflichtete, die 'kireben- und schuldiener'
fernerhin zu beköstigen, gleich im anfange lesen wir folgendes:
'. . . demnach der würdige convent und jungfrauenkloster dieser
stadt Lauban von alters her den caplanen oder diaconis samt dem
kantor unserer schule auf dem pfarrhofe des klosters stets,
vermöge der aufgerichteten fundation oder Stiftung, einen freien
tisch zu halten, und sie mit speise und trank zu versorgen ist schuldig
gewesen . . .', und weiterhin: 'dagegen verwilligen wir (btirger-
meister und rathmanne der stadt Lauban) und sagen zu vor uns und
unsere nachkommen, gemeldte kirchen-und schuldiener, ohne einiges
des klosters zuthun, nicht allein mit speise und trank zu versorgen,
sondern . . . .' — Ob der Schulmeister und seine übrigen gesellen,
wenn solche vorhanden waren, auch vom kloster beköstigt wurden,
erscheint nach dem angeführten sehr zweifelhaft; die Verbindung
der worte 'die kirchen- und schuldiener' wenigstens ist nicht dahin
zu erklären , sondern vielmehr als ein zusammenfassender ausdruck
für die oben genannten 'capläne oder diaconis samt dem cantor' auf-
zufassen, wie es aber kam, dasz nur des cantors gedacht wird, kann
wegen des fehlens jeglicher nachricht nicht entschieden werden, sei
es, dasz zur zeit der grtindung des klosters der cantor der einzige
lehrer an der Stadtschule war, oder dasz eben nur der cantor wegen
seines zum grösten teile kirchlichen dienstes diese Vergünstigung
genosz. jedenfalls wird es in den Chroniken besonders hervor-
gehoben, wenn auch der Schulmeister den freien tisch im kloster
hat, wie es der fall war, als Jobannes Froben, der vierte Lutherische
stadtpfarrer, 1538 gewählt, auf das essen im kloster verzichtete, 'da
er ihm ja nicht wieder dienen könnte' ; ' insofern es aber von alters
her recht und gerechtigkeit war, dasz der prediger und vier capläne
vom kloster beköstigt werden musten , und man dieses recht nicht
so stillschweigend aufgeben wollte , so liesz man nun unter Zustim-
mung der priorin dem Schulmeister oder rector dafür auf dem pfarr-
hofe den freien tisch geben' (Datke I s. 243) ; dieses ausnahmever-
hältnis dauerte bis 1584.
Wenn somit der Schulmeister beziehentlich die übrigen lehrer
im kloster von jeher ihre beköstigung nicht erhielten, so geht doch
17 vgl. Datke I s. 239, wo wir bezüglich der geistlichen folgendes
lesen: f. . . Endlich ob nun zwar der Rat nach gelegenheit der Zeit zu
erhaltung, einigkeit und Friedens gutwillig die Kapläne und Prediger von
ihrem Kathause besolden, so will der Rat solches nicht ah ein Recht und
Pflicht verbünden und verpflichtet sein, sondern ... da das Kloster
der Pfarr-Güter und Einkommen innen hat, so soll das
Kloster die Kapellane nach den . . . Verträgen versorgen.
Ist beiderseits unterschrieben und besiegelt worden.»
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Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlauaitz. 167
aus verschiedenen quellen hervor, dasz das kloster an sie gewisse
geldbetrfige für dienste, die sie mit ihren scbülern beim gottesdienste
leisteten, zu zahlen hatte, denn obwohl die klosterkirche zugleich
stadtkirche war, und daher die nonnen den gesang allein hätten be-
besorgen können, so wurde doch die hilfe der schüler nicht ver-
schmäht, abgesehen von zwei diesbezüglichen nachrichten aus den
Chroniken 15 befindet sich folgende stelle in dem vertrage von 1488,
den der rat mit dem kloster schlosz, um das infolge der Hus-
sitenunruhen sehr darniederliegende kirchenwesen wieder zu heben
(Gründer s. 57 ff.) : . . So pflegen dy schüler metten zcu syngen als dytz
vor aldirs noch gutter vndirrichtunge alzo gehalden ist wordin . . .',
und nach demselben vertrage sollen dem Schulmeister 14 gr. gezahlt
werden aus einer Stiftung, welche 'Erbar namhafftige gutte frome
Lewte' gemacht hatten, nach einer Urkunde vom jähre 1487, in der
dieselbe Stiftung der ehrbaren usw. leute erwähnt wird (bei Müller
8. 68), erhielt der Schulmeister mit seinen locaten jene summe,
eine andere, jedenfalls sehr alte Stiftung war das Salve Regina, von
welchem in den Chroniken 1427 bei gelegenheit des durch die Hus-
siten verübten blutbades die rede ist; aus den kirchenrechnungen
ergibt sich, dasz das capital 29 mark, die zinsen 1 mark 21 gr. 3 pf.
betrugen, wovon der geistliche, der Schulmeister und der glöckner
ihren teil erhielten, selbst auch dafür scheint in Lauban ein beispiel
angeführt werden zu können, dasz der rector zugleich altarist sein
konnte (vgl. oben s. 161 und anm. 10). die art und weise wenig-
stens, wie in den annalen davon gesprochen wird, läszt eine solche
annähme auf alle fülle zu. Wiesner berichtet s. a. 1496, der land-
vogt Siegmund von Wartenberg habe an den rat geschrieben: 'Es
hätte der Rath von Liegnitz an ihn geschrieben, und gebethen, er
wolle Martin Baiern, Mitbürgern und Rathsgenossen allhier zum
Lauban, eine Vorschrift an den Rath anhero geben, dasz sie M. Mar-
tino Baiern, seinem Sohne, so allhier Schulmeister sey, das Lehen
und Altare, so ietzt entledigt sey, in S. Georgencapellen, verleihen
und geben wollen.'
Sehr dürftig sind die nachrichten über die schule zu Löbau;
denn in dem uns hier beschäftigenden Zeitraum wird ihrer einmal
urkundlich und je einmal in Zittauer und Bautzener annalen gedacht,
in einem vertrage des rates zu Löbau mit dem stadtpfarrer vom
4 november 1359 (cod. dipl. Sax. reg. II, VII s. XXXIX u. s. 233;
Job. Müller, archiv VIII s. 264) wird unter den zeugen Marcus
19 Wiesner, annalen 8. a. 1182: den schülera, welche sich während
der hohen messe am pBngstmontage auf dem schülcrchore der pfarr-
kirche befanden, wurden durch einen blit« strahl r die haare auf den
häuptern entzündet'; und aus dem memorabilienbuche vom kloster zu
Lauban von Arlet erfahren wir, dasz 1542 die klosterjungfrauen 'Von
den Schullchor abgesondert1 wurden; rdann bisz hero hatten die Geist-
liche Jungfrauen das Chor, Psalmen, Hymnos etc. wechselweisze mit
den Scholl Chor gehalten', vgl. laus. mag. bd. 33 s. 58.
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168 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
nostrarum scolarum informando gubernator genannt, sodann wird
nach der Vorbemerkung der jahrbücher des Zittauer stadtschreibers
Johannes von Guben und einiger seiner amtsnachfolger 19 Conrad us
Wiszinbach, natus de Esschenwege, civitate Hassie, im jähre 1395
als stadtschreiber vom rate zu Zittau angenommen, nachdem er vor-
her elf jähre lang 'rector scole et notarius civitatis Lobauie* (also
1384 — 1396) gewesen war. die dritte erwähnung endlich sagt uns,
dasz um 1430 ein schulgebäude vorhanden war: denn es heiszt in
den Bautzener annalen des bürgermeisters Joh. Günther zu dem
Jahre 1430: 'combusta est civitas Lobaw per brassatorem unum
prope Scholaifr, qui coepit pecuniam ab haereticis' (von den Hus-
siten) . . .w dasz die pfarrschule, welche in Löbau bestand, vollständig
zu einer von der kirche unabhängigen Stadtschule wurde, geht un-
trüglich aus dem titel, den der Schulmeister in der Urkunde von
1359 führte, hervor und daraus, dasz er dort als zeuge der Stadt er-
scheint, dasz der rector, wie an anderen orten, z.b. in Iglau und in
Plauen i. V.81, als notarius dem rate diente und damit sein einkom-
men erhöhte, erfahren wir aus der zweiten stelle. Wiszinbach muste
sich als stadtschreiber ganz besonders bewährt haben, da ihn der
Zittauer rat wieder in die frühere heimat zurückrief und ausschließ-
lich als notarius anstellte. — Über beziehungen zwischen der kirche
und der schule ist nichts überliefert, doch wird man kaum irren,
wenn man für Löbau ähnliche Verhältnisse annimmt, wie sie für
Görlitz und Lauban festgestellt wurden.
Am spätesten von den sechsstädtischen schulen wird die zu
19 im ersten bände der scriptores rorum Lusaticar. (neue folge)
s. 1 ff. unsere stelle findet sich s. 2: fA. D. MCCCXCV . . . dimisit
notariam cinitatis Johannes Hertil, qui saccessit in officio prescriptum
Joh annern Gnbin, pie memorie: et loco sui (= Hertelii) aeeeptatus fuit
Conradas Wiszinbach, natns de Esschenwege, ciaitate Hitssie, qui prins
tempore rectoris scole huius, magistri Petn Cz wickers de Wormpnijt,
ciuitate Pruszie, . . . fuit locatus et succentor tribus annis; dejnde post-
quam magister Petrus intrauit ordinem (seil. Celestinorum), fuit idem
Conradus rector scole et notarius cinitatis Lobanie vndeeim annis;
deinde anno et die prescripto aeeeptauit notariam huius cinitatis.' die
Zeitangabe 1395 für den amtsantritt W.s ist vor der des chron. Kiess-
ling 1393 bei Gärtner a. o. s. 5 vorzuziehen.
t0 nach Knothe, vorbericht zu dem urkundenbuch der städte Kamenz
und Löbau (cod. dipl. 8ax. reg. II, VII) s. XXXVI anm. 51 sind diese
annalen nicht mehr aufzufinden; die stelle hat Knautbe, kurze geschiente
der schule in Löbau, Görlitz 1766, s. 2 f. überliefert, die jahresangabe
1430 ist aber zu ändern in 1429 — vgl. Kloss, historische nachricht von
dem Hussitenkriege in Oberlausiz, vierte probe; provinzialblätter, her-
ausgegeben von der Oberlaus, gesellschaft der Wissenschaften, 6s stück,
s. 157, woraus auch Knothe, vorbericht s. XXXV schöpft; Borott, ge-
schieh tc des Schulwesens der Lausitz, insbesondere der Stadt Löbau
(88 Seiten), Löbau 1857, s. 28, hat den zahlenfehler aus Knautbe mit
übernommen und die nicht belegte angäbe hinzugefügt, 'damals sei auch
die schule abgebrannt'.
fl vgl. H. J. Kämrael, geschichte des deutschen Schulwesens p. 130.
Joh. Müller im archiv bd. VIII s. 253.
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Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 169
Kamenz genannt, nemlich im jähre 1438, obwohl hier schon seit
dem anfang des 13n Jahrhunderts, wo Bernhard I von Kamenz das
dorf zur Stadt erhob, sicher aber seit 1225, wo die pfarrkirche (nach
einem brande von Bernhard II wieder erbaut) von neuem geweiht
wurde, ein geordnetes kirchenwesen bestand, jene erste erwähnung
der schule findet sich im stadtbuch und beiszt: . . da itzund der
alte Schulmeister Rozinkranz inne wohnet' (cod. dipl.Sax. reg. II, VII
8. XXIV). wie anderwärts, so waren auch in Kamenz die lehr er und
die schüler am gottesdienste beteiligt: eine reihe von Urkunden aus
den jähren 1478, 1485, 1506, 1508, 1520 usw. (cod. dipl.Sax. reg.
II, VII) enthalten darüber, was die lebrer mit den schülern zu leisten
hatten, genauere bestimmungen, genauer und zahlreicher als bei den
übrigen Sechsstädten, und wie bereits angeführt wurde, flössen dem
Schulmeister und seinen 1 ocaten aus solchen Verrichtungen bestimmte
be träge zu, welche für sie eine nicht zu verachtende einnahmequelle
bildeten.
Obwohl dem kloster Marienstern der patronat über die pfarr-
kirche nebst allen ihren einktinften zustand, so wird doch die schule
ganz und gar der stadt gehört haben, ein grund für die richtigkeit
dieser annähme darf vielleicht in der Urkunde vom 9 august 1565
erblickt werden , durch welche von dem domdecbanten Leisentritt
das Kamenzer Franciscanerkloster dem rate als eine . in reliqua
parte pro juventute Camencensi ad vere christianam pietatem pro-
movenda bonisque artibus ad debitam disciplinam erudienda sedes
scholae' übergeben wird."
Es ist nun noch der Franciscaner zu gedenken, deren Ver-
hältnis zur schule bisher ganz auszer acht gelassen worden ist. wir
können uns dabei um so kürzer fassen, als sich herausstellen wird,
dasz dieser mönchsorden in den Sechsstädten auf die vorhandenen
schulen gar keinen einflusz hatte, wir gehen die einzelnen städte
schnell durch, für Bautzen findet sich in den Chroniken nur ein ein-
ziges mal eine nachricht darüber, dasz die Franciscaner sich mit
unterrichten beschäftigten, unter dem jähre 1408 wird nemlich in
der Technischen chronik die hinrichtung eines gewissen Preusel-
witz erzählt, der bei den unruhen in Bautzen in jenem jähre ganz
besonders beteiligt war; fer sei', so wird hinzugefügt, 'des lesens
** cod. dipl. Sax. reg. II, VII s. 219. vgl. Knothe, die Franciscaner
in Löban und Kamenz, in den beiträten zur sächsischen kirchengesch.,
herausgegeben von Dibelius nnd Lechler, I, 1882, s. 122. vgl. auch be-
züglich des ins patronntns Richter, das alte gymnasium in Jena (oster-
progr. 1887} s. 3, wo wir finden, dasz dem dortigen Cistercienserinnen-
kloster das regimen scholarinm et scbola cum officio campanicie
(glöckneramt) omni iure, quod dominus Rudigerus suique antecessores
plebani parochie sancti Michaelis ab antiquo in dictis officiis habuerunt
ausdrücklich mit tibergeben wird, über die abtretung der verschiedenen
rechte an dns Kamenzer Cistercienserinnenkloster und Uber deren be-
stätigung sind im cod. dipl. Sax. reg. II, VII gleich im anfang mehrere
Urkunden abgedruckt, in denen die schule aber nicht erwähnt wird.
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170 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausits.
und Schreibens am mächtigsten gewesen, weil er bei den mönchen
in die schule gegangen', diese nach rieht, welche übrigens Edelmann,
das Franciscanerkloster in Bautzen (Laus. mag. bd. 49 s. 1 ff.) nicht
kennt, sagt uns, was wir auch ohne sie vermutet haben würden, dasz
nemlich die manche eine gewisse anzahl von knaben unterrichteten,
vor allem im lesen und singen, um deren Unterstützung beim gottes-
dienste zu haben, das wird nicht nur in Bautzen , sondern auch in
den andern Sechsstädten so gewesen sein, dasz aber die Bautzener
manche in ihren leistungen in der schule sich noch ein wenig über
die der mönche in den andern Städten erhoben, dafür liegt kein
Zeugnis vor; wir könnten es aber annehmen bei der beständigen
rivaiität, welche auch sonst zwischen dem capitel und dem kloster
bis zur reformation herschte (siehe Edelmann a. o.), wenn dem
nicht wieder die thatsache entgegenstände, dasz die Minoriten im
allgemeinen eine grosze abneigung gegen eine derartige beschäftigung
gezeigt haben, schon der Zittauer rector Christian Weise sprach
sich in der oratio saecularis 'de ortu et progressu scholarum per
Lusatiam superiorem' (Zitt. 1686 s. 5) in diesem sinne aus; von
neueren vgl. Wittenbach, geschieh tsquellen II* s.321. — Auf Kliens
falsche annähme (kurze nachricht über die begrfindung des Budis-
siner gymnasiums s.5): 'die schule, die in Bautzen bis zur reforma-
tion bestanden habe, sei einzig und allein die der Franciscaner ge-
wesen, und zu ihr gehöre auch die Schulordnung von 1418', sei hier
deshalb nochmals (vgl. s. 119) hingewiesen, weil H. J. Kämmel, ge-
schieht*' des deutschen Schulwesens s. 43 derselben folgt.
(fortsetzung folgt.)
Dresden. H. Heyden.
16.
IST MAN BERECHTIGT, DIE PRIMANER WÄHREND DES
LETZTEN JAHRES IHRER SCHULZEIT ALS ÜBERBÜRDET
ANZUSEHEN UND — BEJAHENDENFALLS — WIE KÖNNEN
DIESELBEN ENTLASTET WERDEN?*
Übel berufen ist das halten von pensionären seitens der lehrer
und dirigenten, zuweilen wohl nicht ohne grund. doch wenn dies
nicht blosz des materiellen gewinnes wegen geschieht, sondern
hierdurch in erster linie ein ersatz für das elternbaus geschaffen
wird, so dasz deren kinder in der fremde vor den verfuhrungen des
lebens und des Zeitgeistes durch treue bewachung seitens der lehrer
mehr geschützt werden, als dies in andern pensionen der fall ist, und
die kinder durch sachkundige leitung bei ihren arbeiten auch in
• dieser aufsatz ist uns bereits vor Jahresfrist übersandt worden.
die redaction.
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Überbürdung der primaner.
171
ihren erfolgen gefördert werden , so ist das halten von pensionären
seitens der lehrer ein segen nicht blosz für die betreffenden schüler
und kinder, sondern auch zum teil für den geist der anstatt selbst.
Auch noch einen rein pädagogischen vorteil hat dies halten von
pensionären für den ehrenhaften, treuen und gewissenhaften lehrer.
Es bringt ihn nemlich in einen innigeren Zusammenhang mit
seinen pensionären und hierdurch mit den Schülern Uberhaupt; er
lernt ihre sittlichen und geistigen Vorzüge kennen, doch auch ihre
schwächen bleiben ihm nicht verborgen , so dasz er helfend und
stützend, aber auch warnend eintreten kann.
Vor allem aber lernt er kennen, wie sie arbeiten, und wird hier-
durch berechtigt, ein urteil abzugeben , ob und wodurch die schüler
überbürdet sind.
Ich will die so oft behandelte überbürdungsfrage nicht von neuem
theoretisch behandeln, sondern meine praktischen erfahrungen an-
geben und einfach erklären, dasz hierüber am besten urteilen kann,
wer als treuer , sachkundiger pensionsvater ruhige objective beob-
achtungen angestellt hat. das eiternhaus kann dies weniger, weil
es nach den heutigen Verhältnissen schwerlich die zeit und lust hat,
dies dauernd und sachlich zu prüfen; von der fahigkeit hierzu will
ich ganz absehen.
Lange ein schroffer gegncr gegen diese einrichtung, bin ich
durch eine eigentümliche Verkettung der Verhältnisse in die läge
gebracht worden, einen pensionär in meine familie aufzunehmen,
dies war ein Oberprimaner, der also vor dem abiturientenexamen
stand, es dauerte dies Verhältnis allerdings nur ein halbes jähr,
doch war es für mich als lehrer sehr wertvoll, weil ich durch die
neuheit der sache und durch die inconsequenz in meiner anschauung
zum sorgfältigen beobachten des zum teil nicht gerade sittlich ganz
intacten und in wissenschaftlicher beziehung nicht allzu hoch stehen-
den, obendrein nur mäszig veranlagten Oberprimaners veranlaszt
wurde, und mein eignes erfahrungsurteil lautet: ja, dieser Ober-
primaner war im letzten jähre überbürdet; und diese überbürdung
wird nach Weihnachten — zu dieser zeit trennten wir uns infolge
meiner Versetzung — sich voraussichtlich noch gesteigert haben.
Den gründen habe ich eifrig nachgespürt, natürlich will ich
nicht verallgemeinern, wenn ich seinen früheren lebenslauf in kürze
zu schildern suche; ganz vereinzelt dürfte er gewis nicht dastehen.
Es war eines rittergutsbesitzers söhn, der von einem braven
dorfschullehrer gründlich vorbereitet, die unteren classen eines gym-
nasiums mit gutem erfolge durchlief, plötzlich trat ein stocken ein.
schlechte gesellscbaft und die gewöhnung an tabak und bier waren
die gründe, in disciplinarer beziehung machte sich auch manches
bemerkbar, was ihn schlieszlich bei seinen lehrern nicht gerade son-
derlich empfahl, anstatt nun die schuld in sich selbst zu suchen,
schob er diese seinen lehrern zu, von denen er schlieszlich gehaszt zu
werden glaubte, er verliesz die anstalt und kam in damenhände, die
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172
Überbürdung der pnmaner.
für ihn noch unheilvoller wurden, wie mir der eigne vater mitteilte,
fand er ihn einmal in einer läge vor, die das ärgste befürchten liesz,
und zwar war er in diese hineingebracht durch die leidenschaftlich-
keit der bereits Oberreifen jungfrauen. natürlich war er dort völlig
unbeaufsichtigt, mit einem hausschlüssel versehen, und wenn er
diesen einmal vergessen hatte, des nachts zuweilen auszerhalb seiner
pension. mit den leistungen gieng es natürlich nicht vorwärts, der
besorgte vater brachte die grösten opfer: er gab ihn zu mir in pen-
sion, der ich bisher noch keinen pensionär gehalten hatte, die zucht
wurde eine andere, ab und zu erwachte zwar die Sehnsucht nach
gröszerer freibeit, doch gewöbnung und mein bei spiel brachten ihn
auf den weg des rechten, nun begann die arbeit, und das streben,
das examen zu machen, liesz seine kräfte, die infolge eines darm-
leidens und der hierdurch bedingten eigentümlichen kost nicht be-
sonders 6tark waren, nicht mehr recht zur ruhe kommen.
Die lücken waren auszufüllen , das neue aufzunehmen und zu
verarbeiten, und die tiberbürdung war erwiesen.
Nun ist ja zwar die arbeitszeit für alle classen genau festgesetzt,
doch steht dies oft wohl nur auf dem papier und zwar ohne berück-
sichtigung früherer lücken.
Überbürdung kann nur vermieden werden, wenn der lehrer
sich selbst in die läge der schüler zu versetzen vermag, sich auf
alle stunden gründlich vorbereitet und schliesslich seine kraft, die
Schwierigkeiten zu überwinden, vergleicht mit der des schülers und
seiner oft groszen unbeholfenheit.
Das masz der arbeitszeit liesze sich also nur dann annähernd
richtig bestimmen , wenn man mehrere schüler verschiedener güte
mittwoch und Sonnabend unter eigner aufsiebt ihre arbeiten machen
liesze; doch dies raubt zeit und ist für den lehrer nicht ganz an-
genehm.
Die lehrer also, welche pensionäre halten und selbst häuslich
sind, können am besten die überbürdungsfrage beurteilen.
Meine jetzigen pensionäre, die obersecundaner sind, haben recht
viel zu thun, und die vorschriftsmäszige arbeitszeit wird sicher über-
schritten ; von dem einen , weil er mäszig beanlagt ist und lücken
hat, von dem andern, weil er sich selbst nicht genug zu thun glaubt.
Primaner, die ich unter den bänden hatte, waren nicht über-
lastet, die einen, weil sie allzeit treu und redlich ihre pflicht erfüllt,
die andern, weil sie sich selbst nicht überlasteten, sondern die sacbe
von der leichtesten seite nahmen, ob sie sitzen blieben und später
als andere zum ziele kamen, war ihnen ja nicht gleicbgiltig , doch
hieran nur die lehrer schuld, die zu viel verlangten, nicht sie, die
die kraft und lust zu harter arbeit zum teil schon verloren hatten.
Wird trotz verständiger methode seitens der lehrer doch noch
über die überbürdung geklagt, so dürften die gründe anderswo liegen
als im Organismus der höheren schulen an sich.
Man könnte z. b. das stundengeben der primaner als grund
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Überbürdung der primaner.
173
hierfür angeben, es ergäbe sich bei der statistischen Zusammenstel-
lung ein erstaunlich hoher procentsatz von stundenerteilenden pri-
manern. ob diese so viel dabei lernen, wie man gewöhnlich annimmt,
ist für mich sehr die frage, meist ist die aussieht auf tascbengeld,
zuweilen auch der hunger die trieb feder hierzu, an arbeitskraft und
-last geht ihnen hierdurch sicher recht viel verloren, und die den
eignen arbeiten entzogene zeit musz natürlich überbürdungsklagen
hervorrufen.
Dasz der genusz von tabak und bier, wozu doch die Stunden-
gelder recht oft verwandt werden, die arbeitskraft der schüler nicht
hebt, ist klar.
Hieraus ergibt sich als mittel zur entlastung das verbot des
stundengebens seitens der primaner während des letzten Schuljahres.
Dasz auch die teilnähme am gesange und turnen viel zeit der
wissenschaftlichen arbeit der primaner raubt, ist nicht zu bestreiten,
doch bin ich der ansieht, dasz die durch die dispensation hiervon
gewonnene zeit nicht von allen zum arbeiten würde benutzt werden.
Sind die turnverhältnisse gut, der turnsaal im winter möglichst
staubfrei, so ist das turnen gerade geeignet, die arbeitskraft des
geistes zu erhöhen.
Auch der gesangsunterricht, von dem sich viele primaner aus
mangel an zeit und befähigung zu drücken suchen, ist kein grund
zur überbürdung, vermag er doch gerade dem von den sorgen um
das ezamen erfüllten gemüte des primaners eine andere, wenn auch
nicht lange anhaltende richtung und Stimmung zu geben und ihn
zur geistigen arbeit wieder zu beleben.
Diese beiden schulföcher lasse ich also nicht als gründe zur
überbürdung gelten.
Dagegen kann das musikmachen im hause über gebühr betrieben
allerdings die veranlassung zu überbürdungsklagen geben.
Sollte die besch&ftigung hiermit der lohn für den arbeitsreichen
tag sein , so greift der schüler der erfahrung nach oft zum instru-
ment, ehe er noch das pflichtmäszige gethan hat. was vergnügen
macht , wird in unverständiger Zeiteinteilung zuerst vorgenommen,
natürlich ist dann oft keine lust mehr vorhanden, das von der schule
geforderte zu thun, zumal die lust zur arbeit überhaupt bei den
Schülern nicht sehr bedeutend ist. der wissenschaftliche geist der
jugend ist nicht mehr so rege als früher, weil die schüler von der
genuszsucht der zeit als noch wenig widerstandsfähige subjecte mehr
als billig angekränkelt sind.
Kommt noch hinzu, dasz sie in der zeitung oder sonstwo lesen,
zuweilen auch wohl von ihren eitern von der nutzlosigkeit der alten
bprachen reden hören, so halten sie für wahr, was sie wünschen,
die unlust, die sich hierdurch einstellt, lähmt die arbeitskraft, wäh-
rend doch wie das leben so die schule diese im höchsten masze
verlangt.
Das kartenspielen bildet auch einen titel im haushält der zeit
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174
Cberbürdung der primaner.
unserer primaner; vom besuch der concerte und des theaters und
anderm will ich schweigen.
Ich gönne jedem seine erholung, wenn sie der lohn ist für red-
liche mühe ; folgt jedoch die arbeit z. b. an schulfreien tagen und
halbtagen dem vergnügen, so ist ein misverhftltnis in der Zeiteintei-
lung zu bestätigen.
Man läszt sich es nun noch gefallen, wenn die erholung un-
schuldiger art ist und der folgenden arbeit des geistes vorschab
leistet, wie aber, wenn schlüpfrige, die sinne kitzelnde und ge-
schlechtlich aufregende bücher vor der arbeit gelesen werden und
diejenigen bücher ersetzen, die den Charakter zu bilden und für alles
edlere zu begeistern vermögen? dasz dies bei manchem primaner
aber der fall ist, kann ich durch beweise erhärten, wie soll dann die
harte, ernste gedankenarbeit rüstig von statten gehen, wenn die
seele in ihrer ruhe gestört, lüsterne wünsche den frieden des herzens
vernichten? verdrossen und mürrisch wird Uber das langweilige
zeug des Unterrichtsstoffes geklagt, und in den äugen der eitern ist
die überbürdung erwiesen, besonders wenn die ewige lampe des
überbürdeten primaners stübchen erhellt.
Natürlich ist der körper am nächsten morgen nicht frisch , der
geist schläfrig, der Unterricht nicht im stände, solche schüler zur
vollen beteiligung zu erwecken, elastischere naturen sind wider-
standsfähiger und können trotz des erwähnten Übelstandes sich auf
dem laufenden erhalten, vielen aber glückt es nicht.
Kommt noch hinzu, dasz ein ziemlich groszer teil unserer pri-
maner aus familien stammt , die nicht einmal den leib ihrer kinder
gehörig ernähren können, wohl aber keinen gröszeren wünsch haben,
als dasz ihre söhne in die höheren stände hinaufkommen, mögen sie
auch nicht das nötige geistige rüstzeug dazu haben, so ist es klar,
dasz, wo das gehirn nicht die nötige beschaffenheit zur geistigen
arbeit bat, der junge, welcher vielleicht schon in den mittleren classen
seine beste kraft verbraucht hat, nur auf dem wege der grösten, oft
fast übermenschlichen anstrengung sich allenfalls durch das examen
windet.
Für solche ist die tiberbtirdung erwiesen, doch sie gehören auch
anderswohin als auf das gymnasium.
Was die eitern durch ihren falschen ehrgeiz verschulden, trifft
ihre eignen kinder , der schule aber darf dies nicht zur last gelegt
werden; sie musz viel verlangen, weil das spätere amt geschulte
kräfte verlangt, doch ihre forderungen sind nicht Ubertrieben, weil
nur für den mittelschlag bestimmt, und sind tausendfach erfüllt
worden ohne besondere klagen über überbürdung.
Wo sich derartige klagen aber bei strebsamen Schülern erheben,
da ist die methode und der lehrer selbst verantwortlich zu machen
und die änderung derselben mit allen mittein zu erzwingen.
Die schule mag ja noch manch überflüssiges lernen lassen,
mancher lehrer noch nicht zur klaren erkenntnis gekommen sein,
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Überbürdung der primaner,
175
wie er sein facb zu betreiben bat; so viel steht fest, dasz die lebrer
im allgemeinen sieb bemühen, den hersebenden pädagogischen grund-
gedanken zu folgen ; und wenn erst alle sich zur objectiven betrach-
tung der zwecke der schule hinaufgerungen haben, wenn der einzelne
lehrer auszer seinem fache auch die andern gebührend berücksich-
tigen wird, so dasz er von dem irrtum abkommt, sein fach sei das
allein seligmachende, so wird auch die methode nicht mehr als grund
für die überbürdung herbalten können, die überbürdungsklagen aber
schwerlich aus der weit geschafft werden.
Wir lehrer haben aber an uns selbst ebenso zu arbeiten wie an
unseren schülem ; der zeitströmung mit ihren sittlichen Schädigungen
und der irrtümlichen beurteilung pädagogischer fragen seitens des
publicums werden wir warnend und aufklärend entgegentreten
müssen, doch die öffentliche stimme mundtot zu machen, sind wir
nicht im stände, die presse ist mächtiger fast als die schulverwal-
tong, und da pädagogische fragen jetzt mit Vorliebe in den Zeitungen
and Zeitschriften behandelt werden und die eitern, ja selbst ihre
kinder diese mit eifer lesen, so ergeht es ihnen wie vielen laien bei
der leetüre medicinischer Schriften, das meiste passt auf ihre eignen
kinder und Verhältnisse, und ihr wünsch ist der: erleichterung der
jagend zu verschaffen und trotz Verringerung der arbeit ihnen zu
einem ziele zu verhelfen, zu dem bisher nur treuer fleisz und harte
arbeit geführt.
Zum glück sitzen aber in der Unterrichtsverwaltung leute von
jähren und er fahrungen, die fürsorglich prüfen werden, was man der
zeitströmung opfern kann, ohne die axt an die altbewährte huma-
nistische Schulbildung zu legen.
Vielleicht kommt es mit der zeit zur heiszersehnten mittel-
schale, so dasz die gymnasien an zahl verringert werden und dann
wirklich nur die Vorschule zur Universität bilden können, ist das
berechtigungswesen geordnet, dann werden voraussichtlich nur gut
veranlagte schüler das gymnasium besuchen, die das zeug dazu haben,
den wenn auch hohen anforderungen zu genügen, und dieses wieder
die pflanzstätte echter humanistischer bildung werden im gegensatz
zu heute, wo die gymnasien meist nur zur erlangung des einjährigen
Zeugnisses zu dienen scheinen.
Habe ich so die frage, ob überbürdung bei den primanern im
letzten Schuljahre vorhanden ist, vom Standpunkte der schüler aus
im allgemeinen bejaht, von dem der schule aus gewissermaszen ver-
neint, so werde ich nun die frage zu erörtern haben, wie denn die
primaner im letzten Schuljahre entlastet werden können.
Ein höchst einfaches mittel, die primaner zu entlasten, welches
leider schon hier und dort befürwortet worden ist, wäre die besei-
tigung des abiturientenexamens. doch wehe dem preuszischen Staate,
wehe dem vaterlande, sollte es jemals dazu kommen, dasz die pri-
maner die anstalt verlassen, ohne die gefahren der prüfung bestanden
zu haben, mit ihr gienge ein wichtiges mittel zur bildung des
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Überbürdung der primaner.
Charakters für die jugend verloren, auch vergessen die befürworter
dieses Vorschlages, dasz wir lehrer nur menschen und nicht Verkör-
perungen der sittlichen Unfehlbarkeit sind.
Es ist ja richtig, dasz die lehrer die sittliche und wissenschaft-
liche reife der abiturienten besser beurteilen können als der könig-
liche commissarius, der sich aus den ihm übersandten arbeiten und
der doch nur kurze zeit dauernden mündlichen prüfung kein so
sicheres urteil über die prÜflinge bilden kann, als es die lehrer im
verlauf von mehreren jähren gewonnen haben, aber wie das mitleid
schon bei der erteilung des einjährigen Zeugnisses eine grosze rolle
spielt, so würde es sich nicht minder geltend machen, wenn es sich
um die abiturienten dreht, man liesze sie alle durch, würde man
sich ja selbst das zeugnis einer nicht besonderen gescbicklichkeit im
Unterricht ausstellen, falls die prÜflinge nicht für reif erklärt würden,
ganz abgesehen davon, dasz sich durch Zurückhaltung schwächerer
schüler für die lehrer die arbeitslast noch mehren würde.
ünd die schüler würden bald merken, dasz die reife auch
schwächeren genossen erteilt werde.
Bis jetzt ist meist die furcht vor dem durchfallen der machtigste
sporn für die schüler zur arbeit, und wie mächtig diese eindrücke
sind, wird manch gereifter mann noch zuweilen in schreckhaften
traumgebilden an sich selbst verspüren.
Auszerdem ist die thatsache bewiesen, dasz musterschüler , die
vom mündlichen examen befreit wurden , oft später als andere die
übrigen examina abgelegt haben, ja zuweilen ganz verkommen sind,
weil sie älter geworden sich noch mehr vor einem examen fürchteten,
als dies vor dem abiturientenexamen der fall gewesen, also für be-
seitigung der abgangsprüfung stimme ich im interesse der jugend
nicht; auch für die lehrer hat die beibehaltung desselben viel gutes,
können sie doch hierbei ihrem vorgesetzten beweisen, wie sie an den
Schülern ihre aufgäbe zu erfüllen gewust.
Dagegen würde es nach meinem ermessen ein segen für die
primaner sein , wenn im jähre nur einmal die abgangsprüfung ab-
gehalten würde, der Unterricht würde ruhiger verlaufen, als wenn
er zweimal im jähr abiturienten zu zeitigen hätte, wobei eine fast
fieberhafte aufregung nicht nur die schüler beherscht, sondern auch
die lehrer, besonders wenn die prüfungstermine früh angesetzt sind.
Naturgemäsz beschäftigen sich die lehrer vorzugsweise mit den
abiturienten, und wenn sie dabei die lücken der schüler ins grelle
licht zu setzen sich veranlaszt fühlen, da wird die nacht zum tage
gemacht, so dasz dem abiturienten die prüfungszeit zum ekel wird,
während sie doch eigentlich wie der milde herbst die im Sonnenschein
des schullebens gezeitigten früchte reif und schmerzlos vom bäume
fallen lassen sollte.
Die übrigen primaner, noch weit vom ziele entfernt, ruhen sich
inzwischen aus, bis auch an sie die zeit des paukens kommt, anstatt
gleichmäszig und stetig ihrem ziele zuzustreben.
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Überbürdung der primaner.
177
Der lehrer selbst wird schneller verbraucht; rechte freude am
Unterricht hat er auch nicht, weil er vieles beginnt und nur weniges
in der kurzen zeit bewältigen kann.
Da positive kenn misse nun einmal den ausschlag bei der münd-
lichen wie schriftlichen prüfung geben, so sieht er sich immer wieder
genötigt, repetitionen zu veranstalten, zumal sich das wirklich be-
fruchtende seiner lehrmethode im allgemeinen den blicken des com-
mis8arius entzieht.
Doch der tote gedäehtniskram wird als unverdauter bailast im
späteren leben bald verächtlich bei seite geworfen, während die in
die seelen der scbüler gestreuten befruchtenden gedanken stützende
stäbe für deren weitere fahrt werden, ohne dieselben zu belästigen.
Solche lehrer haben freilich oft weniger gute leistungen bei der
prüfung aufzuweisen als der, welcher es sich als höchstes ziel ge-
steckt, das eingeführte lehrbuch bis zum letzten worte mechanisch
seinen Schülern einzupauken, sein 'gut' dient dann womöglich noch
zur compensation der leistungen des geistig reiferen, pädagogisch
bei weitem tiefer durchgebildeten collegen.
Also ein mittel zur entlastung der abiturienten wäre nach meiner
meinung die nur einmal im jähre abzuhaltende prüfung; der Unter-
richt würde dadurch einen ruhigeren verlauf nehmen und extensiver
wie intensiver sich gestalten.
Noch belastender wird der Unterricht, falls im letzten halben
jähre gar noch ein Wechsel in den mitgliedern der prttfungscommis-
sion erfolgt, da sich der abiturient auszer in die masse des Stoffes
noch in die gedankenrichtung und die besonderen anforderungen des
nenen examinators hineinleben musz.
Dieses hasten auf beiden Seiten würde beseitigt durch die nur
einmal im jähre stattfindende prüfung ohne Wechsel in der prüfungs-
commi8sion.
Um nun zu den einzelnen fächern überzugehen, so geben ja die
lehrpläne vom 31 märz 1882 die nötigen allgemeinen Vorschriften,
die jedoch sehr dehnbar sind , je nach der auffassung des einzelnen.
Zunächst dürfte in der religion im letzten Schuljahre kein neues
kirchenlied mehr gelernt werden, was auch vermieden würde, sobald
für jede anstalt ein fester canon der für das evangelische bekenntnis
wichtigsten lieder aufgestellt wäre, diese müsten auf den unteren
und mittleren stufen bereits zum festen besitz der scbüler geworden
sein, denn je weiter nach oben, desto schwerer wird es vielen, diese
lieder zu lernen, dasselbe möge auch für die Sprüche gelten, zur
indirecten Wiederholung gibt der gesamte religionsunterricht ge-
legenheit in menge.
Überhaupt bedarf der religionsunterricht auf manchen anstalten
einer sorgfältiger durchdachten Stoffabgrenzung für die einzelnen
classen; erst in neuerer zeit gewinnt ja dieser Unterricht die ihm ge-
hührende methodische bearbeitung.
Wenn ferner, *ie es in meiner Schulzeit der fall war, auch heute
H. jahrb. f. phil. u. päd. IL *bt. 1891 hfl. 4. 12
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178
Überbürdung der primaner.
noch stücke aus dem griechischen testamente znr häuslichen präpa-
ration in der prima aufgegeben werden sollten, so ist diese belastung
völlig überflüssig, denn der schüler lernt hierbei nichts fürs grie-
chische, noch weniger schöpft er daraus Christentum.
Der religionsunterricht darf überhaupt nicht so erteilt werden,
als gälte es künftige theologen mit dem nötigen rüstzeuge für ihre
weiteren Studien zu versehen.
Wer sich also wirklich der theologie später widmen will, musz
so viel griechisch gelernt haben, um das neue testament im urtext
lesen zu können, ohne dasz er sich darauf während der schulzeit be-
sonders vorbereitet hätte.
Auch bedarf die kirchengeschichte einer das gedächtnis der
abiturienten entlastenden beschränkung.
Wie manches hört man bei der prüfung fragen, was für den
theologen ja zu wissen recht heilsam sein mag, für den angehenden
Christen aber im ganzen sehr gleicbgiltig ist
Was nützt es zum beispiel , wenn der abiturient das leben der
alten kirchenväter womöglich in den kleinsten einzelheiten genau
kennt, nicht aber den inhalt der bergpredigt oder die hauptsächlich-
sten gleichnisse des herrn anzugeben und zu deuten vermag?
Also das wort gottes musz als hauptsache beim religionsunter-
richte in das herz der schüler dringen ; er soll mit einer religiösen
Weltanschauung ins leben treten, die für ihn die grundlage zu seinem
seelenheile wird und die ihn führt zur wahren gottesfurcbt, zu
warmer Vaterlandsliebe, zu hilfsbereiter n liebsten liebe, das sind nach
den heutigen Zeitverhältnissen die wichtigsten forderungen, die die
schule an der jugend zu erfüllen hat zum heile des Vaterlandes, wel-
ches schwer krankt durch die Zerklüftung der stände, durch den
herschenden materialismus und gefährdet ist durch die gegen seine
grundlagen gerichteten stürme der socialdemocratie.
Die kirchengeschichte musz auch deshalb alles tote beiwerk
fahren lassen und nur das verwerten, was das urteil sichert, das ge-
schichtliche gesamtverständnis fördert, den willen kräftigt.
Möge also die mündliche prüfung nur ermitteln, ob der schüler
den hauptinhalt und den Zusammenhang der heiligen schrift erfaszt,
sich besonders mit den im neuen testamente urkundlich bezeugten
heilsthatsachen und -Wahrheiten, vor allem mit den aposteln in ge-
nügender weise bekannt gemacht und sich einen allgemeinen über-
blick über die entwicklung des reiches gottes auf erden verschafft
hat, ob er schlieszlich die unterscbeidungsgrundlehren und die wich-
tigsten thatsachen aus der deutsch- evangelischen geschiente, nament-
lich aber die reformationsgeschichte kennt, wird hierbei besonderes
gewicht gelegt auf die Vorbilder bedeutender glaubenszeugen , so
wird der schüler mit den nötigen stützen versehen, um in den wogen
des dem glauben feindlichen lebens eine feste Stellung einzunehmen,
mehr Christentum, weniger theologie auf den schulen, das ist die
forderung der zeit.
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Überbürdung der primaner.
179
Obwohl nun die hier und da gewünschte beseitigung der reli-
gion aus der mündlichen prüfung die abiturienten gewis entlasten
würde, so bin ich selbst gegen die erfüllung dieses Wunsches, da auf
den oberen stufen die religion doch nicht blosz sacbe des gefühls,
sondern auch Wissenschaft ist, die die Urteilskraft entwickelt und
kenntnisse dazu nötig hat.
Ob im deutschen eine überbürdung der primaner im letzten
jähre stattfindet, kann ich aus eigner praktischer erfahrung nicht
beurteilen, was ich gelegentlich gesehen und gehört habe, läszt
darauf nicht schlieszen ; allerdings lag der Unterricht in den bänden
bewährter directoren, die erfahren im fach zwar diesen gegenständ
hochhielten, doch nicht auf kosten anderer fächer die primaner über-
lasteten, ab und zu dürfte allerdings ein jüngerer lehrer in seinen
forderungen über das masz hinausgehen , so dasz es dann sache des
directors ist, hier einspruch zu erheben, wobei wohl in erster linie
das tote litterarhistorische wissen eine zweckmäszige einschränkung
erforderte.
Dasz die ab und zu veranstalteten aufführungen zu woblthätigen
zwecken geeignet sind, die primaner zu belasten, läszt sich wohl an-
nehmen, da eine menge zeit zur eintibung verloren geht, die natür-
lich den laufenden arbeiten entzogen wird, so nährt sich bisweilen
der eine gegenständ auf kosten des andern.
Wie stehts nun mit dem lateinischen ?
Nach meinen erfahrungen ist die zahl von acht bis zehn häus-
lichen aufsätzen, wie sie für manche und zwar gröszere anstalten vor-
geschrieben ist, überlastend im höchsten masze, besonders wenn das
thema so gewählt ist, dasz der schüler nicht mit allgemeinen redens-
arten die Seiten füllen kann, sondern gröszere partien der lectüre zu
verarbeiten hat.
Überlastend ist diese zahl auch deshalb, weil trotz der menge
stunden, die diesem gegenstände gewidmet werden, den meisten pri-
manern die fähigkeit abgeht, ihre gedanken in leidlicher form ohne
besondere mühe aufs papier zu werfen.
So wertvoll auch der lateinische aufsatz für den schüler ist,
sein nutzen steht nicht im richtigen Verhältnis zur darauf ver-
wandten zeit.
Soll also der primaner im letzten jähre entlastet werden, so
mögen die häuslichen aufsätze auf vier beschränkt werden, die an-
dern aber in der schule selbst nach bedürfnis geschrieben werden.
Eine entlastung träte hierdurch sicher ein, ohne dasz das ge-
steckte ziel zu sehr geschädigt würde.
Ferner könnten die abiturienten im letzten Semester von der
häuslichen präparation auf die lectüre möglichst befreit werden.
So würden sie sich mehr ans extemporieren gewöhnen und bei
der mündlichen prüfung im übersetzen noch mehr leisten als jetzt,
denn wer die krücken der Übersetzungen — und mit diesen arbeiten
doch bekanntlich die meisten primaner — erst zwei wochen vor der
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Überbürdung der primaner,
mündlichen prüfung wegwirft, kann nicht so sicher schreiten, als
wenn er längere zeit mit unbefangenem auge die textessteile zu be-
trachten gelernt.
Wer aber auf die häusliche präparation der abiturienten nicht
verzichten zu können glaubt, der möge sie auf das möglichste be-
schränken und den rest jeder stunde zum extemporieren verwenden.
Die aufmerksamkeit aber würde dadurch erhöht werden, wenn
beim mündlichen examen auch nur stellen der prosaischen Schrift-
steller vorgelegt würden, welche etwa von obersecunda an thatsäch-
lich in der Schulzeit gelesen worden sind.
Wenn ich nun nach den von mir eingesehenen programmen ur-
teilen darf, so ist das quantum der lectüre an vielen anstalten ein
überaus groszes; doch dürfte nach meinen erfahrungen der schüler
mehr lernen, wenn das masz beschränkt, dafür aber auch gründlich
durchgearbeitet würde.
Den inhalt des gesamten Schriftstellers kann man sich zwar, so-
bald der wünsch danach vorhanden ist, durch Übersetzungen an-
eignen, doch ist es aufgäbe des gymnasialunterrichtes , den schüler
in den geist der fremden spräche einzuführen.
Eine entlastung der primaner träte auch dann ein , wenn man
nicht erst im letzten jähre ihnen eine menge synonymischer kennt-
nisse einzupauken suchte, die Synonymik ist nach meiner erfahrung
ein nicht zu unterschätzendes mittel, dem schüler das Verständnis
einer fremden spräche zu erschlieszen, doch wie dieselbe zu betreiben
sei, darüber weichen die ansichten der fachgenossen von einander ab.
Der eine verlangt, Synonymik sei beim Unterricht selbst zu
lernen, also aus der vorliegenden stelle zu schöpfen; pädagogisch
ist dieser weg gewis zu billigen, der andere verlangt, dem schüler
schon von sexta auf ein gewisses pensum aus einem eingeführten
hilfsbuch zur systematischen einprägung zu tiberweisen.
Ich habe beide wege praktisch erprobt und entscheide mich für
letzteren, besonders eifrig haben meine ehemaligen obersecundaner
die Synonymik von Drenkhahn durchgearbeitet, so dasz sie dann in
prima nur noch wenig neues aufzunehmen genötigt waren, wird die
Synonymik schon von sexta auf betrieben, so würde die arbeit oben
gewis erleichtert und das Verständnis der lectüre wesentlich vertieft.
Auch auf grammatischem gebiete werden die abiturienten zu-
weilen überlastet, wenn der lehrer zu jeder stunde so und so viele
Seiten zur repetition aufgibt, erfahrenere lehrer, die da begriffen
haben, dasz nur zusammenhängende vorstellungsreihen sich leicht
festhalten lassen, können ganz auf das mechanische repetieren aus
der grammatik verzichten, ohne deshalb weniger gute resultate zu
erzielen.
Also auf dem gebiete der synonymik wie der grammatik ist
eine tiberbürdung möglich und entlastung in diesem falle erfordert.
Was nun den Horaz anlangt, so läszt sich auch da noch manche
erleichterung schaffen, tote gerippe sind die metrischen Systeme,
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Überbürdung der primaner.
181
wenn sie mechanisch zu lernen sind ; versteht es der lehrer dagegen,
des dichter» metrik aus den einfachsten elementen sich organisch
aufbauen zu lassen, legt er groszes gewicht auf das kunstgemäsze
lesen des dichters , so macht diese seite des Unterrichts dem schuler
frende und bleibt nicht unverdauter gedächtniskram.
Auch zwinge man nicht die primaner so und so viele oden aus-
wendig zu lernen , wenn sie sich innerlich zu den betreffenden nicht
hingezogen fühlen; man kann ja die zahl bestimmen, doch die aus-
wähl der eigenart der schÜler selbst überlassen, sie greifen dann
nicht selten zu den besten, besonders wenn der lehrer sie dazu zu
begeistern vermochte.
Trockener Unterricht führt Uberall zum Widerwillen, und viel-
leicht hat dieser die abneigung besonders gegen das lateinische er-
zeugt und das geschrei des durch eigne böse erfahrungen gewitzigten
publicums veranlasst, darum müssen die lehrer dem schüler ihre
begeisterung einflöszen und ihn an ihrem feuer erwärmen lassen,
mit der gesteigerten lust am Unterricht wird auch die klage wegen
Überlastung allmählich verschwinden.
An harter arbeit fehlt's gewis nicht, soll's auch nicht; sie bildet
den schützenden dämm gegen den in die jugend hineingedrungenen
hang, sich vor der zeit an den genüssen des lebens möglichst activ
zu beteiligen, wenn wir lehrer aber die veredelnde und den Charakter
bildende kraft der arbeit an uns selbst zeigen, so fühlt's die jugend
und fogt uns gern.
Und nun zum griechischen.
In diesem fache ist, soviel ich weisz, die klage über überbür-
dung am wenigsten laut geworden, wenn man von der oft zu aus-
gedehnten privatlectüre absieht, es gibt allerdings anstalten, auf
denen der ganze Homer als gelesen dargestellt wird, wohl auch noch
die lectüre einer Sophokleischen tragödie pro jähr den jahresbericht
ziert natürlich fragt sich der strebsame, auch arbeitsfreudige lehrer,
wie diese masse in so kurzer zeit zu bewältigen war.
Sollte die lectüre keine veranlassung geben , fragen zu stellen,
deren lösung oft eine stunde zeit allein beansprucht; sollte der lehrer
sich nie gedrungen fühlen, das gelesene unter gewissen gesichts-
punkten zusammenzufassen und seinen Schülern ein bild der damali-
gen socialen, politischen, religiösen und künstlerischen Verhältnisse
entweder selbst zu entrollen oder besser mit hilfe der von den Schü-
lern gesammelten bausteine aufzubauen ? das ist nicht recht mög-
lich , wenn so viele bücher Homer wirklich in der classe in einem
jähre gelesen werden, vieles lesen in hast ist unfruchtbare arbeit,
die belastet, ohne zu erquicken und geistig zu fördern.
Man beschränke also in den lebrplänen das masz des zu lesen-
den, bemühe sich aber dem schüler ein gründliches bild antiken
lebens zu entrollen durch das hinabsteigen in die tiefe, nicht ein
oberflächliches, wie es eben entstehen musz, wenn die summe des
gelesenen den ausschlag geben soll.
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182
Überbürdung der primaner
Weg auch mit der privatlectüre in den alten sprachen; sie hat
nach meiner erfahrung geringen wert.
Der schüler hat vollauf zu thun, will er den regelmäszigen tages-
anforderungen gentigen , und wenn er mit seinen lehrern fünf bis
sechs stunden am tage geistig gearbeitet und für seine morgigen auf-
gaben gesorgt hat, dann ist es sündhaft, noch von ihm privatlectüre
zu verlangen.
Mag er seine freie zeit zur körperlichen erholung benutzen oder
auch zu den schätzen der deutschen classischen litteratur greifen,
um sich zu erwärmen für sein volk und Vaterland, was aber dem
lehrer der alten sprachen zu verlangen erlaubt ist, könnte auch der
lehrer des französischen und deutschen bezüglich der privatlectüre
beanspruchen.
Jeder verlangt ja, wie er glaubt, nur das nötigste, doch die
summe am ende entscheidet wie im leben so auch im Unterricht.
Ich halte also die privatlectüre für unberechtigt, überflüssig
kann sie werden, wenn der lehrer in den stunden tüchtig arbeitet,
und wertlos ist sie, wenn der lehrer, wie dies oft genug geschieht,
dieselbe nicht controliert.
Wer von selbst zur philologie hinneigt, wird auch ohne befehl
weiter streben, und die andern sind nicht blosz schüler, sondern auch
kinder ihrer eitern wie menschen überhaupt.
In der geschiente ist die tiberbürdung der abiturienten, als
solche sind doch die primaner im letzten Schuljahr zu betrachten,
trotz aller beschränkung des gedächtnisstoffes für mich so gut wie
erwiesen.
Hier wird besonders vor dem examen gepaukt, und der schüler
thut's im ganzen gern, denn die geschiente ist, soweit meine erfah-
rung reicht, ein prüfungsgegenstand, der am häufigsten das prädicat
'gut* aufweist.
Leicht ist ja dieses zu erreichen für den lehrer, denn er braucht
keine schriftlichen arbeiten aufzuweisen, und für den schüler, weil
er durch fleisziges auswendiglernen am sichersten dazu kommt.
Trotz aller positiven kenntnisse aber haben doch nur wenige
abiturienten den geist der geschichte gespürt.
Der gedächtniskram wird, weil ihm oft die verbindenden ge-
danken und die befruchtenden gesichtspunkte fehlen, schnell genug
vergessen.
Ich behaupte durchaus nicht, dasz der geschichtsunterricht meist
unfruchtbar bleibt und mechanisch betrieben wird, doch st Um per
gibt's auf diesem gebiete wie tiberall.
Glücklich die schüler, welche einen geschichtslehrer haben, der
sie in das Verständnis des entwicklungsprocesses der Völker und ihrer
Staaten einzuführen vermag, der ihnen in anregender weise die gründe
ihrer blüte wie ihres Verfalles und die fast notwendigen folgen be-
stimmter prämissen klar zu machen im stände ist. ein solcher lehrer
wird recht oft hineingreifen in das sociale, religiöse, künstlerische
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Überbürdung der primaner.
und wissenschaftliche leben der Völker, um dem schtiler zu zeigen,
dasz die geschiente nicht blosz aus kriegen und jahreszahlen besteht,
sich nicht blosz aufbaut auf dem erfolge der kämpfenden heeres-
inassen, sondern dasz auch die geistigen mächte des Volkes einen
nicht zu unterschätzenden factor in der geschiente ausmachen, dasz
sie es sind, die oft genug den fortschritt der geschieh tu veranlassen,
und dasz schliesslich die Umgestaltung der politischen geschichte
ihre lichter und schatten auch auf die gesamtlage des Volkes in
materieller wie geistiger beziebung wirft.
So betrieben wird der geschichtsunterricht zwar nicht das posi-
tive wissen überflüssig machen, denn dies ist gerade hier besonders
nötig, aber die befruchtenden allgemeineren gedanken werden erst
das bindern Ittel für die einzelnen thatsachen bilden müssen, um die
gegenwart aus der Vergangenheit verstehen zu lehren und die Zu-
kunft wenigstens einigermaszen ahnen zu lassen, so wird der Unter-
richt den Schülern zeigen, wie die gegenwart sich gebildet, welche
fehler früher gemacht worden sind, wovor man sich nach den er-
fahrungssätzen der geschichte in zukunft zu hüten habe , worauf es
ankommt, will man an der entwicklung des menschengeschlechtes
wie des Vaterlandes im besondern thätig mitwirken.
Man sollte sich deshalb beim abiturientenexamen nur an das
pensum der prima halten und auf dem gebiete der alten geschichte
auf das beschränken, was für die neuere zu wissen unumgänglich
nötig ist. wie dies zu machen ist, darüber können nur fachleute ur-
teilen; ich habe nur den punkt anzugeben, wo anzusetzen ist, um
die abiturienten zu entlasten, die Instructionen sr. majestät des
kaisers für die cadettenhäuser betonen das hierzu gehörige.
Neben der geschichte ist unbestreitbar die mathematik zu über-
bürden im stände, wenn dieser gegenständ in den bänden eines
pädagogisch nicht gehörig durchgebildeten lehrers ruht, in ge-
schickten bänden überbürdet sie nicht, besonders wenn der lehrer
auch die berechtigten forderungen der andern Unterrichtsgegenstände
gebührend zu berücksichtigen vermag, besonders in der mathematik
ist die forderung berechtigt, die ganze classe im Unterricht zu be-
schäftigen, rechnen und construieren im buch anstatt an der tafel
halte ich für verfehlt, nicht minder das, wenn der lehrer nur die schüler
an die tafel ruft, die ein besonderes interesse für die mathematik
besitzen, leicht setzt der lehrer dann als von allen verstanden vor-
aus, was diese wenigen so schön begriffen, und stellt häusliche auf-
gaben, welche die schüler belasten müssen, die dem Unterricht nicht
haben folgen können, der grund zur überbürdung in diesem fache
liegt nach meiner eignen erfahrung lediglich an der methode des
lehrers; und welcher mismut den schüler gerade in der mathematik
befallt, wenn er trotz besten willens keine erfolge erzielt, habe ich
als schüler an mir selbst erfahren , als lehrer an andern reichlich zu
beobachten gelegenheit gehabt, ob thatsächliche beschränkungen
des lebrstoffes möglich und nötig sind, kann ich nicht beurteilen,
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Überbürdung der primaner.
doch dasz die metbode manches verkehrt ist , lehrt auch heute noch
die er fahr ung.
Doch auch die scbüler will ich von schuld nicht freisprechen.
80 mancher fehlt in der classe; natürlich bilden sich lücken, die be-
sonders gefährlich in einem fache sind , wo sieb der eine grundsatz
mit logischer notwendigkeit auf dem andern aufbaut.
Ferner werden oft schüler in die höheren classen versetzt, welche
in diesem gegenstände kein volles zur Versetzung berechtigendes prä-
dicat erlangt haben, sind nun solche schüler auch in andern fachern
keine helden, so sind sie nicht im stände, die klaffenden lücken in
der mathematik bei zeiten auszufüllen.
Da aber das abiturientenreglement drohend vor ihren äugen
steht , so beginnt ein übermäsziges pauken im letzten Schuljahr.
Soll also oben keine überbürdung eintreten , so müste in allen
classen nach dem grundsatze versetzt werden, dasz mindestens das
prftdicat 'ziemlich befriedigend' in allen fächern erreicht ist.
Auch müsten tüchtige pädagogen den mathematischen Unter-
richt auf allen stufen erteilen, läszt aber der lehrer auf den mittleren
classen — und das ist tbatsächüch zuweilen der fall — abstractes
zeug, was der schüler nicht begriffen hat, mechanisch auswendig
lernen, so schwindet bei ihm das interesse für diesen bildenden gegen-
ständ, das oben nur schwer wieder zu beleben ist. dasz aber selbst
von primanern noch viel auswendig gelernt wird, beweisen die
abiturientenexamina zur genüge.
Ich komme schlieszlich zu dem französischen, hier hört man
selten klagen seitens der schüler wegen Uberbürdung, öfters dagegen
die des lehrers über mangelhaften fleisz der schüler. es läszt sich
nicht in abrede stellen, dasz das französische das Stiefkind des gymna-
siums ist. da nun der text im französischen am leichtesten von den
fremden sprachen zu verstehen ist, so ist für den lehrer dieses faches
die grammatik die hauptsache, und in dieser beziehung wird im
letzten halben jähre nicht blosz im lateinischen und griechischen,
sondern auch hier des guten zu viel gethan.
Jedes examen soll allerdings eine summe positiver kenntnisse
zu tage fördern, doch dürfte sich dies ebenso erreichen lassen, wenn
man, anstatt blosz im letzten Vierteljahre , dauernd Wiederholungen
vornähme, wird in jeder stunde wiederholt, was die vorige an neuem
geboten, wenn auch nur in den hauptpunkten; wird dann noch
monatlich eine gesamtrepetition vorgenommen; versteht es ferner
der lehrer, das zusammengehörige in gruppen zusammenzufassen, so
wären die repetitionen am ende der Schulzeit überflüssig und doch
das nötige wissen erreicht, würden schlieszlich die Versetzungen aus
obersecunda nach unterprima und von da nach oberprima mit aller
strenge gehandhabt, so würde der abiturient ohne übermäszige an-
strengung sein ziel erreichen.
Wie es augenblicklich steht, ist die frage des themas zu be-
jahen.
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Zur überbürdungsfrage.
185
Abänderung der bestehenden zustände ist recht wohl möglich
und erreichbar, sobald die heranschulung der candidaten nach wissen-
schaftlichen principien erfolgt und die lehrer zur erkenntnis kommen,
dasz ihr fach nur ein stein ist zum bau der harmonischen ausbildung
der schüler, der im und durch das abiturientenexamen seine kröne
erhalten soll.
Kempen in Posen. Paul Mahn.
17.
ZUR ÜBERBÜRDUNGSFRAGE.
überbürdung und kein ende! so kann man von den höheren
Unterrichtsanstalten sagen, von Luther, welcher die armen, geplagten
klosterschüler bedauerte, bis auf die neueste zeit mit ihren unver-
kennbaren bemühungen für das körperliche wohl der jugend als
gegengewicht gegen ein Übermasz von geistesthätigkeit, immer das-
selbe lied, nur in verschiedener tonart und stärke! und diese klagen
werden nie verstummen, so lange es menschen gibt, mag auch noch
so viel gebessert werden an unsern schulein rieh tun gen. und das liegt
ja in der natur der sache; denn träger der überbürdung ist nicht,
wie man gewöhnlich im publicum anzunehmen beliebt, ausschliesz-
lich die schule, die nebenbei auch noch in den fällen, wo sie ihre
schuld erkennt, wenigstens den guten willen zeigt abhilfe zu schaffen;
es sind nicht allein die häuslichen arbeiten , nicht die überfülle des
lern- und memorierstoffes, nicht der mangel an ausreichender körper-
licher bewegung, und wie die bequemen Schlagwörter sonst heiszen
mögen , die bei der überbürdungsfrage in rechnung zu ziehen sind,
sondern auch haus und pension haben , wie nicht oft genug wieder-
holt werden kann , ihr schuldconto und tragen mittelbar manchmal
mehr als die schule zur überbürdung bei, ohne dasz sie dabei immer
auch ihrerseits bestrebt wären mitzuarbeiten an dem wahren wohl
der ihrigen, mögen sich doch einmal väter und mütter ordentlich
zu gemüte führen, dasz der zeitraubende Privatunterricht, die ab-
lenkenden liebhabereien mancherlei art, die vorwegnähme studen-
tischer genüsse unter stillschweigender oder ausdrücklicher geneh-
migung des hauses oder der pension unendlichen schaden stiften ;
dasz hygienische übelstände, denen die schule gar nicht beizukom-
men im stände ist, in vielen pensionen an der geistigen frische
unserer jugend zehren! vielleicht urteilen sie dann etwas milder
über die von der schule thatsäeblich oder gar nur angeblich herbei-
geführte überbürdung. denn das ist doch klar, dasz da, wo die
körperkraft durch naturwidrige einfiüsse geschwächt ist, jede für
für einen gesunden Organismus leicht zu bewältigende geistige an-
strengung zu einer quelle der überbürdung wird.
Bei allen klagen Uber überbürdung im publicum und in der
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Zur überbürdungsfrage.
tagespresse hört man merkwürdigerweise selten oder gar nicht eine
classe von Schülern erwähnt , die allem anschein nach in erster linie
bedauern und entlastung verdienten; das sind unsere abiturienten.
denn sechs stunden in der schule zu sitzen und eifrig dem unterrichte
zu folgen, dazu zwei bis drei stunden der häuslichen Vorbereitung
zu schenken und dann noch obendrein längere oder kürzere zeit hin-
durch vielleicht ebenso viel stunden täglich auf die arbeiten für die
abgangsprüfung zu verwenden, wie es bei den abiturienten doch ge-
wöhnlich ist: das ist, sollte man meinen, etwas zu viel verlangt bei
jungen, in der entwicklung begriffenen personen. die arbeiter for-
dern heutzutage einen achtstündigen normal arbeits tag, und man hält
ihre forderung vielfach für nicht unberechtigt; die abiturienten sollen
zehn stunden und noch länger am tage geistig thätig sein, und
man hört wenig oder gar nichts zu ihren gunsten angeführt, woher
kommt diese eigentümliche, dem sonstigen gebahren des publicuins
im punkte der schulüberbürdung ganz widersprechende erschei-
nung? sie ist nicht anders zu erklären, als dadurch, dasz man im
hinblick auf das hohe ziel, welches die abiturientenprüfung dar-
stellt, den zweck einmal das mittel heiligen läszt, gleichwie mutter
und mnhme, die sonst leicht der schule gram werden, wenn ihre
lieblinge einmal zu hause ratlos an der feder kauen , oder zu spät
zu bette gehen , kurz vor der Versetzung alle anordnungen seitens
der schule mit freuden gutheiszen und zu ihrer durchführung willig
die hand bieten.
Daher wollen wir uns einmal jener jungen leute annehmen und
unbeirrt durch selbstsüchtige auffassungen das für und wieder in der
frage der überbtirdung derselben unparteiisch abwägen, um, falls sich
etwaige Schäden in unsern Schulgepflogenheiten zeigen, durch wohl,
wollende Vorschläge zur abstellung derselben dem geplagten dasein
jener zu hilfe zu kommen.
Denken wir uns einen Oberprimaner mit der Veranlagung des
durchschnittsmenschen, der sittlich und körperlich gesund ist und
in gleichen Verhältnissen lebt, kurz bei dem alle bedingungen des
lebens normal genannt werden können, derselbe soll in den secun-
den und im ersten jähre der prima redlich seine Schuldigkeit in der
schule und für die schule gethan haben, auch während dieser zeit
das glück gehabt haben und noch haben, von erfahrenen lehrern
unterrichtet worden zu sein und unterrichtet zu werden, welche ihre
aufgäbe , auch in den fächern , für die einzelkenntnisse und gröszere
anforderungen an die gedächtniskraft notwendig sind, darin sehen,
durch richtige Verknüpfung und concentration des lernstoffes ein
langsames, aber stetig fortschreitendes reifen zu erzielen, und die
dem entsprechend bei der beurteilung ihrer schüler auf die allge-
meine geistige entwicklung das hanptgewicht legen, ein solcher
schüler soll ferner in den ersten stunden der oberprima vom director
oder vom Ordinarius noch besonders darauf aufmerksam gemacht
werden, dasz das am Schlüsse des jabres zu bestehende abgangs-
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Zur überbürdungafrage.
187
examen nach den anordnungen der behörde und entsprechend dem
wünsche der schule kein furchterregendes gespenst sei , sondern ein
natürlicher abschlusz einer vieljährigen thätigkeit und gewisser-
maszen eine notwendige förmlich keit, bei der frack und weisze hand-
schuhe eine hauptrolle spielen; dasz es ferner bei demselben darauf
ankomme innerhalb des seit jähren in der schule verarbeiteten lern-
stoffes Überlegung, klarheit des denkens und richtigkeit des Urteils
zu zeigen, nicht einzelkenntnisse und zusammenhangloses wissen,
dasz daher 'wüstes pauken' ad hoc nicht nur nichts nütze, sondern
sogar schädlich wirke, auch das urteil des lehrercollegiums über reife
oder nicbtreife das ausschlaggebende sei : so werden wir einen sol-
chen abiturienten nun und nimmer für Uberbürdet halten können,
ja, es soll ihm sogar eine auszerordentliche, etwa vier wöchentliche
thätigkeit vorher für die prüfung selbst nicht erspart werden, son-
dern er mag neben seiner gewöhnlichen arbeit für die schule unter
ein- bis zweistündiger mehrbelastung seiner erholungszeit oder auch
unter Verzichtleistung auf das eine oder andere vergnügen die un-
entbehrlichsten einzelkenntnisse, die ja recht schnell vergessen zu
werden pflegen , seinem gedächtnisse von neuem einprägen und für
den tag der prüfung bereit halten, alles das wird ihm, zumal er bis
dahin seine kräfte zu schonen im stände gewesen , nichts schaden,
oder das geftibl der überbürdung in ihm aufkommen lassen, im
gegenteil , es liegt in dieser mehrleistung ein hoher sittlicher wert :
ein ziel, das so bedeutungsvoll für die zukunft eines jungen mannes
ist, wie die abiturientenprüfung, ist noch gröszerer opfer wert, jede
cultur fordert ihre opfer, und grosze zwecke erheischen auszerordent-
liche mittel, was die heutigen Zeiten recht eindringlich predigen,
wenn der jüngling mit achtzehn oder neunzehn jähren dies an sich
selbst schon frühzeitig praktisch erprobt, so werden ihn auszer-
gewöhnlicbe lebenslagen in späterer zeit nicht ungeübt finden.
Von einem solchen Oberprimaner, dessen thätigkeit den grösten
teil des letzten jahres seiner Schulzeit eine gleichmäszig ruhige ist
und seiner weiteren geistigen und körperlichen entwicklnng zu gute
kommt, kann man sagen, auch wenn die tage der prüfung sein herz
vor bangigkeit klopfen lassen und seine nerven etwas stärker an-
greifen, dasz für ihn die mündliche abiturientenprüfung rder har-
monisch nachklingende schluszaccord des ganzen schullcbens' und
rder tag derselben ein ehren- und freudentag' sei, dessen erinnerung
ihn stets mit freude und stolz erfüllen wird.
Ob ein solcher normalabiturient aber auch möglich ist ? ohne
zweifei, wenn anders die aufgestellten Voraussetzungen, so zahlreich
sie auch seien, gott lob! doch nicht unmöglich sind; aber häufig
findet er sich jedenfalls nicht, die Wirklichkeit in der mehrzahl der
fälle zeigt vielmehr ein ganz anderes bild des abiturienten. gewisse
ansichten in der schule vererben sich von geschlecht zu geschlecbt,
und die Überlieferung hinsichtlich der abgangsprüfung läuft für ge-
wöhnlich darauf hinaus, dasz die gedächtnismäszige Vorbereitung
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Zur überbürdungsfrage.
nie eingehend und umfangreich genug sein könne, dasz sie den ein-
zigen ansprueh auf richtigkeit habe, winke und ratschläge des lehrers
nützen dem gegenüber wenig oder gar nichts.
Das erste halbjahr vergeht gewöhnlich noch in ruhiger tbätig-
keit; die vis inertiae und die lebensfrohe Sorglosigkeit sind hier die
rettungsengel unserer schüler; aber hier und da zeigt sich auch schon
unruhe, hast und nervosität, welche die allgemeinen zwecke der
Schulbildung in den hintergrund treten lassen, mit dem zweiten
halbjahr beginnt die arbeit, gewöhnlich tritt ein compagniegeschäft
zu zweien oder dreien zusammen, und nun wird die zeit, welche nach
acht- bis neunstündiger tbätigkeit für die schule und in der schule
— nnd bei der verwerflichen gewohnheit vieler lehrer, die abitu-
rienten während des letzten halb- oder Vierteljahres in der classe be-
sonders scharf zu leistungen heranzuziehen, tritt an und für sich schon
eine mehrbelastung ein — naturgemäsz der erholung gewidmet sein
müste , dem 6inem zwecke geopfert, sogar die pausen während der
Unterrichtszeit nnd die seltenen Spaziergänge werden zum gegen-
seitigen abfragen misbraucht. ich habe abiturienten gekannt, und
es waren nicht die schlechtesten, die monatelang vor der schulprü-
fung nie vor mitternacht zu bette giengen und dann , noch dazu im
winter, täglich um 5 uhr aufstanden: man bedenke, was das sagen
will, falls noch misliche hygienische Verhältnisse hinzukommen, z. b.
wenn die zeit im tabaksdunsterfüllten räume bei schlechter beleuch-
tung und noch schlechterer heizung zugebracht wird!
Die gegenstände, welche bei diesen Wiederholungen besonders
in betracht kommen, sind religion, geschieht« und geographie,
mathematik, dann auch Horaz; ängstliche gemüter schenken auch
der grammatik der fremdsprachen beachtung. die Uberlieferung an
manchen anstalten bringt es ferner mit sich, dasz sogar für das
schriftliche examen in unredlicher absieht Vorbereitungen getroffen
werden durch fabrication von zetteln, falls keine ererbten vorhanden
sind, auf denen allgemeine aufsatzeinleitungen , dann auch bearbei-
tungen bekannter, besonders im lateinischen aufsatz* zu verwertender
abschnitte aus der griechischen und römischen geschichte und mathe-
matische form ein aus der trigonometrie und der Stereometrie stehen,
die meiste zeit wird jedoch auf religion und geschichte und geo-
graphie, die unter den gegenständen der mündlichen prüfung für
die schlimmsten gelten, verwandt, und da kann man oft die unge-
heuerlichsten dinge beobachten , wenn man gelegenheit hat hinter
die coulissen zu sehen, da die classenwiederholungen durch eine Ver-
ordnung des ministers für unstatthaft erklärt worden sind und mit
recht, da die in der Prüfungsordnung enthaltenen forderungen sie
als überflüssig erscheinen lassen, der schüler also ganz auf sich und
die nicht mehr zutreffende Überlieferung angewiesen ist, so kommt
* dieser artikcl war uns schon vor dem zusammentritt der Berliner
schulconferenE zngegangen. die redaction.
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Zur überbürdungsfrage.
189
natürlich unter dem verschlimmernden einflusse der angst nur ver-
kehrtes heraus, alles wird kunterbunt durcheinander nicht einmal,
oder zweimal, sondern zehn-, funfzehnmal 'durchgepaukt', dazu noch
die unbedeutendsten thatsachen und daten, die vielleicht irgend ein-
mal im Unterricht, oder von einem besonders eifrigen und gewissen-
haften kameraden gehört worden sind, oder auch nach der Überliefe-
rung lieblingsfragen gewisser examinatoren sind, unter Zuhilfenahme
aller erdenklichen mnemotechnischen mittel, unter quälen und sorgen
wird das ins gehirn eingepfropft und in bestimmte schubfacher des-
selben hübsch ordentlich eingereiht zum schlagfertigen gebrauche
bereit gehalten, es ist fabelhaft, was so ein jugendliches gehirn alles
aufnehmen kann: sämtliche deutschen kaiser der reihe nach mit
Jahreszahlen herzusagen gilt für eine kleinigkeit, aber auch die
ökumenischen concile werden ebenso erlernt und alle möglichen un-
bekannten flüszchen Asiens und Amerikas, letzteres natürlich ohne
atlas: es ist ein wahres wunder, dasz der eine oder andere pfiffige
köpf noch nicht auf die Schweizer cantone oder die französischen
departements verfallen ist.
Natürlich musz unter solchen quälereien die Spannkraft und die
frische des körpers verloren gehen und sogar die kraft dieses erheb-
liche einbusze leiden, so sehen denn die in die prüfung tretenden
jüuglinge häufig wie die schatten aus, und so manche woche ver-
geht unter liebevoller mütterlicher pflege nach bestandenem examen,
ehe die frühere kraft wieder eingeholt wird, mir ist ein fall bekannt,
dasz ein abiturient in einem Vierteljahr vor der prüfung von zwei
centnern, die er wog, 28 pfund abgenommen hatte; dabei war die
ganze mühe, die ihn so heruntergebracht hatte, umsonst gewesen,
da er nicht zur mündlichen prüfung zugelassen wurde, wenn wäh-
rend des mündlichen examens nicht die hochgradige aufregung die
nerven der prüflinge in Spannung erhielte , wir würden , glaube ich,
noch mehr als es für gewöhnlich schon der fall ist an Verworrenheit
und Unklarheit des denkens dabei erleben als folgen der wüsten,
trostlosen *paukereien\
Mancher wird sagen, das/ die färben dieses eben entworfenen
bildes zu stark aufgetragen seien, aber doch ist es nach dem leben
gezeichnet, wie jeder aufmerksamere beobachter zugeben wird, viel-
leicht trifft zum glück die Wahrheit desselben nicht in der mehrzahl
der falle zu , aber sicherlich in einer genügend groszen anzahl , so
dasz die schule grund genug hat damit zu rechnen, kommen nun
dazu noch von den eingangs erwähnten, auszerhalb der schule liegen-
den überbürdungsfactoren der eine oder der andere verschärfend
hinzu, dann haben wir für den abiturienten in dem letzten halbjabr
überbürdung in des wortes verwegenster bedeutung. woran liegt
die schuld? was hat zu jener unsinnigen und unseligen Überliefe-
rung geführt?
Betrachten wir zunächst einmal die forderungen der Prüfungs-
ordnung vom jähre 1882 in den fächern, bei denen hauptsächlich
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190
Zur überbürdungfefrage.
überbürdung zu befürchten ist. 'in der christlichen religion', heiszt
es , 'soll der schüler von dem inhalte und dem zusammenhange der
h. schrift, von den grundlehren der christlichen confession, wel-
cher er angehört, und von den hauptepochender kirchengeschichte
eine genügende kenntnis erlangt haben'; in der geschiente die
epochemachenden begebenheiten der Weltgeschichte, namentlich
der griechischen, römischen und deutschen, sowie auch der preuszi-
schen geschiente im zusammenhange ihrer Ursachen und
Wirkungen kennen usw.; in der mathematik sichere, geordnete
und wissenschaftlich begründete kenntnisse besitzen, wir sehen
also, es wird überall mehr übersichtliches, der allgemeinen bildung,
die das gymnasium vermitteln soll, entsprechendes Verständnis ver-
langt und damit mehr die fähigkeit richtiger beobaebtung und Ur-
teilskraft, als die augenblickliche kenntnis einer summe von er-
fahrungsmäszig bald der Vergessenheit anheimfallenden einzelheiten
betont, ja, einzelkenntnisse müssen, da nach den eignen erläute-
rungen des ministers zu seiner Prüfungsordnung, wonach fin sach-
licher hinsieht die jetzt geltenden bestimmungen im wesentlichen
mit den früheren in Übereinstimmung stehen' — circ.-verord. vom
27 mai 1882 — geradezu als unstatthaft und dem geiste der Prüfungs-
ordnung zuwiderlaufend angesehen werden, wenn wir in der circ-
verf. vom 6 juli 1868 Über geschiente und geographie lesen: 'viele
der herren examinatoren beschränken sich darauf, einzelne gebiete
der griechischen , römischen , deutschen und preuszischen geschichte
auszuwählen, und verlangen auf diese weise eine kenntnis von einzel-
heiten, die man bei den abiturienten nur dann vorauszusetzen be-
rechtigt ist, wenn sie kurz vor der prüfung sich mit derselben genauer
beschäftigt haben, das ist aber doch etwas , was das prüfungsregle-
ment seinem ganzen geiste nach nicht verlangt.' in demselben sinne
heiszt es in dem prüfungsreglement vom jähre 1834 : 'bei der schlusz-
beratung über den ausfall der prüfung soll nur dasjenige wissen und
können und diejenige bildung der schüler entscheidend sein, welche
ein wirkliches eigentum derselben geworden ist', und in dem
vom jähre 1837 in nicht mbzu verstehender weise : 'so unmöglich es
ist, dasz ein verständiger lehrer der ersten classe von seinen schülern
verlange , dasz alles , was ihnen in dem zweijährigen cursus gelehrt
und vorgetragen worden, binnen einigen stunden rechenschaft ab-
legen, und so wenig es ihm einfallen wird, den grad ihrer durch die
einzelnen lehrgegenstände errungenen geistigen bildung nur nach
dem, was sie auswendig gelernt und behalten haben, zu
messen, ebenso entfernt ist auch das regle ment von sol-
chen verkehrten forderungen, und wenn sie nichts desto
weniger gemacht werden sollten, so ist es pflicht der kgl. prüfungs-
commission einem solchen un fug mit nachdruck entgegenzutreten
und den wesentlichen inhalt des reglements gegen jede misdeutung
und falsche anwendung seiner einzelnen bestimmungen geltend zu
machen.' ferner auch in dem vom jähre 1856: 'je mehr die schüler
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Zur überbürdungsfrage.
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gewöhnt werden, ihr interesse am unterrichte, ihren fleisz und ihre
leistungen, sowie ihr sittliches verhalten während der Schulzeit als
das eigentlich entscheidende bei dem schlieszlichen urteil über reife
und unreife anzusehen, desto mehr wird das abiturientenexamen auf-
hören, ein gegenständ der furcht zu sein.* endlich in dem vom jähre
1858: 'es ist alles dasjenige zu vermeiden, was dazu dienen kann,
das abiturientenexamen ängstlichen gemutern zu einem gegenstände
ratloser furcht zu machen.' dasz dieser fürsorge für die prüflinge
und der Verhütung einer Überlastung derselben durch die Vorberei-
tungen zur prüfung auch die fast in allen reglements wiederkehrende
bestimmung , 'die classen leistungen und das auf längerer kenntnis
des schülers beruhende urteil der lehrer zu einer wesentlichen Grund-
lage der entscheidung über reife und nichtreife zu machen', ent-
sprechend sind , wird jedermann von selbst erkennen, aus alledem
folgt klar und deutlich, dasz die Prüfungsordnung für das heutige
überbürdungsleiden der Oberprimaner nicht verantwortlich gemacht
werden darf, denn mag auch der Wortlaut der bestimmungen, wie
es bei solchen reglements gewöhnlich ist, hier und da etwas zu all-
gemein und dehnbar sein, so ist doch der sinn und der geist derselben
über jeden zweifei erhaben, danach bleibt also nur übrig die prak-
tische anwendung derselben in der prüfung selbst und die daraus
für die schüler hervorgegangene Überlieferung für die Ursache des
Übels zu erklären.
Wie steht es damit? zunächst möchte ich bezweifeln, dasz der
Wortlaut und der sinn der Prüfungsordnung allen examinatoren be-
kannt ist; und doch ist dies selbstverständlich von der höchsten
Wichtigkeit, ja, ich halte es sogar für notwendig, dasz auch alle
Oberprimaner zu anfang des letzten jahres oder halbjahres ihrer
Schulzeit durch den director mit den wichtigsten bestimmungen und
erlfiuterungen eingehend vertraut gemacht werden, dadurch würde
allen viele überflüssige arbeit erspart, nach welchen gesichtspunkten
wird denn nun aber bei ungenügender berücksichtigung der amt-
lichen Verordnungen geprüft ? man folgt einfach der Überlieferung
und der persönlichen neigung und gewöhnung: wie der junge lehrer
seine collegen jähr aus jähr ein prüfen gesehen und gehört hat, wie
er in der classe bei gelegenheit der Wiederholung eines gröszeren ab-
schnitts prüft, so macht er es in der abiturientenprüfung. das ist
aber eben das falsche und wie ich schon oben gesagt habe , eine der
wurzeln des Übels.
Das bild , welches sich bei der landläußgen art zu prüfen im
allgemeinen bei unseren abiturientenprüfungen entrollt, zeigt nach
meinen langjährigen beobachtungen und vielfachen erkundigun-
gen eine übertriebene, zum teil sogar ausschlieszliche inanspruch-
nahme der gedächtniskraft und was damit in enger Verbindung
steht, einen Wechsel der gedankenkreise, dasz selbst der unbeteiligte
zuhörer verwirrt werden kann, der schüler, welcher bei gutem ge-
däcbtnisse ein schlagfertiges mundwerk hat, kommt am besten weg;
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192
Zur überbürdungsfrage.
derjenige, welcher klar, aber langsam denkt und antwortet, erhalt
zu wenig gelegenheit seinen verstand zu zeigen und steht nicht selten
jenem bedeutend nach, freilich, äuszerlich betrachtet macht es sich
ja auszerordentlich nett, wenn auf die frage des lehrers die schnelle
antwort des prüflings erfolgt, oder wenn dieser auf einem gebiete,
wo er besonders gut auswendig gelernt hat, nach herzenslust sein
röszlein tummelt; aber der gute eindruck musz schwinden, wenn
man an die mtthen und arbeiten denkt, durch die dieser äuszerlich
glatte erfolg erzielt worden ist, und an die armseligkeit der hand-
habe für die beurteilung der reife, die auf diesem wege nach der
güte des gedächtnisses , nicht nach der klarheit des denkens und
nach der schärfe der Urteilskraft bemessen wird, bei den abiturien-
ten selbst erfreut sich diese art des prüfens infolge der gewöhnung
von der classe her einer unverhältnismäszig groszen beliebtheit;
schon das allein müste stutzig machen.
Selbst die sprachlichen fächer der mündlichen prüfung leiden
an diesem übel, und doch erfüllen sie nicht ihren zweck, wenn man,
anstatt das hauptgewicht auf rasche auffassung, richtiges Verständnis
und angemessenen ausdruck zu legen und die grammatischen und
sonstigen fragen mehr auf die erklärung und tiefere begründung
der Übersetzung zu beziehen, alle möglichen, auszerhalb des be-
reichs der vorgelegten stelle liegenden fragen stellt, oder wenn eine
sachgemäsze nebenfrage dieser art zum abhören eines gröszeren
grammatischen oder antiquarischen oder sonstigen abschnitts erwei-
tert wird, es ist also nicht richtig, im griechischen z. b. bei drfT^Muu
mit den partic. nach den andern verben, die das partic. prfidic. re-
gieren, oder auch nur nach einem teile derselben zu fragen, sondern
man musz sich mit der richtigen antwort, dasz an dieser stelle etwas
thatsäcblicbes gemeldet wird, begnügen; oder man darf bei einer
lateinischen stelle, in der antiquus vorkommt, nicht die frage stellen :
welches sind die synonyma von a., welches ihre unterschiede? son-
dern: warum ist an dieser stelle antiq. notwendig? oder im fran-
zösischen bei einem verb. c. accus, oder einer conjunction mit dem
subj. nicht: welche andere verba regieren den accusativ? welche
conjunctionen den subjonctif? sondern man kann sich entweder mit
der Übersetzung allein zufrieden geben, da dieselbe ein kriterium
des grammatischen Verständnisses ist, oder man wird die allgemeine
sprachliche auffassung, welcher der Franzose im gegensatzo zum
deutschen folgt, wenn er z.b. secourir mit dem objectsaccusativ ver-
bindet, hervortreten lassen. — Sehr bedenklich ist es ferner, im
Horaz die musterübersetzung der classe und noch dazu alle mög-
lichen einzelerklärungen zu fordern, während das blosze geschmack-
volle, sinngemäsze lesen schon einen genügenden maszstab für die
beurteilung des Verständnisses abgibt, übrigens wird man, wenn
man der Horazlectüre in der classe am besten nur ästhetische ge-
sichtspunkte zu gründe legt, auf eine prüfung in diesem dichter
wohl verzieht leisten müssen.
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Zur überbürdungsfrage.
193
Noch trauriger steht es um die praxis der prttfung in der mathe-
matik, demjenigen fache, bei welchem man am allerersten nur ver-
standesmäszige fragen erwarten sollte , da dieses fach die höchste
Schulung des denkens erreichen kann, statt dessen wird der prüf-
ling in wenigen minuten durch alle teile dieser disciplin gehetzt und
musz ohne Zusammenhang eine flut von lehrsätzen und beweisen,
formein und definitionen aus dem köpfe hersagen, aus denen nicht
im entferntesten der schlusz auf mathematisches denken gerecht-
fertigt ist, und die ein mensch ohne einen funken von mathemati-
schem denken mit derselben bravour anzuführen weisz, wenn er nur
tüchtig auswendig gelernt hat. gerade hier ist es so leicht, den abi-
turienten dadurch, dasz man ihn etwas finden läazt, auf seine geistigen
fahigkeiten, besonders auf die schärfe seines schluszvermögens zu
prüfen , indem man ihn z. b. an der tafel eine leichte geometrische
aufgäbe lösen und den gang der trigonometrischen rechnung angeben,
oder in der algebra ihn eine sogenannte wortgleichung lösen, oder
in der Stereometrie an diesem oder jenem körper unter bestimmten
Verhältnissen den grad seiner anschauung zeigen läszt. anwendung
des gelernten auf fälle aus dem praktischen leben, auf die mathe-
matische geographie, oder die physik bieten gerade der mathematik
gelegenheit die geistige reife oder nichtreife im klarsten lichte er-
scheinen zu lassen.
Wie pflegt es endlich mit der religion und mit der geschiebte
und geographie, diesen schmerzensfächern jedes abiturienten , zu
stehen? von vorn berein kann hier in der prüfung ein bestimmtes
m&sz von inanspruchnahme des gedächtnisses zugestanden werden,
da es sich bei 18 — 20jährigen jQnglingen nur um wiedergäbe fester
thatsachen und fertiger urteile handelt, bei der dehnbarkeit der be-
stimmungen der Prüfungsordnung aber, welche bei diesen gegen-
ständen von 'grundlehren' bzw. 'epochemachend' spricht, liegt die
gefahr des zuviel nur zu nahe; aber das ist nicht gerade das schlimmste,
60 leicht es auch zur belastung des schülers führt, weil das durch
tüchtige lehrer für diese föcher eingeflöszt« interesse manche Schwierig-
keit überwinden hilft, wenn aber dort eine prüfung im katechismus
und gesangbuch, hier ein bloszes abfragen der geschichtstabellen
daraus wird, wenn besonders aufzählungen in bestimmter reihenfolge
mit genauester datenangabe verlangt werden, so musz man gegen
solche, dem geiste der Prüfungsordnung zuwiderlaufenden anschau-
ungen im namen unserer jugend einspruch erheben, ist denn der
nutzen, um von der religion ganz zu schweigen, z. b. für die ge-
schiente so bedeutend, wenn ein abiturient die daten der ereignisse
der schlesischen kriege, oder des letzten deutsch-französischen weisz?
das blosze gefühl für die Heldengestalten in der geschiebte der Hohen-
zollern ist für die entwicklung des nationalbewust&eins tausendmal
mehr wert, freilich, einzelkenntnisse , in der vaterländischen ge-
schiente besonders, sind ja sehr schön, aber für die zwecke der abi-
turientenprüfung erscheinen sie unbedeutend, ebenso verhält es sich
N.jthrb.f.phil.u.pid. Il.tbt. 1891 hfl. 4. 13
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194
Zur überbürduogsfrage
mit der kenntnis geographischer dinge ohne das anscbau ungsmittel
der karte, ein mangel, der auch der unsinnigen art der Vorbereitung
für die geographische prüfung ohne Zugrundelegung des atlas Vor-
schub zu leisten im stände ist. — Und was ist die folge dieser über-
mäszig das gedächtnis belastenden forderungen ? der abiturient wird
nur eine unangenehme erinnerung an alle diese einzeldinge mit-
nehmen und dieselben, sobald er dem gymnasium den rücken kehrt,
möglichst schnell zu vergessen suchen; ja, er wird unter umständen
denen kein freundliches andenken weihen, die ihn um weniger
minuten willen ohne sichtlichen nutzen zu einer vielwöchentlichen
auszerordentlichen anstrengung gezwungen haben. — Gewöhnlich
pflegt in diesen fächern bei der abgangsprüfung am meisten, wenig-
stens dem anscheine nach , geleistet zu werden , die prädicate 'gut*
und 'sehr gut* kommen öfter als anderswo vor und haben mit hilfe
der compensation schon manchen gerettet; aber gerade darin liegt
etwas sehr bedenkliches, da es beweist, dasz an sich nicht gerade
bedeutenden gegenständen, soweit wenigstens die erforschung der
verstandesentwicklung in betracht kommt, zu viel zeit und mühe
geopfert wird, anderseits dasz in unserer prüfung gedächtnismäsziges
und verstandesmäsziges wissen gleichwertig sind. — Wenn in einem
fache, so wird es bei den beiden eben besprochenen von hervorragen-
der bedeutung sein , dasz die examinatoren auszer allseitiger beher-
schung des Stoffes richtige erkenntnis der individuellen leistungs-
fähigkeit und gewandtheit in der fragestell ung besitzen, damit sie
nicht multa, sondern multum verlangen und durch den logischen
aufbau der prüfung und hervortretenlassen des Zusammenhangs und
der causalität der erscheinungen und der thatsachen die gedanken-
arbeit des prüflings erzwingen.
Ich glaube hiermit den beweis erbracht zu haben , dasz sich in
die praxis des prüfens bei unserer abiturienten prüfung fehler ein-
geschlichen haben , welche geeignet sind infolge der daraus sich er-
gebenden gewöhnung der schüler manigfaltige, zur Uberbtirdung
führende Verkehrtheiten in der art der Vorbereitung für die prüfung
herbeizuführen, geht man aber der sache auf den grund , so wird
man die übelstände bei der prüfung doch erst als die folge eines
allgemeineren fehlerhaften zustandes in unseren höheren unterrichts-
anstalten ansehen und in erster instanz die herschende methode,
wonach dem gedächtnis im unterrichte ein zu weiter Spielraum ge-
lassen wird, für jenes Übel verantwortlich machen müssen, allerdings
kann die pädagogik nicht des gedächtnisses entraten, aber bei der
beschaffenheit der heutigen lehrgegenstände und der aufeinander-
folge derselben liegt die gefahr nur zu nahe, dasz der schüler, be-
sonders der unteren und mittleren classen, dasjenige, was nur mittel
zum zweck sein soll, mit diesem selbst zu verwechseln geneigt ist,
zumal durch die art des Unterrichts mancher lehrer dieser falschen
ansieht Vorschub geleistet wird, und was durch 6 — 7jährige gewöh-
nung in der schülerseele wurzel gefaszt hat, das läszt sich nur schwer
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Zur überbürdungßfrage.
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ausrotten, hier also wird bei allen Verbesserungen , wenn sie wirk-
sam helfen sollen, die hand zuerst angelegt werden müssen.
Wir sind damit scblieszlicb zu der frage gekommen, wie unseren
abiturienten erleicbterung geschafft werden könne, die beantwor-
tung dieser frage wird sieh auf wenige praktische winke beschränken
können, um so mehr, da schon im früheren gelegentliche andeutun-
gen zur abhilfe gegeben worden sind, radical wäre das Übel beseitigt
durch die aufbebung der abiturientenprüfung, ein Vorschlag, den
P. Richter — zeitschr. für gymn. 1889 s. 385 ff. — in dem aufsatze
rzum 100 jährigen jubiläum des abiturientenezamens auf preuszischen
gymnasien' mit groszer wärme und geschicklichkeit verfochten hat.
ich kann micb dieser ansieht nicht anschlieszen, denn abgesehen von
dem oben aufgestellten ethischen gesichtspunkte für den wert der
prüfung und der notwendigkeit, dasz der Staat eine handhabe be-
sitzen musz , durch welche er die Vorbildung der zu höheren Stel-
lungen seines dienstes berufenen zu tiberwachen und zu regeln im
stände ist, wäre es doch auch wahrhaftig eine schmach, wenn wir
unseren gymnasiasten nach 9jährigem unterrichtscursus nicht die
kurze scbluszprtifung zumuten dürften, eher liesze es sich schon
rechtfertigen , dasz einzelne gegenstände der mündlichen prüfung,
besonders die, welche gedächtnismä^zige Vorbereitung erfordern,
ganz oder zum teil wegfallen , wie es in der letzten philologenver-
Sammlung zu Görlitz empfohlen wird, z. b. geographie als selbstän-
diger gegenständ , oder Horaz , oder ein teil der geschiente derart,
dasz nur das pensum der prima in betracht kommt, falls eine prüfung
in der alten geschiebte bei der Versetzung nach prima genügende
kenntnisse erwiesen hat. eine kleine entlastung könnte man auch
durch den Wegfall des lateinischen Aufsatzes aus dem unterrichte
überhaupt erreichen; aber ich glaube, dasz alles dieses nur armselige
notbehelfe sind und als wichtiger und wirksamer vorbeugende maß-
regeln vorzuziehen sind, zumal in dem abbröckeln einzelner gegen-
stände auch eine nicht zu unterschätzende gefahr liegt. — Zu den
gründlichen maszregeln zähle ich die betonung völliger reife bei der
Versetzung nach oberprima derart , dasz eine voraussichtliche com-
pensation nur in einem fache und bei thatsächlich guten leistungen
in einem der hauptfächer latein, griechisch, deutsch und mathematik
in betracht gezogen wird, nichtreife im deutschen aber grundsätzlich
von der Versetzung ausschlieszt. wichtig ist ferner die genaue be-
kanntschaft mit der Prüfungsordnung und deren erläuterungen, be-
sonders den oben angeführten, sowohl bei lehrern, als auch bei
schülern, und die strenge Überwachung der amtlichen Vorschriften
seitens der kgl. commissare; wichtiger die gewöhnung des lehrers
an eine praxis des prüfens, die das verstandesmäszige wissen des
prüflings zu tage fördert, so dasz endlich einmal die Überlieferung,
wonach die masse der einzelkenntnisae allein schon die prüfung aus-
macht, zerstört wird: man prüfe nur zwei- bis dreimal nach diesem
gesichtspunkte und die angeborene Schülerschlauheit wird schon die
13*
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0. Willmann : didaktik als bildungslehre.
notwendigen folgerungen zu ziehen wissen, endlich ist am wichtig-
sten und die Voraussetzung der andern r atschläge die schärfere be-
tonung des Zweckes und Zieles unserer gymnasial bildung im Unter-
richt auf allen stufen und öftere belehrende hinweisung auf jene in
den oberen classen.
Posen. R. Schröter.
18.
Otto Willmann, didaktik als bildunoslebre nach ihren
beziehungen zur socialforschüng und zur geschichte der
bildung dargestellt. zwei bände. 1882 q. 1888. 420 u. 544 8.
Die klage, dasz über fragen des Unterrichts und der erziehung
in unsern tagen sehr viele leute mitsprechen, die kein recht dazu
haben, weil ihnen alles oder doch das rechte Verständnis dafür
mangelt, ist nur zu begründet; auf der andern seite aber kann man
mit freudiger genugthuung sagen, dasz über die kunst des lehrens,
die reform des Schulwesens, die neugestaltung der lehrerbildung
und damit verwandte fragen mit einer kenntnis und einem nach-
druck geschrieben wird, dasz unsere zeit an pädagogisch-didakti-
schem interesse keiner früheren nachsteht, an pädagogisch-didakti-
scher einsieht aber alle früheren übertrifft.
Um von andern, zum teil hochverdienten pädagogen zu schwei-
gen, so erinnere ich nur an das überaus rührige und erfolgreiche
wirken von H. Schiller in Gieszen und 0. Frick in Halle; diese bei-
den männer haben wie durch ihre Schriften so durch ihre praktische
thätigkeit an schulen und Seminaren eine tiefgehende bewegung in
der lehrerweit hervorgerufen, aber neben ihnen und in gewissem
sinne vor ihnen ist Otto Willmann in Prag zu nennen; hat doch
Frick gelegentlich erklärt, es sei ein irrtum, wenn man meine, dasz
er auf die worte Herbarts schwöre; wolle man einen mann nennen,
dem er sich in allen hauptpunkten verwandt fühle, so sei das
0. Willmann.
W. war der lehrerweit schon längst kein unbekannter mehr.
1867 hatte er das lesebuch aus Homer, 1869 pädagogische vortrage,
1871 das lesebuch aus Herodot veröffentlicht und 1875 Herbarts
pädagogische Schriften herausgegeben, und jedes dieser werke, die
zum teil schon fünf, sechs auflagen erlebt haben, zeugte von um-
fassender kenntnis, von klarer einsieht in das was not tbut, und von
einem zielbewußten , einheitlichen streben, wenn also dieser mann
sich die aufgäbe stellte, die didaktische kunst in den hauptzügen
ihres geschichtlichen Verlaufs zu verfolgen, ihren Zusammenhang mit
den social-ethischen fragen der gegenwart nachzuweisen, das blei-
bende festzuhalten und so gegenwart und Zukunft auf unerschütter-
liche grundlagen zu stellen, so war das ein unternehmen, das man
freudig begrüszen und von dem man sich viel versprechen durfte.
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0. Willmann: didaktik als bildungslehre. 197
Im gegensatze zu den früheren didaktikern, welche sici\ auf den
individualen gesichtspankt beschränkten und wohl die methodik aus-
bildeten, aber die bildungsarbeit als ganzes aus den angen verloren,
setzt W. sich das ziel, die leistungen der unterrichtslehre, zumal der
neueren, philosophisch begründeten, die ergebnisse der arbeiten zur
erziehungs- und bildungsgesebichte und die anfänge zu einer lehre
vom bildungswesen , auf welche die socialforschung unserer zeit ge-
führt hat, in Verbindung und Wechselwirkung zu setzen.
In der einleitung (s. 1 — 98), die im wesentlichen methodo-
logische erörterungen enthält, wird die notwendigkeit des ganges,
der im folgenden einzuschlagen ist, nachgewiesen, und in kurzen,
treffenden zügen werden die hauptsächlichsten der hier in betracht
kommenden begriffe, wie zucht, lehre, bildung an sich sowie in ihrem
verb<nis zu einander und zum socialen leben gezeichnet, band in
hand damit geht eine Würdigung der wichtigsten didaktischen und
.pädagogischen Systeme, ich setze daraus die urteile über Pestalozzi
und Herbart hierher, damit der leser gleich einen einblick ge-
winne in die feinsinnige, vorurteilsfreie betrachtungsweise des Ver-
fassers, 'die leitende idee Pestalozzis: für die lehrgebiete der
Volksschule die letzten, wahren elemente und die ihnen entsprechen-
den geistigen elementaractionen aufzusuchen, um den lehrinhalt
durch combination und Verzweigung dieser elemente zu gestalten
und das lernen zu einer mit innerer notwendigkeit sich fortspinnen-
den abfolge von psychischen actionen zu machen, zeugt von einer
tiefe der auffassung, bis zu der kaum irgend welche fach wissen-
schaftlichen lehran Weisungen vorgedrungen sind.' und in bezug
auf Herbart heiszt es: 'der umstand, dasz die didaktik Herbarts
manigfacher rectification durch unbefangene Würdigung sowohl des
positiven gehaltes der lehre im allgemeinen , als der einzelnen lehr-
materien im besondern bedarf, ist kein grund, die von ihm einge-
schlagenen bahnen als aussichtslose zu verlassen . . keinerlei fach-
wissenschaftliche lehranweisung kann das ersetzen, was Herbart
bietet: die weitblickende Vertretung der gesamtaufgabe des Unter-
richts, die nachdrückliche forderung, da&z seine einwirkungen sich
in dem einen gedankenkreise des Zöglings zusammenfinden , und zu
einem totaleffect verschmelzen müssen, der nicht mehr blosz ein in-
tellectueller , sondern ein ethischer ist.'
Am scblu>z der einleitung weist der verf. die Selbständigkeit
und einheitlichkeit des gebietes nach, das er zu bearbeiten gedenkt,
und nennt die teile, in welche das ganze naturgemäsz zerfällt, ge-
wisse bleibende prob lerne und immer wiederkehrende aufgaben sind
das centrum der didaktik ; zugleich aber hat sie an ihrer peripherie
berührungen mit einer reihe von Wissensgebieten , die ihr den an-
trieb zu specialisierender Verzweigung geben, als der gegenständ der
didaktik wird die bildungsarbeit bezeichnet, wie sie sowohl in ihrer
collectiven gestaltung, dem bildungswesen, als in ihren individuellen
erscheinungen, dem bildungserwerbe, wie er durch die einzelnen ge-
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J
f
198 t 0. Willmann: didaktik als bildungslehre.
schiebt v sich darstellt, damit aber gleichzeitig dem umstände rech-
nung getragen wird, dasz die verschränkung des socialen und indi-
vidual^i princips ein auseinanderfallen von bildungswesen und
bildung^erwerb nicht zuläszt, nimmt die lehre vom bildungswesen
die vom bildungserwerbe in ihre mitte und zwar derart, dasz ihr
historischer teil an die spitze tritt, dagegen das gesamtbild des
bildungswesens und der nachweis seiner Verzweigung in das ganze
der socialen bethätigung den schlusz bildet, daraus ergeben sich
folgende abschnitte: I. die geschichtlichen typen des bil-
dungswesens. II. die bildungszwecke. III. der bildungs-
inhalt. IV. d ie bil dungsarbeit. V. das bildungswesen.
Der verf. sagt vom ersten abschnitt, derselbe habe nicht die
aufgäbe, eine geschiente der bildung zu geben, da eine solche nicht
ein bestandteil des Systems der didaktik sei. wohl, und doch dürfte
schwerlich etwas besseres über die geschiente der bildung geschrie-
ben sein, es werden die culturvolker von den ältesten zeiten an bis
auf unsere tage nach dem stände ihrer bildung, ihres lehrwesena,
ihrer cultur mit groszer schärfe beurteilt, das sind so treffende , so
überzeugende Würdigungen des innersten wesens der betreffenden
Völker und bildungsgrade, dasz ich auch den historikern raten
möchte, davon kenntnis zu nehmen, vortrefflich ist das, was W.
über den unvergänglichen bildungsgehalt des classischen altertums
sagt; aber nicht minder vortrefflich sind seine äuszerungen über die
bedeutung des Christentums, er erkennt unumwunden an, dasz die
christliche cultur zum nicht geringen teile der geistesarbeit der bei-
den classischen Völker entstammt; aber er vergiszt nicht zu rühmen,
dasz es das Christentum war, welches der subjectir-ästheti&cben rich-
tung des altertums gegenüber die zuebt der Wahrheit, welche in allem
lehren und lernen liegt, zur geltung brachte, und dadurch, dasz es
die seelsorgende liebe zum hauptmotiv der erhaltung und Überliefe-
rung des erkannten wahren erhob, die antike tendenz auf naebruhm
und Unsterblichkeit zurückdrängte.
Wenn das mittelalter eingehender und liebevoller besprochen
wird, als es sonst meist der fall ist, so mag das mit daher kommen,
dasz der verf. ein guter Katholik ist; aber es fehlt diesem vorgehen
auch nicht an gründen. W. hat ganz recht, wenn er die weit ver-
breitete Vorstellung bekämpft, als ob jenes weltalter eine zeitwttste,
ein Winterschlaf der menschheit, eine pause der culturgeschichte ge-
wesen sei ; in Wahrheit sei das Zeitalter von umfassender und reger
geschichtlicher arbeit erfüllt, welcher die neuzeit einen namhaften
teil der Voraussetzungen ihres eignen Schaffens verdanke. — Dasz
Luther nicht voll gewürdigt wird, darf bei einem Katholiken nicht
wunder nehmen; erinnert man sich aber der schmählichen behand-
lung, welche der grosze reformator von römischen historikern unserer
tage erfahren hat, so musz man es W. hoch anrechnen, dasz er von
den Verdiensten der evangelischen kirchen- und Schulmänner noch
mit solcher achtung spricht; er verleugnet auch hier nicht seinen
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0. Willmann: didaktik als bildungslehre.
gerechtigkeitssinn und sein edles empfinden, letzteres zeigt sich
auszerdem besonders gegen den scblusz hin, wo er den ansprüchen
des falschen kosmopolitismus, naturalismus und materialismus gegen-
über die fabne des idealismus mit freudiger Zuversicht hochhält, der
staat ist ihm nicht der bildner des Volkes, sondern bestenfalls der
Verwalter seines bildungscapitales ; er freut sich, dasz der gedanke,
die bildung müsse historisch fundiert sein, bereits gemeingut der
denkenden pädagogen geworden ist; er findet, dasz bei allem stre-
ben auf das reelle und das reale dem modernen wesen doch nicht
ein bedürfnis, ein heimweh nach dem ideellen, ja dem spirituellen
fehle.
Im ersten abschnitt, von dem ich bisher gesprochen, sind die
keime der folgenden enthalten; dort historischer nach weis, hier
systematische Verwertung und Zusammenfassung, von dem reich-
tum und der gediegenheit des Stoffes, der in den folgenden vier ab-
schnitten des zweiten bandes wohl geordnet, klar entwickelt und
schön geformt vorliegt, erkläre ich mich von vorn herein auszer
stände, eine genügende Vorstellung zu geben; ich beschränke mich
auf einige hinweise.
Im zweiten abschnitt 'die bildungsz wecke' werden die
man ig fachen motive, die zum lernen und wissen führen, die trieb-
artigen, die mittelbaren, die ethischen, die transcendenten u. a. von
allen selten beleuchtet; welche bildungsideale es gegeben hat und
was wahre bildung ist, wird klärlich auseinandergesetzt; zwischen
materialem und formalem bildungt-princip wird scharf geschieden
und ihre einheit wird in der forderung gefunden: lehre so, dasz das
gegebene gelernt werde, dasz des&en bildungsinhalt zur geltung
komme, und dasz dieser bildungsgehalt seine rechte stelle in dem
gesamtwachstum einnehme und in der förderung der ganzen geisti-
gen kraft seinen beziehungspunkt suche.
Der dritte abschnitt 'bildungsinhalt* zerfällt in folgende
Unterabteilungen: analyse des bildungsinhaltes. das philologische
dement der bildung. die übrigen fundamentalen elemente der bil-
dung. die accessorischen elemente der bildung. die fertigkeiten. —
Was über die bedeutung der antiken und der modernen sprachen
für die zwecke der schule gesagt wird, ist mir aus der seele ge-
sprochen, die werke der spracbkunst, heiszt es einmal , welche die
neueren litteraturen bieten, stehen gegen die antiken in rücksicht
auf einfachheit und unbewuste groszheit weit zurücH, aber sie zeigen
dafür einen wertvollen Zuwachs neuer dichtungsformen und Stile;
ferner stehen sie mit unserem lebensinhalte und gedan kenkreise in
mehr unmittelbarer beziehung als jene, was ihnen auch ohne beson-
dere Veranstaltung bildende Wirkung verleiht.
Zu den übrigen fundamentalen elementen der bildung rechnet
der verf. die mathematik, die philosophie und die theologie. die
mathematik, natürlich, aber auch philosophie und theologie? in-
dessen bei der letztern ist es eigentlich nur der name, der anstosz
200 0. Willmann: didaktik als bildungslehre.
erregt, nicht die sache. bibelkunde, katechismus , etwas kirchen-
geschicbte lehren wir auch, aber das ist noch keine theologie; unser
religionsunterricht soll selbstverständlich auch lehren, und darum
ist ein dogmatischer kern, ein bestimmter glaubensinhalt ganz un-
erläszlich; aber >vor allen dingen will und soll er erbauen; lassen
wir also den stolzen titel theologie lieber fallen, und den der Philo-
sophie erst recht, ich will die Wahrheit des satzes , dasz der höhere
bildungsunterricht ohne das philosophische element eine lficke habe,
nicht bestreiten, aber ein zusammenhängender Unterricht in der philo-
sophie gehört auf die Universität, nicht auf die schule, wir wollen
froh sein, wenn wir unsere schüler klar und folgerichtig denken
lehren und sie bei der lectüre des Plato bzw. der deutschen classiker
in philosophische gedanken und philosophische Untersuchungen ein-
fühlen ; einen neuen Unterrichtsgegenstand dürfen wir aus der Philo-
sophie nicht machen.
Aber noch in höherem grade hat mich die verhältnismäszig
geringe Wertschätzung überrascht, die der verf. der geschiente ent-
gegenbringt, 'die geschiente ist keine schulwissenschaft*, sagt er
II 156, 'dagegen bietet sie dem freien bildungserwerbe einen höchst
geeigneten stoff.' und s. 222 heiszt es: 'es entspricht der geistes-
richtung des jünglings, wenn ihm die neuere litteratur und die natur-
kunde erschlossen, dagegen der geschichtsunterricht nicht fortgeführt
wird.' ich stehe auf seite derer, die von einem richtigen betrieb der
geschiente sich sehr viel gewinn für köpf und herz der schüler ver-
sprechen, und wäre es auch nur um jenes enthusiasmus willen, der
nach Goethes bekanntem worte an der geschichte das beste ist. —
Endlich befremdet es, eine empfehlung der polymathie zu ßnden;
die sache ist leicht miszuverstehen , kann auf keinen fall einen be-
sondern gegenständ bilden und wäre also besser weggeblieben, doch
das alles sind nur kleinigkeiten im vergleich zu dem, was volle billi-
gung verdient; insbesondere sind die stellen, die von dem betriebe
der classischen sprachen und ihrer real- wie formalbildenden kraft
handeln, ganz vortrefflich.
Der vierte abschnitt 'die bild ungsarbeit ' führt mit den
Unterabteilungen von der Organisation des bildungsinhaltes , der
didaktischen formgebung und der didaktischen teebnik gleichsam in
das allerheilig6te der lehrkunst. hier erfahren wir, was lehren heiszt
und was unterrichten, wie und wo das classische, das typische, das
charakteristisch^ zur Verwendung kommen müssen , was es mit der
jetzt so nachdrücklich geforderten concentration des Unterrichts für
eine bewandtnis hat und wie die principiellen normen im einzelnen
auszuführen sind, damit das lehrverfahren das rechte, das heilsame
werde, dasz bei erörterung dieser fragen auf das, was von groszen
Vorgängern gefunden und durch die erfahrung bewährt ist, zurück-
gegangen wird, ist selbstverständlich; aber auch autori täten wie
Herbart und Ziller gegenüber wahrt W. seine eigenart, und wie weit
entfernt er davon ist, den wert der methode zu überschätzen, lehren
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0. Willniann: didaktik als bildungblehre.
201
die trefflichen bemerkungen auf s. 247, wo es u. a. heiszt: 'die didak-
tische methode ist eine richtschnur des lehrers ; was nach ihr ge-
richtet wird, darf aber dadurch seiner natur nicht entfremdet wer-
den, sonst wird die methode zur Schablone. — der methodencultus
hat die gedankenlosigkeit zur mutter , die methodenscheu die denk-
faulheit.'
In welchem fach auch einer unterrichtet, hier findet er in orga-
nischer entwicklung alle die lehren, gesetze und regeln, die er zu
befolgen hat, will er ein geschickter und tüchtiger lehrer werden;
damit man aber auch sehe, wie die sache in Wirklichkeit anzugreifen
ist, gibt der verf. erst eine lehrprobe für den darstellenden Unter-
richt, zu dem er, um das princip der Wechselbeziehung der lehr-
fächer veranschaulichen zu können, das thema wählt: die einführung
des Christentums in Deutschland (II 356 — 376); sodann eine be-
sprechung von Schillers Glocke, um das vorgehen bei der umfassen-
den erklärung deutscher sprachwerke aufzuzeigen, hierauf als probe
für die analytische entwicklung eines empirischen Stoffes die be-
handlung des lautwechsels im deutschen; endlich als proben der
rationalen lebrfächer, der logik und mathematik, eine analytische,
die gewinnung der begriffe analyse und synthese, und aufgaben über
das zusammentreffen von bewegten körpern als solche, deren ent-
wicklung analyse und synthese verbindet.
Darf ich aus dem letzten, fünften abschnitt, welcher 'das bil-
dungswesen' behandelt, gleich einiges vorwegnehmen, was mir
weniger gefallt, so will es mir scheinen, als ob W. von der bedeu-
tung des einzelunterrichts zu günstig urteile, niemand wird leugnen,
dasz auch auf diesem wege grosze lehrer und grosze schüler sich ge-
bildet haben; aber wird nicht gerade hier unleugbar viel gesündigt?
von zehn hauslehrern haben neun keinen beruf zu ihrem beruf, und
der ein flu sz, der von gemeinsamem streben und gemeinschaftlicher
bebandlung ausgeht, ist nachweislich ein groszer. ebenso wenig ver-
mag ich mich für seinen Vorschlag, die höheren schulen in einer
Stufenfolge von Vorschule, lateinschule, lyceum und Universität auf-
steigen zu lassen, irgendwie zu erwärmen, aber das sind keine
punkte von Wichtigkeit, das schöne und gute überwiegt auch hier
und als besonders lesenswert bezeichne ich die ausführungen über
die aufgäbe der familie und der gesellschaft, den nachweis der not-
wendigkeit einer gründlichen lehrerbildung und die nachdrückliche,
überzeugungstreue betonung des Christentums als der einzigen quelle
der religiös-sittlichen erneuerung der menschheit.
Wenn ich weniger über das buch als aus ihm gesprochen habe,
so hatte daa seinen guten grund ; das werk spricht für sich selber,
es genügte daher, einen kurzen Überblick über den unendlich reichen
inhalt zu geben, der hier verarbeitet ist, die art der bearbeitung in
heispielen vorzuführen und den geist kennen zu lehren, der das ganze
wie alles einzelne durchdringt.
Hiermit könnte ich schlieszen, wenn mich nicht eine ziemlich ab-
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202 0. Willmann: didaktik ah bildungelehre.
fällige besprecbung, die Perthes in der neuen pbilol. rundscbau 1890
nr. 1 über W.s didaktik veröffentlicht hat, noch zu einer kurzen be-
merkung veranlaszte. natürlich liegt mir nichts ferner als einen
mann wie Perthes eines bessern belehren zu wollen; noch weniger
will ich seine kritik einer kritik unterziehen; ich versuche nur meine
abweichende meinung zu begründen.
Ich bin mit Perthes darin einverstanden, dasz W.s ansichten
über die nähere gestaltung unseres Schulwesens als endgültige nicht
betrachtet werden können; es werden die gegenwärtigen zustände
und bestrebungen zu wenig berücksichtigt, als dasz sein urteil im
einzelnen maszgebend sein könnte, aber darin liegt auch gar nicht
die stärke des buches; die groszen grundgedanken und hauptzüge
echter didaktik aufzuzeigen, das ist seine aufgäbe , und die bat es
meisterlich gelöst, kommt also auch das werk für die reformfragen
nicht unmittelbar in betracht, die freunde humanistischer bildung
finden doch in ihm ein wahres arsenal vorzüglicher waffen.
Die thatsache, auf welche Perthes hinweist, dasz ein bestimmter
gedanke sich mindestens sechsmal dargelegt findet, ist richtig, er
hätte weiter gehen und sagen können, dasz sehr viele gedanke n sehr
oft wiederholt werden, nur hat es mit diesen Wiederholungen seine
besondere bewandtnis. sie finden nicht statt, etwa weil der verf.
vergeszlich wäre oder zur breitspurigkeit neigte , sondern weil die
manigfachen beziehungen und Verhältnisse der gedankenkreise zu
einander eine immer neue, anders geartete behandlung erheischen,
der neue gesichtspunkt läszt dieselbe sache in neuer beleuchtung
erscheinen und macht es möglich, ihr immer neue seiten abzuge-
winnen.
Und nun der stil, den Perthes so abschreckend findet, dasz er
meint, der leser werde durch ihn mehr als einmal in Versuchung ge-
führt, das ganze buch ungeduldig bei seite zu werfen! dies urteil
überrascht mich am meisten, es ist wahr, W. braucht mehr fremd-
wörter als nötig und recht ist; es ist weiter wahr, dasz sich deutsche
ausdrücke finden, die als Provinzialismen bezeichnet werden müssen;
und doch ist die spräche so sachgemäsz, so biegsam und so gehalt-
voll, so abgerundet im satz- und periodenbau, dasz es mir auch
um der form willen ein wahres vergnügen gewesen ist, das buch zu
lesen.
Alles in allem: die didaktik von Willmann ist eine ausge-
zeichnete schrift und unbedingt die beste, die wir Uber diesen hoch-
wichtigen gegenständ haben, wenn sie weit verbreitet, viel gelesen
und fleiszig befolgt wird, dann wird der sache der lehrer- und schüler-
bildung ein ganz wesentlicher dienst geleistet, ich kann sie mit
gutem gewissen der allgemeinen aufmerksamkeit empfehlen.
Stettin. Christian Müfp.
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0. Perthes: die notwendigkeit einer Umgestaltung unseres schulw. 203
19.
Otto Perthes, Oberlehrer ah Gymnasium zu Bielefeld: die
notwendigkeit einer durchgreifenden umgestaltung unse-
res schul wesen8. eine antwort auf oskar jägers 8chr1ft:
das human istische GTMNA8IUM. Gotha, Perthes. 1891.*
Es erscheinen jetzt so viel Schriften mit an Weisungen darüber,
wie der not in den höheren schulen abgeholfen werden könnte, dasz
man einer neuen erscheinung nicht mit freudiger erwartung, son-
dern mit der unbequemen furcht entgegensieht, man werde wieder
einmal das alte lied mit wenig veränderter melodie hersingen oder
wieder einen neuen unmöglichen Vorschlag zu den hunderten schon
vorhandenen machen hören, desto angenehmer ist die enttäusch ung,
wenn man bei einer schrift wie die von Perthes seine berechtigte
scheu überwindet und den nach weis liest, dasz ohne änderung der
lebrpläne, ohne einheitsschnle und sonstige künstliche Veranstaltung
auf dem boden des gegebenen sehr wohl eine befriedigende lösung
der so viel besprochenen höheren schulfrage sich finden läszt.
In erster linie wendet sich Perthes gegen Oskar Jäger, und
nicht mit unrecht, die ironische art Jägers, so unterhaltend sie für
viele sein mag, hat der sache des gymnasiums ganz gewis nichts ge-
nützt, sondern nur geschadet, mit wegwerfenden ausdrücken und
herbem spott bekehrt und belehrt man niemanden, man erbittert
nur, und an erbitterung gegen das gymnasium, an erbitterung zwi-
schen realsehullehrern und gymnasiallebrern fehlt es leider auch so
schon nicht, wenn daher Perthes mit recht diese art Jägers ver-
urteilt, so ist das doch nicht das wesentliche seiner schrift. dasselbe
liegt auch nicht darin , dasz er seinem gegner unter heranziebung
anderer Jägerscher Schriften eine anzahl von Widersprüchen mit sich
selbst nachweist, ja sogar zeigt, wie Jäger, der unerbittliche spötter
gegen jeden unglücklichen ausdruck anderer, selbst einen logischen
fehler erheblicher art begeht (s. 20). dieser mehr persönliche kämpf,
so angenehm er durch seine ruhige art jeden feind erregten Streites
berühren musz, ist doch nur nebensache. hauptsacbe ist die be-
kämpfung des grundsätzlichen Standpunktes, auf dem Jäger und
mit ihm viele freunde des gymnasiums und gegner der realschul-
bildung stehen.
So weist P. zunächst nach, dasz es ein verhängnisvoller irrtum
ist, die Unzufriedenheit mit den zuständen des höheren Schulwesens
für etwas künstlich gemachtes zu halten, die gegnerschaft gegen
die alleinherschaft des gymnasiums, die Unzufriedenheit mit der art,
wie die alten sprachen meist noch immer betrieben werden, ist in
der that weit verbreitet, auch in kreisen, welche an sich die antike
bildung sehr hoch schätzen, der grund für diese Unzufriedenheit
• die folgende besprechung ist vor den Berliner conferenzen ein-
gesandt.
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204 0. Perthes: die notwendigkeit einer Umgestaltung unseres schulw.
liegt darin , dasz der erfolg des altsprachlichen Unterrichts der auf-
gewendeten zeit und mühe nicht entspricht, der vater, welcher sieht,
wie sein söhn selbst in prima kaum einen alten Schriftsteller leicht
und mit Verständnis lesen, kein extemporale, keinen classenaufsatz
ohne erhebliche fehler anfertigen kann, musz den köpf schütteln und
so, dasz sie nur den zielen und" der methode des jetzigen Unterrichts
schuld geben, gar viele sind geneigt, die alten sprachen selbst dafür
verantwortlich zu machen, daher ist es hohe zeit, ziele und methode
zu ändern, wenn man die alten sprachen noch retten will.
Jäger will ziele und methode erhalten wissen, weil sie geeignet
sind, dem schtller respect vor dem wissen als wissen, ihm jene
idealität zu geben, welche nach dem wissen ohne rücksicht auf dessen
nutzen strebt, dasz das verkehrt, ja sehr verhängnisvoll ist, weist
P. (s. 29 ff.) schlagend nach, sollen eitern und schaler zweck und
ziel eines Unterrichts verstehen, so müssen sie den nutzen desselben
einsehen, nutzlose arbeit befriedigt niemanden, auch den besten
schüler nicht, die fabigkeit , lateinisch zu schreiben , ist aber heut-
zutage nutzlos; weshalb sie also zum ziele des Unterrichts machen?
man entschliesze sich endlich einmal, die lectüre, das sichere Ver-
ständnis der alten litteratur, zum wirklichen ziele zu nehmen, dann
werden eitern und schüler wieder vertrauen zum gyranasium be-
kommen, lesefertigkeit und Verständnis des gelesenen lassen sich
ohne die vielen exercitien und extemporalien recht wohl erreichen,
also entferne man dieselben, mit recht macht P. darauf aufmerk-
sam, dasz diese beseitigung der grammatik und der endlosen Übung
der regeln an Sätzen und andern deutschen stücken durchaus im
sinne der lehrpläne von 1882 läge, dasz aber die lehrpläne zu ihrem
recht nicht kommen können, so lange von den abiturienten ein
exercitium und ein aufsatz gefordert werden, der lehrer kann auf
die eingehende Übung des Übersetzens ins lateinische gar nicht ver-
zichten, wenn er den forderungon der Prüfungsordnung genügen
will, daher müssen diese forderungen fallen, ebenso müssen die
griechischen versetzungsextemporalien der obersecunda beseitigt wer-
den, denn auch sie sind, ganz abgesehen von der Ungerechtigkeit,
einem jungen menschen anzurechnen, was er vor zwei jähren ge-
sündigt hat, das gröste hindernis für eine vernünftige betreibung
des griechischen Unterrichts.
So fordert also P. (s. 17 f.) mit recht, es solle die amtliche be-
stimmung etwa so lauten : 'als schriftliche probearbeit bei dem abi-
turientenexamen und bei jeder Versetzung von sexta an wird gefordert
die Übersetzung eines lateinischen bzw. griechischen textes ohne hilfe
von lexikon und grammatik, und zwar 1. eine genaue wörtliche Über-
setzung, 2. eine Übersetzung derselben in wirkliches deutsch, die
jetzt üblichen extemporalien sind dagegen nur so weit noch anzu-
fertigen , als sie als mittel zum zweck des genaueren Verständnisses
der Schriftsteller unerläszlich sind.'
nicht alle beantworten diese frage
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O.Perthes: die notwendigkeit einer Umgestaltung unseres schulw. 205
Dieses ziel würden alle väter und alle schüler verstehen, seinen
nuben einsehen und an sich selbst fühlen, dasselbe ist aber ohne
jede Änderung der Stundenzahl leicht durchführbar, und es ist die
neigung, dies sich als ziel zu setzen, in weiten kreisen der lebrer vor-
handen, man gebe denselben freiheit, und die lebrbücher werden
bald da sein, dasz aber bei dieser art des altsprachlichen Unterrichts
der nutzen für die geistesbildung der schüler derselbe sein wird, ist
von P. völlig klar gestellt, die jetzige grammatistische methode
berscht lange genug, so dasz sie sich längst hätte bewähren müssen,
was ist ihr erfolg gewesen ? abneigung der eitern gegen die alten
sprachen, mangelnde neigung der schüler, entmutigung der lebrer,
die auch beim besten willen eine entsprechende Sicherheit bei den
Schülern weder in der Übersetzung aus noch in der Übersetzung in
die fremde spräche erreichen können, die methode ist gerichtet, selbst
Jäger nennt sie einen abziehenden feind. aber sie herscht dennoch,
man sehe nur die letzte Veröffentlichung des preusz. central blattes
über die an den gymnasien gebrauchten lehr- und Übungsbücher
nach, da beherscht Ostermann 194, Spiess 55 und Wesener 146
schulen, die bücher aber, welche die lectüre in den Vordergrund
stellen, fristen nur hier und da ein mehr als bescheidenes dasein,
und die grammatiken sind alle darauf berechnet, die fremde spräche
schreiben, keine darauf, die fremde spräche lesen zu lehren, das
musz anders werden, musz bald anders werden, wenn nicht die alten
sprachen durch ihre eignen falschen freunde selbst schliesslich ganz
unmöglich gemacht werden sollen. — Dies würde niemand mehr
bedauern als P. selbst, und mit ihm auch ich.
Der nachweis dieses haupt- und kernpunktes ist das wesent-
lichste verdienst der Pertbesschen schrift. aber P. sieht sehr wohl
ein, dasz es noch einen feind zu besiegen gilt, der ebenso gefährlich
für das gymnasium wie hemmend für die freie entwicklung des
volkea überhaupt ist, das sind die Vorrechte des gymnasiums. die
zeiten sind endgiltig vorüber, wo es nur eine art der höheren bildung
gab. die interessen sind unter den höher gebildeten so ungemein
verschieden, warum soll nicht auch die Vorbildung eine verschiedene
sein? wie es mit der leitenden Stellung der studierten kreise und
mit der einheitlichkeit in ihrer lateinischen bildung beschaffen ist,
deckt P. in ruhiger und meiner ansieht nach unwiderleglicher weise
auf. was wir in der gegenwart brauchen, ist freiheit der bewegung.
rnicht minderwertig, nur anderswertig ist die historische bildung,
welche das realgymnasium der des gymnasiums gegenüber zu stellen
hat', sagt P. (s. 38). ich wünschte, er hätte real schule statt real-
gymnasium gesagt, so hätte er ganz recht gehabt, sind wir durch
die zahllosen examina nicht schon auf dem besten wege Schablonen
statt menschen zu erziehen? wann wird man endlich zu der einsieht
kommen , dasz man jeden auf seine weise die nötige bildung sich
suchen läszt? nur die volle gleichberechtigung aller höheren schulen
von gleicher dauer der Unterrichtszeit kann uns helfen, ist es wirk-
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206 Trosien : über den religionsunterrioht an evangelischen gymnasien.
lieh ein unglück, wenn ein junger mann aus einer realschule abgeht
und jura studiert? was geht es den staat an, wo er gelernt hat sein
corpus iuris zu lesen, wenn ers nur überhaupt lesen kann? das
gymnasium lehrt ja auch nicht englisch, und doch darf jeder gym-
nasialabiturient englische philologie studieren.
Dasz dies ziel erreicht werde, erhofft P. allein von den laien
und verzweifelt an den fachmännern. dem stimme ich nicht bei.
unter den lehre rn der gymnasien ist die zahl derer, welche unsere
ansieht teilen, keineswegs gering, nur die zögernde haltung der
regierungen hindert sie. es ist nicht jedermanns Sache, in den kampf-
platz zu treten und für die freiheit von dem zwang der grammatik
und der Vorrechte zu kämpfen, im stillen arbeiten viele einzelne
lehrer und gar manche von dem preuszischen zwange freie schule in
der richtung, welche P. empfiehlt, dasz die regierungen zögern, kann
man begreifen: sie scheuen die Verantwortung, aber ich hoffe, dasz
dieses schwanken überwunden werden wird, ehe die alten sprachen
in den äugen der gebildeten stände das ansehen unrettbar verloren
haben, geschieht dies, dann wird es auch an fachmännern nicht
fehlen, welche die neue bahn gangbar machen.
Wismar. Bolle.
20.
ÜBER DEN RELIGIONSUNTERRICHT AN EVANGELISCHEN GYMNASIEN.
von Trosien, provinzialschülrat in Königsberg, separat-
abdruck aus den deutsch - evangelischen blättern. Halle a. S., Ver-
lag von Eugen Strien. 1889. 24 s. gr. 8.
Den religionslehrern wird es gewis erwünscht sein, Uber den
religionsunter rieht die stimme eines mannes zu vernehmen, der nicht
nur selbst an verschiedenen gymnasien denselben erteilt hat, son-
dern auch in seiner jetzigen amtlichen Stellung ihn zu überwachen
und für die anstellung geeigneter lehrer zu sorgen hat. der religions-
unterricht auf den evangelischen gymnasien, so äuszert sich der verf.
s.3, verlangt 'lautere frömmigkeit, reinste begeisterung, umfassendste
wissenschaftliche bildung, poetischen sinn, liebe zur jugend, Ver-
ständnis für die verirrungen des jugendlichen herzens, hervorragen-
des pädagogisches geschick und allezeit richtigen tact\
Diese eigenschaften allmählich sich anzueignen wird gewis das
bestreben treuer lehrer sein, zumal ja Quintiiian sogar von seinem
redner verlangt, dasz er ein vir bonus sein müsse, und an einer an-
dern stelle sagt: pectus est quod disertos facit, und wenn von irgend
einem lehrer, so vom religionslehrer jenes wort Goethes gilt: 'wenn
ihr's nicht fühlt, ihr werdet' s nicht erjagen.* nicht dasz die lehrer
es schon ergriffen hätten, aber sie jagen ihm nach, ob sie es ergreifen
möchten: nur die forderungen 'umfassendste wissenschaftliche
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TTOaien: über den religionsunter rieht an evangelischen gymnasien. 207
bildung, hervorragendes pädagogisches geschick und allezeit
richtiger tact' scheinen mir zu hoch gegriffen, die forderung, dasz
ein poesieloser mensch niemals religionslehrer werden sollte (s. 6),
erhält ihre ergänzung dadurch, dasz poetischer sinn (s. 3), ein für
die poetisch-symbolische auffas3ung der heiligen schrift, wie sie vor
allen Herder gibt, empfänglicher sinn als conditio sine qua non auf-
gestellt wird, der verf. findet es (s. 5) nicht ratsam , den religions-
unterriebt den geistlichen anzuvertrauen und spricht hierdurch
sicherlich den directoren und lehrern aus der seele, wie diese es
auch nicht gern sehen werden, wenn die confirmanden von dem
religionsunterrichte in der schule dispensiert werden (s. 6). mit
recht wird es wieder in erinnerung gebracht, dasz in der schule nicht
tbeologie, sondern religion zu lehren (s. 10) und nicht eine sog.
einleitung in das alte und neue testament oder eine eingehende kritik
über die echtheit dieser oder jener schrift (s. 15) zu geben sei; denn
so wenig in der schule eine deutsche litteraturgeschichte zulässig ist,
die nur über die classiker belehrt, nicht in die lectüre derselben
einführt, ebenso unzweckmäßig sind die Vorträge über die bibel,
wenn der schüler nicht in die lesung der heiligen schrift, als der
grundlage des Unterrichts , eingeführt wird.
Ganz vortrefflich ist die Widerlegung einiger die methodische
behandlung der biblischen geschiente betreffenden seitens der Her-
bartschen schule aufgestellten forderungen (s. 11 ff.), vortrefflich der
nachweis, dasz CTT^pucrra des göttlichen Xövoc auch auf Latiums und
Hellas* boden ausgestreut gewesen (s. 4), wie dies Ranke in seiner
reformationsgeschichte als Zwingiis lehre so hübsch ausgeführt hat,
und wie ja auch Tertullian von einer anima naturaliter christiana
und Augustin mit solcher aner kennung von der Platonischen Philo-
sophie spricht, dasz er behauptet, mit ihr sei man schon ein halber
Christ, anziehend ist es ferner zu lesen, wie die geböte sich in ge-
bete wandeln (erstes und drittes hauptstück; vgl. s. 18), wie der
Jacobusbrief, den Luther bekanntlich als eine stroherne epistel be-
zeichnet, den Herder aber so vortrefflich erklärt und übersetzt hat,
richtig gewürdigt wird (s. 17).
Aller erfolg des religionsunterrichts liegt in der person des
lehrers (s. 9) : verba movent, exempla trahunt. so darf es als selbst-
verständlich angesehen werden, dasz der lehrer, der das dritte gebot
und das fünfte hauptstück erklärt, auch die kirche besucht und sich
ad sacra hält, wenn die Verteilung des lehrstoffs auch wohl in allen
gymnasien der hauptsache nach dieselbe ist, so dasz in den unter-
sten classen die biblische geschiente, in den mittleren der katechis-
mus in den Vordergrund tritt, so verdient es doch nachgelesen zu
werden, wie der verf. die behandlung des Stoffs sich denkt. Luther
sagte, er bete täglich seinen katechismus, so ein alter doctor er auch
sei, und Ranke, um das wort eines nichttheologen anzuführen, dasz
jener dem weisesten der weisen genug thut. — Die kirchengeschichte
wird zweckmäszigerweise nur in prima gelehrt (s. 19), und in dieser
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208
Personalnotizen.
classe auch zum Schlüsse im Zusammenhang eine Übersicht über die
glaubenslehre (s. 21) und ein abrisz der Sittenlehre (s. 24) gegeben,
ob das neue testament in der grundsprache schon in secunda gelesen
werden darf, wie es nach s. 10 und 17 scheint, ist mir zweifelhaft,
dagegen habe ich in prima einzelne stellen aus dem griechischen
testament auswendiglernen lassen: Matth. 6, 9—13. Römer 1, 17.
3, 28. 7, 19—25. Hebr. 1, 1—3. — Die in den früheren classen
gelernten schönen kirchenlieder sind in den obersten zu wiederholen
(s. 17).
Die abhandlung des verf. macht einen überaus wohlthuenden
eindruck auch dadurch, dasz in dubiis libertas gewahrt wird, mit
geringer modification kann sie auch für realgymnasien maszgebend
sein , und als ergänzung derselben empfehle ich die lectUre der vor
einigen jähren erschienenen abhandlung desselben Verfassers über
Leasings Nathan und seinen artikel in Schmids encyclopädie.
Insterburg. E. Kr ah.
(6.)
PERSONALNOTIZEN.
erhielten das ritterkreuz I cl.
des k. sächs. Verdienstordens.
Heine, W., dr., Oberlehrer am gymn. in Rawitsch, zum director des
realgymn. in Solingen ernannt.
Lipsius, Justus Hermann, dr., ord. prof.
der classischen philologie an der univ.
Leipzig,
Windisch, Ernst, dr., ord. prof. des
sanskrit an der univ. Leipzig,
Richter, Rieh. Immanuel, dr., prof. an
der univ. Leipzig, mitdirector des kgl.
pädag. Seminars,
»
Gestorben!
Albrecht, Wilh., prof., director des gymn. Martino-Catharineura zu
Braunschweig, 13 april, 48 jähr alt.
Heller, H., dr., prof. am Joachimsth. gymn. in Berlin, am 8 märz,
öljährig.
Hiller, Eduard, dr., ord. prof. der class. philologie in Halle, am 9 märz.
47jährig.
Pfotenhauer, prof. des strafrechts in Bern, am 10 märz, 89 jährig.
Reuss, Ed. Wilh. Eugen, dr., ord. prof. der theol. an der univ. Strasz-
bürg, senior der theol. facultät, hervorragend als exeget und kirchen-
historiker, am 15 april, im 86n lebensjahre.
Schenk, August, dr. geh. hofrat, ord. prof. der botanik an der univ.
Leipzig, am 30 märz, im 76n lebensjahre.
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ZWEITE ABTEILUNG
FÜR GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AUSSCHLUSS DER CLAS8ISCHKN PHILOLOGIE
HERAU8GEGEBEX VON PROF. DR. HERMANN MäSIÜS.
21.
EINE LÜCKE IN DER LATEINISCHEN CLASSENLECTÜRE
DER GYMNASIEN.
Mein kurzer aufsatz im ersten befte dieses jahrgangs 'die nach-
ahmung Ciceros auf unseren gymnasien' schlieszt mit dem wünsche,
dasz der primaner künftigbin von den namhaften lateinischen pro-
saikern nach Christi geburt durch eigne lectüre etwas mehr kennen
lernen möchte als den einen Tacitus, und empfiehlt zur ausfüllung
der jetzt vorhandenen lücke die einführung einer Chrestomathie, —
nicht als das an sich wünschenswerte, sondern als das, was nach
läge der dinge mit einiger aussieht auf erfolg scheint erstrebt wer-
den zu können, die nachfolgenden Zeilen sollen nur dazu dienen,
diesen gedanken zu begründen und des weiteren auszuführen.
Verwahren musz ich mich von vorn herein gegen die nahe-
liegende Unterstellung, als handele es sich für mich um die ausfül-
lung einer litteraturgeschichtlichen lücke. nichts kann mir ferner
liegen als dies, so wenig der einsichtige lehrer heutzutage, wenn er
mit seiner classe Arrian oder Plutarch zu lesen anfängt, die liebe
jugend mit der ganzen kette von litteraturgeschichtlichen Zwischen-
gliedern behelligt, welche zwischen den genannten und den griechi-
schen prosaikern der classischen zeit liegen, so wenig wird er meinen,
dasz für die zwecke, welche der schullectüre des Tacitus gesetzt
sind, ein zurückgehen auf Vellejus Paterculus, Curtius, Mela u. a.
erforderlich sei. welche einflüsse auf Tacitus gewirkt haben, welche
Vorbilder er im einzelnen vor äugen gehabt hat, das mit schülern zu
erörtern könnte ja doch nur fruchtlose mühe sein, auch die rück-
sicht, dasz Schriftsteller wie Seneca, Quintilian, Plinius d. ä. und d. j.
in gelehrten kreisen noch heutzutage verdientes ansehen genieszen,
könnte mich nimmermehr zu dem wünsche bestimmen, dasz man die
primaner ein wenig auch von diesen nippen lasse, die Zeiten liegen
N. jaturb. f. phil. o. päd. II. abt. 1891 hft.5. 14
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210 Eine lücke in der lateinischen claasenlectüre der gymnasien.
»
hinter uns, da man es für einen erheblichen gewinn erachtete, durch
einen kurzen lebenslauf und ein paar pröbchen mit einem Schrift-
steller bekannt geworden zu sein, auf derartige oberflächliche be-
kanntkschaften legt man neuerdings erfreulicher weise geringen wert
in der erwägung, dasz dabei nur unzuverlässige eindrücke und schiefe
urteile herauszukommen pflegen.
Wenn ich mich für eine blumeniese aus nachclassischen latei-
nischen prosaikern als Schulbuch erwärme, so thue ich es aufgrund
der Überzeugung, dasz unseren oberen schülern bei der jetzigen ein-
richtung der lateinischen classenlectüre etwas entgeht, was ihnen
um ihrer anregung und geistigen durchbildung willen nicht vorent-
halten werden möchte.
Was man auch zum lobe der uns erhaltenen Schriften von Sal-
lust und Caesar, sowie von Ciceros staatsreden sagen möge, leugnen
läszt sich nicht, dasz für unseren geschmack das rein menschliche
in ihnen hinter dem staatsmännischen und kriegerischen zu sehr in
den Hintergrund tritt, bei Caesar bis zu einem grade, dasz der gefühl-
volle leser sich oft verletzt fühlt, bei Sallust wenigstens insoweit,
dasz an seinen erzählungen und betrachtungen , so interessant sie
meist sind, sich schwer jemand so recht erwärmen wird, es sei ferne
von uns, damit einen Vorwurf aussprechen zu wollen, gerade in
dieser beschränkung liegt die imponierende grösze und der eigen-
artige reiz jener Schriftwerke, zum teil geradezu das geheimnis ihrer
classicität. weil jeder der drei als vielerfahrener Staatsmann mit
dem festen blick auf bestimmte strebeziele schreibt, mit der bewusten
absieht, durch die auswahl , gruppierung und beleuchtung dessen,
was er bietet, gewisse Wirkungen zu erzielen, entstehen werke aus
einem gusz nach der seite der form wie des inhaltes. das kann man
ganz und voll anerkennen, dabei aber doch den oben ausgesproche-
nen vermisz empfinden, am meisten kommt ohne zweifei das mensch-
liche neben dem engherzig- römischen und staatsmännischen zu seinem
rechte bei dem vielseitig erregbaren und durchgebildeten Cicero,
zumal in seinen briefen und philosophischen Schriften, im verkehr
mit eng vertrauten, in der ländlichen zurückgezogenheit vom lärme
der Weltstadt hielt er es nicht für einen raub an seiner senatorischen
hoheit, wenn er gelegentlich als mensch empfand und als solchen
sich gab. aber nur in muszestunden und wie verstohlen hat Cicero
sich den genusz, unter menschen ein mensch zu sein, verstattet, wie
oft findet er für nötig, zu erklären, dasz alles, was er treibe, im
letzten gründe darauf abziele, Korns macht und ansehen zu fördern,
dem Staate direct und indirect zu dienen ! als philosoph und edler
mensch sah er unstreitig den lauf der weit von einer höheren warte
aus an als die mehrzahl seiner standesgenossen; teilnähme an wohl
und wehe anderer und wohlwollen lagen nicht blosz in seinem
naturell, sondern hatten ihren grund in humanen anschauungen,
welche vornehmlich durch das Studium der griechischen weisen bei
ihm gereift waren, aber die sorge für den Staat und seinen einflusz
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Eine lücke in der lateinischen classenlectüre der gymnasien. 211
im Staate überwog schlieszlich auch bei Cicero alle andern rück-
sichten. willig oder widerwillig wandelte er die bahnen mit, welche
die Senatspartei verfolgte, immer sehen wir ihn nach der seite sich
neigen, die auf friedliche begleichung, menschlich keit und Sittlich-
keit bedacht ist; schlieszlich muste aber auch er, um macht und an-
sehen zu behaupten, die mittel ergreifen, die gerade zum zwecke
führten, so tritt uns bei Cicero immer ein ringen zwischen dem
edlen, feinfühligen menschen und dem kalt rechnenden Staatsmann
entgegen, als sieger im kämpfe geht aber im groszen und ganzen
der letztere hervor.
Auch unter den Schriftstellern der argentea aetas finden sich
ja manche, die einen groszen teil ihres lebens in einfiuszreichen
ämtern gestanden und ihre beste kraft dem Staate gewidmet haben
(so Seneca, der ältere Plinius, Frontin, Tacitus), aber, wie männig-
lich bekannt ist, war seit Augustus und noch mehr seit Tiberius das
beamtentum nur noch ein schatten von dem, was es früher gewesen
war. mochte auch manche procuratio in der kaiserzeit viel fleisz und
hingäbe von Seiten ihres inhabers erfordern, so war doch die lösung
derartiger, bestimmt abgegrenzter Verwaltungsaufgaben etwas ganz
anderes, als die staatsmännische thätigkeit in den letzten Zeiten der
republik, welche einschlieszlich der Vorbereitung auf dieselbe das
ganze sinnen und denken vom jünglings- bis zum reifsten mannes-
alter voll in ansprach nahm und nur dem reichbegabten, wenn er
auf bequemlichkeit und leben&genüsse fast ganz verzichtete, für lieb-
habereien edlerer art eine spärliche musze übrig liesz. und wie
wenige gelangten in der kaisereeit überhaupt zu ämtern , die wirk-
lich etwas zu bedeuten hatten, hatte der einigermaszen strebsame
optimat der späteren republikanischen zeit über keinen mangel mehr
zu klagen, als über den an musze, so war diese den meisten abkömm-
lingen edler geschlechter in der zeit der Julischen und Flavischen
kaiser im reichsten masze beschieden, infolge dessen wurden von
denen, die ihr dasein nicht in einem stumpfsinnigen genuszleben
vergeuden wollten, liebhabereien aller art betrieben, man reiste im
weiten reich herum, forschte, sammelte, versenkte sich in einzel-
studien, stöberte in archiven und bibliotheken herum, die einen
betrieben streng gelehrte Studien, die andern das litteratentum zunft-
mäszig. die über die Jugendjahre hinaus fortgesetzte beschäftigung
mit grammatik, rhetorik und philosophie wurde immer akademischer
in dem masze, als die möglichkeit einer praktischen Verwendung des
gelernten im Staatsdienst geringer wurde, dadurch wurden diese
Studien aber zugleich gründlicher und vertiefter; auch fieng ein
wissenschaftlicher stil an sich zu entwickeln, man vergleiche nach
beiden Seiten das, was wir wissenschaftliches von Cicero und Varro
besitzen, mit dem, was uns vonVitruv, Celsus, dem älteren Plinius,
Quintilian und Frontin erhalten ist. ist auch keiner der letztgenann-
ten ein bahnbrecher auf dem gebiete seiner Wissenschaft gewesen
(dazu war die römische geistesbildung nicht tief genug gegründet),
14*
Digitized by Google
212 Eine lücke in der lateinischen classenlecture der gvninasien.
&o hat doch jeder in seiner weise sich ernstlich mit sammeln und
sichten bemüht und darnach getrachtet, zu dem angelernten selbst-
gedachtes und selbstempfundenes hinzuzuthun. schon aus dieser
nebensächlichen rücksicht möchte der eine und andere aus dieser
reihe unserer jugend, die auf wissenschaftliche Studien sich vor-
bereitet, wenigstens einigermaszen bekannt werden.
Es tritt aber auch (und das ist wichtiger) das menschliche bei
den meisten nachclassischen Prosaschriftstellern mehr hervor als bei
den prosaikern der classischen zeit, nicht bei allen, bei manchen auch
wohl in wenig ansprechender weise, denn wer möchte es leugnen, dasz
in den prosawerken des ersten jahrhunderts uns vielfach hier nie-
drige Schmeichelei entgegentritt, dort Verbitterung, dort eine innere
haltungslosigkeit, die der Verzweiflung nahekommt? daneben aber
klingen uns aus der litteratur jener drangvollen zeit auch gemüts-
töne von besonders ergreifender innigkeit und tiefe entgegen, die
gemütlichen züge, die das Römertum der älteren zeit ausgezeichnet
hatten, familiensinn , freude an der ländlichen natur und der häus-
lichen behäbigkeit, anhänglichkeit an die heimische schölle usw.,
treten wieder entschieden hervor, vorangegangen war hierin die
dichtung. hatten auch Catull, Tibull, Vergil, Horaz nicht umbin
gekonnt, um hoher gönner gunst sich zu erwerben und zu bewahren,
bis zu einem gewissen grade an dem triumphwagen der dea Roma
sich mit anspannen zu lassen und ihre muse dem tagesgeschmacke
dienstbar zu machen, jeder von ihnen hatte daneben doch auch
gewagt, sich zu geben, wie er war, und zu singen, wie es aus der
kehle kam, begeistert- schwungvoll oder neckisch - tändelnd , und
dabei saiten angeschlagen, deren klang noch heute gemütvolle hörer
herzerquickend anmuten, was die prosa anbelangt, so hat auf mich
immer die vorrede des Livius den eindruck gemacht, als verspüre
man in ihr das erste wehen eines neuen geistes. auch des Livius
herz ist erglüht von stolz auf den römischen namen und begeisterung
für die groszthaten früherer geschlechter, welche aus einer asylstätte
allmählich ein weitreich geschaffen hatten, aber weder er noch seine
ahnen hatten an alledem anteil und verdienst gehabt, als anspruchs-
loser mann der feder kleidet er das aus alten Chroniken zusammen-
getragene in das gewand einer schmuckreichen , packenden erzäh-
lung, für sich weiter nichts begehrend als die anerkennung seines
redlichen bemtihens, der selbstgestellten groszen aufgäbe nach kräften
gerecht zu werden, er deutet es leise an, dasz er vor manchem, was
ihm in der gegenwart unzusagend sei, sich gern in die stille klause
zu seinen büchern geflüchtet habe, um an den groszthaten früherer
zeiten sich zu erbauen, aber er thut es ohne bitterkeit. was er ge-
legentlich Über seine arbeit sagt, trägt das gepräge bescheidenster
Selbstlosigkeit, der geist aber, der das ganze geschichtswerk durch-
weht, ist der einer durchgereiften sittlichen Weltanschauung, eines
wohlthuenden inneren friedens. dasselbe wird wohl auch gesagt
werden können von Quintilians Institutio oratoria. so ernstlich
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Eine lücke in der lateinischen classcnlectüre der gymnasien. 213
dieser lehr meist er der redekunst es sich angelegen sein läszt, den
auszubildenden zögling für die bedtLrfnisse und den geschmack des
tages praktisch auszurüsten, die hauptsache bleibt ihm doch immer
die durchbildung des ganzen menschen, die wertvollen winke, welche
er nach dieser seile giebt, lassen uns einen einblick thun in das
Innenleben eines mannes, der viel beobachtet, durchdacht und unter
ernsten sittlichen gesichtspunkten sich zurecht gelegt hat; dazu tritt
von anfang bis zu ende dem leser eine ruhe, eine Sachlichkeit, eine
lauterkeit der gesinnung entgegen, die nicht imponierend, aber wohl-
thuend wirkt und hochachtuug vor dem Verfasser erwecken musz.
Aber auch bei andern prosaikern des ersten Jahrhunderts macht
sich im vergleich zu denen der classischen zeit eine gröszere Samm-
lung und Vertiefung nach der seite der gründlichkeit der forschnng
wie der humanen durchbildung bemerklich, was man auch an Seneca
und dem jüngeren Plinius als Charakteren, am alteren Plinius als
Stilisten auszusetzen finden möge, ihre durchbildung ist eine gründ-
lichere als die Ciceros und Caesars, ihr innenleben reicher ausge-
staltet, ihr empfinden humaner und weitherziger, was dabei zu ver-
missen bleibt, sei nicht verschwiegen, die schöne ebenmäszigkeit,
die lichtvolle klarheit der gedankenäuszerung, welche die classiker
auszeichnete, findet sich bei keinem der nachclassiker wieder, selbst
dem groszen meister feinzugespitzter rede, Seneca, macht nicht
selten, zumal in seinen gröszeren Schriften, der ausdruck zu schaffen,
noch ungleich mehr macht sich dies bei dem älteren Plinius, Quin-
tilian, auch beiTacitus bemerklich, sobald die rede höheren Schwung
annimmt und in das gebiet der allgemeinen betrachtungen sich er-
hebt, gar häufig erhält man den eindruck, als gähre es noch unklar
in des Schriftstellers seele, als ringe er noch ohne rechten erfolg bald
mit der sache, bald mit der form, darin liegt aber gerade für uns
modernen ein ganz besonderer reiz ; hat doch ein jeder von uns einen
winkel in seiner seele, wo sich manches etwas chaotisch durcheinander
treibt, wie man aber auch über die mängel und Vorzüge des rmcb-
classischen stils urteilen möge, soviel wird zugegeben werden müssen,
dasz zahlreiche stellen von Seneca , die einleitung zum ersten und
sechsten buche und der schlusz des zwölften buches von Quintilian,
verschiedene bucheingänge des älteren Plinius, gewisse partien des
Dialogus, der schlusz des Agricola, zahlreiche glanzstellen der Histo-
rien und Annalen zu dem gehaltreichsten und tiefsten gehören, was
in römischer zunge geschrieben worden ist, dasz in einzelnen dieser
abschnitte uns eine herzigkeit, ein adel der auffassung, eine gemüts-
tiefe entgegentritt in einer uns moderne Germanen wunderbar an-
mutenden form, wie uns gleiches bei den classischen prosaikern nicht
begegnet, soll unseren primanern von alledem nur das bekannt
werden, was die Tacituslectüre ihnen bietet?
Ein anderer, nicht minder wichtiger gesicbtspunkt ist die eigen-
artige culturgeschichtliche bedeutung des ersten jahrhunderts.
in ihm werden die formen monarchischer regierung geschaffen, welche
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214 Eine lücke in der lateinischen clussenlectüre der gyinnasien.
eine vorbildliche bedeutung noch für späte Jahrhunderte haben sollten,
in die bis dahin ziemlich planlose Verwaltung des reiches kommt
plan und Zusammenhang; riesenbauten entstehen in Born und in den
provinzen, von welchen manche bis auf diese stunde ziemlich unver-
sehrt sich erhalten haben, öffentliche bibliotheken werden geschaffen,
Wissenschaft und kunst vom Staate aus gefördert, handel und indu-
strie werden im groszartigeren stil betrieben, das litterarische und
gesellige leben bildet sich immer weiter aus nach der seite des edleren
gescbmackes wie der überfeinerung und der Überbildung, man fängt
an, auch mit der socialen frage sich zu beschäftigen und der not-
leidenden sich noch in andererweise als durch gelegentliche getreide-
verteilungen anzunehmen, die nationalen Scheidewände innerhalb
des imperium Romanum schwinden in dem masze, als von den ab-
kömmlingen alter patriciergeschlechter die einfiuszreicbsten Stellun-
gen mehr und mehr an günstlinge aus aller herren ländern abgetreten
werden müssen, und zu allem dem , was in dem gewaltigen reiche
neu entsteht und zu neuen formen sich durchringt, kommt nun noch
der abfall fast aller gebildeten von dem Volksglauben und die da-
durch hervorgerufene gährung der geister. in wieweit der eine oder
andere der angesehenen römischen schriftsteiler jener zeit bewust
oder unbewust von den anschauungen des jungen Christentums be-
einfluszt worden ist, sind wir auszer stand zu ermitteln, man hat
christlichen einflusz bekanntlich bei Seneca behaupten wollen, mit
unrecht; denn von einer bekanntscbaft auch nur mit den gru Un-
gedanken des evangeliums findet sich bei ihm keine sichere spur,
anderseits wird man aber auch nicht die im geheimen treibende
macht der christlichen ideen, welche so zeitig in Rom, ja in der
nächsten Umgebung der machthaber anbänger gefunden haben, unter-
schätzen dürfen, so etwas schwebt wirksam umher, wenn es auch
nur, wie Goethe sagt, wie glockenton ernstfreundlich durch die lüfte
wogt, jedenfalls musz für uns als Christen ein abschnitt der Welt-
geschichte einen eigenartigen reiz haben , in dem wir den Sauerteig
der heilslehre bereits wirksam wissen und ein unsichtbares reich
sich in der stille ausgestalten sehen, von dem späterhin das römische
weitreich geistig überwunden werden sollte, und wie für den Christen
an der schwelle des eingangs zur aetas argentea das ereignis aller
ereignisSe steht, die gehurt Jesu Christi, so für den Deutschen die
schlacht im Teutoburger walde. mit einem Zeitalter, das so viel
groszes, auch so manches für uns moderne noch hochwichtige und
folgereiche in seinem schosze getragen hat, möchte unsere reifere
gymnasialjugend sich noch mehr befassen als dies jetzt gemeinhin
der fall ist. es darf unseres erachtens nicht länger dabei sein be-
wenden haben, dasz ein Oberprimaner von der ganzen reichen litte-
ratur jener zeit nichts mehr durch eigne lectüre kennen lernt als
z. b. die den Germanicus betreffenden abschnitte der Annalen und
die erste hälfte der Germania.
Pflichtet man dem bei, so fragt sich nun weiter, wie jene lücke
Digitized by Google
s
Eine lücke in der lateinischen classenlectüre der gymnasien. 215
aufgefüllt werden könne ohne Schädigung anderer interessen oder
Überlastung der jugend. sollen noch andere gröszere werke auszer
dem einen oder anderen des Tacitus aus jener zeit gelesen werden ?
wir können dazu nicht raten, die Naturalis historia ist für schüler
aus mehr als einer rücksicht ungeeignet; das meiste, was Qu in tili an
behandelt, ist wenig geeignet, jugendliche geister zu fesseln, Seneca
ist als schriftsteiler zu gespreizt, als Charakter zu anfechtbar, der
jüngere Plinius ist bei aller seiner liebena Würdigkeit doch zu wenig
tief und dabei von der eitelkeit eines französischen akademikers.
nach reiflicher erwägung weisz ich nichts besseres vorzuschlagen,
wie dies bereits im eingange verraten worden ist, als eine Chresto-
mathie, welche in kürzeren oder längeren abschnitten das beste aus
den nachclassischen prosaikern bietet und nächstdera das in cultur-
geschichtlicher beziehung besonders wichtige und interessante,
darauf möchte ich entscheidenden wert legen, dasz die auswahl nur
nach ästhetisch -humanen und anderseits culturgeschichtlichen ge-
sichtepunkten erfolgte, mit einer Sammlung nach art von Löhbachs
handbuch der römischen national 1 itteratur oder Plötzs Manuel kann
uns für den vorliegenden zweck nicht gedient sein, ob unsere jugend
etwas von Vellejus Paterculus, Valerius Maximus, Mela, Frontin er-
fährt, ist nach unserer ansieht an sich völlig gleichgültig, ebenso,
ob sie vom älteren oder jüngeren Plinius noch mehr weisz, als von
gelegentlichen bemerkungen etwa bei ihr in erinnerung geblieben
ist. nur das wahrhaft schöne, bedeutende, nach irgend einer seite für
sie fruchtbare soll ihr geboten werden, gleichviel wie der Verfasser
heiszt, ob sein schriftstellername ein angesehener ist oder nicht,
darüber, was als bedeutend und fruchtbar anzusehen ist, werden die
ansichten natürlich weit auseinandergehen, aber gewisse partien in
Senecas philosophischen Schriften, gewisse briefe von ihm und dem
jüngeren Plinius werden sich wie von selbst jedem Sammler als auf-
nahmewürdig darbieten, über anderes kann man verschiedener an-
sieht sein, dem zukünftigen mediciner würde ich geneigt sein durch
aufnähme einiger abschnitte aus dem ersten buche des Celsus rech-
nung zu tragen, angaben über bau- und sonstige kunstwerke von
hervorragender bedeutung würde ich gern aufnehmen, wo sie sich
auch finden, ebenso einiges über den jugendunterricht aus Quintilians
erstem buche und dem Dialogus, charakteristische stellen über ge-
lehrtes Studium, litterarisches cliquen-, bücher- und theaterwesen.
einzelne stellen von besonderer cnltur- und religionsgeschichtlicher
bedeutung aus späteren Schriftstellern , wie z. b. die auf Palästina
und die älteste geschieht e der Juden bezüglichen angaben bei Justin
36, 2 — 4, würde ich mir nicht versagen können wenigstens in einem
anhange zu bieten, ich verheble mir aber nicht , dasz das alles dis-
putable dinge sind und gar leicht dem einen Überflüssig erscheinen
kann, was der andere um keinen preis missen möchte, darum breche
ich hiervon lieber ab, indem ich mich begnüge mit den gemachten
andeutungen.
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216 Eine lucke in der lateinischen claasenlectüre der gymnasien.
Aber wie der empfohlenen Chrestomathie bahn schaffen, dasz
sie wirklich ein Schulbuch wird und ein recht nutzbringendes? daran
kann nicht gedacht werden, die privatlectüre der oberen schüler
nach dieser seite lenken zu wollen, die schönsten stellen der nach-
classischen prosaiker pflegen aus den oben angedeuteten gründen
absonderlich schwierig zu sein, so dasz der fachmann, dem alle hilfs-
mittel au geböte stehen, leicht not hat sich mit ihnen abzufinden; ich
erinnere beispielshalber nur an das vorwort zu Quintilians sechstem
buch , das nach meinem geschmack eine perle köstlichster art ist.
unter der Voraussetzung, dasz die Cicerolectüre künftighin mit Unter-
prima abschlieszt, was man bei der Sachlage, wie sie sich neuerdings
teils schon gestaltet hat teils zu gestalten anfängt, unbedenklich
finden wird, läszt sich aber, meine ich, für die benutzung eines flori-
legiums aus nachclassischen prosaikern im classenunterrichte wobl
räum schaffen, die lectüre der Historien des Tacitus in der schule
vermag ich, so hoch ich das werk auch schätze, doch nur insofern
gerechtfertigt zu finden, als dem verlangen des lehrers nach ab-
wechselung, nachdem vielleicht ein jahrzehnt hindurch von ihm nur
die Annalen behandelt worden sind, eine gewisse berechtigung kaum
wird abgesprochen werden können, an sich empfiehlt sich sicher
nicht die schulmäszige behandlung eines geschichtswerkes , dessen
uns erhaltene Überreste nicht einmal vollständig die geschichte der
beiden jähre 69 und 70 behandeln; die hochbedeutende stelle 5, 1—13
kann auch auszer dem zusammenhange voll verstanden und gewür-
digt werden, wird nur auf den schüler, nicht auf den lehrer rück-
sicht genommen, so läszt sich für das erste halbjahr in oberprima,
wenn Cicero hin wegfallt, keine angemessenere, nach allen seiten
empfehlenswertere lectüre denken als eine auswahl aus den beiden
ersten büchern der Annalen in Verbindung mit dem allgemeinen teil
der Germania, sind die schüler auf diesem wege in die anfänge des
kaisertums eingeführt worden , so bildet der Agricola wie der Dia-
logus sicher eine durchaus angemessene fortsetzung. einen be son-
dern wert vermag ich aber nicht darauf zu legen, dasz jedenfalls
eine dieser kleinen Schriften und zwar vollständig gelesen werde,
denn manches, was im Dialogus eingehend erörtert wird, hat ebenso
wenig für unsere deutschen primaner ein besonderes interesse als
die querzüge des Agricola in Britannien, aus ästhetischen wie er-
zieherischen rücksiebten weisz ich nun zwar den vorzug durchaus
zu schätzen, den die vollständige lectüre eines in sich geschlossenen
litteraturwerkes vor dem herumlesen in einer Chrestomathie hat. der
abschüttende lateinunterricht in oberprima hat aber so viele ver-
schiedene ideale wie praktische ziele neben einander zu verfolgen,
dasz es bedenklich erscheint, dem an sich sehr löblichen grundsatze,
immer nur ganze werke mit den schülern zu lesen , um jeden preis
ängstlich nachzugehen, liest der schüler ein werk von anfang bis
zu ende, so bleibt er in dem gedankenkreis und der stilistischen gat-
tung desselben Schriftstellers, das ist unzweifelhaft ein vorteil, dabei
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Eine lücke in der lateinischen claesenlectüre der gjmnasien. 217
kann es aber leicht vorkommen, dasz er unwichtiges neben wich-
tigem, unerfreuliches neben erfreulichem mit in kauf nehmen musz.
vor beiden ist er bewahrt bei einer auswahl, die nur gediegenes und
wertvolles zu bieten bestrebt ist, er musz dafür aber öfters von einem
zum andern ohne weitere vermittelung überspringen, so steht vor-
teil gegen vorteil, genug, wir würden nicht anstehen, die Chresto-
mathie, für welche wir eintreten, als lesebuch für das letzte halbjahr
in oberprima zu empfehlen an stelle, bzw. neben einer kleineren
schrift des Tacitus. die durchnähme einzelner abschnitte derselben
lftszt sich aber auch füglich, je nach dem plane, der verfolgt wird,
in die fortlaufende lectüre des Tacitus einschalten, eine bertick-
sichtignng der nachclassischen dichter in dem lesebucbe möchte ich
widerraten; das meiste aus jener zeit ist für schüler entweder nicht
wertvoll genug oder zu schwer; zudem thäte es mir um jede ein-
busze leid , welche Horaz erleiden würde.
Möchten die lateinlehrer der obersten gymnasialclassen den ge-
machten Vorschlag wenigstens einer erwägung wert achten ! man-
ches, waa wir zu gunsten desselben wohl noch hätten beibringen
können, haben wir absichtlich unterdrückt, um nicht aufdringlich zu
erscheinen oder von der vorliegenden einzelfrage zu allgemeineren
abgeführt zu werden, nur mit einer andeutung mögen wir zum
Schlüsse nicht zurückhalten, die richtung der zeit geht entschieden
darauf hin, dasz der grammatische betrieb des lateinischen auf das
unbedingt nötige beschränkt wird, sowie dasz die anforderungen an
die freie schriftliche und mündliche handhabung des lateinischen,
soweit solche überhaupt künftig noch ernstlich erhoben werden, eine
ermäszigung erfahren, man befürwortet auszerdem — nach unserer
ansieht nicht mit unrecht — eine herabsetzung der ansprüche,
welche bisher bezüglich der classischen färbung der lateini-
schen schülerarbeiten gestellt zu werden pflegten, wird diesen
forderungen der zeit ganz oder wenigstens in der hauptsache ent-
sprochen, so darf wohl ein ausgleich nach einer andern seite gesucht
werden; man musz dies sogar wünschen, damit der lattin Unterricht
nicht an bildender kraft und in den äugen der oberen schüler an be-
deutung verliert, den besten ausgleich dürfte eine Vertiefung des-
selben nach der culturbis torischen seite bilden, diesem zwecke zu
dienen müste aber unseres erachtens eine den Tacitus ergänzende
Chrestomathie, wie sie uns vorschwebt, vorzüglich geeignet sein,
wir unterschätzen nicht die culturgeschichtliche und ethische aus-
beute , welche jedes buch der Annalen , der Diologus , der Agricola,
das zehnte buch des Quintilian bietet, aber hier überwiegen zu sehr
politik und kriegführung, dort litteraturgeschichte und die fach-
interessen der beredsamkeit, manches hochbedeutsame aus jener
zeit bleibt dagegen völlig unberührt oder wird nur flüchtig gestreift.
Ist aber irgend eine periode des altertums geeignet, nach den
verschiedensten Seiten für den inwendigen menschen fruchtbar
und für die gegenwart nutzbar gemacht zu werden, so ist es wohl
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218 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
das erste jahrhundert der christlichen Zeitrechnung, ungesucht bieten
sich, welche seite man auch betrachte, anknüpfungen an das, was
wir heutzutage um uns sehen und in uns durchleben, gering zu
veranschlagen ist sicher auch der umstand nicht, dasz Seneca, Quin-
tilian und der ältere Plinius in der geschiente unserer Wissenschaften
wie im geistesleben der höher gebildeten bis zum anfange dieses
Jahrhunderts eine hohe bedeutung gehabt haben , so dasz auch nach
der deutseben litteratur- und gelehrtengeschichte hin sich bedeut-
same beziehungen aller art ergeben.
Den grundsätzlichen gegnern des gebrauchs von anthologien
bei dem classenunterricht wird der gemachte Vorschlag selbstver-
ständlich ebenso unannehmbar sein wie alle andern verwandter art.
erwägen möchten diese aber doch zweierlei, erstens dasz unsere
schüler schon jetzt von umfänglicheren werken meist nur kleine teile
besitzen und näher kennen lernen, und zweitens dasz der ernst der
läge dazu mahnt, nicht ohne ganz triftige gründe auf irgend welches
grundsätzliche non possumus sich zu versteifen.
Dresden. Theodor Vogel.
(10.)
BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DES HÖHEREN SCHUL-
WESENS IN DER OBERLAUSITZ,
(fortsetzung.)
Auch in Görlitz wird man nicht gar weit gekommen sein, zwar
hören wir, dasz 1348 der guardian Joh. von Sumiruelt ein inventa-
rium von der bibliothek aufnahm und dasz man zu verschiedenen
Zeiten kataloge anfertigte, von denen der aus dem jähre 1362 im
Kalendarium necrologicum fratrum minorum conventus in Goerlicz
(script. rer. Lus. I s. 297 f.) Überliefert ist, zwar hören wir von
arbeiten der Franciscaner z. b. aus jenem kataloge, zwar wird nach
einem beschlusse des in Braunschweig 1458 gehaltenen capitels sogar
eine schule gegründet: allein ein blick in jene kataloge läszt uns
erkennen, dasz an wissenschaftliches arbeiten gar nicht zu denken
ist; antike classiker fehlten, und nur solche werke, welche die
mönche zu ihren predigten brauchten , waren vorhanden (vgl. Wat-
tenbach a.o.); und was die schule anlangt, so erfahren wir während
des ganzen lön Jahrhunderts nichts wesentliches" von ihr. danach
13 einmal wird z. b. 8. a. 1484 im Kaiend. necrologicum der name
eines lehrers genannt, a. o. s. 285; und an einigen stellen, wie 8. 289.
290. 292. 294 Studentes philosophiae. das bekannteste dürfte sein, dasz
der berühmte Valentin Trozendorff im anfange des 16n jahrhunderts im
Kloster seine erste bildung erhielt, die Franciscaner, welche bei seinem
vater, einem bauern in Troitschendorf bei Görlitz, oft einkehr hielten,
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I
Beitrage zur geschichte des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 219
freilich, wie deren beabsichtigte gründung dem rate zu Görlitz durch
das noch vorhandene schreiben des provinzials Matth. Döring (script.
rer. Lus. I s. 340) angezeigt wurde — 'es würden komen czu dem-
selbigen Studio' (so sollte der name der neuen anstalt lauten) 'acht
oder zehen Brüder, vnd zwo vorstendliche vnde woltüchtige Lese-
rneister' — wäre man berechtigt, an groszes zu glauben, da für eine
untergeordnete klosterschule, in der man knaben nur für den gottes-
dienst abrichten wollte, kaum so viel umstände gemacht zu werden
brauchten, geraume zeit vor dem kloster ging das Studium ein.
In Zittau, wie in Lauban, Löbau und Kamenz (grün-
dungsjahre der klöster: Zittau 1268 — Lauban 1332 — Löbau vor
1336 — Kamenz 1493) hat sich gar keine nacbricht über eine
schule der Franciscaner erhalten, und man wird anzunehmen haben,
dasz sie sich in diesen städten , etwa die erwähnte abrichtung von
knaben zum gottesdieuste abgerechnet, mit schulehalten gar nicht
beschäftigt haben.2' von einer bibliothek und von wissenschaftlichen
arbeiten der mönche in Zittau und in Kamenz hat man geringe
kenntnis, man musz sich daher hier noch mehr als bei den Görlitzer
nachrichten vor zu weitgehenden Vermutungen hüten.
Aus dem bisher behandelten hat sich, wie wir glauben, folgen-
des herausgestellt: es ist so gut wie sicher, dasz die schulen der
oberlausitzischen Sechsstädte auf die bei den städtischen pfarreien
gegründeten pfarrschulen zurückzuführen sind, woraus sich weiter
ergibt, dasz sie zum teil schon lange vor ihrer ersten erwähnung be-
standen haben, also die Bautzener vor 1218, die Zittauer vor
1310, die Laubaner vor 1317, die Görlitzer vor der mitte des-
selben Jahrhunderts, die Löbauer vor 1359 und die Kam enzer vor
1438. die eine pfarrschule, die in Bautzen, gieng an das capitel über
und wurde zur äuszeren stiftsschule, die übrigen nahm der rat in seine
obhut. während aber die Verwaltung der Zittauer schule der kirche
vertragsweise auf zeit zurückgegeben wurde, blieben die schulen von
Görlitz und von den drei kleinen städten zwar hinsichtlich äuszerer
Verhältnisse mit der kirche verbunden, die berufung und einsetzung
des Schulmeisters aber war Sache des rates."
Rahen den kleinen Valentin hin nnd wieder bei sich im kloster, wo die
bibliothek einen tiefen eindruck auf ihn machte, siehe die erläuterungen
zum Kai. necrol. a. o. 8. 340. Otto Kümmel, Job. Hass im laus. mag.
bd. 51 s. 206.
u bezüglich Zittaus siehe H. J. Kämmel, rückblicke anf die ge-
schichte des Zittauer gymnasiums, festschrift 1871, 8.3. Weise a. o.
über die vermeintliche bibliothek der Franciscaner siehe Pescheck, hand-
buch der geschichte von Zittau I s. 373 ff. und die ergänzungen dazu
im laus. mag. bd. 26 s. 209. H. J. Kämmel, geschichte des deutschen
Schulwesens s. 43 geht in seinen Vermutungen zu weit, bezüglich Löbau s
und Kamenz' siehe Knothe, die Franciscaner in Löbau und in Kamenz
a. o. s. 99 f., s. 101 und s. 12t ; auch cod. dipl. Sax. reg. II, VII 8. XXXIX.
** der Vollständigkeit halber sei an dieser stelle noch einer irrigen
meinung Knauthus gedacht, die er in seiner schrift 'Von denen Schul-
büchern, welche in denen oberlausitzischen Schulen vor der Reformation
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220 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlauaitz.
Am meisten wird nun daran gelegen sein zu erfahren, was die
genannten schulen ihren Zöglingen zu bieten imstande
waren, die quellen flieszen, wie im ersten abschnitte, auch hier
recht spärlich : aus den ersten Jahrhunderten — das dreizehnte und
vierzehnte durfte dabei nur in betracht kommen — wissen wir gar
nichts*6 und aus dem fünfzehnten und beginnenden sechzehnten nur
wenig, allerdings auch wieder genug bei der groszen dUrftigkeit der
quellen in bezug auf die schulgeschichte. dasz wir über den unter-
richtebetrieb in den sechsstädtiscben schulen während der älteren
zeit nichts erfahren, wird uns wenig stören, denn sobald wir erwägen,
gebraucht worden», Görlitz 1769, s. 4 f. ausspricht; er meint, es hätten
in der Oberlausitz, und zwar in Bautzen ein Studium privi legiatum
oder hohe schule (später die Stiftsschule) , in allen Sechsstädten
klosterschulen, bei den erzpriesterlichen stählen (erzpriester, die
heutigen Superintendenten, waren in Kamenz, Löbau, Görlitz, Lauban,
Reichenbacb, Seidenberg und Bischofs werda) erzpriesterliche schu-
len und auszerdeni noch Stadtschulen bestandeu. zum teil ist schon
in unseren ausführungen eine Widerlegung enthalten, zum teil hat sie
Knothe, die erzpriester in der Oberlausitz, in den beiträgen zur säch-
sischen kirchengeschichte, herausgegeben von Dibelius und Lechler,
2s heft, 1888, s. 33 ff. gegeben.
16 indesHen sagt Knauthe iu der nachlese oberlausitzischer nach-
richten, 1770, s. 268 (fEtWH8 von denen Schulen vor der Reformation in
Oberhui8itz überhaupt'): 'in einer alten Schulordnung, der schule zu
Reichenbach, de anno 1382, finde ich gedacht, einer regel, d. i. der Vor-
schrift im schreiben, und des Donati, folglich hat man daselbst schreiben
und latein gelernet.' auch in das Verzeichnis oberlausitzischer Urkunden
11-4 (Görlitz 1799) s. 114 hat Zobel, jedenfalls auf Knauthes Ver-
sicherung hin, die bemerkung: 'Schulordnung des erzpriesterlichen Stuhls
zu Reichinbach d. 1382' aufgenommen, da jedoch Knauthe recht oft ein
sehr unzuverlässiger gewährsmann ist, so schlieszen wir uns ganz der
meinung Knothes in den beiträgen usw. s. 41 anm. an, welcher dort
sagt: rdie betreffende Urkunde ist nicht vorhanden, und iuuere gründe
lassen uns stark daran zweifeln, dasz eine solche Schulordnung in
Reichenbach sollte erlassen worden sein.' Knauthe irrt übrigens, wenn
er meint, die 'regel sei eine Vorschrift im schreiben', eine erklärung,
welche derselbe in seiner schrift: Von denen Schulbüchern usw. s. 7 zum
ersten male, und zwar ziemlich ausführlich vorgetragen und welche
nachher auch Schütt in seine festschrift s. 11 anm. 2 übernommen hat,
während diesem wieder Otto Kämmel, Job. Hass, im laus. Mag. bd. 61
s. 40 bzw. 212 gefolgt ist. wir haben es hier jedoch nicht mit schreib-
Vorschriften zu thun, sondern, wie schon aus der Verbindung mit dem
Donat hervorgeht, mit den 'regulae pueriles', einem buche, welches zur
erlernung der einfachsten begriffe der lateinischen Satzlehre gebraucht
wurde, dieselbe Verbindung: 'regel und Donat' werden wir in der
Bautzener Schulordnung von 1418 finden; auch sonst ist sie zu treffen,
z. b. in der gründungsurkunde der schule zu St. Maria Magdalena von
1266 bei Schönborn, beitrage usw. I s. 2 (Donatum, Cathonem, Theo-
dulura et regulas pueriles), in der Schleizer Schulordnung von 1492 (bei
Müller a. o. s. 113) und in der Nürnberger Ordnung der vier latein.
schulen nsw. (bei Müller s. 148), beide male 'Donat und regel'. vgl.
auch Müller im archiv VIII s. 6; und in seinem buche, quellenschriften
und geschiente des deutschsprachlichen Unterrichts bis zur mitte des
16n jahrhunderts, erwähnt Müller s. 343 ff., wo er über den schreib-
unterricht handelt, gar nichts von derartigen, so benannten Vorschriften.
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Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 221
dasz die kirche zu ihren festen, ja tagtäglich zum gottesdienste
bchüler brauchte , so dasz für den Unterricht gar wenig zeit übrig
blieb, und wenn wir auazerdem bedenken, dasz infolge des geringen
bildungsbedürfnisses der bürgerschaft zunächst von der schule sehr
wenig erwartet wurde, wozu endlich noch kommt, dasz bücher nur
schwer und dann für teures geld zu erlangen waren17, — so können
-wir uns mit groszer Sicherheit eine Vorstellung von dem unterrichte
während jener älteren zeit machen, und Zeugnisse von gleichzeitigen
schulen anderer städte, wie die gleichlautenden Stiftungsurkunden
der schule zu St. Maria Magdalena (1266) und zu St. Elisabeth
(1293) 38 in Breslau, bestärken uns darin: die gebete und liturgi-
schen formein lesen und dann auch frei hersagen, beziehentlich
singen zu können , war das nächste ziel, wenn sich daran noch die
anfangsgründe im lateinischen nach dem Cato anschlössen, so hatte
man schon alles mögliche gethan; das war jedoch schon eine er-
weiterung des ursprünglichen lehrplans der pfarrschulen , die man
aber um so freudiger begrüszt haben mag,, als man das lateinische
im leben oft genug brauchte.
Schreiben, rechnen und die deutsche spräche wurde nach der
ansieht vieler neuerer forscher in den Stadtschulen ebenfalls gelehrt,
eine derartige kurze notiz ist aber leicht irreführend, denn wir
haben uns diese Unterrichtsfächer als äuszerst stiefmütterlich behan-
delt zu denken: den ersten beiden, die man wohl aus rücksicht auf
die bedürfnisse des lebens in den schulen vertreten zu sehen wünschte,
eine weitere ausdehnung zu geben, verbot schon der mangel an wohl-
feilen Übungsmitteln, im rechnen kam man über die allerersten an-
fangsgründe, erlernung der zahlen, nicht hinaus, und die deutsche
17 vgl. Ruhkopf a. o. s. 146 f. F. A. Eckstein, lateinischer und
griechischer Unterricht, Leipzig 1887 (herausgegeben von EL Heyden),
6. 47 f. Engel, das Schulwesen in Straszbnrg vor der gründung des
protestantischen gymnasiums (progr. 1886) s. 18. wie umständlich es
mit den büchern noch zu Th. Platters zeit (anfang des 16n jahrhunderts)
war, erzählt er in seiner Selbstbiographie (siehe Boos, Th. und Felix
Platter, zur Sittengeschichte des 16n jahrhunderts s. 28): . . des glichen
batt niemand noch kein truckte biecher, alein der praeeeptor hat ein
truckten Terentium. was man lasz, muszt man erstlich dictierreu, den
distingwieren, den construieren, zu letst exponieren, das die bacchanten
grosse scarteken mit inen heim hatten zu tragen, wen sy hinweg zugen.'
** abgedruckt bei Schönborn a. o. und bei Reiche a. o. s. 5 f.,
wo es heinzt: r. . . scolae, in qnibus pueri parvuli (knaben bis zum
14n lebensjahre, Schönborn I s. 16. Du Cange s. v. parvulus) doceantur,
et discant alphabetum cnm oratione dominica, et salutationem beate
Marie Virginis, cum symbolo, psalterio, et septem psalmis, discant etiam
ibidem cantum, ut in ecclesiis ad honorem dei legere valeant et cantare.
audiant etiam in eisdem scolis Donatum, Cathonem et Theodulum, et N
regulas pueriles . . .* dieser lehrplan, wenn man so sagen will, erscheint
schon in den Verordnungen Karls des groszen i. j. 801 ff.; siehe die be-
treffenden stellen bei Cramer, gesch. der erziehung und des Unterrichts
in den Niederlanden s. 43 ff. und bei Heppe, da» Schulwesen des mittel-
alters uud dessen reform im 16n jahrhundert s. 6 f. anm.
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222 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
spräche war in den Stadtschulen überhaupt nicht Unterrichtsfach, sie
wurde nur als mittel beim Unterricht gebrauch t.M über diese parvae
echolae, wie anstalten mit solch einfachem lehrplan genannt zu wer-
den pflegten, wird unten bei den maiores scholae noch einmal zu
sprechen sein.
Im I5n Jahrhundert bewegte sich der Unterricht in den schulen
der Sechsstädte im groszen ganzen in den alten geleisen und hatte
dieselben ziele, welche wir soeben gekennzeichnet haben, es ist jedoch
nicht auszer acht zu lassen, dasz der Unterricht während der drei
Jahrhunderte oft aus manigfaltigen gründen in noch engere grenzen
gedrängt, aber auch je nach der läge der dinge erweitert wurde.
Für die erstere möglichkeit brauchen wir nur auf die wieder-
kehrenden Stadtbrände, auf ansteckende krankheiten, auf häufige
durch krieg veranlaszte Unruhen zu verweisen, wozu der unglaublich
rasche Wechsel der lehrer, deren Vorbildung auch recht verschieden
war, das seine beitrug, obwohl wir von den ein Wirkungen der äusze-
ren not auf die schule während jener zeit keine nachrichten haben,
so dürfen wir doch aus gewissen angaben auf solche schlieszen.
wenn wir z. b. hören, dasz Lauban von den Hussiten im jähre 1427
und zum zweiten male 1431 erobert und zerstört wurde, dasz infolge
dessen 'vermögen und einkünfte der pfarrkirche ganz in verfall kamen
und deshalb die religionsübungen in der kirche nur mangelhaft be-
sorgt wurden', ein zustand , der fast während des ganzen 15n Jahr-
hunderts dauerte — sollte da nicht auch die schule in gleicher weise
gelitten haben? und noch schlimmer ergieng es Löbau , das 1429,
wie wir schon oben hörten , auf betreiben der Hussiten angezündet
wurde und vollständig niederbrannte, im jähre 1431, nachdem es
notdürftig wieder aufgebaut war, von den 'ketzern' erobert, während
eines halben jahres besetzt gehalten und als Stützpunkt für weitere
Unternehmungen in der Oberlausitz benutzt wurde, obwohl die Stadt
wieder in die gewalt der bewohner kam, hat sie doch in den folgen-
den jähren (bis 1438) wegen ihrer centralen läge ungeheuer gelitten,
auch Kamenz sah im jähre 1429 die 'verdammten ketzer* vor seinen
mauern, sie bemächtigten sich der stadt und richteten ein fürchter-
liches blutbad an. in den folgenden jähren hatte Kamenz gleich-
falls unruhige zeiten. glücklicher als diese kleinen Sechsstädte waren
die drei groszen, welche, obgleich oft mit groszer mühe, dem an-
dränge der feinde stand hielten, trotzdem war hier, besonders in
Zittau, die aufregung während der dauer der Hussiteneinfälle sehr
w zum Schreibunterricht vgl. Schönborn a. o. 9.15 f.; Eckstein a. o.
b. 47; Joh. Müller, deutscher Unterricht b. 209 anm. 45; auch Ruhkopf
a. o. 8. 151 und H. J. Kämmel, geach. des Unterrichts s. 177 sprechen
davon, über die art und weise, wie man unterrichtete (besonders in der
späteren zeit, reformation), vergleiche die äusserst lehrreiche Zusammen-
stellung von Joh. Müller, deutscher Unterricht s. 346 — 356, wo 8. 334 f.
auch einiges über den rechenunterricht gegeben ist. die nachweise über
den Unterricht im deutschen siehe gleichfalls bei Müller s. 189 ff., vgl.
auch s. 317 ff.
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Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 223
grosz. wenn ferner in späteren jahrhunderten infolge der pest die
schule zeitweilig ganz aufhörte zu bestehen, wie in Zittau 1599, in
Görlitz und in Lauban 1632 (nur diese wenigen beispiele seien an-
geführt) — wie vielmehr sind wir genötigt, ähnliches auch für die
zeit, welche uns hier beschäftigt, anzunehmen, für eine zeit, in wel-
cher das Schulwesen keineswegs so fest gefügt war, wie in den spä-
teren jähren?
Von einer erweiterung des unterrichtsplanes haben wir
kenntnis aus Bautzen (die Schulordnung vom jähre 1418), aus
Görlitz (vom ende des 15n Jahrhunderts aus Hass' annalen III
s. 306, 4r band der Scriptores, wozu eine stelle aus den annales
Gorlicenses von Mylius kommt, und vom anfang des 16n jahrhun-
derts aus Manlius, comment. VII cap. 4 in Hoifmanns Script, rer.
Lus. 1 1 s.437 ff. verglichen mit Mylius' annalen 8.25 hei Hoffmann
I 2) und aus Lauban (vom anfang des 16n Jahrhunderts aus Wies-
ners annalen in den oberlaus, arbeiten I 4 s. 81).
Dasz wir zunächst in Bautzen eine gröszere ausdehnung des
Unterrichts finden, läszt sich leicht erklären, ja, wenn man davon
nichts wüste, müste man sie mit Sicherheit deshalb annehmen, weil
Bautzen von jeher mittelpunkt alles politischen und kirchlichen
lebens in der Oberlausitz war30 und weil sich die Bautzener schule
schon durch ihre Verbindung mit dem stift leichter über den stand
der parvae scholae erheben konnte.
Im folgenden gehen wir die bestimmungen der Schulordnung31
90 Bautzen als sitz des domcapitels ist bekannt, der oberste landes-
herliche beamte, vom lOn jahrhundert bis 1253 der castellanus de Bu-
dissin, und sein Stellvertreter, der advocatus provincialis, wohnten auf
der bürg zu Bantzen. seit 1254 war die oberste militär- und admini-
strativbehörde mit der obersten Justizbehörde für die ganze Überlausitz
in der person des landvoigts von Budissin vereinigt; seit 1268 hersehte
dieser nur über die westliche hälfte des landes, während über die öst-
liche der landvoigt von Görlitz gesetzt war; eine Vereinigung beider
voigteien trat oft ein, der sitz war dann wieder Bautzen, endlich führte
es im Sechsstädtebunde den vorsitz; alle an die Sechsstädte gerichteten
schreiben giengen an den rat dieser Stadt, und alle von dem bunde
ausgehenden wurden unter dem Bautzener stadtsiegel ausgefertigt, (vgl.
Knothe, urkundl. grundlagen zu einer rechtsgesch. der Oberlausitz usw.,
laus. mag. bd. 53?)
" sie ist jetzt bequem zu benutzen dadurch, dasz sie Joh. Müller
unter seine vor- und frühreform. Schulordnungen, s. 38 f., aufgenommen
hat, und zwar, wie er selbst sagt, aus der nachlese oberlaus, nach-
richten 1771, s. 94 f., wo Knauthe sie veröffentlicht hat. die stelle,
welche uns vor der hand angeht, lasse ich nach Müller folgen: f. . . Item
vor ein a. b. c. und pater noster und credo, benedicite, jegliches 1 gr.,
vor einen guten ('ganzen' ist bei Knauthe in [ ] hinzugefügt) Donat
10 gr. , ein regel, moralem und Catonem 8 gr. oder 5 gr. , vor einem
ganzen text eine halbe mark, vor primam partem 15 gr.' durch die
freandlichkeit des herrn realschuloberlehrer Baumgärtel in Bautzen
konnte ich noch zwei von ihm gefertigte abschriften vergleichen, die
eine aus der Techellschen chronik, die andere aus den handschriften
des ratsarchives (rep. IV sect. IlIAa nr. 1); aus beiden quellen, über
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224 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausit*.
durch, allerdings gibt diese nicht, wie die der späteren und der
heutigen zeit, anweisungen für die einzelnen Unterrichtsfächer, son-
dern setzt nur die einkünfte der lehrer fest, über welche wir weiter
unten zu handeln gedenken, hier haben wir von den einnahmen zu
sprechen, welche den lebrern aus dem buchhandel erwuchsen, es inter-
essiert uns, auf diese weise alle bücher kennen zu lernen, die damals
und vielleicht schon lange vor 1418, da während des mittelalters der-
artige bestimmungen gewöhnlich nicht etwas neues, sondern nur alt-
hergebrachtes schriftlich feststellten, in Bautzen gebraucht wurden,
eine Vorstellung von der ausdebnung des Unterrichts ist dann leicht
gemacht, die ersten vier: das abc, pater noster, credo und benedi-
cite dienten dem Unterricht im lesen, ein zweck, der in unserer
Schulordnung nicht ausgesprochen wird, der aber ganz unzweifelhaft
ist; überdies können wir die Schulordnung von Nürnberg aus dem
jähre 1505 (bei Müller s. 145 ff) zur vergleichung heranziehen,
dort lesen wir (a. o. s. 146 unten): 'Erstlich sollen die jüngsten
schul er, die dann in der tafel, benedicite, conti t cur vnd derglei-
chen, buchstabenvnnd lesen lernen, bey ainannder sitzen, vnnd
alle tag . . . irer lection, buchstabens oder lesens . . . verhöret
werden.' unter der genannten 'tafel' ist das abc zu verstehen; dies
geht aus der Schulordnung von Schleiz aus dem jähre 1492 (bei
Müller 8. 113) hervor, durch welche, ähnlich wie in Bautzen, be-
stimmt wurde, dasz rder locat keinen schuler zwingen sal, ym
bucher abzukauffen, aussgelossen die tafeln des abc, daspater-
noster, das benedicite und das gratias, die müssen sie vmb ein zeym-
lich gelt von ym kauften.' dasz diese lehrmittel zum lateinisch-
religiösen anfangsunterricht benutzt wurden, geben wir Joh. Müller,
im deutschen Unterricht s. 208 f., zu, jedoch mit der einschränkung,
dasz ein solcher gebrauch erst sehr spät in frage kam, nemlich wenn
es sich darum handelte, den kleinen das, was sie gelesen und aus-
wendig gelernt hatten — mit der grösten Umständlichkeit brachte
man sie so weit — nun auch zu erklären, über das abc usw. ist
auf die gründliche Zusammenstellung Joh. Müllers a. o. 8. 208 ff. zu
verweisen.
Ausschlieszlich für den Unterricht im lateinischen waren die
übrigen bücher bestimmt, zuerst der Donat, über weichen unter
andern Schönborn, beiträge I s. 11 f., Joh. Müller, deutscher Unter-
richt s. 217 ff. und F. A. Eckstein, latein. und grieeb. Unterricht,
Leipzig 1887, s.31. 47 und 54 (Keil, Grammatici lat.IVs.355— 366
die ars minor und s. 367 — 402 die ars maior) gehandelt haben, und
deren Verhältnis zu einander ich jedoch nichts feststellen konnte, er-
geben sich die lesarten: 'ein Regel moralem und Catonera 8 gr. oder 9*
und rVor ein gantz Doctrinale, das man nennet einen (ganeen) Text,
Eine halbe Mark', lesarten, die auch Christian Schöttgen in der vor-
rede zn ( Der löblichen Buchdrucker- Gesellschaft zu Dreszden Jubel-
Geschichte1 kennt, der kürze halber bezeichnen wir sie im folgenden
mit BA.
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Beiträge zur geschiebte des Löh. Schulwesens in der Oberlausitz. 225
dann die regeln , von welchen wir selbst in der anm. 26 sprachen,
unter den beiden nächsten büchern 'moralis und Cato' hat man ohne
zweifei die beiden Sammlungen von Sprüchen zu verstehen, welche
den namen Cato tragen, der 'moralis' ist dann vielleicht das'disticha
de moribus' oder 'distieba moralia' oder auch f Cato magnus' betitelte
spruchbuch in vier büchern und der Cato die Sammlung der 56 Sinn-
sprüche in prosa, sehr oft kurzweg so, oft auch 'Cato parvus' ge-
nannt, die betitelung dieser beiden bücher ist jedoch keine fest-
stehende gewesen, so dasz wir ebenso den 'moralis' als die pro-
saische, den Cato als die poetische Sammlung ansehen können, so
viel steht aber fest , dasz die Schulordnung mit der angäbe 'mora-
lem und Catonem' beide Sammlungen meint, nicht, wie Joh. Müller
will (archiv VIII 8. 261), nur eine, indem er aus rregel, moralem
und Catonem* — 'regel und Cato moralis' macht, das geht auf
keinen fall, den vermeintlichen fehler so zu verbessern, würde nur
möglich sein, wenn wir in der Schulordnung die Wortstellung 'regel,
Catonem und moralem' hätten ; denn den Cato moralis können wir
mit Hains repertorium bibliographicum nr. 4707 — 4755 wenig-
stens in der form Cato moralissimus oder moralizatus nachweisen,
der moralis Cato kommt aber nie vor. gewis hat sich Müller zu
dieser änderung entschlossen, weil ihm, ebenso wie mir die angäbe
des preises '8 gr. oder 5 gr. für ein regel, moralem und Catonem*
unerklärlich war; zudem ist das folgende: 'vor einen ganzen text
eine halbe mark' noch vielmehr dazu angethan, den sinn zu ver-
dunkeln. Müller läszt diese worte im archiv a. o. ganz weg. da
wir ihm hierin ebenso wenig wie in dem vorhin besprochenen ände-
rungsvorschlag folgen können, da wir aber selbst zugeben, dasz
Knauthes Überlieferung, die eben Müller annimmt, so beschaffen ist,
dasz klarheit kaum hineingebracht werden kann, so versuchen wir
es einmal mit der Überlieferung von BA (anm. 31). daraus ergibt
sich dies: die regulae pueriles zusammen mit einer gesamtausgabe
des Cato = 8 oder 9 gr. (nach dem belieben des lehrers), das ganze
Doctrinale (des Alexander de Villa dei) — 24 gr. (eine halbe mark),
die prima pars dieses Schulbuches 10 gr.
Zur näheren erklärung diene folgendes, die Verbindung mehrerer
Schulbücher in einem bände ist nicht wunderbar; wir haben eine
solche z.b. in der Dresdener vormundschaftsrechnung 1425 ff. (archiv
VIII s. 249), wo der Katho mit der prima pars vereinigt ist, und in
einer andern rechnung von 1434 (a. o. 8. 250 anm. 155), wo sogar,
wie in unserem falle, die Regel und der Katho in einem bände er-
scheinen, jedoch nicht blosz das : auch die ausdehnung der betreffen-
den bücher passt einigermaszen zu den angegebenen preisen, über
die grösze des ersten lehrbuches konnten wir nichts erfahren; der
umstand jedoch, dasz in der erwähnten vormundschaftsrechnung von
1425 ff. 'eyne regele' für 1 gr. verkauft wurde, ein 'Benedicite' aber
für 2 gr., läszt trotz der Verschiedenheit der geldwerte (die groschen
in Dresden waren meisznische) immerhin einen schlusz auf die aus-
K. j«hrb. f. phil. u. pid. II. abt. 1891 hft. 5. 1 5
226 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
dehnung der 'Regel' zu ; jedenfalls wäre daher auch in Bautzen, wo
ein 'Benedicite' 1 gr. kostete, die Regel allein weniger, sicherlich
aber, obwohl die bücherpreise sehr schwankten, nicht viel mehr als
1 gr. wert gewesen, die 144 verspaare Catos ergeben mit den 56
kurzen prosasprüchen = 344 zeilen, so dasz wir, die regulae pueriles
und die prologe im Cato mitgerechnet, ein buch von ungefähr
500 zeilen erhalten würden, die prima pars des Doctrinale zählte
1082 und das ganze Doctrinale 2660 verse. die prima pars wurde
demnach mit 10 gr. , das vollständigere Doctrinale mit 24 gr., die
Catoausgabe allerdings unverhältnismäszig teuerer mit 8 — 9 gr. be-
zahlt." 80 läszt sich nicht leugnen, dasz die lesung aus BA vor der
Knauthe-Müllers den Vorzug verdient. — Zu Alexander de Villa dei
ist hier nur auf Thurot, de Alexandri de Villa dei Doctrinali (einiges
daraus bei Böcking, Vlrichi Hutteni operum supplementum, epp. ob-
scuror. viror. II 1 8. 299), auf F. A. Eckstein a. o. 8. 56 f., Neu-
decker, das Doctrinale des Alex, de Villa Dei (diss. Lips. 1885) und
Müller im archiv VIII s. 249 f. zu verweisen, proben aus der pars
I, II und IV gibt Baebler, beitrage zu einer geschichte der latei-
nischen grammatik im mittelalter, Halle a. S. 1885, 8. 125 ff. Hain
nr. 662 ff.
Wenn wir nun das soeben besprochene mit dem vergleichen,
was wir oben über den Unterricht in den parvae scholae sagten,
dürfte die Weiterbildung des Unterrichts, und zwar des lateinischen,
feststehen: die Bautzener schule war eine schola maior, und nicht,
wie Joh. Müller will (archiv VIII 8. 259), eine parva schola, deren.
Unterricht nach seinen eignen worten (a. o. s. 6) sich auf folgendes
beschränkte: 'lesen, schreiben, Ziffernkenntnis, elementare lateinische
formenlehre nach der kleineren (in frage und antwort abgefaszten)
grammatik des Donatus, elementarste lateinische Satzlehre nach den
sogenannten 'regulae pueriles*, leetüre und memorieren eines latei-
nischen, dürftigen religiösen lesestoffs (des 'pater noster', 'credo',
fave Maria'), sowie der lateinischen kurzen sittensprüche des soge-
nannten Cato und öfters auch des aus künstlich gebauten lateinischen
distichen bestehenden kirchenfestkalenders Cisiojanus. ' dasselbe
geht aus dem vertrage zwischen dem St. Martinsstifte und demvoigte
und den Schöffen von Ypern (1253) hervor, wonach in zukunft in
dieser stadt tres scolae maiores bestehen und von dem stifte mit
w ein ähnliches misverhältnis würde auch in der oben erwähnten
vormundschaftsrechnung zu bemerken sein, wenn wir mit Müller archiv
VIII 8. 250 annähmen, dasz die beiden bücher, welche für lO'/t gr. und
6'/t Pr- gekauft wurden, die secunda und tertia pars Alexandri waren;
die diese beiden partes umfassenden 1200 verse hatten dann 17 gr. ge-
kostet, während die prima pars, noch dazu mit dem Katho zusammen,
nur für 7 gr. erworben wurde, in der ebenfalls oben erwähnten rech-
nung von 1434 — 38 kostete die prima pars 8 gr. und ein Alexander
16 gr. ; ob in diesem falle ein ganzer Alexander oder, wie Müller glaubt,
nur der 2e und 3e teil gemeint sei, läszt sich nicht sicher entscheiden,
das misverhältnis ist aber auf alle fälle vorhanden.
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Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Überlaubitz. 227
lehrern besetzt werden sollten; parvae autem scolae, so heiszt es
dann weiter, in quibus discipuli poterunt erudiri usque
ad Catonem, könnten nach belieben von jedem errichtet werden
(Schönborn I s. 17). wenn wir nun auch Müller (im deutschen
unterr.s.2l3f.) zugeben, dasz die grenze zwischen den beiden schul-
gattungen nicht überall gleich strenge inne gehalten wurde , indem
an dem einen orte der Cato in die parva schola, der Donat aber und
die'regulae pueriles' in die höhere schule gehörten, an einem andern
sÄmtliche drei bücher noch in der parva schola gebraucht wurden,
so kann doch über die Zugehörigkeit der Bautzener schule zu den
scholae maiores kein zweifei obwalten, weil eben hier noch der ganze
Alexander erscheint, dessen prima pars eine fortsetzung des Donat
(alphabetum minus) darstellte und zu dessen durcharbeitung in
seiner ganzen ausdebnung lange zeit nötig war, da nicht nur der text
auswendig gelernt, sondern auch commentare, die das buch noch
unverständlicher machten, durchgenommen wurden, so waren in
dem College de Montaigu zu Paris 1508 sieben jähre zur vollstän-
digen bewältigung der quattuor partes nötig (nach Thurot, rensei-
gnem, dans Tuniversite de Paris, append. s. 11, bei Eckstein a. o.
Dasz bei diesem stände des Unterrichts die schule in Bautzen
auch in bestimmte classen eingeteilt wurde, liegt auf der hand. es
sind sicherlich drei gewesen: die leseclasse und zwei lateinische
classen, die eine mit dem Donat, die andere mit dem Alexander als
charakteristischem lehrbuche, so war es in Landau (Schulordnung
1432): f. . . die das a.b.c. vnnd benedicito lernen . . ., die Donatum
lernen . . ., die darüber sind vnd temporalia, Cathonem, primam et
secundam partem oder anders lernent . . (Müller, Schulordnungen
6.48), in Wien (Schulordnung 1446, Müller s. 58 f.), wo jede classe
nochmals dreifach geteilt war, und in Nürnberg (schulordnung 1505,
Mflller s. 146 f.). vier classen: tabulistae (lesescbüler, vgl. oben
s.224), catbonistae, donatistae, Alexandristae werden in dem schul-
buche 'Es tu Scolaris' (ende des 15n jahrhunderts) unterschieden;
bei Müller, deutscher unterr. s. 232 und Baebler a. o. 8. 189 ff.
proben daraus.
Ob in der Bautzener stiftsschule die beiden andern artes des
triviuma, die rhetorik und die dialektik, oder eine derselben gelehrt
wurde, wissen wir nicht; dasz keine lehrbücher angeführt wer-
den, darf nicht gegen eine derartige annähme sprechen, da es doch
möglich wäre, dasz die lehrsätze dictiert wurden, ein verfahren,
welches in jener zeit sehr gebräuchlich war. wohl aber wurde
die dialektik in der Görlitzer schule am ende des 15n jahrhun-
derts vorgetragen nach Hass' zeugnis, welches hier folgen möge:
. . Den jn alden schulweisz wüste vnd handelte mann nichts,
den grammaticam Alexandrj Gallj jn versen geschriebenn , modos
significandj, die konden die knaben auch nicht, der meister nymmer
mehr vorstehnn vnd auslernenn , dialecticam Petri Hispani etc. vnd
15*
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228 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausit*.
wurde doch allis gar schuerer weise, weitleufftig, vnd vnbegreifflich
furgegebenn . . . ' natürlich wurden in Görlitz auch die elemente
und die lateinische spräche gelehrt, obwohl in der angeführten stelle
davon nichts steht; dasz dabei dieselben bücher wie in Bautzen in
gebrauch waren, ist bei dem zähen festhalten an dem althergebrach-
ten, was dem mittelalterlichen Schulwesen besonders eigen, selbst-
verständlich." dadurch werden wir aber zugleich gezwungen auch
an der Görlitzer schule eine anzahl classen anzunehmen , zum min-
desten drei (elemente , latein , dialektik) , besser vier : die von uns
erwähnten drei Bautzener classen und eine für die dialektik. damit
haben wir allerdings eine andere meinung ausgesprochen als Kämniel,
Joh. Hass, der a. o. s. 40 sagt: f freilich , was diese so elend be-
zahlten lohrer leisteten und darboten, das war auch im gründe herz-
lich wenig! schon dasz eine classeneinteilung fehlte, würde
auf höchst unvollkommene leistungen schlieszen lassen.' wenn nun
Kämmel als beleg dafür eine stelle aus Hass' annalen (III 8. 302)
anführt, wo eine classeneinteilung im jähre 1535 als neuerung er-
wähnt wird, so ist das letztere wohl zuzugeben, aber der zweck dieser
einteilung war ein ganz anderer , als Kämmel will.34 es ist nemlich
aus dem ganzen Zusammenhang klar, dasz die verschiedenen classen
vermögensclassen waren und geschaffen wurden, um die reicheren
zur zahlung eines höheren Schulgeldes zu verpflichten, als die ärmeren,
wir lassen Hass selbst reden: . . Vnd wiewol der rate etwas mehr
zu quartalgelt auff die schuler gesatzt, nochdem sie itziger zeit (1536)
jn ordines adir (oder) classes gesundert, noch schicklikeit eines itz-
lichen (je nachdem ein jeder im stände ist), also das die primj ordinis
Viij grosschen, die andern secundi ordinis Vj gr. etc., do vor alders
einer XVij dn. gegeben, so haben doch die col laterales , baccalarius
senior, junior, cantor etc. doraus nicht mögen versoldet werden . .
dorumb ein rathe alle quartal bisz jn X. mr. hat zubussen mossen.'
derselbe brauch findet sich sehr häufig; am nächsten liegt uns das
beispiel, welches die Bautzener Schulordnung vom jähre 1418 bietet;
bei allen Zahlungen, welche die kinder an die lehrer zu leisten hatten,
werden stets drei vermögensclassen unterschieden, und es wieder-
holen sich die worte: reiche oder wohlhabende, mittelmäszige oder
mittelmäszig habende und arme kinder (einige male auch nur : die
reichen und armen kinder). — Über die bei Hass neu erwähnten
M Schütt a. o. 8. 10 fuhrt zwar aus Tzachoppe a. o. 8. 18 anm. •), um
nachzuweisen, dasz die Görlitzer lehrer aus dem verkauf von bücheru
gewisse einnahmen hatten, mehrere dieser art an; er hat sich dabei aber
versehen, denn Tzschoppo nennt aus Knauthe, Von denen Schulbüchern
usw. s. 6 die bücher der Bautzener Schulordnung, wobei er allerdings
auch schon meint, die Bautzener taxe dürfte allgemeine giltigkeit ge-
habt haben , was nach unseren anführungen a. 225 und anm. 32 unmög-
lieh ist. das Verzeichnis bei Schütt hat also für Görlitz einen unmittel-
baren wert nicht; übrigens hat sich Otto Kämmel, Joh. Hasa im laus,
mag. bd. 51 8. 212 durch Schütt zu demselben fehler verleiteu lassen.
84 herr rector Kämmel pflichtet mir jetzt bei.
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Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 229
bticher, die modi significandi und die dialectica Petri Hispani, vgl.
Fr. Haase, de medii aevi studiis philol. disput. Vratisl. 1856, s. 39,
Prantl, geschichte der logik im abendlande III s. 202. 215 f. 234,
Baebler a. o. s. 74 £f., besonders 8. 84 ff. betr. der modi signific;
und Prantl a. o. 8. 33. ausgaben bei Hain nr. 8677 ff., auch Bbcking,
suppl. zu Vir. Hutteni opp. II 1 s.393f., ferner Specht a. o. s.122 ff.,
besonders 8. 126 betr. der dialectica.
Noch ein lehrbuch lernen wir aus den annales Gorlicenses des
Mvlius kennen (Hoffmann, Script, rer. Lnsatic. I 2 s. 3), wo es heiszt:
'Exstat über Prosodiacus scriptus per Marti num Heintzchin de
Luckow in Schola Gorlicensi sub An. 1463. In eo autor, qui fuit
Ludimoderator scholae, pro exemplo metri heroici proposuit exem-
plum commendationem nrbis Gorlicensis.' dieses und ähnliche bücher,
wie der dritte teil des Doctrinale, wurden im grammatikunterrichte
verwendet, und zwar als anleitungen zur anfertigung der Dictamina
metrica. wie es allerdings damals mit der dichtkunst bestellt war,
läszt uns jene commendatio, die Heintzchin pro exemplo metri heroici
hinzufügte, deutlich erkennen, und nur deshalb überlieferte uns der
Chronist, der nachherige poeta laureatus, das mustergedicht, weil er
seine Verwunderung über eine derartige leistung nicht unterdrücken
konnte; er schrieb hinzu: 'Carmen adscribo ut videatur, qvae tum
fuerint studia scholarum. Lex autem syllabarum passim neglecta
est.' dasz dieser Uber prosodiacus einmal in der Görlitzer schule
zum Unterricht benutzt wurde, ist, obwohl es nicht ausdrücklich be-
zeugt wird, doch anzunehmen35 ; und da wir einmal metrische Übungen
in der Görlitzer schule finden, so ist es bei dem groszen ansehen, in
welchem sie standen, wohl auch sicher, dasz man sie weiterhin bei-
behielt.
Über andere Unterrichtsfächer — Schütt nennt nach Knauthe,
von denen büchern s. 9 f. und Gjmn. Augustum s. 5 noch rhetorik,
ethik, religion, theologia genannt, und gesang, und Kämmel a. o.
folgt ihm zum teil — haben wir keine auf Görlitz bezügliche nach-
richten. bei den ersten zwei disciplinen (am meisten bei der ethik)
bleibt es zweifelhaft, ob sie in Görlitz vorgetragen wurden; bei den
beiden andern kann man allerdings das capitel ' De rectoribus scho-
larium et suis consocijs'der Statuta Synodalia Episcopatus Misnensis
Fol. XVII M verwenden, um, wie dies auch Knauthe thut, von denen
•* O. Kämmel a. o. s. 40 behauptet unter hinweis auf Hass' anoalen
III s. 806, Sulpitius de syllabarum quantitate habe in Görlitz zur ein-
übung der metrik gedient; Haas spricht aber weder an der angegebenen
stelle noch irgendwo anders von diesem Sulpitius. Kämmel ist vielleicht
durch Knauthe, von denen Schulbüchern usw. s. 9 verleitet worden, wo
es heiszt, dasz rin der poesie sonst Sulp, de qu. s. gebräuchlich gewesen
sei. in der Görlitzer schule habe der meister nach seinen eignen Sätzen
(mit bezug auf Heintzchin) die dichtkunst vorgetragen.1 aus Kuauthes
'sonst' wird bei Tzschoppe s. 14 'in der Oberlausitz'.
u ... per Melchiorem Lotter in famoso oppido Liptzk sunt impressa
a. d. 1504; die Leipziger Universitätsbibliothek besitzt ein exeroplar
dieses seltenen buches.
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230 Beiträge zur geschiebte des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
büchero usw. 8. 9 f., zu behaupten, dasz sie während unseres Zeit-
raumes in den lehrplan aufgenommen waren, dies wissen wir zwar
schon — nach unseren ausfuhrungen stand ja die schule, wo es sich
um den gottesdienst handelte, in engster Verbindung mit der kirche,
— allein das bemerkenswerte und neue in jenem capitel ist, dasz
vor einem zuviel auf das entschiedenste gewarnt wird: 'Item quan-
tum in nobis est volentes modis quibus possumus errores et negli-
gentias in nostra dyocesi tollere, deliberatione provida duximus
inhibendum rectoribus scholarium in studijs particularibus succen-
toribus locatis et collaboratoribus eorundem sub pena suspensionis
ab ingressu ecclesie, Ne de cetero in ipsorum scholis seu locis alijs
quibusuis preterquam in studijs priuilegiatis librossacrepagine
atque iuristarum legant aut declarent publice vel occulte, ymo in
studio arcium liberalium stent contenti . . . (daraus entspringen
grosze gefahren) et quod potius hereses exinde possent pollulare
Expositionem tantum Evangeliorum Epistolarum Hymnorum et se-
quentiarum in materna lingua fleri permittimus.'
In den anfang des 16n Jahrhunderts gehören die zwei letzten
Zeugnisse , welche uns sagen , dasz in Görlitz und in Lauban damals
auch schon in der griechischen spräche unterrichtet worden ist.
Es ist bekannt, dasz die griechische spräche während des mittel-
alters in Deutschland nicht nur nicht zu den Unterrichtsfächern ge-
hörte, sondern überhaupt eine 'gelehrte Seltenheit' war. erst R. Agri-
cola (f 1485) und vor allem Reuchlin (f 1522) und Erasmus (f 1536)
haben das griechische in die deutschen schulen gebracht, mit dieser
einfuhrung gieng es freilich sehr langsam, da nicht nur lehrer heran-
gebildet, sondern auch bUcher besorgt werden musten; aber gegen
1520 konnte man doch schon auf den deutschen Universitäten (ob
auf jeder, wie Paulsen behauptet, möchten wir bezweifeln), etwa 30
bis 40 jähre später in so ziemlich allen gymnasien griechisch lernen.37
mit ganz schüchternen versuchen, das griechische von der Univer-
sität in die schule zu verpflanzen, haben wir es hier zu thun. es ist
der spätere Goldberger rector Valentin Friedland Trozendorff, der
in Görlitz seine erste Schulbildung genosz, 1513 nach Leipzig gieng
und unter Petrus Mosellanus im latein sich vervollkommnete und
von Richard Crocus griechisch lernte; da letzterer 1515 nach Leipzig
gekommen war, Trozendorff aber von 1516 an in Görlitz lehrte,
so wird er dessen griechischen Unterricht höchstens ein jähr ge-
nossen haben (Manlius, comment. rer. Lus. VII, IV s. 438 ist zu be-
richtigen), diese zeit genügte, und wenn sie noch kürzer gewesen
wäre, denn mit einem wahren feuereifer stürzte man sich auf die
neuen Studien, mit begeisterung hörte man des Crocus Vorträge,
»7 vgl. z. b. Voigt, Wiederbelebung des elass. altertums bd. II s. 104 f.,
Paulsen a. o. s. 41 ff., Specht a. o. s. 104 ff. Platter sagt von der zeit
um 1510: '. . . ward doch graeca lingwa noch nienert (nirgends) im
land . . (Boos a o. s. 23).
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Beiträge zur geschiebte des höh. Schulwesens in der Oberlauaitz. 231
jedes bonorar, jeder ort und jede stunde war den zuhörern recht. 88
mit solcher begeisterung kam der damals 26 jährige Trozendorff nach
Görlitz, der erste, welcher die griechische spräche dorthin brachte,
was sich in Leipzig bei der ankunft des Crocus ereignet hatte, wieder-
holte sich jetzt sicherlich im kleinen in Görlitz. Trozendorff unter-
richtete als bypodidascalos nicht nur die schüler, sondern machte
auch den rector und die Übrigen lehrer mit der griechischen spräche
bekannt und erklärte ihnen die damals neben den Äsopischen fabeln,
der Cyropaedie und der rede des Isocrates ad Demonicum viel ge-
lesene abbandlung Plutarchs 7T€pl ttcuowv äruJYtlc. indes nicht lange
blieb Trozendorff in Görlitz: er gieng schon 1518 wieder hinweg,
und zwar, durch Luthers auftreten bewogen, nach Wittenberg, sein
andenken blieb aber in Görlitz lebendig; denn wie Funcke in den
Görlitzer annalen erzählt, feierte man ihn 1590 dadurch, dasz man
sein bild am chor der Peterskirche anbrachte mit einer widmung,
deren hierher gehörige worte diese sind : f . . . Collegae infimo, minori,
supremo , primo docentium et discentium in eadem schola linguae
graecae Doctori . .
Wie so oft im vorhergehenden, sind wir auch hier gezwungen,
darüber, ob die griechische spräche nun im Unterricht beibehalten
wurde, Vermutungen anzustellen, und auch hier ist es nach dem,
was oben im allgemeinen über die Verbreitung des griechischen ge-
sagt wurde, geraten, nicht zu weit zu gehen und höchstens anzu-
nehmen, dasz in der folgenden zeit nur hin und wieder männer an
der Görlitzer schule unterrichteten , welche diese spräche kannten,
bisVincentius im jähre 1565 dem griechischen auch in Görlitz einen
festen platz im Unterricht anwies.
Von Lauban wissen wir endlich nur, dasz man etwa in den
jähren 1520 ff. Unterricht im griechischen erteilte; denn es heiszt in
Wiesners annalen s. a. 1520, dasz Joachim Knemiander (Hosemann,
geb. 1506) 'in seinem Patria allhier bis ins 16e Jahr seines Alters
in die Schule gegangen ist, und dasz er bei seinen Praeceptoribus,
IL Oswaldo Pergenawer, Franco, und M. Iugelio von Zwickau, die
lateinische und griechische Sprache ziemlich begriffen, und sich auf
die Musik sehr geleget', als er sich dann 1522 nach Wittenberg
begab , habe er von Jugelius ein empfehlungsschreiben an Melanch-
thon" erhalten, mit dem er dann wobl in Verbindung blieb, da ihn
dieser für das Bautzener rectorat empfahl.
M vgl. Böhme, de litteratura Lipsiensi opuscula academ., Leipzig-
1779, s. 167—186 (de Rieh. Croco Britanno Graecar. litterar. in Acad.
Ups. instauratore commentatio), besonder« 8. 173. 176, auch s. 13 f. und
8. 200 (Kichardi Croci Britanni encominm Academiae Lipsiensis).
39 eine Vermutung möge wenigstens an diesem orte ausgesprochen
werden: als lehrer Knemianders werden Pergenawer und Jugelius er-
wähnt, beide waren rectoren, jener von 1518—1522, dieser von 1522 an.
da Knemiander ßartholomäi, also am 24 august 1522 Lauban verliesz
(nach Wiesner), so ist es immerhin möglich, wie die aunalen behaupten,
daiz er den Unterricht des neuen rectors genosz; vielleicht war es eben
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232 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesen^ in der Oberlausitz.
Was wir durch die vorausgehende Untersuchung gewonnen
haben, ist kurz zusammengefaszt folgendes: die schulen der ober-
lausitzischen Sechsstädte waren ursprünglich kirchliche anstalten, in
ihnen wurde nur das getrieben, was für den gottesdienst nötig war:
lesen, singen, auswendiglernen der gebete und liturgischen formein,
demente des latein. diese gegenstände wurden in den schulen bei-
behalten, als sie sich in städtische oder ratsschulen verwandelten
(parvae scholae). gewisse anlässe bedingten sowohl Störungen in
der Weiterentwicklung der schulen, als auch erweiterungen. wir
nahmen an, dasz das ohnehin noch auf schwachen fttszen stehende
Schulwesen infolge von kriegen, epidemien, stadtbränden u. a. für
kürzere oder längere zeit darniederlag. wir erfuhren aber auch, dasz
die schulen der beiden führenden Sechsstädte Bautzen und Görlitz
besonders emporstrebten (maiores scholae). Bautzen zeigte schon in
dem beginnenden 15n jahrhundert eine erweiterung des unterrichte
im latein, während wir den Unterricht in einer der beiden andern
artes des triviums oder in beiden als möglich hinstellen konnten,
in Görlitz wurde am ende desselben jahrhundert s grammatik in aus-
gedehntem masze und dialektik, vielleicht auch etwas rhetorik ge-
trieben, der Unterricht im griechischen fand in der ersten hälfte des
16n Jahrhunderts eingang in die Görlitzer und Laubaner schule.
dieser, der (bekannt mit Melanchthon, vielleicht sein schaler, vgl. oben
das empfehlungsschreiben) die griechische spräche nach Laaban brachte.
Pergenawer wenigstens verhielt sich den Wittenbergern gegenüber ab-
lehnend, vgl. laus. mag. bd. 36 s. 145 ff.
(fortsetzung folgt.)
Dresden. H. Heyden.
22.
DIE REIFEPRÜFUNG AN DEN PROGYMNASIEN.
Aufs. 419 ff. des vorigen jahrgangs der Zeitschrift für gymnasial-
wesen hat K. Schirmer in Eschwege eine darstellung der unterrichts-
verhältnisse an progymnasien gegeben, die meines erachtens durchaus
nicht allgemeine gültigkeit beanspruchen kann, auch seine forderung
die reifeprüfung an jenen anstalten aufzugeben kann ich als berech-
tigt nicht anerkennen, auch nicht zugeben, dasz alle die umstände,
welche nach seiner meinung die leistungen der progymnasialsecunda
und der aus ihr hervorgehenden primaner ungünstig beeinflussen
sollen, wirklich zutreffen oder unvermeidlich sind, ich glaube im
interesse der progymnasien zu handeln , wenn ich aus meiner erfah-
rung heraus eine abwehr des Schirmerschen aufsatzes versuche.
Wenn Zeitungen , familienjournale oder abgeordnete längst be-
grabene misstände und Verkehrtheiten des gymnasialen Unterrichts
wieder hervorholen, neue vermeintliche übel und gefahren entdecken
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Die reifeprüfung an den progyninasien.
233
oder wirkliche Schwierigkeiten aufbauschen , so ist man nachgerade
daran gewöhnt, betrübsamer aber ist es, dasz auch fachmänner in
ihren Versammlungen und sonstwo sich von Übertreibungen nicht
frei halten, dieser Vorwurf kann auch Sch. nicht ganz erspart wer-
den, wenn er die menge von gefahren bespricht, die der reifeprüfung
anhaften, denn viele müssen es wohl sein, da er mit 'z. b.' ihrer
drei anführt und durch ein 'u. s. w.' die meinung erweckt, dasz er
noch weit mehr kenne, sehen wir uns nun die von ihm genannten
'gefahren und nachteile ' an. die rgefahr gesundheitbedrohender Über-
anstrengung eines noch unvollkommen entwickelten körpers und
geistes' sei eine von denen, über die rwohl alle einig sind', gut;
dann musz man aber diese gefahr in den allermeisten fällen recht
geschickt vermeiden oder ohne besondere Schwierigkeiten und ohne
üble folgen überwinden können, oder wir Westpreuszen, ich meine
lehrer sowohl als schüler, müssen bessere menschen sein als die in
Eschwege und umgegend. denn die zahlreichen gy mnasial Abiturien-
ten , die ich gekannt oder gleich nach der prüfung zu sehen bekam,
erschienen so gesund und frisch, dasz man seine freude daran hatte,
und zu diesen gehörten auch — ohne unterschied von den andern —
meine früheren von unserem progymnasium abgegangenen schüler,
bei denen nach Sch. 'die sorge für die gesundheit in erhöhtem inasze'
gelten müste. dasz auch einmal — aber sehr selten — einer mit
etwas bleicheren wangen seinen besuch machte, ist richtig; es war
dann aber in der regel einer, der von jeher mit einem ganz vorzüg-
lichen sitzfleische ausgestattet war, der, obwohl er vieles wüste,
alles wissen wollte oder vielmehr keine ruhe fand, bevor er auch
das ihm genugsam bekannte noch etliche male der Sicherheit wegen
'repetiert' hatte, kurz einer, der es gar nicht nötig hatte zu 'ochsen',
ein solcher würde auch ohne prüfung schwerlich frischer aussehen,
die zweite gefahr, 'dasz hastig zusammengerafftes wissen, unterstützt
von der nur äuszerlichen gäbe (?) eines guten gedächtnisses , den
sieg davontrage über treue, anhaltende Pflichterfüllung', musz ich
völlig zurückweisen, denn dasz ein primaner mit durchschnitts-
begabung, der 'treu und anhaltend' gearbeitet, also doch auch durch-
schnittlich befriedigendes geleistet hat — sonst wäre er doch nicht
in prima — die prüfung nicht oder nicht zur rechten zeit bestehe,
sollte wohl ausgeschlossen sein, vorausgesetzt, dasz nicht blosz bei
ihm, sondern auch an seinem gymnasium immer nur die ehrliche
arbeit gegolten hat und auch in der prüfung alles nach Ordnung zu-
geht, wenn aber die niederlage eines solchen schülers in der bessern
prüfung besteht, die ein weniger fleisziger, aber reicher begabter
jüngling ablegt, so ist das eine erfahrung, die jener nicht früh genug
machen kann, und wir müsten uns glück wünschen , dasz wir noch
schüler haben, die nicht alles blosz ersitzen, solche aber haben es
gewis nicht nötig noch irgend welches wissen zum examen gedächtnis-
mäszig 'zusammenzuraffen', ein dritter fall, dasz ein unbegabter, für
gymnasiale Studien sich nicht eignender schüler in die prüfung ein-
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234
Die reifeprüfung an den progyinnasien.
träte, ist eigentlich nicht zu denken, denn wie ist es möglich, dasz
ein solcher überhaupt in die prima aufsteigt? oder wenn ihn die
prüfungscommission eines armseligen progymnasiums unter den
auspicien des königlichen provinzialschulrats mit dem primaner-
zeugnis ausgestattet hat, oder wenn er gegen den rat seines rectors
ins praktische leben zu treten die prima beglückt hat, wie durfte er
nach oberprima versetzt werden? jedenfalls würde ein solcher durch
seine leistungen nie jenen ' sieg* davonzutragen im stände sein ; denn
mag er nun fleiszig gewesen sein oder nicht, wenn er sich auch ge-
schichtszahlen u. ä. 'zusammenraffen' kann, wie aber die aufsätze
liefern , die mathematischen aufgaben lösen , eine stelle aus Demo -
sthenes übersetzen? oder ist das irgendwo 'mit der äuszerlichen
gäbe des gedächtnisses' abzumachen? auch ein dritter nachteil, der
mit der maturitätsprüfung untrennbar verbunden sein soll, und zwar
der nach Sch.s ansieht gröste, wird sich weiter unten als nicht so
sehr erheblich erweisen.
'Wenn nun auch diese oft beklagten Schattenseiten der reife-
prüfungen den überwiegenden vorteilen gegenüber bei vollanstalten',
meint Sch., 'nicht in betracht kommen können, so fragt es sich doch
sehr, ob bei den unvollständigen anstalten' — zunächst bei den
progymnasien — 'ein gleiches verfahren zweckmäszig sei.' Sch. be-
hauptet 'nein', den grund findet er in der Prüfungsordnung, die
für die progymnasien ganz dieselbe gültigkeit habe wie für die
vollanstalten, nur dasz in ihr überall für 'prima' einzusetzen sei
'secunda'; der obersecundaner habe sich also über den gesamten
Wissensstoff auszuweisen, welcher die lehraufgabe der untern classen
sei, und daher trete die prüfung dem schüler 'mit all der schreck-
lichkeit eines richtigen und ganzen examens' entgegen, und dies
Schreckgespenst bewirke bei den secundanern noch mehr als bei den
zwei jähre ältern primanern das streben nach anhäuf ung examinior-
baren Wissens, zerstöre die Sammlung und hingebung für den Unter-
richt; die die obere abteilung der secunda beherschende unruhe
ziehe, ähnlich wie in der prima, aber in noch höherem grade auch
die untere abteilung der ungeteilten classe in mitleidenschaft; der
memorierstoff mache die sache noch lebensgefährlicher als in der
prima, auch dies ist teils falsch, teils übertrieben, erstens gilt die
Prüfungsordnung der vollanstalten nicht buchstäblich für die
progymnasien, sondern ihre anordnungen finden sinnentspre-
chende anwendung, wie deutlich zu lesen ist, mit gewissen näheren
bestimmungen. unter diesen ist die erste (zu § 3) die wichtigste,
die meines erachtens einer mechanischen anwendung der Prüfungs-
ordnung vorbeugen, eine sinngemäsze herbeiführen wollte, es heiszt
da: 'zur erwerbung eines Zeugnisses der reife hat der schüler in den
einzelnen lehrgegenständen die für die Versetzung in die prima eines
gymnasiums erforderlichen kenntnisse nachzuweisen.' das habe ich
immer so aufgefaszt und bin auch durch Sch. nicht bekehrt worden:
«der obersecundaner des progymnasiums soll das wissen und leisten,
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Die reifeprufung an den progymnasien.
235
was der obersecundaner einer vollanstalt bei der Versetzung in die
prima wissen und leisten musz, d. b. also, er soll den cursus der
obersecunda oder meinetwegen der secunda genügend beberscben,
und seine lehrer haben — viel mehr als er selbst — dem königlichen
commissariu8 das nachzuweisen, wer verlangt nun wohl von einem
gymnasialobersecundaner , dasz er 'sich über den gesamten Wissens-
stoff ausweise , welcher die lehraufgabe der fünf untern gymnasial-
classen ist'?! wer kann das verlangen? niemand — und meiner
ansieht nach ebenso wenig wie es verlangt werden kann, dasz der
Oberprimaner sich Uber den gesamten Wissensstoff aller classen aus-
weise, überdies gibt ja die Prüfungsordnung für progymnasien den
(m&szstab' für die beurteilung der schriftlichen und mündlichen
leistungen nicht näher an, wie sie es doch für die vollanstalten in
§ 3 thut ; sie beschränkt sich ihren eingangsworten entsprechend
auf den oben citierten satz. sie konnte auch keine eingehendere be-
stimmung treffen , da in den gymnasien der monarebie und der ein-
zelnen provinzen die anforderungen nach den lebrplänen der ein-
zelnen anstalten nicht völlig gleich sind, ganz selbstverständlich,
da die ministeriellen lehrpläne vom jähre 1882 zwar die ziele des
gymnasiums, aber nicht die der einzelnen classen, z. b. nicht die der
secunda bestimmen, also haben sie auch den lehrplan der progym-
nasien nicht ausführen können, sondern sich so kurz wie klar auf
den satz beschränkt: 'ihr lehrplan ist dem der gymnasien in den ent-
sprechenden classen identisch, ihr lehrziel bildet die reife für die
prima eines gymnasiums.' was will man mehr? seine meines er-
achtens falsche auslegung der Prüfungsordnung begründet Sch. mit
dem zusatze zu § 11 , indem er sagt: 'der prüfling hat sich . . über
den gesamten Wissensstoff auszuweisen, welcher die lehraufgabe der
fünf untern gymnasialclassen ist, wie denn z. b. bei geschieh te und
mathematik ausdrücklich bemerkt wird, dasz sich die prüfung nicht
etwa auf das lehrpensum der secunda beschränken darf.' der zusatz
zu § 11 bestimmt allerdings : die prüfung in der geschiente und in
der mathematik darf sich nicht auf das lehrpensum der secunda be-
schränken, aber gerade dadurch, dasz zwei gegenstände als die-
jenigen genannt werden, in denen bei der prüfung andere lehrpensen
als das der secunda behandelt werden sollen, wird zweifellos für die
andern fächer auf diese forderung verzichtet, es beweist also der
§11 gerade das gegenteil von dem, was Sch. aus ihm herausliest,
indem er sein verhängnisvolles 'z. b.' hinzufügt, daher ist z. b. für
die prüfung in der religion keinerlei auszerordentliche 'repetition'
nötig; der obersecundaner hat sich über das pensum der secunda
auszuweisen, das natürlich vieles aus dem der untern classen in sich
schlieszt, und der lehrer, der dieses wissen seines prüflings ohne
auszerordentliche Wiederholungen nicht erreichen kann, müste be-
seitigt werden, aber selbst für mathematik und geschichte ist in
§ 11 nicht die borrible forderung aufgestellt, die Sch. findet, dasz
der schuler 'sich über den gesamten Wissensstoff der fünf untern
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236 Die reifeprüfung an den progymnasien.
classen ausweisen soll', denn es ist in dem § 11 nicht gesagt, dasz
auch über das pensum der tertia, quarta usw. eingehend geprüft
werden soll; es ist nirgends angegeben, wie weit sich die unter
das lehrpensum der secunda hinuntergehende prüfung erstrecken
soll, offenbar hat der paragraph einen sehr guten sinn und wenig-
stens für die geschiente seine volle berechtigung : er will verhindern,
dasz über dem 'einpauken' der griechischen und römischen geschiente
zu examenszwecken die vaterländische geschichte zu kurz komme,
was besonders für die in das praktische leben tretenden prüflinge
sehr bedauerlich wäre, und gibt dem prüfungscommissarius das
recht nachzufragen, ob die schüler etwas von dem deutschen ritter-
orden, von Feh r bell in, Leuthen und Sedan wissen, aber ver-
pflichtet ihn nicht, sich die regierungsjahre der Luxemburger,
Habsburger u. ä. aufsagen zu lassen, wenig freilich zu bedeuten
scheint mir § 11 für die mathematik: denn wie die mündliche und
schriftliche prüfung in latein und griechisch auch die lehraufgaben
der mittleren und unteren classen mitberühren musz, so weist der
prüfling , wenn er seine mathematischen aufgaben genügend gelöst
hat und die fragen aus dem pensum der secunda genügend beant-
wortet, damit auch hinreichend nach, dasz er in den früher be-
handelten gebieten bescheid weisz und mit dem 'gehabten' umzu-
gehen versteht; schon dadurch ist also die forderung erfüllt, dasz
sich die prüfung nicht auf das lehrpensum der secunda beschränken
soll , und es bedarf keiner besondern probe.
Es ist also von dem 'Schreckgespenst' nicht viel übrig geblie-
ben, wenn freilich die Prüfungsordnung von einem lehrercolleg so
verkehrt aufgefaszt und ausgelegt wird, 'ist es zu verwundern, dasz
bei dem weniger freien blick besitzenden secundaner dieselbe er-
schein ung auftritt'? dann ist es denkbar, dasz der von Sch. genannte
dritte nachteil sich bemerkbar macht, 'der Unterricht des letzten
jahres, weil ihm von vielen Schülern in verzeihlicher kurzsichtigkeit
geringere bedeutung beigelegt wird als dem banausischen arbeiten
auf das examen, um den besten teil des erfolges gebracht, wenn
nicht gar völlig verdorben wird', 'dasz unter der die obersecunda
beherschenden unruhe auch die untersecunda leiden musz'; es ist
auch nicht ausgeschlossen, dasz durch die Vorbereitung auf die prü-
fung Überanstrengung eintritt, ich habe von einer unruhe in secunda
sehr wenig bemerkt; in der untern abteilung wäre sogar eine gröszere
beweglichkeit meist recht wünschenswert, aber auch in der ober-
secunda hat unser Unterricht unter den bevorstehenden schrecken
des examens kaum gelitten, in dem ersten halbjahre des obersecun-
danerpensums erfreut sich vielmehr der schüler der oberen abteilung
einer gewissen ruhigen Überlegenheit, wenn sich der Unterricht, wie
in der ungeteilten secunda natürlich, mehr den neuversetzten zu-
wendet, aber auch im winter tritt erst nach neujahr eine gewisse
Spannung ein, wie sie ja wohl vor jeder prüfung auch dem gereif-
teren eigen ist, doch sie beeinfluszt den classenunterricht nicht und
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Die reifeprüfung an den progyinnasien.
237
läszt sich mit einigen hausmitteln erbeblich mildern, der — natür-
lich mit humaner vorsieht nach obersecunda versetzte — schüler
kennt die oben entwickelte auffassung der Prüfungsordnung und
den Charakter des examens; er weisz, dasz er seine pflicht auf das
gewissenhafteste erfüllen musz; er weisz, dasz ihm in diesem falle,
aber auch nur in diesem, das bestehen der prüfung in sicherer aus-
sieht steht; er weisz, dasz von ihm keine willkürlich gewählte probe-
leistung in der prüfung gefordert wird, dasz die prüfungsaufgaben
nicht über das niveau der classenarbeiten des letzten halbjahres
hinaus (eher etwas hinunter) gehen und in organischem zusammen-
hange mit dem classenunterrichte stehen; er hat das alles seit jähren
durch die früheren prüfungen bewährt gefunden : er hat daher nicht
nötig für seine Versetzung zu fürchten, zumal wenn ihm zu michaelis
und zu Weihnachten sein Üeisz anerkannt und seine leistungen als
genügend und besser bescheinigt werden, denn er weisz schließ-
lich auch, dasz, falls irgend eine arbeit misglttcken sollte, dieser Un-
fall nach der weisen Prüfungsordnung nicht unbedingt ein nicht
genügend' in dem betreffenden gegenstände oder gar ein 'nicht be-
standen' zur folge hat; weil er aber nicht zu fürchten hat, hat er
auch nicht nötig zu 'repetieren' oder vielmehr der lehrer ihn nicht
repetieren zu lassen — denn sicherlich würden die schüler sehr wenig
wiederholen, wenn nicht der lehrer den befehl, den wünsch äuszerte,
überhaupt eine mehr oder minder nachdrückliche anregung gäbe,
das gilt für die andern fächer, das gilt auch für die religion, obwohl
wir hier für die in das praktische leben tretenden schüler eine kurze
darstellung der hauptepochen unserer kirchengeschichte in den lehr-
plan der secunda eingefügt haben, hoffentlich wird unsere nächste
ost- und westpreuszi9che directorenconferenz den evangelischen
religionsunterricht noch mehr von allen Uberflüssigen einzelheiten
und von jeglichem belastenden, dem lehrgegenstande schädlichen
gedächtniskram befreien, auch der geschichtslehrer hat die pflicht
und der verständige und leistungsfähige sicher auch die möglichkeit
auszerordentliche, den schüler übermäszig anstrengende repetitionen
zu vermeiden, mindestens kennt er die ministerialverfügung vom
22 märz 1889, in der es heiszt: 'übrigens finde ich es mislich, wenn
repetitionen für die prüfung seitens der fachlebrer veran-
staltet werden, das gymnasium wird hierdurch leicht dem vorwürfe
ausgesetzt, Schaustücke bereit zu stellen, und es werden auch solche
schüler, die das gymnasium sicheren ganges durchschritten haben,
oft monate hindurch in einer geist und körper bedrohenden weise
angestrengt, ohne dasz der ihnen zugemutete ged&chtnisstoff ihre
bildung erweitern oder auch nur ihr wissen mehr als vorübergehend
vermehren kann, ich musz wünschen, dasz einem derarti-
gen treiben die handhabung der mündlichen prüfung
mit beharrlichem nachdruck steuern möge, wenn der
königliche commissar in der mündlichen prüfung die
Darlegung von kenntnissen zurückweist, die, statt sich
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238
Die reifepriifung an den progymnasien.
als der natürliche erwerb einer geziemend benutzten
Schulzeit zu kennzeichnen, nach beschaffenheit und um-
fang lediglich für die prüfung angeeignet sein können,
so wird dies nach zwei Seiten von vorteil sein ; es wird hiermit einer-
seits der prüfung der ernst, womit sie namentlich auch im hinblick
auf den gegenwärtig unzuträglichen andrang zu Universitätsstudien
ausgeführt werden musz, gesichert und einer tiefer eindringenden
Würdigung der prüflinge räum gewonnen, anderseits aber verhütet
werden, dasz der beschlusz der Schulzeit unter einem ängstlichen und
hastigen zusammenraffen des verschiedenartigsten wissens verküm-
mere und eine unnatürliche ermüdung derjenigen erzeuge, die im
begriffe sind zu hochschulstudien überzugehen.' da also der ge-
schichtslehrer weisz, dasz der schulrat derlei gedächtnismäszig zur
prüfung zusammengerafftes wissen zurückweisen soll, darf er nicht
fürchten , dasz gewisse lücken in dem vor der secunda gewesenen
pensum ihm zum Vorwurf gemacht werden können, freilich 'wieder-
holen' musz er, das erfordert die natur seines gegenständes, er kann
das aber sehr gut im classenunterrichte der obersecunda , wenn er
sein lehrpensum den lehrplänen von 1882 gemäsz von unnützen,
lediglich belastenden einzelheiten und nebensächlichkeiten frei hält,
dort heiszt es, wie auch in der Prüfungsordnung: 'der schttler
musz die epochemachenden begebenheiten der Weltgeschichte,
namentlich der griechischen, römischen und deutschen sowie der
preuszischen geschichte , im Zusammenhang ihrer Ursachen und Wir-
kungen kennen und über zeit und ort der begebenheiten sicher
orientiert sein.' wenn sich der geschichtslehrer dieser aufgäbe be-
wust bleibt, wenn er sich darauf beschränkt, die epochemachen-
den begebenheiten der Weltgeschichte, nicht die für die Schicksale
einzelner Völker und Staaten, sondern die für die heutige cultur und
für die staatenbildung unserer zeit entscheidenden ereignisse der Ver-
gangenheit im Zusammenhang ihrer Ursachen und Wirkungen vor-
zutragen, so hat er in secunda vollauf zeit neben der griechischen
und römischen geschichte die wichtigsten Schicksale und t baten des
Vaterlandes zu wiederholen, wie sie in der tertia erzählt sind, aller-
dings musz er, wenn er römische geschichte vorträgt, z. b. darauf
verzichten den streit zwischen plebs und patriciat, so wichtig für
Rom und so interessant er für den historiker sein mag, in allen seinen
einzelheiten und Stadien vorzutragen, sondern sich begnügen die Ur-
sachen darzulegen und eine kurze übersieht der hauptetappen zu
geben, auf denen die plebs zu ihrem ziele gelangte; er wird die folgen
der gleichstellung zu entwickeln haben und darlegen, wie in ihr die
keime zu den Gracchischen unruhen und den bürgerkriegen liegen,
während die entwicklung Roms zur herscherin über Italien mit eini-
gen scharfen strichen gezeichnet wird , aber nicht die einzelheiten,
z. b. die acuten veranlassungen der einzelnen Samniter- usw. kriege
vorgetragen und gefordert werden — denn das ist locale, italische
geschichte — musz Roms kämpf um die herschaft des Mittelmeers,
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Die reifeprüfung an den progymnasien.
239
sein sieg über Karthago und Griechenland, sein emporwachsen zur
weltbeherschenden macht ausführlicher durchgenommen werden, da-
gegen ist eine ebenso genaue darstellung der inneren kämpfe von
den Gracchen ab weder nötig noch spricht sie das jugendliche gemtit
an; es musz der versuch gentigen dem schüler ein bild der Caesari-
schen zeit zu geben, durch das er befähigt wird die gründung der
monarchie und die entstehung und Verbreitung des Christentums zu
verstehen, die einrichtungen des kaisers Augustus , die starke und
schwache des römischen kaiserreichs sind viel wichtiger als die kriege
zwischen Marius und Sulla, die mit Jugurtba usw. wenn der ge-
schichtslehrer sich auf die weltgeschichtlich bedeutsamsten ereignisse
beschränkt, wird er genügende zeit haben gewisse hauptabschnitte
der griechischen geschieh te , die im jähre vorher in ähnlicher weise
vorgetragen ist, zu wiederholen, ohne extrastunden zu bilfe zu
nehmen und ohne die schüler zu belasten, aber die messenischen
kriege gehören ebenso wenig dazu wie die einzelheiten der kämpfe
zwischen den griechischen städten um die vorherschaft von 404 — 338,
dagegen sehr die Perserkriege, die cultur des Perikleischen Zeitalters,
auch die hauptschläge des peloponnesischen krieges , ferner der zug
der zehntausend und nach einer kurzen Würdigung des Agesilaus
und Philippus Alexander der grosze und seine weltgeschichtliche be-
dentung. dann findet sich auch räum für die Wiederholung der wich-
tigsten ereignisse der vaterländischen geschiente, der wichtigsten,
sage ich; denn in prima bekommt der schüler die deutsche geschiente
noch einmal zu hören, aber es ist angemessen, dasz auch der ober-
secundaner sieb über Preuszens werden und seine Stellung in Deutsch-
land auslassen kann — notabene vom Standpunkte des tertianers,
aber er soll nicht den ganzen bailast der geschiente des römischen
reichs deutscher nation von Ludwig dem Deutschen bis Franz II
mit sich herumtragen, der alte Barbarossa ist ja nun wohl vor
zwanzig jähren endgültig eingeschlafen; störe man also seine ruhe
möglichst wenig, aber auch in der preuszischen geschiente bedarf
es bis zum groszen kurfürsten für den tertianer und secundaner nicht
der einzelheiten. unter solcher beschränkung kann der geschieh t3-
lehrer die anforderung der Prüfungsordnung durchaus erfüllen und
seine schüler mit in der that wertvollem wissen ausstatten ; er macht
sich dann auch nicht des in jener ministerialverfügung mit recht ge-
geiszelten 'treibens* schuldig, auch für diesen Unterricht hoffe ich
von der nächsten ost- und westpreusziseben directorenconferenz eine
durchgreifende besser ung.
Ich leugne also, dasz die Prüfungsordnung zu verkehrten frepe-
titionen' zwingt und den Unterricht der prima in vollanstalten , den
der secunda in progymnasien (oder wenigstens den der oberen ab-
teilnngen) durch beunrohigung der schüler zu verkümmern nötigt:
wo das geschieht, liegt die schuld wo anders, z. b. in der falschen
anslegnng oder anwendung der Prüfungsordnung.
Auch der folgenden ausführung Sch.s kann ich nicht durchweg
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Die reifeprüfuug an den progyinnasien.
beistimmen, zuzugeben ist, dasz 'die abiturienten der progymnasien
in der prima in der regel unter veränderten häuslichen Verhältnissen,
bei neuen lehrern und mitschülern, bei vielfach neuen Schulbüchern
einen schweren stand haben', die hauptschwierigkeit scheint mir
vergessen: dasz, wenn auch im groszen ganzen die lehrpläne über-
einstimmen, doch auf allen gebieten ab weichungen statthaben müssen,
und diese, weil ihrer in der lateinischen Stilistik, der deutschen,
lateinischen , griechischen lectüre, der französischen grammatik und
vor allem im mathematischen pensum viele sind, dem jungen pri-
maner es erschweren werden überall den anschlusz in der weise zu
gewinnen, wie die aus obersecunda versetzten, dazu kommt, dasz
die lehrer der prima auf diese Schwierigkeiten des 'progymnasiasten*
selten rücksicht nehmen, mehrfach wohl auch durch die frequenz der
classe daran gehindert werden, dasz aber — abgesehen von den
abweichungen der lehrpläne — die abiturienten der progymnasien an
kenntnissen und leistungen ihren neuen mitschülern nachstehen,
kann ich aus meiner erfahrung nicht bestätigen. Sch. sagt: 'ver-
möge der eben nach mühevoller Vorbereitung abgelegten reifeprü-
fuug am progymnasium verfügen sie zwar über ein stattliches wissen
in geschichtlichen und andern dingen , von denen ihre neuen mit-
schüler meistens nur traumhafte erinnerung sich bewahrt haben; aber
es hilft ihnen nichts , sie werden nicht danach gefragt und der ge-
legenheit sich einmal auszuzeichnen nicht einmal in diesen dingen
teilhaftig.' das erscheint wenig glaublich und ist auch in der that
nicht so. mir haben meine alten schÜler wiederholt mitgeteilt, dasz
sie eine gröszere präsenz 'geschichtlicher und anderer dinge' besaszen
und dasz sie sich hierin häufig ihren mitschülern überlegen gezeigt
haben, das ist für die geschiente auch ganz natürlich, da ja in der
prima die deutsche geschiente, die jene im auszuge so eben wieder-
holt haben, von neuem vorgetragen wird, da in der einleitung und
der lectüre der antiken schriftsteiler fortwährend griechische und
römische geschichte behandelt wird, aber 'um so empfindlicher
spüren sie es jetzt, was sie in der Übung der sprachen in der pro-
gymnasialsecunda mit ihrer durch examensorgen geteilten aufmerk-
samkeit, auch wohl durch die nach der prüfung folgende zeit wirk-
lich oder vermeintlich notwendiger erholung versäumt haben', für
unsere anstalt leugne ich eben die Voraussetzung, auf der diese be-
bau ptung begründet ist; jedenfalls aber habe ich festgestellt, dasz
die abiturienten unseres progymnasiums gerade im deutschen, latei-
nischen und griechischen durchschnittlich ihren neuen mitschülern
ebenbürtig gewesen sind, ja nicht ganz selten sie übertroffen haben,
wenn sie hier und da geklagt haben, so betraf das in der regel die
französische spräche und die mathematik, die erstere, weil von ihnen
in der prima leider grammatische quisquilien verlangt wurden, die
wir ihnen auch dann erspart hätten, wenn wir eine geteilte secunda
hätten , mehr noch die letztere, hauptsächlich deshalb, weil von den
schtilern die kenntnis gewisser gebiete gefordert wurde, die wir von
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Die reifeprüfung an den progynmasien.
241
unserm lehrpensum der secunda ausscblieszen müssen , z. b. Stereo-
metrie, auch die erfolge der abiturientenprüfung bestätigen das ge-
sagte, von den in den jähren 1883—88 mit dem primanerzeugnis
abgegangenen schulern unseres progymnasiums haben zwei drittel
nach ablauf von zwei jähren ihre reifeprüfung bestanden , mehr als
die hälfte davon — also etwa ein drittel der ganzen zahl — ist von
der mündlichen prüfung befreit worden, etwa ein drittel bat mehr
als zwei jähre gebraucht und zwar, so viel ich weisz, alle mit einer
ausnähme 2 \ 2 jähre, diesem einen hatte ein höherer die reife für
die prima, die ich ihm bestritt, zugesprochen, drei unserer schüler
sind während des primacursus ins praktische leben eingetreten, ich
wei3z nicht, ob das Verhältnis der an den vollanstalten nach prima
versetzten obersecundaner günstiger ist; aber im hinblick auf die
ausstände, die in der that der Wechsel der anstalt für die scbüler des
progymnasiums mit sich bringt, halte ich unser ergebnis für genügend,
zumal eine nicht geringe zahl unserer abiturienten auch in- grosz-
städtischen anstalten sich gut bewährt hat. natürlich haben wir
unsere jungen auch nach der prüfung bis zu ihrer meist am tage des
jabresschlusse8 erfolgten entlassung in der schule behalten und an
den arbeiten der andern fast ganz in der gewohnten weise teilnehmen
lassen, der 'wirklichen* erholung bedürftig scheint keiner bisher
gewesen zu sein, da keiner um urlaub nachgesucht hat; zwei bis drei
tage haben wir von selbst den auswärtigen scbülern gegeben, um die
eitern zu besuchen und etwa den Wechsel der anstalt vorzubereiten,
so wurde weder vor noch nach der prüfung durch diese die arbeit
in irgendwie nennenswerter weise gestört, dasz ferner das erste
examen den 'progymnasiasten' für das zweite keinen nutzen bringen
sollte, kann ich mir nicht denken, z. b. nicht, dasz ihnen der früher
eingeprägte meniorierstoff gar nichts nützen oder gar schädlich sein
sollte, auch haben sie hoffentlich aus der prüfung gelernt, dasz es
damit nicht so schlimm ist, wie es manchem scheint, gesund sind
sie bisher gott lob geblieben.
Es ist also offenbar, dasz der Unterricht der ober- und unter-
secunda nicht oder bei weitem nicht in dem grade, den Sch. annimmt,
unter der prüfung zu leiden hat. es ist daher auch kein grund diese
fortfallen zu lassen, und wenn Sch. fragt, ob sie zu behalten ist,
weil sonst ungenügend vorbereitete schüler mit dem zeugnis der
reife für die prima entlassen werden würden, so musz ich das bejahen,
denn wenn, wie es nach seinen erfahrungen scheint, jetzt trotz der
controle des königlichen commissars es vorkommt, dasz ungenügend
oder, besser gesagt, verkehrt vorbereitete scbüler von den progym-
nasien in die prima eintreten, ist doch die gefahr vorhanden, dasz,
sobald diese allein maszgebende controle aufhört, die Vorbereitung
noch willkürlichere bahnen gehen wird, darin könnte die kritik,
welche über die progymnasialabiturienten in der prima von den
herren gymnasialprofessoren gefällt wird, selbst wenn sie noch
weniger nachsichtig würde, keine abhilfe schaffen — schon deshalb,
N.j»hrb.r.phil.D.plJ. ll.abt. 1S91 hfl. 5. 16
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242
Die reifeprüftiDg an den progymnasien.
weil selten festzustellen ist, ob sie eine richtige, berechtigte ist oder
nicht, und zweitens, weil es keine amtliche, keine von einem höhern
Standpunkte gegebene, keine alle anst alten derselben art umfassende
ist, sondern lediglich eine private, persönliche, einseitige, die, wenn
ich den heim director oder professor kenne und sein urteil schätze,
für mich lehrreich sein kann, die aber sonst in der regel das lehrer-
colleg des progymnasiums und zwar mit recht ziemlich kalt lassen
wtirde. auszerdem hat aber der staat, der für eine so kleine anstalt,
wie die progymnasien der mehrzabl nach sind , einen zuschusz von
12000 mark und mehr zahlt, für jeden abituriunten also jährlich
etwa 2 — 3000 mark ausgibt, doch wohl nicht allein das recht, son-
dern auch die pflicht zu prüfen, ob der junge das wert ist, was an
ihn gewendet ist. eine schluszprüfung wird aber, bis eine bessere
form gefunden ist, noch immer das sicherste mittel für die behörde
sein, die leistungen der sch'üler, der lehrer, der anstalten zu bestim-
men und zu vergleichen, Ubelstände abzuschaffen , anregungen zu
geben usw. und das angenehme ist dabei , dasz dies von mund zu
mund geschieht, nicht auf dem papier, das ja, wie man sieht, arg
misverstanden wird, auch die gefahr, die nach Sch. 'bei dem der-
maligen verfahren* aus der verkehrten anwendung des sogenannten
compensationsparagraphen erwachsen kann, fürchte ich nicht, min-
destens ist sein beispiel, dasz möglichenfalls trotz ungenügender
leistungen in latein und griechisch wegen guter leistungen im
deutschen und in der mathematik die reife für die prima zuge-
sprochen wird , unglücklich gewählt, denn der erste paragraph der
Prüfungsordnung lautet auf das progymnasium angewandt: zweck
der entlassungsprüfung ist zu ermitteln, ob der schüler dasjenige
masz der Schulbildung erlangt bat, welches das ziel der obersecunda
ist. das hat er aber auf einer humanistischen anstalt nicht, wenn
seine leistungen in beiden antiken sprachen ungenügend sind.
Aus diesen gründen bin ich der meinung, dasz die entlassungs-
prüfung für die progymnasien beizubehalten ist. gemütlicher würde
es in dem andern falle wohl werden, aber schwerlich besser, der
unfug freilich, dasz die obersecundaner der progymnasien ein halbes
jähr vor abschlusz ihres cursus in die obersecunda einer vollanstalt
eintreten, wird da, wo er herscht, wohl aufhören, aber möglichen-
falls kommen dann die obersecundaner der vollanstalten zu den pro-
gymnasien. mir ist übrigens der 'weitverbreitete unfug' so gut wie
unbekannt geblieben, während meiner hiesigen amtsführung ist, ob-
schon es hier 'streng' sein soll , kein einziger obersecundaner zu der
angegebenen zeit an eine vollanstalt abgegangen; ich glaube, einer
verliesz uns bei seiner Versetzung nach obersecunda, was doch sicher
vernünftiger ist, als ein halbes jähr später, kurz, es ist, zumal wenn
es möglich ist, dasz geschriebene Verordnungen so verschieden aus-
gelegt werden, sehr gut, dasz der provinzialschulrat die prüfung ab-
hält; möchte er nur jedes mal kommen.
Schwbtz a. W. Arthur Gronau.
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Chr. Herwig: griechisches lese- und Übungsbuch für tertia. 243
23.
db. Chr. Herwig, griechisches lese- und Übungsbuch für
tertia. Bielefeld und Leipzig, Velhagen u. Klasing. 1891. IV u.
118 B.
db. Chr. Herwig, vocabularium und regelverzeichnis zu dem
GRIECHISCHEN LESE- UND ÜBUNGSBUCHE FÜR TERTIA. Bielefeld
und Leipzig, Velhagen u. Klaaing. 1891. 161 s.
Den vom ref. in dieser Zeitschrift 1889 s. 113 ff. besprochenen
griechischen elementarbüchern mit zusammenhängendem Übungs-
stoffe schlieszt sich das lese- und Übungsbuch von Herwig an. der
verf. bat vollständig von einzelsätzen abgesehen, er bietet zunächst
32 griechische stücke ohne anlebnung an griechische originale ; dann
folgen 43 stücke, fast ausnahmslos bearbeitungen Herodoteischer er-
zahlungen (mit ausnähme der Perserkriege) enthaltend ; den schlusz
des griechischen Übungsstoffes bildet in 29 stücken eine darstellung
der me8senischen kriege nach Pausanias. besondere deutsche Übungs-
stücke erklärt der verf. in den beigegebenen (und unentgeltlich zu
beziehenden) Vorbemerkungen für sehr überflüssig, da der griechische
lesestoff durch beständige Variationen, retro Versionen und sonstige
Übungen so manigfach verarbeitet werden könne und solle, dasz für
anderweitiges übersetzen wohl kaum viel zeit übrig bleiben werde,
'am jedoch auch abweichenden anschauungen entgegenzukommen,
ist hinter dem lesebuche eine auswahl deutscher stücke gegeben
worden, die anfangs (stück 1—9) blosze Variationen von entspre-
chenden griechischen abschnitten sind, später aber den angeeigneten
sprachstoff an inhaltlich neuem material zur anwendung bringen,
auch diese stücke sind zusammenhängend und zum grösten teil aus
Herodot entlehnt.' dem princip des verf. stimmen wir aus den schon
in der oben erwähnten recension dargelegten gründen vollkommen
bei. wir haben selbst wiederholt die er fahrung gemacht, dasz Übungs-
stücke mit einzelsätzen, wenn sie wenigstens so einfache sätzchen
enthalten wie die so weit verbreiteten Wesenerschen bücher, wohl
die befestigung der formenlebre wesentlich unterstützen, aber eine
ganz ungenügende Vorbereitung auf die Anabasislectüre bilden, ganz
zu schweigen von dem geringen interesse , das die zusammenhangs-
losen sätze bei tertianern erwecken können, wir begrüszen also mit
freude diesen neuen versuch , den griechischen elementarunterricht
fruchtbarer und interessanter zu machen, um so mehr, als wir auch
mit der durchführung des princips uns in der hauptsache einver-
standen erklären können.
Die Übersetzungsstücke sind nach form und inhalt gleich lobens-
wert: im griechischen wie im deutschen ausdruck correct und ge-
fallig, in syntaktischer beziehung weder zu leicht noch zu schwer
und nach der stofflichen seite, je weiter sie vorschreiten, desto inter-
essanter, zweifelhaft ist uns nur, ob der griechische tibersetzungs-
stoff ausreichen wird, er umfaszt 75 Seiten , die seite mit höchstens
16*
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244 Chr. Herwig: griechisches lese- und Übungsbuch für tertia.
30 zeilent und davon sollen und können der Untertertia nur die
ersten 46 seiten (bis zu den verba liquida einschließlich) zufallen,
wir fürchten, dasz der gebotene stoff nicht genügen wird, um die
scbüler zu der erforderlichen gewandtheit im berübersetzen zu brin-
gen, wenn er auch in Verbindung mit den für Untertertia bestimmten
24 (im ganzen 41) seiten deutschen Übersetzungsstoffes und allen
möglichen Variationen, retroversionen und formübungen zur befesti-
gung der formenlehre ausreichen mag.
Selbstverständlich muste der verf., um zusammenhängenden
übersetzungsstoff zu gewinnen, abs chnitte aus der lehre vom v er bu m
vorausnehmen, so ist gleich im In, die masculina der o-declination
behandelnden stücke der ind. praes. act. der verba auf uj voraus«
gesetzt, im 5n (a-decl.) der coni. praes. act., im 7n der imp. praes.
act., im 9n der ind. fut. act., im lOn der ind., der inf. und das part.
praes. pass., im l In der coni. und imp. praes. pass., im I2n der ind.
und inf. fut. med., im 15n (dritte decl.) das impf, act., im 16n das
impf, pass., im 18n der ind. aor. act, im 2 In das part. praes., aor.
und fut. act., im 27n das augm. temp., im 28n der coni. aor. act.,
im 29n der imp. aor. act., im 30n (unregelmäszigkeiten der dritten
decl.) der inf. aor. act., im 31n der aor. med. auszer dem opt., im
33n der opt. praes. und aor. act., im 35n der opt praes. und aor.
med. es bleiben deshalb für den zweiten hauptabschnitt des buches,
der die regelmäszigen verba auf uj behandelt, nur übrig das praes.
und impf, der verba contracta, der per fect. stamm des activs, der
perfectstamm des passivs und der aoriststamm des passivs der verba
pura non contracta, die verba mit augment El, die regelmäszige
tempusbildung der verba contracta, die abweichungen von der regel-
mäszigen tempusbildung, die verba muta, die verba liquida, die star-
ken aoriste und perfecte der verba auf uu. wir sehen in dieser vor-
ausnähme des verbums nicht das geringste bedenken; auch wird es
keine Schwierigkeit machen, nach der durchnähme der mutastämme
der dritten decl. und des ind. fut. und aor. von TraibeOw die ent-
sprechenden formen von TreuTCUU, Xe-fuu und rreiOai bilden zu lassen,
auch mit der sonstigen anordnung des grammatischen Stoffes — am.
meisten weicht der verf., wie aus dem vorstehenden zu erkennen ist,
bei der behandlung des verbums von seinen Vorgängern ab — sowie
mit der teilung der einzelnen abschnitte — z. b. ist die dritte decl.
in 14 Unterabteilungen zerlegt — sind wir durchaus einverstanden;
nur will es uns nicht gefallen, dasz das ganze paradigma von biöuuui
und beiKVuai, von Tiönui und irjui und von iCTrjui in je einem stücke
zusammengefaszt wird, seltene und unclassische formen sind uns
nicht aufgestoszen, dagegen können wir rühmen, dasz geübte formen
in den späteren stücken ziemlich häufig wiederkehren.
Besondere Schwierigkeit bereitet in einem nur zusammen-
hängende Übersetzungsstücke enthaltenden Übungsbuche der Wort-
schatz, der natürlich gröszer sein musz als in Übungsbüchern, die
sich ausschlieszlicb oder vorzugsweise mit einzelsätzen begnügen.
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Chr. Herwig: vocabularium z. d. griech. lese- u. Übungsbuch f. tertia. 245
aber auch diese Schwierigkeit hat der verf. in seinem vocabular ziem-
lich glücklich gelöst, das vocabular beruht durchaus auf den (ver-
besserten) Perthesschen grundsätzen. ejede (einem lesestücke ent-
sprechende) nummer zerfällt in drei deutlich abgegrenzte teile, deren
erster die fest einzuprägenden vocabeln in groszer schrift enthält,
wahrend im zweiten die sonst noch vorkommenden (nicht systema-
tisch einzuprägenden , aber bei öfterem vorkommen sich von selbst
einprägenden) Wörter in mittelgroszen typen und im dritten die syn-
taktisch oder durch ihren vom deutschen abweichenden ausdruck be-
merkenswerten stellen des lesesttickes mit der deutschen Übersetzung
verzeichnet sind.' die zahl der dem unterterlianer fest einzuprägen-
den vocabeln ist nicht wesentlich gröszer als die in dem entsprechen-
den teile von Wesener (ca. 990 gegen 971), dagegen sind die Wörter
bei Herwig weit gleichmäsziger auf das sommer- und Wintersemester
verteilt und darum unschwer zu bewältigen, die einprägung wird
um so leichter gelingen , wenn , wie es die moderne pädagogik mit
recht verlangt, die vocabeln nicht vor der Übersetzung des betreffen-
den Stückes , sondern erst nach mehrmaligem übersetzen desselben
memoriert werden. Wörter, die sich leichter vergessen , sind im
vocabular wiederholt aufgeführt, die sonst in den einzelnen Übungs-
stücken vorkommenden fremden vocabeln, welche die zweite gruppe
im vocabular bilden, stehen, wenn man die notwendigen Wieder-
holungen mitrechnet, an zahl der ersten gruppe vielfach nicht viel
nach, und ihre menge wird möglicherweise in der praxis etwas un-
bequem werden, ebenso wird die Verteilung der Wörter unter die
beiden gruppen vielleicht hier und da bedenken erregen; doch mögen
für den verf. öfter besondere, für den feiner stehenden nicht sofort
erkennbare gründe maszgebend gewesen sein , und im allgemeinen
wird die Verteilung jedenfalls überall beifall finden, in beiden
gruppen sind die vocabeln recht übersichtlich (die griechischen
Wörter einerseits und die deutschen bedeutungen anderseits unter
einander) nach Wortarten und innerhalb derselben nach dem aiphabet
geordnet, in kleinerem druck ist regelmäszig auf früher dagewesene
oder aus dem lateinischen bekannte verwandte Wörter hingewiesen,
wie auch durch trennungsstriche stets auf Zusammensetzungen auf-
merksam gemacht ist, ein verfahren, durch welches nicht nur die
einprägung neuer vocabeln erleichtert und die erinnerung an früher
dagewesene aufgefrischt, sondern der schüler auch veranlaszt wird,
die bedentung unbekannter vocabeln mit hilfe der ihm bekannten
verwandten Wörter zu finden und nicht sofort zum wörterbuche zu
greifen, bei der dritten gruppe ist auf die angehängte Zusammen-
stellung kurzer, mit beispielen versehener regeln der syntax ver-
wiesen, doch verlangt der verf. nicht die einprägung dieser regeln
und scheint auch nicht das memorieren sämtlicher in der dritten
gruppe aufgeführten syntaktischen constructionen zu fordern, in
dem vocabular zum zweiten teile des Übungsbuches, zu den deutschen
Übungsstücken, sind diejenigen vocabeln, die nicht aus der ersten
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246 P. Nerrlich: Jean Paul, sein leben und aeine werke.
gruppe des ersten teils bekannt sind, nacb ibrem vorkommen in den
einzelnen stücken und Sätzen aufgeführt worden, wodurch eine Ver-
mehrung des memorierstoffes mit glück vermieden ist.
Wir können deshalb nur den wünsch aussprechen , dasz recht
viele anst.il ten die Herwigschen bücher, die sich auch durch eine
vortreffliche ausstattung empfehlen, versuchen möchten, mängel,
die sich dabei etwa herausstellen sollten, werden sich bei einer neuen
aufläge leicht beseitigen lassen; auf keinen fall werden sie das durch-
aus gesunde grundprincip der bücher berühren.
MÜLHEIM AN DER RUHR. H. FRITZ8CHE.
24.
Jean Paul, sein leben und seine werke von Paul Nerrlich.
Berlin, Weidmannache buchhaudlung. 1889. XI u. 655 a. gr. 8.
Es wäre eine sehr oberflächliche auffassung, wenn man die
pädagogische bedeutung Jean Pauls nur davon herleitete, dasz er
der Verfasser der Levana ist. vielmehr musz man fragen, warum
er die Levana geschrieben hat, von der Goethe urteilt: 'eine un-
glaubliche reife ist darin zu bewundern!' (Nerrlich s. 511). auf
grund des hier zur anzeige zu bringenden buches von P. Nerrlich,
der als kenner und herausgeber Jean Pauls bereits vor Veröffent-
lichung dieses Werkes sich einen namen erworben hatte, wird man
nun keineswegs zu viel behaupten, wenn man sagt, dasz die eigen-
art Jean Pauls als eines unserer grösten schriftsteiler wie seine Stel-
lung in der litteratur ohne die richtung auf das pädagogische
gar nicht denkbar sind, handelt es sich doch auch in seinen humo-
ristischen romanen in so weit immer um die lösung pädagogischer
probleme, als die gegensätze in der menschlichen natur darin zum
austrag und zur Versöhnung gebracht werden sollen. Jean Paul
ist einerseits tief durchdrungen von den frühen Vollgefühlen der
jugend und die heiligen schauer, mit denen das kind noch die unbe-
greiflich hohen werke der schöpfung in sein träumerisches auge auf-
nimmt, bewahrte er eigentlich sein ganzes leben hindurch in seinem
herzen gleichsam wie den kostbarsten schätz eines die höhere be-
stimmung des menschen verbürgenden erbes , das unverkürzt von
der urzeit bis in die gegenwart zu überliefern sei. indem er aber
anderseits das gemeine , niedrige und kleine , wie es sich sehr bald
seinem scharf beobachtenden blicke darstellte, als etwas untrennbar
zu dieser weit gehöriges begriff, was man nicht ungestraft übersehen
darf, womit es gilt, sich irgendwie durch einen überlegenen verstand
und durch einen kräftigen willen in frieden zu setzen , waren nicht
allein bereits die elemente für ihn gegeben, die sich zu der ihm
eigentümlichen Weltanschauung gestalteten, der humoristischen, der
das Brunosche principium coincidentiae oppositorum nicht als blosze
lehre gilt, die es vielmehr thatsächlich als dauernde gemtitsstimmung
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P. Nerrlich: Jean Paul, sein leben und seine werke. 247
in sich erlebt, sondern es entsprang daraus auch die innere nötigung,
Stellung zu nehmen zu denjenigen einrichtungen, welche den zweck
haben, das heranwachsende gescblecht so zu führen und zu leiten,
dasz es erstarkt zu pünktlicher erfüllung der aufgaben, welche die
rauhe und ernste Wirklichkeit einer nur in strenger arbeitsteilnng
ihr ziel findenden gesellschaft einmal ihm entgegenbringen wird,
ohne dabei doch weder in den so schnell vorübergebenden tagen der
goldenen jugend selbst noch im späteren leben jenes menschlich
schöne und hohe empfinden einzubüszen, welches nur auf der Er-
haltung des nicht verstümmelten ganzen der menschlichen natur
beruht.
Da ist es nun vor allem bemerkenswert, dasz J. P. in immer
neuen Wendungen und in den gestalten, die in seinen romanen auf-
treten, den sein ganzes schaffen bestimmenden gedanken zum aus-
druck bringt , dasz die phantasie eine eben so köstliche wie ver-
hängnisvolle gäbe des menschen ist, der er alles verdankt, was ihn
erhebt und beseligt, und deren herschaft ihn doch auch wieder bis
zu lächerlicher unbeholfenheit, ja, bis zur ab Wendung von allem
sittlichen verhalten herabsinken läszt. niemand hat mit so drasti-
schen ztigen geschildert, wenn man den unsterblichen Don Quixote
des Cervantes etwa ausnimmt, wie die einbildungskraft den menschen
stets verführt, falls er sich ihr in schrankenloser willkür überläszt,
seinen realen zustand, seine wirkliche Umgebung, seinen wahren
wert und das, was er in der that erreicht hat, mit dem zu verwech-
seln, was er in seinen träumen sich vorstellt, und worin er sich so
lebhaft mit seinen gedanken hineinversetzt, dasz er es zu sei n glaubt,
wer jemals wirklich jung gewesen ist, nicht blosz den jähren nach,
der weisz aus eigenster erfahrung, dasz ein knabe vermöge der leich-
testen und unscheinbarsten anregung von auszen Seefahrten, kriegs-
abentener, ja, alle irdische hoheit und ehre innerlich erleben und
durchmachen kann, eben weil der ursprünglichen macht der gefühle,
mit denen die einbildung ihn erfüllt, durch den noch unentwickelten
verstand keine hemmenden schranken gesetzt werden, die phantasie
musz doch also wohl als das eigentlich schöpferische vermögen des
menschen angesehen werden, nicht allein deshalb, weil sie, wie wir
es gleichfalls bei spielenden kindern sehen , alle seine kräfte zu dem
höchsten masz ihrer leistungsfähigkeit entbindet, sondern auch weil
sie aus den geringfügigsten dingen, die ihr gegeben sind, mit ihrem
zauberstab eine weit hervorzubringen versteht, in der jeder zeuge
menschlicher bedenklichkeit ausgeschlossen scheint, und das alles
deutet allerdings darauf hin , dasz der mensch , der noch unter dem
vorwiegenden einflusz der phantasie steht, die ungebrochene einheit
seines wesens darstellt und ein abbild dieser einheit in jedem gegen-
stände, der ihn anspricht, vor sich zu sehen meint.
Diese einheit ist nun aber durchaus nicht sehr verschieden von
derjenigen, in welcher die unbewuste natur sich befindet, der erste
bruch mit der natur erfolgt in dem augenblick, in welchem das ich
Digitized by Google
248 P. Nerrlich: Jean Paul, sein leben und seine werke.
erwacht, mit dem erwachten ich tritt der mensch aus dem reiche
der natur in das der geschieht e. denn geschiente bedeutet die-
jenige aufsteigende reihe von Veränderungen, welche als auf ihren
urheber zurückweist auf ein sich von andern und von der natur mit
be wustsein unterscheidendes wesen. so in der lebensgeschichte
wie in der Völkergeschichte, 'an einem vormittag stand ich als ein
sehr junges kind unter der hausthür und sah links nach der holz-
lege , als auf einmal das innere gefllhl : « ich bin ein ich », wie ein
blit / strahl vom himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen
blieb : da hatte mein ich zum ersten mal sich selber gefunden und
auf ewig.' (s. 87.) wer aber sein ich einmal gefunden hat, und
zumal wem sich noch in später erinnerung das geschehen' dieses
fundes mit flammenzügen abhebt von dem dunklen hintergrunde
seines früheren daseins, ja, wer noch dazu, wie derselbe J. P., ans
jener vorzeit die sttszesten erinnerungen der paradiesischen kindes-
unschuld, in der das ich noch nicht von sich wüste, in alle folgenden
entwicklungen und Wandlungen seines ganzen späteren lebens hin-
übernimmt, der befindet sich zunächst in einer seltsamen und schwie-
rigen läge : er wird wünschen jene einheit mit sich zu bewahren,
welche die blosze natur besitzt, und die deshalb nicht weniger den
allergrößten reiz auf ihn ausübt, weil sie aus der ferne viel schöner
erscheint, als sie war ; er wird auf der gewonnenen höhe des selbst-
bewustseins nun erst recht alles nach den forderungen seines ich-
gefühles gestalten wollen, und er wird dennoch gerade aus Selbst-
achtung mit einer weit in stetem Widerspruch leben müssen, welche
ihm kein Verständnis entgegenbringt, weil er noch keins für sie
hat. das ich im Widerspruch mit der weit erzeugt jenen zustand der
gebrochenheit, in welchem es zu dem wahren ich, das sich als den
träger des objectiven, die entwicklung der menschheit beherseben-
den gedankens erfaszt hat, noch gar nicht gekommen ist: der brach
ist eingetreten, aber die Versöhnung, die einigung zwischen natur
und geist steht noch dahin. *
Hier möchten wir nun mit Nerrlich nicht nur den Schlüssel ge-
funden haben für die überaus complicierte erscheinung J. P.s, son-
dern auch für seine pädagogik als thatsache überhaupt wie in ihrer
besonderen artung. J. P.s gedrückte jugend und entwicklung — er
war ein söhn der armut — wie seine übermächtige phantasie haben
ihn die Uberwindung des gegensatzes , in welchem das ich zur weit
steht, zwar als humoristische gemütestimmung , aber nicht als eine
praktische und in allen lebens Verhältnissen sich bewährende finden
lassen. Nerrlich sagt überaus feinsinnig : 'in J. P. lebt das ich mit
einer stärke, wie nur noch in Fichte, aber nicht das reine, sondern
das empirische, nicht das objectiv urteilende, sondern das nur em-
pfindende, nur fühlende, rein subjective, die imagination, dasjenige,
welches ihn hindert, der auszenwelt gegenüber die rechte position
zu finden.' (s. 61.)
Hieraus erklärt sich nun, dasz er die pädagogische idee mit
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P. Nerrlich: Jean Paul, sein leben und seine werke. 249
einer lebhaftigkeit sonder gleichen überhaupt ergriff, ahnlich , wie
ein Rousseau und ein Pestalozzi und ganz gewis auch unter dem
mittelbaren einflusz derselben, die, jeder in seiner weise, auch in
der bewältigung des weltwesens scheiterten und sich darin nicht
zurecht zu finden vermochten , muste er aus der fülle seines lieben-
den herzens ('das einzig wahre, was man an ihm aus seinen büchern
schlieszen könne, sei, dasz er recht herzlich liebe* s. 100) sich die
frage vorlegen, ob es nicht, wie es eine pflanzencultur gebe, möglich
und notwendig sei, eine kunst auszuüben, welche auf die jugend
derart bildend einwirke, dasz sie dadurch der herschaft des Unver-
standes oder blinden zu falls möglichst entzogen werde und so vor
jenen irrwegen bewahrt bliebe, die, wie ihn die eigne erfahrung
lehrte, für das ganze spätere leben verhängnisvoll wären.
Indem nun J.P. so auf die grundfragen aller erziehung zurück-
gieng, indem er stets die menschliche natur vor äugen hatte, in
welche er als dichter die tiefsten blicke gethan hatte, verleugnen auch
seine pädagogischen ideen niemals ihren Ursprung aus dem vollen
und ganzen, aus dem sie geschöpft sind, sie entbehren zwar durchaus
der wissenschaftlichen Systematik, aber sie sind dennoch in dem
sinne philosophisch, dasz sie weder der erfahrung noch der allgemein-
heit etwas schuldig bleiben, und wie nun der biograph J. P.s selber
in seiner darstellung von den höchsten ideen getragen wird und
seinen helden mit freiem und unbestechlichem sinn für die Sache an
jenen miszt, so musz es auch als ein groszes verdienst anerkannt
werden, dasz er da, wo sich für ihn bei besprechung teils der erzieh-
lichen thätigkeit, die J. P. selbst ausübte, teils seiner Schriften die
gelegenheit dazu bot, mit groszer energie die rechte des philo-
logischen Unterrichts, wie er auf unseren gymnasien betrieben
wird, vor dem gerichtshof der Vernunft prüft und dabei zu entschei-
dungen gelangt, die ihn auf einem so wohl begründeten Standpunkt
zeigen, dasz man ihm entweder zustimmen oder ihn mit gründen
widerlegen musz.
Wir können an dieser stelle von den philosophischen Über-
zeugungen des Verfassers nur insofern handeln, als dieselben masz-
gebend gewesen sind für sein urteil über das classische altertum als
den hauptsächlichsten lehrgegenstand der gymnasien. da werden
wir ihm nun zunächst darin beipflichten können, dasz alle bewunde-
rung für die Griechen und Börner einer rechtfertigung bedarf, die
vergleichend auf dasjenige einzugehen hätte, was überhaupt der
menschliche geist bisher groszes und herliches geschaffen hat; wir
werden auch dem nicht widersprechen können, dasz jede rein philo-
logische bildung und fertigkeit sich erst mit dem rüstzeug einer
pädagogischen Schulung versehen haben musz, ehe sie er-
Bprieszlich auf die jugend einzuwirken vermag, und dasz eben des-
halb ein gewisses masz philosophischer Propädeutik für den
gymnasiallehrer erforderlich ist. in diesem sinne hat Nerrlich durch-
aus auch recht, wenn er die philologie in den dienst der ge-
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250
P. Nerrüch : Jean Paul, sein leben und seine werke.
schichte, die geschiente aber in den der philosophie gestellt
wissen will. (s. 33.)
Wenden wir uns nun zu den ausstellungen, die J. P., aber noch
viel mehr Nerrüch, an den Griechen und Römern als unseren mustern
zu machen hat.
Die Griechen, sagt J. P. , haben das höchste in der plastik
geleistet, weil eben in darstellung des körperlichen über ein gewisses
maximum nicht hinausgegangen werden könne, dagegen habe sich
die neuere poesie bereichert und vertieft dieses zugegeben, so
würde daraus keineswegs folgen, dasz die griechische poesie sich
nicht mehr für den jugendunterricht eigne, sondern gerade wegen
ihrer mit dem plastischen sinne genau zusammenhängenden und ihm
besonders erfaszbaren einheit, in der sie sich als menschen darstellen
und stets als ein ganzes wirken, und vermöge deren 'die tieferen
brüche des bewustseins' ihnen noch fern liegen, sind die Hellenen
erst recht am tauglichsten zu leb rem der jugend. das erste herz
gleicht nach dem schönen aussprach J. P.s dem letzten (s. 449)
— sollte nun nicht eben dieses menschenherz in der spräche jenes
hochbegabten Volkes zwar nicht zu einem erschöpfenden, aber doch
zu einem solchen ausdruck gekommen sein, der den auf der höhe der
heutigen bildung stehenden lebrer dazu anregte, das fehlende, was
in dem modernen ideal inzwischen zur reife gekommen ist, bei pas-
sender gelegenheit zu ergänzen, wie man ganz treffend in dieser be-
ziehung den donner selbst von dem nachdröhnen des donners
unterschieden hat? für Nerrlich ist freilich die einfachheit der
Griechen nur besebränktheit (s.455). er erkennt auch nicht an, dasz
der ideale sinn nur erweckt und entwickelt werden kann an einem
object, das der zeitlichen Schwankung nicht mehr unterliegt, und
dasz der idealisierende trieb, dor die jugend der menschheit in einem
besseren lichte sehen läszt, als es der Wirklichkeit entspricht, eine
gewisse berechtigung hat. dagegen scheintwohl die humoristische
weltauffassung wenigstens in ihrer ausschlieszlichkeit keine hand-
habe für die jugendbildung zu bieten, da sie eine viel zu grosze reife
voraussetzt
Der Standpunkt der Griechen ist ja vorwiegend ein diesseitiger,
immanenter; wenigstens haben sie nie den glauben an das jenseits
zum bindenden dogma und davon die 'ewige Seligkeit' abhängig ge-
macht; um so wunderbarer die Verurteilung der Griechen bei einem
manne, der überall den menschen auf sich selbst verweist und findet,
dasz das mündige subject durch das Uberweltliche du herabgedrückt
wird (s. 197). dagegen ist allerdings eines der begreifbaren
elemente des Christentums Plato mit seinen vorgeschritteneren Vor-
gängern, und schon deshalb erscheint das Studium des Hellenentums
unentbehrlich; nur wird die jugend allein durch die ihr überlegene
einsieht des lehrers von diesem Zusammenhang einen gewissen be-
griff erhalten, allein Nerrlich spricht den Griechen überhaupt die
Sittlichkeit (s.456) und die natur ab. er wendet sich inersterer
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P. Nerrlich: Jean Paul, sein leben und seine werke.
251
beziebung besonders gegen die nach unseren anscbauungen anstöszige
auffflhrung der griechischen götter. als ob hier nicht eben das n ai v e
den sittlichen maszstab anzulegen ganz verböte, und als ob eben
diese götter nicht immer mehr vergeistigt und ethisiert worden, als
ob hier nicht die verschiedenen Zeiten und epochen auseinanderzu-
halten wären, ja, als ob wir die grundbegriffe alles sittlichen von
anderswoher hätten, als aus der religion und ethik der Griechen! —
Die natur aber soll erst durch die neuere philosophie in ihrer Wahr-
heit erkannt sein! (s. 54.) aber selbst wenn das so wäre, was hilft
daserkennen, wenn nicht nach der erkenntnis gehandelt wird?
gerade die erkenntnis, die reflezion schadet der natur, so wie noch
niemand atmen und verdauen durch die physiologie gelernt hat.
Übrigens nimmt Nerrlich Homer von seinem verdammungs-
urteil aus (s. 455). nun aber ist Homer grund und quelle und Ur-
sprung aller poesie und kunst bei den Griechen , Homer loben und
die Griechen tadeln heiszt ungefähr so viel wie die bibel verher-
lichen und die Christen nicht gelten lassen.
Endlich ist auch von dem einflusz der Griechen für unsere
nationale cultur keine gefahr zu befürchten, (s.68.) denn es gibt
in der neueren zeit eben keine nationale cultur mehr in dem sinne
der ausschlieszlichkeit und absperrung; vielmehr zeigt eine nation
nur dadurch eine um so stärkere lebenskraft, dasz sie sich trotz der
Verarbeitung aller culturen in ihrer eigentümlich keit zu behaupten
versteht.
Während nun J. P. selbst sowohl in der Vorschule zur ästhetik
wie in der Levana die Griechen sehr hoch stellt und eigentlich für
den jagendun terricht nicht entbehren mag, nennt er die Römer im
anschlusz an Herder, der von ihrer 'würgekunst* spricht, die 'welt-
diebe und weltmörder' (s. 454). wir werden nun freilich hierin die
Römer nicht mehr nachahmungs würdig finden, aber die logisch-
disciplinierende kraft der lateinischen spräche in ihrem werte für
den jugendunterricht wird dadurch nicht angefochten, was dagegen
J. P. gegen die berschaft des Ciceronianismus (s. 124) sagt, ist noch
immer beherzigenswert, wenn sich auch manches in dieser hinsieht
bereits zum besseren geändert haben sollte, der empfehlung der
Schriftsteller der silbernen latinität (s. 508) stellt sich jedoch der
satz entgegen, dasz das beste für die jugend eben nur gut genug ist.
indes wird anderseits damit allerdings ein wunder punkt berührt;
denn auch wir müssen bekennen, dasz bei den jetzt noch bestehen-
den einrichtungen die hohe Schönheit und einfalt gerade der eigent-
lichen classiker dem dafür noch nicht reifen sinne der jugend oft nur
zu leicht verloren geht.
Nerrlich ist nun aber keineswegs der meinung, dasz der Schwer-
punkt des Unterrichts auf die Sachen in dem sinne verlegt werde,
dasz die spräche dabei als ein gleichgiltiges Werkzeug bei seite ge-
worfen werde, wie es in der pbysik und mathematik geschieht; er
will uns nicht auf Bäk on und den realismus im Unterricht verweisen;
252 P. Nerrlich: Jean Paul, sein leben und seine werke.
vielmehr ist er als philosoph viel zu sehr von der macht der idee
durchdrungen, von der bedeutung der geistesweit, in welcher das
blosze sachliche erst seinen wert erhält, als dasz er die spräche als
das unmittelbarste und freieste ausdrucksmittel des gedankens für
entbehrlich halten könnte, worauf er dringt und wofür er Hamanns,
Herders und J. P.s zeugnis anführt, ist dieses, dasz ein trockener
formal ismus nicht das scepter in der schule führe , dasz die jugend
nicht mit leeren hülsen abgespeist werde, sondern dasz sich die
spräche zugleich mit dem vorstellen und denken bilde (s. 206).
'blosze sprachen lernen', erklärt J. P. in der Levana, 'beiszt sein geld
im anschaffen schöner beutel verthun oder das Vaterunser in allen
sprachen lernen, ohne es zu beten* (s. 506). die spräche und die in
der spräche geschaffenen kunstwerke sollen also dem unterrichte
dienen , sofern sie das formale bedürfnis befriedigen und auch den
sinnlichen trieb nicht zu kurz kommen lassen : alsdann leisten sie
das, was Hamann und Herder als gegnern des toten buchstabens
vorschwebte, was Schiller unter dem namen der ästhetischen er-
ziehung begrifflich zu entwickeln suchte, und worin J. P. ihnen bei-
stimmt, wenn er fürchtet, dasz die fremdsprachliche lectüre bei
dem beständigen ringen mit grammatischen Schwierigkeiten für den
schüler den genusz des kunstwerkes unmöglich macht, und wenn
er daher mit entschiedenheit für das deutsche, wo diese Schwierig-
keiten wegfallen , eintritt (s. 509). die erziehung ist erziehung zur
humanität: sie soll alle anlagen des menschen gleichmäszig ent-
binden und den zögling mit allem bekannt machen, was der mensch
bisher groszes und edles gethan und geschaffen hat. hier wird nun
auch die antitheologische und antiphilologische schärfe erklärlich,
welche für Nerrlichs buch bezeichnend ist : ihm geht nichts über den
menschen, und ihm schränken die philologen die idee des menschen
in einer durch den thatsächlichen Fortschritt der menschheit nicht
gerechtfertigten und einseitigen weise auf das classische altertum ein.
Man wird nun gewis einräumen , dasz Nerrlich unter berufung
auf J. P. viele mängel in unserem Unterrichts wesen mit einer auf-
richtigkeit bloszlegt, die schon allein seinem werke den erfolg bei
allen sichert, für welche das ueräAr| f} dXrjteia Kai tJTT€picXU€i ent-
scheidend ist. wir nun erwarten die abstellung dieser mängel nicht
durchaus, wie wir hier nur andeuten konnten, von den mittein, die
Nerrlich angibt, sondern zum teil von einer andern Organisation
unseres höheren Schulwesens, durch welche über kurz oder lang be-
sonders die anzahl der gymnasien vermindert werden musz, wir er-
warten sie auch von einer äuszeren hebung des lehrerstandes , der
allerdings nach wie vor die eigentliche kraft seines wirkens einer
idealen lebensanschauung entnehmen musz. wir sind aber auch über-
zeugt, dasz die blosze verstandesausbildung neben der ästhe-
tischen nach wie vor von den gymnasien in pflege zu nehmen ist.
hat doch Goethe bereits in rdichtung und Wahrheit', wo er den
Magus aus dem norden bespricht und dessen maxime, dasz alles,
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Heidrich: handbuch für den religions Unterricht in den ob. ciassen. 253
was der mensch zu leisten übernehme, aus sämtlichen vereinigten
kräften entspringen müsse, eben dieses im allgemeinen ausgespro-
chen, 'das wort musz sich ablösen, es musz sich vereinzeln, um
etwas zu sagen, zu bedeuten, der mensch, indem er spricht, musz
für den angenblick einseitig werden, es gibt keine lehre ohne
sonderung.'
An dieser stelle gebührte es sich zunächst, die pädagogische
seite der Nerrlichschen darstellung J. P.s hervorzuheben, es bleibt
nur noch übrig , in aller kürze die leser dieser Zeitschrift auf das
werk Nerrlichs als auf eine literarhistorische leistung hinzuweisen,
durch welche das bleibende in dem genius J. P.s unserer zeit wieder
nahe gebracht wird in einem bilde, dessen züge sich auch für uns in
dem masze beleben werden, als wir, um an ein geständnis Darwins
anzuknüpfen, durch angestrengte geistes&rbeit auf dem gebiet e x a c t e r
beobacbtung die empfindung für musik im weiteren sinne des Wortes
und das höhere geistesleben noch nicht eingebüszt haben.
Meseritz. t Arthur Juno.
25.
Heidrich, Handbuch für den Religionsunterricht in den
oberen clasben. erster teil : kirchengeschichte.
Ein buch, welches wie das vorliegende so viele Vorzüge in be-
zug auf die auswahl und anordnung des Stoffes aufweist, findet ohne
weitere Schwierigkeit seinen leserkreis und macht sich selbst be-
kannt und trotzdem möchte ich nicht unterlassen, auch in dieser
Zeitschrift die aufmerksamkeit auf dasselbe zu lenken, es enthält
nur einen teil des religiösen Unterrichtsstoffes für die oberen ciassen
höherer lehranstalten, nemlich die kirchengeschichte, während das
erscheinen der beiden andern teile 'heilige geschiente' und Glaubens-
lehre' von der günstigen aufnähme dieses ersten abhängig gemacht
ist. das neue an dem buche besteht darin, dasz es nach andern ge-
sichtspunkten bearbeitet und für einen weitern leserkreis bestimmt
ist als andere bücher dieser art. allerdings soll es zunächst dem
religionslehrer wesentliche dienste bei seinen Vorbereitungen für den
Unterricht leisten, und das ist der hauptzweck des buches. daneben
ist es auch nach der ansieht des Verfassers für die schüler bestimmt,
als ein lese- und wiederholungsbuch zur befestigung und Vertiefung
ihres wissens. aber nicht minder werden auch die gebildeten unseres
Volkes, die nicht speciell theologische bildung besitzen, das werk be-
nutzen können, um an der hand desselben einen einblick in die ver-
schiedenen entwicklungsperioden der christlichen kirche zu thun,
wie es auch auszerdem wohl geeignet ist , sinn und Verständnis des
christlichen hauses für kirchliche dinge zu wecken und zu beleben. »
so vermeidet das buch, auf einen weitern leserkreis rücksicht neh-
mend, die extreme eines theologischen compendiums einerseits und
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254 Heidrich: handbuch für den religionsunterricht in den ob. classen.
die eines magern hilfs- oder repetitionsbuches fQr die kirchen-
geschichte anderseits.
Bei der abfassung ist der Verfasser den leitenden grundsätzen
von Herbst 'zur frage über den geschichtsunterricht* im vollen
masze gerecht geworden, denn was zuerst die auswahl des Stoffes
betrifft, so hat Heidrieb, ausgebend von der ansiebt, dasz für den
sebüler nur das interesse hat, mit dem sein leben direct oder in-
direct in berührung kommt, eine bedeutende sichtung desselben vor-
genommen, deshalb finden wir auch darin keine entlegenen dinge,
weder die namen der gnostiker mit ihren com pli eierten Systemen,
noch die aufzählung der griechischen und lateinischen kirchenväter
nebst ihrem lebensabrisz und ihren die kirchliche lehre teilweise be-
stimmenden anschauungen. auch von mittelalterlicher lehrent Wick-
lung ist nur die allgemeine bedeutung der Scholastik und mystik in
ihrem Verhältnis zu einander hervorgehoben; von den Vertretern
dieser Wissenschaft sind dagegen nur die namen Abäiards, Thomas'
von Aquino und Taulers genannt, was mithin der darstellung an
breite abgeht, hat die tiefe der behandlung reichlich ersetzt, ich
erinnere dabei nur an einige abschnitte, die besonders zeugnis von
dem eben gesagten ablegen, z. b. nr. 11 aus der märtyrergeschichte
und sage, nr. 47 Philipp Melanchthon und Luthers andere freunde,
nr. 68 der glaube der evangelischen kirche im unterschiede vom
katholischen glauben, endlich auch nr. 62, 67, 68 und 76—80, welch'
letztere von den liebeswerken der evangelischen kirche handeln und
einen überblick über die verschiedenen religionen und kirchenpar-
teien in der gegenwart geben, einigermaszen befremdend mag es
erscheinen, dasz oft zeitlich aus einander liegende dinge zusammen-
gestellt und zu einem abgerundeten ganzen verarbeitet sind, aber
hiergegen ist anzuführen: diese eigentümlichkeit hängt mit dem
principe der anordnung des Stoffes zusammen, insofern als die stoff-
massen ohne rücksicht auf die zeitliche Verschiedenheit in gruppen
aufgelöst sind und jede gruppe auf dem höhepunkte ihrer ent Wick-
lung dargestellt ist. so kommt es auch, dasz das einsiedlerleben, als
Vorläufer des mönchtums, erst in der periode des mittelalters bei
der besprechung des letztern zur darstellung kommt, dasz ferner in
dem abschnitte eder gottesdienst der evangelischen kirche' vieles ein-
zelne sich findet, was wir schon vorher vermiszt haben, was aber
erst später der Übersichtlichkeit wegen beigebracht ist.
Leider ist es uns nicht möglich , die zahl der hierher gehörigen
beispiele zu vervollständigen, um den manigfaltigen inhalt des Werkes
noch näher zu beleuchten, wohl aber möchten wir wünschen, dasz
der herr Verfasser in seiner amtlichen thätigkeit die nötige zeit finden
möge, um diesem ersten teile seines handbuches die beiden andern
hinzuzufügen und uns in nächster zeit mit der herausgäbe derselben
«zu erfreuen.
Kothen. Alwin Sterz.
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Bericht üb. d. 41e Versammlung deutscher philologen u. schulmänner. 255
26.
BERICHT ÜBER DIE VERHANDLUNGEN DER EINUND-
VIERZIGSTEN VERSAMMLUNG DEUTSCHER PHILOLOGEN
UND SCHULMÄNNER ZU MÜNCHEN.
Empfangsabend.
Die zahl der aus allen teilen Deutschlands eingetroffenen mitglieder
hat 600 bereits heute überschritten, die gäste wurden am bahnhof von
den verschiedenen comites empfangen, abends traf man sich in den
prächtigen räumen des alten rathaussaales, der bereits gegen 8 uhr
dicht besetzt war. der abend sollte der freien, unbehinderten, gegen-
seitigen begrüszung der teilnehmer gewidmet sein; es war daher von
der Veranstaltung besonderer festlichkeiten Umgang genommen, später
hielt der erste präsident der Versammlung, berr Universitätsprofessor
dr. v. Christ- München, e^ne kurze launige begrüszungsrede und for-
derte die herren auf, nach altem studentischen brauch den cantus
gaudeamus igitur anzustimmen, herr reallehrer dr. AI ö Her-Neu- Ulm
begrüszte die gäste mit einem humorvollen gedichte. der abend nahm
den angeregtesteu verlauf.
Von bekannten namen, welche auf dem philologentage vertreten
sind, nennen wir nach der ersten mitgliederliste: prof. Blümner -Zürich,
prof. dr. Conze -Berlin, prof. dr. Ebers-München, gymnasialrector dr.
E itner- Görlitz, geheimrat Gef fcken-München, prof. dr. Goraperz-
Wien, hofrat dr. v. Härtel -Wien, prof. dr. v. Herzog - Tübingen,
oberschulrat dr. Krüger-Dessau, gymnasialdirector dr. Kübler-Berlin,
prof. dr. Milchhöf er-Münster i.W., prof. dr. Iwan v. Müll er- Erlangen,
prof. dr. Osthof f -Heidelberg, prof. dr. v. P lanck-Stuttgart, prof. dr.
Richter- Leipzig, hofrat dr. Schenkt - Wien, geh. oberschulrat dr.
Hermann Sc biller-Gieszen, prof. dr. Erich Schmidt-Berlin, prof.
dr. 8 ch ö 11- Heidelberg, geh. oberregierungsrat dr. 8 c hr ad er- Halle a. S.,
prof. v. Schwabe-Tübiugen, prof. dr. Socin- Leipzig, prof. dr. Uhlig -
Heidelberg, prof. dr. Wissowa- Marburg i. II., prof. dr. Zell er- Berlin,
prof. dr. Z i n g e r 1 e - Innsbruck, selbstverständlich sind die Universität
München und die bayerischen philologen durch eine reihe anerkannter
fächle ute vertreten.
Erste hauptversammlung (20 mai).
Die erste hauptversammlung wurde vormittags 10 uhr in dem fest-
lich geschmückten saale des kgl. Odeons mit dem feierlichen rnänner-
chor von Beethoven 'die himmel rühmen des ewigen ehre* unter leitung
des berrn directors Schmid, vorgetragen von philologen und philologen-
freunden, eingeleitet, es waren ca. 600 mitglieder anwesend; vom kgl.
hause waren erschienen se. k. h. prins Rupprecht mit seinem adjutanten
major Zerreiss, ferner cultusminister dr. v. Müller mit den ministerial-
räten v. Giehrl, v. Auer und Zeitlmann, regierungsrat Hu mm,
regiernngspräsident freiherr v. Pfeufer, präsident der akademie der
Wissenschaften geheimrat prof. dr. v. Pettenkofer, die beiden bürger-
ineister dr. v. Widenmajer und Bor seht n. a.
Der erste präsident, prof. v. Christ, eröffnete die 41e Versammlung
deutscher philologen und Schulmänner damit, dasz er kurz die umstände
erwähnte, infolge deren München so spät erst zum sitz einer philologen-
versammlung erwählt wurde und nachträglich indemnität dafür nach-
suchte, dasz das präsidium, abweichend von dem bisherigen brauch, die
Versammlung anf pfingsten, statt ende September berufen hat. alsdann
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256 Bericht über die Verhandlungen der 41n Versammlung
gieng der redner auf zweck und ziel der philologischen wanderver-
sammlungen ein. die philologen und Schulmänner aus allen ländern
deutscher zunge versammeln sich in Zwischenräumen von ein bis zwei
jähren, damit die männer der theoretischen forschung und praktischen
schul thätigkeit sich auch persönlich näher treten, durch gegenseitigen
Gedankenaustausch und öffentliche discussion die besserung der methode
des Unterrichts anstreben, durch Vorträge und mitteilungen über ein-
zelne punkte der Wissenschaft sich gegenseitig belehren und das Inter-
esse für ihre bestrebungen in weitere kreise tragen, die hohe bedentung
der Versammlung für anbahnung und erneuerung persönlicher freund-
schaftlicher beziehuugen, für directen meinungsäustausch und gegen-
seitige aufrichtung wird von niemand verkannt, aber zweifei werden
vielfach gehegt, ob die philologen, welche sich mit den litterarischen
erzeugnissen der Vergangenheit abgeben, neues mitzuteilen haben, ob
die philologie überhaupt gleich den nnturwissenschaften an den groszen
fortschritten der wissenschaftlichen erkenntnis teil habe, jene zweifei
werden meist nur von denjenigen ausgesprochen, welche das wort philo-
logie in zu engem sinne fassen und sich unter dem philologen gewöhn-
lich nur den lehrer denken, der ihnen mensa und amo einbläute, aber
die philologie im wissenschaftlichen sinne» umfaszt alle sprachen und
beschäftigt sich mit der Wiedererkennung alles dessen, was an geistigen
ideen die früheren generationen in spräche und schrift niedergelegt
haben, zu den glänzendsten triumphen des menschlichen genies gehört
aber sicher die entzifferung der hieroglyphen und keilinschriften, und
niemand wird den europäischen Orientalisten den stolz verwehren, dasz
sie mit der schärfe ihrer methode den ßrahmanen und Persern das Ver-
ständnis ihrer heiligen schrift erschlossen haben, nie auch wird Deutsch-
land der groszen Germanisten vergessen, die uns in die litterarischen
denkmale unserer vorfahren wieder eingeführt und mit der geschicht-
lichen entwicklung unserer spräche bekannt gemacht haben, aber auch
die philologie im engeren sinne, die sog. classische philologie hat, wie-
wohl sie sich mit einem schon viel bearbeiteten Stoffe beschäftigt, viele
glänzende entdeckungen aus den letzten jahrzehnten aufzuweisen, nicht
blosz haben die ausgrabungen in Troja, Olympia, Pergamon erstaunlich
viel neues und groszes an den tag gefördert und hat die sprachverglei-
chende grammatik ganz neues licht über die Spracherscheinungen ver-
breitet, auch die alten zweige der classischen philologie haben teils
durch neues material, das ihnen zugeführt wurde, mehr aber durch die
leuchte kritischer forschung auszerordentliche fortschrittc gemacht.
Redner weist dieses sodann in gelehrter ausfuhrung an einer ein*
zelnen diseiplin, der griechischen litteraturgeschichte, nach und schlieszt
mit folgenden, zum herzen gesprochenen Worten: auch die classische
philologie kann einen anteil an dem wissenschaftlichen fortschritt der
menschlichen erkenntnis beanspruchen; sie ist nicht altersschwach, noch
ausgeschöpft, auch in ihr giebt es noch neue dinge zu finden und winkt
der lorbeer des entdeckerruhms dem tüchtigen forscher, aber das ist
nicht das höchste in unserer Wissenschaft; das höchste ist der unver-
gleichliche schätz der classischen werke des altertums, den zu hüten
und zu verwerten unsere erste aufgäbe sein musz. auch wenn keine
gloriole litterarischen ansehens unseren Studien winkte, müste der echte
philolog und schulmann jener hauptaufgabe seine besten kräfte zu
weihen stets bereit sein, die hervorragende Stellung, welche die clas-
sische philologie an den Universitäten und in der litteratur einnimmt,
verdankt sie wesentlich dem werte jenes kostbaren Schatzes für die
schule und die jugenderziehung. wollen wir namentlich in unserer zeit,
in der man mehr wie früher an den grnndsäulen unserer jugendbildung
zu rütteln unternimmt, uns die heiligkeit unserer aufgäbe vor äugen
halten, möge insbesondere auch diese Versammlung dazu beitragen, d»**
das feuer der begeisterung für edle humanität in unseren herzen nicht
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deutscher philologen und schulmänner zu München.
257
erloscht, dasz wir den schätz, den wir von unseren vorfahren empfangen
haben, onverkümmert den künftigen geschlechtern tiberliefern! (beifall.)
Schliesslich gedachte prof. v. Christ der seit 1889 verstorbenen mit -
glieder, darunter Urlichs, Conr. Hofmann, Gregorovius, Miklosich, Schlie-
mann u. a. nachdem sich die Versammlung zn ehren der toten von
den sitsen erhoben, wurden als Schriftführer in das bureau berufen die
herrcn dr. Schenkel jun. - Wien, dr. Adam - Wiesbaden, dr. Hammer
und dr. Rück-München.
Hierauf begrüszte cultusminister dr. v. Müller namens der baye-
rischen staatsregierung den philologentag aufs herzlichste:
Wie schon der erste präsident erwähnt, befand sich unter den
gründern der philologenversammlungeu vor 56 jähren auch dr. Friedr.
v. Thiersch. wenn es eines beweises bedarf, dasz Ihr unternehmen,
das aus liebe zum berufe, aus treuer hingebuug an wichtige, dem vater-
lande geweihte aufgaben hervorgieng, den Wechsel der Zeiten und der
menschen zu überdauern vermag, so ist es, dächte ich, die heutige
glänzende Versammlung. Ihre freie Vereinigung mehrt sich fort und
fort, sowohl in bezug auf die zahl der teilnehmer als in bezug auf die
gegenstände, die Sie in den kreis Ihrer beratungen und erörterungen
ziehen, das ziel Ihrer dankenswerten bestrebungen ist ein doppeltes,
der Wissenschaft zu dienen und dem praktischen leben, der schule zu
nützen, beiden richtungen, meine hochverehrten herren, bringt die kgl.
bayerische staatsregierung ein reges interesse und ein warmes herz ent-
gegen, die Wissenschaft wählt sich die gebiete ihrer forschungen frei
und unabhängig und sie zeichnet sich dabei ihre bahnen selbst vor.
in dem akademischen lehramt aber, meine hochverehrten herren, Bind
die Vertreter der von Ihnen gepflegten Wissenschaften stets auch dessen
eingedenk, dasz sie für jene schulen, die wir in Bayern mit dem aus-
drack 'mittelschulen' bezeichnen, die lehrer heranzubilden berufen sind,
und je mehr wir für das wohl unserer schulen besorgt sind, um so leb-
hafter müssen wir bleibende, innige beziehungen zwischen Universität
nnd schnle wünschen und anstreben, wissenschaftlichkeit ist die erste
und unerläszlichste Voraussetzung für die lehrer, aber wissenschaftlich-
keit für sich allein, ich glaube, bei diesem satz keinen widersprach zu
finden , macht noch nicht den gediegenen und segensreich wirkenden
schulmann. es scheint mir daher mit recht, meine hochverehrten herren,
gerade in der gegenwart auf die pädagogisch -didaktische ausbildung
ein erhöhtes augenmerk gewendet zu werden, nur dann, wenn wissen-
schaftlichkeit und pädagogik gleichmäszig zur gebührenden geltuug ge-
langen, werden wir mit bestimmtheit hoffen dürfen, dem vaterland
dauernd söhne zu erziehen, die, ausgerüstet mit solidem wissen, stark
an charakter, in religiös -sittlicher tüchtigkeit den sich stets steigern-
den anforderungen der zeit gerecht zu werden vermögen, hochansehn-
liche Versammlung! die kgl. staatsregierung hat sich aufrichtig ge-
freut, dasz Sie in diesem jähre wieder eine bayerische Stadt, und zwar
diesmal die haupt- und residenzstadt des landes zum ort Ihrer Ver-
sammlung gewählt haben, dieselbe hat gerne darauf bedacht genom-
men, Ihnen würdige aitzungsräume zu erschlieszen und hat mit ver-
gnügen dazu mitgewirkt, auch im übrigen Ihren hiesigen aufenthalt zu
einem angenehmen zu gestalten, mögen Sie, meine hochverehrten herren,
beim abschlusz Ihrer diesjährigen Verhandlungen die ergebnisse derselben
gleich wie früher mit voller befriedigung überblicken und mögen Sie,
meine herren, die Sie aus der ferne zu uns gekommen sind, dann aus
München mit den besten erinnerungen scheiden, (beifall.) — Präsident
v. Christ dankt für dieses wohlwollende entgegenkommen der baye-
rischen staatsregierung; er könne wohl namens der Versammlung ge-
loben, dasz die teilnehmer die beiden von der kgl. staatsregieruug
vorgezeichneten aufgaben berücksichtigen werden. — Namens der Stadt
Mönchen sprach der erste bürgerrae ister dr. v. Widenmayer warme
N.jahrb. f. phil u. päd. 1J. abt. 1891 hfl. 5. 17
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258 Bericht über die Verhandlungen der 41n Versammlung
worte des Willkomms, die bürgerschaft wisse zu schätzen, was sie den
männern zu danken hat, die ihre söhne als treue führer durch die wege
wissenschaftlicher arbeit geleiten. — Namens der kgl. bayerischen akade-
mie der Wissenschaften richtete der präsident, geh. rat dr. v. Pett tri-
kofer, einige mit vielem beifall aufgenommene worte an die Versamm-
lung, da die spräche ein erzeugnis des menschlichen denkens ist, 00
liefert die wissenschaftliche bescbäftigung damit die erkenntnis ihrer
gesetze ohne zweifei auch eine gute grundlage für einen methodischen
Unterricht in den schulen, in welchen die denkorgane der heranwach-
senden jugend geübt werden sollen, um die denkfähigkeit dann auch
auf andere praktische und wissenschaftliche zwecke und ziele anzu-
wenden, da sich die philologie früher entwickelt bat als die natur-
wissenschaft, so ist von selbst gekommen, dasz der Sprachunterricht die
wesentliche grundlage der schule geworden ist. dies sei wohl auch der
grund der historisch gewordenen Vereinigung der deutschen philologen und
schulmänner. allmählich haben sich auch andere Wissenschaften soweit
entwickelt, dasz sie passendes material für den Schulunterricht liefern
können, aber sie werden die philologie nie verdrängen und auch nie
ersetzen können, rso dasz ich glaube', schlieszt v. Pettenkofer, rdasz
die philologen und schulmänner noch lange und oft zusammen tagen
werden.' (lebhafter beifall.)
Präsident v. Christ dankt den beiden Vorrednern bestens, die
gastlichkeit der Stadt München werden die herren noch in besonderer
weise kennen lernen; Münchens Stadtverwaltung habe auch hohen sinn
und begeisterung für die aufgaben der philologen und schulmänner wie
nicht alle, die sympathischen worte Pettenkofers, des weltberühmten
forschers und hygienikers, dessen name von jeher auch bei den philo-
logen einen guten klang hatte, gereichen der Versammlung zur beson-
deren ehre.
Hierauf hielt herr professor Erich Schmidt aus Berlin einen Vor-
trag über aufgaben und wege der fFaustphilologie', ausgehend von der
musterung der älteren Faustforscher durch Vischer 1839, seinerseits mit
der tendenz, eine mitte zwischen dem zu getrosten allwissenkönnen und
der lähmenden Skepsis des nichtwissenkönnens zu suchen, er sagt wie
weit die combination in der rundung von bruchstücken und der her-
stellung älterer, ganz oder teilweise verschwundener grundrisse komme,
zeigt dasz nur die historische erklärung manche Schwierigkeit im 'Faust1
überwinde und beurteilt mit allgemeinen Sätzen und einzelnen beispielen
die neuere Chronologie, die besonders mit parallelstellen und stilistischen
beobachtungen vieles zu klein splittere und oft zu schroff periodisiere.
dann überblickt er rasch den von ihm 1887 entdeckten 'Urfaust» und
die daran geknüpften probleme: die entstehung der einzelnen scenen
und waa auszerdem schon vor wei mansch sein könnte, um nach einer
einheitlichen darstellung der Gretchentragödie die grosse disparate
masse fwald und höhle', den italienischen, ursprünglich wohl auf die
'hexenküche' folgenden monolog 'erhabener geist, du gabst mir, gabst
mir alles', die in Weimar angeschlossene zweifällige mittelpartie, deren
zweiter teil plötzlich erst zu Gretchen überleitet, und das aus dem
Urfaust gerissene schluszstück , eingehend zu besprechen und zu zer-
gliedern, die an unmittelbarer und auszielender polernik reiche rede
schlosz mit Goethes spruch:
forschung strebt und ringt, ermüdend nie,
nach dem gesetz, dem grund, warum und wie.
Endlich sprach herr rector O hl en sc h 1 age r - Speyer über die
ergebnisse der römisch - archäologischen forschung der
letzten 25 jähre in Bayern, ausgehend von den frühzeitig begon-
nenen forschungen auf antiquarischem gebiete, die sich an die namen
Aventin, Peutinger und Appian anknüpfen, versuchte der redner in ge-
drängter Übersicht in die ergebnisse der genannten forschung auf den
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deutscher philologen und Schulmänner zu München. 259
verschiedenen gebieten einen einblick zn verschaffen, er berührte
namentlich, was hervorragendes an einzelnen fundgegenständen zu tage
kam, die funde von gräbern, die ermittelung römischer straszen, sowie
der orte der Peutinger-tafel, die aufgrabung römischer wohnstätten, und
betonte insbesondere, dasz die lager, welche zur aufnähme der stän-
digen römischen besatznngen im lande angelegt worden waren, in groszer
zahl in der letzten zeit aufgefunden und in Untersuchung gezogen wurden,
indem er auf die wichtigen ergebnisse der genannten Untersuchungen
auch für hente noch bestehende einrichtungen aufmerksam machte, gab
er dem bedauern ausdruck, dasz in Bayern keine sammlnng bestehe, in
welcher die hauptergebnisse der römisch-archäologischen Untersuchungen
in Bayern, sei es im original, sei es in nachbildung, zu finden wären,
redner gab zum Schlüsse der hoffnung räum, dasz durch die fortgesetzten
bemühungen der forscher auch schliesslich in weiteren kreisen das inter-
esse an diesem gegenständ geweckt und für die noch vorhandenen
mängel abhilfe geschaffen werde.
Festessen.
Nachmittag 2 uhr fand im alten rathaussaale das festessen statt,
an welchem sich nahezu 300 herren und damen beteiligten, an ehren-
gasten bemerkten wir den cnltnsrainister dr. v. Müller mit den ministerial-
räten v. Oiehrl und Zeitlmann, regierungspräsident frhr. v. Pfeufer,
polizeidirector frhr. v. Welser, bürgermeister dr. v. Widenmayer mit
mehreren mitgliedern der gemeindecollegien u. a. — Zur Speisekarte
hatte 'lupulus' (professor E. Wölflin) ein originelles 'vulgär-lateinisches'
trinklied gedichtet, die reihe der toaste eröffnete der erste präsident,
prof. dr. v. Christ, mit einem hoch auf den kaiser und den prinz-
regenten. der redner feierte in seiner anspräche die deutsche einigung
und die fürsorge der wittelsbachischen fürsten für kunst und Wissen-
schaft, der zweite präsident, gymnasialrector dr. Arnold, toastierte
auf die bayerische staatsregierung, speciell auf den gegenwärtigen
cultusminister, welcher der Versammlung von anfang an die reichste
rörderung zu teil werden liesz in einem masse, das erkennen liesz, dasz
sein herz bei der sache war. und das sei nicht zu verwundern; denn
schon als jüngling habe unseren cultusminister der geist Athens und
Roms begeistert, und man wisse von ihm, dasz er auch jetzt noch in
seinen muszestunden das bedürfnis habe, aus den Schriften der alten
süszes vergessen des sorgenbelasteten lebens zu schlürfen, darum habe
der herr minister auch für die classische bildung die gröste Sympathie
und darum habe er bei der jüngsten Schulreform in Bayern an der
idealen grundlage unseres gymnasialschulwesens nicht rütteln lassen
nnd insbesondere die herlichste blüte desselben, das schöpfen aus der
griechischen quelle, nicht verkümmert, (beifall.)
Cultusminister dr. v. Müller erwidert auf diesen toast sofort in
folgender anspräche: für die liebenswürdigen worte, die der zweite herr
Vorsitzende soeben an mich zu richten die güte hatte und die aus Ihrer
mitte so freundlichen beifall fanden, drängt es mich, Ihnen vor allem
meinen herzlichsten dank auszusprechen, ich bekenne mich in erwide-
rnng dieser worte gerne als den dankbaren Schüler unseres humanisti-
schen gymnasiums. (bravo.) sehr geehrte herren! wir alle hegen
gleichmäszig die Überzeugung, dasz die Wissenschaft zu den höchsten
gütern des volkes gehört und dasz in der schule zum guten teil, zum
sehr guten teil das wohl des Vaterlandes liegt, bei solchen fragen, meine
herren, bin ich in erster linie von dem gedanken beherscht, dasz die
bedeutsamste aufgäbe der gegenwart in der sorge für die Zukunft be-
steht, in meinem pflichtmäszigen wirken befinde ich mich aber in dieser
beziehung — und das wurde heute zu meiner groszen freude schon
wiederholt betont — auf einem auszerordentlich gut gepflegten gebiet,
unter dem landesväterlichen schütz und schirm weiser und hochgesinnter
17*
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260 Bericht über die Verhandlungen der 41n Versammlung
herscher sind in Bayern Wissenschaft und schule stets der gegenständ
sorgsamster bedaehtnahme und eifrigster pflege gewesen. Stätten der
Wissenschaft und der schulen blühen und gedeihen im lande, bei dem
sehr günstigen stände speciell unserer humanistischen gymnasien konnten
wir von anfang an nur an einen conservativ gehaltenen ausbau im ein-
zelnen denken, die fundamente unserer humanistischen anstalten sind
gesund, und wir hoffen auf dem alten classischen fundament noch lange
fortzubauen und auf dieser grundlage noch lange die ersprieszlichsten
erfolge zu erzielen — unter der beteiligung guter, wissenschaftlich ge-
bildeter und geschulter lehrer, die mit mir gemeinsam der erkenntnis
sind, dasz das wesentliche in der schule die eigene sittliche höhe des
lehrers, die wärme ist, mit der der schüler gepackt, gefesselt und fort-
gerissen wird, (bravo.) hochansehnliche Versammlung! die kgl. Staats-
regierung konnte Sie beute morgen durch meinen mund um so freund-
licher und herzlicher begrüszen, je höher sie die bedeutung Ihrer
Verhandlungen schätzt, ich bin dessen gewis, dasz die 41e Versamm-
lung deutscher philologen und schulmänner ebenso reich an fruchtbrin-
genden ergebnissen sein wird wie ihre Vorgängerin und in diesem sinne
erhebe ich mein glas und leere es auf das wohl dieser Versammlung,
(lebhafter zuruf.) — Prof. dr. Plan ck -Stuttgart brachte sodann einen
trinkspruch aus auf den kaiser von Österreich, den verbündeten des
deutschen reiches, dr. Hergt-Landshut trug ein schwungvolles gedieht
auf die classischen Studien vor, hofrat dr. Härtel- Wien feierte die
Stadt München, worauf bürgermeister dr. v. Widenmayer in warmen
Worten erwiderte. — Prof. Oskar Jäger- Köln trank auf das deutsche
Vaterland, indem er an die Zeiten erinnerte, da sich die philologenver-
sammlungen noch nicht überall in Deutschland in gleicher Weise heimisch
fühlten, wie es heute in München der fall ist. — Keallebrer dr. Möller-
Neu-Ulm feierte in beifällig aufgenommenem poetischen toaste die damen,
worauf rector dr. Wecklein-München die Versammlung veranlaszte,
dem anwesenden regiernngspräsidenten frhr. v. Pfeufer zu seinem mor-
gigen 40jährigen dienstjubiläum ihre glückwünsche auszusprechen. —
Herr v. P teufe r erwiderte hierauf in launiger rede, in welcher er
zunächst seiner Überraschung über diese liebenswürdigkeit bei dieser
gelegenheit ausdruck gab und dann aus seiner eignen gymnasialzeit
einige mitteilungen machte, die mehrfach heiterkeit hervorriefen, herr
v. Pfeufer schlosz mit einem hoch auf die classische bildung. — Prof.
B 1 ü m ne r -Zürich : nachdem man Deutschlands feste eiuigung gefeiert
habe, müsse man wohl notwendig auch desjenigen mannes gedenken,
der noch als letzter von den männern unter uns weilt, welche diese
einigkeit wirklich vollbrachten, mein hoch gelte dem alten im Sachsen-
walde, (lebhafter stürmischer beifall.) — Die musik bei dem festessen
besorgte die Capelle Fach; das festessen selbst besorgte in allgemein
zufriedenstellender weise herr restaurateur Eckel.
Zweite hauptversammlung (21 mai).
Nachdem in den morgenstunden im polvtechnicum eine reihe von
sectionssitzungen stattgefunden, wurde vormittags 10 uhr im Odeon die
zweite hauptversammlung vom zweiten Präsidenten, studienrector dr.
Arnold, eröffnet, dieselbe war wieder zahlreich besucht; auch cultus-
minister dr. v. Müller und die ministerialräte v. Giehrl und Zeitlmann
wohnten derselben bei. — Präsident Arnold lud zunächst die Präsi-
denten der letzten Versammlungen und die Wiener herren ein nach den
Statuten als commission für die Bestimmung des nächsten versainmlungs-
ortes zusammenzutreten. — Die gesellschaft für deutsche erziehnngs- und
schulgeschichte , deren begründung auf der 39n philologenversammlung
beschlossen worden war, übersendet den ersten band ihrer mitteilungen,
herausgegeben von dr. Kehrbach, sowohl präsident Arnold als, aus
der mitte der Versammlung, prof. dr. Q ünt her - München empfehlen
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deutscher philologen und schulmänner zu München. 261
dringend den beitritt zu dieser unter günstigen anspielen ins leben ge-
rufenen gesellschaft. die mitteilungen bergen namentlich auch aus
Bayern reiches material. — Der bericht der Comeniusstiftung in Leipzig
wird im 'tagblatt' abgedruckt. — In die tagesordnung eintretend erhielt
hieranf das wort herr geheimrat dr. v. Brunn zu seinem vortrage über
Apollo Ginstiniani. der redner gieng von der Voraussetzung aus, dasz
die griechischen götterideale nicht bildungen einer subjectiven phan-
tasie, sondern künstlerische Schöpfungen seien, die, aus einer inneren
notwendigkeit erwachsen, ihre berechtigung in sich selbst tragen, frei
seien allerdings die künstler gewesen in der wähl und der begrenznng
der ideen nicht der gottheit überhaupt, sondern der besonderen gott-
heit nach den verschiedenen Seiten ihres wesens, das sich zuweilen
sogar in bestimmten gegensätzen entwickele, das sei der fall bei Apollo,
an dem die gestalt des thatkräftigen, helfenden, wie strafenden fernhin-
treffers gegenübertrete dem von dichterischer begeisterung getragenen
gotte des gesanges und führer der Musen, als Vertreter dieser beiden
entgegengesetzten pole im wesen des gottes wurden die in abgüsseu
ausgestellten beiden köpfe des belvederischen und des jetzt im britischen
museum befindlichen Giustinianischen Apollo bezeichnet, und durch eine
analytische betrachtung ihrer formen wurde dargelegt, wie in der ge-
samtanlage der massen nnd ihrer äuszeren anordnung das gemeinsame,
die ideelle einheit als eine unverkennbare einheit, eine enge Verwandt-
schaft zu tage trete, anderseits aber in der Verteilung oder richtiger iu
der Verschiebung der massen, in der veränderten Stellung des kopfcs
zum halse und zum nacken, der gegensatz der beiden köpfe zur an-
schanung gelange, so dasz man den einen, den belvederischen, gewisser-
xnaszen als das activum, den andern, den Giustinianischen, als das pas-
sivum des gleichen grundbegriffes bezeichnen könne, was die alten
unter dichterischem wuhnsinn verstanden, sei wohl nie schärfer zum
ausdruck gebracht worden, als in diesem letzteren, so dasz es fast
scheinen möchte, der künstler sei wenigstens bis hart an die grenze
gegangen, über welche hinaus das ideal eines griechischen, auf den
lichten und heiteren höhen des Olympes wohnenden gottes nicht gedacht
werden dürfe, hier aber diente dem redner die vergleichnng des kopfes
eines Triton, in welchem es gestattet war die elementare naturkraft des
meeres als erregt von wilder, sinnlicher leidenschaft , ungezügelt von
sittlicher selbstbeherschung zur darstellung zu bringen, um auf die weise
mäszigung uud Zurückhaltung hinzuweisen, durch die es dem künstler
gelungen ist, den olympischen gott zu erfassen als frei von leidenschaft
nnd momentaner erregung, nur als erfüllt und durchdrungen von einem
pathos, einem leiden, von einem geistigen affect, der tief begründet in
der inneren uatur des gottes, ihm selbst zur anderen natur geworden
ist. — Lange bevor die beiden Apolloköpfe entstanden, habe es voll-
endete darstellungen des gottes gegeben und doch sei keiner der künstler,
der sie geschaffen, nur nachahmer früherer generationen gewesen,
frei seien sie gewesen in der wähl der besonderen ideen, gebunden
allerdings in deren durchführung, aber gebunden nur durch das gesetz.
aber erst in der ganzen und vollen freudigen erfüllung des gesetzes
befreie sich der genius von wirklich hemmenden fesseln, den fesseln
des zufälligen, vergänglichen und erhebe sich zum priestertum des
ewigen, unvergänglichen.
Hierauf nahm das wort der generalsecretär des kaiserl. deutschen
archäologischen instituts, prof. Conze, uud machte im namen des
intstitnt8 eine mitteilung im anschlusse an Verhandlungen auf der letzten
philologenversammlung in Görlitz, betreffend die stelle, welche die sog.
classische archäologie — die Wissenschaft der antiken kunst — in der
ausbildung der gymnasiallehrer beansprucht.
In Görlitz war aus den lehrerkreiseii selbst unter anderem der
wünsch zum ausdruck gekommen, dasz an groszen mittelpunkten archäo-
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262 Bericht über die Verhandlungen der 41n Versammlung
logischen Bammeins und forschens feriencurse zumal für lehrer, welche
solchen mittelpunkten fern wirken, veranstaltet werden möchten. — Die
Görlitzer anregungen sind inzwischen in Österreich weiter verfolgt, und
für Deutschland hat das archäologische institut es sich angelegen sein
lassen, für sie einzutreten, mit den feriencursen ist auf anlasz dessen
vom kgl. preuszischen Unterrichtsministerium im mai 1890 ein versuch
gemacht, bei dessen Wiederholung in diesem jähre zu einem zusammen-
wirken der verschiedenen deutschen regierungen die hand geboten ist
über ein solches zusammenwirken das wünschenswerte zu besprechen,
lud der vortragende auf den nachmittag alle für die suche sich inter-
essierenden mitglieder der Versammlung ein, indem er der geneigtheit
dankend erwähnung that, welche se. excellenz der kgl. bayerische unter-
richtsminister persönlich zu erkennen gegeben habe und welche auch
von andern regierungen durch entseudung von delegierten zu der be-
sprechung bethätigt sei. — Auch die frage, wie die belebende anschauung
antiker knnst auf classischem boden selbst in immer weitere kreise der
pymnasi.il lehrer getragen werden könne, würde da besprochen werden
können, der vortragende wies noch auf die kräftige initiative hin,
welche in dieser richtung die groszherzoglich badische regierung er-
griffen habe, und erwähnte dann, was das kaiserl. archäologische institut
mit seinen lehranstalten in Rom und Athen derart bisher gethan habe
und weiter zu thun bemüht sein werde, er glaubte es als ein günstiges
zeichen für den fortgang ansehen zu dürfen, dasz hier in Bayern dar-
über beraten werden könne, wo könig Ludwigs Schöpfungen als leuch-
tende Wahrzeichen am wege ständen, wo bereits der praeceptor
Bavariae die Vereinigung von philologie und archäologie personifiziert
hätte und wo in der bestehenden Prüfungsordnung ein fingerzeig für die
bedeutung der archäologie in der gymnasiallehrerbildung gegeben sei.
Herr geh. rat dr. v. Brunn macht sodann, unter hin weis auf die
Wichtigkeit, welche beste anschauungsmittel für die archäologische seite
des gymnasialunterricht8 besitzen, auf das im verlade von Friedrich
brackmann in München unter seiner mitwirkung erscheinende werk
'denkmäler griechischer und römischer sculptur in historischer anord-
nung' aufmerksam, da dieses werk aber, welches vollständig circa
4 — 500 tafeln enthalten wird, zu teuer für die anschaffung der gymna-
sien im einzelnen sei, so empfehle sich eine engere auswahl von ca.
100—120 blatt, welche die Verlagshandlung bei gröszeren bestellungen
zu ermäszigten preisen liefern würde, redner schlagt die an Schaffung
des werkes für alle gymnasien des reiches auf kosten des reiches unter
hinweis anf die schon bestehenden aufwendungen zu ähnlichen zwecken,
wie die aufgrabnngen in Olympia und die archäologischen reichsinstitute
in Rom und Athen, vor.
Geh. oberschulrat prof. dr. Schiller aus Gieszen: die pädagogische
Vorbildung der gymnasiallehrer. der vortragende legt zunächst die histo-
rische entwicklung der frage der höheren lehrerbildung dar; daraus er-
gibt sieli, dasz bezüglich dreier forderungen allgemeine Übereinstim-
mung besteht: 1) der theoretischen Unterweisung über pädagogische fragen,
2) der kenntnisnahme eines vorbildlichen schulorganismus, 3) eigner
wohlgeleiteter Unterrichtsversuche der jungen lehrer.
Pädagogische seminarien an den Universitäten können, sofern ihre
leiter zugleich praktisch erfahrene männer sind, sehr ersprieszlieh wir-
ken, wenn sie die fortbtldung der Wissenschaft der erziehung als ihre
hauptaufgabe ansehen; sie werden durch einrichtung von seminarien,
die mit bestehenden lehranstalten verbunden werden, nicht entbehrlich,
sondern in diesem falle erst recht notwendig, denn in ihnen vermag
sich die Wissenschaft ohne die hemmenden nebenrücksichten der Ver-
waltung frei zu entfalten; die praxis der gymnasialseminarien wird
ihre maszregeln vor dem forum der Wissenschaft zu rechtfertigen haben,
die oben erwähnten drei aufgaben werden sich aber zur zeit nur lösen
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deutscher philologen und schulmänner zu München. 263
lassen in der Verbindung von pädagogischen seminarien mit bestehen-
den schulanstalten. in den vor dem j. 1890 in Preuszen bestehenden
seminarien verfolgte man neben der einfUhrung in den lehrberuf und
in die pädagogische theorie auch die absieht, die jungen lehrer fach-
wissenschaftlich weiterzubilden; die folge war, dasz die pädagogische
ansbildung hinter die wissenschaftliche zurücktrat, die neueren semi-
narien haben die fachwissenschaftliche ansbildung in der bisherigen
form aufgegeben und suchen ihre aufgäbe darin, die jungen lehrer an-
zuleiten, das auf der Universität erworbene wissen für die bedürfnisse
des Unterrichts zu ergänzen und zu erweitern, dies ist nur möglich,
wenn neben dem director noch eine gröszere anzahl von tüchtigen
lehrern vorhanden ist, welche durch teilung der arbeit in den stand
gesetzt werden, den fortschritten der Wissenschaft zu folgen, für diese
wissenschaftliche aufgäbe werden besondere abteilungen (eine altphilo-
logische, neusprachliche, physikalische usw.) im seminar gebildet, in
einer für alle candidaten verbindlichen turnabteilung sucht man das
ideal zu verwirklichen, dasz allmählich jeder Ordinarius auch die körper-
liche ausbilduDg seiner classe zu tibernehmen, ihr vorbild in körper-
licher frische und rüstigkeit zu werden vermag.
Die seminarzeit braucht die dauer eines jahres nicht zu über-
schreiten, eine hauptsache aber, um die üblen Wirkungen des isolierten
fochlehrertums zu beseitigen, dem wesentlich die überbürdung mit ge-
dächtnisstoff und die Verdrängung der erzieherischen thätigkeit durch
die lediglich anhäufung von kenntnissen erstrebende nnterrichtliche zur
last fällt, ist die Vereinigung von candidaten der sprachlich-historischen
und mathematisch-naturwissenschaftlichen richtung in demselben seminar.
die zahl der mitglieder eines Seminars musz auf der einen seite abhängig
gemacht werden von der zahl der lehrer, die für ihre anleitung heran-
gezogen werden können, auf der andern aber von der frage, ob das
seminar das probejahr ersetzen oder nur vorbereiten soll, folgt kein
probejahr der seminarthätigkeit, so musz die zahl der seminarmitglieder
niedriger bemessen werden, weil sonst ein zu groszer teil des unter*
richts den händen der ordentlichen lehrer entzogen werden müste. von
den drei den seminarien zufallenden aufgaben hat die theoretisch-päda-
gogische anleitung die grundhegriffe der psyohologie und ethik und die
hauptthatsachen der geschiente der pädagogik sicherzustellen und ihre
anwendung auf die fragen des Unterrichts und der erziehung nachzu-
weisen, auf dieser grundlage ist die eigentliche Unterrichts- und er-
ziehungslebre aufzubauen, wozu auch die hauptthatsachen der schul -
gesetzgebung und der schulgesundheitslehre gehören, diese anleitung
fällt in der hauptsache dem director zu, während in der speziellen
didaktik und methodik die anleitenden lehrer den candidaten mit bilfe
der unmittelbaren anschauung und der gewöhnung den weg weisen, das
geschieht teils durch referate über die besten einschlägigen Schriften,
teils durch wesentlich induetiv verfahrende Unterredungen, endlich durch
kleinere schriftliche und mündliche ausarbeitungen der candidaten, welche
die anwendung des theoretisch erlernten nachweisen müssen, zum nach-
weise der zwischen theoretischer einsieht und praktischer anwendung
vollzogenen Verbindung dienen von den candidaten zu liefernde, in
den seminarien zu beurteilende gröszere arbeiten, deren wähl den can-
didaten freisteht, aber diese aufgäbe kann nicht gelöst werden ohne
eine weitgehende Übereinstimmung der Unterrichts- und der erziehungs-
thätigkeit an der einzelnen seminaranstalt. denn diese musz vorbild-
liche zustände in erziehung und Unterricht den candidaten bieten, da-
mit ist selbstverständlich der gedanke gänzlich unverträglich, dasz man
die seminarien als eine last, an der alle tragen müssen, von zeit zu zeit
▼ob einer anstalt an die andere verlegen könne, denn bis eine schule
such nur vorbildliche zustände auf dem gebiete der Schulgesetzgebung
und der Schulgesundheitspflege erreicht, dauert es meist eine reihe von
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264 Bericht über die Verhandlungen der 41n versammlang
jähren, aber anch gut gewählte Seminarbibliotheken, musterhafte lehr-
mittelsammlungen, mustergültige Stundenpläne, richtige bemessung der
arbeitszeit, Veranstaltungen zur förderung der leiblichen frische, des
geraeinsinnes schafft man nicht über nacht, sondern sie werden mit
mühe in einer reihe von jähren erzielt.
Sind schon diese aufgaben grosz, so verschwinden sie doch neben
der wichtigsten von allen, der erzielnng von einheitlichkeit in erziehung
und Unterricht, denn sie kann nur aus der Selbstüberwindung aller be-
teiligten hervorgehen, wenn sie wert haben soll, zwang irgend welcher
art ist verwerflich, geroeinsame grundsätze für zucht und Unterricht,
detaillierte speciallehrpläne , die innere Verbindung der einzelnen lebr-
fächer unter einander müssen aus conferenzen aller lehrer erwachsen;
sie dürfen aber nicht auf dem papier stehen, sondern sie müssen that-
sächlich ins leben treten ; denn ein anfänger im lehramte kann nur
einen klaren einblick in die Organisation einer schule erhalten, wenn
sie einheitlich ist. wir roüsten an der lösung dieser aufgaben ver-
zweifeln, wenn nicht die bisherige erfahrung bewiesen hätte, dasz die
einrichtung von seminarien mit beteiligung möglichst vieler lehrer die
beste hilfe für die allmähliche herbeiführung dieser einheitlichkeit der
lehr- und erziehungsarbeit bildet, freilich müssen sich die lehrercolle-
gien ganz anders als bisher mit den ergebnissen der pädagogischen
theorie bekannt machen. — Die praktische einführung der jungen lehrer
geschieht zuerst am besten in der Vorschule, weil diese die aufgaben
des erziehers in einfachster form bietet und weil ihr handgreiflicher
Stoff am durchsichtigsten für die methode ist. sie erfolgt dnrch die be-
teiligten lehrer, welche die candidaten mit dem Stoffe, der bebandlong,
den literarischen hilfsmitteln usw. bekannt machen und sie zur beob-
achtung durch vorhergehende und nachfolgende besprechung anhalten,
gleichzeitig wird in täglichen semiuarsitzungen die theoretische an-
leitung durch den director in stetem anschlusse an die beobachtungen
im unterrichte gegeben, die eigne thätigkeit der candidaten wird vor-
bereitet durch musterlectionen der seminarlehrer und tritt ein in probe-
lectionen, deren beurteilung durch die Seminarmitglieder, den anleitenden
lehrer und den director erfolgt, nach dieser grundlegenden gemein-
samen thätigkeit werden die candidaten ihren eigentlichen fächern im
höheren unterrichte zugewiesen, die sie selbstunterrichtend auf der
unteren und mittleren stufe in gleicher weise wie in der vorschnle
kennen lernen, aber die frühere gemeinsamkeit wird auch dann noch
teilweise festgehalten, indem alle candidaten in dem geographieunter-
richte festgehalten werden und den Zeichenunterricht eingehend kennen
lernen, auch das theoretische seminar bleibt allen candidaten gemein-
sam und hier bildet namentlich die innere Verknüpfung der einzelnen
lehrfächer das alle vereinigende band. — Da die seminarthütigkeit die
volle kraft und das volle iuteresse der candidaten in ansprach nehmen
mu.-z, so musz die Staatsprüfung vor der aufnähme in das seminar voll-
ständig abgeschlossen sein. — Freilich wird auch künftig die persön-
lichkeit des erziehers die hauptsache bleiben und es ist nicht zu er-
warten, dasz in den seminarien die kunst geübt werde, nur gute lehrer
zu bilden, aber wenn nur die bestehenden Schäden des höheren Unter-
richts, in erster linie die Überschätzung einseitiger verstandesbilrtung,
beseitigt werden und eine allseitige förderung des seelischen lebens zu
ihrem rechte gelangt, wenn die theoretisch erkannten Wahrheiten in der
praxis des Unterrichts und der erziehung mit der Wirkung neugesetzt
werden, dasz das interesse und die selbstthätigkeit der schüler erregt
und ihre teilnähme für den Unterricht erzeugt wird, so sind das schon
so wertvolle resultate, dasz jede anstrengung in dieser richtung gerecht-
fertigt erscheint, sicherlich werden dann auch die seminarien dazu
beitragen, das den höheren schulen zur zeit in bedenklichem grade
mangelnde feste pädagogische bewustsein zu schaffen, ohne das eine
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deutscher pbilologen und schulmanner zu München.
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thatsächlich entscheidende Stellung des höheren lehrerstandes in natio-
nalen bildungsfragen nicht denkbar ist.
An den Vortrag schlosz sich eine kurze discussion, geführt von den
herren prof. Uhlig- Heidelberg und hofrat Richter- Jena, ersterer
betont die notwendigkeit einer materiellen hebung des akademisch ge-
bildeten lehrerstandes, letzterer wünscht pädagogische docenturen an
den Universitäten.
Vom prinzregenten von Bayern und vom kaiser von Österreich sind
danktelegramme für die dargebrachten huldigungen eingetroffen.
Schliesslich folgte der Vortrag des herrn prof. dr. Munck er-
München über die dichtung des fLobengrin\ prof. dr. Muncker suchte
zuerst die Stellung des rLohengrin' innerhalb der dramatischen ent-
wicklung Richard Wagners zu bestimmen: die dichtung dieses Werkes
bedeutet den letzten schritt dicht vor dem ziele auf dem wege zu dem
Wagnerschen ideal des musikalischen dramas, das selbst nur eine neu-
gestaltung des antiken gesamtkunstwerks, der attischen tragödie, aus
deutsch- nationalem geist und mit den reicheren künstlerischen mittein
der gegenwart sein solle, er untersuchte dann die verschiedenen mittel-
alterlichen sagen vom schwanritter, aus denen Wagner dramatische
raotive entlehnte, den sog. bayerischen 'Lohengrin' ans dem 13n jahr-
hnndert, den jüngeren Titurel, die flämischen volkssagen von den ahnen
Gottfrieds von Bouillun, und zeigte, wie Wagner das, was hier episch
breit und in losem Zusammenhang erzählt war, dramatisch zu verdichten
und wirkungsvoll äuszerlich wie innerlich zu concentrieren wüste, seine
hauptquelle war und blieb der bayerische 'Lohengrin», den er zweifel-
los genau gelesen hatte und auch in manchen einzelzügen, ja gelegent-
lich wörtlich benützte, die übrigen mittelalterlichen gediente kannte
er höchst wahrscheinlich nur aus den kurzen Inhaltsangaben, die Qörres
in seiner einleitung zu jenem bayerischen 'Lohengrin' (1813) und die
brüder Grimm im zweiten band ihrer 'deutschen sagen' (1818) davon
mitteilten, von neueren werken lieferte ihm Webers 'Euryanthe' be-
sonders für den charakter der Ortrud, Marschners 'templer und Jüdin'
für den gottesgerichtskampf , Immermanns 'Merlin' für die brautnacht-
scene einige züge; der streit der beiden frauen vor dem münster ist
dem Nibelungenliede nachgebildet, diese nachweise thun aber der
Originalität des dichters Wagner nicht den mindesten eintrag. er ver-
fuhr in der gewinnung seines Stoffes wie alle grossen dramatiker der
weltlitteratur. selbständig baute er die handlung seines dramas mit
unvergleichlich wirkungsvoller kunst auf und nötigte dadurch selbst
heftige gegner wie Alfred Meissner zu lautem lobe; selbständig ge-
staltete er seine Charaktere aus, vor allem die tragische heldin Elsa,
selbständig deutete er den sinn der sage, in der er ein uralt mensch-
liches gedieht erblickte, das die natur der menschlichen Sehnsucht und
das wesen der liebe ausspreche, als den typus des eigentlichen ein-
zigen tragischen Stoffes für die moderne gegenwart erkannte er den
Lohengrin, von dem er sich dann dem ältesten und herlichsten mythos
des germanischen volksstammes, den an tragischer poesie unerschöpflich
reichen Nibelungen, zuwandte, (lebhaftester beifall.)
Kellerfest.
Donnerstag abends 8 uhr vereinigte die teilnehmer ein solennes
kellerfest in dem grossen saale des löwenbräukellers. schon lange vor
8 uhr waren die grossen räume bis auf den letzten platz besetzt, auszer
den mitgliedern waren auch zahlreiche gäste aus Universität«- und
rinden tri, kreisen eingeladen, von den ministem nahmen teil frhr.v. Crails-
heim, frhr. v. Feilitzsch und dr. v. Müller, die Capelle Fach hatte ein
auserlesenes musikprogramm aufgestellt, nach dem liede rgaudeamus
igitur' feierte der zweite präsident, studienrector dr. Arnold in humo-
ristischer weise die gastfreundliche Monachia, deren Vertretung den
266 Bericht über die Verhandlungen der 41n Versammlung
gasten dieses fest gebe, hierauf erwiderte der zweite bürgermeister
Borscht, indem er in launiger, mit vielem beifall aufgenommener rede
die gaste zu einem recht gründlichen quellenstudium aufforderte, rector
Schmalz -Tauberbischofsheim feierte den prof. dr. Wölfflin, welcher
zum heutigen abend einen festmarsch componiert hatte, studienlebrer
Wi8 m eye r-München begrüszte als Müncher kindl in einigen trefflich
gesungenen heiteren Strophen die anwesenden, im laufe des abends
folgte noch eine reihe ausserordentlich gelungener komischer vortrage,
die flanx satura philologorum Monacentium', eine kneipzeitung im um-
fange von 20 Seiten, enthält eine fülle der witzigsten leistungen und
wurden einzelne cabinetsstücke daraus vorgetragen, den höhepunkt
erreichte die heiterkeit bei aufführung einer zwerchfellerschütternden
dramatischen parodie fDido und Aeneas». prof. Steinberger trag ein
gedieht rdie Verteilung der flora' vor, dr. Möller-Neu-Ulin toastete in
poetischer form auf das bayerische bier. — Alles in allem war der
abend sehr genuszreich und es werden ihn alle teilnehmer im besten an-
denken bewahren, das gelungene fest währte denn auch bis lange nach
mitternacht.
Dritte hauptversammlung (22 mai).
Vormittags 10 uhr wurde die dritte hauptversammlung eröffnet,
derselben wohnte wiederum cultusminister dr. v. Müller, sowie eine
grosze zahl von mitgliedern bei. präsident prof. dr. v. Christ gab
bekannt, dasz über den nächsten Versammlungsort noch keine Verein-
barung getroffen werden konnte, er hoffe morgen einen bestimmten
Vorschlag machen zu können. — Hierauf wird in die tagesordnung ein-
getreten, zunächst hielt prof. dr. Theodor Schreiber-Leipzig einen
hochinteressanten Vortrag über rdie barockelemente der hellenistischen
kunst'. der vortragende begann mit einem hinweis auf die Wichtigkeit
der frage, wann das antike barock entstanden sei. nach der gewöhn-
lichen auffassung ein produet der römischen kunst, ist es nnch meinang
des redners bereits in der ersten hellenistischen zeit, in der epoche
Alezanders des groszen und seiner nachfolger entstanden. Alexandrien
bezeichnet er als den ort, wo mit der gründung des mächtigeu Sera-
peions bereits alle denkmale des barockstils auftauchen, die nene
kunstrichtung erklärt sich einmal aus den herschenden einflüssen der
fürstenhöfe auf die bildende kunst, ferner aus der wachsenden inten-
sität des privatlebens, welche zum entstehen einer genrehaften, für das
Wohnhaus arbeitenden kunst führt und endlich aus einer mächtig wach-
senden naturfreude, einem unsern modernen empfinden ganz verwandten
sentimentalen interesse an der Schönheit der freien natur, an dem wald,
an dem hirten- und schäferleben, diese drei gesichtspunkte wurden aus-
führlicher erörtert, besonders die bauleidenschaft der hellenistischen
fürsten und ihre mit dem feinsten künstlerischen Verständnis einheit-
lich durchgeführten Städtegründungen besprochen, in dieser weise
hellenistische musteranlagen sind die städte Alexandria, Antiochia am
Orontes, Caesarea augusta, Gerasa, Philadelphia u. a. es entwickelt
sich in dieser Städtebaukunst eine eigenartige raumpoesie, die darauf
ausgeht, in den prächtigen perspectiven breiter feststraszen den im
hintergrund auf gewaltigem unterbau emporragenden hauptgebäuden in
gartenanlagen, hafenbauten usw. malerische Städtebilder zu schaffen,
charakteristisch ist ferner die dem antiken und modernen barock eigen-
tümliche raaterialkünstelei, ein verwenden kostbarster Stoffe, von edel-
metall, edelsteinen und von glas und elfenbein für die wanddecoration
ebenso wie für die bildhauerei, die sich bis zur anfertigung ganzer
Statuen aus edelsteinen und selbst aus farblosem krystall verstieg. —
Die einkehr der kunst in das Volkstum, die darstellung von scenen aus
dem alltagsleben , die jetzt erblühende genremalerei sind ein weiteres
rooinent der barockkunst, die freilich auch vereinzelt monumentale
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deutscher philologen und schulmänner zu München.
Jeistnngen von der rnächtigkeit des pergamenischen altarfrieses schaffen
kann (das werk eines wahrhaft genialen antiken Bernini), der dritte
den stilumschwung der hellenistischen kunst wesentlich mitbedingende
hauptfactor, die immer stärker und allgemeiner werdende naturfreude
fuhrt in der dichtung zur entstehnng des idylls und des romans, in der
bildenden knnst znr landschaftsmalerei, zum reliefbild und einer be-
sondern gattung landschaftlicher rundplastik, welche allerlei figuren
aar gartenausschmückung geschaffen hat. — Das wichtigste material
für diese geschichtlichen forschungen, die reste der am besten und zahl-
reichsten in Syrien erhaltenen Städtegründungen berührte der vortragende
am Schlüsse mit dem hinweis auf die drohende gefahr schneller und
radicaler Vernichtung dieser trümmer, welche bei dem mangel an inter-
esse seitens der türkischen regierung unvermeidlich scheint, der redner
schlosz mit dem wünsche, dasz es gelingen möge, noch rechtzeitig so
viel von diesem material für die Wissenschaft zu retten, als möglich
sei. (beifall.)
Indem der Vorsitzende prof. dr. v. Christ dem vortragenden für
den anregenden Vortrag dankte, gab er auch der hoffnung ausdruck,
dass es der gegebenen anregung gelinge, dasz den barbaren, welche
jetzt in diesem herlichen lande wohnen, wenigstens die denkmäler einer
groszen Vergangenheit entrissen und der Wissenschaft und kunst zu-
gänglich gemacht werden. — Den zweiten Vortrag hielt prof. Iwan
t. Müller über 'Galen als philologe'.
Der vortragende gab zunächst einen culturhistorischen überblick
über die regierungsperiode des kaisers Mark Aurel, über die richtungen
und gegensätze, welche das geistige leben in den culturländern des Welt-
reichs unter dem philosophen auf dem throne beherschten und den be-
aondern charakter jener culturperiode bestimmten, es war ein eigen-
tümliches, aber erklärbares zusammentreffen, dasz damals auf drei ?er-
schiedenen gebieten des Wissens gelehrte auftraten, welche eine mehr
als tausendjährige autorität auf die mittelalterliche weit und neuere zeit
ausübten: Apollonios Dyskolos und sein söhn Herodian auf dem gebiet
der griechischen Sprachwissenschaft, Claudius Ptolemäus auf dem der
astronomie und geographie, Galen auf dem der medicinischen Wissenschaft,
dessen unbedingtes ansehen erst mit der entdeckung des blutumlaufs
durch Horweg im 17n jahrhundert gebrochen wurde, aber derselbe mann,
der an Vielseitigkeit des Wissens und litterarischer betriebsamkeit seines
gleichen suchte, verdient auch als mitarbeiter am bau der philologischen
Wissenschaft in forschuug und methode von einer Versammlung von
philologen gewürdigt zu werden, seine philologische thätigkeit war
eine doppelte, eine sprachwissenschaftliche und eine exegetische, die
werke der erstem art hatten den zweck, die richtige bedeutung der
antik attischen Wörter gegenüber der misbräuchlichen anwendung der-
selben festzustellen, dabei aber für die rechte des gemeingriechischen
im gebrauche der gegenwart gegenüber den bestrebungen, das altattische
zur alleinigen litteratur- und conversationssprache der gebildeten zu
machen, mit entschiedenheit in die schranken zu treten, die comraen-
tare Galens hatten die logischen Schriften des Aristoteles und einiger
peripatetiker, den Timäus des Plato, insbesondere die Sammlung der
unter dem namen des Hippokrates auf seine zeit gekommenen Schriften
zum gegenstände, an der hand der von Galen selbst aufgestellten grund-
sätze der exegese wies der vortragende nach, in welcher weise Galen
in den noch erhaltenen commentaren des Hippokrates die damals theo-
retisch geschiedenen aufgaben der eigentlichen aus legung und der be-
urteilnng des Wahrheitsgehaltes der ausgelegten stellen vereinigte, wie
er mit der exegese textkritik und höhere kritik zu verbinden und an
die beurteilende betrachtung der lehrmeinungen der stoischen schule und
ihres meisters den ausbau seines eignen Systems zu knüpfen wüste,
diese zwecke hätte er nicht erreichen können, wenn er nicht mit natur-
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268 Bericht über die Verhandlungen der 41n Versammlung
wissenschaftlicher erkenntnis nnd forschungsart philologische Gelehr-
samkeit und methode verbunden hätte, in Galen, schlosz der vor
tragende, zeigt sich das unleugbar vorhandene band zwischen natur- und
geisteswissenschaft gleichsam verkörpert, und darauf hinzuweisen dürfte
gerade in unserer gegenwart ein nicht ungerechtfertigter versuch ge
nannt werden.
Vorsitzender prof. v. Christ dankt dem redner; man habe ge-
tadelt, dasz so viel archäologische und literarhistorische Vorträge auf
der tagesordnung standen und die alte philologie etwas zu kurz ge-
kommen sei; der Vortrag Iwan v. Müllers sei wohl in dieser richtung
ersatz für vieles, (beifall.) — Schlieszlich sprnch herr gymnasialreitor
Max L e c Ii n e r- Nürnberg über 'Sophokles auf der modernen bühne'.
Der vortragende gibt eine geschichte der aufführungen Sopho-
kleischer dichtungen in Deutschland, beginnend 1575 auf der akademie
zu Straszburg bis zu Goethe, der 1809 die Antigone in Rochlitz' über*
Setzung zu Weimar aufführen liesz. von da an und besonders seit
Friedrich Wilhelm IV, der das griechische drama mit deutschem ge-
wand förderte, erfolgte eine reihe von aufführungen der Antigone, des
Oedipus usw. Mendelssohn und Lachner schrieben zu mehreren der
dramen die mnsik. 1866 trat ein neues Stadium durch aufführung von
Oedipus und Antigone in Wilbrandtscher Übersetzung zuerst im Mei-
ningen ein, werke, die 1886 in München und 1887 am burgtheater in
Wien groszartige theatralische erfolge erzielten, redner schlieszt mit
dem wünsch, dasz die beranblühende jugend sich den reinen und edlen
genüssen, welche ihr solche aufführungen bieten, mit voller seele hin-
geben möge, um die hinreiszende Wirkung und den unvergleichlichen
zauber griechischer poesie, für die wir sie auf der schule zu begeistern
bemüht sind, recht lebhaft zu empfinden, damit sie später in etwas ver-
änderten Worten, aber in noch höherem sinn mit dem dichter von sich
sagen könne, dasz sie die alten nicht hinter sich liesz, die schule in
hüten, nein, dasz sie später ihr auch sind in das leben gefolgt, (leb-
hafter beifall.)
Vorsitzender prof. v. Christ schlosz mit dem ausdruck des dankes
an den vortragenden um 1 uhr die dritte hauptversammlung.
Ausflug.
Der programramäszige ausflug an den Starnberger see fand gestern
trotz der ungünstigen Witterung unter sehr zahlreicher beteiligung von
herren und damen statt und verlief in animiertester weise, indem sowohl
auf dem herlich gelegenen Tutzinger keller als auch im bahnhofhotel
Simson lustig unter den klängen zweier musikcapellen getanzt wurde,
eine reihe vom ausschusz vorbereiteter heiterer Vorträge rauste leider
infolge der durch das schlechte wetter gebotenen trennung der gesell-
schaft unterbleiben, um 10 uhr führte ein extrazug die teilnehmer nach
München zurück.
Vierte hauptversammlung (23 mai).
Die vierte (letzte) hauptversammlung fand heute vormittags 10 ubr
unter dem Vorsitz des zweiten Präsidenten, gyninasialdirector dr. Arnold-
München, statt, sie war wie alle Vorgänger sehr zahlreich besucht. —
Se. excellenz der herr cultusminister dr. v. Müller war dienstlich ver-
reist; als Vertreter der kgl. Staatsregierung wohnten die herren ministe-
rialräte v. Giehrl, v. Auer, Zeitlmann und regierungsrat Bumm der Ver-
sammlung bei. — In die tagesordnung eintretend, sprach zunächst
privatdocent dr. Rudolf v. Sc ala- Innsbruck über Isokrates und die
geschichtschreibung.
Der vortragende geht von der darstellungsweise der vergangenen
ereignis8e durch erzählende dichtung, geschichtschreibung und beredt-
samkeit aus, weist darauf hin, dasz alle drei richtungen im griechischen
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deutscher philologen und schulmänner zu München.] 269
leben versucht haben die Vergangenheit zur wiedergäbe zu bringen und
stellt an die spitze der dritten richtung Isokrates und seine schule. —
Isokrates leidet, so thöricht auch seine rolle gegenüber Piaton sein
mag, unter der grösze seines gegners und man überträgt den eindruck
des mangelhaften dialektikers nur zu leicht auf die gesamtpersönlich-
keit. diese auf philosophischem gebiete nicht ganz unbewanderte per-
sönlichkeit — redner weist die bekanntschaft mit Xenophanes nach — ,
die auf historischem gebiete sich zum gutem teil in von Gorgias
überkommenen redewendungen bewegt, erscheint auf politischem ge-
biete doch weit bedeutender, nachdem der redner die läge Griechen-
lands in wenigen strichen skizziert hatte, zeigt er die Stellung des
Isokrates gegenüber könig Philipp von Makedonien, die ratschläge
sind von diesem und seinem söhne so genau ausgeführt worden, dasz sie
fast wie eine Weissagung aus dem erfolge aussehen, diese scharf um-
schriebene Stellung des Isokrates hat auf die nachfolgende geschicht-
schreibung so stark gewirkt, dasz sie die Zeitgeschichte des Isokrates
auch mit den äugen des Isokrates ansieht, der vortragende weist dies
an beisptelen aus den werken seiner Schüler Ephoros und Theopompos,
sowie der Alexandergeschichtschreibung nach, verfolgt die einwirkung
bis auf Polybios und streift die weitere nach Wirkung bis in die späte
stoa. nach einem hinweis auf die hier noch der lösung harrenden fragen
schlieszt der redner mit worten aus dem letzten brief des Isokrates, der,
kurz vor seinem tode geschrieben, jegliches politisches verdienst ablehnt
und somit mit dem sonst so eitlen mann versöhne.
Die anwesenden lohnten den vortragenden mit reichem beifall. —
Hierauf erfolgten die berichte der einzelnen sectionen. über die Ver-
handlungen der pädagogischen section berichtete an stelle des Vorsitzen-
den, prof. 8 ehr ad er- Halle, herr rector Weck lein - München, die
Verhandlungen wurden eingeleitet durch einen Vortrag von prof. Oscar
Jäger- Cöln über 'das vergängliche und bleibende am humanistischen
gymnasium'. diesem Vortrag waren folgende thesen zu gründe gelegt:
1. Das humanistische gymnasium kann seine aufgäbe als vor-
bereitungsanstalt für akademische Studien nur dann lösen, wenn in
seinem lehrplan ein centraler nnterrichtsgegenstand, auf allen classen-
stufen mit überwiegender Stundenzahl ausgestattet, vorhanden ist.
2. Die gefahr, durch ein vielerlei nebeneinander hergehender
Unterrichtsgegenstände die geistige kraft der schüler zu zersplittern
und dadurch zu schwächen, ist für das humanistische gymnasium in
hohem grade vorhanden, sie ist durch die gegenwärtigen reform-
bewegungen, auch durch einzelne beschlösse der Berliner december-
conferenz, erheblich gewachsen.
3. Eine Vermehrung der deutschen Unterrichtsstunden wird
den nationalen geist ebenso wenig stärken, als Vermehrung der
religionsunterTichtsstunden den religiösen, oder Vermehrung der ge-
schichtsunterrichtsstunden den historischen sinn stärken würde.
4. Der betrieb des lateinischen und griechischen auf den deut-
schen gymnasien unserer tage leistet der jugend mehr und besseres,
als er den generationen früherer Jahrhunderte geleistet hat: dieses
Studium bindet die verschiedenen Unterrichtsfächer zusammen, indem
es für ihren wissenschaftlichen betrieb die historische grundlage und
die psychologischen Voraussetzungen schafft.
5. Kenntnis des französischen, englischen, naturwissenschaftliche
kenntnisse sind jederzeit und für alle kreise sehr wichtig gewesen
und sind es heute nicht in höherem, aber in gleichem grade, wie zu
Goethes oder Lessings zeit, aber selbst wenn sie es in höherem
grade wären, so würde daraus nicht folgen, dasz sie für die Vor-
bereitung zum akademischen Studium knaben und jünglingen vom
9n bis zum 18n Iebensjahre das Studium der lateinischen und grie-
chischen spräche und litteratur ersetzen könnten.
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270 Bericht über die Verhandlungen der 41n Versammlung
Hierüber entspann sich eine lebhafte debatte; obwohl im einzelnen
die ansichten auseinander giengen, war man im allgemeinen mit den
thesen einverstanden und erklärte sich fast einstimmig für dieselben.
Weiter berichtete in dieser section herr dr. Karl Kehrbach aus
Berlin über den gegenwärtigen stand der editionsarbeiten der Mono-
men u German i ho Paedagogica. von diesem groszen unternehmen, das
im verlaufe der philologenversamralung mehrfach in ehrenvollster weise
erwähnt wurde, sind bis jetzt zehn bände erschienen, unter den dem-
nächst erscheinenden publicationen wird sich eine umfassende arbeit
über prinzen- und prinzessinnenerziehung im Wittelsbacher
regentenbause befinden, deren Verfasser, herr prof. dr. Schmidt, in
dem der philologenversammlung gewidmeten ersten hefte der mittei-
lungen der gesellschaft für deutsche erziehungs- und schulgeschichle
interessante auszüge aus dem werke gibt.
Der Vorsitzende wünscht dem unternehmen, das bis jetzt im in- und
auslande den beifall der gelehrten gefunden, gedeihlichen fortgang.
Über die Verhandlungen der philologischen (kritisch -exegetischen)
section berichtete dr. Gom perz-Wien, über die archäologische section
geheimrat v. Brunn - München, über die orientalische section prof.
Kuhn - München, über die romanistisch -germanistische section prof.
Brenn er- München, über die indogermanische prof. Os t ho ff-Heidel-
berg, über die neusprachliche prof. dr. Breym ann- München, über die
mathematisch -naturwissenschaftliche prof. dr. Günther-München und
über die historische privatdoceut dr. Ö im onsfeld -München. — General-
secretär dr. Conze- Berlin machte noch mitteilung über die im kaiserl.
archäologischen institut zu Berlin veranlaszte hesprechung über ein-
führung archäologischer feriencurse für gymnasialiehrer in Deutschland,
hierzu waren von verschiedenen regierungen delegierte gesandt: von
Bayern dr. Arnold und v. Brunn, Württemberg v. Dorn und v. Schwabe,
Baden Wagner, Sachsen-Coburg-Gotha Rauch, für Hessen Soldan, für
Anhalt Krüger und für Reusz j. L. Schneider, die Versammlung erklärte
sich für die ausdehnung der in Preuszen eingerichteten archäologischen
curse, erklärte es für wünschenswert, dasz bei ablegung der Staats-
prüfung den studierenden die Orientierung auf dem gebiete der archäo-
logie zur pflicht gemacht werde und dasz archäologisch gebildeten gym-
nasiallehrern durch Urlaub und Stipendien gelegenheit zum besuch von
Italien und Griechenland gegeben werde. — Der zweite präsident, dr.
Arnold, berichtet hierauf über die wähl des nächsten Versammlungs-
ortes, die commission schlägt hierfür Wien vor, und ist auch bereits
ein telegramm des bürgermeisters dr. Prix, welcher sich damit einver-
standen erklärt, eingetroffen. — Wien wird hierauf einstimmig gewählt
und als Präsidenten bestimmt hofrat dr. Härtel- Wien und regierungs-
rat Egger v. Möllwaldt, director des Theresianischen gy mnasinms
in Wien. — Die nächste Versammlung soll voraussichtlich im herbste
1893 stattfinden.
Hofrat dr. Schenkl-Wien dankt für diese wähl, bei welcher die
herren offenbar von dem gedankeu geleitet waren, die geistige gemein-
schaft zwischen Osterreich und Deutschland auf dem gebiete der Wissen-
schaft und des Unterrichts zu pflegen und zu heben, (beifall.) er heisze
die Versammlung heute schon in Wien willkommen und hoffe, dasz sich
dieselbe würdig anreihen werde der Münchener, die durch ihren glänz,
ihren wissenschaftlichen gehalt, die umsichtige leitung, die liebens-
würdigkeit und den frohsinn, der dabei zu tage trat, in aller erinnerung
bleiben werde, (bravo!)
Hierauf schlosz herr rector dr. Arnold die 41e Versammlung der
Philologen und Schulmänner mit einer längeren, mit lebhaftem beifall
aufgenommenen anspräche: meine herren! die tngesordnung ist nun-
mehr erschöpft und hiermit auch die vierte sitzung zu ende, da dies
aber zugleich die letzte sitzung unserer Versammlung ist, so übe ich
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deutscher philologen und Schulmänner zu München.
271
das althergebrachte recht des zweiten Vorsitzenden aus, vor dem scheiden
noch einige worte an Sie zu richten, worte, sage ich, und nicht —
wobei Sie ohne zweifei erleichtert aufatmen werden — eine rede,
denn für den schlusz einer philologenversammlung scheint mir der alte
schnlmeisterspruch prima lectio brevis sit umgewandelt werden zu
müssen in ultima lectio brevissima sit. und so gestatten Sie mir denn
einen kurzen rückblick auf den verlauf unserer Versammlung, der eine
teil stand unter dem zeichen des cuuuoieiv, der andere unter dem des
cuvr)Ö€c6at. unser gemeinsames arbeiten darf wohl als ein ebenso
energisches wie vielseitiges bezeichnet werden, ein deutscher dichter
brach einmal in den wehruf aus: rwie schmerzt es mich, auf also
sand'gen sparen euch immer noch zu sehen, ihr philologen ." ich glaube
nicht, dasz er dies heutigen tages wiederholen würde, unsere Wissen-
schaft hat sich dem einflusse der zeit nicht entzogen, sie ist in gutem
sinne realistischer geworden, sie greift hinein ins volle leben sei es
der Vergangenheit, insbesondere des classischen altertums, sei es der
gegenwart, nnd weist uns die bedingungen, Wesenheiten, manigfaltig-
keiten und Verschiedenheiten desselben auf. nach dieser seite haben
sich zumeist die geistvollen und gediegenen vortrage unserer allge-
meinen Sitzungen bewegt, doch wurde darüber auch die streng wissen-
schaftliche detailarbeit nicht hintangesetzt, wofür die besonders eifrige
thätigkeit der sectionen zeugt, denn erfreulicherweise ist zu den von
vorn herein in aussieht genommenen sectionen nicht nur eine histo-
rische hinzugetreten, sondern auch seit 1872 (neuuzehn jähren) wieder
zum ersten male — eine indogermanische neu begründet worden, so
dasz unsere Versammlung mit der stattlichen anzahl von neun sectionen
auftritt, es ist wohl eine aufgäbe künftiger Versammlungen, in dieser
hinsieht weitere arbeitsteiligen herbeizuführen, aber auch auf dem
gebiete der schule hat unser congress eine besondere bedeutung. es
ist, wenn ich nicht irre, das erste mal, dasz ein Vortrag pädagogischer
natnr in einer allgemeinen Sitzung gehalten wurde, es ist ebenfalls
ein zeichen der zeit, welche auch in der schule die präzis mit nach-
druck betont, welche aufmerksamkeit unserer thätigkeit in dieser rich-
tung zugewendet wird, geht aus dem umstände hervor, dasz das College
for the training of teachers in New-York für seine neue educational
review einen bericht über dieselbe erbeten hat. um so mehr haben
wir die pflicht, die deutsche schule, das deutsche gymnasium auf seiner
höhe und eigenartigkeit zu erhalten und insbesondere dafür zu sorgen,
dasz unserer jugend die echt deutschen tugenden der idealität, gründ-
lichkeit und arbeitsamkeit erhalten bleiben, dasz unsere Versammlung
hierzu ihren teil beitragen wird, darf nach manchen kundgebungen bei
derselben als sicher angenommen werden, was nun das cuvrjöccSai an-
langt, so wollen wir nur hoffen, dasz Sie so gerne bei uns weilten,
als wir Sie bei uns sahen, an gutem willen, Ihnen freude zu bereiten,
hat es uns nicht gefehlt, wenn gleichwohl manches nicht so gelungen,
wie wir es gewünscht, wenn insbesondere gestern uns Jupiter pluvius
nur allzu günstig gewesen ist, so mögen Sie einesteils nachsieht mit
uns haben, andern teils bedenken, dasz des lebens ungemischte freude
auch den philologenversammlungen nicht zu teil wird. — Meine herren!
es erübrigt mir noch die pfiieht des dankes, des dankes zunächst an
Sie , dasz Sie so zahlreich unserem rufe gefolgt und durch leitung der
sectionen, durch Vorträge, debatten, mitteilungen und arraugement treff-
licher ausstellungen zu allseitiger förderung angeregt und beigetragen
haben. — Aber es geziemt sich auch noch von dieser stelle aus den
ehrerbietigsten dank seiner königlichen hoheit dem prinzregenten für
die unserer Versammlung zugewendete huld, seinem erlauchten enkel,
prinz Kupprecht königliche hoheit, dasz er die eröffnung unserer Ver-
sammlung mit seiner gegenwart auszeichnete, der königlichen Staats«
regierung, insbesondere seiner excellenz dem königlichen staatsminister
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272 Bericht üb. d. 41e Versammlung deutscher philologen u. schulmänner.
des innern für cultus und Schulangelegenheiten herrn dr. von Müller,
welcher so gütig war, sein bedauern ausdrücken zu lassen, dasz er der
heutigen sitzung wegen abwesenheit nicht beiwohnen könne, für seine
uns in hohem grade ehrende warme und unermüdliche teilnähme an
unseren Verhandlungen, den königlichen hof- und staatsstellen für die
gnädige gewährung manigfaltigster begünstigungen und liberale dar-
bietung ihrer herlichen räume, sowie der ihrer obhut anvertrauten
schätze der kunst und Wissenschaft; insbesondere der königlichen
generalintendanz für die schönen zu ehren unseres cougresses veran-
stalteten, mit einzelnen Vorträgen zusammenhängenden aufführungen,
den städtischen behörden für die uns durch wort und that bewiesene
Sympathie und last not least unseren liebenswürdigen ausschüssen, aus
deren schön vereintem streben unter freundlicher mitwirkung künstle-
rischer kräfte und der presse aller richtungen, sowie von mitgliedern
des akademischen gesangvereins , sich wirkend erst erhob das wahre
leben. — Doch jetzt musz geschieden sein, und was wir kaum im
herzen lieb gewannen, die fremde führt es neidisch uns von dannen.
aber Sie werden uns dadurch nicht entfremdet werden, die geistigen
bände, die sich zwischen uns gesponnen, sie werden fest und dauernd
geknüpft bleiben, und darum geleite ich Sie aus dem Odeion des
Isarathen mit dem rufe xaipere küI u^uvr|c9e! — Ich erlaube mir die
anfrage, ob noch jemand aus der hochverehrten Versammlung das wort
ergreifen will, (dank!) meine herren! die einundvierzigste Versamm-
lung deutscher philologen und schulmänner ist geschlossen, es lebe
die zweiundvierzigste!
Oberschulrat dr. Wendt-Carlsruhe dankte namens der scheidenden
dem präsidium, den behörden nnd der einwohnerscbaft Münchens für
das gefundene entgegenkommen. fder Vorsitzende habe in der eröffnung-s-
rede darauf hingewiesen, dasz die bedeutung dieser Wanderversammlung
heute eine andere sei als vor mehreren jahrzebnten. gerade in der jetzt-
zeit sei aber der zusammenschlusz aller <rlt ichgesinnten vielleicht wich-
tiger als je, und da sei es erhebend und kräftigend gewesen zu sehen,
wie in Bayern aus einem einmütigen geist von oben herab der ton
angegeben wird, der auch uns stark machen soll, überwiegend sind wir
freilich hier die Vertreter des alterturas, aber wir wollen nicht blosz
wühlen im moder der ruinen, sondern jeder von uns soll sich klar vor
äugen halten , dasz wir emporstreben zu den höchsten zielen unserer
nationalen entwickelung; dasz man dies im auge behält auch auf dem
thron, das musz für jeden, der hier dessen zeuge gewesen ist, herz-
erwärmend gewesen sein, und dies kann für die gesamtentwickelung
Deutschlands in einem augenblick sehr erfolgreich werden, wo es keines-
wegs an stimmen fehlt, die in der that jetzt sich den anschein geben,
als müste die ganze nationale entwickelung auf vollständig neue grund-
lagen gestellt werden, mit der Vergangenheit völlig gebrochen und nur
irgendwie ein ganz neuer bau aufgeführt werden, (lebhafter beifall.) in
diesem sinne könne die so eröffnete, in solchem geiste fortgeführte und
geschlossene Versammlung ihren grossen segen stiften und, wie es die
philologenversammlungen je gethan haben, beitragen zur nationalen
einigung, denn auch die humanistischen Studien sind von jeher ein festes
band nationaler einigung gewesen, das sollen sie bleiben, und wenn
das mit ein ergebnis der diesjährigen Versammlung ist, so wäre das
wohl der schönste lohn für alle, die sich um ihren verlauf verdient
gemacht haben.»
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ZWEITE ABTEILUNG
FÜB GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AU88CHLU8Z DER CLA88I8CHEN PHILOLOGIE
HERAÜ8GEOEBEN VON PROF. DR. HERMANN MASIÜS.
(10.)
BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DES HÖHEREN SCHUL-
WESENS IN DER OBERLAUSITZ,
(fortsetzung.)
Wir wenden uns nun zu den personen, mit denen wir es in der
schule zu thun haben , und fragen zunächst nach der bildung und
der anzahl der lehrer; daran fügen wir die nachrichten über die an-
zahl der schüler.
In den quellen angaben über die bildung der lehrer zu finden,
wird man von vorn herein kaum erhoffen, wir werden daher um so
mehr gelegentliche bemerkungen ausnützen müssen, um auf diese
weise das, was wir über die bildung der lehrer im allgemeinen
wissen , auch für die Oberlausitz nachzuweisen, einen wünschens-
werten anhält gewähren zuerst die überlieferten namen der lehrer,
denen der titel, wenn der betreffende lehrer einen hatte, hinzugefügt
ist. freilich haben wir von den Sechsstädten keineswegs vollstän-
dige listen; die beste noch ist die Görlitzer, welche etwa vom jähre
1370 an bis 1530 die namen von 30[— 32] schulmeistern nennt,
die Zittauer liste gibt 10 — 11 namen, 10 nur, wenn man den in der
Urkunde von 1312, bei Köhler, cod. dipl. Lus. sup. I* anhang s. 98,
14. 15, unter den zeugen genannten *Chunradus magister scole* mit
dem in der Urkunde von 1327, a. o. I* s. 272, ebenfalls als zeuge
erscheinenden 'Conradus magister scolarum1 identificieren will, wozu
Müller, archiv VIII s. 252, neigt und wofür er z. b. die elfjährige
thätigkeit Weissenbachs als Schulmeister in Löbau als ähnlichen fall
anfuhren könnte, mit demselben rechte kann auch geltend gemacht
werden, dasz eine so lange amtsdauer, wie die Weissenbachs und gar
die Conrads, in dieser zeit bis zur reformation und über diese hinaus
zu den ausnahmen gehört und nur durch die hervorragende tüchtig-
N.jahrb. f.phil.u. pid. Il.abt. 1891 hft.6. 18
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274 Beiträge zur geschichte des höh. Schulwesens in der Oberlausitz,
keit der betreffenden männer erklärt werden könnte ; man vergleiche
die Görlitzer liste: sie nennt für 160 jähre 30—32 namen, d.h.
also, wenn sie vollständig wäre, würde jeder der genannten rectoren
fünf jähre im amte gewesen sein ; so aber weist sie noch hier und da
lücken auf, und die durchschnittliche amtsdauer wird auf vier, viel-
leicht gar auf drei jähre herabgesetzt werden müssen, davon, dasz die
zeit des steten rectorenwechsels und die praxis der bestallung der
Schulmeister auf nur ein jähr im 1 in jahrhundert in Sachsen noch
nicht angefangen habe, wie Müller archiv VIII s. 254 meint, kann also
für die Oberlausitz keine rede sein, von den Laubaner schulmeistern
sind uns nur sechs mit namen bekannt; von einem siebenten wissen
wir nur aus seinem schreiben an den rat (1506, das älteste Schrift-
stück der Laubaner schulacten, archiv B 22, la), dasz er sich um
das amt bewarb, gleichfalls zwei namen haben wir aus Löbau er-
halten, aus Bautzen und aus Kamenz, soweit wir erfahren konnten,
keinen, obgleich also unsere Verzeichnisse zum teil recht lückenhaft
sind, können wir doch wenigstens für Görlitz und Zittau annähernd
bestimmen, welches Verhältnis zwischen den schulmeistern, welche
in ihren akademischen Studien die Septem artes bewältigt, und denen
bestand, welche auf der Universität nur das trivium durchgemacht
oder überhaupt keine Universität gesehen hatten, von den 30[— 32]
Görlitzer schulmeistern haben 22, von den 10 oder 11 Zittauern 7
und von den 6 Laubanern 4 den titel 9 magister' ; das ist ein Verhält-
nis und zwar ein in allen drei städten wunderbar übereinstimmendes,
wie wir es günstiger gar nicht wünschen können, zumal wenn wir die
berechnungen Kämmeis in der geschichte des deutschen Schulwesens
8. 125 und Paulsens in der geschichte des gelehrten Unterrichts
s. 18 damit vergleichen; nach Kämmel führte, wenn man ganz
Deutschland ins auge faszt, etwa ein drittel der Schulmeister den
höheren titel der 'magistri', ein zweites drittel den der 'baccalaurei',
während das letzte drittel jedes akademischen grades entbehrte, und
nach Paulsen verliesz vielleicht der vierte teil aller immatriculierten
die Universität als baccalaureus und kaum der sechzehnte teil als
magister.
Einen zweiten anhält, um die wissenschaftliche bildung der
oberlauBitzischen rectoren zu kennzeichnen, gewähren die nach*
richten, welche besagen, dasz viele in andere ämter übertraten, alle
diese männer kennen wir schon, sie haben den magister- titel, wir
wissen also, dasz sie wissenschaftlich tüchtig waren; wir erfahren
aber noch auszerdem, dasz sie sich in ihrem schulmeisteramte so
bewährt hatten, dasz die einen — es sind die meisten von ihnen —
in den rat gewählt wurden , dasz sie dann das amt des stadtschrei-
bers, oft auch das des bür germeis ters bekleideten, und dasz andere,
nachdem sie sich dem kirchlichen dienste ganz gewidmet hatten, zu
hohen ehren emporstiegen , wie z. b. zwei Zittauer Schulmeister in
das Oybinkloster eintraten und der eine, M. Petrus Zwicker, 1395
provincial, der andere, M. Michael de Swibusin, 1407 prior wurde.
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Beitrage zur geschieht« des höh. Bchulwesens in der Oberlausitz. 275
Nicht unerwähnt möge zum Schlüsse bleiben, dasz Weissenbach
in Löbau Schulmeister und stadtschreiber zugleich war, eine Ver-
bindung beider ämter, die sich noch in Plauen und in Iglau nach-
weisen läszt, die freilich eine feste einrichtung nicht gewesen sein,
sondern sich dann von selbst ergeben haben wird, wenn der Schul-
meister im stände war, die pflichten eines notarius publicus zugleich
mit zu erfüllen, daraus geht mit groszer Wahrscheinlichkeit hervor,
dasz auch an andern, besonders kleineren orten jene Verbindung an-
zunehmen ist, auch wenn sich keine besondern belege finden, wir
wiesen oben schon darauf hin , als wir davon sprachen, dasz der rat
dem Schulmeister keine besoldung gewährte, ihm aber höchst wahr-
scheinlich durch Überweisung von kleinen nebendiensten die geringen
einkQnfte erhöhte.
Die anzahl der lehrer stand während des mittelalters und der
folgenden jahrhunderte mit der anzahl der schüler nicht in einer
80 engen Wechselwirkung wie heute.
So viel ist freilich von vorn herein zu vermuten , dasz an den
gröszeren schulen, also an denen zu Bautzen und Görlitz, mehr lehrer
gewirkt haben werden, als an den kleineren der übrigen Sechs-
städte, an der Baut zen er schule waren im anfange des 15n Jahr-
hunderts vier lehrer, deren einkünfte, wie oben schon einmal an-
gedeutet wurde, die Schulordnung von 1418 namhaft macht, es sind
der meister (oder Schulmeister oder rector), mindestens zwei loca-
tores40, der cantor und der signator; hiermit ist, beiläufig bemerkt,
die behauptung Schtitts a. o. s. 8, 3 widerlegt, der titel rector habe erst
nach der reformation für den titel Schulmeister aufkommen können,
da der pfarrer rector divinorum officiorum geheiszen habe, die Gör-
litzer schule wurde in der mitte des 14n jahrhunderts von dem
meister, welcher in den ratsrechnungen 1375 ff. auch magister schole
und rector, oder in den annales Gorl. des Mylius (Hoffm. scriptt. rer.
Lus. I 2 s. 3) im jähre 1463 ludimoderator, oder endlich in einer von
Schütt genannten quelle, a. o. s. 13, im jähre 1508gymnasiarcha hiesz,
ferner von seinen baccalaurei (also von mindestens zweien) und von
einem signator versorgt. 1446 bestand gemäsz des oben besprochenen
Streites das collegium aus dem meister, den locaten und dem signator,
eine nachricht, welche sich mit der vorigen deckt, da beide titel,
40 stellen, wie: f welch reich Und von seinem locatore nicht kauft
ein bnch . . .', 'das kind soll täglich sein brod halb geben dem loca-
tori, der es lehrt . . .» und 'ein wohlhabend kind soll geben am
tage Job. bapt. . . . seinem unterweiser 6 heller', nötigen uns zu
obiger annähme, die sich übrigens schon bei Müller, archiv VIII
s. 260, aber nicht mit hinweis auf die citierten stellen, findet, zweifels-
ohne haben wir in den betreffenden Worten spuren von dem classen-
lebrer. es gab ja, wie wir sahen, drei classen — warum dann nicht
auch drei lehrer (rector und zwei locatores), welche sich vorwiegend
oder gar ausschlieszlich mit je einer classe beschäftigten? wenn man
sagen wollte, in Bautzen wirkte nur ein locator, so wäre die aus-
drucksweise in der zweiten stelle rätselhaft.
18»
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276 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlansitx.
baccalaureus und locat, den nebenlehrer bezeichnen, und schließlich
am ende des 15n jahrhunderts nach Hass' zeugnis in den annalen
III s. 303 aus dem Schulmeister, seinen vier baccalaureen und dem
cantor. die Zittau er schule hatte nach dem chronicon Mönch
1497 einen Schulmeister und einen cantor, auch 1493 schon, als
Joh. Molitoris cantor war, und 1495, als Hass der cantor des Schul-
meisters Leo wurde (vgl. Otto Kämmel, Job. Hass im laus. mag-,
bd. 51s. 45). das ist aber jedenfalls nicht die stehende zahl ge-
wesen, denn 1476 werden nach Gärtner a. o. 8. 4 in einer Stiftung
vom jähre 1476 locati erwähnt, so dasz damals in Zittau mit dem
rector und dem cantor mindestens vier lehrer waren, in Lauban
scheint anfangs ein Schulmeister gar nicht vorhanden gewesen zu
sein (vgl. oben s. 166), einen solchen fanden wir in den ratsannalen
bzw. in einer stiftungsurkunde erst 1487 zusammen mit locaten er-
wähnt (die betr. stelle oben 8. 167). aus Löbau und Kamen z
haben wir für die zeit bis zur reformation gar kein Zeugnis, doch
möge hier erwähnt sein, dasz in Löbau noch in der mitte des 16n
Jahrhunderts drei lehrer an der schule thätig waren (nach Knauthe,
geschiente der Löbauer schule s. 11), während um dieselbe zeit in
Kamenz schon fünf lehrerstellen existierten, nach Kämmel, beitr.
zur gesch. des gymn. in Zittau s. 30 (quellenangabe fehlt).
Die zahl der lehrer an den oberlau sitzischen schulen schwankt
also zwischen sechs und drei, ja, wenn wir die Verhältnisse in
Lauban etwa während des 14n jahrhunderts hinzunehmen, zwischen
sechs und eins : es wäre dann neben dem in der schule unterrichten-
den pfarrer der cantor oder vielmehr der küster dieser eine lehrer
gewesen, eine annähme, welche deshalb viel für sich hat, weil
durch sie der ursprüngliche bestand der pfarrschulcollegien, wie er
im allgemeinen für die pfarrschulen feststeht, für die Oberlausitz an
einem beispiel gezeigt würde, dasz übrigens nicht von allem anfang
an ein cantor neben dem pfarrer unterrichtete, dasz vielmehr der
küster ursprünglich die funetionen des cantors auszuüben hatte, wird
sich noch im folgenden herausstellen, wo wir in einer abschweifung,
die uns gestattet sein möge, Uber die Stellung des cantors an den
oberlausitzischen schulen einiges hinzuzufügen gedenken.
Der cantor, dieser mann, der für die schule die gröste bedeutung
hatte, so lange sie mit der kirche aufs engste verbunden war, der
die schüler in den dingen unterrichtete, deretwegen sie überhaupt
in der kirche gebraucht wurden — der cantor, so sollte man meinen,
durfte nie und nirgends in einem scbulcollegium fehlen, und doch
fehlte er, wie sich aus obigem ergibt, in Görlitz, nicht jedoch fehlten
die Verrichtungen , welche sonst dem cantor zukamen, denn diese
sind uns bereits bekannt aus jenem streite um die bestellung zweier
stiftung8mäsziger messen und das aus- und einsingen von processionen
auch anderer kireben, als der St. Peterskirche (s. 163). wunder-
barerweise ist nun für die rechte ausführung der Schulmeister nur
verantwortlich, sie selbst geschieht im ersten falle durch den signator
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Beiträge zur geschichte des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 277
und im zweiten durch den Schulmeister oder seine locaten, unter
die gleichfalls der signator zu rechnen ist. er also spielte in Görlitz,
wenn der kirchendienst der schüler in frage kam , die hauptrolle.
Wir versuchen, die Stellung und die pflichten des signators,
welche in dem Görlitzer zeugnis unklar bleiben, durch Zeugnisse aus
andern städten näher zu bestimmen, die schule zu St. Elisabeth in
Breslau hatte im jähre 1369 nach einem von Schönborn a. o. II s. 2
anm. *** abgedruckten testament neben dem rector einen succentor,
einen signator und einen unter diesem stehenden gehilfen (famulus
suus i. e. signatoris), von denen die drei letzten als zeugen in der an-
gegebenen reihenfolge erscheinen, an den zinsen von dem gestifteten
capital haben jedoch, soweit die schule in frage kommt, nur der
rector, der signator und die schüler einen anteil, welche an allen
donnerstagen eine bestimmte motette singen und zur nachtzeit die
sacramentsprocession mit gesängen begleiten, von dem zinsen-
genusz sind also der succentor und der famulus signatoris aus-
geschlossen, in einer Urkunde der kirche zu St. Maria Magdalena
vom jähre 1375 ist von derselben donnerstagsfeier die rede; auch
darin sind, wie in der vorigen, der rector, der signator und die
schükr diejenigen, welche beim gottesdienst singen, für Breslau ist
endlich noch auf die rechnungsbttcher der stadt aus den jähren 1445
und 1468 hinzuweisen, wo der subsignator des Elisabethanums und
der signator des Magdalineums wiederholt erwähnt werden, ohne
dasz jedoch daraus etwas zu schlieszen wäre, diesen Zeugnissen
schlieszt sich das von Neisse an, auf welches auch Müller archiv
VIII s. 260 hinweist es ist uns um so willkommener, als wir da-
durch näheres über die pflichten eines signators erfahren; freilich
ob das sogleich mitzuteilende auf alle signatores zu beziehen ist,
wird noch weiterer Untersuchung bedürfen, die fragliche stelle be-
findet sieh in den leges scholae Nissensis conscriptae anno 1498,
veröffentlicht durch Kastner in dem jahresprogramm des katholischen
gymnasiams zu Neisse 1865 s. 12; sie mag hier ihrem Wortlaute
nach folgen: 'Signatoris est, de mane sub ultimo pulsu ad matutinas
excitare cum cantico: Veni creator spiritus. Item tenetur sub sign a-
tura festivis et dominicis diebus surgere et pulsare cum baculo ad
matutinas. Item sign, tenetur, si festum fuerit duplex aut triplex,
stare cantori a latere in missa circa librum et in vesperis tenetur ad
regendum psalmos in secundo choro. Sign, tenetur cantare vigilias
et conducere funera. Sign, lectiones tenetur sibi a rectore iniunctas
summa diligentia complere. Signatoris officium est providere, ut
omnia palatia munda serventur; eius interest ordinäre mendicantes
per ordinem, qui purgent palatia et ante Scholas . . . hospitale scho-
larum . . . purgare faciet. Signatoris est incipere matutinas et can-
tare Venite et invitatorium in matutinis usque ad primum psalmum,
et tunc statim cantor tenetur interesse et de primo psalmo continuare
matutinum usque ad finero. Item signatoris est cantare tertiam et
qna finita cantor tenetur incipere missam et canere usque ad Agnus
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278 Beiträge zur geschichte des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
Dei, ibi tenetur Sign, adesse et missam ad finem finire, nisi cantus
figuratus servetur. Item signatoris est interrogare sacristanum de
ritu ecclesiae, quae omni die canenda sunt, et illud postea intimare
cantori. Item signatoris est, tabulare omnia invitatoria, bymnos
cantandos in matutinis, vesperis et tertia, item evangelium vel epi-
stolam pro latino: item cantare Gloria laus in die Palmar.; item
scribere in tabula: laus tibi, Christe; item cantare omni vespere
Salve, item notare Agios, et cantare Crux fidelis.'
Das steht also fest: der signator war im schulcollegium der-
jenige, dessen Stellung eine vorwiegend kirchliche war, welchem so-
gar hier und da oblag den gesang in der kirche zu leiten, eine
Schwierigkeit ist aber noch vorhanden; das ist der verschiedene rang
des signators in den collegien. in der Bautzener Schulordnung (1418)
kann die reihenfolge nicht mit voller Sicherheit angegeben werden,
dasz der rector und die locatores jedoch dem cantor und signator
voranstanden, ist mit gröster Wahrscheinlichkeit deshalb zu ver-
muten, weil jene von den schülern die meisten einnahmen hatten;
anderseits stand aus demselben gründe der cantor vor dem signator:
die einnahmen des ersteren sind im vergleich mit denen des letzteren
geradezu glänzende! ganz dieselbe reihenfolge bestand in Neisse;
denn in den leges scholae Niss. werden die officia der schulcollegen
festgestellt, und es folgen auf einander: rector, baccalaureus maior,
baccalaureus minor, cantor, signator. eine andere Ordnung bietet
eine Breslauer Urkunde vom jähre 1442, durch welche festgesetzt
wird , dasz bei der belehnung mit einem gewissen altargestift der
kirche zu St. Maria Magdalena zuerst der Schulmeister zu St. Maria
Magdalena vorgeschlagen werde, wenn der aber schon anderweit be-
lehnt wäre, der signator derselben schule, und so sollte man unter
gleicher Voraussetzung zum locatus senior übergehen und unter um-
ständen bis zum subsignator hinabsteigen, sogar nötigenfalls das
collegium zu St. Elisabeth zur belehnung heranziehen, zum Schlüsse
fügen wir noch aus den Breslauer Stiftungsstatuten (lös jahrh.) bei
Schönborn a. a. o. II s. 9 , woraus ich auch die andern Breslau be-
treffenden nachrichten nahm , die reihenfolge der lehrer an der dor-
tigen domschule hinzu: zur Unterstützung des rectors, so wird in
dem Statut de officio scholastici atque officiatorum scholae gesagt,
sowohl im chore als auch in den Unterrichtsstunden seien der signator,
subsignator und locatus angestellt, es ergibt sich demnach folgende
Zusammenstellung :
1) 1350 Görlitz: rector, baccalaurei, signator.
2) 1369 Breslau, Elisabethanum : rector, succentor, signator,
famulus suus (i. e. eius) = subsignator (1445 und 1468).
3) 1375 Breslau, Magdalineum: rector, signator.
4) 1418 Bautzen: rector, locatores, cantor, signator.
5) 1442 Breslau, Magdalineum: rector, signator, senior locatus
. . . subsignator.
6) 1446 Görlitz: rector, locati, signator.
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Beiträge zur geschiente de8 höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 279
7) 1450 Breslau, stiftsschule : rector, signator, subsignator,
locatus.
8) 1498 Neisse: rector, baccalaureus maior, baccalaureus minor,
cantor, signator.
9) 1500 Görlitz: rector, vier baccalaurei, cantor.
Daraus geht hervor: I. nr. 4 und 8 gehören zusammen, der
signator in Bautzen und in Neisse ist der letzte im collegium
und beide male ist ein cantor vorhanden, der dem ränge nach jenem
vorangeht: ohne allen zweifei sind die bestimmungen der leges
scholae Niss. — nicht nur die oben citierten über die pflichten des
signators, sondern auch die über die pflichten des cantor» — auch auf
die Bautzener schule zu übertragen. II. anders verhält es sich ganz
offenbar bei nr. 2. 5. 7 (Breslau: Elisabethanum , Magdalineum,
stiftsschule) : da steht bei nr. 2 der famulus signatoris und bei nr. 5
und 7 der subsignator an letzter, bzw. bei nr. 7 an vorletzter stelle,
und diesem voran der signator. es liegt auf der hand, dasz in diesen
drei fällen der signator die geschäfte des cantors, der subsignator
bzw. der famulus die des signators unter I führte, die reihe nr. 3
halte ich nicht für vollständig, da in der von Schönborn 1 s. 21
anm. * im auseuge mitgeteilten Urkunde nur die aufgezählt wer-
den, welche den zinsengenusz haben, nemlich dieselben (rector,
signator, scolares) wie 1369 am Elisabethanum; dasz wir aber von
dieser schule auch die übrigen collegen kennen, verdanken wir den
zeugennnterschriften41 (siehe oben); entweder fehlen nun diese unter
der Urkunde des Magdalineums oder Schönborn unterliesz es, sie mit
abdrucken zu lassen, jedenfalls zweifle ich nicht, dasz am Magda-
lineum schon 1375 unter dem signator ein subsignator stand, wie
später im jähre 1442. III. in Görlitz (nr. 1 und 6) wirkte ent-
gegen den übrigen füllen nur der signator. entweder stand, so
müssen wir folgern, noch einer unter ihm (subsignator), der in
den quellen nicht genannt ist, oder einer über ihm, der neben seinem
eigentlichen amte zugleich das des cantors mit versah, das letztere
war der fall, wie wir oben erfuhren, hat nach der entscheidung von
1446 der Schulmeister den kirchendienst zu überwachen, der aus-
führende ist in dem einen falle der signator allein mit den schulern,
und bei den Verhandlungen von 1489 (s. 123) stellte es sich heraus,
dasz der rat 'dem Schulmeister als hymnos magnificat etc. in men -
suris zu singyn vorbothen' hatte, nr. 1 und 6 sind also mit nr. 4
und 8 (Bautzen und Neisse) zusammenzustellen. IV. der titel 'signator'
41 über die Stellung des succentors etwas zu sagen, sind wir auszer
stände; anders wird es bei dem Zittauer succentor weiter unten sich
verhalten, möglich wäre ja der aus weg, dasz man dem succentor die
cantoratsgeschäfte übertrüge , woraus sich dann für den signator die
pflichten des Bautzener und Neisser collegen ergäben, an dieser an-
nähme musz uns aber hindern 1) das vorkommen des famulus (»» sub-
signator, und 2) der umstand, dasz der succentor bei der oben mitge-
teilten Stiftung gar nicht berücksichtigt wird, was doch notwendig wäre,
wenn er eben die cantoratsgeschäfte zu versorgen gehabt hätte.
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280 Beiträge 2ur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
in Görlitz gieng um die wende des Ion und 16n jahrhunderts in
den titel rcantor' über, womit vielleicht zusammen bierig, dasz dem
rector die früher innegehabten cantoratsverpflichtungen genommen
wurden.
Das so eben vorgetragene glauben wir nun folgendermaszen
zusammenfassen und erklären zu können : an den alten pfarrschulen
war der küster neben dem pfarrer der leb r er, ja schließlich sogar
der einzige lehrer, als mit der vergröszerung der gemeinde die
arbeit des pfarrers wuchs und dieser mehr und mehr das unter-
richten aufgeben muste. der küster, der ja gewöhnlich ein literatus
war (Nettesheim s. 62), hatte dann nicht blosz seinen eignen ge-
schäftskreis, sondern auch die Vorbereitung der knaben zum gottes-
dienst (lesen, singen, im besten falle noch etwas latein). nach der
Verwandlung der pfarrschulen in Stadtschulen trat an die stelle des
küsters als des einzigen lehrers der Schulmeister, er tibernahm da-
mit diejenigen geschäfte, die der küster zwar geführt, die aber eigent-
lich nicht in seinen geschäftsbereich gehört hatten: die Vorbereitung
der knaben zum gottesdienst und die aufsieht über dieselben auf dem
chore. an gröszeren schulen wie in Görlitz brauchte er dazu einen
gehilfen, der den titel 'signator' führte, in Bautzen setzen wir die-
selben ersten stufen der entwicklung voraus; als jedoch das dom-
capitel mit der zeit erweitert wurde, begründete man vor 1355 auch
das sehr notwendige amt eines canonicus cantor. dieser bekam
ganz natürlich neben der leitung der chorschule auch die Vorberei-
tung der knaben der schola externa zum gottesdienst, was um so
leichter geschehen konnte, als sein amt, wie Müller archiv VIII s. 25
bemerkt, in den Statuten 1372 nicht als dignitas, sondern als officium
bezeichnet wird , er also nicht zu den prälaten gehörte , sondern als
lehrer unter dem scholasticus stand.41 dem rector verblieb die auf-
sieht über die knaben auf dem chore, und beiden, dem rector und
wohl noch mehr dem cantor, war der signator als gehilfe beigegeben,
die einrichtung des Breslauer capitels muste deshalb eine andere
sein, weil der cantor nicht zugleich an der domschule, am Elisa-
bethanum und am Magdalineum die ausbildung der knaben in die
band nehmen konnte, es wurde deshalb an den drei schulen je einer
angestellt, welcher für den cantor die geschäfte zu führen hatte, des-
halb aber natürlich nicht den titel 'cantor' bekam, sondern, da
er in gewisser beziehung der gehilfe des cantors war, den titel
'signator'. und zur Unterstützung muste diesem, wie in Bautzen,
48 durch eine freundliche mitteilung des hrn. prof. Knothe in Dresden
hätte ich mich eigentlich abhalten lassen sollen , diese Vermutung aus-
zusprechen, allein ich könnte mir dann durchaus nicht erklären, warum
der cantor in der Schulordnung (1418), die ich oben als der stiftsschale
zugehörig nachgewiesen habe, erscheint. Müller archiv VIII s. 260
glaubt übrigens auch, dasz der cantor in der Schulordnung der stifts-
cantor sei, eine ansieht, die deshalb viel gewagter wäre als die meinige,
weil Müller ja der meinung ist, dasz rdie Schulordnung die der städti-
schen schule ist, mit der das capitel gar nichts zu thun hatte».
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Beiträge zur geschiente deB höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 281
ein gebilfe bestellt werden, der natürlich nicht Signatar heiszen
durfte, sondern am einfachsten 'subsignator' betitelt wurde.
Wir kehren in die Oberlausitz zurück und finden zuerst in
Zittau neben dem rector den succentor — es braucht weiter nichts
hinzugefügt zu werden: die Verhältnisse sind wie in Görlitz, nur
dasz an stelle des titels 'signator* der titel 'succentor' geführt wurde,
jetzt haben wir auch die erklärung für die Laubaner nachrichten:
das kloster sei zur beköstigung nur des cantors verpflichtet gewesen
— sehr recht; denn wir können uns wohl vorstellen, dasz zur zeit
der gründung des klosters (1320) die kleine schule der kleinen stadt
Lauban nach alter gewohnheit noch vom küster versorgt wurde und
dasz, als ein Schulmeister und neben ihm ein gehilfe (signator, suc-
centor, später cantor) angestellt wurde, eben dieser letztere, weil
er am meisten an der kirche beschäftigt war, das beneficium des
kfisters weiter genosz. für Löbau und Kamenz haben wir keine
nachrichten , die Verhältnisse waren dort ohne zweifei dieselben wie
in den andern vier städten. — Warum, so fragen wir nun zum
schlusz, führte eigentlich derjenige, welcher an den Stadtschulen,
zum groszen teil wenigstens, die geschäfte auf sich hatte, die am
domstifte der cantor führte, nicht auch von allem anfang an diesen
titel? warum bekam der Görlitzer signator, welcher thatsächlich
cantoratspflichten von jeher hatte, erst am ende des lön jahrhunderts
den entsprechenden titel? warum nannte man in Neisse 1498 die
beiden lehrer nicht signator und subsignator, sondern cantor und
signator? warum war in Zittau Weisaenbach 1381—84 succentor,
warum wird 1476 bei der Stiftung des 'tenebrae' zwar des schul-
meistere und der collaboratoren , nicht aber der hauptperson , des
cantors, gedacht, und warum waren Joh. Molitoris 1493 und Joh.
Hass 1495 und andere in den folgenden jähren cantoren? nun,
ich glaube, diese angaben können nur darauf hinweisen, dasz der
titel 'cantor' ursprünglich allein den betreffenden männern an den
klöstern oder domstiften vorbehalten blieb, dasz er aber gegen das
ende des 15n jahrhunderts gewissermaszen frei gegeben und dasz
dann ein jeder, dessen thätigkeit in der schule sich auf die kirch-
lichen Verpflichtungen der schüler bezog, cantor genannt wurde.
Carpzovs nachricht (anal. fast. III 1 14), es sei vor 1535 kein cantor
in Zittau angestellt worden, entspricht demnach zwar nicht den that-
sachen, kommt aber doch der Wahrheit ziemlich nahe, und endlich
konnte der Laubaner rat in der Urkunde vom jähre 1584 sehr wohl
deshalb von dem cantor sprechen, der von jeher im kloster beköstigt
wurde , weil dieser titel damals schon 100 jähre lang geführt wurde
and auszerdem keine veranlassung vorlag, den titel hinzuzufügen,
den der betreffende lehrer der Stadtschule früher gehabt hatte. —
Auszer dem Schulmeister und dem cantor, wie wir nun der
kürze halber sagen, gab es noch nebenlehrer, deren titel (gesellen,
gehilfen, locati, locatores, baccala(u)rei, collaterales usw.) im vor-
hergehenden schon oft beiläufig erwähnt wurden, während jene
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282 Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
beiden, unter umständen der Schulmeister allein , den stamm des
collegiums bildeten , richtete sich die zahl dieser nach der schüler-
anzahl, wenn auch bei weitem nicht in dem unseren heutigen be-
griffen entsprechenden masze. das sieht man recht gut an dem Ver-
hältnis, welches nach Uass (a. a. o. III 8. 306) am ende des lfm
Jahrhunderts zwischen lehrer- und schQleranzahl in Görlitz bestand:
auf sechs lehrer kommen 500 — 600 schüler43, eine angäbe, welche
Schutt a. o. s. 10 anm. für eine aufschneiderei zu halten geneigt ist
jene mitteilung beruht aber auf Wahrheit, denn Hass sagt an der-
selben stelle, dasz die Görlitzer schule nach der zu Zwickau den
besten ruf gehabt habe, und von dieser erfahren wir aus Herzogs
geschiente des Zwickauer gymnasiums, dasz man unter dem rectorat
des M. Valentin Strödel, 1476—1490, gegen 900 einheimische und
auswärtige schüler zählte, man vergleiche auch, was Thomas Platter
von der schülerzahl der sieben Breslauer schulen sagt: es seien zu
seiner zeit, also anfang des 16n Jahrhunderts, zusammen etliche tau-
send gewesen, solch hohe zahlen sind natürlich nur durch die an-
nähme zu erklären, dasz der gröste teil aus fahrenden schülern be-
stand , was Hass von Görlitz auch bestätigt : der mendicanten seien
bis *jn etzlich hundert* gewesen, von einheimischen schülern wer-
den wohl kaum mehr als etwa 160—200 darunter gewesen sein.
*8 zu erwägen ist dabei, dasz von diesen schülern sehr viele (be-
sonders die auswärtigen, die fahrenden schüler) den Unterricht gar nicht
oder sehr unregelmäszig besuchten, und dasz zur Unterstützung der
lehrer ältere schüler bestimmt wurden, welche den titel f Schreiber' führten,
andere, wie Reiche a. o. I s. 9 und Kümmel, beitrage zur geschiente des
gymn. zu Zittau s. 4, glauben, der name 'schreiber' sei gesamtname für
'nebenlehrer', die den Unterricht im schreiben als ihre h&uptaufgabe an-
gesehen hätten. Gärtner a. o. s. 4 entscheidet sich, gestützt auf Carpzov,
für rgrosze schüler1 und führt als beleg an den namen 'communicanten-
schreiber» für 'communicantenschüler', d. h. schüler, welche bei kranken-
communionen den geistlichen begleiteten (Pescheck, gesch. von Zittau
I s. 644). andere belege können hinzugefügt werden. Uass macht an
der nachher noch zu erwähnenden stelle über die fahrenden schüler
(III 306) folgende einteilung: 'die jungen vnd die gewachsenn schuler
vnd Schreiber', und sagt dann: rdie gewachsenn schuler . . . vnd
Schreiber abir, haben winterzeit von thur zu thur . . . singen gangen.'
ebenso zwingend ist eine stelle aus einem Breslauer testament 1466:
den armen groszen Schreibern und bursalibus auf der schule zu St. Eli-
sabeth wird ein legat ausgesetzt (vgl. Reiche a. o. 8. 9). mit schülern
haben wir es demnnch auch zu thun, wenn wir im Kamenzer stadtbuch
II 121 ff. (cod. dipl. Sax. reg. II. VII s. 177 ff.) lesen, dasz der söhn
des bürgermeisters 'mit den schreybern von der schulen uff der gassen
. . . eyn hader unde geezenke angefhangen' habe. Knothe a. o. hält
sie auch für schüler. endlich ist noch die Egerer Schulordnung (um
1350) bei Müller a. o. s. 22 f. zu vergleichen; da steht im texte: der
Schulmeister soll 'keinen gesellen noch locaten noch andere fremde
schüler' auf der schule halten, es sei denn dasz sie ihr recht beim rate
zu Eger suchen zu wollen versprechen; bei 'schuler' ist über der seile
hinzugefügt 'oder Schreiber', am ende der Schulordnung wird verboten,
dasz 'die gesellen . . . vnd auch andere schreyber' des nachts lärm
verursachen, vgl. noch ganz besonders den Ulmer lectionsplan um 1500,
a. o. s. 125 ff.
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Beiträge zur neutestamentlichen exegese.
283
Die angäbe über die schülerzahl in Görlitz ist für die Ober-
lausitz die einzige dieser art. wie stark der durchschnittliche besuch
der sechsstädtischen schulen war, kann man schwerlich auch nur an-
nähernd vermuten, denn obwohl wir die ungefähre einwohnerzahl
der stödte in der damaligen zeit kennen und mit hilfe der ergebnisse
der Volkszählungen in unserer zeit annähernd die zahl der die schule
besuchenden kinder zu bestimmen im stände wären, so wird sich doch
diese an und für sich unsichere zahl von der Wahrheit noch mehr
entfernen, wenn wir erwägen, 1) dasz es damals keinen schulzwang
gab, eine bestimmung, die durch Kriegks Wahrnehmung (bürgertum
im mittelalter II s. 65 f.), die eitern hätten ihre kinder fleiszig zur
6chule geschickt, nicht aufgewogen wird, 2) dasz die mädchen am
Unterricht nicht teilnahmen und 3) dasz die schola zwar die Volks-
schule mit vertrat, dasz es aber neben der Stadtschule fast in jeder
stadt privatschulen (deutsche , bei- oder winkelschulen) gab.
(fortsetzung folgt.)
Dresden. H. Heyden.
27.
BEITRÄGE ZUR NEÜTESTAMENTLICHEN EXEGESE.
1.
Zu Römer 13, 6.
Weizsäcker bemerkt in dem im november 1874 geschriebenen
vorwort zur ersten aufläge seiner Übersetzung des neuen testamentes :
'wer die Schwierigkeit solcher arbeit auf sich genommen, weisz viel-
leicht am besten, wie weit sie hinter ihrem ziele zurückbleibt, ich
werde für jede Zurechtweisung dankbar sein, und mich freuen, wenn
es ein anderer besser macht.' es wäre mehr als vermessenheit, wenn
der Schreiber dieser zeilen den zweiten teil dieser erklärung in der
weise für sich in anspruch nehmen wollte, dasz er ihn in der ganzen
stärke des Wortlautes auf die folgende darlegung anwenden zu dürfen
glaubte, diese will vielmehr nichts anderes sein als die berichtigung
eines Übersehens, das sich in die 1888 veröffentlichte 'dritte und
vierte neu bearbeitete aufläge' hinübergerettet, also bisher noch
keine berichtigung gefunden hat. möge dieser versuch eine freund-
liche aufnähme bei dem geehrten Verfasser finden !
Was nun den ersten teil der oben angeführten erklärung be-
trifft, so glaube ich, dasz der Verfasser der neuen Ubersetzung zu
einer solchen äuszerung vollständig berechtigt war. denn wie reif-
lich er die übernommene aufgäbe und ihre Schwierigkeiten tiberlegt
hat, dies lehrt ganz besonders der diesem vorangehende absatz des
Vorwortes, der anfang desselben lautet: 'eine Übersetzung in die
spräche der gegenwart musz an kraft immer hinter Luthers kernigem
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284
Beiträge zur neutestamentlichen exegese.
worte zurückbleiben, aber sie soll befördern, dasz wir den ursprüng-
lichen sinn und Zusammenhang leichter verstehen, dasz wir annähernd
lesen, wie die ersten leser es konnten, in strengem an Schlüsse an
das griechische wort kann sie die einzelnen Schriften und Schrift-
steller mehr in ihrer besondern eigenart erkennen helfen.'
Dies genügt für unsern zweck und ist in allewege beherzigens-
wert, ich halte mich zunächst an die forderung des strengen an*
Schlusses an das griechische wort, dieser scheint mir Weizsäcker in
dem vorliegenden fall nicht zu entsprechen mit der Übersetzung:
'darum sollt ihr auch die steuern entrichten.' die griechischen worte
lauten nemlich: blä TOÖTO yap Kai qpöpouc T€XeiT€. W. scheint so-
mit TcXciTe als imperativ oder auch als futur zu fassen, dies erlaubt
aber nicht das f&p , welches durchaus zwingt tcXcitc als indicativ
des präsens aufzufassen, darum läszt W. auch das fdp unübersetzt,
verleugnet aber dadurch den oben angeführten grundsatz. in der
beseitigung des ydp stimmt W. mit Luther überein, der übersetzt:
f derhalben müsset ihr auch schosz geben.' dessen ungeachtet scheint
mir Luthers Übersetzung weniger unrichtig als die Weizsäckers, und
zwar in hinsieht auf das verbum. denn wenn auch L. dies durch
zwei worte ausdrückt, so können wir den gewählten ausdruck doch
als phraseologische Umschreibung des indicativs ansehen, was bei
dem andern ausdruck nicht angeht, über diese neigung der deutschen
spräche zu phraseologischen Umschreibungen handeln zumeist die
lehrbücher der lateinischen Stilistik, vorab das von Nägelsbach, in
der von dr. Iwan Müller besorgten achten aufläge (Nürnberg 1888)
heiszt es § 98 8. 391 : 'unter den phraseologischen verben verstehen
wir diejenigen hilfsverba, welche der Deutsche, überhaupt die moderne
dar Stellung braucht, um über die weise, in welcher das subject bei
der baupthandlung beteiligt ist, vollständigen aufschlusz zu geben.'
diese erklärung passt vollkommen auf Luthers Übersetzung, welche
gewissermaszen besagt: ihr gebet schosz, wie ihr ja müsset, unter
diesen umständen ist auch die weglassung des 'denn' kaum anzu-
fechten ; sie entspricht nemlich auch dem deutschen Sprachgebrauch,
wie man aus demselben werke § 196 s. 730 entnehmen mag.
Freilich hindert auch nichts das ydp auszudrücken, wie die Über-
setzung von Bunsen-Holtzmann zeigt, sie lautet: 'denn darum zahlet
ihr auch schosz'; wozu die richtige bemerkung: 'aus der thatsache
der steuerentrichtung beweist Paulus die pflicht des gehorsams.'
Der übrige teil des verses scheint uns bei W. wohlgelungen:
'denn es sind gottes beamte, die eben dazu auf ihrem posten sind.'
2.
Zu II Kor. 5, 13 ff.
Auch diese stelle möchte ich in rücksicht auf die Übersetzung
von Weizsäcker einer besprechung unterziehen, die Übersetzung
lautet: 'sind wir von sinnen gekommen, so ist es für gott; sind wir
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Beiträge zur neutestamentlichen exegeae.
285
bei sinnen , so sind wir's ftlr euch, denn unser wann ist die liebe
Christus', mit dem Schlüsse : einer ist für alle gestorben ; also sind
sie alle gestorben; für alle gestorben ist er, auf dasz die lebenden
nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der ftlr sie gestorben und
auferweckt ist.' denken wir uns einen leser, welcher der griechi-
schen spräche unkundig, weil er weisz, dasz in der Lutherischen
Übersetzung einzelne Unrichtigkeiten und ungenauigkeiten vorkom-
men, zu mehrerer Sicherheit die neuere Übersetzung entweder zur
vergleich ung beizieht oder sogar an stelle der Lutheriscben benutzt:
wird dieser durch die angeführte Übersetzung sich in dem Verständ-
nis besonders des vierzehnten verses sehr gefördert finden? Luther
bietet folgende Übersetzung: 'denn die liebe Christi dringet uns
also; sintemal wir halten dasz so einer für alle gestorben ist, so sind
sie alle gestorben.' wir glauben nun , dasz derjenige , der sich der
neuesten Übersetzung zu bedienen pflegt, in diesem falle wohl kaum
ein ihn selbst nur einigermaszen befriedigendes Verständnis gewinnen
wird, er wird also in diesem falle doch wohl zu der ihm von jugend
auf bekannten und wohl auch noch in seinem besitz befindlichen
Übersetzung seine Zuflucht nehmen und somit in die gleiche läge
kommen mit demjenigen, der die neueste Übersetzung nur als bei-
hilfe des Verständnisses neben der ihm von jugend auf vertrauten
zu benutzen pflegt, in welcher läge werden nun beide sich befinden?
wir glauben, dasz sie jetzt erst recht in Verlegenheit kommen wer-
den , wenn sie wahrnehmen , dasz gerade an der schwierigsten stelle
beide Übersetzungen sowohl in der form als in der bedeutung des
ausdrncks weit auseinandergehen, wollen sie also durchaus ins klare
darüber kommen, wie sich die sache verhält, so werden sie wohl
sich gedrungen fühlen, einen der Urschrift kundigen freund, also
etwa ihren geistlichen berater um auskunft anzugehen, es ist nicht
unseres amtes, den bescheid, den dieser geben wird, auch nur ver-
mutungsweise andeuten zu wollen, wir erachten es vielmehr als an-
gemessen, uns selbst nun der Urschrift zuzuwenden, bei der ja doch
die letzte entscheid ung ruht, wir schreiben sie um des Zusammen-
hanges willen noch etwas weiter aus, als es bei den beiden Über-
setzungen geschehen ist. sie lautet:
Ou ttoiXiv £<xutoüc cuvicTdvo^ev ujaiv, dXXd d<popuf|v bibövTcc
uuTv xauxnfiaTOc unfep fuiwv, \'va Ixryze irpöc touc £v rrpocumii)
xauxuj^vouc xai nf] £v Kapbia. erre y<*P &^ctti|J€v, 8eüV etie
cuKppovoüyev , tyuv. f) yäp ardim, toö Xpicroö cuv^i ruiäc,
KpivavTac toöto , öti elc imfep iravTiuv dTreöavev • dpa o\ irdviec
dTr^Oavov xal vmfcp Trdvrujv direBavev Kva ol Cüjvtcc mtik^ti
iaurok Zujciv dXXd tu) im£p (xutwv d7To8avövTi kou ifepQlvu.
In Weizsäckers Übersetzung verursacht uns wohl am meisten
bedenken der ausdruck; f unser wahn ist die liebe Christus'.' was
bewog ihn wohl ein Substantiv an die stelle des verbums cuv^X€l
zu setzen? im hinblick auf andere fälle glauben wir eine gewisse
Vorliebe für substantivische ausdrücke zu erkennen , die selbst dem
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286
Beiträge zur neutestamentlichen exegese.
streben entstammt , dem ausdruck ein möglichst modernes gewand
zu geben, oder, anders ausgedrückt, den Schriftsteller so reden zu
lassen , als wäre er einer unserer Zeitgenossen, ob dies überhaupt
möglich ist und ob es auch nur wünschenswert ist, die kluft, die
ohnedies zwischen zwei sprachen besteht, bei einer Übersetzung noch
absichtlich zu erweitern, dürfte doch sehr fraglich sein, ein nachteil
ist jedenfalls mit dieser Umwandlung des ausdrucks verbunden, der
noch überdies der angenommenen absieht widerspricht, dasz nem-
lich die spräche an natürlichkeit und volkstümlichem gepräge ein-
busze erleidet: ein nachteil, der nach unserem dafürhalten gerade
bei einer Übersetzung des neuen testamentes, die doch fürs volk be-
stimmt ist, schwer ins gewicht fällt.
Wenn wir aber auch von diesem allgemeinen bedenken absehen,
80 fragt es sich , ob der gewählte deutsche ausdruck dem der Ur-
schrift seiner bedeutung nach entspricht, das griechische wort cuv-
^X€i bietet freilich auch selbst räum zu zwei fei über die richtige
auffassung der bedeutung. diese wird natürlich nicht verändert da-
durch, dasz Bunsen - Hoitzmann 'dränget' an stelle von Luthers
'dringet' setzt, dieser auffassung stimmen viele der angesehensten
erklärer bei, deren namen man in Meyers handbuch (sechste aufläge
neu bearbeitet von Heinrici 8. 165) verzeichnet findet. Heinrici
selbst teilt diese auffassung nicht ; seine erklärung lautet: rcohibet
nos, hält uns in schranken, nemlich nicht über die mit Ocw und
u.luv bezeichneten grenzen hinauszugehen, und etwa eigne affecte
und interessen zu verfolgen.' auch diese erklärung hat viele und
namhafte Vertreter, es ist hier nicht unsere aufgäbe, zwischen diesen
beiden deutungen uns zu entscheiden , obwohl wir nicht verhehlen,
dasz Bezas erklärung Uotos possidet ac regit, ut eius afflatu quasi
correpti agamus omnia' sehr ansprechend lautet, hier handelt es
sich aber darum , zu ermitteln , auf welcher auffassung des Wortes
cuv^x^i Weizsäckers Übersetzung fuszt. zunächst können wir nur
sagen : auf keiner der beiden oben angeführten ; denn keine von bei-
den liesze die Christusliebe als wahn erscheinen, ich habe den aus-
druck 'Christusliebe' gebraucht, weil dieser es ebenso, wie der grie-
chische, zweifelhaft läszt, ob die liebe der menschen zu Christus oder
die liebe von Christus gemeint ist. beide ansichten haben ihre Ver-
treter ; Heinrici entscheidet sich aus beachtenswerten gründen für
die letztere, dieser huldigt wahrscheinlich auch Weizsäcker, da er
andernfalls doch wohl die präposition angewendet hätte, doch wollte
er diese frage vielleicht auch unentschieden lassen, sei dem wie ihm
wolle, die Schreibweise Christus' scheint uns am wenigsten empfehlens-
wert; denn das willkürlich zur bezeichnung des genitivs verwendete
zeichen ist ja nur für das auge, nicht für das ohr wahrnehmbar; diese
Schriften sind aber doch dazu bestimmt, nicht blosz still gelesen,
sondern auch laut vorgelesen und gehört zu werden, daher würde
ich beinahe das herkömmliche und allgemein verstandene 'Christi',
so wenig auch im allgemeinen die einführung lateinischer casus-
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Beitrage zur neutestamentlichen exegese.
287
endungen in deutsche rede zu billigen ist, hier vorziehen, zulässig
wäre auch in solchen fällen , wo im griechischen der artikel beige-
fügt ist, die volle Übersetzung 'der gesalbte* anzuwenden, wie das zu-
weilen geschieht in der Verbindung 'der gesalbte des herrn\ Luther
sagt dafür 'der Christ des herrn'. schade, dasz dieser gebrauch, der
in manchen Zusammensetzungen, wie 'Christkind, Christtag, Christ-
fest, Christbescherung' sich eingebürgert hat, nicht allgemein durch-
gedrungen ist, namentlich für die fülle, in welchen die bezeichnung
die geltung eines eigennamens haben soll, es wäre dies ganz in Über-
einstimmung mit unserem sonstigen freilich keineswegs folgerichtig
durchgeführten Sprachgebrauch , in welchem »nicht nur Homer und
Hesiod , sondern auch Horaz und Vergil heimisch geworden sind. 1
doch ist anzuerkennen, dasz eine Schwierigkeit besteht, die in ver-
stärktem masze bei dem namen 'Jesus' wiederkehrt und in ganz be-
friedigender weise wohl nie gelöst werden wird, kehren wir nach
dieser abschweifung zu cuv^X€l zurück und fragen wir, welche be-
deutung Weizsäcker dem worte gibt, so bleibt uns nur die Vermutung
übrig, dasz derselbe im hinblick auf das vorhergehende dEecrrjjLiev
das wort so verstand, wie im classischen sprachgebrauche auch KCtT-
ty€iv vorkommt, indem Kaiexö^evoc mit £v6eoc und fiaivöinevoc
und das Substantiv KOTOKUJxr| mit jLiavia verbunden erscheint, doch
würde auch dieser weg wohl zu ' Wahnsinn* (0eia |uavia), nicht aber
zu fwabn', d. i. 'falsche Vorstellung* führen, mit diesem begriffe
wissen wir in dem vorliegenden Zusammenhang durchaus nichts an-
zufangen und gestehen also, dasz all unser bemühen, die meinung
und absieht des Verfassers zu ergründen, vergeblich war.
So entschieden anfechtbar ist das folgende 'mit dem Schlüsse*
allerdings nicht, aber doch insofern zu beanstanden, als es von der
Wortbedeutung des griechischen KpivavTac unnötigerweise abweicht,
der Übersetzer trägt seine auffassung des folgenden satzes in den
gedaukengang der Urschrift hinein, diesen gibt Heinrici folgender-
maszen an: 'der inhalt des Urteils als solcher (Kpwavrac toöto)
musz in dpa oi ndvTec cWÖavov liegen, wovon das geschichtliche
factum elc UTrfep TrdvTUJV ä7T€0av€V nur die begründende thatsäch-
liche Voraussetzung ist.' nicht darauf kommt es dem Verfasser des
Sendschreibens an , bemerklich zu machen , dasz das urteil , um das
es sich handelt, auf dem wege eines logischen Schlusses zu gewinnen
ist, sondern dasz es als einfache folgerung (dpa) aus der für ihn ge-
wissen thatsache sich ergibt und feststeht, daran that der Übersetzer
wohl, dasz er zwar das üti der Urschrift fallen läszt, aber doch im
übrigen der rede die form der beiordnung gewahrt hat, wo andere
die uns geläufigere Unterordnung vorzogen.
Nicht frei von Schwierigkeiten für Verständnis und Übersetzung
1 ja sogar *ödip> wurde von dem berausgeber einer tragödie des
Sophokles gewagt, ein unterfangen, das von einem benrteiler der aus-
gäbe gut gerügt wurde mit dem bemerken, dasz, da OIMttouc bekannt-
lich r8chwellfu8z' bedeute, dem rOdlp' ein 'schwellt entsprechen würde.
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288 Beiträge zur neutestamentlichen exegese.
sind die vorhergehenden worte von v. 12 an. ich erwähne hier nur,
dasz W. die worte touc tv Ttpocumuj Kauxw^vouc xai ufj dv Kapbia
übersetzt: 'die sich mit ihrem auftreten rühmen, und nichts im herzen
haben.' hier scheint uns der gegensatz zwischen irpocumov und
Kapbia doch zu sehr verwischt, bei ersterem denkt der apostel doch
wohl zu allernächst an die frommen mienen und geberden, mit denen
dann wohl das übrige heuchlerische gebahren übereinstimmt, nach-
teilig für die eigen tümlichkeit des ausdrucks ist auch der umstand,
dasz der präposition £v bei beiden sich gleich gegenüberstehenden
ausdrücken eine verschiedene bedeutung zugewiesen wird , während
bei beiden das rein sinnliche cin' oder 'an' in das mehr geistige 'auf
grund dessen' Ubergeht. Luther wahrt die Übereinstimmung des
ausdmoks durch folgende Übersetzung: 'auf dasz ihr habt zu rühmen
wider die so sich nach dem ansehen rühmen , und nicht nach dem
herzen.' im folgenden verse übersetzt W. die worte €iT€ IHcxrtyiev
und €IT€ cuucppovoüfiev : rsind wir von sinnen gekommen' und 'sind
wir bei sinnen', hier hält er sich wörtlich und lautlich strenger als
die urschrift an den gegensatz, was nur insofern bedenken erweckt,
als der ausdruck 'bei sinnen sein' doch wohl nicht ganz die bedeu-
tung des griechischen CUKppoveiv erreicht, dieses wird zwar auch
sonst im classischen Sprachgebrauch als gegensatz von ^aivccdai
verwendet, bewahrt aber doch wohl auch in diesem gegensatz seine
eigentliche bedeutung 'besonnen' oder 'vernünftig sein'.
3.
Die vierte bitte im Vaterunser.
Von unbekannter hand erhielt ich jüngst von Dorpat einen
durch den druck veröffentlichten Vortrag von Leo Meyer 'über die
vierte bitte des Vaterunsers' zugesandt. 1 ich glaube meinen dank
für diese wertvolle gäbe dem freundlichen geber in keiner andern
weise besser kundgeben zu können, als indem ich so viel in meinen
kräften steht auch in weiteren kreisen auf diese schrift aufmerksam
mache, von der ich selbst vorher keine kenntnis hatte, sie verdient
aber auch aus mehr als einem gründe allseitige beachtung. da be-
greiflicherweise von einer eingehenden betrachtung der vierten bitte
die frage nach der bedeutung des rätselhaften Wortes dmoticioc nicht
ausgeschlossen werden kann , so werden alle , die dieser frage ihre
aufmerksamkeit zuwenden oder zugewendet haben, begierig sein zu
erfahren, wie der berühmte Sprachforscher, der vor mehr als dreiszig
jähren bereits diesem gegenständ eine eigne abhandlung gewidmet
hat, jetzt darüber denkt, da aber die schrift nach form und Ursprung
nicht ausschliesziich für theologen und spracbgelehrte bestimmt ist,
2 Tortrag am 22 jan, (3 febr.) 1886 in der anla der univ. zu Dorpat
gehalten von Leo Meyer. Dorpat, E. J. Karows Universitätsbuchhand-
lung. 1886.
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Beiträge zur neutestamentlichen exegese.
vielmehr von dem kreis der leser auch frauen nicht ausgeschlossen
sind, so bemerken wir, dasz der inhalt im besten sinne des Wortes
ein erbaulicher ist, ganz geeignet christliche erkennt nis und christ-
liche gesinnung zu fördern, ja es will uns bedünken, als dürfte man
in dem gehaltenen vortrage eine heilsame frucht der bedrängnis,
welcher die evangelischen glaubensgenossen in jenen landen zur zeit
ausgesetzt sind, erblicken, die innigkeit der religiösen gesinnung,
wie sie an mehreren stellen, insbesondere in dem das ganze gebet
überblickenden schluszwort (s. 20 ff.) zu tage tritt, erinnert fast an
die innigkeit der Christusliebe, wie sie den ersten bekennern und
später noch oft in Zeiten der Unterdrückung den gläubigen eigen
war. und darf ich auch von dem einflusz reden, den die darstellung
auf die Überzeugung der leser und borer nach meiner erfabrung geübt
bat, so waren die frauen, welche die Vorlesung mit anhörten, trotz
festbegründeter gewohnheit der auffassung geneigt, die ihnen hier
dargebotene und empfohlene anzunehmen, die läge, in die ich selbst
versetzt wurde, wüste ich nicht besser zu kennzeichnen, als mit
gewissen werten , deren sich Kallikles in dem Platonischen dialog
Gorgias dem Sokrates gegenüber bedient : deine rede, lieber Sokrates,
dünkt mich vortrefflich; aber, wie es wohl oft geschieht, Uberzeugt
bin ich nicht.8 es ist mir dies in doppelter hinsieht unangenehm :
einmal, weil ich überhaupt nicht gern wie Kallikles rede und denke;
dann, weil der tröstliche Zuspruch, mit dem Sokrates erwidert, auf
mich kaum eine anwendung zuläszt: wenn wir vielleicht öfter und
besser denselben gegenständ betrachten, wirst du überzeugt werden,
eher werden wir uns vielleicht dahin einigen , dasz in einer frage,
die in einem so unsichern boden der erkenntnis wurzelt, eine sichere
entscheidung Uberhaupt nicht gewonnen werden kann.
Was uns an einer vollen und rückhaltlosen Zustimmung hin-
dert, ist gerade die begründung der von Leo Meyer vertretenen auf-
fassung der vierten bitte, er schlieszt sich nemlich der ansieht derer
an, welche die bitte nicht auf leibliche nahrung und sonstige be-
dürfnisse des leiblichen lebens, sondern auf geistige und geistliche
speise, auf das brot vom himmel, das göttliche wort bezieben, so
viel ist unzweifelhaft, dasz eine solche bitte mit dem inhalt der übri-
gen mehr übereinstimmen würde als die bitte um die leibliche nah-
ning; auch dies, dasz sonst wohl vom danken für die gegebene
speise vor dem genusz derselben , nicht aber von der bitte um die-
selbe die rede ist. doch würden diese gründe noch nicht ausreichen,
um die bitte ums tägliche brot als ganz unzulässig erscheinen zu
lassen, wichtiger ist schon der umstand, dasz die betonung des
Wortes 'heute* bei Matthäus oder 'täglich' bei Lukas durch die Stel-
lung am Schlüsse des satzes so wenig begründet erscheint, dasz man
3 die äuszerung verdient wegen ihrer bedeutsamen eigentUmlichkeit
in form und inhalt ihrem Wortlaut nach angeführt zu werden, sie lautet:
oök otb* övnvd uoi xpöirov bOK€tC 60 ktjtw, ÜJ Cumpaxec • ir€Trov0a bt
tö twv iroXXüJV irdOoc 1 oü udvu coi ircidouai.
K- Jahrb. f. phil. u. pid. II. tbt. 1891 hft. 6. 19
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290
diese worte am liebsten ganz entbehrte, müste man sich aber zwi-
schen beiden ausdrücken entscheiden, so spreche die Wahrscheinlich-
keit mehr für Lukas als für Matthäus, mit dieser ansieht ganz ein-
verstanden glauben wir jedoch bei der tiefgreifenden Verschiedenheit
der beiderseitigen Überlieferung und der Unmöglichkeit, über die
gröszere oder geringere urkundlichkeit der einen und andern ein
wohlbegründetes urteil zu gewinnen, von dieser hier ohnedies nicht
maszgebenden frage ganz absehen zu müssen.
Maszgebend für die auffassung der vierten bitte ist die ent-
scheidung über herkunft und bedeutung des rätselhaften tmouetoc.
fwa8 soll das für ein brot sein, um das wir nach Christi besonderer
an Weisung gott bitten sollen? soll es tägliches brot sein, oder, wie
andere gemeint haben, notdürftiges brot oder ausreichendes brot
oder gar, wie exegeten, die sich für besonders präcis halten wollen,
in völlig absurder weise lehren, brot für den morgenden tag oder
ähnliches?' dieses wuchtige tadelswort, wünschte ich, wäre unaus-
gesprochen geblieben, schon aus rücksicht gegen gelehrte wie Bungen,
Holtzmann, Wilibald Grimm, es fügt sich wunderlich, dasz von der
ansieht, welche Leo Meyer vertritt, Calvin urteilt: 'prorsus absur-
dum est', und Melanchthon ihren Verteidigern 'eruditio et spirituale
iudicium abspricht.4 wir schlieszen uns keinem von beiden urteilen
an, wollen vielmehr annehmen, dasz sie sich gegen einander auf-
heben, und fragen: wie begründet der Verfasser seine auffassung
sprachlich ?
Da ein vor einem gemischten zuhörerkreis gehaltener Vortrag
zu einer gründlich eingehenden Untersuchung Über ein griechisches
wort, das, wie der Verfasser sagt, 'wie ein undurchdringliches ge-
heimnis, wie ein ganz unlösbares rätsel* vor uns liegt, nicht räum
bot, so war es natürlich und geboten, jene eingangs erwähnte
abhandlung5 aus früherer zeit zum zweck der wissenschaftlichen be-
grün dung beizuziehen, wer nun freilich eine voll gilt ige begründung
der hier angenommenen bedeutung dort zu finden glaubte, würde
sich insofern enttäuscht sehen, als die hier ganz entschieden ver-
worfene beziehung auf die leibliche nahrung dort festgehalten wird
und somit der gegen die Vertreter dieser ansieht ausgesprochene
tadel unausgesprochen von einem tadelnden Seitenblick, um mit
Döderlein zu reden, des Leo Meyer maioris natu auf den Leo Meyer
minorem natu begleitet ist. gleichwohl aber verstattet die in vieler
beziehung musterhafte abhandlung auch für den späteren Vortrag noch
mehrfache Verwertung, vorerst verdient hervorgehoben zu werden,
dasz eine Zusammensetzung mit oucia um der bedeutung willen
entschieden abgewiesen wird , womit wir ganz einverstanden sind.
4 s. Meyer-Weiss, handbuch s. 175 anm.
» ^itioOcioc. Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung anf dem
gebiete des deutschen, griechischen und lateinischen, herausgegeben
von dr. Adalbert Kuhn, professor am Cölnischen gymuasium in Berlin.
7r band, Berlin 1858, s. 401—430.
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Beiträge zur neutestamentlichen exegese. 291
dagegen hält Leo Meyer dennoch an der herleitung von clvou bzw.
dessen particip fest und entschuldigt die regelwidrige erhaltung des
schluszvocals der präposition durch die annähme, dasz die neubildung
nach dem vorbild des vorkommenden und freilich auch ganz berech-
tigten TiepiOÜCiOC gebildet sei, und durch andere Wortbildungen des
attischen Sprachgebrauchs, in denen dm in Zusammensetzungen vor
anlautendem vocal das i bewahrt, diesem rechtfertigungsversuch
setzt Wilibald Grimm in seinem lexicon in libros N. T. (dritte auf-
läge, Leipzig 1888) den einwand entgegen, dasz in den zusammen
Setzungen mit etvcu und den ableitungen davon, wie dirouctct, £ttou-
ciuObnc das dm immer seinen vocal verliert, und ist daher geneigt
nach dem Vorgang anderer seine zu flocht zur herleitung von f) £m-
OÜCCt nemlich f]uepa zu nehmen, wie Leo Meyer diese erklärung
beurteilt, ist schon oben angedeutet worden, könnte man das wort
'absurd' im deutschen Sprachgebrauch in dem gelinden sinne ver-
stehen, wie absnrdus im lateinischen in Verbindung mit absonus und
mit ähnlicher bedeutung gebraucht wird, so wäre nicht viel dagegen
einzuwenden , da die bitte um das brot für den folgenden tag von
dem ton und der Stimmung des ganzen allerdings fühlbar absticht;
wenn man es aber so versteht, wie es im deutschen gewöhnlich ver-
standen wird, von etwas ganz sinnlosem und unvernünftigem, so
w&re dieses urteil so wenig am platze, dasz man eher sagen könnte,
die bitte wäre in dieser form gar zu überlegt und berechnet, denn
denken wir uns leute, die, wie man sagt, von der hand in den mund
leben, oder wie die arbeiter im gleichnisse, die auf dem markte
stehen und warten, ob sie jemand dinge, so ist doch wohl anzu-
nehmen, dasz sie mit dem verdienst des einen tage* den unterhalt
für den folgenden tag beschaffen, und wenn sie nichts erwerben,
auch am folgenden tag nichts haben, indessen ist nicht zu leugnen,
dasz eine einfachere bezeichnung des zum leben notwendigen an-
sprechender wäre, diese glaubt Leo Meyer dadurch zu gewinnen,
dasz er daran erinnert, 'wie auszerordentlich gewöhnlich bei allen
präpositionellen Verbindungen oder redensarten die elliptische oder
verkürzte ausdrucksweise ist.' er erinnert an beispiele wie: 'der
apfel fällt ab' oder 'er kömmt an' u. a. dem entsprechend «bemerkt
der verf. : (£moücioc wurde durch das sufflx 10 gebildet aus im und
övt und namentlich durch diese freie Stellung erklärt sich auch die
verbältnismUszig ungewöhnliche bewahrung des i von tni vor fol-
gendem vocal. sie konnte um so eher stattfinden, als die bildung
des worts jedenfalls eine verhältnismässig neue ist und auf dem im
ein besonderes gewicht lag , da ja das oücioc hier fast weiter nichts
ist, als ein adjectivisches suffix. es kann daher t tu oücioc nichts
anderes bedeuten, als 'was crri ist*, um vorläufig das griechische
wort zu behalten, und weiter unten: es 'ist leicht verständlich, dasz
das im darin weder das des ortes noch das der zeit sein kann, son-
dern nur das des Zweckes, des zieles, der bestimmung, der gemäsz-
heit, wie es in vielen Verbindungen vorkommt', die s. 428 gegebeno
19 •
Digitized by Goö^Ie
292
Beiträge zur neutestamentlichen exegese.
Übersetzung lautet: '«unser ausreichendes (das ist das für unsere be-
dürfnisse ausreichende) brot gib uns heute» oder wohl noch besser
«unser notdürftiges brot gib uns heute», wie auch schon von andern,
z. b. von Ewald übersetzt ist.' es ist auffallend, dasz der Verfasser,
der von der richtigkeit seiner erklärung damals aufs festeste über-
zeugt war, in der wähl des deutschen ausdrucken doch noch schwankt
und sich zuletzt für den entscheidet , den man kaum für besonders
glücklich gewählt erachten kann, denn c notdürftig* schlieszt in
unserem gewöhnlichen Sprachgebrauch einen begriff ein, der dem
bittenden doch wohl fremd ist. sagen wir von einem menschen 'er
ist notdürftig bekleidet', so drücken wir doch wohl aus, dasz ihm
noch ein und das andere stück fehlt und zu gönnen wäre, wir wun-
dern uns, dasz Leo Meyer nicht 'zureichendes' wählte, wodurch die
von ihm angenommene bedeutung der präposition zum vollen aus-
druck käme.
Indessen, nachdem diese erklärung und Übersetzung der urheber
selbst wieder aufgegeben hat, brauchen wir uns auch nicht weiter
um dieselbe zu bekümmern, eingehende betrachtung des ganzen
gebetes hat dem Verfasser die Überzeugung gewährt, dasz es sich in
der vierten bitte nicht um leibliche nahrung, sondern um himmlische
speise handle, der ausdruck äpTOC dmoucioc wird in dieser hinsieht
einer genauen Untersuchung unterzogen, deren ergebnis dies ist, dasz
Äpxoc eine andere beziehung als die auf himmlische speise Über-
haupt nicht verstattet, dirioucioc aber diese wenigstens ebenso gut
zuläszt wie die früher angenommene auf die leibliche nahrung. was
nun letztere annähme betrifft, so bleibt zwar die herleitung von im
und övt bestehen, aber die früher ausgeschlossene örtliche bedeu-
tung kommt jetzt zur geltung. der verf. bemerkt nach vergleichung
einzelner stellen in dieser hinsieht i 'jener erste teil unseres adjectiva
bedeutet also «oben auf, auf, oben über, über» und für das ganze
adjectiv selbst gewinnen wir auf dem einfachsten , vorsichtig abge-
messenen wege die bedeutung « was über etwas anderem ist , was
einer oberen oder höheren region angehört».' auf den letzten teil
der vorstehenden behauptung scheint sich die gerühmte vorsieht nicht
zu erstrecken, dasz dm sich auf das beziehe, 'was einer oberen oder
höheren region angehört', dürfte sich kaum aufrecht erhalten lassen,
was über den gebrauch der präposition im im voraus bemerkt wird,
rechtfertigt die dem adjectiv beigelegte bedeutung nicht im minde-
sten, und was nachher zur sachlichen erörtern ng derselben bei-
gebracht wird, muste eher bedenken gegen die angenommene bedeu-
tung erwecken, denn Joh. 8, 23 steht evc tujv övuj im gegensatz zu
iK tüjv KütTiu , Kol. 3, 2 Ta ävw im gegensatz zu toi iix\ ttjc ttic,
und Joh. 6, 32, wo über das brot vom himmel geredet wird, da
heiszt es 'töv dpTov iK toO oupavoö, töv äpTOV £k toO oupavoö
töv äXrjöivöv, 6 äpTOC toO öeoü ö KOTaßaivtuv U tou oupavoö.'
man sieht also, dasz es der griechischen spräche an mittein, zu denen
auch äviuBev gerechnet werden musz, nicht gebrach, die himmlische
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Beitrage zur neuteßtamentlichen exegese.
293
speise mit gebräuchlichen ausdrücken zu bezeichnen, und dasz die
Verfasser der beiden evangelien darum nicht genötigt waren zu einer
so zweifelhaften neubildung ihre Zuflucht zu nehmen : ein grund, den
Leo Meyer mit recht gegen die angenommene bedeutung 'morgend'
in anwendung bringt.
Doch wenn es auch nicht gelungen ist, dem widerspenstigen
eirioucioc die bedeutung 'himmlisch' aufzuzwingen, so kann es doch
nach des Verfassers Versicherung hier in dieser Verbindung keinen
andern sinn haben, denn der im deutschen recht gewöhnliche ge-
brauch des ausdrucks 'brot' in erweiterter bedeutung, wornach wir
z. b. von mittagsbrot und von abendbrot sprechen, ohne an das brot
im engeren und eigentlichen sinne auch nur zu denken, ist, so ver-
sichert der Verfasser, dem entsprechenden griechischen wort (äpTOc)
ganz fremd und wird ihm auch im neuen testamente nur völlig will-
kürlicher weise angedeutet der letzte teil der behauptung ist uns
natürlich der wichtigste , zumal da der Verfasser sehr gründlich sta-
tistisch zu werke geht, das wort kommt im N. T. 99 mal vor, und
zwar 41 mal in der mehrzahl. dasz in diesen stellen immer von brot
im engeren sinne die rede ist, also von broten, d.h. gebäcksformen,
unterliegt keinem zweifei; ebenso bei dem gebrauche der einzahl in
all den stellen, in welchen vom brotbrechen die rede ist. ob nun
auch in allen andern stellen, in denen ctproc vorkommt, dieses stets
entweder brot im engeren oder im übertragenen sinne, nemlich
geistige speise bedeutet, erscheint zweifelhaft. Grimm in seinem
lezikon führt eine reihe von stellen an, in denen es im erweiterten
sinne von jedweder nahrung, sei es leiblicher oder geistiger, zu ver-
stehen sei. es würde zu weit führen, jede der angeführten stellen
einer eingehenden betrachtung zu unterziehen; es genügt zu be-
merken, dasz ich z.b. Mark. 6, 8, wo man Uber den begriff des brotes
in engerem sinne nicht hinauszugehen und höchstens den collectiven
gebrauch von brot in beliebiger menge anzunehmen braucht, für die
erweiterte bedeutung nicht in anspruch nehme, dagegen wird man
diese II Thess. 3, 8 u. 12 nicht in abrede stellen können. Paulus
rügt den unordentlichen wandel einzelner brüder und weist auf sein
eignes verhalten als vorbild hin; airroi fäp oT&OT€, sagt er, . . ÖTi
ouk rjTaKTrjcauev Iv uuiv, oubfe öwpeäv dpiov d(pdrouev
Ttapä tivoc, äXX* dv köttuj Kai uöxöw vuktöc kgu fiudpac £pra-
£6ü€voi npöc tö urj £Tnßapn.ca( Tiva uuüjv und weiter unten: toic
toioutoic TrapcrrNMouev Kai TrapaKaXoüuev . . iva uexd fjcuxtac
£pTa£öuevoi töv £outwv äpiov dcGiwciv. hier ist offenbar
an leibliche nahrung, und zwar nicht auf brot in engerem sinne be-
schränkt, zu denken, aber wenn auch keine solche stelle nachweis-
bar wäre, würden wir aus der auf die geistesnahrung übertragenen
anwendung des wortes schlieszen, dasz es auch von leiblicher nahrung
im weiteren sinne gebraucht werden konnte, diese erweiterung ent-
spricht ja ganz der morgenländischen ausdrucksweise, von welcher
uns ein berühmtes beispiel in der bekannten stelle des Thukydides
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294
Beitrage zur neutestamentlichen exegese.
(I 138) vorliegt, dort beiszt es von Themistokles , dasz er über die
stadt und landschaft Magnesia geherscht habe, 6ÖVTOC ßaciX^wc
auTiIi MaTvrjciav yfev äptov, Tipoc€<p€p€ TrevniKOVTa id-
Xavra toö dviauToö , AdjuiyaKo v bk otvov . . Muoövra bk öujov.
Wenn somit der Sprachgebrauch nicht einen zwingenden beweis
dafür liefert, dasz man den ausdruck töv fipiov töv ^mouciov im
gebet nur in geistiger bedeutnng verstehen könne, so verdient eine
sachliche erwägung des Verfassers doch volle beachtung. s. 15 lesen
wir : 'sollen wir noch hervorheben, dasz die bitte «unser tftglich brot
gib uns beute» in zahllosen lagen des lebens ohne willkürliche aus-
deutung ganz ohne bedeutnng ist, eigentlich schon an jedem tage,
sobald wir zu abend gegessen haben? und was sollen wir sagen zu
den leidenden, zu den todkranken, die vielleicht auf ihrem Sterbe-
lager ruhen und ein letztes vaterunser hervorpressen ? sollen die die
vierte bitte auslassen, weil sie für sie keinen sinn hat, oder sollen
sie sie traditionell noch mitbeten, obgleich sie für sie keinen sinn
hat? nein, zu aller zeit und in jedem moment und unter allen um-
ständen ist die vierte bitte ebenso voll berechtigt und bedeutend wie
jede andere im Vaterunser , ja sie ist erst recht bedeutend in aller
not und bedrängnis des lebens.'
So schön und wahr dies gesagt ist, besonders wenn man die
darin sich aussprechende christliche gesinnung würdigt, so darf doch
neben dieser erwägung wohl auch noch eine andere platz greifen,
bekanntlich steht bei Matthäus diese belehrung über die rechte art
zu beten im engsten zusammenhange mit der Weisung an die jünger,
wenn sie beten, nicht in den schulen und an den straszenecken
stehend ihr gebet zu verrichten, wie die heuchler, die von den leuten
gesehen werden wollen , und nicht zu plappern , wie die Heiden, die
erhört zu werden glauben, wenn sie viel worte machen, sollte nun
der ersten dieser beiden Weisungen nicht der vollständig entspre-
chen, der morgens , ehe er sein kämmerlein verlä ?zt, sein gebet ver-
richtet? die Weisung in sein kämmerlein zu gehen und die thüre zu
verschlieszen , ist eben vom Standpunkte der vorhergehenden worte
gesagt, die uns bereits aus dem hause hinaus in die Öffentlichkeit
gefuhrt haben, dasz wir daher wohl zunächst an ein morgengebet
zu denken haben, in welcher auch der vierten bitte nach der gewöhn-
lichen auffassung räum gegeben ist, dürfte kaum zu bezweifeln sein,
und da die Weisung, beim beten nicht viel worte zu machen, auch
eine öftere Wiederholung des gebetes zu bestimmt vorgeschriebenen
tageszeiten nicht zu begünstigen scheint, so dürften auch weitere
bedenklichkeiten in dieser hinsieht sich nicht ergeben, aber selbst
das von Leo Meyer geltend gemachte bedenken, dasz die bitte in
dieser fassung und auffassung schon für ein abendgebet sich nicht
eigne, gilt doch mehr nur vom Standpunkt unserer begriffe als von
dem der jüdischen sitte, die den bürgerlichen tag von abend bis
abend rechnete. Oberhaupt musz man bei beurteil ung solcher Ver-
hältnisse zeit und umstände wohl in anschlag bringen, sonst könnte
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Beiträge zur neutestamentlichen exegeae.
295
man es kaum billigen, dasz im kirchlichen gebrauch das Vaterunser
als schluszgebet dem agendengebet beigefügt zu werden pflegt, aus
den worten des herrn liesze sich die berechtigung dazu kaum ent-
nehmen, das bedttrfnis des gottesdienstes hat die sitte eingeführt,
die unser gefühl nicht verletzt, sondern befriedigt, auch das be-
denken wegen der leidenden und sterbenden dürfte nicht leicht zu
einer das gemüt beschwerenden Wirkung führen, bei schwerer krank -
heit sind es ja meistens andere, welche die gebete sprechen, die der
kranke mit mehr oder weniger be wustsein und herzensteilnahme an-
hört dieser wird eher, als das ganze gebet, eine einzelne bitte, die
seinem Herzensbedürfnis am meisten entspricht, herauspressen, ja,
wir können uns umstände denken — wir brauchen in unseren erin-
nerungen nicht einmal auf ein halbes jahrhundert zurückzureichen,
um dergleichen erlebt zu haben — wo in Zeiten allgemeiner arbeits-
stockung und weitverbreiteter verdienstlosigkeit ein bekümmerter
familienvater, dem es von tag zu tag schwer wird den lebensunter -
balt für sich und die seinigen zu beschaffen , oder eine arme wit we,
die auch mit ihrer hände arbeit sich und ihre kinder zu erhalten hat,
im drang der not und nach tiefstem herzensbedürfnis nur die eine
bitte hervorbringt: unser täglich brot gib uns heute, wir fragen,
hat ein solcher nicht vielleicht mehr und wahrhafter gebetet als man-
cher andere, der gewohnheitsmäszig und vielleicht gedankenlos das
ganze gebet hersagt? freilich bestreitet Leo Meyer überhaupt die
berechtigung einer bitte um leibliches brot, da von einer solchen im
N. T. keine spur vorkommt, während vom danken bei dem genusse
der dargebotenen speise öfter die rede ist. allein das argumentum
ex silentio kann doch um so weniger als ein ausreichender beweis
für das nichtvorkommen der sache gelten, als ein anlasz zur erwäh-
nung solcher Vorgänge kaum denkbar ist. eher könnte man Sprüche
30, 8 für die bitte in diesem sinne geltend machen, wie es auch ge-
schehen ist. anderseits beruft sich der Verfasser nicht blosz gegen
die bitte um das morgende brot, sondern überhaupt um irdische
nahrung auf Matth. 6, 31 ff., wo im nahen zusammenhange mit der
gebetsmitteilung die sorgenvolle frage 'was werden wir essen? was
werden wir trinken? womit werden wir uns kleiden?* als eine ganz
ungehörige bezeichnet wird, indessen möchten wir doch nicht einen
beweis von Spitzfindigkeit theologischer exegese darin sehen , wenn
man die bitte um das tägliche oder morgende brot nicht in wider-
sprach findet mit dem verbot der ängstlichen sorge um die beschaf-
fang der leiblichen bedürfnisse, die ja so oft das ganze leben und
alles sinnen und trachten der menschen beherscht.
Somit glaube ich das ergebnis der vorstehenden erörterung
dahin zusammenfassen zu können, dasz die richtige auffassung der
vierten bitte des Vaterunsers noch nicht so festgestellt ist, um jeden
zweifei und jedes bedenken auszuschlieszen; dasz zwar die von Leo
Meyer in seinem Vortrag neuerdings vertretene ansieht, nach welcher
als gegenständ der bitte die himmlische nahrung, deren wir täglich,
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296 Beiträge zur neuteBtam entlichen exegese.
stündlich bedürfen, zu verstehen ist, durch seine eindringliche Behand-
lung sehr an überzeuglichkeit gewonnen hat und Uberhaupt durch
die gröszere Übereinstimmung mit der ganzen baltung des gebetes
sich empfiehlt , dasz aber gleichwohl viele die bitte um das tägliche
brot der leibesnahrung, an das sie von jugend auf zu denken ge-
wohnt sind, nicht werden missen wollen; und dasz die Schwierigkeit
ein einverständnis zu erzielen , das eine berichtigung der herkömm-
lichen Übersetzung verstattete , dadurch erhöbt wird, dasz das ent-
scheidende wort der griechischen Urkunde bisher beharrlich allen
bemühungen der Sprachwissenschaft widerstand geleistet hat dieses
wort steht in der that in der griechischen spräche da wie ein find-
ling, über dessen herkunft und geschichte man nichts weisz, der
auch selbst keine auskunft über seine Verwandtschaft, über eitern
und geschwister geben kann; er sieht aus wie andere menschen-
kinder, erinnert auch wohl durch seine gesichtszüge an diesen und
jenen bekannten, aber niemand findet sich , der ihn als angehörigen
anerkennt und zu sich nimmt.
Doch soll auch diese ansieht nicht ohne vorbehält ausgesprochen
werden für den fall, dasz seitdem es gelehrter forschung wirklich
gelungen sein sollte das rätsei endgiltig zu lösen und damit jeden
zweifei und Widerspruch auszuschlieszen. zu dieser vorsieht sehe ich
mich um so mehr veranlaszt, als ein jüngst in dieser Zeitschrift ver-
öffentlichter aufsatz von Friedrich Wilhelm Münscher gew isser maszen
unmittelbar an meine adresse gerichtet ist. der verf. nimmt meine
erörterung über emoucioc zum beweise, 'dasz die überaus gründ-
liche, allseitige und im wesentlichen abschlieszende Untersuchung
über die ableitung und bedeutung jenes wortes, welche auf der von
Leo Meyer . . gelegten grundlage A. Kamphausen («das gebet des
herrn, erklärt», Elberfeld 1866 s. 86—102) angestellt hat, in wei-
teren kreisen noch nicht genügend bekannt geworden ist', hätte er
mir doch seinen oheim Friedrich Münscher zum genossen gegeben,
dem ich sogar den vortritt nicht hätte streitig machen können und
wollen, hätte sich nun wohl das griechische Sprichwort 'cuv T€ bu'
epxojae vuu' kt£ an uns nicht bewähren können, so hätte um so mehr
das gemütvolle deutsche seine anwendung gefunden: 'geteiltes leid,
halbes leid , geteilte freu de , doppelte freude', ersteres um der nach-
gewiesenen Versäumnis willen, letzteres in hinsieht auf die empfan-
gene belehrung. gleichwohl fühle ich mich dem Verfasser zu dank ver-
pflichtet, den ich durch vorstehende erörterung glaube thatsächlich
erstattet zu haben, denn es scheint, dasz der Vortrag von Leo Meyer
'über die vierte bitte des Vaterunsers* in weiteren kreisen auch nicht
genügend bekannt geworden ist. vielleicht nimmt F. W. Münscher
anlasz, die bedeutung des fraglichen wortes aufgrund der neuen
erklärung Leo Meyers einer erneuten prtifung zu unterziehen und
dadurch die wissenschaftliche erkenntnis zu fördern, freilich musz
diese sich bisweilen auch mit dem ergebnis begnügen, zu bewahren
vor dem wahne zu wissen was man nicht weisz. fehlt es doch
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Beiträge zur neutestamentlicben exegese.
297
auch unserem deutschen Wortschatz nicht an Wörtern dunkeln Ur-
sprungs !
Schlie8zlich bemerke ich noch , dasz F. W. Münscher mir bei-
stimmt in der ansieht, dasz für den täglichen gebrauch eine änderung
in dem Wortlaut des gebetes sich nicht empfiehlt, der gleichen an-
sieht gab auch Leo Meyer in der abhandlung über dmoucioc aus-
druck. ob er noch jetzt dieser ansieht ist, wage ich nicht zu ent-
scheiden.
Ehe vorstehendes zum abdruck gelangte, erschien Rothes «noch-
mals £mouctoc» im lln heft des vorigen Jahrganges dieser Zeitschrift
s. 586 f. da ich bei dieser frage nun doch auch einigermaszen be-
teiligt bin, so sei es mir verstattet, hier anhangsweise meine ansieht
über diesen neuesten erklärungsversuch auszusprechen.
Kothe verwirft die herleitung von dTTi-ewai und läszt nur die
von en-ievai gelten, dieses bedeute sequi, tmaiv also sequens und
dmoücioc secundus. durch Vermittlung der lateinischen spräche ge-
langt K. zu der bestimmung des apioc emoücioc als panis secundus
(secundarius). dieses sei nun das gerstenbrot, das gewissermaszen
als mittelbrot bezeichnet werden dürfe, denn Weizenbrot wurde nur
von reicheren und als festspeise genossen, während die geringeren
leute sich mit kleienbrot begnügten, d. h. mit solchem brot, bei dem
die hülsen nicht ausgeschieden waren, hier zu lande auch spelziges
brot genannt und nicht für jeden magen verdaulich, bezüglich des
gerstenbrotes bemerkt der verf., dasz es wohlschmeckend und nahr-
haft war und nach einer angäbe Suttens vom kaiser Augustus mit
Vorliebe gegessen wurde, wie auch Horatius (epst. II 1, 123) mit
seinem panis secundus nicht die armut, sondern die einfachheit des
dichters habe bezeichnen wollen, schlieszlich sucht der verf. seine
erklärung im voraus gegen zwei einwendungen, die erhoben werden
könnten, zu rechtfertigen, nemlich erstens, dasz der ausdruck zu
realistisch, und zweitens dasz er zu eng bezeichnet sei. ersteres
spreche nicht gegen ihn , da Christus gern die erhabensten begriffe
an die alltäglichen dinge knüpfe; der zweite umstand komme darum
nicht in betracht, weil die zwei worte doch nur einen begriff aus-
drückten, der für den kleinen mann in Palästina das bezeichnete,
was wir 'brot* nennen.
Gegen letztere bemerkung erhebt sich nun aber doch ein ge-
wichtiges bedenken, im griechischen sind es eben doch zwei worte,
deren eines nach K. dazu bestimmt ist, die beschaffenheit des
gegenständes, den das andere ausdrückt, zu bezeichnen; denn im-
oucioc soll ja secundarius bedeuten, das noch durch die Stellung
nach dem Substantiv mit Wiederholung des artikels sogar nachdrück-
lich ins gewicht fällt, die bitte ist also dann doch jedenfalls auf
brot zweiter sorte, auf gerstenbrot gerichtet, und soll es sein, sie
versteigt sich nicht zu Weizenbrot oder kuchen, schlieszt aber doch
auch geradezu das brot dritter Sorte aus. die geringeren leute , die
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Beiträge zur neutestamentlichen exegese.
doch auch wohl diese bitte vor ihren himmlischen vater bringen
dürfen, die sich mit ihrer \iaZa, ihrem hausbrot zu begnügen hatten,
würden um eine bessere sorte bitten, die auch dem kaiser Augustus
mundete, mit welcher der herr die fünftausend in der wüste speiste,
da ihm gerade fünf gerstenbrote zur Verfügung standen, aber auch
abgesehen von den geringeren leuten, würden nicht auch die aus
dem mittelst ande, die für gewöhnlich gerstenbrot aszen, sich einer
unbescheidenheit schuldig machen, wenn sie in ihrer bitte gerade
diese sorte bezeichneten? die reichen lassen wir ebenso wie die
sklaven auszer betracht, da weder die einen noch die andern, sei
es nach dem bericht des Matthäus oder des Lukas , unter den Zu-
hörern werden gewesen sein, wenn sie auch nicht als ausgeschlossen
von diesem gebete betrachtet werden sollen, immerhin aber er-
scheint die bezeichnung einer besondern sorte des brotes in einer
gebetsbitte unschicklich, sie erinnert mich an einen brauch, wel-
cher zu der zeit, als in Süddeutschland noch die gülden Währung
bestand und der straszenbettel noch mehr im schwänge war als
heutzutage, nicht selten vorkam, nemlich dasz bettler, vornehm-
lich kinder, die vorübergehenden ansprachen mit den worten:
'schenkend mir auch ein kleins kreuzerle.' das lautete auch be-
scheiden, denn der kreuzer, die kleinste silbermünze, war in der
that recht klein seinem umfange nach, aber seinem werte nach doch
viermal so grosz als der kupferpfennig, den die damals übliche mild-
thütigkeit als straszenalmosen zu spenden pflegte.
Wenn nun der v er f. jede erklärung des fraglichen Wortes, die
einen zeitbegriff hineinlegt, als einen pleonasmus enthaltend von
vorn herein abweisen zu müssen glaubt, so glaube ich mit mehr
recht noch jede deutung, die eine qualitätsbezeichnung ausdrückt,
aus den angegebenen gründen als ganz unzulässig ansehen zu müssen.6
was aber den pleonasmus betrifft, so ist dieser ja doch nicht unbe-
dingt zu verwerfen, kommt diesem ja doch schon der allgemeine
grundsatz 'superflua non nocent' zu gute, überdies machen ja die
besten Schriftsteller, dichter wie prosaiker, vorkommendenfalls davon
gebrauch, hier in dem besondern falle , was läge unschickliches in
der bitte : gib uns heute unser heutiges oder morgendes oder auch
täglich unser tägliches brot, d. h. das wir heute und morgen und
jeden tag bedürfen zu unseres leibes erhaltung? wäre nur die her-
leitung des Wortes so klar gestellt, dasz eine dieser deutungen sich
mit voller Sicherheit ergäbe !
Sollte aber diese der verf. für seine deutung auch ferner in an-
spruch nehmen, so würden wir uns den Vorschlag erlauben, als brot
zweiter sorte das anzusehen , das er als dritte sorte bezeichnet und
kleienbrot benennt, denn da Weizenbrot doch mehr als kuchen und
fest speise angesehen wurde, so kann es billigerweise unter den
6 wie ungeeignet wäre der im deutschen etwa entsprechende aas-
druck 'unser Schwarzbrot gib uns heute*.
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A. Gerber u. A. Greef: lexicon Taciteum.
299
eigentlichen brotarten, wo es sich um die tägliche nahrang handelt,
auszer ansatz bleiben, hier ist also das sorgfältig bereitete wohl-
schmeckende gerstenbrot auch für wohlhabende in Wahrheit brot
erster sorte. von diesem unterscheidet sich das zweiter sorte nur
dadurch, dasz es von schlechterer mache ist, indem es nicht aus ge-
reinigtem gerstenmehl, sondern aus geschrotener gerste bereitet
wurde und darum spelzig war. doch sei nicht verschwiegen, dasz die
erklarer des Horaz, die mir dermalen zugänglich sind, an der oben
bezeichneten stelle alle von panis siligineus als erster sorte ausgehen.
Schließlich noch eine frage! wen hat K. wohl im äuge bei
der bemerkung, ff ^mouca sei nicht blosz der anbrechende tag, son-
dern der folgende tag in seiner ganzen ausdehnung ? sollte dieser
bemerkung vielleicht ein misverständnis zu gründe liegen?
AüOSBüRO. Christian Cbon.
28.
lexicon Taciteum ediderünt A. Gerbeb et A. Greef. fasci-
culum viii edid. A. Greef. Lipaiae inaedibusB.G.Teubneri. 1890.
Seit dem tode des wackeren mitarbeiten an diesem werke liegt
die gesamte last der arbeit allein auf den schultern Greefs (Gr.).
man hat klagen vernommen, dasz das werk so langsam fortschreite,
ja, wir alle wünschten wohl, das lexikon vollständig vor uns zu
haben, fanden wir doch alles das uns vorbereitet dargeboten, was
wir uns jetzt zum teil noch selber mühsam, und doch immer auf die
gefahr hin, etwas übersehen zu haben, zusammen suchen müssen,
alle solche wünsche zeugen an sich schon für die vortrefflich keit
des lexikon, aber doch musz ruhige Überlegung sich die unend-
lich mühevollen vorarbeiten vergegenwärtigen , die nicht blosz auf
Seiten des Verfassers, sondern auch der verlagshandlung liegen,
greifen wir nur die rein äuszerliche seite, die correctur, heraus,
wenn irgendwo musz doch bei einem solchen buche jedes versehen
zur bezeichnung der tausenden von stellen vermieden sein, und wir
müssen gestehen, es ist auch hierin erstaunliches geleistet, wir haben
in dieser beziehung bei ziemlich genauer durchsieht dieses vorliegen-
den 8n bandes auch nicht ein einziges beispiel falscher angäbe ge-
funden, dasz die bezeichnung der stellen in den zeilangaben unter
verschiedenen artikeln oftsmals verschieden angegeben ist, ist selbst-
verständlich eine notwendige folge des jedesmal in demselben bei-
spiele betonten wortes. auch druck fehler sind uns nur in verschwin-
dend geringer zahl aufgestoszen, ich notiere dieselben hier sogleich.
8. 818 b z. 28 v. u. crederent statt crederes ; s. 905 b z. 28 v. u. ne longius
subsidium et vim statt obsidium. dazu rechne ich auch s.895a z. 15
v. u. secuntur statt sequuntur; vielleicht auch 8. 850* z. 34 v.u. ad
satis faciendum , obschon Hlm. die trennung aufrecht erhalten hat.
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300
A. Gerber u. A. Greef : lexicon Taciteum.
dasz Gr. die beiden Florentiner codd. nicht durch M und Ma unter-
scheidet, geschieht wohl der abkürzung wegen, er schreibt nur M.
hier und da treffen wir ein set (z.b. s.872a) statt des sonstigen sed.
Gr. schreibt stets exiin (s.s.422b), obschon der berufene corrector
der handüchrift M wiederholt durch correctur ex in als die Schreib-
weise fies urcodex bezeugt hat.
Unter Miraculum s.843* fehlt bei I 27, 15: milites in itinere
adgregantur . . pars clamore et g a u d i i s die angäbe, dasz in Ma clamore
et gladiis stehe, auch Mll. hat diese erwähnung unterlassen, vielleicht
in der irrigen annähme , die jahrhnnderte giltige änderung Pichen.s
könne nicht mehr erschüttert werden, und doch hält, soviel ich
weisz, jetzt auch Gr. meine Verteidigung des gladiis für begründet. —
Zu ende des artikels Militia fügt Gr. hinzu: '[III 18, 10 Ritter]',
dort lautet die handscbrift: quos militie legionariis . . aequabant.
hier hätte auszer auf Rtt, der militia e vorschlug, auf Legiona-
rius verwiesen werden müssen, wo die conjectur von Dübn. (jetzt
allgemein vorgezogen) multi e angegeben ist , der hinweis auf die
handschrift fehlt dort allerdings, ebenso auch bei Mll. ebenfalls
unter Militia s. 839 ■ finden sich zugleich zwei abweichungen von
früherer entscheidung, I 87, 7: facta et ceteris spe honoratioris
in posterum militiae, dagegen unter Honoro 8.534: facta et ceteris
spes honoratae [(a. b.) Her. honoratioris] in posterum militiae.
eine ähnliche abweichung findet sich unter Et s. 401*: I 85, 6 et
privato Othoni nuper atque eadem timenti nota adulatio, dagegen
unter Dico 8. 287 a: privato Othoni atque eadem dicenti nota
adulatio. wahrscheinlich mögen sich solche Verschiedenheiten in den
früheren heften mehrere finden, sie beruhen selbstverständlich in
einer verschiedenen auffassung verschiedener bearbeiter , oder auch
in den abweichungen der 3n und 4nHalmschen ausgäbe von einander.
Die bemerkung Wlff.s (wochenschr. f. class. phil. 1890 n. 47) in
bezug auf die gruppierung der einzelnen stellen nach der Wortbedeu-
tung kann ich nicht ganz unbegründet erachten, ich würde z.b. unter
einer rubrik des warnenden Ne die stellen I 85 ne contumax Silen-
tium, ne suspecta libertas und 1, 7 ne laeti excessu principis, neu
tristiores primordio sowie Germ. 19 ne ulla cogitatio ultra, ne lon-
gior cupiditas, ne t am quam maritum, sed tamquam matrimonium
ament u. a. st. lieber neben einander sehen, ohne jedoch die berech-
tigung der von Gr. gewählten einteilung zu bekritteln, es läszt sich
in allen solchen fällen nicht alles zugleich erreichen,* und alle etwaigen
wünsche nach gröszerer Vollkommenheit sind nicht im stände, den
dank für die gäbe in der gestalt, wie sie uns jetzt vorliegt, und wie
sie eine frucht deutschen fleiszes und eine perle deutscher Wissen-
schaft ist, irgendwie abzuschwächen.
Bisweilen ist mir Gr. in seiner sonst so hoch anzuerkennenden
genauigkeit oder wenn man will gerechtigkeit gegen die bandscfar.
zu peinlich, so z. b. wäre es unter dem artikel Murus gar nicht
nötig, auf das unmöglich zu verkennende glossem III 20, 13 machi-
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A. Gerber u. A. Greef : lexicon Taciteum.
301
namenti genus ad expugnandos muros in modum turrium factum,
(der abscbreiber hat ebenfalls am schlusz gewissenhaft den verdäch-
tigenden punkt gesetzt) rücksicht zu nehmen, ich würde es auch
nicht für geboten erachten, solch ungeheuerliche correctur, wie sie
sich Her. zu I 71, 10 erlaubt hat, zu berücksichtigen trotz der Zu-
stimmung Npp.s und Pr.s (Ma: ne hostes metueret, conciliationis
adhibens, dafür Her. : deos testes mutuae reconciliationis adhibens),
denn dieseB mutuae hat in einem lexic. Tacit. als falsche wäre
keine berechtigung , die ihr Gr. durch schluszhinzufügung zu Mu-
tuus '[Heinsius, Her. Nipp. I 71, 10]' hat zu teil werden lassen.
Gr. hat sein lexikon in anzuerkennender weise zu einem förm-
lichen commentar des Tac., zu einem vollkommenen schulbuche
gemacht, er gibt in unzähligen fällen und wo es sich etwa um ver-
schiedene auffassungen handelt, ausnahmslos die beste deutsche
Übertragung; wo er solche in den erklärenden ausgaben, oder sonst
irgendwo, vorfand, wählte er diese mit beifügung des betreffenden
namen, im übrigen nach eignem ermessen, einzelne artikel lassen
sich in dieser beziehung gar nicht herausgreifen , sie sind durchweg
zu finden, nur an verhältnismäszig wenigen stellen erlaube ich mir,
eine abweiohende erklärung geltend zu machen.
Zunächst eine stelle, die eine erklärung überhaupt vermissen
läszt. Militaris s. 837 b 16, 27, 4: ad i tum senatus globus toga-
torum obsederat non occultis gladiis. wer sind hier togati? keiner
bat darauf antwort gegeben , nur Roth übersetzt f bürger' und Böt-
ticher 'männer', Drg. scheint ähnlicher ansieht zu sein, aus wel-
chem gründe aber sollten sich die cives bei einem processe des
Tbrasea in der angedeuteten weise in ihrem verhalten beteiligt haben?
— Die vorweg erwähnten duae praetoriae cohortes armatae weisen
auf dengegensatz praetoriae cohortes togatae hin, d. b. die gerade
den wachedienst habenden cohorten, und diese hatten den eingang
der curie besetzt, keine cives, sondern ebenfalls milites 'eine schar
der palastwache'.
Mol es. 8. 857* Agr. 17, 8 'sustinuit molem (sc. ingruentis
belli) Frontinus'; nach m. e. bezog sich 'die schwierige aufgäbe' des
Frontinus nicht auf die damalige politische läge Britanniens, sondern
auf die im vorangehenden bezeichnete schwere last, die ein ausge-
zeichneter Vorgänger im amte dem nachfolger bereite, der allerdings
Frontinus gewachsen war, wie kein anderer.
Mut o. s. 888 b II 80, 19 'Suriacis legionibus (i. e. a 8. L) Ger-
manica hiberna . . mutarentur'; die syrischen legionen waren bei
diesem intendierten tausche rein passiv, Vitellius sollte es befohlen
haben, daher erscheint Suriacis legionibus richtiger als bloszer dativ,
'für'. — I 76, 7 'nusquam fides aut amor (sc. pro v in darum et exer-
cituum), metu ac necessitate huc illuc mutabantur. Prammer pro
subi. aeeepit <onines»\ ich glaube, Pr. hat recht, indem er hinzu-
fügt, omnes sei aus nusquam zu entnehmen.
Medius. s. 818* 12, 57, 3 'ineuria operis manifesta fuit haud
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302
A. Gerber u. A. Greef : lexicon Taciteum.
satis depressi ad lacus ima vel media [Acid., Nipp. dol. vel media]',
es liegen nur recht unklare (Roth und Bötticher) oder ganz falsche
auffassungen und behauptungen (Drg. Andr.) dieses vel media vor.
Gr. enthält sich jeder entscheidung. man faszt media in Örtlicher
bedeutuug als 'die mitte des wasserbassins* auf, wo 'erfahrungsmäszig
die gröste tiefe zu sein pflegt', in dem vorliegenden falle war der
abzugskanal (opus) in Verhältnis (ad) zu der grösten (ima), selbst
(vel) mittleren (media) tiefe des sees nicht tief genug gegraben (band
satis depressi).
Met us. 8. 827 b II 19, 11 metum ac discrimen ostendere würde
ich lieber mit Wlff. 'sie wiesen auf die gefahr hin, welche sie zu be-
fürchten hätten', als mit Gantr.: eils manifestaient leurs craintes et
montraient les dangers' erklären.
M i litis, s. 838 b I 31 Longinum exsrmsnt, quia non ordine
militiae . . erst erklärt Gr. nach MU.s allgemein angenommener auf-
fassung 'infolge seiner militärischen Charge als officier', dagegen
I 38 rapta . . arma sine more et ordine militiae ri. q. militärische
dienstordnung'. s. n. jahrb. f. class. phil. 2e abt. 1889 heft 10, wo
auf die äuszere gegen die 'militärische dienstordnung' yerstoszende
erscbeinung des Longinus (togatus) hingewiesen ist.*
Misceo. 8. 844 b III 69, 16: Sabinus . . arcem Capitolii in-
sedit mixto milite et quibusdam senatorum equitumque. Tac. braucht
mixtus auch in der bedeutung 'untermischt' (s. I 32 plebs Palatium
implebat mixtis servitiis, 'mit untermischten sklaven'; II 14 pars
classicorum mixtis paganis) : dagegen das absolute mixtus miles be-
zeichnet mannschaftcn verschiedener truppen- und Waffengattung,
s. III 21 milites mixti per tenebras, ut fors tulerat. somit kann an
obiger stelle mixto milite nur die Vermischung der milites urbani
und der vigiles, die hier invbetracht kommen (cap. 69 omnis miles
urbanus et vigiles), bezeichnen, wie auch Gr. richtig erklärt, dagegen
unklar Wlff. : f mit seiner mannschaft, welcher sich einige Senatoren
und ritter anschlössen', in den das reflexive misceri 'sich mischen
mit jemandem' (dat., nicht abl.) betreffenden stellen I 74, 12 prae-
toriani . . remissi, antequam legionibus miscerentur; I 63, 13 Tre-
veri ac Lingones . . hibernis legionum propius miscentur, 'sie traten
in nähere berührung' (Wlff.) , 'in näheren verkehr mit' (Her.) , bat
Gr. sich richtig entschieden, doch I 38, 15 (s. 844 b) kann ich ihm
* erst nachträglich ist mir der letzte Jahresbericht Andr.s bekannt
geworden. Andr., wenn ich mich recht eriunere, aagt, dasz er meine
Bemerkung über das auftreten des Longinns nicht verstehe, vielleicht
genügt der hin weis auf die in der toga (togati) aufziehende palastwacbe,
als deren augenblicklicher tribunus Longinus zu denken ist. die schein-
bar leichtfertige weise, in der Andr. meine Verteidigung des handschriftl.
Psaulos abzulehnen sucht, darf ich übergehen, so lange es ihm beliebt,
in der 'Sackgasse', in der ich ihn festgenagelt habe, stecken zu bleiben,
zugleich benutze ich die gelegenheit, seine behauptung gegen Greef in
bezug auf plures und complures ebenso auffallend zu bezeichnen, als
Greef und andere.
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A. Gerber u. A. Greef : lexicon Taciteum. 303
nicht beistimmen: rapta statim arma sine more et ordine militiae,
nt praetorianus aut legi onarius insignibus suis distingueretur : miscen-
tur auxiliaribus galeis scutisque (abl. caus. wie II 80, 21 necessitu-
dinibus et propinqnitatibus mixti). die prätorianer und legions-
soldaten (d. i. leg. classic, s. cap. 36) rafften ohne wähl sich ihre
bewaffnung, doch 'gerieten sie nicht durch einander* (Gr.), sondern
jede tmppengattong blieb getrennt von der andern , aber sie beide
hatten in ihren eignen reihen durch die verschiedenen helme und
Schilde ein buntscheckiges aussehen, der eine soldat hatte die ihm
wirklich zukommende bewaffnung, sein nebenmann die ihm fremd-
artige auxiliarbewaffnung. auf dieses auseinanderbleiben der beiden
betreffenden truppengattungen hätten Walther, Her. , Wlff. in ihrer
erklärung: 'sie waffnen sich in wirrem durcheinander (ohne wähl)
mit . .' den nachdruck legen sollen.
Mitto. 8. 850 b 15, 17, 11 Vologesis ad Corbulonem missi
nuntii, detraheret castella. Gr. ergänzt fälschlich mit allen editoren
ein sunt und erträgt den wunderbaren gen. Vologesis missi sunt
nuntii. in meiner Schulausgabe ist der herkömmliche punkt nach
faceret in ein komma verwandelt, so dasz zu missi nuntii (partic.)
aus dem folgenden ille expostulabat sich das praedic. expostulabant
von selber ergibt, vielleicht hat schon Npp. durch ein kolon das-
selbe andeuten wollen.
Modo, zu ende dieses artikels heiszt es: * 6) omisso modo in
priore membro.' mit angäbe der zwei stellen 4, 50, 17 und 6, 32, 4.
ich habe schon früher wiederholt hervorgehoben, dasz Tac. nicht
ohne absieht von gewöhnlichen Verbindungen abweicht, sondern eine
prägnante nüancierung des sinnes beabsichtigt, z.b. 6, 21 und 14, 8
magis ac magis statt des gewöhnlichen magis magisque; 4, 39 mul-
tum superque vitae fore statt des sonstigen satis superque, oder das
absolute quam, das wiederholt in falscher weise durch ein ausge-
lassenes potius (magis) erklärt wird, so soll Tac. auch an beiden
obigen stellen im ersten gliede ein modo ausgelassen haben, warum
denn? kennt er doch sonst immer das modo — modo, aber Tac.
will an beiden stellen nicht eine thatsächliche Unwahrheit vermelden,
es hat eben kein wiederholter Wechsel 4,50 hostis clamore turbido,
modo per vastum silentium incertos obsessores effecerat zwischen
turbidus clamor und vastum silentium stattgefunden, sondern erst
das eine, und dann sofort das andere, auch Artabanus 6, 32 tardari
meto, modo cupidine vindictae inardescere schwankt nicht hin und
her in seiner gemütsbewegung (nicht modo — modo), sondern der
erste eindruck der empfangenen nachricht (cognitis insidiis) war
furcht, bald aber gewann rachbegierde die oberhand.
Modus, zu I 85 ne contumax silentium, ne suspecta libertas !
und zu 1,7 unter Ne s.902b ne laeti excessu prineipis neu tristiores
pri mordio ergänzt Gr. zwar auch ein esset oder videretur , hält aber
doch im gegensatze zu andern meine bekannte erklärung des ne doch
nicht so bedeutungslos (nicht für f blosze Pfitznersche manier') , als
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A. Gerber u. A. Greef: lexicon Taciteum.
dasz er sie mit stillschweigen hätte übergehen sollen; Gr. bringt
dieselbe nach Wlff.s directer anerkennung wenigstens in negativer
weise zur geltung: 'aliter expl. Pfitzner f nur ja nicht', und fügt dem
eine Übersicht derjenigen stellen bei, die ich in meiner Schulausgabe
in ähnlicher weise zu erklären versucht habe, übrigens gehören
I 85 auch noch die folgenden worte: et privato Othoni nuper atque
eadem dicenti nota adulatio zu dem Selbstgespräche der verlegenen
Senatoren. Gr. faszt dieses e t s. 401 * als praeterea, atque etiam auf.
der arduus modus rerum omnium bezieht sich auf dreierlei möglich-
keiten ihres Verhaltens: sie konnten schweigen, frei reden, oder sich
in Schmeichelei ergehn. alles dieses, so sagen sie sich selber, habe
seine bedenken und sei nicht ratsam, die dritte selbst Warnung: 'ja
keine Schmeichelei, die kenne Otho schon aus eigner erfabrung*,
wird wegen der weiteren ausführung in positiver form hinzugefügt,
es wird somit durch dieses et noch nicht die erzäblung weiterge-
führt (wie Gr.) , und das selbst noch von Wlff. beibehaltene Semi-
kolon nach suspecta libertas ist in ein komma (oder au Prüfzeichen)
zu verwandeln, ich bemerke ausdrücklich, dasz es in dieser weise
schon Lips. aufgefaszt hat: rtaceres? silentium pro contumacia esset,
diceres libere et censeres? invisa libertas. ad gratiam loquerere?
non faceres fidem.' erst mit igitur wird die erzäblung weiter geführt.
N e. 8. 905 b 12, 47 visui tarnen consuluit, ne coram interficeret.
Gr. hat sich für die tautologie Npp.s entschieden 'er schonte seine
äugen dadurch , dasz er [sie schonte und] nicht den Mithridates vor
seinen äugen töten liesz sc. vcritus ne\ Drg. dagegen erklärte ne
für ut non. ich fasse es als das selbst warnende ne auf. Npp.
und Drg. berufen sich beide für ihre obschon ganz verschiedene er-
klärung auf 11, 15, auch Gr. hat nur diese beiden stellen für die
elliptische bedeutung ('veritus ne') geben können, doch dort
hat ne die zu schlusz einer rede so oft bei Tac. vorkommende war-
nende bedeutung, es hängt gar nicht von dem vorangehenden ab,
so dasz man immerhin ein gröszeres interpunctionszeichen hinter
referendam setzen sollte. — Npp. verweist für sein veritus ne
auch noch auf II 23 : legionem . . in auxilium Placentiae ducebat,
diffisus paucitati cohortium, ne longius obsidium et vim . . partim
tolerarent, auch Drg. syntax § 189 stimmt solcher ergänzung bei,
dagegen erklärt sich Gr. rsed in verbis «diff. pauc. coh.» inest notio
verbi timendi*. ich sehe darin keinen wesentlichen unterschied, kann
jedoch weder den elliptischen noch den epexegetischen gebrauch an
dieser stelle anerkennen, denn ne hängt gar nicht von diffisus ab, son-
dern ist als negative absichtspartikel mit dem hauptsatz in auxilium
ducebat zu verbinden.
Nam. s.895 ff. hat Gr. für die erklärung des elliptischen natu
ausgezeichnete andeutungen gegeben, nur 15, 2, 5 nam Medos Pa-
corus ante ceperat können diese worte nur erklärende bemerkung
des historikers sein, Gr. ergänzt : fsc. in possessionem Medorum eum
deducere non potui, nam', so müste es wohl cepit heiszen.
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A. Gerber u. A. Greef : lexicon Taciteum.
305
Auf eigne kritik des textes hat Gr. mit recht möglichst ver-
zichtet, so ist es auch dem Charakter eines lexikon angemessen, nach
einer den ersteren heften vorgedruckten bemerkung folgt er Hlra.s
entscheidungen: 'verba scriptoris secundum tertiam Halmii editionem
Teubnerianam all ata sunt.' inzwischen scheintauch für die späteren
hefte die 4e aufläge Hlm.s im ganzen maszgebend gewesen zu sein,
wenn Wl ff. einmal urteilte , die 3e Hairasche ausgäbe sei besser als
die 4e, so findet das zum teil eine erklärung in einem gewissen streben
Hlm.s, sich, so weit er es vermöge, der Nipperdeyschen textgestal-
tung zwecks allmählicher Schaffung einer neuen vulgata, wie sie ge-
rade damals ersehnt wurde, anzubequemen, für unser lexikon hatte
das abschwenken Hlm.s von früherer textgestaltung einige incon-
venienzen veranlasst, wie ich sie oben an einigen mir ungesucht ent-
gegentretenden beispielen erwähnt habe, doch Gr. hat sich später
seinem f (ihrer nicht mehr so willig gezeigt und tritt auch in diesem
vorliegenden 8n hefte öfters gegen Hlm. in die schranken, und wir
müssen anerkennen, es ist diese gröszere Selbständigkeit in der ent-
scheidong dem lexikon zu nutzen gekommen.
Eigne conjecturen Gr.s habe ich nur eine gefunden, s. 871 b
unter Mox I 72, 5 liest Ma: praemia virtutum . . vitiis adeptus,
crudelitatem mox, deinde avaritiam . . exercuit. Gr. hat scheinbar
Wlffl.s regel anerkannt: 'mox findet sich bei Tacit. wohl zwischen
adj. und subst. eingefügt, nirgends aber dem worte, zu dem es
gehört, nachgestellt.' nach dieser norm verlangt Wlffl. mox crudeli-
tatem , Gr. sucht in beibehalt derselben regel aber in anderer weise
heilung: fortasse scribendum 'crudelitatem moxf, deinde avaritiam'.
doch s. 874 b III 1, 8 extoilebant et advenisse mox . . Britannici
exercitus robora hält er mit recht die naohstellung von mox auf-
recht gegen Wlffl.s advenisse modo, er hat also unter bestimmten
gesichtspunkten abweichungen von der berührten regel gar nicht
so unerlaubt gefunden, weniger tolerant zeigt sich Gr. in der
stricte n durchführung des Ritterseben gesetzes : ' Tac. sage statt acc.
und nom. plur. von munera in der bedeutung «pflicht» munia.'
das ist nur insoweit begründet, als an zwei stellen sich Tac. er-
laubt hat, die regel über den häufen zu werfen 3, 2 magistratus
Calabriae . . suprema erga memoriam filii sui munera fungeren-
tur und III 13 ceteris per militiae munera dispersis. ich frage
mich wiederholt, nicht, warum alle (Drg. ausgenommen) auch hier
munera in munia verändert haben, wohl aber, was hat auch Witt,
bewogen, seinerseits ebenfalls diese mir unbegreifliche tyrannis
gegen das übereinstimmend von beiden abschreibern verzeichnete
wort zu üben, zumal in hinblick auf seine eigne Verweisung: 'für
in 13, 9 ceteris per militiae munera kann b. II 16, 12 militiae
muneribus und ann. 1, 17, 14 vacationes munerum (sc militiae)
geltend gemacht werden.' — Ich vermag mir nicht einen Tacitus
nach der Schablone vorzustellen.
Memoria, s. 819 b fügt Gr. III 68 retinerent memoriam sui
N. Jfthrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1891 hfl. 6. 20
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A. Gerber u. A. Greef: lexicon Taciteum.
hinzu: rM 1 m. suä.' nach Ritt, hat Ma suä mit vetere manu über-
geschriebenem i, das nennt Meiser *i 1 m.\ d. h. sui war sichere les-
art des urcodex. es würde sich im interesse des richtigen Verständ-
nisses empfehlen, die Meisersche bedeutung der 1 m. festzuhalten,
Gr. versteht offenbar hier unter 1 m., was man sonst als prias be-
zeichnet.
Mensis. 16, 12 Ma: mensis, qui Aprilem eundemque Nero-
neum sequebatur Maius Clandii, Iunius Germanici vocabulis mutan-
tur, t estificante Cornelio Orfito . . ideo Iunium transmissum, quia . .
Gr. ist Hlm. gefolgt: mens es . . sequebantur . . Iulius mit drei
änderungen der handschrift. das naive Maius nach einem mensis
qui Aprilem sequebatur ist offenbare randbemerkung gewesen und
das folgende transmissum ist mit Pichen. fsc. in nomen Germanici*
und Iunius wie vorher mensis (Npp. statt nomen mensis) aufzufassen.
Met us. s. 830 b 4,69 M: metus visus . . suspicionis erant, so
auch Gr. abweichend von Hlm.s metus erat, und verzichtend auf die
änderungen anderer: metui und sollicitudines. Drg. hat das bedenken
des Rhen. Hlm., Mll. falsch aufgefaszt, nicht der plur. metus ist be-
anstandet, sondern die Verbindung eines nom. abstr. im plur. mit
einem gen. object. doch siehe 3, 13 sociorum iniurias, 5, 3 amores
iuvenum u. a. — s. 827 b 14, 32 Ma: Oceanus cruento adspectu . .
eftigies relictae! ut Britanni ad spem ita veterani ad nie tum trabe-
bantur. nach dieser interpunction geben die handschriftlichen worte
ein vollständiges Verständnis, freilich, das einfach erzählende referat
dessen, was sich die leute wunderbares erzählten: fremitus auditos,
consonuisse ululatibus theatrum , visam speciem subversae coloniae
wird plötzlich durch die nominative: iam Oceanus cruento adspectu,
dilabente aestu humunorum corporum effigies relictae unterbrochen,
es betrifft das nicht mehr, wie das vorhergehende das vernehmen
des obres, sondern das selbsteigne schauen der leute; sodann wird
die erzähl ung wieder aufgenommen : ut . . ita t rabe bantur (trahi in
natürlicher bedeutung vi ad aliquam rem adigi). Gr. hat sich dem
heutigen consensus omnium angeschlossen: Oceanus . . effigies re-
lictae ut Britanni 8 (dat. statt a c. abl.) . . ita veterani s ad metum
trahebantur (d. i. deuten), die ältere vulgata wählte: Oceanum . .
effigies relictas ut Britanni . . ita veterani trahebant. die blosze
erzählung ist in beiden fällen gerettet, aber Tacit. um seinen schön-
sten schmuck der dramatischen Darstellung betrogen, mich wundert,
dasz unsere kritiker nicht über ihr eignes thun stutzig werden, dasz
sie ihre eigne liebhaberei für eine ununterbrochene erzählung an so
vielen stellen immer nur mit änderungen des handschriftlichen textes
oder höchst gewagten noterklärungen aufrecht erhalten können,
z. b. 1 , 36 at si auxilia et socii adversum abscedentis legiones arma-
rentur, civile bellum suseipi. 'Periculosa severitas, flagitiosa lar-
gitio : seu nihil militi sive omnia concedentur, in aneipiti res publica.'
Igitur etc. der leser nimmt plötzlich teil an dem kriegsrate, wir
hören die generale selber reden, — doch nein! Andr. und Drg.,
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A. Gerber u. A. Greef: lexicon Taciteam.
307
auch Hlm. (Gr.) ergänzen est als 'Schilderung der läge'. Drg. streitet
noch darüber, ob est oder erat zu ergänzen sei, denn höchstens
'Schilderung' des Schriftstellers darf es nur sein, zu diesem zwecke
halt Hlm. gar noch die änderung des concedentur in concederentur
für nötig (nun erst wird es zur regelrechten erzählung), Gr. ist
ihm s. 836 * darin gefolgt. — Wie sollen denn 15, 5 die plötzlich
eintretenden absoluten nominative: inritum obaidium, tutus manu
et copiis Tigranes, fugati, qui . . sumpserant, missae legiones et
aliae . . nitro inrumpere aufgefaszt werden? — Andr. : 'natürlich mit
ergänzung eines historischen est, denn der schriftsteiler gibt
seine Schilderung der läge, dasz Vologeses dieselben ge Janken
hatte, versteht sich von selbst.' warum sollte denn, diesem selbst-
verständnis sofort in der darstellungsform ausdruck zu geben , dem
Tacitus nicht erlaubt gewesen sein? bei 1, 41 quis flebilis sonus?
erheben sich sogar Andr. und Drg., jener zu einem 'vielleicht
oratio directa', dieser zu 'fast wird die Schilderung dramatisch',
warum nicht wirklich 'dramatisch'? so würde sich Andr. 1,35 gewis
der einschiebung eines obirent enthalten haben , zumal schon Npp.
mederetur fessis, neu mortem in isdem laboribus der Wahrheit viel
näher als 'rede der leidenschaft' aufgefaszt hatte.
13, 14 simul intendere manus (Agrippina), aggerere probra, con-
secratum Claudium, infernos Silanorum manes invocare ettotinrita
facinora. s. 440* verwirft Gr. mit vollstem rechte die Verbindung
der schluszworte mit invocare (Andr.), selber hinzufügend 'sc. esse
clamitare, (Drg.). wie nahe der dramatischen auffassung! hätte Gr.
nur das wörteben esse weggelassen, so würde tot inrita facinora als
directer ausruf der durch höchste wut verbitterten Agrippina erklärt
sein. vgl. 13, 13: 'libertam aemulam, nurum ancillam!' fremere;
12,41 fDornitium' salutavere; 2,S7 'dorn in um' dixerat; 6, 11 Tamm
Caesarem' dixisse; 6,4 'Latinium Latiarem' ingressus. — I, 62 non
obstare biemem, neque . . moras ! invadendam Italiam etc., das ist,
wie Wlff. richtig erklärt, 'ungeduldiger ausruf der Soldaten: «nur ja
kein aufschub aus feiger friedensliebe!»' neque (nec) in der geltung
eines ac ne ist auch I 71 nec Otho quasi ignosceret zu erkennen, wo
Pr. zur aufrechterhaltung der erzählung ein egit ergänzt, so viel ich
bemerkt habe, hat Gr. auf diese bedeutung des neque (nec) keine
rückzieht genommen, auch 6, 2 haec adversus Togonium, verbia
moderans neque ultra abolitionem sententiae suaderet bezeichnet
neque ein ac ne. Gr. folgt unter Moderor s.851 b Hlm. in der ein-
Bchiebung eines ut vor ultra, die erzählung verlangt es ja!
Miles. s. 833 b 3, 20 cohor latus milites, ut copiam pugnae in
aperto facerent . . hat Gr. mit recht der eigentümlichen behauptung
Andr. s (Probst): 'da das copiam pugnae facere sache des comman-
dierenden ist, so muste der sing, faceret hergestellt werden', keine
folge gegeben.
M o d e s ti a. Germ. 36 inter impotentes et validos falso quiescas :
ubi manu agitur, modestia ac probitas nomina (Gr. 'sc. inania')
20*
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A. Gerber u. A. Greef : lexicon Taciteum.
superiori sunt ziehe ich die erklärung von Zernial: 'sind titel des
überlegenen , des Siegers* vor , in allen handschriften steht der gen.
superioris.
Multitudo. Gr. verweist am Schlüsse dieses artikels jfM II
80,8'] auf die conjectur (Lps.) altitudinis statt des handschriftlichen
multi tud inis : c u t primum tantae multitudinis obfusam oculis caligi-
nem disiecit.' unter dem artikel Altitudo (s. 69*) erklärt das
lexikon die conjectur für richtig mit der beifügung zu altitudinis
'hohe Stellung'. Lips. bezweifelte die multitudo der zuhörer, 'quantae
igitur?' er übersah, dasz Tac schon ausdrücklich auf die grosze
masse der zuströmenden hingewiesen: tum ceteri adcurrere. drei
volle legionen nebst entsprechenden hilfstruppen kann man doch
nicht sogleich mit einem blick übersehen, da mochte es wohl dem
Vespasianus auf augenblicke in den äugen schwindeln und er nicht
sofort die worte finden können, in den w orten des Liv. 26, 46 cum
altitudo caliginem oculis obfudisset, ad terram delati sunt hat alti-
tudo die natürliche bedeutung 'höhe' (quibusdam stantibus scalis)
und durfte von einem durch die altitudo hervorgerufenen Schwindel
der äugen gesprochen werden, jedenfalls hat Tac diese stelle vor
äugen gehabt, aber eine rein wörtliche nachahmung der altitudo mit
ganz veränderter bedeutung — solch stilistischer scherz liegt außer-
halb der grenzen der viel gerühmten severitas Taciti.
Militia. die handschriften a. und b. lesen übereinstimmend
I 87 facta et ceteris spes honoratae in posterum militiae, Gr. hat
sich (auch Wl ff.) für die conjectur von Her. bonoratioris entschieden,
s. 839 * 'sc. quam erat classica'. es kommt dabei auf die verschiedene
auffassung der betreffenden leute an, das moderne, theoretische
räsonnement Her.s von rder ehre jedes kriegsdienstes' will der an-
sieht der betreffenden leute gegenüber nichts besagen und kann nicht
zu gunsten des compar. sprechen, vgl. IV 17 manentibus ( cohorti-
bus) honorata militia offerebatur, dagegen allerdings Liv. 32, 23
navales socii relictis nuper classibus ad spem honoratioris militiae
transgressi. im übrigen nahm es der Börner mit diesem begriff hono-
ratus nicht so genau, s. Ovid fast. 1, 52 praetor honoratus (das ist
der zweite prätor), während der erste doch praetor maior hiesz.
Minister, s. 842 * 15, 51 occidendae matris Neronis (Ma)
inter ministros. Drg. allein hat sich der änderung des Neronis in
Neroni (Heins.) enthalten, Gr. geht mit Hlm. Neroni. wo ist da
die zwingende notwendigkeit von der handschrift abzuweichen?
Heins, scheint solche gen. förmlich zu verfolgen und zwar consensn
omnium, II 4 Ma: Sostratus, sacerdotis id nomen erat, dagegen alle
auszer Mll.) : sacerdoti, doch hier ruft die 1 m. in der handschrift
'sacerdotib; corr. 1 m. in sacerdotis') den vermeintlichen ver-
besserern nunmehr ein quos ego !
Mitto. man hat namentlich bei diesem verbum die behaup-
tung geltend gemacht, dasz Tac. oftmals das simplex im sinne eines
compositum gebrauche, und doch wägt Tac. seine ausdrücke auf das
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A. Gerber u. A. Greef : lexicon Taciteum. 309
sorgfältigste, auch Gr. vertritt am schlusz dieses artikels solche
vertausch ung : 1, 39 es stehe veteraxii nuper missi sub vexillo
hiemabant für di missi, warum Tac. hier nicht dimissi sagen
konnte , s. meine Schulausgabe. 1, 2, 6 perdomita Britannia et sta-
tim missa soll missa ein omissa nicht blosz vertreten, sondern es
müsse sogar in das compositum verändert werden; so will es der
neuere consensus omnium , die alte vulgata begnügte sich mit dem
simplex. Her. verweist wie schon Lips. auf Hadrians zeit, Spart.
Hadr. 5 Britanni teneri sub Romana ditione non poterant, doch dem
steht das mit missa verbundene statim entgegen, unter Titus wurde
Britannien erst unterworfen, Agr. 10 tum primum perdomita est,
und 8 o f o r t (statim) nach der Unterwerfung wurde es von dem neuen
kaiser Domitian nicht weiter beachtet, Britannien ist unter ihm
weder verloren (amissa) noch aufgegeben worden (omissa). Agricola
vollbrachte für Domitian viel zu ausgezeichnete thaten, als dasz er
sich der kaiserlichen gunst hätte erfreuen sollen, aus eifersucht
schwächte Domitian vielmehr dessen truppenmacht, so viel er wagen
durfte, die von Titus zur invasion von Irland zugestandene legion
II Adiutrix wurde abberufen und überdies noch ein bedeutendes
detachement der leg. IX nach Germanien befohlen (s. meine gesch.
d. röm. kaiserlegionen s. 211), und nun konnte Agricola unter den
schwierigsten politischen Verhältnissen Britanniens sehen, wie er
fertig werde; von einer irgendwie kaiserlichen ftirsorge war nicht
mehr die rede, die provinz war abgethan. das ist die bedeutung
des missa Britannia in noch tieferem sinne als das zu allgemeine
neglecta des Lips.
V 18, 9 Ma: perfuga Batavus adiit Cerialem, terga hostium
promittens, si extremo paludis eques mitteretur. Gr. billigt Hlra.s
immitteretur, obschon WUT. und AM. darauf verzichten, immittere
hat in übertragenem wie natürlichem sinne die grundbedeutung
'über den hals schicken', vgl. 13, 54 repente immissus; Agr. 13
repens immisit, I 68 statim immittere; 3, 16. 4, 19. 54. 11, 1. 14, 2.
ist denn an obiger stelle durchaus von einem immittere die rede?
Tac. sagt doch sofort nur duae alae cum perfuga missae und nicht
immi8sae. ich sehe keine berechtigung der änderung.
Das vorangehende betraf die vollendeten hefte; schlieszlich
möchte ich auch zum zeichen meines dankes und des hohen inter-
esses an der Vollendung des vorliegenden werkes pro futuro, viel-
leicht auch zu nutz späterer hefte den gebrauch der partikeln velut,
quasi, tamquam berühren, insofern sie über den bloszen schein hin-
ausgehend von Tacitus in den Annalen gebraucht werden, zumal
meine erklärung derselben von der bis jetzt in asz geben den auffas-
sung Andr.s nicht blosz an den einzelnen stellen, sondern principiell
abweicht. Andr. weisz auf grund der betreffenden Untersuchungen
von Wlffl. und Her. keinen wesentlichen unterschied dieser par-
tikeln anzuerkennen, vgl. die anm. in seiner ausgäbe zu 3, 72 und
6, 11. nach meinen beobachtungen bezeichnet tamquam die vor-
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A. Gerber u. A. Greef: lexicon Taciteum.
Aussetzung und annähme allgemeinen ein Verständnisses, quasi die
ansieht des erzählers, velut (ut) den sinn anderer, namentlich der
handelnden oder sprechenden, so dasz es auch zur bezeichnung wört-
licher ausdrucke dient.
15, 69 (Nero) tribunum . . immittit iubetque praevenire cona-
tus consulis : occuparet velut arcem eius, opprimeret dilectam iuven-
tutem. Andr. und Drg. sind angesichts dieses velut ratlos, sie
schlagen vor es mit f burgähnliches haus' zu übersetzen oder es ganz
unberücksichtigt zu lassen , jedenfalls das leichtere und auch noch
besser als das erstere. der folgende begründungssatz quia Vestinus
imminentes foro aedes decoraque servitia et pari aetate babebat gibt
doch offenbar den nach weis, inwiefern Nero die aedes mit arz, und
die decora servitia et pari aetate mit dilectam iuventotem bezeichnen
konnte, dient also zur aufklärang des velut arcem und velut dilectam
iuventutem, der eigens von Nero gewählten ausdrücke, so dasz wir
velut zu Ubersetzen haben: 'wie er es nannte' oder ähnlich, so dasz
velut den 'wörtlichen ausdrack' des Nero einfuhrt. — 6, 60 verab-
schiedet sich der nebenarzt des Tiberius, Charicles, 'mit dem vor-
geben', (velut) 'er müsse seine privatpraxis besorgen': velut propria
ad negotia digrediens. — 3, 22 quae velut reicere voluerat. Tac.
weist den Widerspruch in der handlungsweise des Tiberius nach, erst
verbitte er sich eine etwaige Untersuchung auf majestätsverbrechen,
und hernach veranlasse er den Servilius zu aussagen, die gerade dazu
hinfuhren musten , also zu etwas , das er doch nach 'seinen eignen
worten hätte zurückweisen wollen', hier ist ebenso wenig von einem
'scheinbar' (Drg. Andr.) die rede, als 5, 10 quibusdam Caesaris
libertis velut agnitus. die freigelassenen hatten klar und deutlich
ausgesprochen: 'wir erkennen den mann als Drusus', das ist die
bedeutung des velut. so werden denn auch wohl 1, 8 die funeris
milites velut praesidio stetere und 3, 28 ut . . velut parens omnium
populus vacantia teneret trotz Andr.s widersprach als wirkliche be-
zeichnungen des Tiberius und Augustus aufzufassen sein.
In betreff tarn quam dürfen wir Plinius als unverwerflichen
zeugen anführen, ep. 9, 13 accidit fortuitum, sed non tamquam for-
tuitum, quod Certus intra paucissimos dies implicitus morbo deees-
sit, d. h. die öffentliche meinung hielt es für keinen zu fall, also:
'nach allgemeiner annähme', 'offenbar'; ep. 4, 11 nescio an innocens,
certe tamquam innocens, d. i. 'wenigstens halten ihn alle für schuld-
los', so Tacitus 15, 44: unde quamquam ad versus sontes . . mise-
ratio oriebatur, tamquam non utilitate publica, sed in saevitiam
unius absumerentur, 'man hatte mitleid mit ihnen, da sie ja «offen-
bar» . . hingemordet wurden'. 13, 43 intercessit prineeps tamquam
satis expleta ultione, Nero that einspruch aus dem gründe, weil
jedermann sagen müsse, es sei der räche hinlänglich genügt, d. L
'weil offenbar*, ebenso 14, 57 relatum Caput eius illusit Nero tam-
quam praematura canitie deforme , Nero rekurriert auf das selbst-
verständliche urteil aller, jedermann sähe ja, dasz der mann durch
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allzu frühes ergrauen entstellt sei. Andr. behauptet, Hamquam be-
zeichne blosz das folgende als äuszerung Neros', so würde Tae. velut
gesagt haben. 12, 39 Ostorius concessit vita, laetis hostibus, tam-
quam ducem haud spernendum . . absumpsisset. Andr.: 'tamquam
bezeichnet nichts als die fremde ansieht', doch: die feinde waren
hocherfreut, dasz . . 'den unbestritten achtungs werten feldherrn' . .
4, 31 eadem poena in Latum Firm iura senatorem statuitur, tarn-
quam falsus maiestatis criminibus sororem petivisset. die wiedergäbe
durch 'gleichsam' würde ein mitgefühl des erzählers für den doch
von ihm selber so tief verachteten ank läger Catus einschlieszen, da-
her: 'weil er offenbar mit falscher beschuldigung seine Schwester
ins unglück gestürzt hatte.' „
15, 58 volitabant per fora . . equites peditesque permixti Ger-
manis, quibus fidebat prineeps quasi externis. dieses quasi bezeichnet
nicht rdie ansieht des Nero' (Andr.), das würde velut verlangen,
sondern die erklärung des Tacitus: 'wohl, weil sie ausländer waren.'
— 15,33 non tarnen Romae ineipere ausus Neapolim quasi Graecum
urbem delegit: inde initium fore usw. die nachfolgenden hoffnungen
hat Tae., wie überhaupt Seelenmalerei ihm besonders eigen ist, dem
Nero untergelegt, wie er das auch bei der wähl der stadt Neapel
'als einer griechischen', speciell durch das quasi vorweg bezeichnet
hat. — 13, 18 undique pecunias quasi in subsidium corripiens, und
bald darauf: nomina et virtutes nobilium in honore habere, quasi
quaereret ducem et partes erzeigen sich die beiden quasi von selber
schon als ansieht des erzählers, ebenso 13, 37 Radamisto quasi
proditore; 14, 65 Doryphorum quasi adversatum nuptiis Poppaeae
(interfecit) ; 15,15 sed Parthi quasi documentum victoriae iusse-
runt u. a.
An drei stellen hat man quasi oder tamquam durch conjectur
aufgenommen: 14,40 et fuisse eam (Agrippinam) poenas conscientia
qua (Ma) scelus paravisset. Npp. und Drg. haben die schluszworte
mit Änderung des handschriftlichen qua in quasi noch zu der orat
obl. gezogen und als 'causale' hinzufügung des Nero erklärt ('im
sinne des Nero'), warum denn nicht quia? Her. und Mll. ziehen
tamquam vor, Hirn, schwankt, sein text lautet quasi, die an mer-
kung 'an tamquam?' doch weder quasi noch tamquam ist im sinne
des Nero möglich , es müste velut gesagt sein, man wird sich ent-
weder für Wurm: quäle scelus paravisset oder für quia entschei-
den müssen, oder quasi scelus paravisset von der orat. obl. ganz
trennen und als eine höhnende beurteilung der handlungsweise des
Nero von Seiten des Tacitus auffassen: 'als ob sie das verbrechen
geplant hätte. — 6, 2 bona Seiani ablata aerario, ut in fiscum
cogerentur, tarn (Ma) referret. des Lips. von allen aufgenommene
conjectur tamquam referret in dem sinne: 'als ob das ein unter-
schied wäre', könnte nur eine bemerkung des Tacitus sein und
müste als solche mit quasi eingeführt werden, nach meiner auf-
fassung ist die handschr. tarn referret nicht zu beanstanden: 'so
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312
Lateinische Übungsbücher.
möge er zurückzahlen' d. h. nicht an das Ärar, sondern an den
fiscus. eine ähnliche Übertragung aus dem aerarium in den fiscus
finden wir 6, 19 aerarias aurariasque eins, quamquam publicarentur,
sibimet Tiberius seposuit. — Eine andere stelle 14, 60 his quam-
quam Nero paenitentia flagitii coniugem revocavit Octaviam (so Ma),
die wegen anderweitiger bedenken viel umstritten wird (der prägnante
gebrauch des abl. his, die verkehrte Stellung von Nero und die offen-
bar überflüssige hinzufügung des namen Octaviam) bat Rhen, ge-
ändert : his Nero tamquam poenitentia flagitii , der bedeutung des
tamquam durchaus entsprechend: 'man nahm allgemein an, er
bereue sein frevelhaftes verfahren gegen seine gattin.' von manchen
ist die auffällige hinzufügung von Octaviam als erklärende rand-
bemerkung bezeichnet, ich glaube mit recht, aber derselbe rand-
erklärer hat auch die ebenso auffällige Stellung des Wortes Nero zu
verantworten, es möchte zu lesen sein: his tamquam paenitentia
flagitii coniugem rovocavit.
Parchim. Pfitzner.
29.
LATEINISCHE ÜBUNGSBÜCHER.
1) LüT8 0H, LATEINISCHES LEHR- UND LE8EBUCH FÜR 8EXTA. Biele-
feld und Leipzig, Velhagen u. Klasing. 1889.
Dem kürzlich in diesen blättern besprochenen teile für quinta
ist inzwischen das für sexta bestimmte heft gefolgt, auch dieses
bringt nur zusammenhängende lesestücke, und zwar berichtet
abschnitt 78 — 88, 94, 101 — 111, 114 — 118, 123—125 von den
thaten des Herkules, abschnitt 10—14 , 23—32 , 35—37, 44-50,
66 — 70 und sämtliche (30) Übungsstücke zum übersetzen aus dem
deutschen in das lateinische handeln von den sitten und gebräuchen
der alten Germanen und von ihren kämpfen mit den Römern, ab-
schnitt 38—42, 71—75, 95—100 enthalten als ruhepunkte fabeln
(vom wolf und böcklein, von der Juno und dem pfau, vom löwen
und der maus u.ä.). in den stücken 56 — 62 erzählt ein von schwerer
krankheit genesener groszvater seinen enkeln von der teilnähme
seines bruders am deutsch-französischen kriege und von dessen vor
Paris erfolgtem tode. die übrigen abschnitte endlich bieten andere
erscheinungen aus dem familion- und schulluben, wie sie überall den
knaben entgegentreten : die erkrankung des groszvaters und eines
freundes, die heimkehr des vaters, Spaziergänge durch flur und wald
und dergl. mehr, bald in erzählender, bald in b rief forin , bald in der
form des gespräches.
Der in halt einzelner sätze verdient hin und wieder tadel. mir
wenigstens erscheint der brave sextaner oft recht unkindlich und
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Lateinische Übungsbücher.
313
altklug, auch die schwierige form gibt an vielen stellen zn be-
denken anlasz. jedenfalls gehört non dubito quin, fieri non potest
quin, non multum abest quin, timeo ne, der acc. c. inf., das gerun-
dium u. a. in. nicht in die sexta.
Was sodann die anordnung des grammatischen materiales
betrifft, so sind wunderlicher weise die Wörter der zweiten declina-
tion auf us und um der ersten declination vorausgenommen, wenn
das im griechischen Unterricht geschieht, so hat das einen sehr ein-
leuchtenden grund ; für das lateinische aber habe ich keinen finden
können, nach der behandlung der adjectiva auf us, a, um folgt das
hilfszeitwort sum, dessen frühzeitige eintibung lob verdient, und
dann sofort die erste conjugation. mit viel geschick ist hier das
grosze pensum in viele kleine pensa zerlegt worden, nun erst wird
die flexion von puer bzw. tener und ager bzw. piger besprochen, die
dritte declination ist streng nach substantivischer und adjectivischer
declination geschieden ; zu diesem zwecke finden sich einzelne ad-
jectiva schon abschnitt 49 und 50, während die hauptmasse erst
abschnitt 66 — 68 folgt, bei welcher gelegenheit auch das participium
praesentis besprochen wird, in den stücken 52 — 65 werden die drei
bauptgenusregeln durchgenommen; Unregelmäßigkeiten sind dabei
ausgeschlossen, doch ist zu tadeln, dasz als merkbeispiele pavo,
homo, miles und custos gewählt sind, bei denen doch das natürliche
geschlecht und nicht die endung entscheidet, es folgt die vierte und
die fünfte declination ; darnach die pronomina, von denen is und qui
mit recht zusammen gestellt worden sind, dagegen müssen die pro-
nomina adjectiva und indefinit a nach quinta verwiesen werden, nun
wird die zweite conjugation, darauf praktischer weise die vierte und
dann erst die dritte conjugation behandelt, und zwar immer zunächst
die perfect- und supinstammgruppe; erst dann folgen die vom prä-
sensstamme gebildeten formen, von denen der imperativus passivi
gestrichen werden sollte, den schlusz bildet die comparation, die im
anschlusz an die adjectiva hätte behandelt werden müssen ; das ad-
verbium, das besser erst in quinta durchzunehmen ist; und die Zahl-
wörter, die im interesse grammatischer Sicherheit und gründlichkeit
entschieden nicht an das ende gehören.
Abgesehen von den erwähnten einzelheiten, die bei einer zweiten
aufläge mit leichter mühe verbessert werden können, verdient das
buch empfohlen zu werden.
Nicht so günstig kann ich über die dazu gehörige formen -
lehre urteilen, dieselbe ist als lernbuch gedacht, in ihr soll der
achüler die lautlichen processe, die ihm das lesebuch in der zusam-
menhängenden darstellung zur ersten anschauung gebracht hat, in
streng systematischer Ordnung wieder vorfinden und sie in dieser
Ordnung dem gedächtnisse fest einprägen, zugleich aber soll das
buch dem strebsamen und eifrigen knaben, der, sobald er das gesetz
erkannt hat, sich gern selber ein gebäude aufbaut, als controle des
eignen Schaffens dienen, deshalb sind die paradigmen vollständiger
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314
Lateinische Übungsbücher.
und zahlreicher gegeben worden , als es für das blosze lernen nötig
gewesen wäre.
Um die gedächtnismäszige aneignung zu erleichtern, hat der
Verfasser laut vorwort sein augenmerk vor allem aufklare und kurze
fassung der regeln, sowie auf tibersichtliche anordnung des Stoffes
gerichtet, das ist ihm auch bei der behandlung der nomina im groszen
und ganzen gelungen , nur hätte die tabellarische form öfter ange-
wandt werden sollen, die darstellung des verbums dagegen ist un-
praktisch und verwirrend im höchsten grade, hier hätten zwei grosze
capitel gemacht werden sollen: 1) paradigmata und 2) verbal Ver-
zeichnis, so aber geht alles bunt durch einander, dasz ich nicht
ohne grund tadle, mag eine kurze inhaltsangabe zeigen. § 53—56
enthält eine ziemlich ausführliche besprechung der formen des ver-
bums im allgemeinen; § 57 das hilfszeitwort esse, § 58 dessen com-
posita einschlieszlich posse, § 59 den auslaut der verbalstämme, § 60
die fiexionsendu ngen in den vier conjugationen, § 61 ein kurzes
verbal Verzeichnis der zweiten conjugation; § 62 die vollständigen
paradigmen der drei vocalischen conjugationen; § 63 ein Verzeichnis
der einfachsten verba nach der dritten conjugation; § 64 das para-
digma der dritten conjugation ; § 65 ein Verzeichnis der schwierige-
ren verba nach der dritten conjugation, nemlich die verba mit kurzem
inlaut, welche das perfect durch anfügung von s bilden und die verba
mit präsenserweiterung ; das paradigma capio ; die consonantischen
verbalstämme, welche das perfect durch reduplication bilden; die
verba mit conjugations Wechsel , den der Schüler übrigens gar nicht
versteht, und die verba incohativa; § 66 und 67 die paradigmen der
deponentia; § 68 ein Verzeichnis der deponentia; § 69 ein Verzeichnis
der semideponentia; § 70 unregelmäszigkeiten im genus verbi; § 71
Verkürzungen einiger verbalformen; § 72 die verba anomala und
§ 73 die verba defectiva.
Von den angeführten verben könnten unbedenklich gestrichen
werden: crepare, fricare, micare, merere, mulcere, pavere, Stridore,
tergere, turgere, tondere; angere, fremere, gemere, molere, mingere,
pectere, rädere, rodere, repere, serpere, stertere, strepere, tingere,
tundere, ungere, vellere, vomere; amicire, farcire und fulcire.
Ferner müssen die supina indultum, pensum, sessum, tentum;
iil i tum, cantum, cretum, falsum, not um, ostensum, scansum, quietum,
tensum, tentum, saltum und die perfecta crevi, frixi, nexi, serui, sidi
als unclassisch fallen.
Die paradigmen sind mit recht streng getrennt nach den
drei stammgruppen durchconjugiert worden, doch hätte die zweite
und dritte gruppe besser nebeneinander, nicht untereinander ge-
stellt werden sollen, im übrigen ist die wähl von moneo statt
deleo zu billigen, während prehendo für lego keinen fortschritt be-
zeichnet.
Ebenso wenig kann ich als besonderen vorzug empfinden, dasz
sich Lutsch bemüht hat, in die gereimten genusregeln, die so oft die
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Lateinische Übungsbücher. 315
kritik herausgefordert haben, etwas mehr geschwätzigkeit zu bringen,
als sie in andern formenlebren zu haben pflegen, ich bin kein freund
von solchen reimregeln:
ein tlu kz, ein volk, ob grosz, ob klein,
will stets als mann behandelt sein;
indes die bäume allzumal
sich rechnen za der weiber zahl.
Zu diesen mehr oder weniger äuszeren, mnemonistischen mit-
tein gesellt sich dann in dem buche noch ein inneres, welches dem
verstandesmäszigen erfassen der spräche, so weit sie in ihren formen
zu tage tritt, dienen soll, nemlich die berücksichtigung der resultate
der Sprachwissenschaft, nun sind zwar formen wie mensai und men-
sans nicht vorgeführt worden; aber ich bezweifle auch sehr, dasz es
praktisch ist, rosa^e u. ä. m. drucken zu lassen, gleicherweise gehört
§ 20 die bildung des nom. sing, der dritten declination und § 21
anderweitige Veränderungen des Stammes u. s. f. nicht in ein lern-
buch für sexta und quinta.
Auszerdem sind mir folgende einzelheiten aufgefallen: § 10, 3
tiernamen mit neutraler endung sind masculina; dann kann s. 17
vultur, lepus und mus gestrichen werden. § 15 ist zweimal gezählt,
dem ablativ könnte hier und sonst des besseren Verständnisses wegen
eine präposition (in, de, a oder cum) hinzugefügt werden. § 16 die
regel über das geschlecht der städtenamen gehört nach § 10; auszer-
dem kann zum mindesten alvus gestrichen werden. § 22 die adjec-
tiva hätten hier und in den folgenden paragraphen für sich besonders
behandelt werden sollen. § 23 finden sich die bemerkungen über
die bildung des abl. sing., des nom. acc. voc. plur. der neutra und
des gen. plur. in der alten verkehrten anordnung wie bei Ellendt-
Seyffert. warum nicht einfach: 1) um statt ium, 2) ium statt um,
3) im statt em und i statt e? die adjectiva denke ich mir dabei
immer besonders behandelt; ebenso die neutra auf e, al und ar. § 24
von den ausnahmen der hauptregel ist compos zu streichen ; parti-
eipum und uberum ist meines Wissens nirgends belegt, supplicum
und celerum aber in classischer zeit nur substantivisch. § 25 von
den besonderheiten in der casusbildung konnte Ii t ium, faucium,
nivium; aera, aethera, Pana und Salamina unerwähnt bleiben, das
gleiche gilt § 26 von den ausnahmen im geschlecht cos, compedes,
card o , pugio | papilio , seipio , septentrio, aequor, verber, axis, ensis,
torquis, fustis, anguis, unguis, Vertex, codex, Culex, silex, cortex,
torrens, oriens und occidens. übrigens sollten die substantiva auf
ex mit einziger ausnähme von grex als feminina angesehen werden,
ferner wäre es praktischer die Wörter auf guis und nis zusammen zu
behandeln. § 34 kann gracilis fallen. § 35 fehlt die deutsche be-
deutung der unregelmäszig gesteigerten adjectiva. § 51, 2 ist al te-
rms statt (altus) zu setzen.
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316
Lateinische Übungsbücher.
2) Victor Müller, Übungsbuch für den Unterricht im latei-
nischen, erster teil. FÜR Sexta. Hamburg, Verlagsanstalt und
druckerei, actien-gesellschaft (vormals J. F. Richter). 1889.
Das vorliegende Übungsbuch zerfÄllt wie dasjenige von Holz-
weissig in drei abschnitte. 8. 1—74 enthält die lateinischen, s.75—
134 die deutschen stücke; aufs. 135 — 184 befindet sich das Wörter-
verzeichnis.
Was zunächst den in halt anbelangt, so werden nur zusammen-
hängende stücke geboten; darunter zahlreiche fabeln und gespräche.
aus der griechischen sagengeschichte findet man den trojanischen
krieg und die irrfahrten des Odysseus. im übrigen sucht das buch
der nationalen aufgäbe der schule dadurch gerecht zu werden, dasz
es in entschiedener weise die vaterländische geschiente bevorzugt,
vor allem wird gern berichtet von dem leben und den thaten des
ruhmreichen kaisers Wilhelm I, insonderheit von den groszthaten
des letzten krieges. die deutschen Übungsstücke sind anfänglich selb-
ständig gehalten, weil es wünschenswert erschien, einen gröszeren
Wortschatz zu gewinnen, späterhin bieten die deutschen stücke meist
freie Umarbeitungen der lateinischen, auszer Holzweißig sind hier
die vorarbeiten von Lattmann, M eurer und Weller benutzt worden.
Der grammatische stoff ist mit groszem geschick in viele
kleine stücke zerlegt worden, nur abschnitt 69 bietet zu viel auf
einmal, dabei ist der gewöhnliche gang der grammatik im groszen
und ganzen beibehalten worden, doch sind die neutra auf e, al und
ar aus nahe liegenden gründen erst nach den adjectiven der dritten
declination behandelt worden, die regelmäszige Steigerung findet
man nach der ersten conjugation und die pronomina nach der zweiten
conjugation eingeschoben, die vierte conjugation ist mit recht der
dritten vorweggenommen worden.
Damit hätte das buch vernünftiger weise schlieszen sollen, es
ist jedoch noch ein zweiter cursus angefügt worden, in welchem die
wichtigsten ausnahmen von den hauptgenusregeln der dritten, vier-
ten und fünften declination durchgenommen werden; ferner die
wichtigsten ausnahmen von der regel über den gen. plur. der sub-
stantiva der dritten declination, wohin auszer iuvenum, vatum, pa-
trum usw. wunderlicher weise auch marium , nubium , urbium usw.
gerechnet wird, dazu gesellen sich die pluralia tantum, die appo-
sition, das neutrum pluralis, der infinitiv als subject, die Zahlwörter,
die adverbia, die präpositionen , die composita von sum und die de-
ponentia.
Alle diese capitel mit ausnähme der cardinalia und ordinalia
hätten in das Übungsbuch für quinta verwiesen werden sollen.
Das vocabular bietet die präparation zu den einzelnen lese-
8tücken, geordnet nach grammatischen gesichtspunkten. doch findet
sich infolge der zusammenhängenden erzählungen auch hier eine
grosze anzahl von Wörtern, die der sextaner sehr wohl entbehren
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Lateinische Übungsbücher.
317
kann, dieselben hätten wenigstens durch kleineren druck gekenn-
zeichnet werden sollen.
Das verbalverzeichnis der ersten und vierten conjugation bietet
mit recht nur regelmäszige bildungen. dasselbe verfahren hätte auch
in der zweiten conjugation eingeschlagen werden sollen , und zwar
waren hier nur verba mit ui und itum zu geben, die dritte conjuga-
tion bietet perfecta auf si, vi, ui, i und solche mit reduplication :
die hälfte wäre für sexta mehr als genug gewesen, übrigens ist zu
exercere als supinum exercitatum zu geben, zu tallere aber deceptum.
dagegen ist das supinum zu valeo, lateo, pareo, teneo und iaceo zu
streichen; ebenso das perfectum von inesse.
Was die bezeichnung der quantität anlangt, so hätten die langen
vocale lieber durchgängig mit einem striche versehen werden sollen;
dann brauchten die kurzen silben nicht besonders gekennzeichnet zu
werden.
Auch die Schreibung der einzelnen Wörter ist nicht immer
richtig: § 11 lies caelum statt coelum, ferner fecundus statt foecun-
dus; § 19 co n in nx f. statt coniux c.j § 20 autumnus statt auctum-
nus; § 26 oboedientia statt obedientia und ebenso § 69 oboedire
statt obedire.
Am unteren rande des Wörterverzeichnisses finden sich wie bei
Holzweissig einzelne syntaktische und stilistische bemerkungen und
regeln, davon sollte § 67 der ablativus comparationis lieber ge-
strichen werden, weil dieser casus dem sextaner schon an und für
sich genug Schwierigkeiten bereitet.
Der gefällige, klare und deutliche druck des buches verdient
besonderes lob.
3) Wesener, lateinisches elementarbuch, drei teile: sexta,
QUINTA, QUARTA. DRITTE, BZW. VIERTE UMGEARBEITETE AUFLAGE.
Leipzig, Teubner. 1889.
Das erste heft zerfällt in fünf abteilungen : A. Vorbemerkun-
gen und Vorübungen, B. lateinische und deutsche beispiele zur Ein-
übung der formenlehre, C. fabeln und erzählungen, D. vocabularium,
£. Verzeichnis der eigennamen.
Die Vorbemerkungen enthalten den ind. und imp. praes. von
timere nebst zwölf andern verben der zweiten conjugation, welcher
für diesen zweck vor der ersten conjugation der vorzug gegeben
worden ist, weil hier nicht wie dort in der ersten person singularis
eine contraction des stamm vocale s mit der endung stattfindet, son-
dern der stamm in allen formen dem schüler deutlich bemerkbar ist.
dazu gesellen sich einige formen von esse, nemlich est, sunt, erat,
erant; ferner die fünf gebräuchlichsten partikeln: et, non, saepe, sed,
semper; schlieszlich die präposition in mit dem ablativ. die Vor-
übungen bestehen in kleinen lateinischen einzelsätzen , welche nach
den casus a) nom., b) acc, c) gen., d) dat., e) abl. geordnet sind.
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318
Lateinische Übungsbücher.
Die Übungsbeispiele auf s. 2 — 72 sind dem gesichtskreis des
seztaners angepasst und vernünftiger weise nur hin und wieder der
alten geschieh te entnommen, der grammatische lehr st off selbst ist
mit glück in kleine pensa geteilt worden, in der anordnung des-
selben ist der Verfasser ziemlich streng dem gange der grammatik
gefolgt, um jedoch gelegenheit zu bieten , möglichst schnell an die
conjugation zu kommen, sind die Übungsstücke zur ersten, zweiten
und vierten conjugation in je zwei teile A und B zerlegt worden,
von denen die mit A bezeichneten schon vor den pronominibus durch-
genommen werden können, die consonantische conjugation ist nem-
lich mit recht erst nach den vocalischen conjugationen behandelt
worden, während sich capio praktischer weise erst im zweiten hefte
findet, das hilfszeitwort dagegen ist zwischen die numeralia und
die pronomina eingeschoben worden, auch die dem sextaner un-
verständlichen nominalformen des verbums sähe ich lieber am ende
des zweiten heftes im Zusammenhang mit den syntaktischen regeln
besprochen, was sodann die behandlung der deponentia betrifft, so
kann ich es nicht gut heiszen, dasz im ersten teile nur diejenigen
besprochen werden, welche nach der ersten conjugation gehen,
die deponentia aller vier conjugationen sind zusammen zu behandeln,
sei es nun in sexta, wie es das regulativ für die gymnasien vor-
schreibt, oder, was mir als das praktischere erscheint, in quinta.
dahin möchte ich auch die nun noch folgenden abschnitte Uber die
Präpositionen und über die adverbia gestellt wissen.
Vor allem verdient es lob und anerkennung, dasz im anschlusz
an Harre, unser aller meist er, viele einzeihe iten und besonderheiten
beseitigt worden sind, auf deren einübung die meisten Übungsbücher
und schulgrammatiken immer noch nicht verzichten zu können
glauben, namentlich in den beispielen zur dritten declination ist so
eine nicht unbeträchtliche Vereinfachung und kürzung eingetreten,
auch von den pronominibus kommen nur die wichtigsten und unent-
behrlichsten zur einübung.
Die angehängten fabeln und erzählungen sollten vermehrt und
über das ganze buch verteilt werden , dessen brauchbarkeit dadurch
um ein bedeutendes erhöht werden würde.
Das zweite heft bietet an erster stelle ein Verzeichnis der
vocabeln zu den auf s. 15 — 71 folgenden 50 Übungsstücken, diese
behandeln § 1 — 6 die declination der substantiva, § 7 — 8 die ad-
jectiva, § 9 — 10 die numeralia und pronomina, die lieber getrennt
hätten besprochen werden sollen, darauf folgen die sogenannten
unregelmäszigen verba, und zwar § 11—13 die erste, § 14—19 die
zweite, § 20—33 die dritte, § 34 die vierte conjugation, von denen
sich namentlich die behandlung der verba der dritten conjugation
durch praktische teilung auszeichnet, in den § 35 — 38 werden ge-
mischte beispiele geboten, die deponentia der zweiten, dritten und
vierten conjugation folgen § 39 — 42; zu ihnen gehören, wie schon
erwähnt, auch die deponentia der ersten conjugation aus dem für
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Lateinische Übungsbücher.
319
sexta bestimmten teile, von den verba anomala § 43 ff. könnte edere
füglich gestrichen werden, ferner sind die composita von ferre und
ire getrennt von dem simplex zu behandeln, auch sollte fieri in einem
besonderen paragraphen fttr sich allein besprochen werden, nach
den verba defectiva in § 47 und den verba impersonalia in § 48
folgen wiederholungsbeispiele.
Nach absolvierung dieser schwierigen capitel finden sich auf
s. 72 — 83 lateinische und deutsche fabeln und erzählungen prak-
tischer weise zur erholung eingestreut.
In den § 51 — 53 werden die präpositionen durchgenommen,
denselben würde ich gleich die Ortsbestimmungen anschlieszen , die
erst § 62 besprochen werden, im übrigen sollten von syntaktischen
regeln in quinta nur die nominalen verbalformen bebandelt werden,
die übungssätze Uber einzelne regeln aus der casuslehre könnten im
dritten hefte aufnähme finden.
Auf 8. 106 — 138 folgen lobenswerter weise wieder kleinere
und gröszere fabeln und erzählungen sowohl in lateinischer als auch
in deutscher spräche.
Den schlusz des hübsch ausgestatteten buches bildet ein latei-
nisch-deutsches und ein deutsch - lateinisches Wörterverzeichnis, das
sich mir immer als sehr zuverlässig erwiesen hat.
Der dritte teil, welcher ursprünglich mit dem zweiten ein ge-
meinsames heft bildete, ist nunmehr von demselben getrennt er-
schienen , weil laut Vorwort von der zuständigen behörde die Ver-
einigung der beiden teile als das hindernis bezeichnet wurde, welches
der einführung des buches an preuszischen Unterrichtsanstalten ent-
gegenstand.
Dieses heft bietet nur zusammenhängende stücke, die in einer
neuen aufläge numeriert werden möchten, auf die classenlectüre ist
die gebührende rücksicht genommen worden, ich finde eine kurze
lebensbeschreibung des Thrasybul s. 15, des Cimon s. 24, des Han-
nibal s. 26 , des Timoleon s. 37, des Alcibiades s. 38 , des Aristides
8. 39, des Pausanias s. 45, des Miltiades s. 65, des Timotheus s. 70.
ferner handelt 8. 72 — 76 über des Xerxes zug nach Griechenland,
s. 35 über den feldzug der Athener gegen Sicilien , s. 47 über die
belagerung von Samos, s.49 über die Schlacht bei Mykale. von den
Perserkönigen wird gern erzählt, so von Cyrus s. 20 und 29, von
Kambyses s. 14, von Pseudosmerdis 8. 71, von Darius Hystaspia
s. 16, 33 und 69. es begegnen jedoch auch erzählungen aus der römi-
schen geschiente, z. b. s. 22 über den numantinischen krieg, s. 27
über Caesar und die Helvetier, s. 30 über An tonin us Pius, s. 55 über
Mucius Scaevola, s 59 über den Ursprung der stadt Rom, s. 61 über
den ersten Samniterkrieg und dergl. mehr.
Der erste abschnitt auf s. 1 — 12 handelt über den ausgang des
trojanischen krieges und dient zur Wiederholung der unregelmäszigen
verba. hier verdient die teilung in kleinere pensa (erste, zweite,
dritte, vierte conjugation; deponentia;~ verba anomala) besondere
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d
320
Personalnotizen.
anerkennung. ich wünschte nur, dieser grundsatz wäre auch im fol-
genden beachtet und durchgeführt worden, an zweiter stelle sollte
meines er achtens ein abschnitt zur Wiederholung der nominalen
verbalformen folgen, dann würde ich den anbang über die dasz-sätze
(s. 68 ff.) einschieben und nun erst die Übungsstücke über die con-
gruenz und die casuslehre (s. 13 ff.) bringen, von denen namentlich
der erste abschnitt des guten zu viel auf einmal bringt: subject,
prädicat, attribut, apposition, congruenz des pronomens. auch halte
ich es für praktischer, nach dem accusativ nicht den genetiv, sondern
den dativ zu besprechen.
Das Wörterverzeichnis bietet viele vocabeln, die dem quartaner
längst bekannt sein müssen, wie: aber, absieht, acker, allein, an-
denken, anfuhrer, angriff usw.
Das buch verdient der beachtung der herren collegen empfohlen
zu werden.
Annabebg. Ebnst Haupt.
(6.)
PERSONALNOTIZEN.
Ernennungen , befürderungen , YerKetzungen , auKxeiehnungen.
Credner, Hermann, dr., oberbergrat, prof. an der univ. Leipzig, mm
geheimen bergrat ernannt.
Jörling, Franz, Oberlehrer am gymn. zu Gnesen, als 'professor* prä-
diciert.
Zenzes, dr., Joh., Oberlehrer am Marien-gymn. zu Posen, zum director
des gymn. in Wongrowitz ernannt.
Gestorben t
Bi erlinger, Anton, dr., aord. prof. der deutschen philologie an der
univ. Bonn, um deutsche sagen- und Sittenforschung vielverdient,
am 15 juni. B. war geb. am 14 januar 1834 zu Wurmlingen in
Würtemberg.
Dinse, M., dr. prof., früher lehrer am grauen kloster in Berlin, am
24 raai daseibat.
Gloel, Johann, dr. , ord. prof. der theologie an der univ. Erlangen,
am 10 juni, im 35n lebensjahre. G. war geb. am 22 april 1857.
Kinkel, Gottfried, dr., kunsthistoriker in Bonn, am 22 mai, 47j&hrig.
v. Nägel i, Karl Wilhelm, dr., ord. prof. an der univ. München, starb
daselbst am 11 mai, der gröste botaniker und pflanzenphysiolog
der gegenwart, geb. am 30 märz 1817 zu Kilchsberg bei Zürich.
Springer, Anton, dr. ph. u. th., geh. hofrat, ord. prof. der mittelalter-
lichen und neueren kunstgeschichte , am 31 mai, 66jährig.
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ZWEITE ABTEILUNG
FÜB GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AUSSCHLUSS DKK CLA8HISCHEN PHILOLOGIE
HERAU8GEGEBEN VON PROF. DR. HERMANN MaSIUS.
(10.)
BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DES HÖHEREN SCHUL-
WESENS IN DER OBERLAUSITZ,
(fortsetzung und vorläufig schlusz.)
Was die einkünfte der lehrer anlangt, so ist zunächst daran
nochmals zu erinnern, dasz dem meister vom rate, oder in Bautzen
vom domcapitel einzig das recht verliehen wurde, schule zu halten,
und dasz er einen gehalt wahrscheinlich in allen Sechsstädten nicht
erhielt, was wir ja aus Görlitz bestimmt wissen, über die einkünfte,
welche den 'schuldienern* von der kirche infolge manigfaltiger Ver-
richtungen, die meist durch Vermächtnisse bestimmt waren, zuflössen,
ist oben gesprochen worden, desgleichen auch über die möglichkeit
von nebenverdiensten beim rat. es erübrigt nur noch, hier über
die verschiedenen be/.üge von den Schulkindern einiges hinzu-
zufügen, wir beginnen mit der Bautzener Schulordnung41 vom jähre
1418, die für unsern zweck eine vorzügliche quelle ist. wir schicken
voraus, dasz die kinder nach dem vermögen ihrer eitern in drei
classen eingeteilt waren: reiche, mittelmäszige, arme, von denen die
letzteren von allen leistungen befreit waren. — Beim eintritt in die
schule, welcher am tage St. Gregorii (am anfang des Schuljahres,
12 märz) erfolgte, soll jeder ('der arme', wie bemerkt, ausgenom-
men) 'dem meister zu lohn' 2 gr. geben und 'fürbas frey seyn bis
auf S. Michaelis tag, ob (= wenn) er bleibet bey der schule', an
»chulgeld aber hatte der rector vierteljährlich am quatember von den
reichen 2 gr. und von den mittelmäszigen 1 gr. zu bekommen, zur
44 obwohl sie schon von mehreren, zuletzt von Müller archiv VIII
s. 260 ff. besprochen worden ist, glauben wir, sie hier nicht übergehen
zu dürfen.
N.j*hrb. f. phil.u. pid. Il.abt. 1891 hfl. 7. 21
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322 Beiträge zur geschieht« des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
heizung der zimmer erhielt er von jedem knaben der ersten ver-
mögensclasse im winter täglich rein scheit holz' oder für die ganze
zeit 'ein fuder holz' oder 2 gr., von der zweiten classe bekam er die
hälfte. wenn die kinder aus der elementarclasse in die nächste
(Donatclasse) aufrücken wollten , hatten sie , wohl ebenfalls an den
rector, 'jegliches einen pfenning', die armen nichts zu bezahlen,
ebenso wenn die schüler in die oberste classe kamen (Müller: 'die
man setzt zu dem cantu' ftir das überlieferte 'die man jetzt zu dem
cantu') : 'zum ersten 6 heller, zu dem andern 8 heller, zu dem dritten
1 gr.' am 25 november (Katharinentag) endlich erhielt der Schul-
meister 1 gr.46 zusammen mit seinen lehrern bat er folgende be-
züge: am tage Johannis bapt. (24 juni) der meister 4 heller, der
unterweiser des betreffenden kindes 6 heller 'oder einen halben topf
mit geschlagenen kornmehl'46, zu Mariae himmelfahrt (15 august)
der meister und der locator je '1 methe heller' (meth = honigwein),
zu neujahr der meister 6 heller, der locator 2 gr. (überliefert ist
'zu' gr., 'zwo' Müller) von den reichen, die hälfte von den mittel-
mäszigen. der cantor erhält zu ostern, pfingsten, michaelis und
Weihnachten den 'austreibeheller', je einen pfennig, von allen Schü-
lern, mit ausnähme der armen, bezüglich des locators und des
signators wird bestimmt, dasz 'ein jeglich wohlhabend kind soll sein
brod , das es mit ihm (sich) in die schule trägt, halb geben dem
locatori, der es lehrt, in den werkeltagen, am sonntage dem signatori,
oder alle wochen [natürlich dem signatori] ein heller, oder jederzeit
der quatember 1 gr., davon der locator haben soll von dem locatore
einen pfenning' — 'sed pauper nihil' wird hinzugefügt, die beiden (?)
locatoren endlich hatten noch ihre festen einnahmen durch den ver-
kauf der von ihnen abgeschriebenen Schulbücher (vgl. oben); diese
musten die knaben von den locatoren entnehmen oder, wenn das
nicht geschah, als entschädigung 2 bzw. 1 gr. (reiche und mittel -
mäszige) zahlen, eine bestimmung, die auch anderwärts, z. b. in
Schleiz (Schulordnung vom jähre 1492 bei Müller a. o. s. 1 13) und
in Marienberg (Schulordnung zweite hälfte des 15n jahrhunderts
a. o. 124) galt, diese entschädigung wird an den beiden genannten
orten 'anhebegeld' genannt, wodurch die überlieferte form der
Bautzener Schulordnung47: die kinder sollten das geld 'in anheben'
bezahlen, ihre erklärung findet; Knauthe (oberlaus, nachl. 1771),
45 in der Schulordnung steht allerdings nur: fl gr. zu Catharinae';
da jedoch im vorhergehenden die bestinimung rdem locatori* nie fehlt,
wenn dieser auch seinen teil bekommt, ist in diesem falle der rector
als alleiniger empfänger zu denken. Müller ist a. o. unklar.
4* die bemerkung vorher: 'item nach Johannis bapt. ein jegliches
wohlhabend kind einen heller', ist unerklärlich, da der empfanger fehlt;
es könnte nur der cantor oder der signator in frage kommen. Müller
läszt die worte ganz weg.
47 Bautzener rntsarchiv reo. IV sect. III Aa nr. 1 und Techellsche
chronik, auch bei Schöttgen, der löblichen buchdruckergesellschaft zu
Dresden jubelgesthichte (1740) s. 6.
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Beiträge zur geschieht« des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 323
von dem Joh. Müller die Schulordnung in seine Sammlung über-
nahm, änderte daher mit unrecht die worte in rein ansehnlich', wobei
man sich doch gar nichts denken kann, von den einkünften kommen
also dem cantor und dem signator die wenigsten zu gute ; das ist
leicht zu erklären : sie hatten infolge ihrer Stellung die haoptein-
nahmen von der kirche.
Von der Görlitzer schule bietet wieder Hass allein bestimmte
nachrichten. wenn er jedoch a. o. s. 303 sagt, der Schulmeister habe
von jedem schüler an schulgeld halbjährig 1 gr*4* erhalten und der
cantor 2 pfennige, 'das er die schuler mit berbrige vorsorget* (auf
wie lange zeit, wird nicht hinzugefügt), so gibt er damit sicherlich
nur wenige der einkünfte von den Schülern an4*, wie er ebenso kurz
auch die von der kirche abthut mit den Worten: ritem [sc. ein-
nahmen] der kirchen, der funera, dein grosz vnd mittel, den ein
grosz funus mit der gantzen schule conducirt hat dem Schulmeister
gegeben 1 fl. hung.'
Die für Bautzen und Görlitz geltenden bestimmungen finden
wir mit hilfe der von Müller herausgegebenen Schulordnungen hier
und da in ganz Deutschland , natürlich mit der oder jener gering-
fügigen änderung, im gebrauch, und wir zweifeln daher nicht, dasz
die vier anderen Sechsstädte den beiden genannten ohne weiteres
auch hierin an die seite zu stellen sind.
Lieferungen von naturalien seitens der eitern und des rates
sind uns aus Zittau bekannt, nach Gärtner a. o. s. 6 wurde 1530
noch an den stadtsyndicus und den rector 'ein schwein aus der
mühlen' geliefert, was jedenfalls ebenso auf eine alte Stiftung zu-
rückzuführen ist, wie die lieferung von 12 scherte 1 korn aus des
rates obermühle und eines mühlschweines zu fastnachten an den
Bautzener rector (bei Hessler, die frommen Stiftungen in Bautzen
III s. 18 aus dem jabre 1692 erwähnt) und 'die Zurichtung eines guten
schöpses* an den rector zu Löbau (Knauthe, geschiente der schule zu
Löbau s. 18). andere naturalien musten sich die lehrer nach einer
alten Bitte erst erbetteln, wie am Gregorius- und Martinstage, wo-
von uns Christian Weise in der oratio saecularis s. 8 eine so lebhafte
Schilderung gibt, in jener zeit fühlte man das unwürdige solcher
48 bei Hass lesen wir: fdes halben jaris vom schuler 1 gr. introitus.'
das letzte wort ist in dem zusammenhange unverständlich, vielleicht soll
es heiazen: rdes ersten halben jaris'; darin würden wir die Bautzener
he Stimmung-, siehe oben, wiedererkennen. — Der irrt um bezüglich der
bestimmten nachrichten über den buchhandel in Görlitz ist oben be-
sprochen worden.
49 ein euriosum ist, was Schütt a. o. s. 13, 8 mitteilt: 1512 bat
Thomas Spiess von Weyda, mgr. und Schulmeister, die eldisten herrn,
seinen Schülern zu fastnacht gemeine bier zu trinken /u vergönnen,
welches ihm aber durch den subnotarius abgesagt worden, und da er
auf dem rathause noch einmal angebalten, ihm sein lohn zu bessern
versprochen worden; der ratsbeschlusz befindet sich in den annalen von
Hass II s. 205.
21*
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324 Beiträge zur geschichte des höh. Schulwesens in der Oberlausiti.
Sammlungen gewis nicht, Weise fügt aber a. o. mit genugthuung
hinzu , dieser brauch sei mit der einführung der reformation ver-
schwunden.
Dasz das Schulgeld usw. eine gute einnähme für die lehrer hätte
ergeben können, wenn bei einer so bedeutenden schülerzahl, wie in
Görlitz, ein gröszerer teil gezahlt hätte, ist leicht einzusehen, unter
den schtilern gab es jedoch sehr viel arme, die ja von allen abgaben
befreit waren, wie viele von den fahrenden allein werden wohl
ihren Verpflichtungen nachgekommen sein? sie, die oft genug nach
den Städten strebten, wo die mildthätigkeit am meisten geübt wurde,
und diese mildthätigkeit war aller orten grosz, sei es dasz Stiftungen,
natürlich bei der kirche, bestanden, sei es dasz der wohlthätige sinn
der bürgerschaft in freier weise sich zu bewähren gelegenheit fand,
zu der ersteren art gehörten Stiftungen, wie die in Zittau, welche
Gärtner a. o. 8. 8 erwähnt. 1380 wurde ein capital dem rate über-
geben, von dessen zinsen die eine hälfte vier gesellen von der schule
zu gute kommen soll dafür, dasz sie vom charfreitag bis zu der zeit,
da man das kreuz erhebt, in der pfarrkirche tag und nacht den psalter
lesen (der stiftungsbrief wird von Carpzov a. o. III 8. 9 und 97 fast
ganz mitgeteilt, daraus in dem verz. oberlaus. urk. I nr. 524); 1519
stiftete ein anderer das 'salve regina' (Carpzov a. o. s. 10 hat gleich-
falls die näheren bestimmungen, nach denen die schüler insgemein
1 2gr. bekommen); hierher ist jedenfalls auch das 'tonebrae', seit 1476,
zu ziehen , obwohl Carpzov die schüler nicht mit nennt, das 'salve
regina* in Lauban haben wir oben zu erwähnen gehabt und in Kamenz
erhalten zwei scholares seu ch orales per rectorem scbole ad hoc (zu
den in der Urkunde genannten feierlichen handlungen) deputandi aus
einer Stiftung eine bestimmte summe, ähnlich waren die Vermächt-
nisse, welche sich auf die lieferung von tuch (Zittau 1397 und 1414
— Pescheck I s. 544 f. und Gärtner s. 7; Kamenz 1510 — cod. dipl.
Sax. rer. II, VII s. XXIV), von schuhen (Kamenz 1483 — cod. dipl.
Sax. rer. II, VII s. 114 und Haberkorns annalen fol. 14 a, 1510 —
cod. dipl. Sax. rer. a. o.) oder endlich von holz bezogen (Zittau 1431
— Pescheck I S.-545 fholz damit zu heizen auf den abend* ; Kamenz
1483, 1510, 1511 — a. o.). — Gleichfalls durch Stiftungen wurde
dafür gesorgt, dasz die in der stadt ankommenden schüler, wie in
Görlitz und in Neisse, wahrscheinlich so lange wohnung fanden, bis
sie anderweit versorgt waren (vgl. Hoffmann scriptt. rer. Lus. I, II
17. 20 und Schütt a. o. s. 8, 5. — Kastner a. o. 8. 4).
Abgesehen von solchen Stiftungen, zeigte sich die wohlthätig-
keit der bürger gewis tagtäglich, wer hätte auch den armen knaben
das almosen versagen wollen, wenn sie etwa zur Winterszeit singend
von thür zu thür zogen? 'die frembden schuelir', sagt HassIII306,
'musten sich der almosen behelffen, abends singende die responsoria,
morgendi8 bietende von thur zu thur . . . die gewachssen schuler
vnd Schreiber haben winterzeit von thur zu thur die woche dreynial
. . . singen gangen mit den responsorien von der zeit vnd lieben
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Beiträge zur geschiente den höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 325
heiligen wie jsz einem itzlichen burger gefallen , dem de passione,
dem andern de beata virgine, dem drietten de s. Catarina, Martino
etc. haben viel armuts erleiden müssen.' von Löbau weisz Knauthe
a. o. 8. 18 zn berichten, dasz der rat im Hin und 17n Jahrhundert
väterlich für die in Löbau studierenden armen gesorgt habe, und er
vermutet, 'dasz die freiheit, dasz die armen schüler in derstadt singen,
und dadurch sich einiges almosen sammeln können und mögen, einer
von den ältesten wegen (ihnen zu helfen) sei', nicht weniger wie in
Löbau sorgten die bürger auch anderwärts für hospitia liberalia (freie
wohnung) und freitiscbe. und nicht nur gaben die einzelnen dem
und jenem schüler oder mehreren zusammen die milden gaben, son-
dern edle männer vereinigten sich, um in das almosenwesen eine
gewisse Ordnung zu bringen, dieses bestreben geht ganz deutlich aus
den nachriehten hervor, welche wir über das wirken der Zwickauer
Bchulbrüderschaft (fraternitas scholarium) haben; sie bestand nur
kurze zeit, von 1518 bis 1524. nach Herzog a. o. s. 10 war der
hauptzweck, die schule in bessere aufnähme zu bringen, ihre ein-
ktinfte zu erhalten und zu vermehren , sowie arme schüler zu unter-
stützen, auch in Bautzen begegnen wir einer solchen Vereinigung,
die fraternität oder almosenbrüderschaft , wie sie in den ältesten
fraternitätsregistern vom jähre 1519 genannt wird, hatte den zweck
falmosen8ammlungen und sonstige kirchliche zwecke zu befördern',
wie weit die armen schüler dabei in frage kamen, vermögen wir nicht
zu sagen; dasz sich aber die sorge dieser brüderschaft auch auf die
schule bezog, geht daraus hervor, dasz 1592 rector Gerlach aus der
fraternitätsgestiftscasse einen zuschusz zu seinem gehalt erhielt und
dasz 50 jähre später die Verteilung von schuhen und tuch an schüler
erwähnt wird. vgl. Hessler a. o. III 8. 25 ff. notizen darüber auch
in Carpzovs ehrentempel cap. XIV s. 247 und 255 und in Grossers
laus, merkwürdigkeiten III s. 59.
In den werken über mittelalterliches Schulwesen finden wir ge-
wöhnlich noch zwei capitel: Uber die schulzucht und die schulfeste
hinzugefügt was wir darüber mit bezug auf die Oberlausitz sagen
können, möge nun noch folgen.
Bei den betrachtungen über die mittelalterliche schulzucht
pflegt man von der behauptung auszugehen , dasz die grosze roheit,
Verwilderung und sittenlosigkeit, welche man bei den erwachsenen
erkennen könne, in ihren anfängen schon bei den schülern sich zeige,
und dasz dem entsprechend auch die ausübung der schulzucht hart,
strenge und roh war. unter den beispielen ist dann gewöhnlich das
erste jene erzählung Luthers, die lehrer wären noch zu seiner zeit
mit den kindern nicht anders umgegangen, denn wie die stockmeister
mit den dieben. ganz auszer acht gelassen oder nicht ebenso her-
vorgehoben werden berichte über lehrer, welche der ansieht waren,
mit worten könne man gerade so gut wio mit Schlägen strafen, und
man vergiszt anordnungen anzuführen , wie die in Wien (Schulord-
nung 1446 bei Müller s. 60 f.), durch welche rohe Züchtigungen ver-
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326 Beiträge zur geachichte des höh. Schulwesens in der Oberlauiiü.
hindert wurden, man vgl. beispielsweise noch a. o. 8. 48 die Schul-
ordnung von Landau und 8. 226 die Nördlinger Schulordnung vom
jähre 1521. gewis ersehen wir aus solchen an Weisungen, dasz nicht
nur die lehrer, sondern auch andere auszerhalb der schule stehende
von der 'finsteren strenge' keineswegs so beherscht waren, wie es
nach den oben angedeuteten ausfahrungen erscheint, wahr ist es,
dasz das damalige geschlecht derb, oft auch roh war; ist" es da aber
nicht ganz naheliegend zu vermuten, dasz man den jugendlichen
Übermut, der ebenfalls derb und roh sein mochte, nicht besonders
strafte , weil eben das derbe und rohe nicht sonderlich empfunden
wurde? um das zu verstehen, sind analogien selbst aua unseren
tagen leicht zur band.
Nicht unerwähnt sollen aber auch vergehen bleiben, wie der
besuch der Wirtshäuser bis tief in die nacht hinein, raufereien auf
den straszen, wobei dolche und messer eine grosze rolle spielten,
bedrohungen der lehrer durch die schttler mit messern u. a. m. dasz
derartige exceese strafe, sehr strenge strafe forderten und auch
fanden, ist ganz selbstverständlich, übrigens zählten die fahrenden
schüler viele recht verwegene gesellen zu den ihrigen und die er-
wähnten Übertretungen der gesetze werden in der hauptsache ihnen
zur last gelegt werden müssen, da wir nun unter den Sechsstädten
Görlitz als von den fahrenden Schülern besonders viel besucht kennen
lernten, so dürfen wir annehmen, dasz es dort zu häufigen ausscb rei-
tungen gekommen ist, womit freilich nicht gesagt sein soll, dasz die
einheimischen schüler in Görlitz und in andern Städten ein durchaus
sittsames leben führten. Über das treiben der schüler in Görhtz haben
wir eine sehr allgemeine nachricht bei Hass, die wir hier anführen,
nicht blosz weil sie das von uns gesagte bestätigt, sondern weil sie
auch wegen ihrer parteiischen färbung berichtigt werden muez. Basa
beklagt sich nemlich a. o. III 8. 307 , dasz in der Lutherischen zeit
die schüler ein scoriantischer tracht, jn landisknechtischen schuen,
zuflammitten halben vnd geteiltir färbe hosen und jn vieltzhuetten'
giengen, im gegensatz zur früheren zeit, wo 'die schuler jn zimlicher,
erlicher tracht* erschienen. cvnd wil beschlieslicb davon reden, schrei-
ben, das vndir der alden religion vnd papisterey, gotisforcht, liebe
zum nrlisten , ehre, zucht, gehorsam . . . gewaldiger gewesen ist,
den jn jtzig Lutterischer zeit.' wenn auch Hass in seinen annalen
durchgängig als wahrheitsliebender beurteiler erscheint, so befindet
er sich doch an dieser stelle, wie an allen andern, wo er, der eifrige
Katholik, über Luther und die reformation schreibt, in vollständigem
im um (Kämmel laus. mag. 51 8. 128 urteilt ebenso; falsch ist, was
Schütt a. o. 8. 10, 5 sagt), wie sollte auch das zuchtlose leben der
fahrenden schüler, welches schon im 15n uod beginnenden 16n
Jahrhundert zu herbstem tadel anlasz gab , in der kurzen zeit von
der reformation bis 1534, wo Hass jene worte schrieb, in so auf-
fälliger weise sich verschlechtert haben?
Ein klareres bild von der sittsam keit der Görlitzer schaler
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Beiträge zur geschiente des höh. Schulwesens in der Oberlausitz. 327
erhalten wir, wenn wir die Verhältnisse um 1565/66 betrachten.
1565 wurde das gymnasium gegründet und als rector der Witten-
berger professor Yincentius berufen, er nahm an in der er wägung,
'dasz er als rector einer schule dem damals so mangelhaften Unter-
richt und der daniederliegenden schulzucht förderlich sein könnte';
sagt er doch selbst in einem briefe an Crato, rer habe in patria (er
war aus Breslau) ein gut werk stiften wollen', in den Schulgesetzen,
die er beim amtsantritt erliesz, sind nun eine anzahl vergehen ge-
nannt, die sicher nicht blosz kurz vor 1565 bemerkt worden waren,
da wird in der lex nona den schillern untersagt, *ne tabemas publicaa
potandi causa, aut ulla alia de turpitudine suspecta aut infamia loca
accedant'; ebenso verpönt waren 'vagationes nocturnae in plateis,
cum sodalitÜ8 sive sui ordinis sive alienis aut cum Musicis instru-
mentis . . . protrahi has liberales recreationes in multam noctem,
aut in compita et trivia produci nequaquam volumus'. in welch
schlechtem rufe die vagatores, die fahrenden schüler, standen, er-
sehen wir aus der lex ultima (XII): sie sollen auf der schule gar
nicht geduldet werden, weil sie durch ihr schlechtes beispiel un-
geheuren schaden anrichten; vergleiche die leges im abdruck bei
Schütt a. o. s. 90 ff.
Von den Zittauer Verhältnissen erfahrt man aus Dörings annales
gy mn. Zitt. (bei Gärtner s. 9) nur, dasz 1504 oder 1505 von den Schü-
lern ein tumult gegen den cantor Michael ausgebrochen sei, und von
den Kamenzer zustanden, dasz der söhn des bürgermeisters Hennigke
1516 mit den Schreibern einen 'hader unde geczenke* hatte, wobei
einer der angegriffenen von jenem verwundet wurde, über den grund
im ersten falle erfahren wir nichts, die rauferei in Kamenz soll 'ahn
der Camyczer kyrmyss ann alle urssache' von dem jungen Hennigke
angefangen worden sein, eine nachricht, welche aus dem Kamenzer
stadtbuche stammt, das offenbar gegen Hennigke und dessen söhn
partei nimmt und daher als zuverlässige quelle nicht wohl gelten darf.
Unter den schulfesten nimmt die oberste und im Schuljahre
zugleich auch die erste stelle das Gregoriusfest ein. Über dessen Ur-
sprung ist, bevor wir über die feier in der Oberlausitz sprechen, eini-
ges vorauszuschicken , zumal da neuerdings die durchaus das rechte
treffende ansieht Knothes (im laus. mag. bd. 39 s. 46) von dr. H. Eck-
stein, die feier des Gregoriusfestes am gymnasium zu Zittau (oster-
program m Zittau 1888), ohne angäbe der gründe wieder verworfen
worden ist. nach Schöttgen und Mücke (beider Schriften haben den
titel 'vom Ursprünge des Gregoriusfestes' und erschienen 1716 bzw.
1793*) nimmt Knothe an, dasz unser fest aus den römischen Quin-
quatrus sich entwickelt habe, aber das ist nicht blosz zu vermuten,
sondern geradezu als thatsache zu behaupten, wie sich sogleich durch
eine vergleichung beider feste herausstellen wird, beide feste be-
zeichneten den anfang des neuen, natürlich auch den schlusz des alten
jahres, beide wurden im märz, das römische vom 19n an, das christ-
liche am 12n gefeiert, beide galten der verherlichung der beschützerin
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328 Beiträge zur geschieh te des höh. Schulwesens in der Oberlausit*.
bzw. des beschützers der schulen, der Minerva50 und Gregorius des
groszen, bei beiden festen trug der erste teil religiösen Charakter, dem
sieb bei beiden ein zweiter, der lustbarkeit gewidmeter anschlosz, bei
beiden wurden aufzüge der kinder in allerhand Verkleidung veran-
staltet , bei dem römischen allerdings erst in späterer zeit, nachdem
man die sitte der Verkleidung der flötenbläser bei den Quinquatrus
minores am 13 juni auf die kinder bei dem hauptfeste übertragen hatte,
kurz und gut — es steht fest: das Gregoriusfest ist nichts anderes als
das im christlichen sinne umgewandelte Minervafest, zu den genann-
ten zügen fügt Knolhe noch einen hinzu, indem er sagt: 'wie einst
das bild der Minerva dem zuge vorangetragen wurde, so erschien jetzt
in demselben ein schüler in päpstlichem ornat, den bischof Gregorius
darstellend', eine ansieht, die, so sehr sie auch auf dem ersten an-
blick gefällt, doch nicht ganz richtig sein dürfte, wir glauben viel-
mehr, dasz darin, dasz ein als bischof verkleideter knabe der pro-
cession voranschritt und dasz er dann in der kirche nach einer pre-
digt des geistlichen sein Sprüchlein oder eine kleine rede hersagte,
schwache spuren von dem schulbischofsspiel zu suchen sind und dasz
diese beiden züge erst, als man anfieng das letztere zu verbieten,
auf das Gregoriusfest übertragen wurden, dieses schulbischofsspiel
wurde an einzelnen tagen des december, sogar hin und wieder mit
hinzunahme der letzten tage des november in den kloster-, dorn- und
Stiftsschulen in der weise gefeiert, dasz rdie rollen zwischen lehrern
und Schülern gewechselt wurden und die schüler einmal die herren
spielen durften, ja dasz die schüler sogar an stelle der geistlichen in
der kirche fungierten' (Specht s. 222). die Versuchung lag nun sebr
nahe, dasz die schüler die grenzen des erlaubten überschritten und
dasz man deshalb daran dachte, das fest einzuschränken oder gar auf-
zuheben, eine anzahl darauf bezüglicher Verfügungen teilt Specht
a. o. mit. sehr natürlich war es aber auch , dasz man einen so alten
brauch wie das biscbofcspiel nicht ganz fallen liesz und auf diese
weise die oben erwähnten züge auf das Gregoriusfest übertrug, an
fangs nur vereinzelt dort, wo man eben ziemlich zeitig jenes verbot
ergehen liesz, und dann aller orten, wo überhaupt schulen bestanden."
über den weiteren verlauf des festes ist noch hinzuzufügen, dasz nach
der feier in der kirche die für die schule angemeldeten kinder in den
Wohnungen abgeholt und mit einem weiszen chorhemd bekleidet in
die schule geleitet wurden, wobei die alten schüler von den neuen
mit brotzeln beschenkt wurden.
An directen Zeugnissen dafür , dasz dieses scbulfest vor der
reformation in den Secbsstädten in der angedeuteten weise gefeiert
wurde, haben wir keins. es ist jedoch von vorn herein klar, dasz
ein fest, welches nach ausdrücklichen Versicherungen noch im laufe,
60 dasz die Quinquatrus zugleich auch von anderen, die eine kanst
oder ein gewerbe betrieben, gefeiert wurden, ist bekannt.
M in unseren ausführungen ist zugleich auch eine Widerlegung der
Kriegkschen ansieht (bürgertum im mitteUlter, n. f. s. 98 f.) enthalten.
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Beitrage zur geschiente des höh. Bchulwesens in der Oberlausitz. 329
teilweise im anfange des 16n jahrhunderts in den Sechsstädten un-
gefähr so , wie wir es beschrieben , begangen wurde , auch schon in
früheren zeiten kinder und eitern ergötzte, auszerdem haben wir
wenigstens von einem teil des festes kenntnis und halten uns für
berechtigt, auf das Vorhandensein auch der übrigen zu schlieszen:
in der Bautzener Schulordnung (1418) lesen wir nemlich im anfange,
dasz ein neuer schuler am Gregoriustage, 'wan ihn die schüler holen,
vor 1 gr. prezel' geben soll, und dasz dieses einholen in Zittau sogar
zum eintragen (der kleinen durch die groszen schüler) wurde, er-
fahren wir aus der erzählung rector Schnürers (geb. 1518), eine
sitte , deren entstehen doch nur auf eine ältere zeit zurückgeführt
werden kann.
Gehen wir im Schuljahre weiter, so stoszen wir an der hand
unserer Überlieferung erst im november wieder auf eine Veranstal-
tung, die lehrern und schülern, ja der ganzen stadt viel freude
brachte und die ohne zweifei nicht blosz in Zittau und in Löbau,
worauf sich unsere Zeugnisse beziehen, sitte war: es war der Martini-
umgang, bei welchem die lehrer naturalien, die schüler Martinshörn-
chen erhielten, dasz dieser umzug ausartete und jedenfalls so einem
späteren geschlechte nicht mehr gefiel , sehen wir aus Christian Weises
Worten (oratio saecularis; vgl. 8. 323). ebenso allgemein werden die
weihnachtsumzüge gewesen sein , welche zwar hier und da in etwas
abweichender form erscheinen, im gründe jedoch alle auf jenes alte
scbulbischoföspiel zurückgehen; auch die tage waren nicht überall
dieselben : da wurden hier schon am 25 november, am tage der heil.
Katharina, der patronin der Wissenschaft, dort am 30 november
(St. Andreas) oder am 6 december (St. Nicolaus) oder ganz beson-
ders am 28 december (unschuldige kindlein) — alles tage , welche
auch beim bischofsspiel bedeutung hatten — kleinere oder gröszere
lustbarkeiten veranstaltet, aber auch diese schwanden : so erfahren
wir aus dem Zittauischen chronikon Schnürer, dasz der bürgermeister
Dorne pach, jedenfalls infolge von ungehörigkeiten, die weihnachtsum-
gänge gegen eine an die schule jährlich zu zahlende entschädigungs-
summe aufhob.
Der zeit nach folgen die verschiedenen festlichkeiten zu fast-
nacht, über welche wir einige nachrichten haben, so wird erzählt,
dasz in Bautzen im jähre 1413 (nach Knauthe in der Oberl. nach-
lese 1771, s. 107) der Schulmeister am Dorotheentage (6 febr.) auf
dem markt ein komödienspiel von der heiligen jungfraueu Doro-
theen veranstaltete und dasz in Zittau im jähre 1505 der rector,
M. Arnold, eine komödie auf dem markte aufführen liesz, in der
nach dem berichte Christian Weises (oratio saecularis) zwei ältere
schüler (Weise denkt fälschlich an collaboratores) als wurst und
häring miteinander kämpften , wobei schlieszlicb — ein hinweis auf
die beginnende fastenzeit — die wurst vom häring in die röbrbütte
geworfen wurde; 'ordini scholastico minus glorios um', fUgt der die
würde des lehrerstandes wahrende Weise hinzu, und 'närrische spiele,
Digitized b}
330 Beitrage zur geschichte des höh. Schulwesens in der Oberlausitz.
gefährliche ausginge' ruft ein Laubaner Chronist, der die nachricht
von der Arnoldschen aufführung auch bringt, kopfschüttelnd aus.
von trinkgelagen der Görlitzer lehrer und schüler hört man näheres
aus dem schon oben erwähnten jahrbuch nnd aus dem ratsbeschlusz
bei Huss, annalen ü s. 205. danach war es Bitte, 'das die schueller
neben andern hantwercken, jm jare ein mol vnd zu dieser zceit
(fastnacht) , vmb ires vi eis willen . . . eine freu de haben mochten.'
da jedenfalls der Schulmeister das hier gegen bezahlung lieferte,
wurde dieser brauch 1512 abgeschafft, wobei man jenem versprach,
'sein lone bessern' zu wollen, auch von fastnachtszechereien der
Bautzener schüler (besonders der Choristen), 'gemeines bier' genannt,
wissen die Chronisten zu berichten. 1503 wurde 'diese gewobnheit,
bei der es sehr unordentlich zugieng', verboten.
Am ende des Schuljahres endlich wurde in Bautzen ein schüler-
umgang zu Petri stuhlfeier (22 febr.) gehalten, wovon der Bautzener
Senator Hering in der lausitzischen monatsschrift 1795, I s. 214
näheres mitteilt, danach hiesz dieses schulfest 'das empfahen des
sommers' die procession fand des abends bei fackelbeleuchtung
statt, und 'vor zeiten haben auch die leute lichte gesetzet in die
fenstern, und den schülern bier vorgetragen und geschenkt', der zog
bewegte sich durch mehrere gassen nach dem markte, wo ein groszes
feuer brannte, wenn man nun dort angekommen war, 'hat der Schul-
meister figurierend gesungen: Jam Ver oritur!' auch dieses alte
fest, ein ausdruck der freude über die erwachende natur, das wir mit
dem in andern gegenden gefeierten maifest vergleichen können
(Eämmel, geschichte des Schulwesens s. 200), hatte das Schicksal der
andern; es wurde infolge von Störungen im jähre 1522 und 1523,
die durch die reformation veranlaszt waren, 1523 zum letzten mala
gefeiert."
5f Baumgärtel, die kirchliehen zustände Bautzens im I6n and 17n
Jahrhundert (progr. der Bautzener realschnle 18d9) s. 9 irrt, wenn er
rdas empfahen des sommers ' auf den 81 juli verlegt; da« von dem
Schulmeister dabei gesungene rjam ver oritur' spricht schon allein gegen
diesen tag.
M Knothe glaubt (laus. mag. bd. 39 s. 48 anm. 3), dasz die feier
darin bestanden habe, dasz ein papierner bischof (Petras) auf einem
stuhle berumgetragen wurde. Knothe hat sich hier jedoch offenbar ver-
leiten lassen, einen einmaligen Vorfall zu verallgemeinern, eben den, der
znm verböte des festes führte, am nemlich ihre abneigung gegen das papst-
tum zu zeigen, tragen 1523 zwei raRnner, unter denen man baccalaarei
vermutete, jenen papiernen bischof heran and warfen ihn ins feuer.
Dresden. H. Heyden.
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaue. 331
30.
DER DIDAKTISCHE WERT DE8 XENOPH ONTISCHEN
AGESILAUS
im zusammenhange mit der Cjropädie und den Memorabüien als schul-
lectüre untersucht.
I. Vorbemerkungen.
Birgt die griechische litteratur einen reichtum an schlechthin
unersetzlichen bildungsmomenten in sich, so ist es auch aufgäbe des
gymnasialen Unterrichts diese in den Schriftwerken schlummernden
kr&fte zu wecken und an den Zöglingen lebendig werden zu lassen,
mit dem gerede von der unvergänglichen Schönheit der Griechenwelt
und von der herlichkeit dieser litteratur ist es nicht gethan : die ge-
stalten dieser weit und der ideen, welche sie bewegten, müssen geisti-
ges besitztum des schulers werden und müssen , wie 0. Weissenfeis
in seinem gehaltvollen aufsatz Mas wesen des gymnasiums' 1 sagt,
von diesen selbst als Ktri^aTa de dei empfunden werden : erreicht der
griechische Unterricht dies ziel nicht, so spricht er sich selber das
gerieht, und ermöglicht wird dasselbe einzig und allein durch eine
rationelle didaktik*, welche die griechischen Schriftsteller und Schrift-
werke im einzelnen auf ihren inneren wert hin prüft, aus ihnen das
an sich und für die jugendbildung beste auswählt und dasselbe im
zusammenhange mit dem gesamten Unterrichtsstoffe dem lehrplane
einfügt, diese aufgäbe ist aber noch nicht gelöst, wie 0. Altenburg'
anzunehmen scheint: dasz kaum irgendwo so viel willkür herscht
als auf dem gebiete der griechischen lectüre in secunda, haben wir
s. 15 f. zu zeigen gesucht.
Die folgende erörterung, welche in letzter linie
einer bisher (wenigstens in der letzten zeit) unge-
bührlich vernachlässigten schrift Xenopbons gilt, aber
auch , um den didaktischen wert derselben zu erweisen,
die Memorabüien und die Cyropädie zu berücksich-
tigen hat, erhebt auch ganz und gar nicht den An-
spruch eine auswahl von Schriftwerken als vorzugs-
weise geeignet für einen kanon vorzuschlagen, sie will
weiter nichts bedeuten als einen bescheidenen versuch
die möglichkeit nachzuweisen eine reihe von Schrift-
werken in engem Zusammenhang mit einander, weil an
ein bedeutendes bildungscentrum angeschlossen, und
in steter beziehung zu den anderweitigen bildungs-
1 zeitschritt für das gymnaBial wesen XXXX jähr gang s. 528.
" Vgl. 8. 14 f.
* Friek und Richter lehrproben and lehrgänge hft X s. 2: f. . aber
abgesehen vielleicht noch vom französischen herscht über den ckanon
der lectüre» ein erheblicher zweifei nicht mehr.'
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332 Der didaktische wert des Xenophontkchen Agesilaus.
Stoffen im griechischen Unterricht zu behandeln, im
besondern aber den didaktischen gehalt des Agesilaus
aufzudecken.
Um diese unsere aufgäbe zu lösen, müssen wir etwas weiter
ausholen, indem wir an dem grundsatze festhalten, keine Chresto-
mathien4, vielmehr ganze werke (wenn freilich auch nur in den be-
deutendsten partien, im übrigen aber im durchblick) sind zu lesen,
fragen wir nach den grundsätzen, welche für die auswahl der grie-
chischen lectüre maszgebend sein müssen, abzuweisen sind zunächst
alle die gesichtspunkte , welche äuszerlicher art sind.6 wenn der
schüler, um die Homerischen dichtungen lesen zu können, sich mit
einem von der attischen spräche so gänzlich abweichenden idiom
vertraut machen musz, so kann man ihm wohl zumuten, dasz er
auch den in seinen eigenartigen gesetzen so leicht zu begreifenden
Herodotischen dialekt erlernt, und es ist fUr uns der von N&gelsbach
in seiner gymnasial pädagogik s. 142 angegebene grund, dasz die
Schwierigkeiten seiner spräche der lectüre des Herodot entgegen-
ständen , gewis nicht stichhaltig und ausreichend dem schüler einen
der anmutigsten und wertvollsten autoren zu rauben, ebenso wenig
kann die Schwierigkeit, welche stil und darstellung dem schüler
bereiten, allein ausschlaggebend sein, den Thukydides aus diesem
gründe verbannen und die chorlieder der tragödie übergehen zu
wollen, wie das wohl geschieht, bedeutet eine Verurteilung des
griechischen Unterrichts überhaupt, sein ziel ist nicht, dasz der
schüler die fertigkeit des griechischlesens erwirbt (leider gottes
verleitet das prüfungsreglement nur zu häufig zu dieser das gymna-
sium aufs tiefste schädigenden auffassung), sondern er soll dem
zögling die bedeutsamsten anschauungen des Griechentums ver-
mitteln, und in diesem sinne darf weder des Thukydides ge-
schichtsbild fehlen noch der die griechische tragödie erst verstand-
lieh machende chorgesang. überhaupt darf die sprachliche seile
der darstellung nicht den maszstab für die reihenfolge der lectüre
bilden, höchstens ceteris paribus mag sie ausschlaggebend sein:
sonst kommt man zu einem resultat, wie es der referent der zwei-
ten rheinischen directoren Versammlung ausspricht, dasz nemlich sich
die Cyropädie aus dem gründe für obersecunda nicht eigne, weil
sie zu leicht (!) sei. äuszerlich nenne ich auch die gesichtspunkte,
welche hergenommen sind von den litteraturgattungen. gewis soll
der schüler die darstellende kuust auf allen gebieten der prosa wie
4 im gewöhnlichen sinne des wortes; dagegen Hesze sich wohl ein
griechisches lesuhuch denken, welches ganz nach didaktischen gesiehts-
punkten angelegt wäre.
* dahin rechnen wir anch die erklürang F. A. Ecksteins, lat. und
griech. Unterricht, Leipzig 1887, s. 422: 'bei der auswahl der Schrift-
steller müssen zwei grundnätze massgebend sein: der schüler ist in die
reinsten quellen der griechischen spräche und in die wichtigsten zweige
und riebtungen der griechischen litteratur einzuführen.'
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus. 333
nicht minder alle arten der poesie kennen und verstehen lernen,
aber dasz gerade die griechische lectttre ihm diese muster alle bieten
müsse, davon kann keine rede sein, auf dem gebiete der poesie
ist freilich das epos und die tragödie mustergültig für alle Zeiten
vertreten, aber die Aristophanische komödie kann aus naheliegen-
den gründen nicht in den kreis der schullecttire gezogen werden und
von der lyrik trotz der hohen Schönheit der Pindarischen bymnen
und der sonst erhaltenen lieder kaum mehr als die cborgesänge
der tragödie und etwa einzelnes von den elegien. an die prosa-
schriftwerke darf man schwerlich einen formalen maszstab anlegen,
anstatt die leitenden gesichtspunkte für die auswahl der lectüre
von der bedeutsamkeit des inhalts und seiner bezieh ung auf die
seele des Zöglings herzunehmen, wir wenden uns denselben im
folgenden zu.
Die zeit, in welcher man einseitig die geschiebte, oder richtiger
gesagt, die politische geschiente der alten Völker zum mittel punkt
der classenlectüre machte und ein werk um so eifriger las, je mehr
ausbeute es zum Verständnis dieser gewährte, ist immer noch nicht
vorüber, wie auf dem gebiet der CicerolectUre diejenigen Schriften
bevorzugt werden, welche für die Zeitgeschichte oder auch das poli-
tische leben des Verfassers von bedeutung sind, so erfreut sich viel-
fach noch unter den griechischen litteratur werken die historische
gattung bzw. die auf dem geschichtlichen gebiete sich bewegende
politische beredsamkeit einer ungerechtfertigten einseitigen bevor-
zugung. gegen die Stellung der politischen geschiente im centrum
des Unterrichts spricht sich energisch aus 0. Weissenfeis in dem
schon oben genannten aufsatze s. 530, und wir schlieszen uns seiner
klage, dasz durch eine solche ein tieferes Verständnis der alten
geradezu unmöglich gemacht werde, von ganzem herzen an. gewis
ist die staatliche entwicklung ein hervorragender factor der griechi-
schen weit, wie das leben der alten in ganz anderm sinne im Staate
seinen mittelpunkt fand, als das unserer anschauungsweise entspricht,
aber derselbe erschöpft sie keineswegs, und wenn es für den Unter-
richt gilt dem Griechentum mit seinen bildenden kräften in die seele
des Schülers eingang zu verschaffen, so sind es noch ganz andere be-
thätigungen des griechischen geistes als seine politische arbeit, welche
im Unterricht verwertet werden müssen, ein befriedigendes ergeb-
nis können wir in dieser frage nur erhalten, wenn wir uns des zieles
der Unterrichtsarbeit erinnern, dieselbe soll eine erziehende sein,
nicht kenntnisse von allem sollen wir dem Zögling mitgeben, viel-
mehr soll ein wissen in ihm erzeugt werden , welches er in ein be-
wustes können umzusetzen vermag, welches daher ein (sittliches)
wollen hervorgerufen haben musz. oder kürzer gesagt, haben die
kenntnisse für den schüler ihre höchste bedeutung darin , dasz sie
ftls grundlage^ seiner Charakterbildung brauchbar sind, nur soweit
dieselben zur bildung wichtiger anschauungskreise dienen und die
welt der inneren erfahrung kräftig gestalten helfen, haben sie be-
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334 Der didaktische wert des Xenophonti sehen AgesilauB.
rechtigung im Unterricht, daher hat auch die geschiente des griechi-
schen Volkes nicht um ihrer selbst willen eine stätte anf dem gymna-
ßium y sondern weil und zugleich soweit sie Torzugsweise geeignet
ist die anschauungen des schülers über geschiente überhaupt zu bil-
den, weil sie in politischen einriebtungen und entwicklungen, ge
stalten und ideen eine menge typen bietet, welche von höchstem bil-
denden werte sind, zu einer Vertiefung in geschichtliche personen,
Verhältnisse und vorgSnge mittels der leetüre sind demgemäsz Au-
dio schule nur die groszen epochen und ihre trager geeignet, dazu
kommt noch ein anderes, sollen die geschichtlichen gestalten durch
die leetüre dem schüler lieb und vertraut werden , soll der Umgang
mit ihnen für diesen bildend sein, so genügt es nicht, dasz derselbe
mit bewunderung für ihre leistungen und ihre geschichtliche grösze
erfüllt wird , sondern ihre Wirkung auf sein gemtit musz sicher ge-
stellt sein, sie müssen als menschen und Staatsmänner dazu angethan
sein die Sympathie des jugendlichen lesers zu gewinnen: nur so
können sie einen einflusz auf seinen willen ausüben, nun vermittelt
die geschiente der Schriftsteller, der schüler genieszt den umgaDg
mit ihren gestalten erst durch die darstellungsweise dieses, mit die-
sem verkehrt er unmittelbar, daraus erwächst die weitere forderung,
dasz der Schriftsteller nach seiner geschichtlichen auffassung, nach
seiner auf das gemüt wirkenden darstellungsweise, nach seinen eigen-
sc haften als mensch und als patriot einen wahrhaft bildenden Umgang
für den schüler zu bedeuten im stände ist.
Nach dieser kurzen darlegung glauben wir, dasz in der that ihrer
typischen bedeutung halber als mittelpunkte für die leetüre geeignet
sind die geschichtlichen gestalten des groszen gesetzgebers Solon,
des freiheitskämpfers Miltiades, des selbstlosen Staatsmannes Ari-
stides , des genialen Themistokles , des helden Leonidas , weiter des
groszen Perikles , des strategisch wie politisch bedeutenden Xeno-
phon, des patrioten Demosthenes und des welteroberers und cultur-
trägers Alexanders d. gr. alle diese gestalten sind des sympathe-
tischen interesses des schülers sicher, sie alle sind als träger groszer
geschichtlicher, bzw. politischer ideen typen, und die geschicht-
lichen und politischen Verhältnisse und entwicklungen Griechen-
lands? die ausgestaltung der Verfassung Athens in der Solonischen
gesetzgebung, ihre demokratische fortentwicklung bis zum nieder-
gang im peloponnesischen kriege musz nach den wesentlichen zügen
in der leetüre gewonnen werden, vor allem aber sind fruchtbar die
freiheitskämpfe der Hellenen gegen die barbareninvasion in ihrer
typischen bedeutung und endlich das vergebliche ankämpfen gegen
den Untergang von Hellas, aber auch die spartanische Verfassung
ist in den kreis der leetüre zu ziehen, und endlich die grosze be-
wegung der Griechen gen Osten nach ihrer politischen und beson-
ders ihrer culturgescbichtlichen bedeutung. nach diesen gesiebts-
punkten und mit rücksicht auf die oben ausgesprochene anforderong
an die schulautoren empfiehlt sich folgender kanon historischer, bzw.
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilauu. 335
in das historische gebiet einschlagender lectüre. für die frühere ge-
schiente Athens, besonders die Solonische gesetzgebung, nicht min-
der aber auch die spartanische, Herodots geschichtswerk (und Bolons
60 wie des Tyrtaeus elegien), für die Perserkriege mit ihren groszen ge-
stalten ebenfalls Herodot, für die epoche und die person des Perikles
das Thukydideische werk, dasselbe zum Verständnis des peloponne-
si&chen krieges. indem wir uns eine Würdigung des Schriftstellers Xeno-
phon für später vorbehalten, möchten wir hier nur unsere meinung be-
züglich seiner Hellenika dahin aussprechen, dasz wir dieselbe nicht
als classenlectüre zu empfehlen vermögen, höchstens einzelne stücke,
wie die Schilderung der belagernng und einnähme Athens, etwa im Zu-
sammenhang mit den politischen gerichtsreden des Lysias, die wir für
besonders charakteristisch für den Untergang Athens halten , gegen
die wir aber doch allerlei pädagogische bedenken nicht zu unter-
drücken vermögen, äuszerst wertvoll erscheint Xenophons Anabasis,
für die Unterwerfung Griechenlands die Demosthenischen reden,
für die athenische geschiente und ihre grösze überhaupt besonders
des Ieokrates Panegyricus und des Lykurg rede gegen Leokrates.
es erübrigt noch die epoche Alexanders d. gr., deren geschieh ts-
schreiber Arrian zu betrachten wäre (doch vgl. unten), wenn
nicht in der lateinischen litteratur Curtius Rufus einen wertvollen
ersatz böte und auszerdem die weltgeschichtliche idee Alexanders
auch in einem andern litteratur werke , dessen Würdigung die fol-
gende darlegung im auge hat, dem schüler deutlich zu tage träte,
in dem noch aus andern gründen empfehlenswerten Xenophontischen
Agesilaus.
Nachdem wir so die griechische geschiente als lectürestoff auf
das ihr gebührende masz beschränkt haben, wenden wir uns den an-
dern bezieh ungen zu, um derentwillen das Griechentum in der reihe
der bildungsstoffe eine hervorragende stelle einnimmt und die grie-
chischen Schriftsteller gelesen werden müssen, es ist die ganze weite
weit griechischen empfindens und denkens, f Ohlens und gestaltens,
in welche der schüler einen tieferen einblick erhalten soll , es sind
die anschauungen dieses volkes auf allen gebieten des lebens, in
seinen privatverhältnissen ebensowohl wie in seinen öffentlichen, in
seinen Bitten als dem niederschlag seines sittlichen fühlens und auf-
fassens wie in seinen gedanken über die fragen des sittlichen lebens,
in seinem glauben und seinem phontasieleben auf religiösem gebiete,
seinem künstlerischen sinn und schaffen , kurz in seinen gesamten
lebensauffassungen und -bethätigungen , soweit dieselben teils die
quelle unserer modernen cultur sind, teils von der heutigen auf-
fassungsweise überholt, doch von unvergänglicher, weit über die ge-
schichtliche hinausgehender bedeutung sind, in diese griechische
weit mit ihrem reichtum von gebilden sittlicher und religiöser ideen,
in Wissenschaft und kunst soll der schüler eingeführt werden wegen
ihres idealen gehaltes. sie soll ihn nicht dem deutschen und christ-
lichen fühlen und leben entfremden, nicht durch die beschäftigung
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336 Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus.
mit einer fernen Vergangenheit seinen blick für die gegenwart trü-
ben, sondern ihm, indem sie ihn das wesen der dinge möglichst klar
in ihrer geschichtlichen entwicklung kennen lehrt, eine tüchtige bil-
dung für die auffassung der ihn umgebenden weit verschaffen, seine
begeisterungsfäbigkeit für alles gute und schöne steigern und seinen
sittlichen willen kräftigen, dies ziel musz die griechische lectüre im
auge behalten, nach ihm hin musz auch ihre auswahl erfolgen, so
sind unter den historikern, welche wir unter dem gesicbtspunkte der
gewinnung geschichtlicher begriffe und der bedeutung der geschicht-
lichen gestalten für die innere weit des Schülers besprechen, die von
höchstem werte, welche den schüler die tiefsten einblicke in die
lebensauffassung der Griechen überhaupt thun lassen, mehr oder
minder gewähren sie ja alle, von Herodot bis Demosthenes, schon
in dieser beziehung reichliche ausbeute für sittliche und religiöse
auffassung, für sitten und kunst der Hellenen, aber die reihe der
Schriftwerke und autoren bedarf noch einer ergänzung und Vervoll-
ständigung, nicht der unbedeutendste trieb hellenischer geisteskraft
ist die philosophie. in dem streben nach Wahrheit, wie dasselbe in
der person des Sokrates verkörpert ist, bleiben die Griechen allezeit
unser vorbild. und einer einführung in die griechische weit des for-
schens bedarf die schule, sie rechnet daher Plato und den zur Vor-
bereitung auf diesen dienenden Xenophon zu ihren vornehmsten
autoren. aber in einer andern beziehung erscheint mir die behand-
lung der Sokratiscben philosophie noch wichtiger, mit dem streben
nach Wahrheit geht in ihr das streben nach heiligung parallel, auf-
gäbe der christlichen schule ist es den schüler das heilsbedürfnis
der heiden erkennen zu lehren, damit er das Christentum in seiner
weltgeschichtlichen bedeutung recht verstehe, darum musz er mit
dem ringen der edelsten der Griechen, sittlich rein und gott wohl-
gefällig zu werden , bekannt werden, auch aus diesem gründe ver-
dienen die um die person des Sokrates gruppierten Schriftwerke
Xenophons und Piatos einen platz in der schule, wenngleich auch
schon die bisher genannten litteraturwerke samt und sonders von
sittlichem und religiösem ernst erfüllt sind, auch in dieser be-
ziehung gilt es natürlich die treibenden ideen bis zur völligen klar-
heit herauszuarbeiten, sonst ist alle aufgewandte mühe vergeblich
gewesen.
Damit hätten wir die reihe der griechischen schulschriftsteller
erschöpft, die dichtwerke einer besprechung zu unterziehen fällt
auszer dem rahmen unserer darstellung. noch sei es gestattet auf
einen autor hinzuweisen, der vielfach harte urteile über sich hat er-
gehen lassen müssen, dafür aber von anderer Seite um so beredteren
schütz gefunden hat, Lucian. die einwände, welche gegen ihn er-
hoben werden, sind im wesentlichen die, dasz er überhaupt kein
Grieche ist, sodann dasz es ihm an sittlichem ernst mangelt, endlich
dasz die satire als Unterrichtsstoff ganz und gar nicht zuzulassen sei.
aber ist Lucian auch nicht von geburt Grieche, ja gehört er erst der
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus. 337
zeit eines künstlichen Wiederauflebens des Griechentums an, so hat
er doch die griechische bildung wie einer in sich aufgenommen und
nach dem gedankengehalt seiner Schriften wie nach ihrer Vollendung
in der form kann er den besten von ihnen an die seite gestellt wer-
den, was ferner den ihm oft vorgeworfenen mangel an sittlichem
ernst angeht, so läszt sich gegen diesen vorwarf doch manches gel-
tend machen, wenn Lucian die eitelkeit alles menschlichen strebens
verspottet, so zeigt er damit, dasz griechische und heidnische welt-
weisheit und bildung ihr ziel den menschen zufrieden und glücklich
zu machen nicht zu erreichen im stände gewesen ist; seine Schriften
reden eine deutliche spräche von der 'fülle der Zeiten', und mit dem
rechten ernst, wie er für die schule gehört, bebandelt, dürften sie die
anschauungswelt des schülers wohl ergänzen und bilden helfen, wenn
endlich die satire als solche ansiosz erregt, so ist entgegen zu halten,
dasz, ganz abgesehen von derHorazischen satire, schon im zusammen-
hange mit dem deutschen unterriebt in prima, welcher Schillers ab-
han dlimg über naive und sentimentalische dichtung doch nicht ent-
behren kann, die lectüre des einen und andern Lucianschen Stückes
erwünscht wäre, jedenfalls möchte ich seinen 'träum' einmal um
seiner Wertschätzung der wissenschaftlichen bildung halber, sodann
auch als den ausdruck der echt griechischen anschauung von dem un-
wert der handarbeit, endlich aus einem formalen gründe, nemlich weil
derselbe eine parallele zu des Prodicus allegor ie (Mem. II 1) bildet,
für die schule nicht missen, im übrigen liesze sich Lucian wohl ein
bescheidenes plätzchen, etwa am schlusz des obersecundapensums,
ohne Schwierigkeit einräumen.
Es waren didaktische zwecke allgemeiner art, nach denen wir
unter den griechischen Schriftstellern unsere auswahl für den unter-
• rieht trafen : dieselbe deckt sich im ganzen mit der durch eine lange
praxis des humanistischen gymnasiums bewährt gefundenen, die
hauptarbeit freilich bleibt noch zu thun, nemlich die Verteilung der
Schriftwerke auf die einzelnen classenpensen in stetem hinblick auf
den gesamten Unterrichtsstoff der anstalt unter dem gesichtspunkt
der concentration desselben, dafür ist eine genaue Untersuchung des
didaktischen wertes derselben unabweisliche bedingung. wir berück-
sichtigen im folgenden die anordnung des leetürestoffes, nur soweit
dieselbe der von uns zu untersuchenden schrift einen bestimmten
platz zuweist, bzw. sichert; auch können wir uns nur auf andeutun-
gen beschränken. Uber Xenophons Anabasis als lesestoff für den an-
fangbunterricht, d. h. für obertertia in parallele mit Caesars bellum
Gallicum herscht allgemeine Übereinstimmung, zwei bücher können
in dieser classe bequem bewältigt werden, so dasz dann ein durch-
blick durch das ganze mit lesung der wichtigsten partien der übrigen
bücher der untersecunda verbleibt, in welcher das interesse für diesen
Stoff auch durch die geschichtlichen Studien bedingt erscheint, ein
-eme-ter genügt für den abschlusz der Anabasislectüre; welcher lese-
stoff dem zweiten halbjahre zuzuweisen ist, dies hängt von der ent-
N. jnhrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1891 hfl. 7. 22
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338 Der didaktische wert des Xenopbontischen Agesilaus.
Scheidung einer andern frage ab , nemlich der nach der lectüre der
obersecunda. wäre der griechische grammatische Unterricht jetzt
nicht auf V/2 jähre zusammengedrängt, so würde ich schwanken, ob
ich nicht die lectüre des Herodot in die untersecunda verlegen sollte,
unter den heutigen Verhältnissen jedoch dürfte eine so frühe be-
schäftigung mit dem ionischen dialekt die grammatische Sicherheit
gefährden, auch wüste ich nicht , welche lectüre im anschlusz an
den geschichtlichen Unterricht der vorigen classe für die obersecun-
daner geeigneter sein sollte als die darstellung der Perserkriege durch
Herodot. schon Nägelsbach weist in seiner gymnasial pädagogik*
darauf hin , dasz diese lectüre ein schnelleres tempo nötig hat, auch
ein grund für ihre Verlegung nach obersecunda. so wird für das
erste semester dieser classe Herodot von uns in aussieht genommen,
für das zweite ist kaum eine lectüre fruchtbarer als die der Memo-
rabilien, besonders in hinblick auf die spätere Platonische, über
den hohen didaktischen wert dieses buches ist eine auseinandersetzung
an dieser stelle nicht am platze7, später werden eine reihe bemer-
kungen auch über die Memorabilien folgen, mit rücksicht auf ihre
lectüre in obersecunda erscheint es angezeigt, in untersecunda
als Vorbereitung auf sie die Cyropädie in aus wähl zu lesen,
dasjenige werk Xenophons, in welchem die Sokratischen ideen
am gemeinverständlichsten vorgetragen werden, und welches auch
aus andern gründen , die unten zu entwickeln sind, gerade in dieser
classe am besten platz findet, auch gewährleistet seine lectüre
für den fall, dasz in obersecunda die wähl auf den geschichtlichen
stoff der Hellenika und der politischen Lysiasreden fallen sollte,
die Vorbereitung späterer Platonischer Studien, indem wir, als
unserm thema fernstehend, die primalectüre nicht weiter prüfen,
sondern für unsern zweck nur das eine hervorheben wollen, dasz
Plato ein breiterer räum zu verstatten ist, verfolgen wir den ge-
danken der lectüre der Cyropädie in untersecunda und
der Memorabilien in obersecunda weiter und suchen den
wünsch zu begründen, dasz zwischen beide in letzterer
classe der Agesilaus desselben Verfassers eingeschoben
werde.
Bevor wir uns einer erörterung der didaktischen Verwendbar-
keit der in rede stehenden Schriftwerke zuwenden , hören wir erst
fremde stimmen, die uns zwar der eignen Untersuchung nicht
überheben können, aber doch nach der einen und andern seite ge-
wis höchst beachtenswert sein dürften.
Die reformatoren betonten neben dem neuen testament ganz
besonders die Cyropädie9 wegen ihrer lehrhaften tendenz. ebenso
• s. 142.
7 es sei verwiesen auf den höchst beachtenswerten aufsatz E. "Weissen-
borns 'Xenophons Memorabilien als schullectüre» im osterprogramm von
Mühlhausen i. Th. 1886.
6 vgl. F. A. Eckstein a. a. o. s. 417.
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Der didaktische wert des XenophontiBchen Agesilaue. 339
werden in der sächsischen Schulordnung vom jähre 1773 Xenophons
Cyropädie, die Memorabilien, auch der Oeconomicus und der Age-
silaus für die zweite classe festgesetzt.9 von dem letzteren verlautet
später wenig.
F. A. Eckstein10 erkennt an der Cyropädie zwar an, dasz 'die
lebendige Schilderung der persischen sitten, das überall durchschim-
mernde geschick, das morgenländische mit dem griechischen zu ver-
schmelzen, besonders alles, was im ersten buche erzählt wird, den
schüler reize', dasz auch in andern btichern gewis prächtige stellen
sind, wie die erzählung von der Panthea und dem Abradatas (VH 3)
und das schöne bild eines sterbenden weisen, des Kyros (VIII 7),
schlieft indes sein urteil dabin ab : 'aber diese einzelnen partien
nötigen nicht zu der lectüre , die nur unerquicklich sein kann', die
Memorabilien empfiehlt er besonders in auswahl zu lesen (er schlägt
▼or I 1. 2. II 4. 5. 6. 10. I 4. IV 3), doch neigt er mehr für den
idealen Sokrates des Plato. um Ecksteins ansieht Uber die Helle-
nika auch zu erwähnen, so schreibt er11: 'der stoff ist reichhaltig,
bietet aber für die jugend nicht genug interesse. das ganze ist lang-
weilig, wenn auch nicht zu leugnen, dasz lohnende partien darin
sind, wie die Arginusenschlacht und der feldhermprocess , die er-
zählung von dem falle Athens, das aufkommen Thebens und die
schlacht bei Leuktra.' noch weniger endlich empfiehlt er die vier
kleinen Schriften des Xenophon, im besondern die 'lobschrift auf
Agesilaus', 'die noch dazu wahrscheinlich das machwerk eines spä-
teren rhetors oder sophisten , sicherlich aber , wenn von Xenophon,
stark interpoliert ist'.
Nägelsbach 11 nennt von den Xenophontischen Schriften die
Anabasis, die Hellenika 'oder allenfalls die Cyropädie' als lesenswert.
6. Rad tke 13 schlägt für untersecunda einen Wechsel von Helle-
nika und Cyropädie vor, für obersecunda die lectüre des Herodot
und der Memorabilien , letztere zur Vorbereitung auf Plato.
C. von Oppens14 urteil lautet dahin: 'die Cyropädie halte ich
gleichfalls für sehr anziehend und wohl geeignet die jugendliche
Phantasie mit den schönsten bildern zu erfüllen und daran eine
dauernde erinnerung hervorzurufen, die classe, welcher sie seit Ver-
legung des beginns des griechischen Unterrichts von quarta nach
tertia zuzuweisen wäre, würde die obersecunda sein, indessen hier
verdienen doch die Memorabilien den vorzug wegen des kostbaren,
das ganze werk durchziehenden hu mors und wegen der dadurch dem
schüler zu teil werdenden Vorbereitung auf Piaton. deshalb, und
• ebd. s. 419.
10 a. a. o. B. 428.
" a. a. o. 8. 429.
19 gyranaaialpädagogik' s. 142.
ts der griechische Unterricht auf dem deutschen gyranasium. eine
pädagogisch-didaktische Studie. Pless 1874.
14 in der 8. 16 genannten schrift 8. 26.
22*
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340 Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus.
weil die lectüre von zwei Schriften des Xenophon in einer classe
neben dem Herodot dem streben nach Vertiefung widerspricht, lasse
man die Cyropädie für secunda lieber fallen (während cursorische
lectüre derselben für prima empfohlen wird). — Xenophons grie-
chische geschiente macht den eindruck einer epitome und bietet,
abgesehen von einigen berlicben darstellungen, wie Athen nach der
schlacht bei Ägospotamoi, das ende des Theramenes und etwa noch
die befreiung Thebens von der spartanischen besatzung, nur geringe
anziehungskraft.'
0. Altenburg'5 weist in seinem lebrplan nach der beendi-
gung der Anabasis Xenophons Cyropädie 'nach festzustellendem
leseplan' der untersecunda, dem sommersemester der obersecunda
auszer Herodot noch Xenophons Agesilaus und dem Wintersemester
entweder (philosophische lectüre) Xenophons Memorabilien (nach
leseplan' oder (rhetorische lectüre) Lysias in Agoratum und Era-
t08thenem parallel mit Xen. Hell. II zu.
In H. Schillers 'bandbuch der praktischen pädagogik für
höhere lehranstalten ' finden die Memorabilien und der Agesilaas
überhaupt nicht erwähnung, auch wird der didaktische wert der Cyro-
pädie angezweifelt: 'für die Cyropädie läszt sich ja manches geltend
machen, und Verknüpfungen sind in alter und neuer zeit zu finden;
ob die schrift aber den Schülern wirklich so viel interesse erweckt, als
begeisterte Verehrer derselben oft behaupten, ist mehr als fraglich.,
an einer andern stelle ,<r hatte derselbe für untersecunda neben der
Anabasis 'zwei bücher der Hellenika oder Memorabilien' vorge-
schlagen.
Zum schlusz erwähnen wir noch Bäumlein (-Schmid) in
Schmids encyclopädie'7: 'als muster gefälliger und leichter
attischer prosa bietet sich die Anabasis oder die Cyropädie (oder auch
die griechische geschiente) von Xenophon gleichsam von selbst dar
zur ersten lectüre vollständiger griechischer Schriften', sowie mehrere
directorenversammlungen. so läszt in der zehnten preuszi-
schen directorenversammlung der referent (Carnuth - Danzig) die
Hellenika als lectüre fallen, während er warm für die Memorabilien
eintritt; sein Standpunkt wird vom correferenten und von der con-
ferenz geteilt, der referent der zweiten rheinischen directoren-
versammlung entscheidet sich für die Memorabilien in obersecunda,
der correferent fügt sehr entschieden die Cyropädie hinzu, endlich
empfiehlt der referent der neunten pommerseben directorenversamm-
lung (Muff-Stettin) unter Zustimmung des correferenten neben der
lectüre der Hellenika, die er für sehr lesenswert im zusammenbange
mit der griechischen geschieh te in untersecunda hält, auch die Cyro-
pädie nachdrücklich ('ref. kann bezeugen, dasz die schrift unter-
O. ». \J.
16 fdas griechische im gymnasium», pädagog. zeitfragen I (1875)
s. 34.
17 III s. 82.
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Beiträge zur hebräischen grammatik und metrik. 341
secundanern sehr lieb gewesen ist' indem er besonders hervorhebt
die abschnitte I 1—4. II 1—4. III 1. VII 2. 3. 7. die Memorabilien
wünscht er für obersecunda: 'Xenophon geht passend vor Plato her;
jener bietet die solide, historische grundlage, auf die sich dann die
geistvolle speculation Piatos vortrefflich aufbaut.' ,9
« «. 803.
» 8. 311.
(fortsetzung folgt.)
Ohlau. Paul Dörwald.
31.
BEITRÄGE ZUR HEBRÄISCHEN GRAMMATIK
UND METRIK. 1
Über den gebrauch des artikels in der rhythmischen
poesie der Hebräer.
L
Die nachfolgende Untersuchung über den gebrauch des artikels
in der hebräischen poesie zieht zunächst nur diejenigen stellen in
betracht, in welchen der artikel im consonantischen text durch n
erkennbar ist. diejenigen stellen aber, in welchen der artikel nur
durch die vocale der praefiza 3 , z . b angedeutet wird , bleiben zu-
nächst unberücksichtigt, weil diese auf rechnung der spätem puncta-
toren kommen, welche, wie wir sehen werden, in beziehung auf den
artikel keinen unterschied zwischen poesie und prosa machten.
Geht man also zunächst vom consonantisch erkennbaren artikel
aus, so läszt sich schon statistisch nachweisen, dasz dieser in der
poesie wenig gebräuchlich war, und dasz das fortlassen des artikels
eine eigentümlichkeit der poetischen spräche ausmacht, wie ja in be-
ziehung auf die ältere griechische und deutsche poesie dieselbe beob-
achtung gemacht worden ist. gewisse altertümliche, meist nur in der
poesie vorkommende Wörter nehmen überhaupt niemals den artikel
an.* unter den 150 Psalmen kommt kein artikel vor: in Ps. 4. 5.
6. 7. 15. 16. 17. 23. 26. 27. 30. 37. 39. 41. 43. 44. 53. 55. 60.
(62.) 64. 67. 69. 70. 75. 76. 84. 90. 91. 92. 93. 101. 109. 110.
III. 112. 120. 131. 132. 138. 139. 140. 141. 143. 144, in summa
in 44 Psalmen, hierzu kommen noch diejenigen Psalmen, in denen
der artikel nur in gewissen stereotypen ausdrücken, welche über-
1 vgl. jahrgang 1887 e. 609—616.
* unter den in Gesenius- Kautzsch gramm. (25e aufl.) § 125, 2 anm. 1
schluaznote 1 aufgezählten fehlt Ü^pn© und einige andere, wie wir am
Schlüsse der abhandlang sehen werden.
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342 Beiträge zur hebräischen grammatik und metrik.
haupt, wie wir sehen werden, für eine bestimmte bedeutung niemals
ohne artikel vorkommen, gebraucht wird, als DV>tt in der bedeutung
'heute', O'frrrbs 'fortwährend, beständig', ■parvbs 'überall, aller-
wärts', so in Ps'. 2. 38. 42. 47. 73. 83. 88. 100 '= 8 Psalmen, und
abgesehen von den genannten ausdrücken kommt der artikel über-
haupt nur 1 mal vor in Ps. 9. 10. 13. 14. 20. 21. 22. 28. 32. 46.
48. 50. 51. 54. 66. 58. 61. 71. 72. 74. 80. 81. 82. 86. 87. 95. 107.
117. 122. 128. 129. 134. 142. 150, also in 34 Psalmen, und sieht
man von Ps. 33. 34. 96. 104. 114. 133 ab, so findet sich in allen
übrigen Psalmen der artikel äuszerst spärlich.
Noch auffälliger erscheint der nichtgebrauch des artikels im
buche Hiob. er fehlt gänzlich in cap. 4. 6. 8. 10. 11. 13. 14.
16. 17. 18. 19. 20. 21. 24. 25. 27. 29. 32. 34. 39, in summa in
20 capiteln, also in dem gröszern teil der eigentlichen dichtung.
nur lmal kommt der artikel vor in cap. 7. 15. 23. 31. 33. 35, und
sieht man von dem mit participien verbundenen artikel ab (c. 3, 8.
14. 16. 21. 22; c. 9, 5. 6. 7; 22, 17; 30, 3. 4; 40, 19; 41, 25), wo
er eine besondere bedeutung hat, so ist er in den übrigen capiteln
durchaus selten; etwa 2 mal in c. 22. 26. 36. 40. 41; 3 mal nur in
c. 37. 38. in den proverbien kommt kein artikel vor in c. 2. 3. 4.
5 (in v. 22 wahrscheinlich eine glosse). 8. 11. 12. 13. 14. 15. 19.
21. 24. 26. 27. 28, also in 16 capiteln, der gröszern hälfte des
buches, und nur lmal in c. 1. 10. 16. 20. 29.
Auch in den Klageliedern ist der artikel selten, abgesehen von
dem stereotypen DvrrbD kommt er vor in c. 1 2 mal, in c. 2 2 mal,
in c. 3 lmal, in c. 4 3 mal (davon 2 mal in Verbindung mit parti-
cipien), in c. 5 kommt keiner vor.
In den in die prosa eingereihten dichtungen kommt kein
artikel vor: Genes. 4, 23—24; 9, 25—27. Exod. 15. Numer. 10,
35—36; 21, 18; 21,27-29; 23,7—10. 18-24; 24,4—9 (inv.3
lmal). 16—24 (v. 15 v. 3). Deutern. 32 (nur v. 1 und 2 mit
artikel), 33 (nur in v. 12 und 22). Iudic. 5 (nur in v. 9. 16. 20.
28. 31). I Sam. 2, 1 — 10 ohne artikel. Habaq. c. 3 nur in v. 4.
Mag nun die eine oder andere stelle übersehen worden sein —
weil ein einzelner bei der menge der zu vergleichenden stellen eine
absolute Vollständigkeit nicht verbürgen kann — so würde dieses
durchaus nichts an den resultaten des ganzen ändern , und darf als
feststehend angenommen werden, dasz der nichtgebrauch der artikels
eine eigentümlichkeit der poetischen ausdrucksweise ausmache, es
entsteht nun die frage, aus welchem gründe trotzdem der artikel
in vielen stellen noch vorkommt , und zwar nicht blosz in verschie-
denen dichtungen, so dasz dieses mit der eigenart des Zeitalters oder
des dicbters erklärt werden könnte, sondern in einer und derselben
dichtung, ja in einem und demselben verse wird der artikel ge-
braucht und ausgelassen, es kommt dieser Wechsel sogar bei einem
und demselben worte vor. so steht z. b. in Ps. 29, 3 im ersten
gliede ü^nti und im letzten D*»73 b*; in v. 6 lautet das schlusz-
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Beiträge zur hebräischen grammatik und metrik. 343
wort pabtt und gleich darauf in v. 6 piab ohne artikel. in Ps.
57, 9 bn5H rm* stehen zwei nomina neben einander, das erste
mit dem artikel, das zweite ohne denselben ; in demselben Ps. v. 12
fehlt der artikel im ersten gliede D"*»© b*, dagegen tritt er im
zweiten ein y^arsbs b* und ebenso 108,6, während doch sonst, wie
wir sehen werden und es auch selbstverständlich ist, eine gleichmäszig-
keit in den parallelen ausdrücken erstrebt wird, dieselbe ungleich-
mäszigkeit im gebrauch des artikels tritt uns auch in vielen andern
versen entgegen, z. b. Ps. 95,5 nwm^n; 103,11 yiNn b* o^ntt;
121, 6 nvrttttiöiT; 130, 7 nrnD-ionn; Job. 3,3 rrb^birrov hk\
in Ps. 46, 3. 7 hat das wort y^N keinen artikel , dagegen in v. 10
f*ÄSl nsp, in Habaq. 3,4 y-ifctn n«b73 und in v. 6. 7. 12 y^N ohne
artikel; in Hiob 37, 3 und 38, 13 y^KS-i, dagegen in v. 6. 17 j 38, 4.
18. 24. 26 ohne artikel. dieses sind keine vereinzelten beispiele,
sondern sie treten , wie wir noch sehen werden , uns oft entgegen,
wie soll man sich divse erscheinung erklären ?
In einem gymnasial program m (Breslau, St. Elisabeth-gymn.
1875) bat gymnasialleb rer Suckow in einer abhandlung 'den gebrauch
des artikels in den Psalmen' betreffend, denselben grammatisch zu er-
klären versucht, indem er demselben die ursprüngliche bedeutung
eines pronomen demonstrativum beilegt, in einigen stellen könnte
diese erklärung zulässig erscheinen, in den meisten fallen ist sie, wie
wir gleich sehen werden, künstlich und unwahrscheinlich, dabei bleibt
noch immer eine grosze zahl von nomina mit artikel übrig, die trotz
aller künstelei keine erklärung finden, und ebenso bleibt die incon-
sequenz im gebrauch des artikels bei demselben worte und in der-
selben dichtung unerklärt, für die lösung dieser frage muste über-
haupt die ganze sogenannte rhythmische poesie in den kreis der
betrachtung gezogen werden, während Suckow sich nur auf die
Psalmen beschränkt und auch in diesen viele maszgebende erschei-
nungen übersehen hat. umgekehrt hat S. auch die Überschriften
und die doxologiscben Schlüsse der einzelnen Psalmenbücher herbei-
gezogen, welche offenbar als eine prosaische schluszformel in einer
weit spätem zeit hinzugefügt worden sind; vgl. Suckow s. 8. 4;
^. 11 z. 11; s. 13 schlusz; s. 17, 2 unten.
Einige beispiele für die unhaltbarkeit von Suckows erklärungen
werden genügen, so erklärt er (s. 9) gleich in Ps. 1, 4 D^tt5"in den
artikel als demonstrativum , 'der artikel bezieht sich auf die frevler
r. — Abgesehen davon, dasz in v. 1 neben D^Nün und
E'a": steht und in den beiden zunächst vorangehenden versen nicht
von den 'gottlosen', sondern von den 'frommen' die rede ist, so
fragt man, warum nicht auch in v. 5 und 6 dieselben rr:* den
Artikel haben, und warum nicht auch die ö^TS in v. 5 und 6
wenigstens einmal den artikel erhalten, in Ps. 3, 9 bezieht S. (s. 9)
'fWWM auf v. 3: viele sprechen zu (sie) meiner seele: keine hilfe
für ihn bei gott (der sinn ist: jene hilfe, die mir nach der behaup-
tung meiner feinde von gott nicht zu teil werden wird, wird Jhvh
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344 Beitrage zur hebräischen grammatik und metrik.
mir senden)', man braucht blosz die nachfolgende parallele vers-
hälfte zu lesen , um die unbaltbarkeit dieser erklfirung zu erkennen,
und wer wird überhaupt eine znrück bezieh ung auf ein wort, das
sechs verse entfernt steht, glauben?!
Suckow geht aber hierin noch weiter, auf derselben s. 9 sagt
er : fes ist aber nicht nötig, dasz das substantivum . . . wirklich vor-
her genannt sei; die blosze andeutung desselben genügt.' auch
hierbei gentigt es, nur einige von S. gegebenen beispiele anzu-
führen, um deren unhaltbarkeit zu ersehen. 8. 9 sagt er: Ts. 54, 7
meint der dichter mit 3>*iM jenes böse, welches (nach v. 5) seine
feinde ihm zufügen wollen.' (Ps. 58, 1 1 weist der artikel vor rc-,
das hier collectiv steht, zurück auf die ungerechten richter, von
denen v. 2 — 10 die rede ist.' 'Ps. 74, 13 scheint der artikel in
D^n auf Dt zurückzugehen (sie), sofern «meer» den begriff «wasser»
in sich enthalt'! 'Ps. 115, 17 sind unter OTttii (die toten) die
v. 4 — 8 erwähnten götzenbilder, deren verfertiger und die, welche
auf sie vertrauen, zu verstehen.' wie jedoch im nachfolgenden balb-
verse die riETT "»YV zu verstehen sind, darüber spricht sich Suckow
nicht aus. auch die andern von S. daselbst angeführten beispiele
sind nicht viel anders , und dasz eine solche erklärung des artikels
verfehlt ist, bedarf wohl keiner weiteren darlegung.
Auch die regeln, welche S. in beziehung auf den gebrauch des
artikels für bestimmte häufig vorkommende nomina als pn», triQO,
aufstellt, treffen nur teilweise zu, oder sind überhaupt so schwan-
kend, dasz sie als regeln gar nicht gelten können, das ist z. b. keine
regel, wenn er (s. 11 unten) sagt: 'ist aber mit "pK die erde im
gegensatz zum himmel oder zum meer gemeint, so steht es teils
mit, teils ohne artikel.' oder (s. 12 z. 10): 'steht yi« für sich
allein als subject oder object des satzes , so findet es sich im ganzen
mehr mit als ohne den artikel.' wenn er (s. 11. 2) über y^m die
regel aufstellt: 'wo es erdboden, land oder bestimmtes land bedeutet,
meidet es den artikel', so ist nicht blosz Ps. 106, 38 y^arr tprvfl
dagegen, sondern auch Ps. 61, 3; 65, 10; 74, 12; 82, 8; 105, 16,
in welchen nach dem zusammenhange pnan sich auf Palästina
bezieht. 1
a da Suckows statistisches material über V"ifct höchst lückenhaft
ist, so dürfte nachfolgende ergänzung nicht unangemessen sein. y~.S
ohne artikel kommt in folgenden stellen vor: Ps. 2, 2. 10; 22, 28. SO;
28, 13; 36, 20; 37, 3. 9. 11. 22. 29. 34 ; 44, 4; 46, 3. 7; 47, 10; 48,11;
50, 1; 60, 4; 65, 6; 67, 7. 8; 68, 9 (Judic. 5, 4); 69, 85; 72, 6. 8;
74, 17. 20; 76, 4. 9; 76, 9. 10. 13; 79, 2; 80, 10; 81, 6; 82, 5; 89, 12. 28;
90, 2; 96, 4; 98, 3; 101, 6. 8; 102, 20; 104, 5; 105, 11 ; 106. 17; 107, 34;
HO, 6; 114, 7; 119, 90. 119; 188, 4; 139, 15; 147, 6. 15; 148, 11. 13;
stets ohne artikel in der Verbindung -pH} D"<tt» tt«* 116, 16; 121, 2;
124,5; 134,8; 146,6. ferner: Job 12, 15; 14,19; 16,18; 18,4. 17; 20,4.
27; 24, 4; 26, 7; 28, 5; 35, 11; 37, 6. 16; 38, 4, 18. 24. 26; 39, 24;
ferner: Proverb. 2, 21. 22; 8, 19; 8, 23. 26. 29; 10, 30; 26, 3; 28, 2;
29, 4; 30, 4. 16. 21. 24; 31, 23; ferner: Exod. 16, 12; Denten».
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Beiträge zur hebräischen grammatik und metrik.
345
Ebenso schwankend und unzuverlässig, weil die Zusammenstel-
lung des statistischen materials fehlt, ist 8uckows regel tiberD*»»«
(8. 12 mitte): fim ganzen etwas seltener als bei yiK findet sich der
artikel bei D*»».'
Wir geben zunächst das statistische material. ohne artikel
kommt traft vor: Ps. 8, 9; 18,10; 33,6; 60,6; 57,11. 12; 69,35;
78, 23. 24; 89, 3. 6. 12. 30; 96, 5; 102, 26; 103, 11; 104, 2;
105, 40; 107, 26; 108, 5. 6; 115, 15. 16; 121, 2; 124, 8; 134, 3;
139, 8; 146, 6; 147, 8; 148, 13, also in 30 stellen; dagegen mit
artikel: Ps. 8, 1 ; 19, 2. 7 ; 50, 4; 57, 6 (wahrscheinlich ohne artikel;
vgl. unten); 79, 2; 96, 11; 97, 6; 104, 12; 113,4; 115, 16;
136, 26; 148, 1. 4, also in 13 stellen, in den übrigen poetischen
büchern kommt O^nv ohne artikel vor in : Hiob9,8; 11,8; 14,12;
15, 15; 20, 27; 22, 12. 14; 26, 11. 13; 35, 5. 29; 38, 29. 33. 37;
ferner: Proverb. 3, 9; 8, 27; 25, 3; 30, 4; Habaq. 3, 2; Genes.
14, 19. 22; 49, 25; Deutern. 32, 9 (dagegen mit artikel v. 1).
Die regel endlich, welche S. Uber den artikel vor Dt (s. 12 unten)
gibt, musz als ganz verfehlt bezeichnet werden: 'wenn oV, sagt er,
'das meer im allgemeinen, die «Sammlung der wasser» im gegensatz
zum trocknen, bedeutet, so hat es stets den artikel, zb. Ps. 8, 9;
33, 7; 78, 53; 89, 10; 95, 5; 96, 11; 98, 7; 104, 25; 107, 23;
146,6.' gegen diese regel sprechen zahlreiche stellen, wie Ps. 65, 6;
68, 23; 93, 4; 139, 9 und ganz besonders Job. 9, 8; 11, 9; 14, 11;
38, 8. 16; 41, 23; Proverb. 23, 34; 30, 19 u. a. wenn S. ferner
die regel aufstellt (s. 13 oben): 'bezeichnet dagegen ein be-
stimmtes meer, so unterbleibt der artikel, auszer wenn ihm eine
ganz besondere demonstration inne wohnt', so musz eine solche
demonstrative bedeutung des artikels in Ps. 114, 3. 5 sehr zweifel-
haft, und in Ps. 78, 53 ganz unwahrscheinlich erscheinen.
Suckow selbst musz zugeben, dasz seiner erklärung des artikels
als eines demonstrativum entgegen 'nicht selten gattungsnamen ohne
den artikel gefundon werden', welche ihn nach seinen aufgestellten
regeln haben müsten (s. 14 unten), seine künstlichen erklärungen
reichen also nach seinem eignen geständnis nicht aus, der weit
gröszere teil bleibt unerklärt, und am wenigsten wird nach den-
selben die Willkür erklärlich, dasz ein und dasselbe wort in derselben
32, 13. 22; 33, 16. 17. 28; Judic. 5, 4; I Sam. 2, 8. 10. dagegen mit
artikel ^"Nn stets nach "Vd, anf welches wir später zurückkommen;
auazerdem Ps. 18, 8; 24, 1; 88, 6. 14; 46, 10; 50, 4; 69, 14; 61, 8: 63, 10;
66, 10? 68, 33 ; 71, 20; 72, 16; 74, 12; 77, 19; 82, 8; 94, 2; 96, 11. 13;
97, 1. 4; 98, 9; 99, 1; 102, 16; 103, 11; 104, 9. 13; 105, 16; 106, 38;
119, 64; 136, 7; 136, 6. ferner: Hiob 5, 21. 25; 12, 24; 15, 19; 22, 8;
Äi 24; 87, 3; 38, 13; ferner: Genes. 49, 15; Deutern. 32, 1; II Sam.
22, 8; I Chron. 16, 31. 33. auch bei diesem worte, trotz dem so häu-
figen gebrauch desselben in der prosa mit artikel, ist die auslassung
des artikels in der poesie bei weitem häufiger, in ungefähr 100 stellen,
als die Setzung desselben, in ungefähr 45 stellen; eine Classification
dieser stellen kann erst später erfolgen.
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I
346 Beitrage zur hebräischen grammatik und metrik.
dichtung bald mit dem artikel, bald ohne artikel gebraucht wird,
und dasz gewisse ausdrücke stets mit dem artikel und andere stets
ohne artikel gebraucht werden.
Übrigens kann darüber gar kein zweifei sein, dasz in vielen
stellen der artikel nicht nur grammatisch erklärlich, sondern geradezu
notwendig ist. dieses ist besonders der fall, wenn durch voransetzung
des artikels das wort erst seine bestimmte bedeutung erhält, wie in
den bereits erwähnten D"Pn 'heute', BVirbD 'fortwährend', fnKrrbD
'allerwärts', welche zu adverbiellen ausdrücken geworden sind ; ferner
werden wir den artikel oft zur Unterscheidung von subject und prft-
dicat als notwendig kennen lernen ; auch ist bereits in der grammatik
erwähnt und von Suckow (s. 7 — 8) weiter ausgeführt, dasz oft die
participia mit artikel die stelle eines relativsatzes vertreten, alle
diese fälle werden wir mit den statistischen belegen ausführen, und
dennoch wird sich zeigen, dasz eine weit gröszere zahl von fallen
übrig bleibt, in welchen diese erklärung für die Setzung des artikels
nicht ausreicht.
II.
Viel einfacher lassen sich die vielen unregelmäszigkeiten und
Widersprüche im gebrauch des artikels erklären, wenn in den be-
treffenden stellen das bedürfnis des rbythmus und des metrums in
betracht gezogen wird.
a) Wer auch nicht meinem Systeme der metrik beistimmt, wird
doch zugeben müssen, dasz einen gewissen rbythmus die hebräischen
verse gehabt haben müssen, weil ohne einen gewissen rbythmus es
keine verse gibt und solche auch gar nicht denkbar sind, wie auch
dieser rhythmus beschaffen war, so musz doch jedenfalls ein heben
und senken der stimme — im regelmäszigen oder unregelmäszigen
Wechsel — vorausgesetzt werden, nun tritt fast in den meisten
stellen, in denen gegen den poetischen Sprachgebrauch der artikel
gesetzt ist, der fall ein, dasz nach massorethischer lesart zwei ton-
silben, also hebungen unmittelbar auf einander folgen und nur durch
die silbe, welche der artikel selbst bildet, getrennt werden, es liegt
also die Vermutung nahe , dasz, um die aufeinanderfolge zweier ton-
silben oder hebungen zu vermeiden, der artikel als tonlose Senkung
dazwischen eingefügt werden muste. diese Vermutung erhält gerade
ihre volle bestätigung in der inconsequenz im setzen des artikels
und in Vermeidung desselben, denn im allgemeinen darf es nach
obiger auseinandersetzung als feststehend angesehen werden, dasz
die Vermeidung des artikels zum poetischen Sprachgebrauch gehöre,
und dasz derselbe ohne besondern grund nicht gesetzt werde, es
ist also ganz natürlich, dasz, wenn das bedürfnis des metrums
an der betreffenden stelle eine unbetonte silbe als thesis erfordert,
der artikel zu diesem zwecke gesetzt werde, wo aber dieses be-
dürfnis fortfällt, bleibt auch der artikel fort, dieses läszt sich
fast mathematisch an den beispielen beweisen, und wir können zu
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Beitrage zur hebräischen gramraatik und metrik.
347
diesem zwecke gleich mit dem ersten verse des ersten Psalms be-
ginnen.
In ttFNit '»'TO« kann der artikel des zweiten Wortes keinen an-
dern zweck haben, als eine thesis zwischen den beiden auf einander
folgenden tonsilben zu bilden, dieses ersieht man daraus, dasz auf
■*-rtDN stets der artikel folgt, wenn das betreffende nomen auf der
ersten silbe den ton hat, oder überhaupt einsilbig ist, als: orrr ^ttfit
Ps. 89, 16; 144, 15. ■»«pn -"TO« Ps. 33, 12. 13p -»^D« Ps. 34, 9;
40, 5; 94, 12; 127, 8. dagegen unterbleibt der artikel, wenn das
anf "»TO« folgende wort nicht auf der ersten silbe betont ist, als
DT« -nWK Ps. 32, 2; 84, 6; Prov. 3, 13; 8, 34; 28, 14; ebenso
Ps. 41, 2; 84, 5; 106, 3; 119, 1. 2; Job. 5, 17; Prov. 29, 7; Jes.
56, 2. vgl. Ps. 65, 5; 137, 8. 9; 146, 5. in allen diesen stellen
bleibt **TO« betont, aber es folgt auch stets eine unbetonte silbe
alt thesis.
An einer stelle folgt auf ^niDN ein einsilbiges nomen mit ton-
silbe ohne artikel Ps. 112, 1:
aber gerade durch auslassung des artikels können die beiden ersten
-worte nur mit einer tonsilbe gelesen werden (vgl. grundzüge der
metrik s. 37 — 38. leitfaden der metrik s. 7. 9), so dasz nicht nur
beide halbverse in gleicher weise drei tonsilben zählen, sondern auch
das erste metrum des ersten halbverses dem ersten des zweiten in
der silbenzahl symmetrisch entspricht, worauf ein besonderes ge-
wicht gelegt wird (vgl. leitfaden s. 10 anm.). umgekehrt behält
i*fl9H den ton Ps. 32, 1 :
t-wan «JOD 3TOEpTO3 ^lö«
weil das nachfolgende wort nicht betont werden konnte, weil auf
dieses wieder eine tonsilbe folgte, wodurch die beiden abschnitte des
verses wiederum symmetrisch sich gestalten.
Dasz der artikel in den oben genannten beispielen weder durch
das pronomen relativum, wie in Ps. 1, 1; 33, 12; 40, 5; 94, 12,
oder durch den relativen satz, wie in Ps. 34, 9, bedingt wird, er-
sieht man an stellen wie Ps. 89, 16; 84, (5). 6 und in der verglei-
chung von Ps. 32, 2 (leitfaden s. 21):
TP ib-rnrr n«jrr-wb d-j«
undPs. 34, 9:
13 norr hsti •'To«
(hiernach leitfaden s. 23 zu verbessern) ; in beiden sätzen folgt auf
**HDN ein relativsatz, aber in beziehung auf den artikel sind sie ver-
schieden, weil den ton auf der ersten silbe hat, dagegen DI«
auf der zweiten.
Mit der annähme, dasz der artikel als thesis zwischen zwei auf
einander folgenden tonsilben gesetzt wird , erhalten sehr zahlreiche
stellen die erklärung für die Setzung des artikels, als: Ps. 1, 1 ; 13,4
18, 8; 24, 1; 33, 5. 7. 12. 14. 17; 34, 9. 13; 40, 5; 45, 6. 12
49,10. 18; 54,7; 57,9; 59,14; 61,3; 63, 10; 65, 14; 68,33; 71,20
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348 Beiträge zur hebräischen grammatik und metrik.
72, 16; 77, 15. 19; 78, 53; 82, 8; 85, 9. 13; 89, 10; 94, 2. 12;
95, 5; 96, 11. 13; 98, 7. 9; 102, 16. 26; 104, 9. 13. 22. 25;
107, 23; 108, 3; 114, 5. 8; 118, 26; 119, 64; 121, 6 a (vgl. ß);
125, 3 a. 5; 126,6; 127,5; 130,7; 135,7; 136,6; 144,15;
145, 1; 146, 4; 147,10. Job 5,22; 15, 19; 22,8; 26,12; 28,24a;
36, 20. 30; 38, 13. Pro?. 1, 17; 7, 20; 17, 8. 14; 20, 1; 29, 2 a
(vgl. ß); 30, 19; 31, 13. Thren. 1, 1 (vgl. 2, 12); 3, 38; 4, 1 ß
(vgl. a). Deutern. 32, 1 ß. Judic. 5, 31. hiermit ist nicht blosz der
grund für das setzen des artikels in den genannten stellen gegeben,
sondern die inconsequenz im gebrauch des artikels in den betreffen*
den dichtungen ist, wie schon oben bemerkt, zugleich erklärt.
Hiermit soll jedoch keineswegs gesagt sein, dasz in allen ge-
nannten stellen der artikel des rhythmus wegen stehen muste.
denn wenn von den beiden zusammentreffenden tonsilben die erstere
durch vocal gedehnt und zugleich durch einen consonanten ge-
schlossen ist, so bedurfte es gerade nicht, wenigstens nach dem bei-
spiele vieler dichter, einer thesis zwischen denselben (vgl. grundzüge
s. 33 anm. 2. leitfaden s. 6), und manche dichter haben consequenter-
weise in diesem falle den artikel vermieden, wie in Ps. 19, 2. 6;
46, 3. 6 u. a., allein da unzweifelhaft durch einfügung des artikels
der rhythmus und wohllaut nur gewinnt, so erscheint es natürlich,
dasz viele dichter von diesem hilfsmittel des rhythmus gebrauch ge-
macht haben.
Anderseits wird in zahlreichen stellen die auslassung des artikels
ebenfalls wegen des metrums geradezu notwendig, um das auf einen
vocal ausgehende wort tonlos zu machen , so dasz es mit dem nach-
folgenden worte nur mit einer tonsilbe gelesen wird, wie in Ps. 2,
2. 8. 10, wo vor fix stets der artikel fehlt, so dasz dieses mit dem
vorangehenden worte nur ein metrum bilden kann, weil eine Zurück-
ziehung des accents in dem vorangehenden worte nicht möglich ist
(vgl. leitfaden s. 6 b. grundzüge s. 32 f); dagegen Ps. 59, 74 btp
Y"i«n •»ODKb ^pam und Ps. 102, 16 bin rTpT Dtpn« Dyn iep^i
^■nDDTN y^«!l "Ob» bat den artikel, weil das metrum die
betonung des vorangehenden Wortes verlangt und eine Zurück-
ziehung des tones bei demselben nicht statthaft wäre, diese beiden
stellen sind schon aus dem gründe beachtenswert, weil sonst **OcN
y-W stets ohne artikel vorkommt, als Ps. 2, 8; 22, 28; 67, 8; 72, 8;
98, 3; Prov. 30, 4; Deutern. 33, 17; I Sam. 2, 10; ebenso stets
y^N -Obn, als Ps. 2, 2; 76, 13; 89, 28; 138, 4; 147, 15. vgl.
Ps. 48, 11; 65, 6; Deutern. 32, 13. ferner Ps. 22, 30; ebenso
■pK-W» Ps. 28, 13; 37, 9. 11. 22. 29. 34; 44, 4. ebenso erklärt
sich Ps. 106, 17:
und in demselben Psalm v. 39: D^nnn pNri t]3nm, weil in v. 17
ein metrum, dagegen in v. 39 zwei metra erforderlich waren, in
gleicher weise muste in Habaq. 3, 4 p«r? tnbnm der artikel
vor yn« eintreten, weil eine Zurückziehung' des accents im voran-
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Beiträge zur hebräischen grammatik und metrik. 349
gehenden worte nicht möglich war, indem dann wieder zwei ton-
silben zusammentreffen würden , wgbrend in v. 6. 7. 12 der artikel
fortbleiben konnte, weil keine solche nötigung vorlag, hiermit sind
schon viele der oben erwähnten inconsequenzen erklärt, wie Ps. 95, 5
norn a?i-r ib; 121, 6; 130, 7 und selbst 69, 9 -n» irn*,
da der imperativ nach analogie von nzpp (Ps. 74, 22) und nyi
(Ps. 43, 1) auch auf der letzten silbe betont sein konnte1, so dasz
der artikel eben nur vor dem ersten nomen notwendig war. freilich
sind hiermit noch nicht alle stellen und inconsequenzen erklärt, da
die rücksicht auf den rhythmus und das metrum noch einen weitern
umfang hat.
b) Noch in einer andern beziehung erscheint der artikel als
hilfsmittel des metrums, nemlich in beziehung auf die partikeln.
dasz diese überhaupt nur betont werden können , wenn eine oder
mehrere unbetonte silben nachfolgen, ist in den 'grundztigen der
metrik' s. 23. 5 und Leitfaden' s. 5. 7 auseinandergesetzt worden,
wenn daher das metrum die betonung der partikeln erfordert und
das unmittelbar nachfolgende nomen auf der ersten silbe betont ist,
so muste zur betonung der partikel das nomen den artikel als tbesis
zwischen den tonsilben erhalten, in dieser beziehung wiederholt sich
hier derselbe unter a bezeichnete fall, nur mit dem unterschiede,
dasz zur betonung der partikeln in allen teilen des verses der artikel
nachfolgen musz, während bei begriffswörtern mit geschlossener silbe
nur am Schlüsse des verses der artikel notwendig ist.
Aber der gebrauch des artikels nach partikeln reicht noch weiter,
denn nicht blosz vor betonten silben tritt zur betonung der voran-
gehenden partikeln der artikel ein, sondern oft auch vor nicht be-
tonten silben. denn da die betonung der partikeln an sich sehr
schwankend ist, und diese oft auch vor unbetonten silben tonlos
bleiben, so glaubte der dichter durch dazwischenfügen des artikels
jedes schwanken zu beseitigen und die partikel damit als betont zu
bezeichnen, und in der that werden mit dieser regel nicht nur viele
inconsequenzen im gebrauche des artikels erklärt, sondern auch das
schwankende in der betonung der partikeln und die Unsicherheit im
lesen der verse vielfach beseitigt, so wird z. b. gleich Ps. 1, 4
tPJiö^n durch den artikel die betonung der vorangehenden
Partikel unzweifelhaft, ebenso Ps. 8, 2 D'qflttl b*, v. 10 yiNn bbn,
11, 2 D^iD^rr v. 3 mnian und Ps.'29, 3 musz'gelesen
werden (anders als im leitfaden s. 19):
D^a-V* rYjrr D^3pn nrpn ba ö^rt b* rnm brp
so dasz dieser vers als dekameter gelesen werden musz, und dem-
gemäsz auch der ihm symmetrische v. 9 (vgl. analyse. leitfaden
s. 50) ebenfalls (lies rnb^N) als dekameter; demnach auch Ps. 57, 12;
108, 6 :
Tpaa -pari b:rb* Wp* wnv-by rtnjn
vgl. Gesenius-Kautzsch gramm. (26e aufl.) § 72 anm. 3.
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350 Beitrage zur hebrüinchen grammatik und metrik.
wonach Ps. 56, 6 zu emendieren wäre, es sind nicht wenige stellen,
welche in bezieh ung auf den gebrauch des artikels mit dieser regel
ihre erklärung finden: Ps. 1, 4; 8, 2. 10; 11, 2. 3; 18, 31; 21, 8;
25, 12; 28, 9; 29, 3; 31, 25; 33, 8; 34, 23; 45, 17; 48, 5; 52, 9;
57, 6. 12; 59, 6; 63, 12; 74, 13; 78, 14; 83, 19; 103, 11; 108,6;
113, 4 ß (vgl. a); 115, 17; 116,11; 117, 1 ß (vgl. a); 118,20. 24;
119, 91; 124, 4; 130, 4; 137, 7; 145, 14. 20; 148,4; 150,6. Job
3, 7; 28, 24 ß; 31, 7; 37, 3; 38, 19. 24. Prov. 6, 29; 10, 26.
Thren. 1, 3. 18 (qeri); 2, 16; 4, 19. Genes. 49, 14. Judic. 5, 16.
c) In ganz ähnlicher weise dient der artikel zur betonung der
vorangehenden nomina im stat. constructus, vorzüglich wenn diese
einsilbig sind (zu denen auch die segolata gehören) oder mit offener
silbe schlieszen. nach der massorethischen accentuation werden solche
nomina meistenteils durch maqqeph mit dem nachfolgenden worte
verbunden, so dasz erstere ihren ton verlieren; vgl. grundzüge der
metrik s. 25 — 30. — Dasz auch metrisch in vielen füllen diese enge
Verbindung zweier nomina mit einer tonsilbe notwendig wird, ist
in den grundzügen a. o. und im leitfaden s. 7, 9 — 10 bemerkt wor-
den, will daher der dichter ein solches nomen im stat. constr. be-
tont haben, weil das metrum es so verlangt, so läszt er auf dasselbe
den artikel folgen, daher Ps. 29, 5 T]3nbn Vitt mit dem artikel,
während im nachfolgenden v. 6 "|133b, weil hier dieses Verhältnis
nicht vorliegt, demnach musz Ps. 33, 7:
m?ri:-tn nrianita "jns a-;n ^ i3D op
gelesen werden (anders als im leitfaden 8. 22), dagegen wie im leit-
faden v. 13 D"]«n "p und in v. 14 y-ifcp ■q»'» ; dasz Ps. 34, 9
inati gelesen werden musz, ist bereits oben bemerkt worden,
abgesehen von den bereits genannten stellen wird der stat. constr.
als betont durch den nachfolgenden artikel bezeichnet in Ps. 24, 7.
8. 9. 10; 29, 3. 5; 33, 13. 14. 17; 40, 3; 56, 14; 58, 11; 82, 7
(wahrscheinlich fälscnlich als segolatum gelesen); 87,3; 98,6;
103,15; 127,2.4; 135,20; 136,26; 142,6; 145,12; 148,4;
Job 5, 23; 28, 13; 33, 50; über D^ttn tp*, niemals ohne artikel,
vgl. unten.
d) Mit dem rhythmus hängt es ebenfalls zusammen , wenn der
artikel zu anfang des verses oder des versabschnittes vor die ton-
silbe zum auftact gesetzt wird, da, wie anderwärts ausführlich aus-
einandergesetzt worden ist (grundzüge § 4 s. 16—20), die neigung
zur aufsteigenden betonung in verschiedenster weise zu erkennen ist,
und der sogenannte vorton vocal in den präpositionen ("Tb, rfT^,
Ü^NtS U8w), in nominibus (*lSrt, TpB, "J|5T usw.), in verbalformen
(Dip^ , zb* usw.), welcher beim fortrücken des tones wieder schwindet,
auf diese neigung zur ascendenz zurückzuführen ist. 5 da es meist
einsilbige nomina oder segolata sind, so erhält deren ausspräche und
5 hiermit soll jedoch nicht ein ursprünglich kurzer a-vocal in den
betreffenden silben in abrede gestellt werden.
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Beiträge zur hebräischen grammatik und metrik. 351
betonung durch voransetzung des artikels naturgemäsz mehr gehalt;
ja oft wird die Substantivierung des Wortes hierdurch erst erkenn-
bar, so z. b. Ps. 14, 3: *iO bbn 'alles (d. h. alle menschen) ist ab-
gefallen'; dahin gehören Ps. 18, 31. 33. 48; 20, 10; 51, 6; 63, 12;
66, 9; 68, 17; 113, 6 (grundztige s. 154); 114, 3; 116, 15; 123,4;
124, 5. 7; 148, 4; Deutern. 32, 4; Judic. 5, 20; Job 3, 3 ß. 4. 6;
Prov. 26, 14.
e) Der artikel dient auch zuweilen zur symmetrischen ausglei-
chung der entsprechenden glieder in den parallelen versabschnitten,
so wird z. b. Ps. 3, 9 durch den artikel in rWTD^in dieses wort dem
parallelen worte *jn5*i3 logisch durch determination und phonetisch
durch die silbenzahl mehr symmetrisch, in Ps. 96, 11 musten "flNtt
und O^Ji wegen der vorangehenden tonsilben den artikel haben (a),
und so erhielt auch der logischen Symmetrie wegen D^tt'sn denselben,
obwohl hier keine nOtigung dazu vorlag; ebenso wie in 3, 9 ist
auch in Ps. 102 öribon — zu erklären, vielleicht auch Deutern.
32, 1 Oy WO übrigens der artikel durch den vocativ erklärt werden
könnte, ein entgegengesetztes Verhältnis, aber mit dem metrum zu-
sammenhängend, läszt sich in Ps. 114, 3 — 6 erkennen, dieser Psalm
besteht, wie selbst nach massorethischer accentuation ersieht lieb ist
(nur müste v. 1 ajjarTna und in v. 7 "piK^bin gelesen werden),
aus vier distichen von je einem hexameter und pentameter; es ist
daher wahrscheinlich, -das/ der dichter im pentameter, v. 4 und 6,
damit die erste hälfte voller als die zweite auch in der silbenzahl er-
scheine, in der ersten den artikel hinzugefügt, dagegen in der zweiten
denselben weggelassen — rnyaTÖ^rlrl — während in v. 3 und 5,
welche hexameter sind , und deren beide vershälften sich einander
entsprechen müssen, dem ü^H, dessen artikel (nach d) wegen des
auftactes nötig war, auch JTY»?1 mit artikel entspricht; vgl. Ps.
145, 20 ß; 147, 11; 148, 9, in denen ebenfalls der artikel durch
die symmetrische gliederung sich erklären läszt.
(schlusz folgt.)
Marburg an der Lahn. Julius Ley.
32.
WIE KANN MAN DEM ANFÄNGER DEN BEGRIFF DER
HAÜPTCÄSÜREN EINES HEXAMETERS KLAR MACHEN?
Auf s. 121 ff. (1890) dieser jahrbücher war eine kurze abhand-
lung 'über die definition der cäsur' zu lesen, der inhalt derselben
liesze sich kurz etwa so zusammenfassen : die schüler (zunächst der
tertia) können sich keinen rechten begriff von dem worte 'cäsur'
machen , weil ihnen in den allermeisten fällen von lehrern sowohl
wie grammatiken eine unklare definition derselben ('einschnitt') ge-
boten wird; die richtige definition ist: cäsur = pause.
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352 Zur verauschau Hebung der hauptcäeur im hexameter.
Die richtigkeit dieser ansieht wird wohl niemand bezweifeln,
damit nun der schüler um so klarer das wesen der cäsur begreife,
damit er recht naturgemäsz zum Verständnis derselben gelange,
durfte sich vielleicht folgende art der belehrung empfehlen.
Die hexameter darf man nicht hastig, ohne Unterbrechungen
oder kleine pausen (caesura — TOurj) lesen, erstens weil ein solches
einförmiges lesen auf den zuhörer einen schlechten eindruck macht,
zweitens weil es den lesenden selbst ermüdet.
Wo soll man denn die kleinen pausen machen? so lange man
im lesen der hexameter wenig Übung besitzt, thut man wohl am
bebten, wenn man hinter jedem versfusze eine pause macht; ein sol-
ches lesen nennt man scandieren. aber mit der zeit, und zwar
möglichst bald, musz man von dieser gewohnheit sich frei zu machen
suchen , und zwar deswegen, weil es bei dieser art des lesens nicht
ausbleiben kann, dasz man hier und da mitten in einem worte
eine pause macht, was doch sehr unnatürlich ist. z. b.
conscia | mens recjti fajmae men|dacia | ridet.
ganz natürlich erscheint dagegen eine pause am ende eines wortes.
soll man aber etwa hinter jedem worte eines hexameters eine pause
machen? nein, das wäre zu viel; das lesen eines hexameters ist nicht
in dem masze anstrengend , dasz man dabei so viel ausruhen müste.
wo soll man denn also eine pause machen?
Wenn man von einem orte zum anderen geht, der etwa eine
stunde vom ersteren entfernt ist, so pflegt man nicht etwa gleich
nach beginn des gehens, auch nicht erst gegen das ende, sondern
ungefähr in der mitte auszuruhen, ähnlich musz man es beim lesen
eines hexameters machen, d. b. man macht in den beiden mittleren
versfüszen , in dem dritten oder vierten , am ende des wortes eine
pause, und zwar:
1) hinter der ersten länge des dritten versfuszes,
2) hinter der ersten kürze des dritten versfuszes,
3) hinter der ersten länge des vierten versfuszes.
die erste pause nannten die früheren grammatiker: TO^f) Trev9r|Ui-
H€prjc (Tr^VT€-f||ii-u£poc) , die zweite : Touf) jucTd Tpixov Tpoxaiov,
die dntte: TOüf| £<p9r)ut^€pr|C.
Jeder hexameter ist so eingerichtet, dasz an einer der drei
stellen ein wort zu ende ist, so dasz man eine kleine pause eintreten
lassen kann, meistens sind die hexameter so gebaut, dasz pause 1
oder 3 oder beide zugleich gemacht werden können, seltener pause 2.
man nennt wohl auch die pausen 1 und 3, weil sie nach langen,
also gleichsam kräftigen endsilben erfolgen, männliche, pause 2
dagegen, weil sie nach kurzer, also gleichsam schwacher endsilbe
eintritt, eine weibliche pause.
Heiligenstadt. K. Stawioki.
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A. Weidner: Cornelii Nepotis vitae.
353
33.
Cornelii Nepotis vitae. für den schulgebrauch bearbeitet
von Andreas Weidner. dritte aufläge, mit Einlei-
tung, NAMENVERZEICHNIS UND ANHANG VERSEHEN VON JOHANN
Schmidt. Leipzig, G. Frey tag. 1890. XIX u. 167 s. 8.
Weidners textausgabe des Cornelius Nepos liegt in dritter auf-
läge vor. während der text (bis auf einige änderungen von prof.
Schmidt) eine Umarbeitung nicht erfahren hat, ist 'auf wünsch des
Verlegers die vorliegende ausgäbe mit einleitung, namensverzeicbnis
und anhang von brn. prof. Schmidt in Wien, sowie auch mit ab-
bildungen und karten ausgestattet', mit diesen neuerungen, die
man wohl unbedenklich als besserungen bezeichnen kann, hat es
also die besprechung zu thun.
Zunächst findet der schüler auf 16 Seiten vor dem texte das
wichtigste über leben und Schriften des Cornelius Nepos sowie Vor-
bemerkungen zu den einzelnen lebensbeschreibungen, welche 'der
lectüre nicht vorgreifen, sondern, an den geschichtsunterricht in der
vorhergehenden classe der gymnasien sich anlehnend , das interesse
an der lectüre erregen sollen', das scheint angemessen und geeignet,
die für jeden Unterricht wünschenswerte anknüpfung an früher ge-
lerntes zu fördern: auch sind die einzelnen abschnitte ziemlich knapp
gehalten, so dasz es dem schüler nicht eben schwer fallen dürfte,
sich den iubalt derselben einzuprägen, letzteres würde freilich noch
besser gelingen , wenn der Verfasser das charakteristische und be-
sondere der persönlichkeiten schärfer hervorgehoben hätte, aber
vielleicht lag es in seiner absieht, die gewinnung eines mit deut-
licheren zügen ausgestatteten bildes der lectüre selbst und dem
unterrichte vorzubehalten.
Eine zweite beigäbe bildet das 'namensverzeichnis' auf s. 113
— 145, das gewis nicht weniger dazu beiträgt, die brauebbarkeit
des buches zu erhöhen, die namen sind mit quantitätszeichen,
genetivendung und geschlechtsangabe versehen ; in letzterem punkte
wäre vielleicht etwas weniger philologische genauigkeit am platze
gewesen : wenigstens sollte ich meinen, dasz sich ein rechtschaffener
quartaner durch angaben wie Antigonus, T, m., Apollo, inis, m.,
Diana, ae, f. verletzt fühlen könnte, anderseits wäre es erfreulich,
wenn in büchern, die dem schüler die arbeit erleichtern, d. h. doch
wohl vermindern sollen, Verweisungen wie Tullius s. Cicero, Valerius
8. Flaccus ganz wegfielen, oder warum scheut man sich, dasselbe,
was unter Cicero und Flaccus steht, bei Tullius und Valerius noch
einmal abzudrucken? einen gewinn hat der schüler von der Ver-
weisung gewis nicht, während ihm das doppelte aufschlagen immer-
hin einige secunden zeit kostet.
Drittens bringt ein anhang auf s. 146 — 155 drei abschnitte
über die Staatsverfassung der römischen republik , über die Staats-
verfassung in Sparta und über wohnung, kleidung, bewaflfnung und
N jthib f. phil. o. pftd. II. »bt. 1891 hft. 7. 23
Digitized
354 J. Schmidt: cominentar z. d. lebenBbeschreibungen des Coro. Nepos.
geldwesen der Griechen und Römer in einfacher und dem verstand-
nis des quartaners entsprechender darstellung. unklar bleibt nur
die beschreibung des griechischen Wohnhauses aufs. 150; auch die
des tropaeum (s. 154) dürfte leicht zu einer nicht ganz zutreffenden
Vorstellung verleiten, ebenso möchte man Wendungen wie 'mit oder
ohne ärmeln' (s. 150) und 'im werte von etwa 4 — 5 pfennige'
(s. 155) in einem schulbuche vermieden sehen, erwähnt sei noch,
dasz das namenverzeichnis und der anhang mit 21 abbildungen nach
bekannten mustern ausgestattet sind, die, zumal soweit sie realien
darstellen, gewis dazu beitragen werden , das Verständnis der dinge
zu fördern, drei vorn angebundene, leider nicht buntfarbige karten
von den lftndern am mittelländischen und am ägäischen meere ver-
vollständigen das erklärende beiwerk des büchleins, dem es in seiner
neuen gestalt gewis auch an neuen freunden nicht fehlen wird.
Dresden. 0. Stange.
34.
J. Schmidt, oommentar zu den Lebensbeschreibungen des
Cornelius Nepos. Wien, Tempskv. 1890. VI u. 110 s. 8.
•
Der Verfasser des vorliegenden heftes hat sich die aufgäbe ge-
stellt, ein hilfsmittel zu schaffen, das 'jene Schwierigkeiten beseitigen
soll, welche sich der erstlingslectüre in den weg stellen', um diesen
zweck zu erreichen und dem schüler die häusliche Vorbereitung zu
erleichtern, enthält der commentar 'die phrasen, die die lexica nicht
so leicht zu bieten pflegen, Verweisungen auf die grammatik, die zum
Verständnis der stelle nötig sind, und erklärungen, die ein rascheres
vorwärtsschreiten bei der lectüre ermöglichen' (vorrede 8. IV). für
die grammatischen Verweisungen ist dr. Scheindlers lat. schulgram-
matik zu gründe gelegt.
Aus dem angeführten erhellt, dasz es dem Verfasser ebenso
ferne gelegen hat, dem schüler die häusliche Vorbereitung, insbeson-
dere das aufschlagen unbekannter Wörter, abzunehmen, wie er sich
anderseits ausdrücklich dagegen verwahrt, etwa die arbeit des lehrers
überflüssig machen zu wollen, beide grundsätze stimmen mit dem
überein , was ich mir bei abfassung meiner 'anleitung zur Vorberei-
tung auf Cornelius Nepos' (Leipzig, Teubner, 1889) vorgesetzt hatte,
und schon deshalb muste es für mich anziehend sein, die arbeit
Schmidts genauer kennen zu lernen, um so mehr freue ich mich
sagen zu können , dasz dieselbe mit ebenso viel geschick wie sorg*
falt und Verständnis ausgeführt ist, und wenn ich im folgenden
gleichwohl auf einige punkte hinweise, in denen ich von des Ver-
fassers ansieht abweiche, so geschieht das mit dem herzlichen wünsche,
der sache selbst nach kräften einen dienst zu erweisen.
Wer die bemerkungen zu der mehrzahl der vitae — nur in den
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J.Schmidt: commentar z. d. lebensbeschreibungen des Coro. Nepos. 355
letzten tritt dieser zug mehr in den Hintergrund — durchliest, der
wird sich des eindrucks nicht erwehren können, dasz es dem Verfasser
bei seinem commentar in erster linie darum zu thun gewesen ist,
dem schüler erleichtern ng oder belehrung auf gram mati sehe m
gebiete zu verschaffen, 'damit die leetüre nicht etwa zur grammatik-
stunde herabsinke, musz die häusliche präparation des schulers wesent-
lich erleichtert werden' (vorrede s. III), so finden sich denn für jedes
capitel durchschnittlich 8 — 10 Verweisungen auf die grammatik, oft
mit gleichzeitiger Übersetzung ins deutsche , nicht selten auch blosz
in einer form wie diese (Themist. cap. 1) : ex qua. vgl. § 132, 1 anm. ;
miior, 8. § 37 anm. 2; in rebus gerendis, gerundivum (§ 212, 4).
nun ist es ja gewis unerläszlich , dasz der schüler das , was er liest,
sich grammatisch zurechtlegen kann; es mag auch wünschenswert
sein, dasz er in der Neposstunde und bei der Vorbereitung dazu
sein grammatisches wissen bereichere oder doch befestige, aber
musz ihm nicht, falls er wirklich gewissenhaft genug ist alle Para-
graphen aufzuschlagen , durchzulesen und sich ihres inhalts zu ver-
sichern, die Vorbereitung selbst statt erleichtert vielmehr auszer-
ordentlich schwer, zeitraubend und — sagen wirs offen — recht
unerquicklich vorkommen? und wie steht es mit der Schulstunde?
wird sich nicht auch der lehrer durch entsprechende fragen verge-
wissern müssen , ob der schüler wirklich die angezogenen Paragra-
phen mit erfolg* benutzt hat?
Aber neben diese mehr äuszerlichen bedenken tritt für mich
noch ein zweites , das mit rticksicht auf die immer stärker hervor-
tretende forderung einer mehr sachlichen und weniger formalen
behandlung der Schriftsteller gewis nicht leicht zu nehmen ist,
ich meine die frage, ob der rein grammatischen belehrung bei
der beschäftigung mit dem schriftsteiler überhaupt ein so weites
gebiet eingeräumt werden darf, wie es hier der fall ist. ich wieder-
hole, dasz auch ich es für durchaus notwendig halte, von dem
sehüler nicht nur sachliches, sondern auch grammatisches Verständ-
nis des gelesenen, besonders hinsichtlich der satzconstruetion , zu
verlangen, aber darüber wird meines eraebtens in dem vorliegen-
den werkchen weit hinausgegangen, ein paar beispiele dürften zur
bestätigung des gesagten genügen, zu Milt. 3, 4 beiszt es: (quäs
seeum tränsportärat. der relativsatz enthält einen bloszen zusatz
des Nepos; daher steht der indicativ, während der paragraph sonst
eine indirecte darstellung , abhängig von einem aus hortatus est zu
ergänzenden verbum dicendf, gibt.' ist eine solche grammatische be-
lehrung wirklich notwendig und geeignet, dem quartaner das Ver-
ständnis der stelle beizubringen? sollte es nicht genügen, ihn dazu
anzuhalten, dasz er den lateinischen indicativ wortgetreu durch einen
indicativ im deutschen wiedergibt? so sehr derartige klarlegungen
die entwicklung einer grammatisch geschulten denkfähigkeit beför-
dern mögen und so viel man deshalb in der grammatikstunde auf
dergleichen gewicht legen wird, so wenig haben sie mit der leetüre
23*
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356 J.Schmidt: commentar z. d. lebensbeechreibungen des Corn.Nepos.
an sich , ja selbst mit der Vorbereitung auf die lectüre gemein. —
Zu Themist. 6, 1 findet sich die angäbe: 'in päce im frieden (§ 144, 1
zus.)*, ebenso zu Iph. 1, 1 : *aliquem cum aliquö comparäre jem. mit
einem vergleichen (§ 127 anm. 2).' was kann der Verfasser mit
diesen und einer groszen anzahl ähnlicher bemerkungen anders be-
zweckt haben, als den schüler auf gewisse grammatische gesetze
hinzuweisen, deren er sich bei dieser gelegenbeit erinnern oder die
er sich einprägen soll , ungeachtet ihm daraus für das bessere Ver-
ständnis der stelle auch nicht der geringste gewinn erwächst? —
Ich sehe ab von der anführung weiterer beispiele und fasse mein
urteil dahin zusammen, dasz ein groszer teil der bemerkungen statt
dem sog. grammatischen betrieb der lectüre entgegenzuwirken, viel-
mehr geeignet scheint, demselben ganz bedenklich in die hände zu
arbeiten, wer sich aber vergegenwärtigt, mit welcher abneigung
viele aus der 'älteren schule' an diese art der scbriftstellerbehand-
lung zurückdenken, der wird es vielleicht auch entschuldigen, dasz
ich gelegenheit genommen, auf diesen punkt ausdrücklich hinzu-
weisen.
Abgesehen von diesem grundsätzlichen bedenken dürfte Schmidts
arbeit, die zugleich eine grosze menge guter Übersetzungen und an-
leitungen zum construieren enthält, nur wenig anlasz zu ausstelluugen
bieten, manchmal scheint es, als habe der Verfasser beim quartaner
allzu geringe kenntnisse vorausgesetzt; ich erwähne nur beispiels-
weise accidit, ut es ereignet sich, dasz (Milt. 1, 1); re potiri sich
einer sache bemächtigen (ebd. 1, 2); bellum gerere krieg führen
(Them. 2, 1); vereor (timeo), ne ich fürchte, dasz (5, 1); venenum
sumere gift nehmen (ebd. 10, 4) usw. unter den Verdeutschungen
sind mir folgende aufgefallen, die man vielleicht nicht ohne weiteres
gutheiszen wird : Them. 8, 1 effugere invidiam der misgunst (dem
neide) entfliehen; Cim. 1, 1 aliquem pecunia multare jem. mit einer
geldsumme bestrafen; Ale. 11, 4 summam vi Hütern in patientia
ponere die höchste tugend in ausdauer (abhärtung) setzen; Con.
3, 3 regem venerari sich vor dem könige niederwerfen, ihm an-
betung erweisen; Epam. 9, 1 magna caede unter groszem blutbade;
Pelop. 2, 1 ex proximo demnächst; Phoc. 4, 1 vehiculo portari auf
einem wagen, in einer sänfte getragen werden; Timol. 5, 2 legibus
aliquid experiri etwas gerichtlich verfolgen; Hann. 2,2 ab interiori-
bus consiliis segregari von den etwas geheimen beratschlagungen
ausgeschlossen werden; ebenso 12, 4 num obsideretur ob sie besetzt
würden (oder liegt hier ein druckfehler vor?); Att. 4, 3 rei fami-
liari operam dare dem vermögen seine thätigkeit widmen; endlich
zwei falle, bei denen der fremd wörterschalk seine hand im spiele
gehabt hat: Att. 8, 3 privatum aerarium constitnere einen privat-
fond gründen, und Att. 9, 3 in der Wendung 'asyndetisch ver-
bunden'. — Von druckfehlern endlich oder irrtUmern verzeichne ich
folgendes: Them. 8, 2 musz es heiszen: vgl. I cap. 8 § 1; ebenso
Paus. 5, 2 thürflügel; Cim. 3, 2 paenitet und rei; Ale. 6, 4 wegen
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£. Haupt: kurzgefuszte lateinische formenlehre. 357
religionsfrevels ; Thras. 3, 3 eorum; Dion 2, 4 durch diese als eine
schwere; Dat. 11,4 relativsatz; Epam. 3, 3 venisset (wenigstens
steht so, nicht venerat, in Weidners texte); Pelop. 2, 1 fehlt fors
vor obtulisset, ebenso Timol. 5, 2 se zwischen quod und agere;
Ages. 1, 2 musz es heiszen ersten; Timol. 4, 2 nihil; Harn. 1, 4
in gedanken ; Att. 8, 4 verabreden und verbinden ; desgl. 5 ver-
zweifelten; 15, 1 quidquid.
Dresden. 0. Stange.
35.
KUBZGEPASZTE LATEINISCHE FORMENLEHRE VON DR. ERNST HaüPT.
Berlin 1890. Friedberg u. Mode. IV u. 62 8. kl. 8.
Ein kleines ansprechendes büchelchen ist es, das hiermit denen
geboten wird , die in einer formenlehre keine erklärungen und nur
das allerhauptsächlichste , nur regeln, formen und tabellen suchen,
die wörtlich auswendig zu lernen sind. Haupts formenlehre will
eben sein und ist auch wirklich ein lernbuch fast ausschliesslich in
der form übersichtlichster tafeln; und nicht zu ihrem schaden merkt
man es ihr an, dasz sie thatsächlich aus der präzis — sagt der Ver-
fasser leider, aus der erfahrung und beobachtung, sage ich lieber,
entstanden ist. man merkt dies auszer an der Übersichtlichkeit z. b.
daran, dasz in den declinationstafeln der vocativus ganz weggelassen
ist, gewis das sieberste mittel, die von jedem lehrer nur zu oft be-
obachtete Verwechslung von vocativus und ablativus zu verhindern;
unter den für quinta bestimmten unregelmäszigkeiten kommt in
§ 10 der vocativus auf -e und -i der zweiten declination noch zeitig
genug, man merkt dies ferner daran, dasz Überhaupt alle solche
unregelmäszigkeiten nicht unter den tafeln der einzelnen declina-
tionen, sondern nachträglich im Zusammenhang gebracht werden,
man merkt es an der abwechslungsreichen art, wie in den declinations-
tafeln der ablativus bald mit dem , bald mit jenem passenden ver-
hftltnisworte versehen , bald auch ohne ein solches aufgeführt wird,
man merkt es endlich daran, dasz überall, wo die schüler, von einem
falschen angleichungsdrange geleitet, erfahrungsgemäsz falsche laute
einzuschmuggeln suchen, die geforderten fettgedruckt sind, überall
da, wo sie aus einem ähnlichen gründe falsch zu betonen geneigt
sind — ich erinnere an pössumus — durch einen beigefügten accent
dem vorgebeugt wird, überhaupt wird durch gewissenhafte bezeich-
nung aller längen dem lehrer sein streben nach erzielung richtiger
ausspräche erleichtert; und nicht minder sind die groszen und kleinen,
die dünnen und fetten sebriftzeichen geschickt benutzt, um haupt-
und nebensachen, sexta- und quintastoff, oder stamm und endungen
deutlichst zu scheiden und die besonders eigentümlichen laute ein-
zelner formen kräftig hervorzuheben.
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358 K. Haupt: kurzgefaszte lateinische formenlehre.
Erwähnt mag noch werden, was in dem büchelchen anders an-
geordnet ist, als in andern verbreiteten formenlehren.
Da ist zunächst alles das, was das genus betrifft, in den ersten
drei paragraphen zusammengestellt: § 1 das natürliche geschlecht,
dessen ausdehnung auf flusz- und baumnamen man nur billigen wird,
während man die regel 'namen der städte, länder und inaein auf
-US sind feminina' kaum unter dieser Überschrift erwarten dürfte.
§ 2 grammatisches geschlecht nach den hauptregeln der Eilendt-
Seyffertscben fassung, und dann § 3 abweichungen im geschlecbt,
verständigerweise ohne reim klingklang, ausschliesslich, wie nebenbei
auch die hauptregeln, in musterbeispielen erläutert, indem allen ge-
schlechtlich abweichenden Wörtern ein passendes adjectivum der
zweiten declination beigegeben ist. die formenlehre des adjectivums
ist nicht den einzelnen declinationen beigefügt, sondern nachher im
zusammenhange dargestellt, in den tafeln zur conjugation sind nur
zwei gruppen, eine präsens- und eine perfectgruppe geschieden und
die zweite gruppe ist verständigerweise nur einmal , bei der ersten
conjugation, desgleichen die befehlsform nur im activum und beim
deponens und der infinitivus nur im praesens activi und passivi auf-
geführt; auf eine Zusammenstellung aller verba nach den Stamm-
formen ist ganz verzichtet, vollständig werden die intim tive und
die participia erst im letzten 40n § unter der Überschrift 'nominal-
formen des verbums' aufgeführt, diese tafeln benutzt aber der Ver-
fasser, wie ähnlich den von den präpositionen handelnden 25n zur
einfügung der lehre von den städtenamen, ihrerseits da2u, einen
kurzen abrisz der lehre von den participialconstructionen , aus dem
ich rühmend hervorhebe, dasz gleich auf der Unterstufe die Vertre-
tung des participiums durch einen hauptsatz gebührend betont wird,
dann vom infinitivus, bzw. acc. cum inf., vom gerundivum und vom
supinum daran anzuknüpfen.
Gar nicht berücksichtigt sind die griechischen Wörter und formen,
im übrigen aber wird das büchlein für die zwei, ja drei unterclassen
als formenlehre für alle schulen, insonderheit für realgymnasien
völlig ausreichen, und das ist sicher: der vater, der das niedliche
bOchelchen, das sich überdies durch schönen druck auf gutem papier
empfiehlt, seinem eben in die pforten der ernsteren f hoben schule1
geführten neun- bis zehnjährigen buben kauft, auch der kleine lern-
lustige lateinschüler selbst, der es in die hand bekommt, wird sich
schon bei seinem freundlichen unschuldigen aussehen der heutigen
tages nur zu leichtgläubig aufgenommenen meinung entschlagen,
dasz das latein das schulkreuz aller schulkreuze sein soll.
Zittau. Theodor Matthias.
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K. Bone: wie soll ich übersetzen?
359
36.
WIE 80LL ICH Ü BKRSETZ EN ? PRAKTISCHES HILFSBUCH BEIM ÜBER-
SETZEN AÜ8 DEM LATEINISCHEN UND ORIE CHI 8 CHEN INS DEUTSCHE.
winke und Ratschläge VON dr. Kahl Bone. Düsseldorf 1890.
verlag von Eduard Lintz.
Die lateinische und griechische lectüre soll nach der meinung
derer, die den kämpf gegen das humanistische gymnasium am hitzig-
sten führen, nicht nur keine dem aufwand von zeit und kraft ent-
sprechenden kenntnisse in den alten sprachen verschaffen, sondern
auch noch obendrein den deutschen stil der schuler verderben.
Wenn wir lehrer nun ehrlich sein wollen, so müssen wir aller-
dings einräumen, dasz sich nicht nur in den deutschen arbeiten der
tertianer, sondern auch in denen der primaner eine reihe von un-
deutscben , also lateinischen Satzgefügen und Wendungen vorfinden.
Der lehrer des griechischen wird wie der des deutschen gleich-
falls die er fahrung gemacht haben, dasz sich sozusagen latinismen
auch in den griechischen stil einzuschleichen pflegen.
Ja, so manches mitglied der Staatsprüfungscommissionen, und
zwar nicht blosz der philologischen facultät, sondern auch der juri-
stischen, hat sich bereits zur klage über den mangelhaften, zum teil
undeutschen stil der von den betreffenden candidaten eingereichten
Prüfungsarbeiten veranlaszt gefühlt.
Doch mit dem lateinischen und griechischen an sich steht diese
schwäche deutscher arbeiten nicht im zusammenhange, die gründe
müssen also anderswo liegen.
Nach meiner erfahrung sind wir lehrer selbst zum teil daran
schuld.
Nicht alle haben nemlich das zeug und die lust dazu, die latei-
nische oder griechische vorläge auch für den deutschen Unterricht
voll und ganz auszunützen.
Wenn nun der schüler sich so viele stunden in der woche mit
der einprägung schlecht deutscher vorÜbersetzungen abplagt, sobald
eben keine entsprechende umschraelzung im Unterricht selbst ver-
sucht worden ist, dann ist es kein wunder, wenn sich undentsche
eatzgebilde und Wendungen auch in seine deutschen aufsätze ein-
schleichen.
Der lehrer des deutschen steht diesem Übelstande machtlos
gegenüber, sobald nicht auch der lateinische Unterricht in der be-
treffenden classe in seinen bänden ruht.
Da nun aber bei einer schwachen classe der lehrer oft mühe
genug hat, die fremdsprachliche vorläge überhaupt ins deutsche zu
Übertragen, so dürfte er sich vielleicht nicht selten damit begnügen,
wenn die nachtibersetzung im ganzen richtig und flieszend von statten
geht, mag sie auch nicht gerade im besten deutschen gewande er-
seheinen.
Ferner befördern die Übungsbücher noch oft genug die ver-
360
K. Bone: wie soll ich übersetzen?
hunzung des deutschen stils. was sie aber durch ihre fremdsprach-
liche zustutzung zur erleichterung der Übertragung in die betreffende
spräche beitragen, soviel schädigen sie auch die gesunde entwicklung
des deutschen Sprachgefühls bei den schülern. dies ist jedoch um so
gefahrlicher, weil der schüler im allgemeinen nur wenig deutsche
bücher liest; und wer dies doch thut, für den ist oft der materielle,
vielleicht gar aufregende inhalt die hauptsache, auf die sprachliche
darstellung achtet dabei wohl keiner.
Auch drängt das für das jähr oder halb juhr bestimmte quantum
der lectüre naturgemäsz dazu, die Übertragung ins deutsche stief-
mütterlich zu behandeln, ist es doch gar zu schön, im Jahresberichte
angeben zu können , so und so viele bücher oder verse eines Schrift-
stellers sind gelesen worden, ich für meine person bin ganz zufrieden,
wenn ich in jeder stunde ein capitel Livius oder Cicero den schülern
zum vollen Verständnis bringe, wobei natürlich auch die entspre-
chende Umformung ins deutsche eine recht bedeutende rolle spielt
mir ist eben das lateinische nicht Selbstzweck , sondern nur mittel
für höhere aufgaben.
So dürfte also auch die massenhafte lectüre als ein grund für die
Verhunzung des deutschen Sprachgefühls betrachtet werden können.
Kommt noch hinzu, dasz das lateinische in den mittleren classen
zuweilen von einem Polen erteilt wird, der vielleicht gar nicht weissi,
worauf es bei der Übertragung ins deutsche ankommt, so erklärt
sichs leicht, wenn die deutschen ausätze von latinismen strotzen.
Am schwierigsten haben es natürlich die lehrer der an stalten,
wo die schüler verschiedener nationalität sind oder meist den niede-
ren ständen angehören, deren familie also und deren umgang auszer-
halb der Schulzeit nicht blosz der entwicklung des Sprachgefühls
keinen Vorschub leisten, sondern sogar das tag für tag noch zer-
stören, was der lehrer ihnen mühsam beigebracht hat. doch gerade
an solchen anstalten ist es die gröste p flicht der lehrer, alles aufzu-
bieten, um der muttersprache zu dem ihr gebührenden rechte zu ver-
helfen, nur verlange man vom lehrer nichts unmögliches !
Wer das bisher entwickelte ruhig erwägt, der wird sich hüten,
auf das lateinische und griechische zu schieben, was von diesen
sprachen an sich nicht verschuldet wird, welch sprachbildende kraft
im gegenteil das lateinische z. b. enthält, sucht die von dr. Bone
verfaszte schrift, welche den titel führt: wie soll ich übersetzen? zu
beweisen, diese blätter sollen nach dem Vorworte hauptsächlich,
wenn auch nicht ausschlieszlich , dem gebrauche der schüler dienen,
nach meinem urteil wird der herr Verfasser seinen hauptzweck nicht
erreichen; ich würde aber mich freuen, wenn recht viele lehrer aus
seinem werke die anregung gewönnen, fortab nach bestimmten grund-
Sätzen die Übertragung ins deutsche zu erstreben , die rück Wirkung
auf die schüler wird dann sich von selbst einstellen.
Was nemlich der lehrer bisher instinctiv getroffen, ihm viel-
leicht auch zum klaren be wustsein gekommen ist, das findet er in
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K. Bone: wie soll ich übersetzen?
361
dieser schritt, die offenbar reges interesse für die deutsche spräche
und ein tieferes Verständnis der fremden sprachen bekundet, wenig-
stens in seinen hauptzügen zusammengestellt.
Man wird dem Verfasser recht geben müssen, wenn er behauptet,
dasz das übersetzen ins deutsche nicht ausschlieszlich dem inhalte
der fremdsprachlichen texte dient — diesen kann man sich ja heut-
zutage bequemer zu eigen machen — , und dasz selbst in diesem
falle die deutsche form doch nicht vernachlässigt werden dürfe, son-
dern eine pflege finden müsse, als ob sie die hauptsache wäre.
Weil nun die lehrer womöglich alle jähre wechseln, so ist es
ein glücklicher gedanke des herrn Verfassers gewesen , dem schüler
eine anzahl fester haltpunkte zu bieten , zumal Übersetzungen und
speciallexica seine ratlosigkeit kaum zu beseitigen vermögen.
Das von dr. Bone gebotene läszt sich mit dem ausdruck apho-
rismen am besten bezeichnen, da man eine systematische anordnung
in der Zusammenstellung vermiszt. ob dies der pädagogisch richtige
weg bei einem hilfsbuch besonders für schüler ist, möchte ich be-
zweifeln, doch da die ordnungslosigkeit in der aufeinanderfolge und
die auseinanderhaltung verwandter dinge vom Verfasser absichtlich
geschaffen ist, so musz der erfolg des buches entscheiden, ob diese
sonderbare absieht bei schülern den erwünschten anklang finden wird.
Zu billigen ist es dagegen, wenn der Verfasser dieselben bei-
spiele unter verschiedenen gesichtspunkten beleuchtet und das latei-
nische im Vordergründe hält.
Minder glücklich ist der gedanke des Verfassers zu nennen, die
beispiele , abgesehen von einigem zusätzlichen , der rede Ciceros pro
Archia poeta allein zu entnehmen.
Mag dies auch ein deutlicher beweis dafür sein, dasz selbst eine
kleinere lateinische schrift reiche geiegenheit bietet, den deutschen
stil zu bilden, und dasz es auf eine massenhafte leetüre zu diesem
zwecke nicht ankommt, so verliert die schrift für schüler, welche
den Archias nicht gelesen , doch bedeutend an wert, die beispiele
konnten also lieber aus mehreren der gelesensten Schriften genom-
men werden.
Für eine zweite aufläge erlaube ich mir dem herrn Verfasser
einige praktische winke zu geben.
£s empfiehlt sich erstens, das Stichwort im beispiel, anstatt ge-
sperrt, fett zu drucken; zweitens die beispiele mit der Stellenangabe
zu versehen; drittens dieselben so auszuschreiben, dasz jedes beispiel
auch auszerhalb des Zusammenhanges für sich verständlich ist; schliess-
lich müöte innerhalb einer numiner das zusammengehörige auch zu-
sammengestellt werden und das am häufigsten vorkommende an die
spitze treten.
Was die anmerkungen anbetrifft, die recht wertvolles enthalten,
so musz bemerkt werden, dasz der kleine, geradezu polizeiwidrige
druck die benutzung des buches, das verhältnismäszig sehr reife
schüler voraussetzt, sehr erschwert.
362
K. Bone: wie soll ich übersetzen?
Das Sachregister am ende erleichtert durch das Stichwort die
benutz ung der 50 auf etwa 24 Seiten stehenden Übersetzungsregeln;
ihnen voran geht ein abschnitt A. , der von der schulübersetzung,
und ein mit B. bezeichneter, der von den grundlagen für das über-
setzen handelt letzterer zerfällt in die beiden teile: grundsätze und
unterschiede.
Mit recht bemerkt der Verfasser im abschnitt A., dasz die schul-
übersetzung die mitte zwischen Interlinearübersetzung und der freien
umschmelzung des gedankenstoffes in eine form , wie sie das frei-
thätige andere sprachidiom ihm etwa geben würde, oder schlichter
ausgedrückt: zwischen der geschraubten wörtlichkeit und dem win-
digen plaudern über den text ernstlich zu suchen und zu pflegen
habe und in allererster linie dem zwecke dienen müsse, dasz die
heranwachsende jugend die eigne spräche beb ersehen lerne und dem-
nächst dieselbe reinigen und rein halten helfe, letzteres sei um so
nötiger, als derselben durch den zeitungs-, kaufmanns~ und techniker-
Stil weit gröszere gefahren drohen, als durch die im ganzen harm-
lose fremdwörtergesellschaft.
Dasz aber die mitte nicht so ohne weiteres vom schüler ge-
funden , sondern erst nach langer arbeit der ganzen classe erreicht
wird und dasz gerade darin eins der anregendsten momente des
altsprachlichen unterrichte liegt, wird kein fachgenosse bestreiten,
rege teilnähme zeigen hierbei selbst schwächere schüler, und wenn
auch viele falsche' antworten gegeben werden, so kommen die schüler
doch allmählich zum klaren be wustsein , wo eine Umformung fürs
deutsche nötig und wie dieselbe zu gestalten ist. jedenfalls belohnt
der erfolg die mühe der schüler und des lehrers.
Da aber im griechischen wie lateinischen satzbildungen mög-
lich sind, die als unübersetzbar fürs deutsche bezeichnet werden
müssen und anderseits doch die grundgesetze des denkens und des-
halb auch des Sprechens für alle menschen dieselben sind , so musz
auch jeder gedanke in jede andere spräche umgedacht und in ihr
ausgesprochen werden können, wenn auch zuweilen eine völlige und
schwierige umschmelzung notwendig wird.
Unter B. führt dann der Verfasser 12 grundsätze an, die nach
meinem dafürhalten für schüler und lehrer überflüssig sind, weil sie
in abschnitt C. zum grossen teil wiederholt und durch concrete bei-
spiele belegt werden , anderseits auch für schüler nicht klar genug
gefaszt sind und nicht viel neues bieten.
Unklar ist gleich der erste grundsatz: jeder satz besteht aus
drei(V) Grundbestandteilen: subject, prädicat und(?) copula (wohl
'oder copulagruppe ?'). nach den angeführten beispielen: Archias
est civis, fruetus ostenditur, credo soll unter copula offenbar
die bildung des prädicats durch copula und prädicatsnomen verstan-
den werden, richtiger wäre also die fassungvon grundsatz 1, wenn
sie nach der anmerkung oder nach anmerkung 2 auf seite 36 gebildet
würde, auch nr. 2 — 4 ermangeln der für schüler nötigen klarheit.
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K. Bone: wie soll ich übersetzen?
nr. 5 ist gut gemeint, doch für den schüler überflüssig, in nr. 7 ist
der ausdruck 'satzfügung' nicht besonders glücklieb gewählt, da
man quibus anditis doch nicht als satzfügung bezeichnen kann. nr. 8
wird besonders im zweiten teil nicht recht verstanden werden, schliesz-
lich weisz ich nicht, was der schüler sich bei nr. 12 denken soll,
dieser grundsatz lautet wörtlich: keine spräche reicht zur vollkom-
menen wiedergäbe des menschlichen denkens aus} aber vieles kann
angedeutet werden, ohne dasz es ausdrücklich gesagt wird.
Was der herr Verfasser unter II von den unterschieden der
fremden sprachen vom deutschen sagt, ist für den schüler erst dann
verständlich, wenn er den abschnitt C. durchgearbeitet hat.
Hiernach dürfte es sich empfehlen, die grundsätze (I) einfach
über bord zu werfen , den abschnitt II aber gleichsam als ergebnis
der Sprachvergleichung hinter C. zu rücken, da bekanntlich abstracto
lehren und grundsätze für schüler wertlos bleiben, sobald dieselben
von ihnen nicht aus concreten fällen mittels eignen nachdenkens abs-
trahiert worden sind.
Was nun den hauptteil C. anlangt, so erlaube ich mir in mög-
lichster kürze folgende randglossen : in nr. 1 müste auch ein beispiel
für den präpositionalen ausdruck, der zum adjectivum usw. werden
soll , angegeben werden, bei nr. 2 fehlt ein beispiel für manche
adjectiva, und wenn man auch als lehrer allenfalls zwischen den
zeilen lesen kann, so müsten doch für schüler die ersten beiden bei-
spiele zuletzt stehen oder die regel selbst allgemeiner gefaszt werden,
in nr. 3 wird der ausdruck copulativer verba den schülern neu sein,
auch ist die anmerkung zu videri zu philosophisch, in nr. 4 ist
'domicilium' in störender weise eingeschoben und die prägnanz des
ausdrucks auch auf die conjunetive reprehendat — succenseat aus-
gedehnt die hilfsverba 'können und mögen' dienen wohl hier nur
zur wiedergäbe der conjunetivischen form, in vehementer errat finde
ich wenigstens keine Umschreibung der verbalform durch ein hilfs-
verbum.
In nr. 7 könnten für den schüler, weil ihm wohl zuerst bekannt
geworden, die relativsätze voranstehen und an stelle eines relativ-
satzes auch ein grund- und bedingungssatz eintreten, allenfalls in
der anmerkung, wenn Archias kein beispiel dieser art aufweist; nach
der anmerkung zu nr. 8 könnte das beispiel mit 'ne quid' an die
spitze treten; die zu nr. 9 etwa durch die Livianische wendung
caesi — vi vi capti sunt belegt werden, der verweis auf regel 32 bat
keinen sinn! in nr. 13 könnte die Ordnung strenger sein, auch ist
bei rsi nihil aliud dieimus' von einem verdeutlichenden adverbium
wohl nicht recht zu reden, da die Übersetzung von 'nur darum' blosz
der positive ersatz einer lateinischen negativen wendung ist. Über-
haupt hat der herr Verfasser gerade dieses oft einzig und allein zu
einem guten deutsch führende Übersetzungsmittel Ubersehen.
In nr. 15 stört das beispiel mit cum — tum an dieser stelle,
an stelle eines der positiven beispiele konnte ein negatives mit neque
364
K. Bone: wie soll ich übersetzen?
— neque geboten werden, in nr. 20 finde ich keinen Zusammenhang
zwischen der regel und dem ersten wie dem letzten beispiele. in
nr. 27 ist der ausdrnck persönlicher (pronomina) nach dem beispiel
C. Mario zu eng; auch gehört das letzte beispiel weiter nach oben.
Nr. 10 und 31 zu trennen lag nicht der mindeste grund vor,
und da der letzte teil der nr. 31 kein beispiel bietet, bleibt das ge-
sagte für schüler toter ballast ebenso könnten nr. 34 und 36 ver-
schmolzen sein.
Wenn der herr Verfasser in anmerkung 1 auf seite 26 sich ziem-
lich scharf gegen den ersatz antiker militärischer ausdrücke durch
moderne ausspricht, weil sie unorganisch in die Ubersetzung einge-
flickt werden, so kann man ihm ja in der theorie recht geben, wenn
auch die praxis zur heranziehung der dem schüler nahe liegenden
vorstellungskreise rät. einen vergleich wenigstens mit modernen
einrichtungen, wenn sich auch die begriffe nicht völlig decken, habe
ich auch ohne reminiscenzen an eigne militärzeit allezeit versucht
und empfohlen, 'bei gott' für 'beim Zeus* finde ich wenigstens nicht
so Übel, mag auch ein anachronismus vorliegen — wo fehlen diese
heut zu tage nicht? — denn nicht blosz die wortform, sondern auch
der inhalt ist dem augenblicklichen culturzustande möglichst nahe
zu bringen, nr. 36 redet viel ohne positiven nutzen, exempla docent!
den doppelpunkt hinter 'deutlichkeit* verstehe ich nicht, für 37 ist
der vollständige satz auszuschreiben, das 'zugleich' der anmerkung
bleibt unverständlich, desgleichen der verweis auf regel 4, 12 und 13.
zum suchen hat weder lehrer noch schüler grosze lust; alles musz
sich aus sich selbst erklären! in nr. 38 kann ich keinen Zusammen-
hang zwischen dem beispiel: ubi . . . und der regel finden, und die
anmerkung bleibt wertlos, sobald man nicht concreto beispiele dazu
erhält, die regel 39 ist nicht klar genug gefaszt (auch die participia
sind Wörter), die anmerkung ist klarer als die hauptregel. was heiszt
schliesziich 'Umwandlung'? auch bringt die anmerkung zu 41 erst
das rechte licht in den ausdruck 'ähnliche formen' in der hauptregel.
was sich der schüler bei nr. 43 bezüglich des über den Chiasmus
gesagten denken soll , kann ich nicht begreifen, im ersten teil der
regel 46 vermiszt man ein beispiel fürs adverbium, vielleicht sollen
die beim vierten 'oder* stehenden beispiele zu nr. 1 gehören? den
Schülern lassen sich die übersetzungs weisen des hendiadyoin, sobald
man von Archias absieht, durch folgende einfache Wendungen klar
machen: a) viribus ac iuventute, 1) mit jugendlichen kräften, 2) mit
jugendkraft, 3) mit den kräften der oder in der jugend. b) novus
atque inauditus (bzw. adv ), völlig neu, o) orare atque obsecrare,
inständig bitten, in nr. 47 scheint mir der erste absatz dasselbe als
der zweite zu enthalten, nr. 48 und 50 zeichnen sich nicht durch
besondere klarheit aus.
Was die Orthographie anlangt, so ist der umlaut im anlaut
überall zu verbessern.
Es erübrigt nur noch, ein gesamturteil über dr. Bones buch
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Bosnier: geachichte der k. sächs. fürsten- und lande»8chule Grimma. 365
abzugeben, es lautet: in seiner jetzigen fassung kein hilfsbuch für
scbüler! wenn ich nemlich auf die mühe zurückblicke, die mir selbst
das Verständnis des bucbes gemacht, so wäre es unverantwortlich
Ton mir, wollte ich es meinen schülern zum privatstudium empfehlen,
die zweite aufläge wird vieles anders zu gestalten haben, will sie
wirklich ein hilfsbuch für die schüler werden, den herren fach-
genossen dagegen möchte ich es zur lectüre empfehlen , nicht etwa,
um sich sklavisch von heim dr. Bone abhängig zu machen, denn
es führen viele wege nicht blosz nach Rom, nein auch zu einer
guten, echt deutschen Übersetzung, sondern, um Uberhaupt diesem
wichtigen unterricbtszweige fortab mehraufmerksamkeitzu schenken,
hieraus ergibt sich auch das scbluszurteil, dasz der leitende gedanke
des herrn Verfassers, feste regeln zur Übertragung aufzustellen, volle
billigung finden kann.
Kempen in Posen. Paul Mahn.
37.
GESCHICHTE DER KÖNIGLICH SÄCHSISCHEN PÖRSTEN- UND LANDES-
SCHULE Grimma, von prop. Rö ssler f. Leipzig 1891. B. G.
Teubuer. XII u. 323 a.
Veranlasst durch den neubau der fürstenschule zu Grimma hat
der Verfasser des vorliegenden buches, welches sr. excellenz dem
brn. staatsminister dr. v. Gerber gewidmet ist, die zur säcularfeier
1850 von Lorenz und Palm in getrennten abteilungen behandelte
geschichte der schule zusammengefaszt , aus den handschriftlichen
annalen Schellenbergs und andern quellen erweitert und bis zur
gegenwart fortgeführt, doch ist nur die eigentliche schulgeschichte
behandelt worden, bei welcher auch schulverwalter und rectoren
eingehend und gewissenhaft charakterisiert worden sind.
Der historisch-statistische stoff ist praktisch und übersichtlich
eingeteilt nach sachlichen gesicbtspunkten, deren jeder für sich nach
der Zeitfolge von anfang bis zu ende durchgenommen wird, der erste
abschnitt erzählt die Vorgeschichte, die Stiftung der beiden fürsten-
schulen in Meiszen und Pforta, die Vereitlung der dritten in Merse-
burg, der zweite abschnitt aber handelt mit zuverlässiger genauig-
keit über die gründung der fürstenschule zu Grimma und über die
eröffnung derselben, die erwähnten capitel sind bekanntlich schon
1889 als fcstachrift zum Wettinjubiläum erschienen, der dritte ab-
schnitt bespricht die ersten einrichtungen und zwar die ausstattung,
die schulgebäude, die stellen, die bezüge und die Verpflegung der
lehrer und der schüler, die schulaufsicht und Schulordnung, der
vierte abschnitt behandelt die äuszere geschichte und schildert die
schule unter dem einflusse der zeitläufte, die gestaltung und Ver-
waltung der einkünfte, die baulichen Veränderungen, der fünfte
und umfangreichste abschnitt, der für den leser naturgemäsz des
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366 Rössler : geschieht« der k. säch». forsten- und landesschale Grimma.
interessanten am meisten bietet und im herzen eines jeden alumnus
quondam Grimensis so manche liebe erinnerung an die verflossene
Schulzeit wachrufen wird, führt uns in ausführlicher und erschöpfen-
der weise die innere geschichte der anstatt vor äugen, nemlich die
stellen verb altni.>s e und die frequenz ; die bezüge und die Verpflegung
der alumnen; die zahl und die bezüge der lehrer und der andern
beamten ; die schulaufsicht und die schulzucht ; den Unterricht und
die Unterrichtsmittel; die Stundenpläne; aufnähme und abging der
schüler; programme, prüfungen, prämien und Stipendien; arbeit und
erhol ung ; tagesordnung und saalordnung; gebete, gottesdienste und
Schulfeierlichkeiten.
Es folgen nicht weniger als vierzehn anhänge, der erste handelt
über die namen der schule, die nächsten bringen wichtige Schulord-
nungen von 1560 — 1677 und speiseordnungen von 1562 — 1859.
unter nr. 11 findet man die gebetsformeln der ältem und der jüngern
zeit; unter nr. 12 werden die Stiftungen für die schule aufgezählt,
den schlusz macht der lectionsplan von 1820 und 1839.
Beigegeben sind zwei sehr gute grundpläne der schule in ihrer
letzten gestaltung vom jähre 1885. die alten räume, in denen wir
die schöne jugendzeit verlebt haben, sind verschwunden . . . möge
das neue, prächtige heim ein an leib und geist gesundes geschlecht
herbergen allezeit!
Die weihe des hauses hat der Verfasser des buches nicht mehr
erleben sollen, auch sein werk, dem er so lange zeit mit regem eifer
seine muszestunden gewidmet, hat er nicht vollendet vor sich ge-
sehen, am 6 märz d. j. ist er gestorben, er war ein mann von ausser-
ordentlicher schärfe des geistes, besonnen und ruhig, klar und be-
stimmt, ohne viel worte. er war ein mit reicher erfahr ung- und
vielseitigem wissen ausgestatteter lehrer, dem alle seine schüler in
aufrichtiger Verehrung und dankbarkeit zugethan waren, leicht sei
ihm die erde!
Annaberg. Ernst Haupt.
38»
DER EVAN0ELI8CHE RELIGIONSUNTERRICHT IM LEHRPLAN DER HÖHEREN
SCHULEN. EIN PÄDAGOGISCHES BEDENKEN VON D. L. WlE8E.
zweite AUFLAGE mit einem Anhang. Berlin 1891. verlag von
Wiegandt & Grieben. 128 8. 8.
Da die zweite aufläge von der in diesen jahrbüchern 1890
s. 590 ff. angezeigten, im vorigen jähre erschienenen ersten aufläge
in keinem wesentlichen punkte abweicht, so erübrigt es, den s. 89
— 128 beigefügten anhang zu besprechen, den jeder lesen sollte, der
die erste aufläge kennt, diese ist mit lebhafter Zustimmung und
mit nicht weniger Widerspruch aufgenommen worden, wie W. s. 89
sagt, mit recht hebt er hervor, dasz die aufgäbe des religionsunter-
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L. Wiese : der evang. religionsunterr. im lehrplan der höh. schulen. 367
richts heute schwerer zu lösen ist als früher, dasz bei allem bemühen
der lehrer und dem fleisz der schtiler von einem erziehlichen ein-
flusz desselben nicht eben viel wahrzunehmen ist, zum teil auch des-
halb, weil dieser Unterricht in die Wirklichkeit des lebens weiter
hinausweist als der Unterricht in andern gegenständen, selbst in der
muttersprache und in der geschiente, aus der der auffassung Wieses
zum gründe liegenden annähme einer gemeinsamkeit von kirche und
schule in der religiösen jugendbildung erklärt sich auch die bedeu-
tung, welche darin für die confirmation in ansprach genommen
(3. 101) und die wohl auch von den eitern der kinder meistens an-
erkannt wird, der confirmandenunterricht gehört unstreitig zu den
mühevollsten pflichten der geistlichen (s. 103); ihm musz auch der
Unterricht in den höheren schulen vorarbeiten, eine trennung der
denselben genieszenden gymnasiasten von den mädchen ist meines
erachtens nicht unbedingt notwendig, da bei dem von würdigen
geistlichen erteilten unterrichte ungehörigkeiten zu vermeiden die
knaben — wie ich wenigstens aus meinem in Braunsberg vor 57
jähren genossenen unterrichte bezeugen kann — sich scheuen wer-
den, allerdings war der geistliche zugleich religionslehrer am gymna-
sium und vereinigte in der besonders von ihm unterrichteten zweiten
abteilung seiner confirmanden die schüler und Schülerinnen der Volks-
schulen, jedenfalls müste Vorkehrung getroffen werden, dasz die
grosze anzahl der gleichzeitig zu unterrichtenden in kleinere ab-
teilungen getrennt wird (s. 104).
Die warnung 'es unterwinde sich nicht jedermann lehrer zu
sein' (Jak. 3, 1) ist für keinen gegenständ so sehr zu beherzigen wie
für den religionsunterricht (s. 115). so wenig die religiöse Unter-
weisung der schule zu erbauungsstunden werden darf, so ist es auch
nach Wieses Überzeugung mit bloszen gefühlsanregungen nicht ge-
than. er erinnert sich die rede eines abiturienten mit angehört zu
haben, die eine ganz orthodoxe auseinandersetzung enthielt und mit
einer gefühlvollen pietistischen nutzanwendung schlosz. das inner-
lich unwahre und ungesunde dieser scbülerleistung machte einen be-
trübenden eindruck auf ihn, was er dem lehrer nicht verhehlte, wobei
er hinzufügte, an dem zögling werde er wenig freude erleben, diese
vorhersagung erfüllte sich nur zu sehr und bald: der junge mensch
schlug während seiner Studienjahre in eine ganz materialistische
lebensau ffassung und führung um (s. 1 14 f.). dagegen wird es auch
nicht an lehrern fehlen, die mit viel segen geschmückt werden (Psalm
84, 7), und an denen sich das wort des propheten (Daniel 12, 3)
erfüllt.
Ob die religionslehre gegenständ der abiturientenprüfung sein
solle oder nicht, darüber sind die meinungen bekanntlich noch ge-
teilt. Wiese, der nach der einsegnung den schülern eigentlichen
religionsunterricht nicht mehr erteilt, wissen will, ist natürlich
dagegen, wenn aber oft behauptet wird , dasz die abiturienten in
den letzten Semestern fast nichts thun als nur in der geschiente und
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368 L. Wiese: der evang. religionsunterr. im lehrplan der höh. schulen.
religion repetitionen anstellen , und dasz auf diese weise durch das
viele auswendiglernen das gedächtnis auf kosten der übrigen Seiten
des menschlichen geistes zu sehr in ansprach genommen wird, so
werden bei der heutigen praxis des abiturientenexamens auch in
andern fächern an das gedächtnis nicht unerhebliche anforderungen
gestellt, wie dies trefflich in diesen Jahrbüchern 1890 s. 588 ff.
Rieder* nachgewiesen hat.
Die beurteilungen der Wieseschen schrift haben auf den Ver-
fasser den eindruck gemacht, dasz, wenn die recensenten ihm auch
nicht zustimmten, ihm doch war, als hätten sie in dem geftihl,
einer gemeinsamen groszen sache zu dienen , und in der sorge um
sie sich mit ihm eins wissend, über die gegensätze hinweg ihm den-
noch die band gereicht (s. 123), und nur in einer schrift von einem,
wie es scheint, jungen 'paator und gymnasiallehrer* ist ein anderer
ton angeschlagen, welcher der meinung ist, die schrift sei mit einer
durch altersschwachheit und lange entfernnng vom schulleben be-
wirkten Unkenntnis dessen, was die schule kann und bedarf, in einem
/an fall von pessimismus* verfaszt. W. spricht über diese, sowie über
die abfällige beurteilung, welche seine schrift durch hm. geheimrat
Elix in der decemberschulconferenz von 1890, der, wenn ich ihn
recht verstanden habe, Wiese auch nur eine venia aetatis zugestan-
den wissen wollte, mit der ihm eignen ruhigen milde, mit recht er-
klärt er sich gegen die von dem 'pastor und gymnasiallehrer' ver-
langte stunden Vermehrung (die Stundenzahl — so meinte jener —
müsse in den oberen classen auf mindestens vier in der woche ge-
bracht werden!) und lehrt die abhilfe da zu suchen, wo sie allein
geschafft werden kann.
Bedauern werden es mit dem unterzeichneten viele Schulmänner
und eitern, dasz er die beschaffenheit des religionsunterrichts in den
weiblichen bildungsanstalten zu beleuchten durchaus andern über-
lassen zu müssen meint auch diejenigen, welche Wiese nicht in
allen punkten beistimmen, werden ihm für den anhang der zweiten
aufläge dankbar sein.
* vgl. R. Schröter 'zur überbürdangsfrage' in dieser Zeitschrift 1891
s. 186 ff. und ebd. die denselben gegenständ behandelnde abhandlang
von P. Mahn s. 185 ff.
IN8TERBURG. E. Krah.
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ZWEITE ABTEILUNG
FÜB GYMNASIALPADAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AÜ88CHLU8Z DBB CLA88ISCHBN PHILOLOQ1B
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. HERMANN MASIU8.
(30.)
DER DIDAKTISCHE WERT DES XENOPHONTISCHEN
AGESILAUS
im zusammenhange mit der Cyropädie and den Memorabüien als schul-
lectüre untersacht.
(fortsetzung and schlusz.)
II. Xenophon als schulschriftsteller.
Genius z unserer bisherigen darlegung sind wir vorerst vor die
aufgäbe gestellt, den nachweis zu führen, dasz der Verfasser der von
uns für die behandlung auf dem gymnasium empfohlenen Schrift-
werke, Xenophon, den ansprüchen genügt, welche wir an einen
schulautor machen müssen : nur für den fall , dasz der Schriftsteller
selbst eine derartige persönlichkeit ist, dasz der umgang mit ihr auf
die schüler bildend und veredelnd wirkt, können wir seine werke
als eine quelle der geistesbildung dem gymnasium zuweisen, es
könnte freilich scheinen, als sei gerade bezüglich Xenophons, dessen
Schriften im altertum gleichmäszig gerühmt wurden , und an dessen
wert als Schriftsteller, bzw. schulschriftsteller wohl nur vereinzelt
zweifei ausgesprochen sind , eine solche Untersuchung überflüssig ;
trotzdem dürfen wir uns, indem wir dabei stets unserer aufgäbe,
welche in letzter linie dem Verfasser des Agesilaus gilt, eingedenk
bleiben, der notwendig zu stellenden forderung nicht entziehen.*0
*° wir bemerken, dasz die folgende entwicklang des in der persön-
lichkeit des Schriftstellers liegenden 1 brstoffes, ebenso wie später die
darstellung des Somatischen tugendideals und des königsideals Xeno-
phons, von uns etwa in dem nmfange gegeben ist, in welchem sie durch
die Unterrichtsarbeit herauszustellen ist. allein in dieser praktischen
rücksichtnahme finde auch die breite, welche die darlegung in mancher
Beziehung zeigt, ihre rechtfertigung.
N. jthrh. f. phil. o. päd. IL «bt. 1891 hft. 8 u. 9. 24
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370 Der didaktische wert des Xenophoutischen Ageeilaus.
Der schiiler lernt den Schriftsteller Xenophon aus der Ana-
basis zunächst als den heerftlhrer Xenophon kennen, und
dieser zug ist für unsere zwecke bedeutungsvoll. Xenophon ist von
anfang an dem schüler nicht ein mann des Wortes, sondern der that
er lernt ihn hochschätzen als die Beele des groszen heereszuges, wel-
cher die bewund erung aller Zeiten hervorgerufen hat und in seiner
ktthnheit und genialen ausführung auch ihm verständlich wird, wie
wäre das wahrlich gewaltige unternehmen, die ihrer heerf (Ihrer durch
verrat beraubten zehntausend mitten aus dem herzen des feindes-
landes der heimat wohlbehalten zuzuführen , ohne den klugen rat
des einen mannes, ohne seine scharfe erfassung der jedesmaligen
Situation, seine unermüdliche neubelebung des gesunkenen und immer
wieder sinkenden mutes, seine kriegstüchtigkeit und tapfer keit, aber
nicht minder die packende macht seiner ganzen persönlichkeit wohl
geglückt! — dafür gewinnt der schüler schnell Verständnis, er lernt
den mann , der durch all die drohenden gefahren das nicht immer
leicht zu führende heer zielbewust hindurchlenkt und Überall thätig
mit dem eignen beispiel vorangeht, sehr bald bewundern, aber
das nicht allein: gröszere teilnähme noch flöszt ihm der mensch
Xenophon ein. wenn er liest, mit wie viel Widerwärtigkeiten
Xenophon in seiner schweren Stellung gegenüber dem neide, der
inisgunst und dem kleinmut der seinen zu kämpfen hat, so gewinnt
auch seine pflichttreue, seine aufopferungsfähigkeit die rechte be-
leuchtung. und trotz der Überlegenheit, welche Xenophon gegen-
über allen andern teilnehmern an dem zuge auszeichnet, welche
bescheidenheitl nie tritt er, trotz seiner leistungen, mit ansprüchen
hervor, nie ist es ihm um die eigne person, sondern allemal um die
sache zu thun. vom ersten augenblick an, wo er hervortritt, ja in
den worten, mit welchen der schriftsteiler den Strategen einführt,
leuchtet die Selbstlosigkeit, der dienende gehorsam, in welchem er
sich zu der sache, die er übernimmt, stellt, hervor, wie gegen die
andern , so zeigt er besonders Cheirisophos gegenüber bescheidene
Zurückhaltung ; seine wähl zum oberfeldherrn verbittet er sich, auf
die vielfachen angriffe, welchen er seitens der Griechen selber aus-
gesetzt ist, erfolgt immer die gleiche sachliche antwort! wie weisz
er mit der gehässigkeit eines Soteridas fertig zu werden (III 4, 47 ff.),
statt der gebührenden derben antwort überführt er den frechen
schmäher , indem er vom rosse herabspringt und selbst die last der
waffen trägt, ein erhebendes beispiel für alle, aber Xenophon hat
noch andere schöne eigenschaften, wegen deren wir ihn als menschen
lieb gewinnen, dahin rechnen wir seine demut gegenüber der gott-
heit, seine frömmigkeit, seine Offenheit wie überhaupt seine reine
gesinnung, dahin gehört auch sein humor. mit so köstlichem humor,
wie er z. b. V 7 in der Zurückweisung der gegen ihn erhobenen an-
klagen oder IV 6 in der bemerkung über die spartanische sitte des
stehlens der knaben hervortritt, kann in so gefahrvoller läge nur
ein mann sprechen , der sich den ihn umringenden gefahren nicht
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaua. 37 1
blobz völlig gewachsen weisz, sondern dessen persönlichkeit auch
ausgereift und abgeklärt ist, in dem das gemüt eine macht ist. das
ist in kurzen strichen entworfen das bild des heerfuhrers Xenophon,
wie es dem schüler aus der Anabasis entgegenstrahlt, wir können
wohl behaupten, dasz es danach angethan ist, das sympathetische
interesse des Schülers zu gewinnen, der in ihm den groszen, tapfern
und umsichtigen mann hochschätzen und den edlen, vaterlands-
liebenden und guten menschen lieben lernt.21
Aber auch für den Schriftsteller Xenophon ergeben sich
noch eine reihe recht günstiger charakterzüge aus der Anabasis,
was selbst der schüler aus der lectüre dieser bald herausmerkt, ist
die objectivität des autors. nirgends drängt sich die person des-
selben hervor, streng sachlich, scheint es, ist der darsteller verfahren,
indem er dem Strategen Xenophon gerechtigkeit widerfahren liesz,
nicht aber ihn auf kosten anderer pries, diese Wahrheitsliebe,
die auch die übrigen Schriften des Xenophon durchweht, ist an sich
ein hoher sittlicher vorzug seiner werke, für die schule, welche zu
ihr zu erziehen hat, wird sich ihr läuternder einflusz nicht verleug-
nen, wie sollte sich der führung dieses autors der leser nicht gern
anvertrauen, mag derselbe den rückzug der zehntausend schildern
oder das leben und die lehre seines meisters Sokrates. ein zweites,
was dem leser der Anabasis bald zum bewustsein kommt, ist die
hohe Sachkenntnis des mannes. freilich etwas selbstverständ-
liches, aber ich meine, sie erweckt schon ein günstiges Vorurteil für
die übrigen werke des Schriftstellers Xenophon. von der bescheiden -
heit und Selbstlosigkeit des heerführers Xenophon war schon die
rede, erst recht gilt sie vom Schriftsteller, so gestaltet sich das bild
des Verfassers der Anabasis als das eines hervorragenden Strategen,
eines ganzen mannes und nicht minder edlen menschen , wie auch
eines ebenso anregenden als liebenswürdigen fUhrers. doch auch auf
die formelle seite der bearbeitung seines Stoffes müssen
wir einen blick werfen, denn mag das interesse an einem Schrift-
werke in noch so hohem masze durch die person des Verfassers und
durch den stoff bedingt sein , so hängt es doch zum nicht geringen
teile auch von der art der darstellung ab, von der übersichtlichen,
klaren anordnung des Stoffes, der anschaulichkeit der erzählung und
beschreibung und der lesbarkeit des stils. über die Vorzüge der
Anabasis nach dieser seite hin brauchen wir kein wort zu verlieren :
die knappe, sachliche erzählungs- und schilderungsweise Xenophons,
seine anmutige spräche und oft humoristische darstellungsweise haben
ja von jeher unangefochten als solche gegolten.
Wie es scheint, in Widerspruch zu dem manne des praktischen
handelns, dem tüchtigen militär steht derphilosophXenophon.
die für uns im folgenden in betracht kommenden werke, die Memo-
" mit recht mahnt G. Radtke a. a. o. 8. 35: 'vor allem aber mnsz
der lehrer eine herzliche liebe zu der Persönlichkeit Xenophons bei den
Schülern erwecken.»
24»
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372 Der didaktische wert de« Xenophontischen Agesilaus.
rabilien, die Cyropädie und der Agesilaus (über die Hellenika haben
wir schon oben unsere ansieht geäuszert) tragen wesentlich philoso-
phischen gehalt in sich. Xenophon erscheint in ihnen als der eifrige
schüler des Sokrates. so ergibt sich uns eine wesentliche er-
gänzung des bisher gefundenen bildes, Xenophon ist auch ein denker,
und zwar ein selbständiger und recht ernster, er verzeichnet nicht
nur , wie er versichert , und wir haben ja grund ihm aufs wort zu
glauben, möglichst getreu die lehren seines weisen meisters über das
weite gebiet des menschlichen lebens, sondern er wendet dieselben
auch selbständig an auf sein lieblingsthema, das konigsideal. bleiben
wir zunächst bei dem bilde desXenophon als eines schülers
und freundes stehen, denn das Verhältnis des letzteren ist es ja,
in dem er zu seinem lehrer stand, wahrlich ein seltenes beispiel der
freundestreue, die Memorabilien, einer treue, die sich nach dem tode
des teueren golden bewährt welche beleuchtung erfahren die be-
lehrungen, welche Xenophon in den Memorabilien seinen lehrer über
die freund schaft erteilen läszt, und welche er selber in seinen andern
Schriften so vielfach gibt, durch das beispiel des Schriftstellers! es
ist eine rührende liebe und anhänglichkeit, welche Xenophon nach
seiner rückkehr im zuge der zehntausend zur Verteidigung des von
ungerechten Hentern zum tode verurteilten Sokrates treibt, sie
drängt ihn das reine, fleckenlose leben dieses, seine lehre und den
mit ihr übereinstimmenden wandel vor aller weit zu bezeugen — so
handelt der wahre freund und der rechte schüler. und noch eine
beobachtung drängt sich bei diesem bilde auf. der mann , welcher
mitten im thatkräf tigen , praktischen wirken steht, zeigt eine so
warme hingäbe an seinen lehrer, eine so frische begeisterung,
wie sie sonst nur dem jugendlichen alter eigen zu sein pflegt, wer
vermöchte wohl ohne tiefere rührung die totenklage zu lesen, welche
Xenophon in den Memorabilien seinem lehrer darbringt! freilich
kein weichliches jammern , sondern eine ernste , männliche spräche,
in welcher der welterfahrene mann um den dem misverstande und
der bosheit zum opfer gefallenen klagt, ich meine, das ist das
schönste, was der schriftsteiler Xenophon der jugend
zu bieten vermag, seine begeisterung für den groszen
und seinem herzen teueren lehrer. diese begeisterungsfahig-
keit, wie sie nur einem edlen herzen entspringen kann, reiszt auch
den blödesten mit und führt ihn in eine ideale Sphäre, die nicht ohne
reichen sogen für ihn sein wird, vermag überall die wärme des
tones, gepaart mit sachlicher behandlungsweise, den leser zu packen,
so gilt das ganz besonders für die Sokratischen Schriften Xenophons.
Freilich , das ist zuzugestehen , ein groszer philosoph ist Xeno-
phon nicht, und die ausstellungen , welche E. Zeller 2 nach dieser
Seite an seinen werken macht, sind vom Standpunkt des geschicht-
schreibers der philosophie aus berechtigt, weder hat Xenophon die
82 fdie philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen entwick-
lung'» II 1 a 200.
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilans. 373
weite des Sokratischen gesichtskreises auch nur annähernd erschöpft
noch ist er dem meister in die tiefe der Untersuchung gefolgt, noch
hat er endlich die lehren desselben immer richtig verstanden : wie
hätten wir auch von einem manne, der im praktischen leben so
groszes leistete, eine derartige feinheit der dialektik, Uberhaupt eine
bedeutendere speculative anläge erwarten sollen, aber was den philo-
sophischen köpf ausmacht , das interesse an der forsch ung um ihrer
selbst willen und die fähigkeit den dingen tief und selbstfindig nach-
zudenken, beides beweist er in seinen werken, und was im beson-
deren sein Verhältnis zu 8okrates betrifft, so hat er gewis diesen
altmeister in seinen speculationen vielfach nicht richtig, wenigstens
— und das ist ja groszen männern gegenüber natürlich — einseitig
aufgefaszt ; aber das, was er uns von dem bilde des weisen gibt, ent-
schädigt uns reichlich für diese einseitigkeit. auch haben wir es ja
hier nicht mit dem Schriftsteller, bzw. philosophischen Schriftsteller
Xenophon zu thun, sondern mit dem schulschriftsteller. und da
kommt es für uns allein auf die beantwortung der frage an: trägt
das bild , welches Xenophon von seinem meister Sokrates entwirft,
und tragen seine selbständigen, an die Sokratische philosophie an-
geschlossenen leistungen die merkmale an sich, welche seinen werken
einen bildenden einflusz auf die jugend sichern? besinnen wir uns
auf den zweck der Memorabilien, nemlich die reinheit und unantast-
barkeit des lebens wie der lehre des Sokrates nachzuweisen, so müssen
wir zugeben, dasz der autor dieser aufgäbe glänzend genügt hat.
das bild des weisen strahlt uns entgegen als das des sittlich -guten
menschen, des patrioten und — sagen wir es gleich heraus — des
sittlichen reformators seines volkes." was Xenophon bieten
wollte, war nicht ein erschöpfendes bild des philosophen
Sokrates, sondern das des lehrers und Staatsbürgers
8okrate8. und dieses bild trägt nicht blosz die begeisternden ztige
des geliebten freundes, dessen tücbtigkeit und Verdienste um das
gemeinwohl mit leuchtenden färben geschildert werden , sondern es
gibt uns auch eine völlig deutliche anschau ung von der staatserhal-
tenden lehrthätigkeit desselben, nicht blosz ihn selbst, den groszen
und weisen menschen, lernen wir kennen, auch Beine sittliche tbat
für die dem verfall entgegen eilende Vaterstadt verstehen wir. der
weise, gute mitbürger, welcher seinen Volksgenossen den einzig noch
möglichen weg, dem politischen untergange zu entgehen, zeigte,
nemlich den der sittlichen erneuerung, ist es, von dem die Memora-
bilien handeln, da mag denn leicht der schein entstehen, als ob auch
diese schrift 'sich durchschnittlich wohl kaum über das gebiet popu-
lärer Vorschriften für das tägliche leben erhebe', in der that jedoch
will seinem zwecke gemäsz Xenophon ja nur den für das heil seiner
Vaterstadt thätigen moralphilosophen darstellen, und ähnlich sind
die aus der lehre des Sokrates geflossenen Schriften, die Cyropädie,
n vgl. Weissenborn a. a. o. 8. 9 ff.
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374 Der didaktische wert dea Xenophontischen AgeailauB.
der Agesilaus, der Hieron usw. zu beurteilen: sie tragen philoso-
phische fragen, wie sie Sokrates angeregt hat, soweit sie für die
höheren praktischen interessen der menschheit von wert sind, in
einer auch gröszeren kreisen verständlichen form vor. so muszaus
den Sokratischen Schriften Xenophons für den schuler
herauswachsen die Persönlichkeit des groszen Sokrates
in seiner lehrthätigkeit für das sittliche und damit
auch politische wohl seiner mitbürger, kurz derrefor-
mator Sokrates nach seinen wesentlichen zügen.
Ein Schriftsteller, welcher eine derartige darstellung des Sokrates
sich zur aufgäbe gemacht hat, musz auch nach einer andern seite hin
den forderungen genügen, welche an einen schulschriftsteller zu
stellen sind, wer das bild des für das wohl seiner mitbürger trotz
aller anfeindungen und lttsterungen eintretenden weltweisen ent-
worfen hat, dem musz selber das wohl seiner Vaterstadt und seines
volkes am herzen gelegen haben, er musz einpatriot sein, so wäre
denn auf dem kürzesten wege die frage beantwortet: ermangelt der
Schriftsteller bei seinen andern groszen eigenschaften auch nicht der
Vaterlandsliebe, die ein sittliches erfordernis bildet, welches nach
unserer auffassungs weise den mann unseren herzen erst recht nahe
bringt? indes bedarf dieser punkt einer etwas weiteren ausfahrung.
die thatsachen, dasz Xenophon aus seiner heimatstadt verbannt wor-
den ist, und dasz in seinen Schriften mehr Sympathie für Sparta als
für seine Vaterstadt zu tage tritt, könnten gar leicht zu einem schiefen
urteil führen, dagegen berücksichtige man zunächst, dasz ein mann,
der in seinem Agesilaus die Vaterlandsliebe mit so warmen worten
preist, der ferner durch seine aufopfernde rückführung der zehn-
tausend durch die that sich als ein opiXeXXrjv wie einer bewiesen hat,
der in den Memorabilien seinen lehrer Sokrates allezeit zu rüstiger
mitarbeit an der staatsleitung auffordern läszt, tiefe liebe zu seinem
Vaterland im herzen getragen haben musz. und mit ihr ist seine
spartanerfreundliche gesinnung wohl zu vereinigen , ja dieselbe er-
klärt sich gerade aus ihr. welch eine wüste zeit die Jahrzehnte des
peloponnesisch en krieges waren , wie zumal in Athen das politische
leben völlig verfiel und in eine trostlose und rettungslos dem ab-
grand zueilende demagogie entartete, das erfährt der schüler im
geschieh tsunterricht, ja er kann es auch erfahren aus desselben Xeno-
phon geschichtswerk wie auch aus dem des Thukydides und den
politischen reden des Lysias, in welchen allerdings, entsprechend
dem parteistand punkt des redners, die pöbelherschaft nicht in dem
traurigen lichte erscheint wie das sie ablösende oligarchenregiment
dasz solchen zuständen gegenüber der wahre patriot, welcher die
schreckliche tragödie sich vor seinen äugen abspielen sab , wie das
Athen der Perserkriege und das Athen des Penkies eben infolge
seiner freiheitlichen Verfassung, deren letzte consequenzen von einem
Kleon und genossen gezogen wurden, unaufhaltbar dem verderben
entgegengieng, sich voller ingrimm von der demokratie abwandte,
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus. 375
auf die er, an sich wegen seiner aristokratischen gesinnung eine ver-
dächtige persönlichkeit, keinerlei einflusz zu gewinnen vermocht
hatte, wer wollte das nicht verstehen? und wie es mit seiner spar-
tanerfreundlichen gesinnung steht, ist dem schüler doch auch wohl
klar zu machen: was Xenophon an Lacedämon liebt, ist, wie er ja
immer wieder betont, die starke Verfassung dieses Staates mit seinem
historischen, fest im boden wurzelnden königtum. in einer kräftigen,
der demagogie wehrenden conservativen Verfassung sah Xenophon
das heil Athens, — dasz er eine eigennützige oligarchenherschaft
wünschte, das anzunehmen fehlt uns jeder anhält, halten wir zu
dem eben gesagten noch, was oben über die auffassung des bildes
des Sokrates bemerkt wurde, so wird uns die politische Stellung
Xenophons nicht zu den geringsten pädagogischen bedenken anlasz
geben, im gegenteil sein warm patriotisch empfindendes herz wird
uns für die schulzwecke den mann nur noch lieber machen.
Fügen wir die übrigen züge, welche das bild des Schriftstellers
Xenophon trägt, hinzu, die überzeugungstreue seiner politischen
gesinnung hat man nie zu verdächtigen gewagt , überhaupt ist alle-
zeit seine eh renhafte, tüchtige gesinnung anerkannt worden,
und dasz er ritterlich und vornehm in seinem empfinden und denken
war, davon sprechen seine Schriften auf schritt und tritt, seine Wert-
schätzung ritterlicher Übungen, des kampfes und der jagd mag nur
beispielshalber angeführt werden, seine religiöse gesinnung
zeigt sich nicht nur in seinem eignen leben in verschiedenen in der
Anabasis erzählten zügen , sondern vor allem in vertiefter weise in
den lebensbildern , welche er von Cyrus, Agesilaus und besonders
von Sokrates entwirft, dasz überhaupt sein sinn in hohem masze
dem idealen zugewandt war, darüber braucht man bei dem Ver-
fasser der Memorabilien wohl kein wort zu verlieren, so tritt uns
in Xenophon ein gediegener, wahrhaft sittlicher Cha-
rakter entgegen, der wohl dazu angethan istnach den
verschiedensten Seiten hin das interesse der schüler
zu gewinnen, und der reiche bildungsmomen te in sich
birgt, vor allem, erwähne ich noch einmal, Xenophon als der
freund und schüler seines meisters Sokrates, als der
warmherzige patriot und der mann der that wie nur
einer.
Glauben wir so gezeigt zu haben, dasz Xenophon in dem sinne
eine ideale gestalt ist, wie wir sie für den Umgang mit dem schüler
fordern, und dasz darum auch seine werke reichen bildungsgehalt
besitzen, so ist doch noch die formelle seite dieser zu besprechen,
Xenophon als Schriftsteller im besonderen zu behandeln, von dem
stofflichen interesse, welches der schüler seinen Schriften entgegen-
bringt, ist später zu sprechen, hier geht uns zunächst nur seine
art der darstellung an. so sehr die meisterhafte kirnst Xenophons
in der Anabasis allgemein bewundert wird , so oft hört man hin-
gegen tadel gegen die Sokratischen Schriften in dieser beziehung
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376 Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus.
aussprechen, sie leiden an übermäsziger breite , so lautet ein be-
liebter yorwurf. es ist nicht zu leugnen, dasz die eigenart des Stoffes
den Verfasser der Cyropädie zu behaglichem siebergehen in breiter
anläge des ganzen verlockt und verleitet hat, und dasz das werk an
manigfaltigen Wiederholungen leidet, ebenso wenig , glauben wir,
ist es möglich das interesse des schülers für die leetüre der ganzen
Memorabilien wach zu erhalten; stofflich sowohl wie in der art der
behandlung tritt in den gesprochen häufig schon früher gelesenes in
wenig veränderter gestalt entgegen, für die dritte in bet rächt kom-
mende schrift, den Agesilaus, läszt sich ein derartiger Vorwurf nicht
erheben, weil dieselbe im ersten teil durchaus lebendig und anschau-
lich , im zweiten , theoretischen teil kurz und bündig gehalten ist
aber auch bezüglich der Cyropädie und der Memorabilien sind diese
mängel, so weit sie für die didaktik in betracht kommen, leicht
genug zu beseitigen: man liest eben mit aus wähl, wie das ja auch
sonst bei gröszeren werken zu geschehen pflegt, werke, welche in all
ihren teilen von gleicher vorzüglichkeit sind , wie die Homerischen
dich hingen, sind ja ausnahmen, und da suche man die in der spräche
lebendigsten und anschaulichsten partien, und an solchen ist in beiden
werken kein mangel , im gegenteil dürfte die wähl des besten nicht
immer leicht werden, sich heraus und verarbeite das übrige mit ihnen
zu einem ganzen, einfach und auch für einen anfänger leicht zu be-
wältigen ist ja überhaupt die diction und darstellungs weise Xeno-
phons, auf wesentliche Schwierigkeiten dürfte derselbe kaum je
stoszen.
Indem wir die frage nach der didaktischen bedeutung des Stoffes
der Somatischen Schriften einstweilen unerledigt lassen, untersuchen
wir hier blosz die darstellung, in welcher Xenophon diesen stoff
seinen lesern bietet, um deren didaktische Verwendbarkeit zu prüfen,
dasz eine theoretische behandlung derSokratischen philosophie, auch
wenn ihr die beschränktheit des Xenophontischen Standpunktes an-
haftete , über den Standpunkt der secunda hinausgienge , ist wohl
zweifellos , da selbst die in so gefälliger form vorgetragenen lehren
des Plato in der obersten classe noch Schwierigkeiten genug be-
reiten, und so dürfen wir es denn als den hauptvorzug der behand-
lungsweise, welche Xenophon dem stoffe hat angedeihen lassen, auf-
fassen, dasz er die moralphilosophie keines meisters in eine praktische
form, an anschauliche Vorgänge und Verhältnisse des täglichen lebens
anknüpfend, kleidet und sich nie durch speculative Untersuchungen,
welche an die geistige kraft des schülers zu hohe anforderungen
stellen würden, unterbricht, in den Memorabilien sind die dialoge,
welche in lebhaftem gange den gegenständ behandeln, kurz, und der
grundgedanke wird in knapper darlegung durchgeführt, so dasz etwa
mit ausnähme des wichtigen und gedankenreichen gespräebs II 1
über die wahre freiheit die behandlung derselben nicht über eine
reihe von Unterrichtsstunden hingezogen zu werden braucht, was
nicht im interesse des Unterrichts läge, die Cyropädie und der
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Der didaktische wert des Xenophonti sehen Agesilaus. 377
Agesilaus behalten mehr oder weniger politische oder kriegerische
Verhältnisse durchgängig im auge, so dasz auch hier der schüler nicht
etwa mit abstractem gedankenstoff beschäftigt wird, dazu ist die
auffassungsweise Xenopbons für secundaner durchweg verstund lieh
oder kann es wenigstens mühelos gemacht werden, fast nirgends
werden Verhältnisse und anschauungen als allgemein bekannt voraus-
gesetzt, sondern der stoff wird auch in seinen einzelneren erschöpft.
Um noch ein formales dement zu erwähnen, so schlieszt sich
die spräche der Cyropädie am leichtesten an die der Anabasis , mit
welcher sie die flieszende und klare diction gemein bat, an, der
schüler hat also keine wesentliche formelle Schwierigkeit in der be-
wältigung dieser leetüre. den Übergang auf die spräche der
Memorabilien macht zweckmäszig die leetüre des Age-
silaus, welcher vielfach in der sprachlichen fassung an diese an-
klingt, daher dürfte es sich auch empfehlen, ganz ab-
gesehen von dem später zu erledigenden stofflichen
i nteresse, denselben der leetüre der Memorabilien als
Vorbereitung voraufzuschicken, ist im ersten Semester das
geschieht* werk des Herodot in auswahl gelesen, so wird der Agesilaus
schon nm deswillen passend gewählt werden, weil die längere be-
schäftigung mit dem ionischen dialekt ein möglichst intensives be-
treiben des attischen zum zweck einer tüchtigen sprachlichen grund-
lage für prima fordert, der Agesilaus aber gerade in seinem ersten
teil auszerordentlich gefällig und leicht geschrieben ist, wie denn auch
das Verständnis dieses historischen teiles der Schrift aller Schwierig-
keiten entbehrt, die leetüre demnach eine schnelle sein kann, ander-
seits bereitet diese, indem sie das in der Cyropädie gewonnene
material in kurzer und knapper Zusammenfassung vorführt, auf die
schwierigere leetüre der Memorabilien vor. nach meinen wieder-
holten erfahrungen kann der Agesilaus innerhalb weniger wochen
bequem bewältigt werden , und der leetüre der Memorabilien wird
dann um so regeres interesse entgegengebracht, auch möchte neben-
bei der praktische gesichtspunkt nicht ganz abzuweisen sein, dasz
der schüler, der bisher an der Anabasis, der Cyropädie und dem
Herodot gewöhnt ist Schriftwerke blosz in auswahl zu lesen, jetzt
zum erstenmal gelegenheit bekommt etwas ganzes zu bewältigen,
wodnrch sein kraftgefühl wie nicht minder sein interesse an der
griechischen litteratur nur eine Stärkung erfahren kann. — Endbch
bieten die Memorabilien auch in ihrer gesprächsform passend eine
Vorbereitung auf die leetüre des Plato.
HI. Der didaktische wert der Sokratischen Schriften
Xenophons.
Wir behandeln auch jetzt noch die drei Schriftwerke, die Cyro-
pädie, den Agesilaus und die Memorabilien, zusammen : sie sind ins-
gesamt der au8flusz und die darstellung Sokratischer lehren , und
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378 Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaos.
ehe der im Agesilaus im besonderen liegende bildungsgehalt einer
eingehenden Würdigung unterzogen wird, müssen wir denselben im
Zusammenhang mit der voraufgegangenen lectüre der Cyropädie und
der nachfolgenden der Memorabilien untersuchen, d. h. seine bildungs-
momente im Zusammenhang mit denen der andern beiden Schrift-
werke, mit welchen zusammen sie erst einen festen einheitlichen
gedankenkreis ergeben, behandeln, dieser gedankenkreis gruppiert
sich um die gestalt des philosophen Sokrates und seine moralpbilo-
sophie. um den didaktischen wert der drei Schriften zu erweisen,
müssen wir einmal die geschichtliche persönlich keit des Sokrates,
wie der schüler sie aus ihnen gewinnen kann, auf ihre bedeutung
für die anschauungsweit dieses prüfen, sodann die brauchbarkeit der
Sokratischen lehre, wie sie in ihnen zur darstellung gelangt, für die
gesamten unterrichtszwecke. tritt übrigens die gestalt des philo-
sophen auch in den beiden erstgenannten Schriften noch nicht faszbar
hervor, so weist doch auch in diesen schon alles auf sie hin und ihr
geist beherscht den gesamten gedankenkreis, so dasz wesentliche
züge ihres bildes schon hier gewonnen werden.
Soll die geschichtliche gestalt des Sokrates ein für
die unterrichtszwecke fruchtbares object sein, so musz derselben
geschichtliche grösze und bedeutung innewohnen, sie musz typischen
gehalt haben und die eigenschaften besitzen, um dem schüler ein lieber
und begehrter Umgang zu werden, und gewaltig genug ragt der
Sokrates der geschichte aus der Griechen- , überhaupt aus der alten
weit empor, in der geistigen entwickelung derselben bezeichnet er
als vater der philoaophie einen merkstein, dessen ungeheuere bedeu-
tung auch für unsere cultur deutlich vor äugen liegt kein name
aus der alten weit bedeutet für die gesamte geistige entwickelung
der menschheit so viel als dieser, diese universelle bedeutung des
Sokrates als des begründers aller philosophischen Wissenschaft, im
besonderen des geistigen vaters der Platonischen und Aristotelischen
Philosophie, sowie der griechischen philosophenschulen, wie er sie
aus Ciceros Schriften später kennen lernt, springt auch dem schüler
klar in die äugen. Sokrates lehrt die menschheit sich über sich selbst
sowie die umgebende weit klar zu werden; er lehrt den menschen
nachdenken über das eigne ich, über seine bestimmung, die mittel
derselben zu genügen , über die Stellung des einzelnen zur familie,
seinen mitmenschen gegenüber, dem Staate; sie sollen sich klar
machen, was das wesen des menschen ist, der familie, des Staates,
all diese Verhältnisse und bedingungen sollen ein gegenständ tieferen
nachdenkens werden, und dies soll zu einer systematisch begründeten
Weltanschauung führen, freilich der Xenophon tische Sokrates
begnügt sich nicht damit, dem menschen die aufgäbe zuzuweisen,
über die begriffe der dinge nachzudenken, er stellt auch die frage
nach dem zwecke dieser geistigen arbeit, er will diese in den dienst
der eignen Vervollkommnung, in den dienst der arbeit an den seinen,
in den dienst an der gesamtheit im staatsieben gestellt wissen, auch
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus. 379
die philosophie soll die aufgaben des einzelnen wie der gesamtheit
erfüllen helfen, vor allem soll sie der moralischen besserung dienen,
indem er alle sich dieser nicht unterordnenden fragen verwirft, cha-
rakterisiert Xenophon seine lehrtbätigkeit Mem. I 1, 12 durch das
seinem Verfasser so oft zum Vorwurf gemachte wort: Kai TTpüJTOV
H^V aUTÜJV dCKÖTT€l, 1TÖT€pd 7TOT€ VOUicaVTCC IküVÜJC {\bf\ TfivöpUJ-
TTiva eibevai £pxoviai (nemlich die philosophen) im tö Trepi tüuv
TOiouTUJV (nemlicb astronomie , pbysik u. ä.) qppo vn£€iv, f) xd faev
dvöpujTnva nap^vTec, to öaiuövia bk ckottoövtcc f|YoövTai to
rrpocriKovTa TTpotTieiv. so ersteht in dem Xenophontischen Sokrates
ein gewaltiger prediger, dessen mahnruf noch heute an uns mächtig
erschallt, und wenn wir so in ihm nicht blosz den groszen philo-
sophen, sondern auch den propheten sehen wollen, welcher mit lauter
stimme der menschheit ihre aufgaben vorhält, so bekommt die ge-
stalt desselben doch noch ein ganz anderes aussehen, es scheint, als
ob dieser mann weit hinausrage aus der ihn umgebenden weit des
Heidentums, er scheint mit seiner buszpredigt den boden desselben
zu verlassen und eine Vertiefung des sittlich-religiösen bewustseins
darzustellen, wie wir eine solche für das Christentum in anspruch
nehmen, und die tugenden , welche er lehrte , lebte er in frömmig-
keit und reinheit seinen mitbUrgern vor; wie er durchaus selbstlos
war, so galt seine ganze thätigkeit seinem berufe diese zu bessern.
Sokrates ist eben eine der edelsten erscheinungen des Griechentums;
das streben nach heiligung, welche auch diesem nicht fehlte, findet
in ihm einen seltenen und rührenden ausdruck. dieser Sokrates
zeigt dem schüler, wie das griechische leben in der pflege des
schönen , dem genusz des daseins und seiner politischen Gestaltung
sich doch noch nicht erschöpft hat, wie denn doch auch eine tiefere,
sittlich -ernste und wahrhaft religiöse lebensauffassung wenigstens
dem kern nach im Hellenentum steckt, wenngleich derselbe zur ent-
faltnng nur in wenigen geschichtlichen gestalten gekommen ist. in
dieser beziehung bietet Sokrates eine wesentliche ergän-
zung des Griechentums, aber er weist zugleich über
dasselbe hinaus, freilich zeigt er, wie seiner mitweit, so auch
uns, wie weit es der mensch in seiner Vervollkommnung mit sitt-
lichem ernste zu bringen vermag, wie weit er ein tugendhaftes und
gottwohlgefälliges leben anzustreben vermag, aber auf der andern
seite bleiben auch für einen Sokrates noch so viel fragen offen, dasz
an seinem bilde klar zu erkennen ist, wo die grenzen des Heiden-
tums liegen, wie weit dasselbe aus eigner kraft überhaupt nur zu
gelangen im stände war." und so ist auch in dieser beziehung
der Xenophon tische Sokrates eine typische gestalt, welche die ge-
u für Plato vgl. die schöne Zusammenstellung J. Rothfuchs' im
Programm des evangel. gymnasinms za Gütersloh, Ostern 1878 'paral-
lele und sich schneidende linien Sokratischer und christlicher lebens-
weisheit'.
380 Der didaktische wert des Xenophontiachen Agesilaus.
achichtliche auffassung des Schülers wesentlich bereichern und ver-
tiefen kann.
Tragt das bild dieses mannes nach der bisherigen darlegung in
gewisser beziehung einen kosmopolitischen charakter, weist der
Philosoph und der lehrer der humanität auch Über die grenzen des
Griechentums hinaus, so zeigt sich doch der Sokrates des Xenophon
auch als ein wahrer Grieche in seiner Vaterlandsliebe, man
braucht nicht einmal an seine Widerlegung des Aristippischen ircrv-
TCtxoC eifu, «mundanus sum' zu denken (Mem. II 1), in welcher er
die Zugehörigkeit zu einem Staatswesen gegenüber einem trostlosen
Weltbürgertum verteidigt, sein leben und seine lehre stehen überall
im dienste seiner Vaterstadt, wie er denn ohne anmaszung seinen
richtern gegenüber sich rühmen konnte, er habe einen ehrenplatz
im prytaneum zu beanspruchen, vgl. Mem. I 2, 61 ff. damit gehen
wir zur Würdigung der geschichtlichen bedeutung des Sokrates im
engeren sinne über.
Sokrates lehrte in dem entarteten Athen, in der durch den
peloponnesischen krieg völlig zerrütteten Stadt, wie er in dem be-
rüchtigten Arginusenprocess den leidenschaften des Volkes mit ruhiger
Überlegenheit gegenübertrat (Mem. I 1, 18), so suchte er, furchtlos
auch den erbittertsten politischen gegnern und den machthabern
gegenüber, das volk zu kräftigen, indem er demselben ernst und be-
stimmt die wege wies, auf denen es besserung erhoffen konnte, es
galt ihm die Schäden der demokratie zu beseitigen (z. b. Mem. I
2, 9 ff.), aber auch positiv tüchtige naturen zu energischer mitarbeit
an dem wohle des Staates anzutreiben , wie er denn selbst mehrfach
in seinem leben sich in den unmittelbaren dienst seines Vaterlandes
gestellt hat , im übrigen freilich durch seine lehrthätigkeit seinen
Patriotismus am besten zu erweisen glaubte, vor allem sab er klar
— und die geschiente hat ihm recht gegeben — , dasz nur durch
eine völlige Umgestaltung des wesens, durch eine sittliche erneue-
rung ein entrinnen aus dem allgemeinen Untergang möglich war.
darum seine stete mahnung an der sittlichen besserung zu arbeiten,
sein ruf an den einzelnen mit allem ernste für das eigne heil und
das der seinen einzutreten, seine kräfte ohne rücksicht auf das eigne
behagen in den dienst des ganzen zu stellen, so gewinnen wir dem
bilde des Sokrates, wie es Xenophon zeichnet, noch eine andere seite
ab, er ist, oder will es wenigstens sein, der reformator seines
Volkes, also auch insofern ein typischer charakter, zugleich aber
auch ein tragischer, die Zersetzung und der verfall de3 athenischen
Volkes war schon nicht mehr aufzuhalten, Sokrates verteidigte einen
verlorenen posten, er muste seine treue gegenüber seinen Volks-
genossen mit dem tode büszen.
Ehe wir auf das Schicksal des Sokrates weiter eingehen, sei
ein geschichtlicher rückblick gestattet, wie die politische ent Wicke-
lung Athens auf dem gymnasium nach unserer obigen darlegung
mit recht einen breiteren räum beansprucht, so musz der verfall
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus. 381
dieses Staatswesens nach seinen Ursachen und erscheinungen auch
in der lectttre seinen platz haben, wir wiesen auf Xenophons
Hellenika und des Ly6ias reden hin, bemerkten jedoch, dasz wir
dieselben lieber durch die Somatischen Schriften Xenophons ver-
drängt sähen, hier folge der grund für diese unsere entscbeidung.
die auffassung des Sokrates in den Memorabilien Xenophons flieszt
and ist allein zu verstehen aus denselben politischen Verhältnissen,
welche in jenen litteraturwerken in so grellen färben gemalt sind,
nun hat es aber pädagogisch sein bedenkliches, die schüler an-
haltend mit epochen des allgemeinen Verfalls eines Volkes zu be-
schäftigen, und anstatt die blute desselben vor seinen äugen wieder-
erstehen zu lassen, ihn allzu tiefe blicke in seine fäulnis thun zu
lassen, das lehrreiche dieser wagen wir nicht zu bestreiten, aber
das gemüt des schülers findet zu wenig nahrung bei derartigen
Stoffen, wenn nun aber für die Memorabilien des Xenophon der
politische und sociale niedergang des athenischen Volkstums die
grundlage bildet, auf der sich das wirken des patrioten Sokrates er-
hebt, und zugleich die gründe zu seiner Verurteilung bietet, so meinen
wir, wäre diese geschichtliche epoche in ihren Wirkungen klar und
deutlich genug in ihnen gezeichnet, freilich ist der leser der unmittel-
baren anschauung dieser unsäglich traurigen zeit mit ihren greueln
und ihrer ohnmächtigen blutherschaft enthoben, vielmehr zeigt
ihm das lebensbild des Sokrates in typischen zügen,
wie einem dem abgrund zueilenden volke allein noch
zu helfen ist, lehrt aber auch das furchtbare rzu spätl'
der Weltgeschichte in erschütternder weise, demnach
bieten die Memorabilien, und wie wir später zeigen werden, auch die
beiden andern genannten Schriften, die positive kehrsei te der Schil-
derungen des Lysias und der Hellenika , und ihre lectüre erhebt,
anstatt niederzudrücken; sie enthält, wenn sie auch in ebenso deut-
licher spräche das warnende geschichtliche beispiel vor äugen hält,
doch daneben des groszen und gesunden genug an stelle des kleinen
und krankhaften.
Und innerhalb dieses gedankenkreises gewinntauch das 1 e ben s-
schicksal des Sokrates seine rechte bedeutung. weshalb muste
dieser durchaus uneigennützige, patriotische und dem dienst der
Wissenschaft ergebene mann seinen tod finden? diese frage musz
dem Bchtiler die lectüre der Memorabilien beantworten können ; die
Antwort ist, wenn auch von Xenophon in herbem schmerz mehr an-
gedeutet als deutlich ausgesprochen , zwischen den zeilen herauszu-
lesen, gegen die vorwürfe der gottlosigkeit und der verfuhrung der
jugend seinen lehrer zu verteidigen, muste dem Verfasser leicht
werden; bringt er doch in dem bilde der segensreichen thätigkeit
desselben den besten beweis gegen sie. und was sonst an Verdäch-
tigungen geltend gemacht wurde, konnte er ja mühelos aufklären,
sollten aber wirklich die richter nur um der bosheit des eignen
herzens willen Sokrates verurteilt haben? sprach wirklich auch dem
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382 Der didaktische wert de« Xenophontischen Agesilaus.
leidenschaftslosen Athener alles für Sokrates? man berücksichtige
die allgemeine Stimmung in der beurteilung seines wirkens, wie sie
sich in Aristophanes Wolken aasspricht (dem schüler von dieser
komödie eine Vorstellung zu geben wäre bei der lectüre der Memo-
rabilien , bzw. der apologie Piatos am platze); dieselbe entschied
gegen ihn. die gründe für die Verurteilung werden denn doch wohl
tiefer gesucht werden müssen, wenn Sokrates seine schüler zum
nachdenken veranlagte über das Verhältnis der kinder zu den
eitern, der bürger zum Staate, so handelte er damit in der that
dem griechischen volksgeiste zuwider, die griechische anschau-
ung schlosz eine kritik der pietäts Verhältnisse der famiüe wie der
staatsgesetze unbedingt aus. und dann das mis Verständnis, dasz des
Sokrates thätigkeit derjenigen der Sophisten gleiche! ja, Sokrates
wäre schuldig gewesen nach griechischer auffassung, — wenn er
vor andern richtern gestanden hätte, darin liegt die lösung der
ganzen frage : die Athener des ausgangs des peloponnesischen krieges
hatten kein recht Sokrates zu verurteilen, nicht Sokrates war es, der
den verfall des Volkstums, der väterlichen sitte und des väterlichen
glaubens beschleunigte, die Athener dieser zeit glaubten schon längst
nicht mehr, das gift der Zersetzung und des zweifeis hatte seine Wir-
kung längst gethan: Sokrates dagegen wollte, wie wir sahen, an
stelle der allgemeinen Verneinung etwas positives setzen, er wollte
die wunden, welche dem attischen Volkstum geschlagen waren,
heilen, im lichte dieser Überlegungen musz denn auch die lectüre
der Memorabilien dazu beitragen, den geschichtlichen blick
des schülers zu schärfen und zu erweitern, auch für die
griechische anschauungsweit müssen sich ihm grosz-
artige geschichtliche perspectiven erschlieszen.
Nun nehme man noch die übrigen züge, welche die Memora-
bilien für das bild des groszen weisen bieten, hinzu : neben der schon
oben erwähnten sittenreinheit die grosze anspruchslosigkeit des nur
güter von ewigem wert schätzenden mannes — gewis ein typischer
zug für das bild des weisen, tagtäglich sehen wir ihn thätig
seine mitbürger ohne ansehen der person und des Standes zu belehren
und zu bessern, wie anschaulich lassen die gespräche, welche uns
Xenophon vorführt, das bild des philosophen hervortreten, wie
musz, nebenbei bemerkt, sich der phantasie des schülers auch Athen
mit seinen platzen und straszen, seinen ballen und Werkstätten, mit
seinem menschengewoge beleben: ich zweifle nicht, dasz das bild
Athens, welches der schüler unter der leitung eines phantasievollen
lehrers aus der lectüre der Memorabilien gewinnt, ein anschaulicheres
wird, als das in bloszen topographischen belehrungen gebotene,
und wie gern lassen wir uns von dem seiner Umgebung weit über-
legenen manne führen, der so viel liebenswürdige züge an sich trägt,
doch wohin will er uns führen, mit andern worten, welches ist der
inhalt seiner lehre? wir haben uns im zusammenhange unserer dar-
legung jetzt die frage vorzulegen : bietet die Sokratische lehre,
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Der didaktische wert de» Xenophontischen Agesilaus. 383
wie sie in den Xenophontischen Schriften entwickelt wird, des bil-
denden genug für den scbüler? zur beantwortung derselben müssen
wir diese in ihren grundzügen besprechen, wie wir auch die frage
nach der methode , in welcher sie entwickelt wird , zu untersuchen
haben.
Schon oben war gesagt worden, dasz die So k ratischen Schriften
Xenophons die lehre des meistens nicht in form eines Systems geben,
die arbeit die in anschlusz an die bebandlung der lebensbilder des
Sokrates, des Cyrus und des Agesilaus gewonnenen resultate zu
einem solchen zu vereinigen verbleibt der schule, das hauptsäch-
liche sei im folgenden dargestellt.
Der zweck aller moralphilosophie ist für den Xenophontischen
Sokrates der oben bereits angegebene, den menschen durch sie zu
erziehen und zu bilden, an das ziel der sittlichen bildung, zur sitt-
lichen Vollkommenheit, dpein, genannt als der in die äugen
fallende innere wert, KCtXoKdYaeia in einer der griechischen anschau-
ungsweise eigentümlichen Zusammenfassung des vorzüglich ausge-
stalteten inneren und der ausprägung desselben in der äuszeren
er scheinung, gelangt der mensch durch die Unterweisung, den Unter-
richt, freilich wollen die seelischen kräfte geübt werden, zu dem
unterriebt musz eine stete Übung treten, doch im wesentlichen ist
tugend gleich wissen, ein fandamentalsatz der Sokratischen
ethik ist: wer das gute weisz, der thut es auch, bedingung für den-
selben ist, dasz für die bestimmung des sittlich guten der
maszstab von den folgen des thuns hergenommen wird, so dasz das
gute zusammenfallt mit dem nützlichen, freilich nicht dem einzelnen
lebenszwecken förderlichen, sondern dem wahrhaft frommenden, weil
den menschen dauernd beglückenden und beseligenden (eubaijiovia).
indessen will Sokrates das gute nicht etwa um seiner folgen willen
gethan wissen, in der aussieht auf lohn oder strafe, sondern das gute
soll allein um seiner selbst willen gethan werden, diese Sittlichkeit
wird freilich auch in beziehung gesetzt zunächst zur gottheit, deren
existenz im anschlusz an den griechischen Volksglauben als selbst-
verständlich gesetzt wird, aber auch teleologisch nachgewiesen wird,
am schönsten ist es wohl Cyr. VIII 7, 22 ausgesprochen, dasz die
scheu vor der ewigen und allwissenden gottheit, der allmächtigen
hüterin der sittlichen weltordnung, zum sittlichen handeln bestimmen
soll: dXXd Ö€ouc Y€ touc dei övrac Kai TravT* ^cpopüjviac Kai
Trdvta buva^evouc, oi Kai Trrvbc Tf|v tüjv öXujv toHiv cuvcxouav
ciipißf) Kai drripaTOv Kai dvaudpTryrov Kai utto KdXXouc Kai hcy^-
öouc döirjYTyrov, toutouc cpoßoüuevoc urjiroT* aeeßec un.btv unb£
dvöciov urjT€ 7TOirjcr|T€ nryre ßouXeucnrc. und mit hin weis beson-
ders auf die allwissenheit derselben Mem. 14, 19: luoi nev toutü
\lfwv ou uövov touc cüvövxac dbÖKei Tioieiv, Ö7TÖT€ utto dv6puj-
ttujv 6ptuvTO, dTT^xecGai tüjv dvocuuv T€ Kai dbucwv Kai aicxpujv,
dXXd Kai öttötc iv £pnuia clev, inemtp f|YT|cavTO pntöv äv ttotc
ujv Ttparroiev Oeouc biaXaBeiv. daneben soll aber auch die rück-
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384 Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus.
siebt auf mit- und nach weit nicht ohne einflusz auf das handeln sein,
besonders bei denen, welche wie die fürsten den blicken derselben
in hervorragender weise ausgesetzt sind, aber auch für einen jeden
ist die sittliche scheu vor dem nächsten mit ein antrieb zum sitt-
lichen handeln, bzw. eine warnende stimme, unserem gewissen ver-
gleichbar, das böse zu meiden.
Ist tugend wesentlich gleich wissen, so ist das höchste gut
die Weisheit, zu ihr musz der mensch erzogen werden, damit
sind wir schon auf die verschiedenen erscheinungsformen des guten,
bzw. des sittlich guten handeln*, übergegangen, sie sind, weil der
auffassungsweise des täglichen lebens entsprechend, praktisch am
wichtigsten, auch sie sind von dem Xenophontischen Sokrates noch
nicht in ein bestimmtes System gebracht, doch scheinen die Plato-
nischen sog. cardinaltugenden auch in den Xenophontischen
Schriften schon durch.
Die tugend stellt sich zunächst dar als frömmigkeit, evei-
ßeia oder öeiabaiuo via im guten sinne, im Verhältnis des menschen
zu der gottheit. sie ist die grundlage der sittlichen persönlichkeit,
welche in allem handeln ihren anfang bei der gottheit nimmt : rroXXd,
heiszt es Cyr. I ö, 14 , fdp |uoi cuvöviec drricTacGe ou jiövov tä
^täXa, dAXd Kai xd uuepd rreipujMevov dei coro Oeuuv öpuäcöai.
kein frevel wiegt schwerer als der meineid. der wahrhaft fromme
hält auch nicht blosz die heimischen götter, sondern ebenso die
fremden gottheiten heilig, mit andern Worten, die frömmigkeit for-
dert die toleranz. wie sittenreinheit im leben aus ihr folgt, so findet
sie ihren wesentlichen ausdruck im gebet, im opfer und in der
mantik, indem der Xenophontische Sokrates auch die beiden letzten
von der volksreligion geforderten erweise der frömmigkeit festhält,
vertieft er sie doch in wahrhaft religiöser auffassung. wie das gebet
der frommen nicht etwa blosz zur zeit der not, sondern erst recht
im glücke, als dankgebet zum himmel gesandt wird, so soll der
mensch in ihm nicht thörichte und unfromme wünsche thun, sondern
er soll in gläubigem vertrauen auf die allgütige gottheit allein am
den segen von oben flehen, so kommt auch bei der mantik allesauf
die reinheit der gesinnung des fragestellers an (vgl. bes. Cyr. VII
2, 15 ff.), die geneigtheit der gottheit den menschen ihren willen
durch zeichen kundzuthun, folgt aus der fürsorge, mit welcher sie
ihn überall umgibt (vgl. z. b. Mem. I 1, 19). insofern als die gott-
heit durch ihre täglichen wohlthaten auf die dankbarkeit des men-
schen anspruch hat, übt dieser nur billigkeit, buceuoeuvr), indem er
ihr ehre und dank spendet, die biicaiocüvr) ist eine weitere cardinal-
tugend der Sokratischen ethik: sie versittlicht auch die Übrigen
menschlichen lebensverhältnisse.
Die tugend der gerechtigkeit übt der söhn, wenn er die
sorge und liebe , mit der die eitern seine kindheit umgeben haben,
mit dankbarkeit vergilt und mit zärtlicher liebe an diesen hängt,
er soll auch da, wo das Verhältnis zwischen kindern und eitern kein
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Der didaktiache wert des Xenophontißchen Ageailaus. 385
ganz ungetrübtes ist, diese pflicht der pietät nicht auszer äugen
lassen : ihre Vernachlässigung findet die härtesten strafen seitens des
Staates, und die menschen strafen sie mit ihrer Verachtung, dasz
die kinder den willen des sterbenden vaters nach dessen tode heilig
halten, wird Cyr. VIII 7, 22 als stillschweigende Voraussetzung an-
genommen, diese gerech tigkeit, welche als gegensatz dem egoismus
gegenübersteht, verklärt auch das Verhältnis zwischen geschwistern
innerhalb der familie. da soll eins dem andern nicht blosz seine
liebe vergelten, sondern ihm an freundlichkeit und gutem willen
zuvorkommen und ernstlich bestrebt sein etwaige mis klänge und
Einverständnisse zu beseitigen, nicht minder ist die biKaiocuvr) die
grundlage und das sittliche princip der freundschaft. wie klingt der
preis dieser durch die Xenophontischen Schriften hindurch! wie die
gattenliebe, so wird die freundesliebe nach ihrem wesen untersucht
und an schönen und erhebenden beispielen erläutert, kein irdisches
gut frommt dem menschen so sehr wie die freundschaft, in der not
wie im glücke, nur edle naturen können wahrhafte freundschaft
schlieszen, nur wer willig und ohne allen eigennutz von dem seinen
mitteilt, vermag sich den freund zu verpflichten und zu dauerndem
besitze zu machen, an stelle augenblicklichen Zerwürfnisses tritt
bald die Verständigung, wie zart wird das freundes Verhältnis Cyr.
I 6, 24 beschrieben: tö b€ cuvnböuevov <pcuv€c9cu, flv n äraGdv
auToic cuußaivrj , Kai cuvaxOouevov, r)v ti kcocöv, Kai cuveiriKOu-
peiv Trpo8uuouu€VOv xaic drropiaic auiaiv, Kai qpoßoüuevov, prj ti
cmaXwci, Kai Tipovoeiv ireipujuevov, ibc ufj copäXXujvTai , TaÖTa
Ttujc bei uäXXov cuuirapouapxeiv. so zeigt sich in dem freundes-
dienst der begriff der biKaiOCUvr) in seiner ganzen sittlichen kraft,
über ihre bedeutung im Verhältnis des unterthanen zum herscher ist
weiter unten noch zu sprechen, hier sei nur noch erwähnt die ehr-
furcht, welche der jüngere dem älteren zu zollen hat, die er äuszer-
lich bezeugt, indem er ihm auf der strasze bescheiden ausweicht und
auf Sitzplätzen den Vorrang läszt. auch sonst tritt im verkehr mit
den mitmenschen die gerechtigkeit in erscheinung in der übung
strenger Wahrhaftigkeit, in der milde und nachsieht gegen fehlende,
endlich ist ein erforde rnis der biKatocüvrj die pflicht gegen das Vater-
land: ihm, unter dessen schütze der einzelne bürger lebt, bat dieser
seine ganze kraft zu leihen, es ist etwas herliches ein qpiXöiraipic
zu sein.
Wohlthaten, materielle ebensowohl wie sonstige gunstbezeu-
gungen, wird der edle dankbar hinnehmen und so bei gelegenheit
zu vergelten suchen, wie er sie erweist, ohne dank zu beanspruchen,
diese unejgenntitzigkeit, f) eic xpilMOrra bmaiocuvr) (Ag. IV 1), führt
uns auf die dritte cardinaltugend , die £YKp&T€ia. diese tugend der
conti nentia ist durch unser wort enthaltsamkeit nur nach ihrer nega-
tiven seite wiedergegeben, richtiger werden wir sie durch selbst-
beherschung übersetzen, Zügelung der begierden des fieisches,
Unterordnung derselben unter die Vernunft, der weise, also sittlich
N. jahrb. f. phil. a. päd. 11. »bt. 1891 hfl 8 u. 9. 25
386 Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaue.
gute besitzt die herschaft über die fleischlichen begierden, d.h. ebenso
wohl die Widerstandsfähigkeit gegen den schmerz wie gegen die
lockungen des Sinnenreizes, diese, welche dv tlu cujtuj cuu^axi cuu-
TT€q)UT€u^dvai ttj ujuxr) Treiöouciv aurfjv cujcppovciv, dXXd xfjv
Taxicuiv dauraic T€ Kai tuj cuunait xap^ecöai (Mem. I 2, 23), sind
mit sittlichem ernste, ob sie sich auf den fleischlichen gennsz oder
auf das eigentum des nächsten richten, zu bekämpfen, wenn anders
der mensch seinen sittlichen beruf erfüllen will, hat er sich von
ihnen völlig frei zu machen; erst wenn er zur sittlichen freiheit-sich
durchgekämpft hat, vermag er in sittlichen lebenskreisen erspriesz-
lich zu wirken, endlich ist noch die tugend der tapferkeit und
des mutes, die dvbpeia, zu erwähnen, welche auf der einsieht in die
wahren gefahren beruht und diesen richtig zu begegnen weisz.
Wer so allemal im besitz des echten Wissens, der coqnct ist, der
thut das gute, diesen so organisierten , sittlichen menschen nennt
Sokrates cuxppwv. so ist cuMppocuvr) sittlichkei t schlechthin:
der stimme der Vernunft und des gewissens ordnen sich die mensch-
lichen triebe, weiche nach befriedigung des eigennutzes und des
fleisches verlangen, unter, so hat der philosoph das bild des wahr-
haft guten, weil weisen aufgestellt und das tugendideal nach
seinen wesentlichen Seiten umschrieben, wenn so der mensch nach
Vollendung seiner persönlichkeit strebt, so trachtet er auch mit ernst
die lebenssphäre, in welche er gestellt ist, auszufüllen; er wird, eine
durchaus sittliche natur, auch alle lebenskreise mit sitt-
lichem geiste erfüllen, als familienvater schafft er nicht blosz
sein eignes sittliches wohl, sondern er faszt seine aufgäbe dahin auf,
dasz er auch an dem wohle der seinen zu arbeiten hat, für dieses an
seinem teil verantwortlich ist. als beamter im Staatsdienst sucht er
seine Stellung nach kräften auszufüllen , überhaupt in jedem beruf
oder Stellung ist er eingedenk des Wortes, dasz nicht der ein arzt,
Stratege usw. ist, der in dieses amt eingesetzt ist, sondern wer den
pflichten zu gentigen weisz, welche das amt an ihn stellt, 6 ^Tricrct-
uevoe iäcOou, CTpaTrrfeTv usw. (vgl. z. b. Mem. III 4). zu dieser
• erkenntnis , dasz nicht der name und äuszere Stellung den wert des
mannes ausmacht, sondern das masz seiner leistungen, soll die be-
griffsmäszige Untersuchung der dinge führen, auf sie
müssen wir noch einen blick werfen, indem Sokrates seine schüler
beobachten lehrt, ihren blick für die dinge um sich schärft, führt er
sie zugleich darauf überall zu fragen nach dem warum? und dem
wozu? und indem er nun die verschiedenen erscheinungsformen der
dinge mit einander vergleicht, lehrt er sie das wesen dieser erkennen,
sie lernen über die äuszeren erscheinungsformen weg in das wesen
eines jeden dinges einzudringen, d. h. seinen begriff zu erfassen,
der weg, auf welchem dies geschieht, ist, wie schon oben angedeutet,
der der induetion, in der form der frage und antwort, wobei die
Sokratische dpiuveia eine wichtige rolle spielt.
Wir wenden uns zur didaktischen Würdigung der Somatischen
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Der didaktische wert de» Xenophontischen Ageaüaus«. 387
moralpbilosophie, wie sie Xenophon darsteUt. die psychologie unter-
scheidet im Charakter, dessen herausarbeitung das eigentliche ziel aller
Unterrichtsarbeit ist, von dem wollen selber seine theoretische grund-
lage, wie sie in den die willensacte bestimmenden Vorstellungen, an-
schanungen und Überzeugungen besteht und ein gleichmäsziges sitt-
liches wollen gewährleistet, dasz dieses fundament in der seele des
schülers möglichst fest und dauerhaft gelegt wird , ist der höchste
zweck, nach welchem das gymnasium seine bildungsstoffe auswählt
und bestimmt, und zwar gilt die arbeit vor allem der erzeugung sitt-
licher Werturteile, so wenig sich nun der Unterricht auf eine blosze
nii Heilung solcher beschränken darf, wenn sie nicht nur äuszerlich,
gedächtnismäszig in der seele haften sollen, ohne bedeutung für das
handeln zu gewinnen, vielmehr ihre erschlieszung die herlichste
frucht der gesamten erziehlichen thätigkeit ist , ebenso wenig darf
er darauf verzichten klärung der begriffe auf sittlichem gebiet, ent-
schiedene urteile über gut und böse herbeizuführen, gewis ist es
das wahrhaft fördernde eines jeden Unterrichtsfaches, den schüler
mit sittlichen persönlichkeiten bekannt zu machen, welche ihm zu
mustern werden können in den verschiedenen lebenssphären , und
an welchen er eine so innere teilnähme gewinnt, dasz er sie gern zu
führern nimmt auf seinen lebenswegen. dasz der Sokrates des Xeno-
phon in diesem sinne eine ideale persönlichkeit ist, wurde oben dar-
gelegt, bedeutsamer für die didaktischen zwecke erscheint uns nach
dem eben gesagten seine morallehre, ihre Verwendbarkeit für das
gymnasium zu prüfen, greifen wir nach dem maszstabe, welchen
wir entsprechend seiner aufgäbe, christliche Charaktere zu bilden,
allein anzulegen vermögen, wir untersuchen ihr Verhältnis zu
der christlichen Sittenlehre.
Was zunächst tendenz und Charakter der Xenophontischen
darstellung betrifft, so bedeutet diese nur scheinbar einen Wider-
spruch mit der Platonischen auffassung. der sittliche lebensernst,
mit welchem Xenophon seinen meister lehren läszt, ist keine Ver-
leugnung der forderung, dasz das streben nach der Wahrheit um
ihrer selbst willen schon wert habe, die bezieh ung auf die sittliche
Vervollkommnung sollen wir bei all unserem forschen und unserer
gesamten geistigen arbeit festhalten : auch der begriff der christlichen
bildung verlangt die unausgesetzte arbeit an unserer sittlichen besse-
rung. deckt sich so die Sokratische auffassung von der sittlichen
bestimmung des menschen mit der christlichen, so weit auch in dieser
' frage eben der natürliche blick zu dringen vermocht hat, so ergibt
doch ein vergleich der tugen'dlehre des Xenophonti-
schen Sokrates mit der Sittenlehre des Christentums
in ihrer grundlegenden auffassung sowohl wie in der
Ausgestaltung im einzelnen manche wesentlichen unter-
schiede, schon den fundamentalgrundsatz, dasz die tugend wissen
sei, bestreitet die neutestamentliche lehre (Röm. 7, 18 ff.), und
wie steht es mit dem streben nach Vervollkommnung in wirklich-
25*
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388 Der didaktische wert.de« Xenophoutiscben Agesilaus.
keit? gewis soll der mensch in stetem kämpf* mit den begierden
liegen und nach der efKpdTeia ringen, aber dasz zu diesem kämpfe
die menschliche kraft viel zu schwach ist (vgl. ebenda!), das
weisz in seinem ganzen umfange und in seiner tieferen bedeutung
auch ein Sokrates noch nicht, kennt er doch nicht den begriff der
sünde, wenngleich die ahnung, dasz es schwer tilgbare schuld gebe,
auch im altertum durchschimmert (zur besprecbung dieser frage
findet sich gelegenheit in anschlusz an manche m ytben , besonders
aber bei der griechischen tragödie, auch Goethes Iphigenie!), die
frömmigkeit und die pflichten gegen die gottheit erscheinen mehr
oder weniger auf der furcht und auf dem princip der gerechtigkeit
beruhend, was der Grieche Sokrates nicht ahnen konnte, ist die
liebe als die kraft, welche unser Verhältnis zu gott bestimmt, und
entsprechend den pflichten gegen den nächsten, ja der begriff dieses
überhaupt. Ober den feindeshasz ist auch die Sokratische ethik nicht
hinausgekommen, diese tiefe kluft zwischen der Soma-
tischen moral und dem Christentum darf dem schaler
nicht verhüllt bleiben; ihre klare erkenntnis frommt
dem historischen Verständnis des welterobernden und
weltbeseligenden Chris tentu ms ebenso sehr wie sie das
urteil über den die grenzen des natürlichen denkens
und empfindens inne zu halten gezwungenen Philo-
sophen nicht herabzustimmen vermag, findet doch auf
der andern seite die Sokratische auffassung so vielfache bestätigung
durch unsere christliche anschauung, ja wie vermag nicht der sitt-
liche lebensernst, welcher die lehre des griechischen weisen durch-
weht, die lauheit zu beschämen , welche sich trotz aller höheren er-
kenntnis auf dem gebiet des sittlichen lebens zeigt, trotzdem dasz
hier das beispiel des herrn als des urtypus der Sittlichkeit und seine
lehre in ihrer unvergänglichen, durch eitte jahrhunderte lange ge-
schichte bezeugten kraft geboten wird, dort nichts als ein versuchen
und ringen ohne geschau tes ziel!
Und selbst die oftmal.-, praktische, durch hinweise auf die folgen
der handlungen geübte begrtindung der sittengesetze kann in ihrer
scharfen, folgerichtigen, das laster in seiner abschreckenden bäszlich-
keit und mit seinen leib und seele schädigenden und zerstörenden
folgen, die schwächen des menschen in ihrer lächerlichkeit geiszeln*
den entwickelung einer tieferen und nachhaltigen Wirkung gewis sein,
welch vernichtendes urteil wird über die gottlosigkeit gefällt oder
über den geiz, die unmäszigkeit, die Undankbarkeit und lieblosig- '
keit oder auch die prahlerei ! kann diese dem denken und empfinden
des schülers nicht fernstehende art das sittliche zur nacbahmung zu
empfehlen und vor dem unsittlichen zu warnen ihre Wirkung auf
seine einsieht und sein gemüt wohl verfehlen ? wie beredt und klar
werden die haupterfordernisse der persönlichkeit, die innere freibeit
und die treue gegen sich selbst, die gerechtigkeit und die Wahrhaftig-
keit, der ernste wille seine kraft in den dienst der gesamtheit zu
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus. 389
stellen entwickelt, wie alles scbeinwesen und die halt- und Charakter-
losigkeit! so wenig der stoff der Xenophontischen Schriften einer
falschen und einseitigen Würdigung des wissens das wort redet, so
stark betont er doch den wert des rechten wissens, indem das halb
wiesen in seiner leerbeit und lächerlichkeit bloszgestellt wird, wenn
nun unsere zeit gerade infolge der Überschätzung der erlösenden
kraft der intellectuellen bildung auf falschen wegen ist und in ihr
eine sich ideal nennende, in der that aber die materie an die stelle
der idee setzende geistesrichtung sich breit macht, und jetzt die auf-
gäbe dringender als je an die schule herantritt den Zöglingen eine
wohl in sich gefestigte grundlage für eine Weltanschauung mitzu-
geben, welche sie dann schützt der spielball jeder tagesmeinung zu
werden, da können wir freudig jeden bildungsstoff begrüszen, der in
die tiefen der Charakterbildung hinabreicht, und welche schule sollte
da heilsamer sein und nachhaltiger wirken, um alles halbwissen ver-
werflich erscheinen zu lassen , als die des Sokrates , welcher allem
geistigen hochmut und eigennützigen dünkel zu wehren weisz wie
nur einer!
Dasz die socialen Verhältnisse in familie und ge-
meinde mit sittlichem geist erfüllt werden sollen, von dieser for-
derung der Sokratisch- Xenophontischen ethik war oben die rede,
wir halten gerade diesen stoff für besonders wichtig ebenso für die
klärung der begrififswelt des Schülers an sich wie für die grundsätze
seiner lebensführung. folgt doch aus ihr auch für das leben jene
berufs- und pflichttreue, zu der wir auf der schule mit aller kraft den
grund legen müssen, seine Vertiefung erfährt auch dieser
anschauungskreis, welcher die Ordnungen der gesell-
schaft sittlich adelt, durch das Christentum, welches
dem gesamten leben und aller arbeit die religiöse
weihe gibt.
Die hohe bedeutung der einführung des Schülers in das
begriffliche denken, wie eine solche die Memorabilien und die
CyTOpädie gewähren, in hinblick auf spätere logische Übungen über
begriff und urteil braucht an dieser stelle wohl nur gestreift zu wer-
den, lernt der schtiler hier doch auch die methode der induction
praktisch kennen, so dasz für die behandlung Lessingscber und
Schillerscher prosaaufsätze und für sonstige rhetorische und logische
besprechungen auf der obersten stufe hier schon ein dankenswertes
material gewonnen wird, auf den begriff der elpwvda wurde schon
aufmerksam gemacht
So können wir denn unsere erörterung des didaktischen wertes
der Sokratischen Schriften Xenophons damit schlieszen, dasz wir
dem moralphilosophischen stoffe derselben die Wir-
kung zuschreiben, ebensowohl das speculati ve wie das
sympathetische und sociale, vor allem aber das mora-
lische und religiöse interesse stark und nachhaltig zu
erregen, dasz derselbe eine reihe sittlicher, für den ge-
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390 Der didaktische wert des Xenopkontischen Agesilaus.
samten Unterrichtsstoff des gymnasiums höchst wert-
voller begriffe dem schüler zuführt und auch für seine
intellectuelle förderung die vielfachsten mittel dar-
bietet.
IV. Der didaktische wert der das königsideal dar-
stellenden Sokratischen schritten Xenophons, der
Cyropädie und des Agesilaus.
Nachdem wir die Sokratische moralpbilosophie, wie sie in den
Schriften Xenophons entwickelt wird, dargelegt und auf ihre päda-
gogische bedeutung hin geprüft haben, wenden wir uns zu seiner
Aufstellung eines königsideals. denn er hat sich nicht darauf be-
schränkt die anschauungen seines lehrers über das tugendideal vor-
zutragen, wie wir oben sahen, hat nicht blosz der einzelne die auf-
gäbe zu lösen dieses an sich zu verwirklichen, sondern der mensch
ist in sittliche gemeinschaften hineingestellt, in denen sein streben
darauf gerichtet sein musz an den gliedern derselben sittliche Ver-
vollkommnung zu wirken: das gilt vom Verhältnis der familie, der
freundschaft u. ä. im besondern ist der hausvater verantwortlich
für das sittliche wohl der hausgenossen ; sein Verhältnis zu den
kindern und dem gesinde wird durch die Sokratische auffassung mit
sittlichem geiste erfüllt, über diesen Sokratischen gedanken ist nun
Xenophon selbständig hinausgegangen, auf der grundlage der familie
entwickelt sich das staatsieben, wie jene ist auch die gemeinde, der
staat eine sittliche gemeinschaft, und was in jener der haus-
vater bedeutet, das ist in dieser der her scher, nemlich nur in der
politischen form der monarchie entwirft Xenophon sein bild eines
idealstaates, und seine anforderungen an den idealstaat
stellt er dar in dem bilde des wahren herschers, des
herscher-, bzw. königsideales, warum Xenophon das könig-
tum als die berechtigtste staatsform gelten läszt, ist weiter unten zu
erklären, prüfen wir jetzt dieztige, welche das bild des königs-
ideals in der Cyropädie und im Agesilaus trägt, einzelnes vorberei-
tendes enthalten schon die Memorabilien. schon in ihnen werden die
aufgaben eines rechten beamten und eines wahren Strategen ent-
wickelt; es gilt die von der Volksgemeinschaft einem solchen anver-
traute Stellung ganz auszufüllen und alle kraft in ihren dienst zu
stellen, ich setze ein beispiel hierher, Mem. III 3. pflicht des reiter-
obersten ist zunächst die sorge für reiter und rosse* die sorge für
seine pferde darf nicht dem einzelnen reiter Uberlassen bleiben,
wenn der ob er st eine gute, ihren zwecken und aufgaben gewachsene
reiterei haben will, die sorge für die reiter selbst enthält die Ver-
pflichtung die Übungen derselben möglichst gründlich und voll-
ständig zu leiten, auf ihre gemüter und deren erbebung kräftig ein-
zuwirken und sie zu willigem gehorsam zu erziehen, dazu musz er
sich selbst als der tüchtigste in seinem fache zeigen, auch bedarf
•
*
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus. 391
tr der geistigen Überlegenheit, um in überzeugender rede ihnen nicht
blc-8z die vorteile des gehorsams und der disciplin auseinander setzen,
sondern überhaupt ihr gemüt mit edlem ehrgeiz und streben nach
wahrem rühm erfüllen zu können, auch finden wir in den Memora-
biüen schon den gedanken, dasz der gute feldherr ein hirt seiner
Völker sein, für sie väterlich sorgen und sie zum glück führen müsse,
nur der sei ein herscher, der zu beherschen und zu befehlen verstehe,
nicht die, welche das scepter besäszen oder zu herschern gewählt
seien oder ihre Stellung erlost hätten oder endlich den thron mit
gewalt errungen hätten (III 9, 10).
In der Cyropädie, welche die erziehung des älteren Cyrus zum *
herscher behandelt, werden für den herscherberuf gewisse körper-
liche und geistige eigenschaften zur Voraussetzung gemacht, ein
kräftiger körper, eine schöne und imposante gestalt empfehlen nicht
minder, als ein dem hohen und edlen unbedingt zugewandtes streben,
ein die höchsten ziele verfolgender ehrgeiz allein dessen, der seine
aufgaben auf dem throne lösen soll , würdig ist. eine kriegerische
erziehung hat vor allem dem zweck zuzustreben, dasz der fürst der-
einst überall, in der schlacht ebenso wie in den werken des friedens,
im stände sei mit gutem beispiel den seinen voranzugehen, er hat
selbst pünktlichen und völligen gehorsam zu lernen, damit er später
auch befehlen könne, als heerführer musz er die vielfachen Ver-
pflichtungen, die ein feldherr seinen truppen gegenüber hat, kennen ;
es genügt nicht, dasz er taktisch tüchtig ausgebildet ist; um ein
stets schlagbereites heer zu haben, musz er seine ganze sorge dem
zustande seiner truppen zuwenden, vor allem aber herz und gemüt
derselben sich sichern, indem er sie mit edlem streben erfüllt und
zu regem Wetteifer unter einander anspornt, indem er lobt, was an-
erkennung verdient, und nicht schont, wo zu tadeln ist. dem feind
gegenüber bedarf es kluger berechnung, oft statt der härte der müde,
um ein wahrer herscher zu werden , musz er die vielfachen anforde-
rungen seines hohen berufes eifrig studieren, musz er ein dmCTCt^-
Viuc ÖpxuJV werden, als fürst genieszt er die grösten Vorrechte unter
allen bürgern des Staates, aber diese rechte soll er nur zur besseren
erfüll ung seiner hervorragenden pflichten ausnützen, nicht in äusze-
rem glänz und ehren, sondern in treuer Pflichterfüllung soll er das
schönste Vorrecht seiner erhabenen Stellung sehen, er musz den
ggrundsatz anerkennen apxovn irpocrjK€iv ou püXciKia, äXXä «ap-
Tepia tuj v ibiwTUJV Trepieivai (Ag. Y 2) und ir) ßaciXda irpooiKew
ou ßcibtouptiav, äXXä KaXoKcVfaGiav (Ag. XI 6), oder wie es Cyr.
I 6, 25 heiszt, f|v ji€v £v 0^p€i ujci, töv Äpxovra bei toö f|Xiou
TiXeoveKTOuvTCt aavepöv elvai, fjv be dv x^imujvi, toö ujuxouc, F|v
b€ biet ^öxOujv, tüjv ttövuuv. demnach musz er das tugendideal an
sich in vorzüglichem masze darstellen, eine sittlich hochentwickelte
persönlichkeit sein, kann doch erst der, welcher sich selbst zu sitt-
licher freiheit durchgearbeitet hat, und dessen ganzes wesen die
abgeklärtbeit einer sittlich geläuterten persönlichkeit atmet, auch
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392 Der didaktische wert des* Xenophontischen Agesilaus.
wahrhaft veredelnd auf seine unterthanen einwirken, ihnen gegen-
über beseelt ihn treues, nie ermattendes Pflichtgefühl, unermüdlich
tritt er ein für die grösze und das glück seines Vaterlandes vnd
bringt dieses zu kraftvoller entfaltung, nicht am wenigsten durch rein
eignes thätiges beispiel. so steht er seinen unterthanen auch licht
blosz als der herr gegenüber, dessen befehle ausgeführt werden» son-
dern sein Verhältnis zu ihnen ist das des vaters zu seinen kiodern,
er ist der vater des Vaterlandes, keinen seiner mitbürger siebt er
etwa als seinen persönlichen feind an , auch um den geringsten von
ihnen zu retten, steht er freudig ein. die thätigen glieder des Staates
unterstützt er durch ermutigung, anerkennung und gnadenbeweiae,
die lauen spornt er zur erfiillung ihrer pflichten an. allzeit zur milde
geneigt, vor allem den schwachen gegenüber, straft er doch uner-
bittlich, wo grobe p flieh tvernachlässigung vorliegt, — dem reuigen
öffnen sich wiederum seine vaterarme, fühlt er doch lebendig in
sich die schwere Verantwortlichkeit seines Standes, so wird seinem
aufopfernden, arbeitsvollen leben denn auch der schönste lohn, die
liebe seiner unterthanen , von der Xenophon an einer andern stelle,
im Hier. XI 13 — 15 in so köstlichen Worten spricht.
Das ist in den wesentlichen zügen das idealbild des berscher»,
wie es Xenophon in der Cyropädie und dem Agesilaus entwirft,
fragen wir uns jetzt, worin der didaktische wert dieses
Stoffes besteht.
Im vorigen abschnitte erkannten wir, welche summe von sitt-
lichen begriffen aus der Xenophonlischen darstellung der Soma-
tischen moralphilosophie für die schule zu schöpfen ist und wie die-
selbe fruchtbar zu verwerten ist. wenn wir zugleich sahen, wie die
lebensgemeinschaft der familie mit sittlichem geist erfüllt werden
müsse, so lernen wir hier, dasz auch der staat ein sittlicher begTiff
ist* dasz derselbe nicht sowohl macht bedeutet als einen Organismus
mit sittlichen zwecken und deren Verwirklichung durch sittliche
mittel darstellt, so ist die obige gedankenreihe zu einem abschlusz
geführt und vollständig geworden, auch gewisse mittelglieder haben
wir beobachtet: jeder beruf innerhalb der menschlichen gesellschaft,
jedes amt im staat soll mit dem bewustsein der sittlichen Verant-
wortung ausgeübt werden, aber es sind nicht blosz die ethischen
begriffe, welche der schüler durch die behandlung der beiden Schrift-
werke gewinnt, bilden doch die aufstellungen Xenophons die grund-
lage, welche der christliche staat der gegen wart inne zu halten sucht,
wenn derselbe nun auch durch das Christentum seine impulse er-
halten hat, und wenn auch die enge gemeinschaft, in welcher der
könig sich mit seinem volke weisz, für dessen heil und Wohlfahrt er
verantwortlich ist, und welche alle glieder eines gewaltigen Organis-
mus unter einander verbindet, in den erhabenen lehren jenes ihre
grundlage hat, so ist doch die wahrhaft humane auffassung, welche
der griechische autor von dem Verhältnis zwischen fürst und volk
mit den pflichten des ersteren vorträgt, eine kräftige und ernste
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Der didaktische wert des Xenophontiacben Agesilaus. 393
mahnung gerade für die heutige zeit, und für die sittliche Vertiefung
ist uns dieser stoff nach der bezeichneten rieb tu ng äuszerst wertvoll,
und dann die patriotische Seite desselben, der geschiebtsunterricht
zeigt dem sehüler, dasz in dem brandenburgisch-preuszischen staat
von jeher für die fürsten die forderungen, welche er hier schon von
den alten gestellt sieht, maszgebend gewesen sind, mangreife heraus,
welche gestalt der geschichte der monarchie man will, für sie alle
ist es charakteristisch , dasz sie die aufgäbe des herschers darin
sehen ein 'vater des Vaterlandes', der diener des Staates zu sein, es
braucht wohl nur an den groszen kurfürsten, an Friedrichs II Ant i-
macchiavelli , an die hehre gestalt des ersten deutschen kaisers er-
innert zn werden, und wie sollte nicht eben dieser stoff die liebe
und Verehrung dem jetzigen kaiser gegenüber vertiefen , gleicht er
nicht in vielen beziehungen einem spiegelbilde, in welchem wir
die sorgenvolle und aufopferungsfreudige arbeit der Hohenzollern
schauen? aber wie wir oben schon erkannten, dasz trotz aller rein-
heit und erhabenheit des Sokratischen Systems und seines ergreifen-
den sittlichen ernstes doch die religiös-sittliche erkenntnis des heid-
nischen weisen tief unter den christlichen ethischen begriffen steht,
so lehrt auch das bild, welches eben die Hohenzollernherscher ge-
währen, die weite des abstandes antiker anschauung von den lehren
des Christentums: rkönige der armen', wie sich mit stolz unsere
kaiser nennen lassen, waren die idealen könige Xenophons nicht,
dazu fehlt der antiken humanität das beste , was erst das Christen-
tum in die weit gebracht hat, das geheimnis der bruderliebe, des
begrifies des nächsten.
80 glauben wir, dasz die behandlung des Xeno phon-
tischen königsideals nach verschiedenen Seiten hin
didaktisch äuszerst fruchtbar zu machen ist. sie er-
weitert die weit der inneren erfahrung des schülers
wesentlich, indem sie ihn sittliche begriffe von der
höchsten bedeutung für die lebensführung gewinnen
läszt, nemlich den des Staates als einer sittlichen ge-
meinschaft, wie auch den der sittlichen persönlichkeit
in ihrem Wirkungskreise innerhalb der staatlichen ge-
meinschaft, sie erweckt das sympathetische und das
sociale interesse, nicht minder aber das religiöse, so
dasz wir diesem bildungsstof f einen erheblichen ein-
flusz auch auf den sittlichen willen des Zöglings zu-
sprechen dürfen, das höchste ziel alles Unterrichts.
Nun liegt aber die litterargeschich tliche bedeutung
der Verfolgung des königsideals in der Cyropädie und
im Agesilaus nicht blosz auf moralphilosophischem ge-
biete, sondern ebenso sehr liefert sie ein treues abbild
der politischen anschannngen und wünsche des Ver-
fassers, auf diese seite der geschichtlichen bedeutung beider
Schriftwerke müssen wir hier noch eingehen. Xenophons Stellung
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394 Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus.
zu der athenischen demokratie ist oben schon berührt worden: er
war ein entschiedener gegner der durch wüste demagogie and mit
ihr abwechselnd greuel volle Oligarchie entarteten demokratie. dasz
er, der sich äuszerlich freundlich gegen Sparta stellte, darum mit
nicht geringerer liebe seinem vaterlande anhieng, ist oben auch schon
gesagt worden — das beweist uns seine auffassung von dem Philo-
sophen Sokrates, der wir eine weitgehende politische bedeutung bei-
maszen. mit tiefem schmerz hat Xenophon sehen müssen, wie seine
Vaterstadt, die retterin Griechenlands in den freiheitskämpfen, von
ihrer einstigen höhe herabsank, wie sie infolge der freiheitlichen
ausgestaltung ihrer Verfassung die beute weniger habgieriger streber
wurde, welche sie an den rand des abgrundes brachten, ja sie völliger
Vernichtung preisgaben, wie durch hebung der allgemeinen moral
zu bessern gewesen wäre, hat sein meister Sokrates gezeigt aber
der fehler lag noch an einer andern stelle, die athenische Verfassung
hatte längst ihre gesunden, dem Staate eine kraftvolle entwicklung
verbürgenden grundlagen verlassen, ein für seine höchsten güter
mutig eintretendes, durch eine starke regierung geleitetes Staats-
wesen war das Athen seiner zeit längst nicht mehr, da kann man
es wohl verstehen, wie der edle patriot in dem gefühle heimlichen
neides sein auge nach Sparta richtete , von dessen Verfassung er im
Agesilaus (I 4) bedeutsam sagt, dasz ihre kraft auf der stets von
beiden Seiten gewissenhaft aufrecht erhaltenen harmonie zwischen
volk und fürsten beruht, und eine so kraftvolle persönlichkeit, wie
sein freund Agesilaus war, zum träger seiner politischen ideen machte,
ja selbst ostwärts auf die groszen staatengebilde Asiens schaute, die
wenigstens in früherer zeit kraftvoll organisiert waren : und so wählte
er sogar den gründer des despotischen Perserreiches, den groszen
Cyrus, zu ihrem träger, und diese seine politischen ideen sind ihm
zugeflossen aus der lehre der Weltgeschichte. Xenophon hat mit
offenen äugen die entwicklung seines heimats taates
verfolgt, er hat sich aus ihr seine lehre gezogen: nur
ein Markes, zielbewußtes königtum vermag ein volk
grosz und glücklich zu machen, so zeigt sich Xenophon als
einen entschiedenen royalisten" in seinen Schriften, und wir ver-
stehen, wie er das geworden, und sollte diese thatsache uns nicht
viel zu denken geben? zieht sie nicht mit kühner band und in mar-
kigen zügen das facit aus der staatengeschichte des altert ums ? die
politische freiheit ist, sobald sie entartet, der ruin der Völker, die
monarchie, und wir setzen hinzu, die monarchie von gottes gnaden,
verbürgt allein einem Staatswesen, dessen grundlagen sonst gesund
sind, eine gedeihliche entwicklung. ich brauche die didaktische Ver-
wendbarkeit dieses gedankens wohl nicht weiter zu verfolgen, be-
weist er doch deutlich , dasz der schüler durch die Vertiefung in die
M vgl. dazu die Ausführungen von Ernst Curtius, altertum und gegen-
wart. gesammelte reden und vortrüge. Berlin 1875, s. S60 ff.
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus. 395
griechische geschichte wahrlich nicht zum republikaner oder demo-
kraten erzogen wird, musz sie« doch im gegenteil das gefühl einer
warmen Vaterlandsliebe in ihm stärken, und die Sokratischen Schriften
Xenopbons werden ihm, so betrachtet, ein Spiegel für die grurid-
lage der grösze des eignen Vaterlandes mit seinem starken und
zielbe wüsten königtum der Hohenzollern , wenn er hier sieht, mit
welchem schmerz die besten der Zeitgenossen die nicht mehr auf-
zuhaltende verderbliche entwicklung des athenischen Staatswesens
verfolgten, und mit welcher Sehnsucht sie nach dem unwiederbring-
lich verloren gegangenen gut, einem kraftvollen königtum, ver-
langten! so schlieszt sich der gedankenkreis der beiden
Xenophontischen Schriftwerke aufs engste an die wich -
tigsten lebenskreise des schülers an, er dient dazu
seine patriotische gesinnung zu stärken und sein poli-
tisches Verständnis zu vertiefen, und wie er mit dem grie-
chischen geschichtlichen Unterricht unmittelbar zusammenhängt, so
mündet er anderseits in den gesamten Unterrichtsstoff ein.
Die königsidee ist von Xenophon nicht systematisch entwickelt
worden, sondern se'ine anschauungen sind an historische persönlich-
keiten angeschlossen in der form von idealgebilden, in der Cyropädie
an den älteren Cyrus , in dem Agesilaus an seinen Zeitgenossen und
intimen, den Spartanerkönig dieses namens, und zwar wird in dem
ersteren buche, wie schon sein titel sagt, das werden des heischers,
seine erziehung in den Vordergrund gestellt, seine regentschaft mehr
summarisch behandelt, während im Agesilaus der fertige könig nach
seinen t baten und seinem Charakter gezeichnet wird, soll der um das
königsideal gruppierte stoff nun seinen didaktischen geh alt auch
wirksam werden lassen, so ist unbedingt zu fordern, dasz
die seele des schülers mit den beiden geschichtlichen
gestalten ein zu anhaltender beschäf tigung mit ihnen
ausreichendes interesse schon verknüpft, bzw. letzteres
geweckt werden kann, zur beantwortung dieser frage müssen
wir auf die in beiden liegenden geschichtlich und persönlich bedeu-
tungsvollen bildungsmomente näher eingehen.
Zunächst wer ist Cyrus? verlohnt sich in der that eine halb-
jährige beschäf tigung mit ihm in secunda? gewis sollen im ge-
schichtsunterricht allein die groszen epochen der bedeutsamsten alten
culturvölker in ihrem werden, ihrer blüte und ihrem untergange klar
heraustreten, und wenn derselbe von der griechischen geschichte aus-
geht,, so hat er das zum tieferen Verständnis unserer heutigen poli-
tischen Verhältnisse nötige geliefert und weit genug ausgeholt, und
doch basiert einmal das Griechentum in den anfängen seiner cultur
auf dem Orient, wie es denn auch im laufe seiner geschichte uns
stetig auf Asien hinweist, anderseits ist unsere cultur nicht blosz in-
direct aus Asien überkommen , sondern Christentum wie Judentum,
die Urkunden der heiligen schrift weisen uns auf dasselbe Vorder-
asien als die wiege unserer religiösen Weltanschauung, so verknüpfen
-
396 Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus.
»
uns eine reihe fäden mit dem Orient, und der geschieh tsunterricht
ist völlig in seinem recht, wenn er-der behandlung der griechischen
geschiente in untersecunda eine kurze übersieht über die orienta-
lischen geschichtlichen Verhältnisse vorausschickt, d. h. dem schüler
die groszen epochen vorführt, in welchen die Völker des Orients
hervortreten, sich zu groszen staatengebilden zusammenschlieszen,
um bald wieder unterzugehen und neuen Völkergruppen platz zu
machen, und wenn eine gestalt unter den orientalischen
herschern als begründern von Weitmonarchien typisch
ist, so ist es die des älteren Cyrus, des Stifters des
Perserreichs, in welchem sich die kraft Vorderasiens zusammen-
schlieszt, wie der geschichts unter rieht sich mit diesem manne ein-
gehender beschäftigt, so würde auch für die leetttre eine Vertiefung in
diesen Stoff wohl anzuraten sein, um so mehr als in der Cyropädie
dem schüler alle die groszen reiche, von denen er sonst hört, Babylon
und Assur, Medien und Lydien, selbst Indien hier vorgeführt werden
und das gewaltige völkergemisch in Kleinasien , Mesopotamien und
Iran, wie es sich gliedert in Semiten und Indogermanen, ihm anschau-
lich entgegentritt; der stete gebrauch der karte wird seine bekannt-
schaft mit all diesen Völkern wesentlich befestigen.**
Doch da hören wir einen einwurf, der diese ganze darlegung zu
entkräften scheint, ja, das gesagte möchte richtig sein, wenn der
Cyrus Xenophons nur der ältere Cyrus wäre, die Cyropädie ist über-
haupt kein geschichts werk, sondern ein rroman'; wie das bild, wel-
ches Xenophon von der person des Cyrus entwirft, sowohl in der
Zeichnung seines Charakters wie in derjenigen der geschichtlichen
thatsachen mit dem Cyrus der geschiente wenig gemein hat, er ist
ein Grieche, nach der moralphilosophie des Sokrates gebildet, und
hat von jenem groszen manne nur den namen entlehnt, darauf ist
zu antworten, dasz allerdings die Cyropädie kein geschieht s buch ist,
der Verfasser spricht ja deutlich genug den zweck aus, welchen er
mit dieser schrift verbindet, nemlich das bild eines wahren herschers,
wie er wird und wie er sein volk grosz und glücklich macht, zu
zeichnen, und wie wenig genau derselbe es mit der getreuen dar-
Stellung persischer oder asiatischer zustände überhaupt genommen
hat, beweist die Übertragung selbst religiöser Verhältnisse in die
griechische gewandung. so wie Cyrus spricht, redet freilich nicht
ein asiatischer despot, ihm ist die anschauungsweise des griechischen
weisen verliehen, und die höhere bildung, welche er und seine Um-
gebung vielfach verraten, ist die hellenische der Xenophontischen
zeit, wir können darin aber keinen Vorwurf für Xenophon finden
•* was O. Frick L. P. H. XII s. 33 von der Curtiuslectüre sagt.
f. . . sie . . . fuhrt auch geographisch in dieselben räume hinein, die
der schüler bereits in der biblischen und der apostelgeschichte, im
Homer wie in der Anabasis und in den Hellenicis des Xenophon, end-
lich durch die kreuzzüge keunen gelernt bat', nehmen wir auch für die
Cyropädie in anspruch.
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Der didaktische wert des Xenophontiscben AgeBÜaua. 397
und aus diesem gründe etwa die schüler auf die lectüre der geschiente
des Cyrus bei Herodot verweisen, die abweichungen von der ge-
schichtlichen treue dem schüler zu zeigen , dazu ist der Unterricht
da, und wenn derselbe im rechten geist erteilt wird, möchten wir
fragen, ob dem schüler, welchem die tendenz des Werkes klar ge-
macht wird, und dessen hau p tauf merksamkeit auf die Sokratische
gedankenweit gelenkt wird, zweifei an dem geschichtlichen wissen
und der Zuverlässigkeit des Schriftstellers aufsteigen können, was
übrigens die nichtssagende bezeichnung roman angeht, so brauchen
wir dieselbe wohl nicht erst besonders zurückzuweisen; wollen wir
die Cyropädie durchaus in eine litteraturgattung einstellen, so ist sie
eine (populär-) philosophische schrift in geschichtlichem gewande.
umzulernen hat der schüler bei ihrer lectüre nichts von seinen ge-
schichtlichen kenntnissen, mag ihm immerhin die Überlieferung, wie
sie Herodot gibt, und welche der geschichtlichen darstellung zu
gründe gelegt zu werden pflegt, als quelle dieser gelten, — wenn-
gleich manche, wie es vielfach scheint, willkürlichen änderungen,
welche Xenophon an der gewöhnlichen Überlieferung vorgenommen
hat, besonders bezüglich der herkunft des Cjrus, denn doch wohl in
ihrer berechtigung nicht so ganz von der hand zu weisen sind, jeden-
falls steht das eine fest: Xenophon hatte infolge seiner Verbindungen
in persischen kreisen gewis gelegenheit quellen für seine darstellung
des lebens des Cyrus zu benutzen, welche im allgemeinen verschlossen
blieben.
Die gestalt des mächtig aufstrebenden, kraftvollen und dabei
doch milden und versöhnlichen weit uroberer s, wie sie Xenophon
darstellt, darf auf unbedingte hingäbe des schülers rechnen, und das
heldentum des Cyrus ist in parallele zu setzen mit de» in unter-
secunda behandelten heldengestalten, wie sie das altdeutsche epos
und die moderne epik, etwa im Cid bietet, die leicht ins auge fallen-
den unterschiede geben deutliche fingerzeige für die verschiedenen
Völker und Zeiten in ihrer eigenart.
Wir wenden uns hiermit von der Cyropädie ab, welche, nebenbei
bemerkt, als leetürestoff nur mit wohlüberlegter auswahl*7 zu lesen ist.
unsere aufgäbe war es nur die Cyropädie wie auch die Memprabilien
soweit in den kreis unserer Darlegungen hereinzuziehen, als erforder-
lich war, um eine vollständige und sichere grundlage der von uns be-
handelten lectüre des Agesilaus zu gewinnen, dessen bedeutung als
einer auf Sokratischen gedanken aufgebauten philosophisch - politi-
schen schrift in geschichtlichem gewande wir durch eingehende be-
sprechung des Schriftstellers Xenophon, insbesondere des Sokratikers
Xenophon und der das königsideal entwickelnden beiden in betracht
kommenden Schriftwerke festzustellen bemüht waren, wenn wir die
Cyropädie auch in ihrer besonderheit kurz zu würdigen suchten , so
geschah das, um etwaigen zweifeln an ihrer didaktischen brauchbar-
» Vgl. 8. 18.
I ■
398 Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus.
keit zu begegnen und ans die festbaltung der reihenfolge der lectüre-
stoffe Cyropädie — Agesilaus — Memorabilien zu sichern.
Wenn die den Unterricht in der griechischen geschichte stützende
und vertiefende lectüre nur die hauptepochen berücksichtigen darf,
so scheint es zunächst fraglich, ob die, wenn im gründe auch prak-
tisch-philosophische, so doch daneben geschichtliche darstellung einer
persönlichkeit und eines Staatswesens , welches nicht von der allge-
meinen bedeutsamkeit ist wie Athen , des spartanischen und seines
königs Agesilaus, anspruch darauf machen darf in den kreis der
schullectüre gezogen zu werden, um diese frage zu entscheiden,
müssen wir die allgemeinen Zeitverhältnisse dieser
geschichtlichen periode, die besonderen staatenver-
hältnisse und die thaten sowie die persönlichkeit des
geschichtlichen Agesilaus ins auge fassen, die Behand-
lung von Athens Untergang ist mit der lectüre des Thukydidea in
prima und der Memorabilien in obersecunda, bzw. der Hellenika und
der reden des Lysias abgeschlossen : aus der weiteren entwicklnng
Athens wie Griechenlands verdient in hohem masze die aus dem all-
gemeinen untergange mächtig emporragende gestalt des Demosthenes
eingehende behandlung. auf die zeit des niedergangs folgt indes
noch einmal eine gewaltige erhebung des Hellenentums, freilich nicht
der Staaten, welche die griechische geschichte im engeren sinne aus-
machen , es ist die Unterwerfung der vorderasiatischen weit durch
die auf den trümmern Griechenlands aufgebaute macht Alexanders
des groszen. die weltgeschichtliche bedeutung dieses mannes und
seiner thaten , die für die gesamte culturgeschichte und die staaten-
geschichte aller späteren Zeiten von weittragendster bedeutung sind,
fordert eine gründliche berücksichtigung in der schule, dieselbe
wird ihr im geschieh tsunterricht zu teil, in welchem die Fingerzeige
auf die in rede stehende epoche und ihre ergebnisse auch die römische
geschichte beleben, aber auch die hellenisch - römische cultur baut
sich auf diese Voraussetzung auf, und die lectüre des Horaz und des
Cicero bietet gelegenheiten genug. den blick des schülers auf sie
hinzulenken, aber es gibt ja auch ein griechisches geschichtswerk,
welches .eingehend die thaten Alexanders des groszen behandelt,
Arrians Anabasis, wir können die gründe, welche uns gegen die
lectüre dieses nur noch selten auf gymnasien gelesenen autors spre-
chen, hier nicht entwickeln: es sei nur auf das eine hingewiesen,
dasz wir autoren des frischen, jungen Hellenentums für die schule
brauchen , mit Hellenisten ist ihren interessen nicht gedient, auch
bedarf es gar nicht der beschreibung der züge Alexanders, für sie
kommt es allein auf das typische als das lehrreiche an. und das
typische der Alexanderzüge liegt darin, dasz, nachdem
der osten, Asien, seine völkerschar en nach Europa ge-
sandt und die anfänge aller cultur dorthin verpflanzt,
ja später in seinen eroberungsgelüsten sich wieder
nach westen gewandt hat, jetzt die rollen gewechselt
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus. 399
werden, an die stelle des dranges nach westen tritt der
zag nach Osten, und Alexander gründet nicht blosz reiche in
Asien, er gibt zurück, was dereinst Asien Europa gereicht, reiche
bildungskeime Uberträgt er nach dort und vermittelt durch diese
Übertragung die rettung der griechischen cultur für die weit, also
das charakteristische liegt in der geschichtlichen wendung, dem zuge
Europas nach dem Osten, wir brauchen die Weiterentwicklung der
Weltgeschichte wohl nur zu streifen: Rom und die kreuzzüge des
mittelalters bezeichnen die fortführung dieses gedankens, der heut-
zutage in der orientfrage noch brennend ist.
Und ein träger dieser weltgeschichtlichen idee ist
bereits der Spartanerkönig Agesilaus. das fühlten schon
seine mitbürger heraus, als er, kaum auf den thron gelangt, auf das
gerücht hin , Ar tax er x es rüste gegen Griechenland, diese überredete
ihm ein heer zu geben, um den krieg nach Asien hinüberzutragen.
€U0uc u£v ouv, heiszt es im Ages. I 8, ttoXXoi irdvu rfrdcöricav auid
toöto to £Tn8unf|cai, £ttc\ ö rtepcrjc TrpöcGev im xf|v .'€XXdba
bießn, dvribiaßfivai in* clutöv, tö t€ cripeicGai dmövia näXXov f|
imouevovTa ndxeceai aurtp, tca\ tö Tdxeivou baTravuiVTa ßouXecOai
uäXXov f| Td tüjv '€XXr|vu>v TroXeiaeiv, KdXXicrov bk TrdvTUJV dxpi-
V€to un. TT€p\ Tf|c f€XXdboc dXXd Trepl tx\c 'Acfac töv dyüjva xae-
tadvat. Agesilaus gieng mit der bestimmten absieht nach Asien,
das Perserreich zu unterwerfen, und als es ihm gelungen war das-
selbe dermaszen zu schwächen, dasz die Unterwerfung in allernächster
zeit in aussiebt stand, er selbst aber nach Griechenland zurückgerufen
wurde und seine Selbstlosigkeit in das heflichste licht trat, da wird .
es wieder ausgesprochen (I 36): Ttapöv b' auTui . . . TTpdc bk tou-
toic tö n^ricrov dTTivoujv xat dXm£wv xaraXuceiv tV|v trt\ TT)V
'GXXäba CTpaT€ucacav TtpÖTepov dpxrjv. zur ausführung seines ge-
waltigen planes kam Agesilaus nicht infolge der kämpfe Spartas in
Griechenland, wir befinden uns in der zeit des rückschlages gegen
die durch den peloponnesischen krieg errungene lakedämonische
Hegemonie, auch Sparta muste die Schwächung seiner macht, welche
ihm der unselig* krieg eingebracht hatte, empfinden : nach mancherlei
andern vergeblichen versuchen durch staatenbündnisse gelang es
den Thebanern dieselbe zu brechen und damit das innerlich schon
faulende Staatswesen auf immer zu vernichten, also eine zeit des
politischen Verfalls auch Spartas, und doch errang dies
noch grosze erfolge, abgesehen von der expeditiqn nach Asien , be-
zeugen das die schlacht bei Koronea und der kräftige widerstand,
der den eindringenden Böotiern entgegengesetzt wurde, diese
kraft, welche der spartanische staat vor seinem zu-
sammensinken noch einmal zeigte, besasz er einzig in
seinem im fei de wie auf dem gebiete der politik hervor-
ragenden könige Agesilaus. so steht derselbe als ein groszer
beerftihrer und politiker in einer kleinen zeit und einem schon äuszerst
geschwächten Staatswesen, er zeigt, dasz hervorragende tüchtigkeit
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400 Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus.
es vermag, den verfall, wenn auch nicht zu verhindern, so doch auf-
zuhalten, nimmt man dazu die eigenschaften des von heiszer liebe
für sein Vaterland beseelten mannes und des grossen menschen, so
gewinnt das geschichtliche lebensbild des Agesilaus eine typische
bedeutung.
Wir können hier nur gelegentlich die sich an die unzuverlässige
darstell ung Plutarchs anlehnende abfällige beurteilung, welche die
geschichtliche gestalt des Agesilaus von mehreren seiten erfahren
hat, streifen, wir nennen einmal Grote, geschichte Griechenlands1
bd. Vs. 540, der trotz seiner spartanerfeindlichen tendenz doch nicht
umhin kann, einzuräumen: 'wenn man auch noch so viel für Partei-
lichkeit in dieser Schilderung (durch Xenophon) abrechnet , so wird
doch ein wahrhaft groszer und ausgezeichneter Charakter zurück-
bleiben. ' Hertzberg, das leben des königs Agesilaus III von Sparta,
s. 215 erkennt zwar die thatkraft und eine reihe glänzender eigen-
schaften an Agesilaus an, 'die ihn persönlich auszeichnen und an
einem manne, der in einer zeit tiefen sittlichen Verfalls auf der höhe
des leberis stand, mit recht gepriesen werden dürfen', aber zugleich
spricht er ein hartes urteil aus, indem er die G rot eschen werte 'der
ebrgeiz für Sparta steht in der ersten, der für sich selbst immer in
der zweiten linie' selbst vertritt und hinzusetzt: 'in dem herzen des
Agesilaus verschmelzen leidenschaftlicher Patriotismus und brennen-
der ebrgeiz auf eine wunderbare weise', gar die Xenophontische
schrift enthält ihm nur ' lobhudeleien 1 und 'triviale gemeinplätze'
(a. a. o. s.223). wohlthuend berührt uns im gegensatz dazu die liebe-
volle Versenkung A. Buttmanns in die persönlichkeit und das wirken
des Spartanerkönigs in seinem 'Agesilaus, söhn des Archidamus.
lebensbild eines spartanischen königs und patrioten. Halle 1872'.
V. Xenophons Agesilaus als schullectüre.
Wir haben unsere aufgäbe bisher dahin gelöst , dasz wir zu-
nächst die persönlichkeit des Schriftstellers Xenophon im allgemeinen
wie im besondern diesen als Sokratiker einer Untersuchung unter-
zogen, darauf den gehalt der Sokratischen Schriften überhaupt auf
seinen didaktischen wert prüften, wozu es nötig war, ebenso wohl
die persönlichkeit des groszen philosophen wie auch seine lehre zu
erörtern, sodann um das bildungscentrum zu gewinnen, dem wir den
Agesilaus zuweisen konnten, das von Xenophon weiter gebildete
königsideal , endlich musten wir für beide dabei in betracht kom-
mende litteraturwerke die zeiten sowohl wie auch die hauptpersön-
lich keiten , an welche hier die erörterung geknüpft ist, in ihrer ge-
schichtlichen und pädagogischen bedeutung überhaupt besprechen,
nachdem wir so den grund gelegt haben , wenden wir uns zu dem
didaktischen gehalt unseres Schriftwerkes allein und suchen folgende
fragen zu beantworten: 1) leistet in ihm der schriftsteiler
das, was die obige darstellung uns von ihm verspro-
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus. 401
chen hat? 2) ist der Agesilaus, wie ihn der Verfasser
darstellt, eine didaktisch geeignete persönlichkeit?
3) worin besteht die didaktische leistungsfähigkeit
der schrift selbst?
Eine erörterung der frage, ob der Agesilaus denn überhaupt
Xenophon zum Verfasser hat, oder ob diese schrift apokryph ist, ge-
hört nicht in den rahmen dieser Untersuchung, hüben und drüben
stehen namhafte autoritäten. um es kurz zu sagen, können uns die
äuszerlichen gründe, welche man gegen die echtheit der schrift an-
geführt bat, so die stellenweise poetische diction (dieselbe fehlt auch
der Cyropädie nicht!) und der sich hier und da hervordrängende
rhetorische Charakter, besonders im periodenbau (zu einem solchen
lud der stoff ein!) nicht tiberzeugen, wohl aber sprechen so viel
innere gründe, die im folgenden bei der besprechung des Schrift-
stellers anzugeben sind, für Xenophon, die schrift zeigt so ganz den
Sokratisch-Xenophontischen geist, dasz, je länger man sie liest, um
so mehr alle zweifei an ihrer echtheit schwinden.
Als bedeutungsvoll für die schrift ergibt sich das Verhält-
nis des Schriftstellers Xenophon zu Agesilaus. dasz
beide in enge berührung mit einander getreten sind , lehrt die ge-
scbichte. wie weit Xenophon in Asien in des Agesilaus begleitung
gewesen ist, wissen wir nicht; verbürgt dagegen ist uns seine an-
wesenheit in der schlacht von Koronea. jedenfalls beruht die
Schilderung der kriegszüge des spartanischen königs
wenigstens zum groszen teil auf autopsie und gewinnt so
den eindruck der treuen Wahrheit, anderseits befindet sich hier
der f achmann Xenophon so ganz eigentlich auf seine m
gebiete in der darstellung der kriegsbilder, der strategischen masz-
n ahmen seinem beiden, der einwirkungen des feldherrn auf die truppen,
der Schilderung der asiatischen Verhältnisse, niemand wäre gleicher-
maßen befugt gewesen das alles darzustellen als Xenophon. aber
auch die politische thätigkeit des Spartanerkönigs hat derselbe aus
der nähe beobachten können, und die ergreifende Schilderung seines
unermüdlichen wirkens für Lacedämon beruht auf genauester kund-
schaft. vor allem betonen wir aber auch hier, dasz das lebens-
bild des Agesilaus von dem vertrautesten freunde ent-
worfen ist und in einzelnen zügen den Stempel langjähriger intimer
beobachtung trägt, auch in dieser schrift tritt uns in Xeno-
phon wieder der treue, warme freund entgegen, das
schönste denkmal hat er, der mit bewunderung und liebe an dem
freunde hieng, demselben gesetzt, indem er die tugenden des ver-
ewigten pries und ihn zum träger der eignen philosophischen ideen
machte.
Doch da erhebt sich uns ein einwand, derselbe Xenophon hat
in seiner hellenischen geschichte ein in manchen nicht unwesent-
lichen zügen von dem in rede stehenden verschiedenes bild des Age-
silaus entworfen, dasz, wie es nach der gleichnamigen schrift das
N. j*hrb. f. phil. a päd. II. abt. 1891 hft. 8 u. 9. 26
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402 Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus.
ansehen gewinnen könnte, der geschichtliche Agesilaus nicht ohne
fehler und schwächen war, verschweigt der Verfasser des gescbichts-
werkes nicht, dasz er die mithilfe des ehrsüchtigen Lysander zur
besteigung des Heraklidenthrones annahm, deutet Xenophon hier
an, dasz er in seinen kämpfen nicht immer siegreich war, ist gleich-
falls hier zu lesen, und endlich findet sein verhalten gegenüber Spbo-
drias hier auch nicht Xenophons beifall. aber alles das hat keinen
platz im 'Agesilaus'. sieht man denselben freilich als eine lobschrift
an, wozu die ausdrücke Ittcuvoc (II) und £ykujhiov (X3) verleiten
konnten , und was er doch nur in beschränktem sinne ist, so könnte
man dem Verfasser den Vorwurf nicht ersparen, er habe die geschiente
gefälscht, wir wissen ja aber, dasz die tendenz der schrift eine
wesentlich andere war. verherlichen wollte Xenophon wohl die
gestalt des Agesilaus, aber das büchlein galt in erster linie der
durebfübrung seines lieblingsgedankens , des königsideals. und ent-
sprechend der theoretischen grundlage, wie sie die philosophisch
begründete Überzeugung Xenophons lieferte, konnte der Verfasser
nur die züge gebrauchen, welche in diesen rahmen passten, d. h. er
muste zeigen, wie weit sich in dem könige Agesilaus
das ideal eines fürsten mit all seinen forderungen
geschichtlich verwirklichte, etwaige schwächen des
mann es, welche übrigens gerade in seinen Vorzügen ihre wurzel
haben * hätten in diesem bilde keinen platz gehabt, im
übrigen ist dasselbe durchweg mit geschichtlicher treue entworfen,
und mit welcher wärme hängt der Verfasser an diesem köstlichen
lebe Ms bilde ! wie spiegelt sich in dem preise des Patriotismus seines
helden die eigne Vaterlandsliebe wieder, wie in dem lobe des uner-
müdlich thätigen mannes, der sein leben im dienst der Vaterstadt
verzehrt , das Pflichtgefühl des Verfassers , wie in der begeisterung
für den sittlich trefflichen menschen die sittliche tüchtigkeit und
grösze des Schriftstellers selbst! es ist dieselbe liebenswürdige,
ritterlich- vornehme, gottesfurchtige , patriotische persönlichkeit der
Schriftsteller selbst wie Bein held ! und mit welcher frische ist die
kleine schrift geschrieben , wie weisz der Verfasser das interesse des
lesers für seinen freund zu gewinnen und bis zum schlusz festzu-
halten ! nirgends auch nur die geringste breite , in scharfer disposi-
tion entwirft der Verfasser seine gedanken in groszen zügen, und
mit lebhafter teilnähme begleiten wir den für seinen stoff begeisterten
darsteller bis zum schlusz.
Nachdem wir schon oben das tugendideal und seine erfüllung
im königsideal nach seinen wesentlichen merkmalen beleuchtet und
auf seinen didaktischen wert geprüft haben, haben wir jetzt nach-
zuweisen, dasz und wie derselbe sich in der person des Agesilaus
darstellt, deren geschichtliches interesse gleichfalls schon oben von
uns erkannt worden ist. des königs Agesilaus ganzes dichten und
88 vgl. Buttmann a. o. s. 285 ff.
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Der didaktische wert dea Xeuophontischen Agesilaus. 403
trachten geht in seinem berufe auf, in der erfüllung der aufgaben,
welche dieser an ihn stellt, dasz er ihn im Somatischen sinne auf-
faszt, dasz er in ihm nur die pflichten sieht, welche derselbe mit sich
bringt, dagegen von seinen Vorrechten nichts wissen will, und dabz
er sich als hirte seines volkes für dessen Wohlergehen verantwort-
lich weisz, ist bereits gesagt worden, diese seine berufstreue be-
thätigt sich nicht blosz in der freudigen Übernahme schwieriger com-
mandos, im asiatischen kriege, in der unverzüglichen rückkehr aus
Asien zur bekämpfung der antispartanischen verbündeten, in der
rastlosen thätigkeit, mit der er dort bandelte und seine truppen aus-
bildete, um den kräften des gegners gewachsen zu sein, in seinen
steten feldztigen zum wohle der stadt bis ins hohe alter hinein, wie
er dann auf der rückkehr von dem ägyptischen kriegszuge, den er
im interesse der machtstellung seiner 'Vaterstadt unternommen hatte,
seinen tod fand, sondern ebensowohl in seiner thätigkeit im frieden,
in welchem sein leben blosz arbeit war, berechnet für das glück und
wohl der seinen, diese rastlose thätigkeit in rat und that für seine
Vaterstadt, die unnachsichtige strenge gegen sich selbst im dienste
der p flicht hat ihre wurzel in der Vaterlandsliebe. Agesilaus ist Spar-
taner vom scheitel bis zur sohle , wie er als kraftvolle persönlich-
keit eben alles ganz ist. aber sein blick geht hinaus Über die be-
schränkte spartanische auffassung, er ist auch ein qpiXe'XXrjv. dieses
national-griechische empfinden zeigt sich ebensowohl in
seinem unversöhnlichen hasz gegen die Perser, den nationalfeind,
wie in seinem tiefen schmerz nach der Schlacht bei Koronen: <peö,
UJ *€XXdc, Ö7TÖT€ 0\ VÖV T€ÖVr]KÖT€C IxCtVOl fjcCtV 2ÜJVT6C VlKCtV
jiaxönevoi Träviac touc ßapßdpouc (Vll 6). dazu (vgl. ebd.) seine
milde und seine Versöhnlichkeit gegenüber dem besiegten griechi-
schen feinde, dem barbarentum gegenüber war er sich der höheren
griechischen bildung wohl bewust, seinem despotismus setzte er die
griechische humane denk weise gegenüber, innerhalb Griechenlands
hingegen war sein bemühen darauf gerichtet, die leidenschaften zu
mildern und auszusöhnen.
Der kern dieses vortrefflichen herscherbildes nun ist die sitt-
lich ausgestaltete persönlichkeit, wie der könig Agesilaus
seinen beruf vor allem durch sein persönliches hervortreten erfüllt,
so stellt der mensch Agesilaus in sich das tugendideal dar. zunächst
seine festigung in der gottesfurcht und frömmigkeit. dieselbe zeigt
sich recht klar in seiner auf wahre religiösität zurückgehenden un-
bedingten glaub Würdigkeit: selbst der feind weisz ihn nach dieser
seite hin zu schätzen und vertraut ihm mehr als seinesgleichen,
Xenophon gibt dafür mehrere beispiele an. und diese Zuverlässig-
keit und Wahrhaftigkeit hat ihm manchen erfolg in seinen kriegen
gebracht, den er sonst hätte teuer erkaufen müssen, wie notwendig
übrigens für jede im öffentlichen dienst stehende person die Ver-
trauenswürdigkeit ist, vor allem für den heerführer im feindesland,
bemerkt der Verfasser mit den worten : oütw jn^ya kcu KaXöv Kif\\xa
26*
404 Der didaktische wert des Xenophcmtiachen Agesilau».
rote T€ dXXoic cnraci xai dvbpi bf| CTpaTrjYiu to öciöv te Kai ttictöv
€?vai T6 Kai ÖVTa dfVUJCGai. aus der wurzel der frömmigkeit ent-
sprang naturgemäsz die toleranz, welche ihn fremden glauben und
fremde religiöse culte schonen liesz , wie er denn stets pietätsvoll
die rechte der götter wahrte: wer den sich an den altar des gottes
flüchtenden diesem schütze entrisz, galt ihm als ein tempelscbänder.
und wie tief er die religion auffaszte, zeigt sein ausspruch, dasz gute
werke so viel wert seien als reine opfer. dieser religiositSt ent-
spricht es auch, dasz er im glücke der götter nicht minder gedachte
als in schweren tagen: dXXd nf|v Kai öttote euiuxoirj, ouk avGpui-
ttujv imepeqppövei, dXXd Geoic x<*piv fjbei Kai Gappujv irXeiova
£8uev fj Ökvujv rjuxeio (XI 2). aus seiner wahren frömmigkeit ent-
sprang denn auch die demut, welche den mann ziert, die tugend
der bucaiocuvr) erscheint in diesem lebensbilde zunächst als uneigen-
nützigkeit gegenüber seinen mitbürgern und dem gemeinwesen. mit
wohltbaten , heiszt es , kargte er gegen niemand , ohne auf dank zu
rechnen , am wenigsten dem Staate gegenüber, dasz einem solchen
manne jede gewinnsucht fern lag, versteht sich von selbst; hatte er
doch den grundsatz : rjpeiTO cuv tüj f evvaiiu u,€iov€KT€iv f| cuv tw
dbiKUJ ttX^ov ^X£lv 5). für sich beanspruchte er überhaupt
nichts, wie er in seiner demut nie das eigne suchte, so weigerte er
sich , sich bei lebzeiten ein denkmal setzen zu lassen, nichts haszte
er bitterer als den leeren schein, wie er gegen die seinen immer
freigebig war, so zeigte er sich auch, wie Xenophon das durch seine
handlungs weise gegen seine Stiefschwester belegt, als ein guter
bruder. in der mäszigkeit gieng er sehr weit: die fleischlichen be-
gierden nach speise und trank , schlaf oder wollust29 waren seiner
nicht herr, vielmehr hatte er sie völlig in seiner gewalt gemäsz seinem
grundsatze : f}Y€iTO -f dp dpxovxi TTpocrjKeiv ou naXaKia , dXXd Kap-
Tepia tüjv ibiuJTÜuv Trepuivai (V 2). die hohe mäszigkeit und ein-
fachheit, ja völlige anspruchslosigkeit des fürsten wird in einer
schönen parallele mit dem barbarenkönig durchgeführt (VI): ganz
im gegensatz zu diesem war er der mann, der mit jeder speise, mit
jedem trunk fürlieb nahm, dem zur ruhe jede stunde recht war:
keine jahreszeit hatte für ihn Unannehmlichkeiten, seine kräfte waren
vielmehr so gestählt, dasz sie zu jeder zeit in dem dienste des Vater-
landes stehen konnten, im felde gönnte er sich weder ruhe noch
schonung, seine selbstbeherschung ermöglichte es ihm fdie nacht
zum tage zu machen', und bezüglich seiner tapferkeit kann Xeno-
phon von ihm sagen , dasz seine schlachten auch trophäen für ihn
gewesen seien, dem feinde gegenüber kam ihm seine hohe klugheit
zu statten, welche ihn feind und freund richtig behandeln liesz. wie
ihn im Verhältnis zu letzterem das innige Verhältnis unterstützte, in
welches er zu seinen untergebenen trat, und seine tiefe menschen-
kenntnis, welche ihn stets den kern im menschen erkennen und alle-
»■ die partie V 4—7 ist bei der lectüre natürlich zu übergehen.
Digitized by Googl
Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus. 405
mal den rechten an die rechte stelle setzen liesz, so wüste er den
griechischen gmndsatz dem feinde möglichst furchtbar zu sein zu
verwirklichen, aber ihn auch durch milde und Versöhnlichkeit zu ge-
winnen und zu schonen, wo es angieng. seine milde gesinnung
gegenüber dem unterworfenen feinde , besonders das edle herz, wel-
ches er gegen die von Sklavenhändlern am wege liegen gelassenen
kinder bewies (I 21), musz selbst der dem Spartanerkönige aus poli-
tischer Parteinahme durchaus nicht holde Grote80 bewundernd ein-
räumen. — Noch sei darauf hingewiesen, wie er als heerführer die
wahren erfordernisse • eines guten geistes der truppen vortrefflich
kannte: kcütoi ttüjc öv icxupoi^pa y^voito qpdXcrf£ fj biet tö fifcv
TreiOecGcu cutoktoc oöca, biet bi tö <piXeiv töv äpxovia ttictüjc
Ttapouca; ruft VI 4 Xenophon aus, ebenso I 27: öttou *fdp dvbpec
Geouc ji£v c^ßoiev, ttoXc^ikci bk dcKOicv, TT€i0ctpxiav b£ ueXeTtliev,
ttujc ouk cIköc dvTaöGa Trdvra uec tu £Xiribuuv dYCtGwv elvai ; —
Ein so gleicbmäszig gereifter Charakter, von dem Xenophon
sagen kann : u€T* öXitujv bi noi dbÖK€i dvGpumujv ou Kapreptav
ttjv dp€TT)V, dXX* 6UTrd0€iav V0|ii£eiv, kann auch die ruhe und stille
heiterkeit zeigen , welche die frucht treuer arbeit an sich selbst zu
sein pflegt, von Agesilaus rühmt der Verfasser, dasz man seinen
Umgang wegen seiner hohen gesellschaftlichen Vorzüge, wegen des
euXQpi, welches ihm in hohem masze eigen war, aufsuchte, nichts
war in ihm von stolzer abgeschlossenheit, nichts von äuszerem zur-
sebautragen seiner bevorzugten Stellung, im gegenteil infolge der
ihm eignenden demut auch eine milde freundlichkeit gegen jeder-
mann, wie er zu aller zeit zugänglich war, so wüste er, wohin immer
er kam, durch anschlagen des rechten tones eine gehobene und frohe
Stimmung zu verbreiten, er liebte scherze und heiteres gespräch,
wie er auch darin ein echter Spartaner war, dasz er eine grosze
schlagfertigkeit der rede besasz, so dasz sein Umgang allgemein be-
gehrt war. ausdrücklich aber versichert Xenophon (XI 11), dasz
seine scherze sich nicht etwa in witzen auf kosten anderer äuszerten,
sondern seine liebenswürdigkeit in einer herzgewinnenden freund-
lichkeit bestand , wie sie eben seinem Charakter entsprang.
Um da3 in kurzen strichen dem Xenophon nachgezeichnete
lebensbild abzuschlieszen , mag noch hergesetzt werden, was gegen
schlusz der schrift der Verfasser von seinem freunde sagt: 'an ihm
rühmten seine verwandten die treue pflege der verwandtschaftlichen
beziehungen, alle, die mit ihm umgiengen, sein unverfälschtem wesen,
wer ihm diente, sein treues gedenken, wer im leide war, seine Hilfs-
bereitschaft, wer mit ihm in gefahr gewesen war, nannte ihn nächst
den göttern seinen retter. auch das scheint er mir in ganz einziger
weise gezeigt zu haben, dasz, wenn auch die kräfte des körpers altern,
doch die seelenkraft des edlen nicht altert.' mit dieser köotlicheu
parallele zu den worten des psalrasängers (92, 15) schlieszen wir
«• a. o. V s. 192.
406 Der didaktische wert des Xenophontischeu Agesilaus.
diese Darstellung ab, welche zeigen sollte, dasz das Xenophontische
bild des Spartanerkönigs Agesilaus nicht nur alle wesentlichen züge
des oben erörterten königsideals an sich tragt, sondern dasz seine
persönlichkeit auch eine so harmonisch entwickelte, so deutlich den
Stempel der Y€waiÖTr)c zeigende ist, dasz sie uns einen idealen
könig und menschen darstellt, wie wir ihn uns für die unterrichte-
zwecke nur wünschen können, das bild dieser sittlich erhabenen
persönlichkeit ist wohl dazu angethan, einen tiefen und dauernden
eindruck auf die seele des schülers zu machen und dieselbe für die
ideen, welche der Schriftsteller vertritt, zu gewinnen.
Es erübrigt noch die beantwortung der dritten frage: das
material dazu ist in der ganzen bisherigen erörterung gegeben, wir
begnügen uns daher unter Verweisung auf die vorhergehenden ab-
schnitte damit den gewinn der lectüre des Agesilaus dahin zusammen-
zufassen, dasz dieselbe
1) die erhabene gestalt des patriotischen Spar-
tanerkönigs und sein wirken für die dem verfall ent-
gegengehende Vaterstadt,
2) das königsideal in seiner geschichtlichen be-
rechtigung und in seiner philosophischen gestalt
sowie das Sokratische tugendideal, ersteres in Ver-
vollständigung des aus der Cyropädie entnommenen
bildes, letzteres in Vorbereitung auf die Memorabilien,
3) die ergänzung des Charakterbildes des Schrift-
stellers Xenophon, besonders nach der seite seiner
politischen denkweise
darbietet, ebenso wenig wie es nötig erscheint , hier das über den
didaktischen gehalt der groszen in betracht kommenden gedanken-
kreise gesagte zu wiederholen, brauchen wir noch über die Verbin-
dung dieser lectüre mit den übrigen lehrstoffen uns auszulassen: wir
haben bei gelegenheit der besprechung all dieser bildungsstoffe ihre
berührung mit den andern Unterrichtsfächern, soweit eine solche
ungezwungen sich darbietet, erörtert.
Nur einem einwände, welcher möglicherweise aus der an sich
zuzugebenden heterogenität der von uns nachgewiesenen in dieser
schrift enthaltenen bildungskreise abgeleitet wird, möchten wir noch
zu begegnen suchen, scheinbar liegen ja Xenophon und seine poli-
tischen ideen, Sokrates und sein tugendideal und die geschichtliche
gestalt des Agesilaus weit von einander, aber wir fürchten nicht,
dasz die von uns geforderte hervorkehrung aller dieser momente der
einheitlichkeit des Unterrichts abbruch zu thun vermöchte, vielmehr
wird derselbe es dankbar begrüszen können, wenn ihm die möglich-
keit geboten wird, das bildungsmaterial mit vielen fäden der seele
des schülers zu verknüpfen und für dasselbe ein vielseitiges interesse
in dieser zu erzeugen, sodann haben wir ja von anfang an
die lectüre des Agesilaus nur als ein glied in der reihe
Cyropädie — Agesilaus — Memorabilien ins auge ge-
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Der didaktische wert des Xenophontischen Agesilaus. 407
faszt. wir würden demnach folgende Verteilung des gesamten
Stoffes als sich aus der natur der sache ergebend ansetzen: der
lectüre der Cyropädie fällt zunächst die aufstellung
des königsideals nach seinen hauptzügen zu, gelegent-
liche hinweise auf Xenophon als Sokratiker und auf das
tugendideal seines meisters drängen sich von selbst
auf, und schon hier erweite rt sich das bild des Schrift-
stellers, eine eingehendere berück sich tigung der poli-
tischen seite desselben und der politischen anschau-
ungen, aus welchen die aufstellung des königsideals
entsprungen ist, ist im anschlusz an die lectüre des
Agesilaus zu geben, zugleich in ihrer geschichtlichen
berechtigung, daneben wird der abschlusz des Xeno-
phontischen königsideals gewonnen, wie sich auch die
hauptzüge des tugendideals schon hier herausstellen,
den Memorabilien endlich verbleibt die systematische
entwicklung des letztern sowie der Sokratischen raoral-
philosophie überhaupt, die behandlung der philosophi-
schen und geschichtlichen gestalt des Sokrates und ab-
schliessende.- über das Charakterbild des Verfassers,
-wir glauben, dasz auf diese weise der ganz erhebliche bildungsstoff,
welchen die Sokratischen Schriften Xenophons darstellen, sich orga-
nisch gliedern und verteilen läszt. dasz am Schlüsse seiner behand-
lung ein vertiefender rückblick geboten ist, braucht wohl nicht erst
bemerkt zu werden.
Wir haben in unserer erörterung den Schwerpunkt auf den
inneren Zusammenhang gelegt, welcher zwischen lectürestoffen auf-
gedeckt ist, die im Unterricht nach einander behandelt werden, so
richtig auch uns bei der auswahl der lectüre die didaktische Forde-
rung erscheint, dieselbe in möglichst vielfache berührung mit den
übrigen lesestoffen und Unterrichtsgegenständen überhaupt, die
gleichzeitig die seele des Schülers beschäftigen, zu bringen, und so
sehr wir es anerkennen , dasz auf diese concentration in der aufstel-
lung der lehrpläne groszes bemühen verwandt wird — für ebenso
wichtig als das richtige nebeneinander halten wir das richtige nach-
einander, wir verlangen , dasz nur solche vorstellungskreise zu an-
haltender beschäftigung ausgewählt werden, welche noch für die
oberste stufe wertvolles inaterial bilden, erst in dieser classe findet
der abschlusz der concentrationsarbeit statt, und dio auf den ver-
schiedenen Unterrichtsgebieten gewonnenen vorstellungsmassen er-
halten durch ihre gegenseitige Verknüpfung erst hier ihre rechte be-
ziehung zu einander wie auch zu der seele des unterrichteten, in
diesem sinne dürfen wir wohl auch das wort 0. Fricks" verstehen:
'der Unterricht, wenigstens der oberprima, müste recht eigentlich
und vornehmlich in solcher rückschauender und vertiefender zu-
31 lehrproben und lebrgänge hft. XII s. 19.
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408
Beiträge zur hebräischen grammatik und raetrik.
sammenfassung des früher erworbenen gewinnes bestehen.' freilich
ist es zur erreichung dieses zieles erforderlich , dasz der unterriebt
in den einzelnen classen nie den Zusammenhang mit den Vorstufen
aufgibt, und dasz er tiberall bemtlht ist die fundamente, welche ihm
zum weiterbau übergeben werden, auch auszunützen, es darf daher
als eine dankenswerte p flicht der Schulleitung bezeichnet werden,
dasz dieselbe dieser seite der ausführung der lehrpläne ihre beson-
dere aufmerksamkeit zuwendet; jedenfalls bleibt nach dieser seite
hin in der theorie wie in der praxis noch sehr viel zu thun übrig.
Sollte es uns in der vorstehenden erörterung gelungen sein den
nach weis zu führen, dasz durch die methodische anordnung und
aufeinanderfolge von lectürestoffen sich eine reihe bedeutungsvoller
anschauungen und vorstellungskreise und damit eine wesentliche
bereicherung des geistigen lebens des schülers gewinnen läszt, zu-
gleich aber auch mit ihr für die abschlieszende arbeit auf der ober-
sten stufe ein guter grund gelegt wird, so glauben wir ihren zweck
als erreicht bezeichnen zu dürfen.
Ohlau. Paul Dörwald.
(31.)
BEITRÄGE ZUR HEBRÄISCHEN GRAMMATIK
UND METRIK.
(schlusz.)
III.
Dasz in vielen stellen der artikel grammatisch erklärbar und
um der klarheit des sinnes wegen notwendig erscheint, ist bereits
zu an fang der abhandlung ausgesprochen worden, es beschränkt
sich jedoch dieses auf folgende fälle:
1. Der artikel kann nicht fehlen in feststehenden ausdrücken,
welche eine adverbiale bedeutung erhalten haben, als
et) in D*Tn in der bedeutung 'heute* (hodie); Ps. 2, 7; 95, 7;
119, 91; Hiob 23, 2; Prov. 7, 14 u. a.
ß) in der Verbindung von DVStVd, welches die bedeutung 'fort-
während , immerfort* erhalten hat (D"P~bD =» 'jeden tag'); beide
wörtchen gehören eng zusammen und werden stets nur mit einer
tonsilbe gelesen, als Ps. 26, 5; 32, 3; 35, 28; 37, 26; 38, 7. 13;
42, 4, 11; 44, 9. 16. 23; 52, 3; 56, 2. 3. 6; 71, 8. 15. 24; 72, 15;
73, 14; 74, 22; 86, 3; 88, 18; 89, 17; 102, 9; 119, 97; Prov.
21, 26; 23, 17; Thren. 1, 13; 3, 3. 14. 62; vgl. Jes.51, 13; 52,5;
62, 6; 65, 2. 5.
T) in y-iKrrbs in der adverbialen bedeutung 'tiberall, aller-
wärts* (ubicunque terrarum), daher es niemals als subject des satzes
aufgefaszt werden müste; wie denn auch das dabei stehende verbum
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Beiträge zur hebräischen grammatik und metrik.
409
stet 8 nur im plural vorkommt, weil dieses das subject enthält und
yiKirrba eine adverbiale bestimmung zu demselben bildet, als Ps.
35, 8; 47, 8; 66, 1. 4; 96, 1, 7; 98, 4; 101, 1; ferner 47, 3. 8;
48, 3; 97, 5; I Chron. 16, 23. in allen diesen füllen werden beide
eng zu einem begriff verbundene Wörter mit einer tonsilbe gelesen,
wird jedoch Vd mit einer präposition verbunden, so wird bs betont,
wie yn»Ti bD-by in Ps. 47, 3; 57, 6. 12; 83, 19; 97, 9; 108, 6;
oder yit*n brp Ps. 8,2. 10; 19,5; 45, 17; 105,7; I Chron. 16, 14;
in diesem fall erhält b3 seine substantivische kraft, ebenso bsb
D^Oin^ Ps. 18, 31, sobald der artikel als thesis nachfolgt; man ver-
gleiche bsri Ps. 14, 3; 49, 18; sonst wird bs vor der tonsilbe ton-
los gebraucht.
b) hierher gehören auch einzelne ausdrücke, welche niemals
ohne artikel gebraucht werden, als welches trotz dem
artikel mit einer tonsilbe gelesen wird, in Ps. 8, 9; Hiob 12, 8,
wahrscheinlich wegen der kürze der beiden Wörter und des gewohn-
heitsmäszigen gebrauchs nach der prosa, vgl. Genes. 9, 2; Num.
11,22; Habaq. 1,14; Hosea 4,3; Ezech. 38,20; Zeph. 1,3; ebenso
stets D^ttn r)")?, aber stets mit zwei tonsilben, so dasz der artikel
aus metrischem gründe (vgl. II c) berechtigt wäre; so Ps. 79, 2;
104,12; Hiob 12,7; 28,21; 35,11; vgl. Genes. 1,26. 28. 30; 2,20;
6, 7; 7, 3; 9, 2; Levit. 28, 26; I Sam. 17, 44. 46; II Sam. 21, 10;
I Reg. 14, 1; 16,4; 21, 24; Jerem. 4, 28; 7, 33; 9, 9; 15, 3; 16,4;
19, 7; 34, 20; Ezech. 10, 20; 29, 5; 31, 6; 32, 4; Hos. 2, 20; 7, 12;
Zeph. 1,3; vielleicht auch O^-nDü ao'P Ps. 80,2; vgl. I Sam. 4,4;
IE Sam. 6,2; I Reg. 8, 7; II Reg. 19, lo; I Chron. 13,6; Jes. 37, 16,
so dasz in Ps. 99, 1 statt atfh gelesen werden müste 212^ cer liesz
sich nieder5, um gericht zu halten (vgl. Ps. 9, 5. 8 ; 29, 10; 122, 5),
wodurch auch der parallelismus mehr symmetrisch und der sinn klar
würde, in mehreren stellen der Psalmen sind wörtliche entlehnungen
aus der prosa unzweifelhaft, als Ps. 135, 11; 136, 19. 20 (vgl. Num.
21, 21. 26. 33. 34; Ps. 79, 6 und Jerem. 10, 25). solche aus der
prosa wörtlich entlehnte stellen können bei der beurteilung rhythmi-
sch er dichtung nicht in betracht kommen.
2. Ziemlich zahlreich kommen parüeipia mit dem artikel vor.
abgesehen von den fallen, in welchen der rhythmus den artikel er-
fordert, verlangt oft der sinn und die grammatische construetion
denselben, so wird bereits in der grammatik (Gesenius § 126, 1 b)
der fall erwähnt, in welchem mit dem artikel vor dem partieipiumdas
subject des vorangehenden satzes wiederaufgenommen wird, so datz
der artikel das demonstrativum und relativum zugleich vertritt (vgl.
Suckow s. 7). in Ps. 19, 11 D^Tanrn setzt das partieipium mit dem
artikel von neuem an, indem der artikel als demonstrativum die in
v. 8 — 10 genannten subjecte aufnimmt und zugleich als relativum
das prädicat im partieip hinzufügt: esie, die schätzbarer sind als
gold.' dieses stimmt auch ganz zu der Stellung dieses verses zur
vorangehenden und nachfolgenden strophe^c^^3em5ei^n aus
410
Beiträge zur hebräischen graniniatik und metrik.
metrischen grUnden im leitfaden (s. 13) gegeben werden muste.
ähnlich erhalten Job 9, 5 — 7 die participia durchgängig den artikel
in gleicher bedeutung und heben sich durch gleichheit dieser form
als strophe ab von v. 8 — 10, welche mit participien ohne artikel in
attributivem sinne beginnen und ebenfalls durch diese formengleich-
heit als eine besondere strophe erkennbar sind , wie dieses bereits
Dillmann (commentar s. 82 unten) auch ohne kenntnis der metrik
herausfühlte, eine mehr künstliche abwechslung findet sich Ps. 104, 3;
dagegen wird in v. 10 der beginn einer neuen strophe durch das
participium mit dem artikel angedeutet, während in v. 13 und 14
die participia nach der Unterbrechung von v. 11 und 12 ganz passend,
weil sie zu derselben strophe gehören, keinen artikel haben; im v.32
erfordert der sinn in tranft den artikel, weil es so viel als cra^BK
bedeuten soll, participia mit artikel, welche durch demonstrativa
und relativa aufzulösen sind, finden sich Ps. 18,33. 48; 25, 3; 31,7;
32, 10; 33, 15; 35, 26; 81, 11; 118, 26; 125, 1; 126, 5; 129,8;
144, 1. 2. 10; 146,6; 147,3. 8. 14. 15. 16; Job 5, 106; 9,5.6.7:
22, 17; 30, 4 (zum beginn einer neuen strophe, vgl. s. 350 d); Pro?.
26, 18; Thren. 4, 5; Genes. 49, 17, 21 (zur wiederaufnähme der
person).
Geht ein determiniertes nomen oder eigennamen voran , so er-
fordert der sinn, wie auch die grammatik (Gesenius § 126, 5), dasz
das participium ebenfalls den artikel erhält, wenn dasselbe attribut
zum nomen ist, da es ohne artikel in prädicativer bedeutung gefaszt
werden mtiste; vgl. Ps.31, 19; 34,13; 35,27; 86,2; 122,3; 128,1;
134, 1; Prov. 9, 15.
3. Der artikel steht oft zur Unterscheidung des subjecta vom
prädicat. dieser fall tritt vorzüglich ein, wenn das prädicat ein
nomen oder participium ist; so werden z. b. in Ps. 19, 2 D*»non
0^0073 und yip-itt YW3 durch den artikel die participia als prä-
dicate klar, welche die praesentia der dauer vertreten; ebenso Ps.
104, 21 o*a«tö D^csr;. ganz besonders wird der sinn klar durch
den artikel in Ps. 68, 12 : 'der herr gab das wort (d. h. die ver-
heiszung), der siegesverkünderinnen (gab es sofort) eine grosze
schar', die unmittelbarkeit der verheiszung, Verwirklichung und
Verkündigung des sieges von Seiten der herbeiströmenden schar der
frauen ist ebenso prägnant wie klar ausgedrückt; der vers steht
in keiner beziehung dem vielgerühroten Homerischen verse nach
II. 1, 52 : ßdXX* ' ctiet be Trupai vexüwv kguovto. wäre der artikel
fortgeblieben, so würde der sinn vieldeutig und schwer zu erkennen
gewesen sein; ebenso läszt sich der artikel in v. 20 erklären, und
ganz unzweifelhaft zeigt sich dieses in v. 21 my©i?ab b« 12b b«H
und Ps. 115, 16 mr^b c^n» D^tt)n, in denen sich offenbar subject
6 das participium mit dem artikel "rm ist demnach ein parenthe-
tischer relativsatz; denn es sollen hier nicht die wunder gottes in der
natur, sondern in der leitung der menschlichen Schicksale (v. 11 — 15)
dargestellt werden, so dasz v. 11 sich als folgeaatz an v. 9 anschlieait.
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Beiträge zur hebräischen gramniatik und metrik. 41 1
und prädicat nur durch den artikel unterscheidet, auch in manchen
andern fällen läszt sich der artikel am besten grammatisch erklären,
als Ps. 104, 18 üTiaan Q"^!i, wo durch den artikel das adjectivum
die bedeutung des Superlativs erhält, wie in der that die 'höchsten
berge* die wohnstätte der gemsen sind, ebenso 89, 50 *]^on
D^HNCnn nicht 'die früheren gnadenbeweise, sondern 'die gnaden-
beweise der früheren', d. b. die den früheren gezeigten gnaden-
beweise, in ähnlicher weise tritt der artikel nach eigennamen zur
bezeichnung des vocativs ein (vgl. Gesenius gramm. § 126, 2e.
Zach. 3, 8 ynart iron roirr), als Ps. 122, 3 rmaatt D^bttw
'Jerusalem, die du erbauet bist', ebenso Ps. 137, 8: 'stadt Babel,
du zerstörte*; ohne den artikel würde der vocativ ebenso wenig er-
kennbar sein , wie er noch jetzt trotz dem artikel von den meisten
exegeten erkannt worden ist. hiernach auch ist Judic. 5,9 DWttvnfl
Dya 'die ihr euch freiwillig stelltet* zu tibersetzen.7
Oft wird der sinn des wortes erst durch den artikel bestimmt,
wie in Ps. 148, 10, wo nur das erste nomen !"Pnri allein den artikel
hat, weil es eben erst durch diesen oder einen noch näher bestim-
menden genitiv wie tTWD oder y*iN die bedeutung von 'wild* erhält;
es dient demnach der artikel zur Substantivierung des wortes ; ebenso
erhält Ps. 118, 22 das participium rmr durch den artikel die be-
deutung 'bauleute'. — Auf diese weise ist der artikel in dem con-
stanten ausdruck D^nn y^Nn Ps. 27, 13; 142, 6; Job 28, 13 zu
erklären 'im lande der lebenden9, ohne den artikel würde es 'land
des lebens' bedeuten, wie Ps. 16, 11; Prov. 2, 19; 5, 6; 6, 23;
12, 28; 15, 24, wo D^n in Verbindung mit ^"Vi oder stets die
bedeutung von 'vita', nicht 'viventes* hat, wie denn überhaupt D^n
im abstracten sinne in der poesie niemals, so viel ich weisz, den
artikel hat, vgl. Ps. 21, 5; 30, 6; 34, 13; 36, 10; 133, 3; Prov.
3, 2. 18. 22; 4, 10. 22. 23; 8, 35; 9, 11; 10, 11; 11,30; 13,12. 14;
14,27; 15,4.31; 16,15; 18,21; 21,21; 22,24; 27,27; Hiob 3,20.
4. Es bleiben nur noch wenige stellen übrig, in denen der
artikel durch corruption des textes entstanden ist; so musz Ps. 57, 6
0"»72SrbT ohne artikel wie in v. 12 und Ps. 108, 6 gelesen werden
(vgl. oben s. 349); in Ps. 36, 6 musz statt D^ttJün gelesen werden
0"»7asriy wie in Ps. 57, 11 und 71, 19, 'da zugleich das unterbleiben
der syncope beim artikel nach der präpositton a ganz abnorm ist'
(Olshausen); in Ps. 62, 4 musz statt mmrr na gelesen werden
rpim STVtt, wie schon Olshausen vermutete.
Metrisch musz in Ps. 21, 2 nach der lesart der LXX (6 ßctct-
Xeuc und der arabischen Übersetzung alnialiqun*) gelesen werden
7 vielleicht gehört auch Ps. 9, 7 i^NJl als vocativ hierzu, wenn
man es nicht lieber mit der nötigung des akrostichon erklären will.
8 die abhängigkeit der arabischen Übersetzung von der LXX ist
bereits leitfaden s. 59 unten bemerkt worden; sie gewährt daher ein
vorzügliches hilfsmittel zur controle derselben, namentlich in beziehung
auf den gebrauch des artikels.
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412 Beiträge zur hebräischen gramniatik und metrik.
Y-^n rrac ^T*a mfp, damit nicht 2wei tonsilben zusammen-
treffen , da eine Zurückziehung des accents in rv: w"" (wie unrichtig
im leitfaden 8. 13) wegen der vorangehenden tonsilbe von ^t?2
nicht zulässig ist; aber auch der sinn rechtfertigt den artikel, da
wohl hier bestimmt auf den anwesenden gefeierten könig hinge-
wiesen werden soll, dagegen musz in Ps. 33, 16 ebenfalls nach der
lesart der LXX (ou cuj&TCU ßaciXeüc, arabische Übersetzung: mali-
qun) gelesen werden WfWS y»i3 ^btt-p« ohne artikel, weil sonst
V« nach II b betont werden mtiste, und der halbvers eine hebung
zu viel haben würde.
IV.
Über den artikel in der syncope.
Es ist zu an fang der abhandlung bereits gesagt worden , dasz
die unterbuchung über den gebrauch des artikels in der poesie zu-
nächst nur von dem durch consonantisches he bezeichneten ausgeben
kann, da der artikel in der syncope nach b, 3, 3 nur durch die
vocale , welche von den späteren punctatoren herrühren , erkennbar
ist. die punctatoren aber hatten offenbar kein bewustsein mehr
von dem unterschiede des dichterischen und prosaischen ausdrucks.
dieses zeigt sich schon darin, dasz sie die Überschriften der Psalmen
und die doxologischen schluszverse der einzelnen bücher der Psalmen
(41, 14; 72, 19; 89, 53; 106, 48) und ebenso im buche Hiob 3, 2;
4, 1; 6, 1; 8, 1 usw., ferner 31, 40; 32, 1 — 5, welche doch offen-
bar prosa sind, mit denselben rhythmischen accenten versehen haben,
die rhythmische accentuation hatte, wie bereits anderwärts ausge-
führt worden ist (vgl. grundzüge s. 11—14), nur bedeutung für die
recitation oder cantillation ; sie sollte feierlicher als die prosa sein.
Ebenso zeigt sich die Unkenntnis von dem unterschiede der
poetischen und prosaischen spräche in der vocalisation der genannten
praefixa. der artikel wird nur dann durch keine vocale bezeichnet,
wenn das nomen durch den status constr., suffixa oder sonst bereits
determiniert ist. wo dieses nicht der fall ist, da wird der artikel
häufig in der syncope gesetzt, ganz offenbar gegen den poetischen
Sprachgebrauch, dieses mag an einigen beispielen dargelegt werden,
das wort ö^pniö, welches eben nur in der poesie vorkommt, bat
niemals den artikel; man vgl. Ps. 18, 12; 36, 6; 57, 11; 77, 18;
78, 23; 108, 5; Job 35, 5; 36, 28; 37, 18; 38, 36; Prov. 3, 20;
8, 28; Deutern. 33, 26; II Sam. 22, 12; Jes. 45, 8; Jerem. 51, 9;
nichts desto weniger vocalisierten die punctatoren Job 37, 21
cpr.d^, obwohl dieses wort in demselben capitel und im nach-
folgenden keinen artikel hat; ebenso Ps. 68, 35. in Ps. 89 hat das
wort D"1»© nach poetischem Sprachgebrauch keinen artikel, in v. 3.
6. 12. 30; trotzdem hat in der massorethischen vocalisation das nur
äuszerst selten vorkommende pmö in v. 7 und 38 den artikel: pntta.
ein anderes beispiel. das wort *ip 2 hat in poetischer spräche niemals
den artikel: Ps. 5, 4; 46, 6; 55,*18; 65, 9; Job 24, 17; 38, 7. 12;
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Beiträge zur hebräischen gramraatik und metrik.
413
II Sam. 23, 4; JeS. 17, 14; 21, 12; 38, 13; Hos. 6, 4; 13, 5. wird
jedoch dieses wort mit einem praefixum verbunden , so erhält es in
der massoretbiscben vocalisation stets dem syncopierten artikel, so
mit a in Ps. 90, 5. 6. 14; 92, 3 (in beiden Psalmen kommt sonst
kein artikel vor); 88, 14; 143, 8; Prov. 27, 14; Jes. 8, 11; 17, 11;
ebenso -lp/ab Ps. 30,6; 49,15; 69,17; 130,6 und Job 11,17.
ein drittes beispiel. das wort T*5n ermangelt im poetischen Sprach-
gebrauch des artikels in etwa 40 — 50 stellen, als Ps. 18, 12; 35, 6;
104, 20; 105, 28; 107, 10. 14; 139, 11. 12; Job 3, 3. 4; 5, 14;
10, 21; 12, 22. 25; 15, 22. 23. 30; 17, 13. 18; 19, 8; 20, 26;
22, 11; 23, 17; 26, 10; 29, 3; 34, 22; 37, 19; 38, 19; II Sam.
22, 12; Jes. 5, 20; 8, 30; 42, 7; 45, 3. 7; 48, 19; 59, 9; Thren.
3, 2; Arnos 5, 18. 20; Joel 2, 20; Nahum 1, 5. nur in Jes. 60, 2
hat es nach rn.n den artikel, wobei noch zweifelhaft bleibt, ob nicht
eine dittographie vorliegt, obwohl nun nach so vielen beispielen
man es als feste regel ansehen dürfte, dasz dieses wort in der poesie
ohne artikel gebraucht wird, so haben dennoch die punctatoren
•?rorn Ps. 88, 13; 112, 4 und ^tinb Job 28, 3 vocalisiert.
Wie diese wenigen beispiele den Widerspruch der massorethi-
schen vocalisation gegenüber dem poetischen Sprachgebrauch in ein-
zelnen Wörtern beweisen, so tritt dieser gegensatz noch stärker uns
entgegen, wenn wir die einzelnen dichtungen in dieser beziehung
näher betrachten, so gleich in Ps. 1, 4 ^1733, obwohl ein bestim-
mendes relativum folgt (vgl. Gesenius gramm. § 126, 3 d schl.)
und im Widerspruch mit Ps. 35, 5 (iMTsa), woraus zugleich ersicht-
lich ist, dasz nicht etwa die rücksicht auf das met.ru m, um eine volle
thesis zwischen den beiden tonsilben zu erhalten, maszgebend ge-
wesen sei, da in letzterer stelle ganz dieselbe rücksicht hätte ge-
nommen werden müssen, in v. 5 üBTötta (wahrscheinlich nach un-
richtiger deutung auf 'das jüngste geficht'), in Ps. 2, in welchem
auszer 0'vn (v. 7 vgl. 8. 408, 1 a) kein consonantischer artikel vor-
kommt, vocalisierten die punctatoren o?»$B3 (v. 4). in Ps. 4—6,
in welchen kein consonan tisch erkennbarer artikel vorkommt, ob-
wohl viele nomina sich in denselben finden, welche in der prosa
den artikel haben müsten (vgl. 4, 3. 4; 5, 5. 6), wird Ps. 4, 2 -Uta
(ebenso 18, 7; 106, 44, in denen wegen der pronominalbestimmung
noch viel weniger der artikel erwartet wird), 5, 13 Siss.S, 6, 6
n^a vocalisiert; dagegen in Ps. 7, 3 rP/iKS, v. 16 nnitia sprach-
gemäsz, aber im Widerspruch mit ihrer sonstigen vocalisation.
Vergleichen wir einige gröszere Psalmen, in Ps. 78, 1 — 72
findet sich nur zweimal der consonantische artikel, welche bereits
oben als metrische aushilfe ihre erklärung gefunden haben, trotz-
dem erhalten die nomina in Verbindung mit den praefixa den syn-
copierten artikel wie in der prosa, so in v. 14. 16. 27. 33 (2 mal).
46 (2 mal). 47. 48 (2 mal). 50. 51. 62. 64; in einigen von diesen
stellen würde man selbst in der prosa den artikel nicht erwarten. —
Ps. 90, 1 — 17 ermangelt des consonantischen artikels, hat aber den
414 Beiträge zur hebräischen grammatik und metrik.
syncopierten in v. 4. 5 (2 mal). 6 (2 mal). 14; Ps. 139 hat ebenfalls
keinen consonantischen artikel, in der syncope jedoch in v. 12 vier-
mal. natürlich können hier nur solche Psalmen in betracht kommen,
in denen nomina in Verbindung mit praefixa vorkommen.
Im buche Job, in welchem überhaupt, wie bereits oben gesagt,
auszer vor participien mit relativem sinne, der conson antische artikel
äuszerst selten vorkommt, erscheint der artikel in der syncope ziem-
lich oft, besonders in S (aber ohne consequenz selbst in demselben
verse 14, 2), so c. 10, 9. 10 (2 mal). 16. 20; 13, 10; 17, 7. 13. 14
u. v. a.; c. 24 hat keinen consonantischen artikel, aber den syn-
copierten in v. 5 (2mal). 6. 7. 14 (2mal). 16. 18. 22. 24; ebenso
c. 39 ohne conson. artikel, aber syncopiert in v. 4. 14. 18 (3 mal).
19. 20. 21. — Gewisse normen für die massorethische vocalisation hat
Suckow in seinem programm s. 20 — 27 aufzustellen versucht, aber
überall treten zahlreiche ausnahmen entgegen, in mehreren stellen
erscheint die massorethische vocalisation auch metrisch begründet,
so wäre der artikel, wie oben bereits erwähnt, in Ps. 1, 4 yifcs als
vollere thesis nach tar^ , wodurch zugleich die betonung der par-
tikel DN (II b) bezeichnet wäre, ganz in der Ordnung, denn, wenn
auch schon eine vorschlagssilbe als thesis zwischen zwei tonsilben
ausreicht (vgl. grundzüge s. 29, 8. leitfaden s. 6 unten), so erscheint
damit noch nicht die benutzung des artikels zur Verstärkung der
thesis ausgeschlossen , wie ja auch nach langer geschlossener silbe
der artikel als thesis eintritt, obwohl dieser gerade nicht unumgäng-
lich nötig wäre, ebenso würde in 1X2 Ps. 4, 2 der artikel sich als
vollerer auftact (II d) erklären lassen, allein es fehlt hierbei alle
consequenz, und überdies zeigt es sich Uberall, dasz den punctatoren
alle metrischen kenntnisse abbanden gekommen waren, und dasz sie
nur nach der rituellen recitation accentuiert haben, daher vom
metrischen Standpunkte die Untersuchung über den gebrauch des
artikels in der poesie nur vom consonantischen texte ausgeben
konnte.
Mit den resultaten dieser abhandlung wird wiederum der ander-
weitig geführte beweis (grundzüge s. 10—16), dasz die massore-
thische vocalisation und silbenbe tonung im Charakter der spräche
wohl begründet und im groszen und ganzen als zutreffend zu be-
zeichnen sei, bestätigt, dasz sie aber durch Unkenntnis der metrik
wie des poetischen Sprachgebrauchs, wie durch einführung eines der
ursprünglichen spräche ganz fremden accentuationssystems, welches
der in späterer zeit in der Synagoge entstandenen cantillation an-
gepasst worden ist, im einzelnen beeinträchtigt worden ist und der
Verbesserung bedarf.
Anderseits erhält das vom verf. ausgeführte System der rmetrik
der hebräischen poesie' nicht nur eine neue aus dem consonanten-
text gewonnene bestätigung, sondern auch manche noch schwankende
bestimmungen über die betonung der partikeln, des status constr.
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Die griechischen lyriker in den oberen classen.
415
erhalten eine festere grundlage. nach diesen bestimmungen sind im
texte des leitfadens bzw. des vulgären textes zu verbessern: leit-
faden s. 3 Ps. 8, 2 musz betont werden D^aün b* tpin mn— itttt ,
wodurch auch die apharese des i in mn erklärlich ist (II bj.
s. 13 Ps. 25, 12 lies ^b*)* nw (vgl. s. 411, 4).
s. 19 Ps. 29, 3 lies TpM b« fc-ra^b* mm Vjp
s. 19 Ps. 29, 9 lies löK rrnnb (vgl. s.'349).
s. 22 Ps. 33, 5 lies -pari rr«b72 (II a).
8. 22 Ps. 33, 7 lies D-?n'^ (II a).
s. 22 Ps. 33, 16 lies -fb72"pN (vgl. s. 411 unten).
s. 23 Ps. 34, 9 lies in noni na^n -»TOM (II a).
s. 23 Ps. 34, 13 lies niü rnfcnb-ttTNH "»tt (II a).
s. 23 Ps. 34, 23 lies ■D-tPDinn (II b).
Marburg an der Lahn. Julius Let.
39.
DIE GRIECHISCHEN LYRIKER IN DEN OBEREN CLASSEN.
Das lyrische gedieht ist das zarteste gebilde des dichterischen
geistes. in ihm wird die empfindung wort und das wort musik; und
so knapp und kurz, gleichsam hingehaucht, das stimmungslied, diese
höchste art der lyrischen gattung, sein kann: es vermag doch die
gröste kraft des schöpferischen genius zu offenbaren, wie die sonne
sich im tautropfen spiegelt; denn, rätselhaft im innersten der seele
geboren, musz es nicht nur die im gemüte klingende empfindung in
rhythmischem wohllaut wiedergeben und mit dem gehalt zugleich
auch die form in organischem processe gewinnen, sondern auch in
geheimnisvoller durchdringung von innen- und auszenwelt, von idee
und Wirklichkeit, von phantasie und leben individuell und typisch
zugleich sein: es musz das einzelerlebnis dessen, was flüchtig ist,
entkleiden und zu einem allgemeinen umprägen, es musz, was ver-
gänglich die lebensvolle gelegenheit in die seele des dichters senkte,
emporheben in die Sphäre des schönen Scheins, aber fern von künst-
licher reflexion und rhetorischem pathos, musz es die Wirklichkeit
durch die phantasie in ein bild umwandeln und den gedankengang
in empfindung untertauchen.
So schrieb der grosze feinsinnige lyriker Theodor Storm in
seiner das tiefste kunstverständnis neben dem höchsten lyrischen
talente bekundenden vorrede zu seinem köstlichen 'hausbuch aus
deutseben dichtem seit Claudius' : 'wie ich in der musik hören und
empfinden , in den bildenden künsten schauen und empfinden will,
so will ich in der poesie, wo möglich, alles drei zugleich, von einem
kunstwerk will ich, wie vom leben, unmittelbar und nicht erst durch
die Vermittlung des denkens berührt werden : am vollendetsten er-
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416
Die griechischen lyriker in den oberen classen
scheint mir daher das gedieht, dessen Wirkung zunächst eine sinn-
liche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus
der blüte die fruebt. der bedeutendste gedankengehalt aber, und sei
er in den wohlgebautesten versen eingeschlossen, hat in der poesie
keine berechtigung und wird als ein toter schätz am wege liegen
bleiben, wenn er nicht zuvor durch das gemut und die phantasie
des dichters seinen wog genommen und dort wärme und färbe und
womöglich körperliche gestalt gewonnen hat. die kunst «zu sagen,
was ich leide», ist nur wenigen und selbst den meistern nur in seltenen
augenblicken gegeben.'
Aber so selten nun ein echtes lied ist, das ganz empfindung,
ganz rhytbmus, ganz bewegte, in worte umgegossene musik, das
sinnlich und geistig zugleich und doch nicht von des gedankens
blässe angekränkelt ist, so selten scheint auch die fähigkeit zu sein,
das Verständnis solches liedes zu erschlieszen ; denn verstehen beiszt
in der weit des schönen nichts anderes denn nachschaffen, und in
wem nicht selbst etwas vom künstler steckt, dem wird die kunst
immer ein buch mit sieben siegeln bleiben ; wer nicht eine das leben
umbildende phantasie besiUt, wird mit dem kühlen, nüchternen ver-
stände nicht in das innere wesen eines lyrischen liedes eindringen;
und wie leicht ist aller schmelz von einem so duftigen gebilde dahin,
wenn rauhe, ungeschickte hand es packt und zerlegt! 1
Auf unsern gymnasien kommt keine dichtungsart so sehr zu
1 der beispiele bietet unsere schullitteratur genug, denn hier scheitert
alle Schablone der normalstufen, aber das crasseste liegt gegenwärtig
vor in dem entsetzlich voluminösen buche rlyrik und lyriker' von
R. M. Werner (638 Seiten groszoctav, Hamburg 1890, Leop. Voss), das
werden des gedichtes wird wie ein physiologischer process — in der
jetzt modernen coquetterie mit den naturwissenschaften — als keimen,
befruchtung, wachsen, geburt (fehlgeburt, zwillingsgebart usw.) zer-
gliedert; drei schwindelerregende tubollen weisen 546 möglichkeiten der
lyrischen gattungen auf!! jeder entsinnt sich dabei des wortes Mommsens
(röm. gesch. III 603): 'etwas kindischeres gibt es kaum als Varros Schema
der sämtlichen philosophien, das erstlich alle nicht die beglückung des
menschen als letztes ziel aufstellenden Systeme kurzweg für nicht vor-
handen erklärt und dann die zahl der unter dieser Voraussetzung denk-
baren philosophien auf 288 berechnet' !! — Zerfasernde grübelei nach
dem rauster Hebbels und die Schablone der Schererschen poetik sind für
Werner verhängnisvoll geworden, nur ein paar moderne lyriker werden
behandelt, die antike lyrik ist ihm fremd. Pindar begegnet zweimal d. h.
in demselben citat aus Goethe, einmal Sappho d.h. die Grillparzerscbe ;
von den Römern wird Catullus flüchtig gestreift; die psalmen, Waltber
von der Vogelweidc usw. werden in diesem buche, das aus Vorlesungen
viel zu früh erwachsen ist, nicht in betracht gezogen, obgleich dasselbe
aich r lyrik und lyriker' nennt, wie verlottert nicht nur die ästhetische
kritik , sondern auch die ästhetischen begriffe in unserer 'naturwissen-
schaftlichen* zeit geworden sind, zeigt der umstand, dasz dies buch,
das nicht nur jedes philosophischen, sondern auch historischen sinnes
baar ist, bereits von recensenten gelobt werden konnte, einer ausführ-
lichen kritik unterwarf ich es im 'Hamburger correspoudeuten' 26 und
27 april d. j.
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Die griechischen lyriker in den oberen classen. 417
kurz wie die lyrik. die scheu, die 1 yrik der antiken litteratur auszer
Horaz 'darzubieten', überwiegt noch immer; ja der immer weiter
um sich greifende mangel an freier bewegung beschränkt selbst den
darin, der einer so schweren, aber auch so schönen und wirkungs-
vollen aufgäbe sich unterziehen möchte, und doch ist es in unserer
phantasiearmen zeit so unendlich wichtig, die seele des schülers
zu öffnen für das tiefste empfinden, wie es in der lyrik vorliegt, für
dies verschmelzen von innen weit und auszenwelt, für das schöpfe-
rische umgestalten der Wirklichkeit und für den sinnlichen ausdruck
desselben im wort, in der metapher, in vers und reim, es bleibt
eitel Stückwerk, immer in erster linie auf den verstand zu wirken
und das gemüt leer ausgehen zu lassen; es bleibt eitel Stückwerk,
in der griechischen dichtung neben dem epos und der tragödie die
lyrik den obern gymnasialclassen vorzuenthalten, welches volk hat
den träum des lebens schöner geträumt als die Griechen? und wel-
ches volk ist phantasiereicher, aber auch zugleich in seiner auffas-
sung und ausprägung des schönen maszvoller und bei aller lebens-
wahrheit idealer gewesen als die Griechen? wo begegnet uns eine
so geschlossene entwicklung, eine in form und inhalt jede dichtart
so organisch ausbildende kunst, als bei den Griechen? aus dem epos
entwickelt sich die elegie, die noch von gleichnissen und bildern des
Homer durchwoben ist, aus der elegio das immer subjectiver sich ent-
faltende lied, aus dem liede die tragödie, und in der hellenistischen
zeit wird das epigramm zum gelegenbeitsgedicbt, das idyll zum
träger elegischer Sentimentalität, und das greisenalter bekundet der
roman. so ist die hellenische lyrik unendlich wichtig für die er-
kenntnis des griechischen geistes, aber auch für die des römischen,
die römische poesie ist ein nachhall der griechischen ; in der lyrik
ragt bei anfänglicher abhängigkeit von den Griechen der liebens-
würdige Veroneser, C. Valerius Catullus, durch die unmittelbarkeit
seines empfindens, durch die lebensfrische seines wesens hervor, und
nur unter groszer verkennung der vieltönigkeit und des innern wertes
der römischen elegie, wird der groszen mehrzahl unserer schüler das
tiefpackende und schöne, was Catullus seiner Lesbia, seinem bruder,
seinen freunden und seinen feinden gesungen, was der weiche, zärt-
liche Tibullus, der leidenschaftliche Propertius und endlich was der
geist- und witzsprühende, aber nicht gemütsarme Ovidius in der Ver-
bannung, von bitterm heimweh, von innigster Sehnsucht nach seiner
gattin und seinen freunden gedichtet hat, noch immer vorenthalten.
Man hat den Horaz den griechischsten der römischen dichter
genannt, und man hat ihn damit nicht blosz in seinem grundwesen
charakterisieren, sondern ihm auch das höchste lob erteilen wollen,
wie will man aber dies den schülern verständlich machen, wenn sie
von den griechischen lyrikern so gut wie nichts erfahren? — Horaz
ist er selbst, so wie er leibt und lebt, vor allem in den satiren und
episteln; aus ihnen gewinnt man den eindruck eines liebenswerten
mannes , eines trefflichen Charakters , der seine Selbständigkeit auch
N. Jahrb. f. phil. n. päd. II. abt. 1891 hft.8 u. 9. 27
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418 Die griechischen lyriker in den oberen classen.
den mächtigen gegenüber behauptet (epist. I 7), der die innigste
pietät dem andenken seines vaters weiht (sat. I 6), der ein dankbares,
bescheidenes gemüt bei allem sinnesfrohen lebensgenusz und vor
allem ein tiefes, elegisches gefühl für die ländliche idylle, für die
un verkünstelte natur besitzt (sat. II 6, epist. I 10. 16). in den oden
begegnet man auf schritt und tritt der anempfindung , der nach-
ahmung, der innigsten beziehung zu den griechischen lyrikern. und
diese dürfen dem primaner nicht blosze namen, nicht blosze Schemen
bleiben, er hört von Archilochischer , Asklepiadeischer, Alc&ischer,
Sapphischer, Alkmanischer strophe, es wird ihm der begriff der epode
entwickelt, und er begegnet beständig den groszen namen der über-
schwänglich vom dichter verehrten Griechen, und das sollen gerippe
ohne fleisch bleiben? das soll nicht lebendige anschauung werden?
interpretiere ich IV 2 mit seiner prächtigen Schilderung der Pinda-
rischen muse, seiner hymnen und päane, seiner epinikien und threnoi,
oder IV 9 die Strophen :
non, si priores Maeonius tenet
sedes Hörnern«, Pindaricae latent
Ceaeqne et Alcaei minaces
Steaichorique gravea camenae;
nec siquid olim lusit Anacreon,
delevit aetas; spirat adhuc amor
vivuntque conmwsi calores
Aeoliae fidibus puellae,
so drängt doch alles darauf hin , die peYaXoirp^Treia des Pindaros
und den schwung des Simonides zu charakterisieren , das epitbeton
minaces durch die CTCtciUJTiKd des Alkaios, und das graves durch die
mythographische darstellungsweise des Stesichoros (qui epici car-
minis onera lyra sustinuit) , das ludere des Anakreon und die glut
der Sappho an den Hedem selbst zu illustrieren und zu individua-
lisieren, und daneben halte man die zeilen II 13, 24:
Aeoliiß fidibus querentem
Sappho puellis de popularibus,
et te son.intem plenius, aureo
Alcaee plectro, dura navis,
dnra fagae mala, dura belli, vgl. I 32, 6.
dies musz doch mit leben gefüllt werden und musz an liedern selbst
leibhaftige, greifbare gegen wart werden ! man musz dem Alkaios in
seinen waffensaal folgen (fr. 56), auf die see inmitten des sturmes
(fr. 6) und den liebeserklärungen der Sappho lauschen, sei es nun
ihrer ode an Aphrodite (fr. 1) oder dem <pcuv€TCU HOi ktjvoc Xcoc
Gcoiciv (fr. 2), sowie ihren schönen vergleichen und bildern.
Der ganze stolz des Horaz ist, princeps Aeolium Carmen ad
Italos deduxisse modos (III 30), sein erster wünsch und sein höchstes
streben, dasz Maecenas ihn den griechischen lyrikern beigeselle
(I 1), sein triuraph Bomae . . dignatur suboles inter amabilis vatum
ponere me choros (IV 3, 13). ganze gediente des Horaz wie III 2
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Die griechischen ljriker in den oberen classen. 419
und III 12 sind direct unverständlich, wenn man nicht seine art,
von den Griechen zu entlehnen und reminiscenzen aus ihnen zu con-
taminieren, des nähern beleuchtet, er gehört nicht zu jenen lyrikern,
denen im freien schaffensdrange sogleich bild und wort sich ergibt,
denen sogleich der gedanke in empfindung umschmilzt; sondern oft
mühsam fügt sich vers an vers, so dasz er nicht dem adler Pindaros
gleich zu den wölken strebt oder wie der mächtige ström jenes
liedesmeisters in vollen tönen sein lied daherbrausen lassen kann
(TV 2), sondern der kleinen biene ähnlich den honig von den blumen
herbeiträgt, freilich bietet er keine nachweisbare Übersetzung eines
ganzen gedientes, wie sie z. b. bei Catullus in c. 66 vorliegt, wohl
aber kittet er verwandte gedanken, bilder, ausdrucksweisen zusam-
men, ahmt im stil nach — wie Catullus so meisterlich in c. 64 die
Alexandrinische technik im ganzen wie im einzelnen wiederspiegelt,
aus bekannten griechischen aecorden setzt Horaz neue melodien zu-
sammen, freilich nicht ohne zu individualisieren, ohne kleine römische
züge hinzuzufügen, aber das lyrische lied der Hellenen ist eine solche
unabweisbare macht in der dichtung des Horaz, dasz man an der hand
seiner lieder eine geschichte der griechischen lyrik entwickeln kann:
da klingt Kallinos fr. 1 (Bergk- Hiller *) v. 12 an in carra. III 2, 14, Tyr-
taios fr. 8 in III 2, 13, Solon fr. 7 in 1 2, fr. 12,29 in III 6, Archilochos
tiberall in den epoden, fr. 53 in I 34, 12, Theognis v. 667 ff . in 1 14,
v. 869 in III 3, 7, Simonides fr. 48 in III 2, 14, fr. 49 in III 2, 25,
Bakchylides fr. 18 in III 21, 13, fr. 19 in II 18, Alkaios fr. 6 in
I 14, fr. 8 in I 37, fr. 16 in I 9, fr. 80 in III 12, fr. 46 in I 18,
Sappho fr. 88 in III 12, 3, fr. 3 in I 12, 46, fr. 4 in III 4, 7, Ana-
kreon fr. 70 in III 11, 9, fr. 52 in I 23, Pindar Olymp. II in I 12
usw. — Horaz sättigt sich an den brosamen , die von den reichen
tischen der griechischen dichtung fallen; neben Homer musz man
die griechischen lyriker kennen, um ihn beurteilen zu können. —
Dasz eine Sammlung aus den letzteren in händen der schüler sich
befinde, wo sie sämtliche nachweisbare originalstellen, welche Horaz
umklangen bei der compositum seiner gedichte, innerhalb des histori-
schen Gesamtbildes der griechischen lyrik finden, scheint mir ein un-
widerleglicher schlusz aus dem dargelegten zu sein, wenn man nicht
eine der säulen des gymnasiums beseitigen will, nemlich die strenge,
wissenschaftliche forderung, zu den quellen zu führen. — Die grie-
chischen lyriker sind aber ferner auch trefflich geeignet, den Unter-
richt in der griechischen ge schichte und die leetüre der
griechischen historiker (Xenophon, Herodotos, Thukydides)
zu beleben, um markig einzusetzen an passender stelle mit den poli-
tischen liedern , welche heiliger Patriotismus den edlen sängern ein-
gab, denn als die patriarchalische einfachheit, die uns die Homerischen
gedichte schilderten , allmählich abstarb , als das durch heroen ge-
heiligte königtum zusammenbrach, da entspann sich auf dessen
trümmern ein heiszer kämpf um die gewalt, der teils zur herschaft
weniger, teils zur herschaft des adels führte, es war eine wildbewegte
27*
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420 Die griechischen ljriker in den oberen clabsen.
zeit, in der die nachbarvölker und -städte sich in hartnäckigen kriegen
befehdeten, in solchen kämpf zwischen Ephesos und Magnesia führt
uns das kriegslied des Kallinos, voll der edelsten auffassung des
bUrgerberufes und der bürgerehre, in solchen kam pf zwischen Chalcis
und Eretria Archilochos, zwischen Messeniern und Spartanern
Tyrtaios, dieser held mit köpf und herz auf dem rechten fleck,
der nicht nur kriegstüchtigkeit selbst, sondern vor allem die kunst
besasz, im begeisternden liede den mut zu entflammen und so zum
siege zu führen, unsterbliche hymnen des schlacbtenmutes sind
fr. 8 und 9 und 10. und da sollte dem secundaner nicht das herz
schwellen, da sollte mit solchen klängen des reinsten, hehrsten enthu-
siasmus für ehre und Vaterland nicht ein nachhall zu wecken sein,
so dasz der funke des Patriotismus sich in die junge seele senke, um
einst in lauterer glut emporzuschlagen? — Und wie persönlich nahe
tritt uns Solon in seinen elegien, gleich grosz als gesetzgeber und
als dichter, sie sind hinterlassenschaften eines hervorragenden Poli-
tikers, der an den begebenheiten seiner zeit den allerunmittelbarsten
anteil hatte, er sucht die herschaft des volkes einzuschränken, aber
auch zugleich den adel in seine grenzen zurückzuweisen (fr. 3 und 4);
bei aller besorgnis bewahrt er sich den glauben an die ewige stadt
Athen , aber er ist auch der ernste warner , der die tyrannis voraus-
sieht (fr. 11 und 7). doch der leidenschaftlichste politische sanger
war Alkaios. seine lieder sind nicht declamationen , sind nicht
graue theorie , sondern frisches , farbiges leben : alles ist gegen wart,
Htimmung des augenblicks, die elegie wird zum momentliede sub-
jectiver empfindung. mitten in die wirren auf Lesbos werden wir
versetzt, und see und krieg sind die beiden demente, in denen er
sich am wohlsten fühlt; den kriegsgott Ares, den Würger, der feinde
schrecken, nennt er seinen vertrauten freund; ihm zu ehren ver-
wandelt er sein prunkzimmer in einen waffensaal. aus den geringen
fragmenten spricht ein feuriger geist, schnell entschlossen, mit
scharfem wort und scharfem schwert, treu seiner partei, treu seinen
zielen und seinem hasse.
Ins Zeitalter der Perserkriege und zugleich in die politischen
Unruhen auf Megara führen uns die Theognidea; die feuerzeichen
künden krieg (v. 549), aber Zuversicht schwellt des dichters brüst
(v. 757), die Perser nahen heran (v. 773). der dichter wird ver-
bannt (v. 1197), inniges heimweh erfüllt seine seele (v. 783).
Doch den begeistertsten und beredtesten Sänger fanden die frei-
heitskriege der Griechen in Simonides; seine elegie auf die bei
den Thermopylen erschlagenen und seine zahlreichen epigramme auf
die gefallenen beiden und auf sein sieggekröntes volk vergegen-
wärtigen die wucht der ereignisse und den schwung der damahgen
Stimmung sicher weit anschaulicher und lebendiger als lange nüch-
terne auseinandersetzungen in der geschichtsstunde. man entzünde
also diese flamme patriotischer begeisterung und wärme die seelen
der jünglinge an ihr!
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Die griechischen lyriker in den oberen classen.
421
Aber auch im deutschen der prima, das ja überhaupt berufen
ist, das geistige band zwischen der antiken lectüre, dem geschieh ts-
unterricht und der vaterländischen litteratur zu bilden und von hoher
warte weite blicke zu eröffnen, geben die griechischen lyriker anlasz zu
wichtigen auseinandersetzungen und anregungen : sei es nun bei der
systematischen betrachtung der lyrik selbst oder gelegentlich; z. b.
bei Klopstock wird es sich nicht abweisen lassen, den begriff der
ode, des hymnus und des dithyrambus an den alten mustern zu er-
örtern und die Weiterentwicklung der antiken dichtungsarten in der
neuern zeit zu beleuchten , oder bei Lessings abhandlung über das
epigramm die inschriftlichen und litterarischen epigramme der Hel-
lenen in ihrer allmählichen entwicklung von der einfachen inschrift
bis zum stimmungsbilde zu betrachten , oder bei Herder und seiner
Charakteristik des Volksliedes auch die griechischen Volkslieder und
skolia heranzuziehen, oder bei Schillers 'Spaziergang' das wesen der
elegie im anschlusz an die griechischen meiste r zu entwickeln, oder
bei der politischen lyrik der befreiungskriege und des groszen jahres
1870 auf die helden der alten hinzuweisen, die auch die leier schlugen
und zugleich das schwert schwangen, und den unterschied klarzu-
legen, welcher zwischen bloszer rhetorik, künstlichem pathos (Her-
wegh in der revolutionszeit!) und jener — einleitend charakteri-
sierten — lyrik besteht , in der die phantasie nicht das mittel des
gedankens ist, sondern der gedanke sich gar nicht anders äuszert,
als nur verhüllt in ihr und durch sie und getrennt von ihr weder
dem dichter selbst noch dem zuhörer zum bewustsein kommt; 'der
politische dichter — sagtVischer— wird zum rhetoriker, wenn alle
poetische Stimmung, alle naivität, jenes unbe wüste innere singen
und klingen auseinandergezogen und verzehrt wird/
Wie überhaupt der gesamte fremdsprachliche unterriebt unserer
gymnasien auf der Wechselbeziehung zwischen der eignen und den
fremden sprachen, auf der vergleichenden betrachtung vor allem des
antiken und des deutschen denkens und empfindens beruht, so gilt
es besonders doch im deutschen der prima, fruchtbare gesichtspunkte
zur kennzeichnung der Verschiedenheit antiker und moderner an-
schauungsweise zu gewinnen, und das nicht nur hinsichtlich des
epos (z. b. Homer und Goethes Hermann und Dorothea) und der
tragödie (Iphigenie bei Euripides und Goethe u. ä.) , sondern auch
hinsichtlich der lyrik. was hat man alles seit Jean Paul mit den
begriffen objectiv und subjectiv, plastisch und romantisch für unfug
getrieben ! 'die plastische sonne leuchtet einförmig wie das wachen,
der romantische mond schimmert veränderlich wie da* träumen',
heiszt es in der Vorschule der ästhetik. und was soll man dazu sagen,
wenn z. b. Emil ßosenberg in seinem manigfach anregenden , aber
doch vieles gar künstlich heranzerrenden buche über 'die lyrik des
Horaz', bei vergleichung von Hör. carm. II 6, das er ein 'klausner-
lied* nennen möchte, und der ' antik - herben ' Bandusiaode s. 110
sagt: 'zeigte II 6 anklänge an den romanticismus(!), so zeigt dies
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Die griechischen lyriker in den oberen classen.
gedieht die genaueste plastik. wäre die gestaltungskraft (sie! —
gemeint ist die kraft der phantasie, plastisch abgerundete, fest um-
rissene bilder vor die anschau ung zu zaubern) diejenige eigenaebaft,
die dem lyriker den rang anwiese, so würde dieses gedieht zu den
besten zählen müssen — und doch ist es fllr unser geftihl unlyrisch,
das bild des modernen lyrikers hat keinen festen pla-
stischen halt; es schwebt nur auf den wogen der em-
p findung. denn der plastik ist seit dem tief innerlichen
Christentum die azt an die wurzel gelegt'!! ist denn etwa
Goethe auch herb-antik, kühl in seinen Hedem, bei denen man doch
sonst gerade die plastik, 'die gestaltungskraft' zu bewundern pflegt?
sind es nicht vollkommen anschauliche, fest um rissene bilder, die er
uns vorführt, wenn er z. b. in den sehnsuchtsliedern der Mignon
singt: 'kennst du das land, wo die citronen blühn' usw.? oder ist
es nicht ein anschauliches , greifbares abendlied, das er in 'willkom-
men und abschied' entwirft usw. usw.? — Und umgekehrt, ist es
nur plastische anschauung, nur betrachtung der auszenwelt , wenn
unter den griechischen lyrikern z. b. Ibykos (fr. 1) neben das holdeste
frühlingsbild : 'frühling ward es, und wieder blüht, vom sanft
strömenden bach getränkt, der kydonische apfelbaum. und die
blüte der rebe schwillt unter schattendem weinlaub ' — seine
eigne, heftig auf und ab wogende' empfindung contrastierend hin-
stellt: 'wie thrakischer wintersturm, widerleuchtend von blitzes-
schein fällt Kyprias wilder söhn mit blind sengender wut mich
an und erschüttert gewaltsam mir die grundvesten des herzens*
oder wenn Simonides in der Danaeklage das brausen des meeres und
des sturmes mit dem frieden des schlafenden knaben contrastiert und
zugleich in dem aufruhr der demente die unglückliche ein echo ihrer
eignen angst finden läszt, um endlich äuszeres und inneres zusammen-
klingen zu lassen in dem echt -modern -lyrischen empfindungstone
einer doppelten beseelung: KeXo^ai b* €ube ßpeqpoc, eübeiw ot
7TÖVTOC, CUÖ^TUJ b* CtjLl€TpOV KOKOV ! ?
Es sind überhaupt flüssige begriffe, die in einander überspielen,
antik und modern ; das subjective bricht in der antiken lyrik kräftig
und machtvoll durch bei den Aeoliern ; und die heiterkeit und Har-
monie des griechischen geistes, die naivität gehört wohl dem Home-
rischen Zeitalter an (obgleich auch hier schon rationalismus in den
glaubensanschauungen sich geltend macht, wie Erwin Rhode meister-
lich dargethan hat), schwindet aber nach und nach immer mehr.
Vischer sagt freilich: 'die zwei flüsse, natur und geist, giengen im
altertum vereinigt in einer Strömung, das Christentum risz sie aus
einander, um sie höher zu versöhnen, wir schiffen auf dem einen
und blicken sehnsüchtig nach den ufern des andern hinüber, was
Schiller sentimental nennt.' aber nicht nur die philosophische re-
1 auch dies bild selbst ist nicht etwa unantik, vgl. z. b. Pindar
fr. 100 8c fxf| iröGiu Ku^aCvexai.
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Die griechischen lyriker iu den oberen classen.
423
flexion, die sophistik zerstörte den holden träum, jene harmonie von
geist und natur, sondern auch die griechische lyrik beweist das auf-
keimen und blühen der Sentimentalität — jedoch, wenn wir auch nicht
mehr in allem Schillers bahnbrechender abhandlung 'über naive und
sentimen talische dichtung' beistimmen können, um so anregender
läszt sich ihre lectüre für die schule gestalten.
In meinem buche 'die entwicklung des naturgefühls bei den
Griechen und Römern* habe ich ausführlich nachgewiesen, wie auch
das naturgeftihl, das so oft den alten abgesprochen ist3, nur graduell
von dem modernen verschieden war. auch die griechischen lyriker
lieben es, natur und seelenstimmung, sei es in harmonie oder im
contrast gegenüberzustellen und die natur zu beseelen : und gerade
hierauf beruht ja vor allem in der lyrik der wesentliche reiz, das ist
ja gerade der kern, die 'lyrische seele' des naturliedes, dasz natur
und geist, subject und object zusammenrinnen. 4 — Denken wir uns
nun eine deutsche stunde in prima, wir behandeln die perle Goethe-
scher naturlyrik 'über allen gipfeln ist ruh*, wir machen auf die
melodie der worte, auf die unübersetzbarkeit aufmerksam; wir em-
pfinden nach: die abendliche stille, das verstummen aller wünsche,
die schönste auflösung aller misklänge in den vollendeten einklang
der natur — und das alles wie hingehaucht! alles so echt Goethisch !
unvergleichlich! und da lesen wir in dem ungeheuerlichen buche
von Werner, ein gewisser Hermann Wenzel habe nachgewiesen, dasz
dies unsterbliche lied entlehnung sei, denn den 'keim' habe Goethe
dem Alkman (fr. 60) entnommen!
€öbouctv o* öp^iuv Kopuqxxt tc Kai (pdpatrec,
irpujoWc tc Kai xapaopai . . .
ja, was ist gemeinsam? die schöne, stimmungsvolle beseelung:
über allen gipfeln ist ruh . . . eübouciv b' dp^uJV KOpuqpai . . . aber
die beseelung 'ruhen, schlafen* von naturerscheinungen ist ganz all-
gemein, nicht nur bei den Griechen und Deutschen, sondern in der
ganzen weltlitteratur; dasz Goethe den Alkman gekannt habe, liesze
sich schwerlich nachweisen; aber an eine anlehnung an ihn zu denken,
wäre ebenso unsinnig (von der Versündigung gegen den Goetheschen
geist ganz zu geschweigen!), als den anfang des schönen Paul Ger-
hardschen kirchenliedes 'nun ruhen alle wälder' auf Alkman zurück-
zuführen, aber was ist nun der unterschied? wir haben bei dem
griechischen dichter nur ein fragment, nur rahmen (aber von plastik
3 Roaenberg sagt freilich a.a.O. s. 104: 'man hat eigentlich niemals
Griechen und Römern natursinn abgesprochen»! man vergleiche damit
die eiuleitung meines buches, das übrigens Rosenberg noch nicht be-
nutzen konnte, aber vor einem solchen satz, wie 8. 106: 'wenn wir
nun zu den Römern im speciellen übergehen, so ist es an und für
sich schon ganz unmöglich, ihnen naturgeftihl abzusprechen' hätte
er Bich doch hüten sollen wie vor mancher andern schlimmen phrase.
4 vgl. meine kleine Schrift über 'das metaphorische in der dichte-
rischen phantasie', Berlin 1887 (A. Haack).
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424
Die griechischen lyriker in den oberen classen.
können wir wegen der ' malerischen ' musikalischen ' [nach Jean
Paul] beseelung nicht reden), und bei Goethe ist am schlusz der
bezug zum geistigen das so wunderbar wirksame: 'warte nur, balde
ruhest du auch ! ' und so fallt aus der weit des geistes zurück auf
die natur in ihrem abendfrieden jener schein einer höhern, ewigen
weit und verklärt das landschaftsbild durch die tiefe seelische
Sympathie.
Und wie läszt auch Sappho gemüt und natur zusammenklingen,
dasz es uns selbst durchschauert und durchrieselt, dasz wir nach-
empfinden das rauschen des kühlen regens durch die blinkenden
blätter — 'es ist wundersam, wie das uns träumen macht', sagt
Storm — in den wunderbaren zeilen :
änq>l b* ööujp
OiyöÖev yuxpov »ceAdbei bi' öcbwv
paXivujv, alGuccouivuiv b£ (puXXwv
Ktöfia Kcrrappet.
Aber die griechischen lyriker dienen nicht nur andern
Unterrichtsfächern , wie dem Horaz , der geschiente , der leetüre der
historiker und dem deutschen, als Stützpunkte und zur belebung und
Vertiefung, sondern sie haben auch ein volles recht auf
einen selbständigen räum in der griechischen leetüre
selbst neben dem epos und der tragödie.
Doch da gilt es zunächst, zwei einwände, denen man immer
begegnet, zu beseitigen, man sagt, in der griechischen lyrik wandle
man nur auf einem trümmerfelde, es seien nur 'fetzen' uns überliefert
worden, so schmerzlich dies auch ist, wo es zutrifft, so trifft es doeb
im wesentlichen nicht die elegie eines Kallinos (trotz der lücke !), des
Tyrtaios, des Solon, Xenophanes, Theognis, es trifft nicht zu bei
Pindar, bei dem epigramm, bei den skolien und Anakreonteen;
eigentlich bleiben nur der iambus und das lied übrig, von denen
man sagen kann, es seien nur — 'bruchstücke'. aber was den erstem
betrifft, so hat die 'Aenvcuuuv TToXrma des Aristoteles wichtige er
gänzungen geliefert, und auch die stücke des Archilochos (fr. 53.
62. 71) geben einen klaren inhalt, nicht minder das des Semonides
üj ticu t^Xoc fi£v Zeuc £x€l- auch Sappho bietet die ode an Aphro-
dite (fr. 1) und das q>cuv€TOU uoi Krjvoc von ansehnlicher Voll-
ständigkeit, und wer aus ihren und den bruchstücken des Alkaios,
Simonides, Stesichoros, Ibykos und Anakreon, welche in betracht
kommen können, vermittelst seiner phantasie sich kein bild gestalten
kann, sei es von der persönlichkeit des dichters oder von dem gehalt
des gedichtes, dem ist freilich nicht zu helfen.
Sodann sollen die griechischen lyriker zu schwierig für das for-
male Verständnis sein, nun, die elegie bietet das schönste und leich-
teste griechisch, das wir lesen können; auch das epigramm zeigt
keine haufung besonderer Schwierigkeiten, und in wie fern auch die
schwersten fragmente des melos, z. b. des Simonides, ja selbst die
oden desPindaros noch schwerer sein sollen wie Sophokles mit seinen
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Die griechischen lyriker in den oberen classen. 425
chorliedern , das ist mir unerfindlich, freilich winkt nur dem fleisz
die kröne, und nicht immer ist es mühelos, die köstliche perle aus
der widerstrebenden schale zu lösen.
Aber sind es überhaupt perlen? reihen sich die lyriker eben-
bürtig einem Homer, einem Sophokles, einem Piaton an? stricte
dies zu jedem beweisen , ist bei der Verschiedenheit der Individuali-
täten (man sollte aber diesen Spielraum gewähren, sie nicht ein-
schränken durch ganz subjective geschmacksurteile) schwierig, denn
— was du nicht fühlst, wirst du auch nicht erjagen, aber wir
sahen bereits in anderm zusammenhange, welch glühender Patriotis-
mus , welche tiefe auffassung der bürgerehre und der mannespflicht
in den elegien und epigrammen sich ausspricht und welch inniger,
gemütvoller natursinn in den Hedem zum ausdruck gelangt.
Aber es ist auch ferner hochwichtig, dasz den schülern das
eigentliche wesen der lyrik, d. h. neben der typischen entwicklung:
elegie, lied, epigramm der Charakter der verschiedenen lyrischen
arten, des mehr objectiven oder subjectiven gedientes , dann des ge-
legenheitsgedichtes im Goetheschen sinne, jenes Stimmungsbildes,
in welchem die schöpferische phantasie das einzelne zum allgemeinen
umprägt, der gedanke ganz anschauung und empfind ung, das wort
melodie wird, an den köstlichen perlen der hellenischen lyrik er-
schlossen wird, und wie deckt sich mit dem inhalte, organisch ver-
schmelzend, die form in der elegie, im iambus, im melos, im epi-
gramm! welche architektonik in den scheinbar freien rbythmen,
welch feines unvergleichliches Stilgefühl 1
Aber die griechische lyrik bietet uns auch hochwichtige cultur-
historische bilder; ich erinnere nur an die Schilderung und auffas-
sung eines Symposion bei Xenopbanes (fr. 1), an die Schilderung
und auffassung der spiele bei ebendemselben (fr. 2), an die Zeitbilder,
die Solon entwirft, wenn der demagoge spricht (fr. 29) und wenn
der gesetzgeber spricht (fr. 28), an die Steigerung der empfindsam-
keit in der lebensansebauung von Mimnermos ab bis zu den spätem
dichtem der anthologie, an die Sentimentalität des naturgefühls, das
immer mehr idyllisch - elegisch wird, aber auch die tief religiösen
anschauungen der Griechen finden hier ihren erhabensten ausdruck,
ich denke an Solon fr. 12 bis v. 32 die sühnende gerech tigkeit des
Zeus darstellend und v.33 f. an das wort Goethes erinnernd: Schick-
sal des menschen, wie gleichst du dem wind!' ich denke an die
herlichen adespota fr. 79 die Tyche, fr. 80 die Parzen, welch tiefes
ethos durchdringt des Theognis preis der hotin ung (v. 1135), sein
gedieht 'der mensch denkt, gott lenkt* (v. 133), 'was die Schickung
schickt, ertrage' (v. 1029), des Semonides betrachtung 'des menschen
sinnen ist eitel' (fr. 1) und die köstlichen lieder des Simonides : 'das
menschliche streben ist Stückwerk' (fr. 3), 'das leben ist eitel mühsal*
(fr. 18), 'der tod' (fr. 20), 'der steile pfad der tugend' (fr. 41), des
Sophokles 'die nichtigkeit des daseins' (fr. 532 und 535) usw.
Aber nicht nur tiefe religiosität, erhabene lebensweisheit, ernst
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426 Die griechischen lvriker iu den oberen claesen.
und vvehmut und klage verraten uns diese edelsten geister der Grie-
chen , sondern auch heitern, frohen sinn, harmlosen lebensgenusz in
den trinkliedern (Theognis v. 879, Alkaios, Anakreon usw.), im
liebesliede (Sappho), in der tändelnden dichtung der Anakreonteen,
in den scbalkigen Volksliedern.
Genug, das menscbenwesen , in griechischer beleuchtung, tritt
uns in allen seinen wesentlichen formen lebendig und anschaulich
in der griechischen lyrik entgegen, und einen solchen born der
Schönheit und der erhabenheit, der tiefe und innigkeit im denken
und empfinden sollen wir unserer jugend nicht erschlieszen? mit
ihm sollen wir sie nicht rein baden in einer zeit, wo es so doppelt
wichtig ist, auf phantasie und gemüt zu wirken, auf dasz das innere
erstarke zum kämpfe wider die feindlichen mächte des materialis-
mus und des naturalismus in allen arten, sei es in der kunst oder
in der Wissenschaft?
Und gerade die lyrik, diese spräche des herzens, ist wie keine
andere dichtungsart dem jugendlichen sinne verständlich und ver-
mag die jugendliche seele mit begeisterung für alles gute und schöne
zu füllen. —
Nur im interesse einer so edlen sache (es sei gesagt, damit
man nicht wähne, ich habe pro domo gesprochen) ist das vorstehende
geschrieben und ist die Sammlung griechischer lyriker veranstaltet
worden, welche ich im anschlusz an die im vorigen jähre erschie-
nenen römischen elegiker demnächst bei G. Freytag in Leipzig
herausgebe.
Kiel. Alfred Biese.
40.
DIE ANTIKE SAGE IN SEXTA.
In den meisten gymnasiallehrplänen ist der sexta die einftlh-
rung in die antike sage zuerteilt, wir fragen uns zunächst, ob sich
dieses pensum für die sexta empfiehlt, ob es für diese classe be-
rechtigt ist.
Werfen wir den blick auf den gesamten geschichtsunterricht
des gymnasiums, so finden wir, dasz man im allgemeinen die ein-
führung in die eigentliche geschiebte erst in quarta beginnt der
natürliche grund hierfür ist der, dasz das Verständnis und die er-
lernung der geschiebte gewisse Vorübungen und Vorkenntnisse voraus-
setzt, die erworben und angeeignet sein wollen, ehe die beschäftigung
mit der geschiente in fruchtbarer weise ihren anfang nehmen kann,
es ist klar, dasz der same der geschichtlichen lehrstoffe von einem
unvorbereiteten geiste nicht zur entwicklung gebracht werden kann,
die gesebichte führt uns in die Vergangenheit zurück; unmöglich
aber kann jemand vergangenes auffassen, der das gegenwärtige nicht
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Die antike sage in sexta.
427
kennt, was früher war, existiert jetzt nur noch in unsern gedanken ;
unser denken musz es wieder erzeugen , in unserer phantasie musz
es sich gestalten, anders als sie es vorstellt, hat es überhaupt kein
dasein, infolge dessen ist es unmöglich, einem kinde auch nur
das geringste von der Vergangenheit zum bewustsein zu bringen,
das die es umgebenden, die ihm gegenwärtigen und wahrnehmbaren
dinge noch nicht zu erkennen, noch nicht zu benennen weisz.
Der allgemeine anschauungsunterricht ist deshalb die unerläsz-
liche Vorstufe zu jedem geschichtsunterricht. jener nun beginnt be-
kanntlich schon in der kinderstube, schon beim Säugling in den
armen der mutter. was dem kinde gezeigt werde, worauf man auch
seine aufmerksamkeit lenke, was man ihm zu schmecken, zu tasten, zu
riechen, zu hören, zu sehen gebe, alles dient dazu, ihm anschauungen
zu liefern, ihm das Verständnis der es umgebenden dinge zu eröffnen.
Der eigentliche anschauungsunterricht aber beginnt erst, wenn
man dem kinde die namen der wahrgenommenen dinge beibringt,
was nun das haus in dieser weise beginnt, das setzt die schule auf
der elementarstufe einfach fort der wesentliche teil des ersten
Schulunterrichts ist Unterricht in anschauung. hierzu dient alles,
was der lehrer dem kinde zeigt und sagt, hierzu dient vorzüglich
der erste Unterricht im lesen und schreiben, denn dadurch lernt es
die Wörter, die es zuerst nur nachsprach, genauer kennen, es lernt
die spräche mit Überlegung anwenden, es lernt die Wörter in ge-
regelter weise mit einander verbinden, es lernt, indem es erfahrt,
dasz man gut und schlecht, falsch und richtig sprechen oder schreiben
kann, zugleich , dasz man die dinge falsch uud richtig benennen,
gut und schlecht von ihnen sprechen kann.
Der anschauungsunterricht beschäftigt sich zuerst mit dem wirk-
lich gegenwärtigen und wahrnehmbaren, aber nur klein ist der
schritt von hier zu der erinnerung des gewohnten und bekannten,
so bald die Wahrnehmung erwacht, erwacht auch diese für die Wahr-
nehmung selbst unentbehrliche geistesthätigkeit. ja sie äuszert sich
bei dem kinde mit solcher macht, dasz es dasjenige, was ihm in der
erinnerung aufsteigt, vielfach mit der gleichen lebhaft igkeit aulfaszt,
als wenn es seine sinne träfe, diese so kräftige kinderphantasie ist
daher ein günstiger boden für die aufnähme auch solcher dinge, die
den sinnen nicht unmittelbar dargeboten werden können, die es
durch sprachliche mitteilung, sei es durch erzählung oder durch lesen,
empfängt, hierbei leisten abbildungen eine wesentliche hilfe; aber
das Verständnis der bilder geht dem kinde nicht unmittelbar auf,
sondern es bedarf des helfenden Wortes, des zeigens, der erzählung,
welche die darbietung des bildes begleitet, die begleitende erzählung
bringt leben in das tote bild, sie gibt der einbildungskraft des kindes
den ersten anstosz. dazu kommen nun die erzählungen, welche
ohne hilfe von bildern an solche dinge, die im erfahrungskreise des
kindes liegen, anknüpfen, die Vorstellung von diesen dingen er-
wecken , und hierdurch die erinnerung anregen, der erfolg solcher
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428
Die antike sage in sexta.
erzählungen ist eine bereicherung der bilder von den dingen, die das
kind bereits kennt, und sie bereiten allmählich auf die aufnähme von
dingen, zuständen und geschehnissen vor, welche dem erfabrungs-
kreise des kindes ferner und ferner liegen.
Das erste, was von derartigen Stoffen, wenn man von biblischen
ge&ch i chten absieht, dem kinde gemeiniglich zugeführt wird, sind
märchen. sie sind der wichtigste gegenständ, der in den classen vor
sexta den spätem geschichtsunterricht vorbereitet, sie führen von
allem, was das kind sonst liest oder erfährt, am weitesten aus der
ihm sinnlich gegebenen weit heraus, sie machen es zuerst mit wesen
bekannt, deren Verständnis durch die einbildungskraft fast aus-
schlieszlich bewirkt werden musz. denn, wenngleich der anschauung
der personen und mancher Situationen des märchens mit bildern ein
wenig nachgeholfen werden kann, so musz doch das meiste dazu die
blosze einbildungskraft thun, ohne welche die lebendige Vorstellung
der ereignisse des märchens überhaupt unmöglich ist.
Die frage ist nun, ob vom märchen ohne weiteres der Übergang
zur geschichte gemacht werden kann, die antwort musz verneinend
ausfallen, zwischen märchen und geschichte breitet sich noch ein
gebiet aus , das den Übergang von jenem zu dieser vermittelt un-
natürlich würde es sein, es zu überspringen oder es zu umgehen,
dieses gebiet ist die sage, welche das märchen mit der geschichte
verbindet, als die eigentliche Vorbereitung, als die Propädeutik des
geschichtsunterricht s musz also der Unterricht in der sage eintreten,
mit vollem rechte ist dieselbe deshalb als pensum denjenigen classen
zugewiesen, welche in unserm gymnasium der quarta vorangehen,
sexta und quinta sind der sagengeschichte bestimmt.
Es ist nun gebräuchlich, in sexta antike, in quinta deutsche
sage zu lehren, es fragt sich , ob diese Verteilung auf die beiden
classen richtig ist. man könnte auch fragen , ob nicht noch andere
Sagenkreise in den Unterricht hineingezogen werden sollten, oder ob
vielleicht nur die deutsche oder nur die antike sage gelehrt werden
sollte, doch diese letztern fragen bedürfen kaum weiterer erwägung.
die deutsche sage auszuschlieszen ist unstatthaft, weil es unziemlich
ist, dasz ein deutscher knabe wohl von den göttern und helden der
Griechen und Römer bescheid weisz, von denen des eignen volkes
aber nicht, die antike sage hingegen auszuschlieszen verbietet sich
durch das wesen des gjmnasiums, wie es einmal ist, durch den um-
stand, das/, einerseits das Studium der alten Schriftsteller immer die
kennt n is der sage voraussetzt, anderseits der auf dem gymnasium
einen so breiten räum einnehmende Unterricht in der alten geschichte
seine natürliche Vorbereitung in der alten sage findet, hingegen be-
darf die frage nach der Verteilung der beiden Sagenkreise auf die
beiden classen einer genaueren erwägung. auf den ersten blick nem-
lieh scheint es sich zu empfehlen, in sexta deutsche sagen zu lehren,
der knabe hat in der Vorschule bisher deutsche märchen kennen ge-
lernt, wie vortrefflich knüpfen sich an die gestalten des märchens
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Die antike sage in sexta.
429
die der sage ! es ist nicht zu verkennen , dasz der Übergang vom
deutschen märchen zur deutschen sage äuszerst leicht sein würde,
es besteht ja zwischen den gestalten jener und dieser eine ursprüng-
liche Verwandtschaft, die sagen sind gleichsam märchen, welche an
bestimmte personen anknüpfen, sie würden dem kinde nur als eine
besondere art von märchen erscheinen, sie bedürften keiner beson-
dern Vorbereitung und einfuhrung.
Aber nicht nur knüpft die deutsche sage in sexta leicht und
bequem an das märchen der septima an, sondern auch nach oben
hin bietet sich, wie es scheint, ein ähnlicher vorteil: der Unterricht
in der antiken geschiente in quarta würde durch die antike sage in
quinta unmittelbar vorbereitet werden, die Vorzüge dieser anord-
nung sind nicht zu verkennen; denn es ist von groszer bedeutung
für den erfolgreichen aufbau der Unterrichtsstoffe, dasz die einzelnen
stufen des Unterrichts in gehörigem zusammenhange stehen.
Hiergegen läszt sich freilich einwenden, dasz auch auf eine ge-
wisse abwechslung in den Stoffen rücksicht genommen werden müsse,
man kann davon sprechen, dasz die eintönigkeit in den dargebotenen
Stoffen ermüde, dasz die abwechslung das interesse reize und belebe,
aber dieser grund ist nicht sehr vielsagend, gewis kann eintönigkeit
schädlich werden; sie ist jedoch offenbar beim übergange vom mär-
chen zu den deutschen sagen gar nicht vorhanden, ebenso wenig wie
bei dem übergange von der antiken sage zur alten geschichte. bei
diesen gegenständen entrollt jede stunde ein anderes bild ; die helden-
thaten eines Siegfried können unmöglich deshalb, weil sie auf deut-
schem boden spielen, weniger anziehend sein, als die eines Achill;
im gegenteil, sie müssen an sich notwendig ein gröszeres interesse
erwecken, in ähnlicher weise könnte der grund der abwechslung
angeführt werden mit einem hin weis darauf, dasz von quarta an ein
regelmäsziger Wechsel zwischen antiker und deutscher geschichte
gemeiniglich eingeführt sei. denn in tertia wird gewöhnlich deutsche
geschichte gelehrt , in secunda wieder wie in quarta alte , in prima
wieder deutsche, diesem Wechsel würde nun antike sage in sexta,
deutsche in quinta entsprechend sich anschlieszen.
Aber diese abwechslung ist etwas zu äuszerliches, als dasz man
ihr zu liebe, wenn weiter nichts dagegen spräche, den trefflichen
beiderseitigen Zusammenhang nach unten und nach oben, der mit
der Verteilung der antiken sage auf quinta, der deutschen auf sexta
verbunden ist, aufgeben sollte, es kommt noch hinzu, dasz die
deutsche sage in sexta sich leicht und zweckmäszig in Verbindung
setzen läszt mit der heimatkunde, wenigstens an sehr vielen orten,
auszerdem aber der gewichtige gesichtspunkt , dasz gar nicht früh
genug des knaben geist und gemüt von vaterländischen dingen und
angelegenheiten erfüllt werden kann.
Trotzdem ist es richtig, dasz in sexta antike sage gelehrt werde,
und zwar aus folgenden gründen, es ist nemlich auszer dem zu-
sammenhange der verschiedenen classenpensa desselben faches, also
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Die antike sage in sexta.
in unserm falle dem zusammenhange des gescbiebtsunterrichts in
sämtlichen classen, noch ein anderer zu beobachten, der von gleicher,
wenn nicht von gröszerer Wichtigkeit ist, als jener, ich meine den
Zusammenhang der verschiedenen Unterrichtsgegenstände, welche in
derselben classe neben einander betrieben werden, dasz auch die
verschiedenen facher, aus denen sich der gesamte lehrplan einer classe
zusammensetzt, nicht nur neben einander betrieben werden dürfen,
sondern dasz sie mit einander in Verbindung stehen müssen, ist eine
forderung, deren berechtigung zwar jeder wohl zugeben wird, deren
tragweite aber häufig tibersehen wird, die deshalb auch nicht immer
gehörige erfüllung findet und infolge dessen in der praxis und theorie
des Unterrichts nicht Uberall genügend beachtet wird, was es mit
dieser forderung für eine bewandtnis hat, wird am besten klar wer-
den durch die specielle erörterung der Stellung, welche der antiken
sage im lehrplan der sexta zukommt, aus dieser erörterung wird
völlig deutlich hervorgehen, dasz die antike sage nicht nur mit vollem
rechte in diese classe gehört, sondern dasz selbst in einem veränder-
ten lehrplan die antike sage für die altersstufe, welche der sexta
entspricht , ein durchaus angemessener, ja notwendiger lehrgegen-
stand ist.
Wenn wir den lehrplan der sexta ins auge fassen , wie er zur
zeit auf dem deutschen gymnasium beschaffen ist, so tritt als das
hervorragendste unter den lehrfächern dieser classe das latein hervor,
der lateinische Unterricht beginnt in ihr; die grundlagen dieser
spräche , deren betrieb trotz neuerer Verminderungen noch immer
die gröste Stundenzahl unter allen fächern des gymnasiums in an-
spruch nimmt, werden in sexta gelegt; sie verdient daher vor allen
andern den namen der lateinclasse.
Fragen wir nun nach dem zweck des lateinischen Unterrichts
in sexta, so kann derselbe hier offenbar kein wesentlich anderer sein,
als im gymnasium überhaupt, er ist ein zwiefacher, einerseits ein
formaler, anderseits ein sachlicher oder stofflicher, jenem dient vor-
züglich die lateinische grammatik, sodann die sprach- , rede- und
schreibübungen, welche mit der erlernung der spräche notwendig
verbunden sind, in stofflicher hinsieht aber vermittelt die erlernung
der lateinischen spräche die kenntnis römischer Schriften und Schrift-
steller, sodann römischer, Uberhaupt antiker dinge, zustände, ereig-
nisse, endlich auch, um dies nicht zu vergessen, die erkenntnis und
empfindung antiker kunst und Wissenschaft, antiken geistes, antiker
gesinnung, antiker tugend.
Diesem zwiefachen zweck , dem formalen und dem stofflichen,
dienen aber nicht ebenso getrennte mittel, die formen der spräche
können nicht erlernt werden ohne einen inhalt, und wenn sie es
könnten, so dürften sie es nicht, weil der besitz bloszer formen ohne
inhalt völlig wertlos sein würde, es scheint zwar, als ob bei der
erlernung der grammatik, der aneignung der Wörter, der einübung
der wortformen und der regeln der satzbildung vom inhalt abgesehen
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Die antike sage in serta.
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werden müste. aber es hat sieh längst herausgestellt, dasz dies nur
bis zu einem gewissen grade geschehen darf, wenn man über diesen
hinausgeht, wenn man den inhalt völlig vernachlässigt, wenn man
z. b. Wörter lernt, die man nicht versteht, wenn man die formen
lernt auszer ihrem zusammenbange in Sätzen, wenn man sätze bildet
mit einem verkehrten oder unpassenden inhalt, so stärkt man da-
durch nicht das vermögen und die fertigkeit des richtigen gebrauches
der Wörter und formen, sondern schwächt sie. deshalb ist es auch
längst das bestreben der methodiker des lateinischen Unterrichts, die
einübung der formen der spräche an passenden inhalt anzuknüpfen,
so läszt man denn auch überall, wo in deutschen schulen latein ge-
lehrt wird, die schüler die wörter und wortformen , mit deren erler-
nung ja der Sprachunterricht stets beginnen musz, möglichst früh
in Sätzen anwenden, ja manche methodiker gehen noch weiter und
versuchen, den schüler von vorn herein in eine zusammenhängende
erzählung einzuführen, der vorteil dieses Verfahrens soll darin be-
stehen, dasz einerseits die erlernung der spräche von anfang an durch
das interesse, welches ein zusammenhängender inhalt gewährt, selbst
ein höheres interesse bekommt, anderseits dadurch erleichtert wird,
dasz die erinnerung an den inhalt das behalten der Wörter und formen
unterstützt.
Ob diese vorteile wirklich so außerordentlich erheblich sind,
wie die , welche sie preisen , es glauben , lassen wir vorläufig dahin-
gestellt, eins aber ist sicher: mag man das latein von vorn herein
an zusammenhängenden stücken lernen oder an einzelnen Sätzen,
der inhalt, der in den lateinischen Worten dem schüler geboten wird,
darf ihm nicht unverständlich sein , oder wenigstens , er darf ihm
nicht unverständlich bleiben.
Man hat nun die wähl, ob man diesen inhalt der erfahrung des
Schülers entnehmen will , wie er sie bereits in die sexta mitbringt,
oder ob man ihm in der neuen spräche zugleich neue inhalte zuführen
will, oder ob man den stoff der lateinischen sätze aus einem gebiete
nimmt, das mit dem latein zugleich ein Unterrichtsgegenstand der
sexta ist. was hier als das beste zu erwählen sei, ist nicht gar
schwierig zu entscheiden, wenn die sätze nur gewöhnliches, alltäg-
liches und bekanntes enthalten , so fehlt ihnen eben jeder reiz , wie
sehr sie auch verständlich sein mögen, der Unterricht, der wegen
der vielen auswendig zu lernenden vocabeln und der vielen einzu-
übenden formen an sich schon trocken ist, wird dadurch noch weit
trockener, bringt hingegen jeder satz einen inhalt, der dem schüler
neu ist, so geht sehr viel zeit verloren über erklärung des inhaltes,
die eben unerläszlich sind, um den grösten schaden, das kramen mit
unbegriffenen Worten und Sätzen, zu vermeiden, geringer ist der
Zeitverlust, wenn der inhalt des lateinischen Unterrichts neu aber
zugleich zusammenhängend ist, weil alsdann dieser stoff für sich
dem schüler zu eigen gemacht werden kann , so dasz er als solcher
angeeignet nachher im gewande der fremden spräche die erlernung
432
Die antike sage in sexta.
derselben fördert und unterstützt und zugleich selbst wieder genauer
bekannt, fester angeeignet wird, das interesse fehlt in diesem falle
nicht, aber ein Zeitverlust bleibt, der in keinem falle unbeträchtlich
ist. denn das alter des seztaners lernt nichts neues sehr schnell,
alles was man ihm bietet, musz sorgfältig, genau, langsam, in durchaus
elementarer weise dargeboten werden , wenn es vollkommen aufge-
nommen und verdaut werden soll, deshalb erscheint als das richtigste
verfahren, dasz das latein in sexta mit den andern fächern dieser
classe dadurch in eine innere Verbindung gebracht werde, dasz man
den lateinischen wort und redeschatz den das latein begleitenden
lehrfächern der classe entnimmt, je mehr man sich mit diesem ver-
fahren befreundet, um so mehr wird sich seine richtigkeit und seine
fruchtbarkeit herausstellen, es ist in Wahrheit das einzig vernünftige
und infolge dessen das ersprieszlichste. es ist, wie sich weiterhin
herausstellen wird, mit solcher leichtigkeit durchführbar, da9z sich
kaum irgend ein bedenken gegen dasselbe dürfte erheben lassen.
Es soll also eine gemeinsamkeit des Inhaltes zwischen dem latei-
nischen und den andern fächern der sexta hergestellt werden, welche
inhalte sind nun aus diesen für jenes brauchbar? in sexta wird
gemeiniglich religion , deutsch , bisweilen französisch (so am prote-
stantischen gyrnnasium in Straszburg), ferner geschiente (sagen-
geschichte), geographie, naturkunde, rechnen gelehrt, vielerlei Stoffe
also werden dem sextaner zugeführt, aber nur wenig davon kann
für das lateinische nutzbar gemacht werden, die Übungsbücher, die
in sexta dem lateinischen Unterricht zu gründe gelegt werden , ent-
halten nicht selten (so z. b. das so sehr verbreitete Übungsbuch von
Ostermann) Wörter und sätze aus allen diesen gebieten, auszerdem
aber noch zahlreiche moralische gemeinplätze und sätze , die Über-
haupt keinem Wissensgebiet, sondern dem täglichen leben angehören,
wollte man in der auswahl der Wörter sorgfältiger zu werke gehen,
wollte man rücksicht nehmen auf das, was der sextaner in den nicht-
lateinischen stunden lernt, so würden diese ja gewis ohne Schwierig-
keit im stände sein , für jenen zweck sogar mehr zu liefern als mit
rücksicht auf das vocabel- und formenpensum gebraucht werden
kann, man denke nur an die vielen namen des naturkundlichen
Unterrichts, der geographie, auch an die begriffe aus der religion.
man könnte darauf verfallen, aus jedem dieser fächer die wichtig-
sten namen, die vornehmsten begriffe zusammenzustellen, ihre zahl
würde sehr beträchtlich sein und für alle abschnitte der formenlehre,
deren erlernung ja die hauptaufgabe des lateinischen in sexta ist,
passende beispiele in reichlicher menge bieten.
Der vocabelschatz, den man auf diese weise erhielte , samt den
daraus zu bildenden Sätzen würde immer noch den Vorzug vor man-
chen vocabelsaramlungen haben, die man dem sextaner zumutet,
dasz wenigstens nicht nur die endungen, der grammatische abschnitt,
die paradigmata und regeln der grund ihrer auswahl und Zusammen-
stellung wären, aber eine wahrhafte auswahl, ein wirklich orga-
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Die antike sage in sexta.
433
nisches ganze würde so nicht entstehen, es bliebe diese Zusammen-
stellung immerhin ein allerlei, ohne innern Zusammenhang, ohne
verbindenden faden, ohne innere beziehungen.
Hierzu kämen noch besondere, sehr erhebliche misstände: da
die Sachkenntnis, welche in den nichtlateinischen stunden erworben
werden soll, der erlernung der lateinischen Wörter vorausgehen
musz, so dürften streng genommen in den lateinstunden immer nur
solche Wörter vorkommen, deren gegenstände bereits bekannt sind,
dadurch würde der lateinische Unterricht dazu verurteilt sein, in
ganz seltsamer weise den andern stunden nachzuhinken, dies ist
aber unmöglich und unstatthaft, wenn einer es dennoch durchzu-
führen suchte.
Ein ferneres bedenken gegen das angeführte princip der Wörter-
und stoffauswahl für das lateinische aber ergibt sich aus einem
gründe, der zugleich einen positiven wert hat, weil er den fingerzeig
gibt, diese auswahl in einer durchaus gesunden und förderlichen
weise in Übereinstimmung mit den bisher entwickelten gesichts-
punkten zu treffen, es darf offenbar nur solcher stoff für das latei-
nische benutzt werden, dem das römische gewand passt. es darf dem
seztaner kein buntes durcheinander von allerlei modernen namen
für neuere länder und dinge, von Sätzen über neuere, den alten Un-
bekannteverhältnisse und ereignisse gegeben werden, vom römischen
Standpunkte aus betrachtet sind moderne ausdrücke, mögen sie dem
gebiete der geographie oder der naturkunde oder der religion oder der
deutschen vorzeit, der mittlem und neuern deutschen geschiente oder
gar dem leben der gegen wart entnommen sein, barbarisch, kein
mönchslatein, kein gelehrtenlatein soll der sex taue r lernen; auch
sollen ihm die lateinischen Wörter nicht ein Spielzeug sein, masken,
Verkleidungen moderner dinge in fremde namen. mag er daran ge-
legentlich eine kindliche freude haben, in fremder spräche bekanntes
zu sagen und zu vernehmen: wenn ihm dies als der hauptzweck der
erlernung dieser spräche erscheint, so wüste ich nicht, wie das kind
sich den zweck dieser beschäftigung abgeschmackter und thörichter
vorstellen könnte, so kommen wir zu der Überzeugung, dasz man in
antiker spräche nichts nichtantikes lernen und lehren soll, es ist dies
ja auch längst anerkannt, die bessern lehrbücher unter den neuem
vermeiden mit einer bis zur Übertreibung gehenden Sorgfalt jeden
barbari8mus. den pädagogischen gesichtspunkt hat man dabei aus
den äugen verloren, den philologischen an seine stelle gesetzt und
mit ängstlicher vorsiebt den assischen Sprachgebrauch' zum princip
erhoben, dasz dies eine verirrung ist, die aus der richtigen absieht,
das nichtantike zu vermeiden, ohne in trivialitäten zu fallen, her-
vorgeht, wird sich sogleich herausstellen, wenn wir in behutsamer
weise unsere Untersuchung fortsetzend, nun fragen, woher denn dem
sextaner der antike stoff kommen soll, der seinem lateinischen
Sprachunterricht zu gründe liegen musz.
Die Verfasser der Übungsbücher sind da zumeist gar nicht in
N. jfthrb f. phil u. päd. II. abt. 1891 hft. 8 u. 9. 23
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434
Die antike sage in serta.
Verlegenheit, aus dem reichen inhalt, den geschiebte und schrift-
steiler des altertums darbieten, greifen sie ohne sich viel zu besinnen
diesen oder jenen gegenständ heraus und formen so Übersetzungs-
beispiele für formenlehre und grammatik. hier und da geben sie
auch kleine erzähl ungen , die, wie es sich gerade trifft , eine fabel
enthalten oder ein stück aus griechischer und römischer sage und
geschichte. sie erztfhlen ohne viele scrupeln in diesen Sätzen bald
von römischen königen, bald von persischen, bald von Nu um Porn-
pilius , bald von Alexander dem groszen , nicht selten auch von der
Vaterlandsliebe des Cicero, der strenge des Cato, der gesetzgebung
des Solon , den reisen des Herodot, der Weisheit des Plato , von den
Scythen, Babyloniern, den Karthagern, Spaniern, Britten, wozu hier
dies weiter ausführen? die Übersetzungsbeispiele, in welchen den
Schülern nichts unclassisches geboten wird , sind ein buntes allerlei,
das der zufall zusammengeführt hat, dessen ordnungsprineipe die
declinationsart, die conjugationsformen , der grammatische Schema-
tismus sind, wer im Unterricht auf derartige, auszerordentlich ver-
breitete Übungsbücher angewiesen ist, hat beim übersetzen ihrer
sätze fast unaufhörlich sich zu entscheiden, ob er entweder seine zeit
damit verlieren will , den Schülern die namen und ereignisse zu er-
klären, die genannt werden oder auf die angespielt wird, und sich
damit bald über orientalische, über römische, über griechische ge-
schichte, dann wieder über die litteratur, dann Uber die kunst, dann
über geographie, bisweilen sogar über philosophie und mathematik,
nicht selten über staats- und privataltertümer zu verbreiten, oder
ob er, den inhalt der sätze einfach als nicht vorhanden betrachtend,
den grammatischen erscheinungen , für deren illustrierung sie be-
stimmt sind, seine und der schüler aufmerksamkeit zuwendet, das
letztere verfahren ist das gewöhnliche, weil es allein ermöglicht, in
jeder stunde die nötige anzahl von Sätzen zu Übersetzen, im zwange
dieser Übungsbücher verlernen schüler und lehrer allmählich, dasz die
sätze, die sie lesen und übersetzen, einen inhalt haben; sie sind nur
Schemata für satzconstruetionen , die Wörter gesteile für endungen.
Wem diese thatsachen recht deutlich werden, wer die bedauer-
lichen folgen bedenkt, die sie für die ausbildung des geistes haben
müssen, der wird leicht von der Überzeugung erfüllt werden, dasz
diese art und weise, der alten spräche antiken inhalt zu geben, ihren
zweck so sehr verfehlt, dasz man geneigt sein möchte, auf das ent-
gegengesetzte verfahren wieder zu verfallen, welches darin besteht,
dasz man ausschlieszlich daran denkt, dem kinde einen ihm verständ-
lichen stoff darzubieten, in diesem bestreben werden dann allerlei
sätze erdacht, gegen deren inhalt vom pädagogischen Standpunkte aus
nichts einzuwenden ist, die aber ebenso gut beim französischen oder
englischen Sprachunterricht gebraucht werden könnten wie beim
lateinischen.
Der fehler derartiger erfindungen ist im gründe genommen
genau derselbe, wie der ist, welcher bei der Zusammenstellung aller
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Die antike sage in sexta.
435
möglichen sütze mit antiquarischem inhalte gemacht wird, in diesem
wie in jenem falle ist ein methodisches princip, das an sich richtig
ist, nicht mit methodischer consequenz durchgeführt, sondern durch
Willkür verunstaltet, ohne zweifei ist es richtig, dasz den kindern
verständlich sein musz, was sie lernen und übersetzen, womit sie so
viele stunden aufs gründlichste beschäftigt werden, ohne zweifei ist
es auch richtig, dasz man die lapidare spräche römischer geschicht-
schreiber und redner nicht misbrauchen soll , um kleinigkeiten des
täglichen lebens, moralische gemeinplätze oder allerlei neuere dinge
und ereignisse in künstlicher und geschraubter weise auszudrücken,
wie man sich nun hier richtig zu verhalten hat, das lernt man am
leichtesten, wenn man die alten selbst fragt, wie sie es machten,
was ein alter römischer Schulmeister seine kinder lesen liesz, damit
sie lesen und schreiben lernten, das war offenbar sowohl ihrem Ver-
ständnis angemessen, als auch römisch, antik, classisch. stellen wir
die fibel der römischen schnlknaben wieder her, so haben wir, was
wir für unsere kinder brauchen, diese arbeit ist gewis nicht schwierig ;
wir werden angeben, wie es zu machen ist.
Zuerst musz der antike stoflf da sein , der dem kinde mitgeteilt
werden soll, gut denn! teilen wir ihm denselben in unserer spräche
mit. der römische lehrer hat gewis erst seinen knaben von Achill
und Odysseus erzählt , ehe er über sie lesen liesz. wenn er es nicht
that, so hatten es eitern, geschwister oder der hauspädagoge gethan.
das gleiche können wir auch in unserer schule ohne mühe erreichen,
lassen wir unsere kinder erst einen zusammenhängenden stoff aus
dem altertum in deutscher spräche lesen, machen wir ihnen den-
selben recht zu eigen, so dasz sie ihn selbst wieder erzählen können,
erklären wir ihnen dabei alles, was zu erklären ist, so dasz ihnen
nichts unverständlich davon sei, so werden sie alsdann einen antiken
stofT besitzen, nun können sie ihn auch in antiker spräche kennen
lernen, wie grosze vorteile dies haben musz für die beschäftigung
mit der lateinischen spräche, liegt auf der hand. und auch umgekehrt
kann die fremde form der gründlichen erfassung der inhalte nur
förderlich, nicht schädlich sein, jede lateinische vocabel, die der
knabe nun erfährt, ist für ihn sogleich verknüpft mit einem be-
stimmten gedankenkreise. der geringste hinweis des lehrers auf die
stelle in der antiken sage, zu der das lateinische wort passt, genügt,
dasz der schüler gleich das für seinen verstand genügende, ja ein
reiches Verständnis des Wortes erlange, denn reicher und vollkom-
mener kann ein knabe ein wort nicht verstehen, als wenn es für ihn
ein stück ist aus einem vollkommen angeeigneten und begriffenen
vorstellungskreise. wie sehr dadurch das behalten der Wörter er-
leichtert wird, ist ebenfalls völlig augenscheinlich, der hauptvorteil
dieses Verfahrens aber möchte wohl darin bestehen, dasz jetzt das
bilden von Sätzen, der zusammenhängende gebrauch der Wörter wie
von 6elbst den knaben zufällt, ein neuerer methodiker hat in vor-
trefflicher weise gezeigt, wie man schon in der allerersten stunde
28*
Digitized b}
436
Die antike sage in sexta.
die knaben kann sätze mit lateinischen Wörtern bilden lassen, in-
dem man die lateinischen Wörter mit deutschen zusammenstellt zu
deutseben Sätzen, in denen jene sich wie fremdwörter ausnehmen,
bei dem hier von uns dargestellten verfahren wird das gleiche, aber
auf eine feinere und geistigere art geleistet, denn bildung eines
satzes, urteilsthätigkeit kann auch stattfinden, ohne dasz der satz
ausgesprochen wird, die satzbildung in gedanken musz sogar dem
aussprechen des satzes vorangehen, bei unserer art würde diese ge-
dankliche satzbildung sogleich von statten gehen, sobald der knabe
die vocabel lernt, weil er schon gedanken über den gegenständ,
dessen lateinischen namen ihm die vocabel mitteilt, besitzt, infolge
dessen kann der lehrer es sich ersparen, jene etwas Beltsam klingen-
den sätze aus deutschen und lateinischen worten bilden zu lassen,
an dem aussprechen solcher sätze kann mit recht anstosz genommen
werden, sie sind auf jeden fall etwas künstliches, und es ist besser,
wenn man derartige künstliche lernmittel selten oder gar nicht an-
wendet, ohne dasz ich also diesen Vorschlag jenes methodikers ver-
werfen wollte, dessen prineip mir vielmehr ganz vortrefflich er-
scheint, möchte ich nur darauf hinweisen, wie einfach und natürlich
sich die innere aneignung der vocabeln vollzieht, wenn man den
boden so vorbereitet hat, wie es von uns vorgeschlagen wird, die
vorteile dieses Verfahrens aber machen sich nicht nur bei der vocabel-
aufnahme geltend, sondern bei jedem weiteren schritt des Unter-
richts; insbesondere bei der bildung lateinischer sätze und bei dem
übersetzen lateinischer sätze ins deutsche und umgekehrt, ich musz
es mir an dieser stelle versagen , diese vorteile ins gehörige licht zu
setzen, auch ohne dies wird es einleuchten , dasz , wenn alle solche
sätze einen festen gemeinsamen grund haben, sie so zu sagen von
selbst aus diesem boden hervorsprieszen, nachdem die vocabeln an-
geeignet sind und mit leicht igkeit wurzeln schlagen, und am ende
dem schüler eine freie beherschang der fremden spräche ermöglichen,
wie er sie auf andere weise gar nicht erlangen kann.
Dasz aber das, was wir hier vorschlagen, dasz die fundamen-
tierung des ganzen elementarunterrichts im lateinischen auf einen
in deutscher spräche erlernten antiken sagenstoff nicht nur ein aus-
gedachter entwurf ist, sondern ganz unmittelbar in die praxis ein-
geführt werden kann, das geht sofort aus einem blick auf den lehr-
plan der sexta hervor, in jeder neuen sexta kann deshalb sogleich,
wenn nur der lehrer vorbereitet ist, dieses verfahren eingeführt
werden, die schüler sind völlig vorbereitet, geläufig lesen haben
sie bereits in den vorclassen gelernt; ein pensum von sagengeschichte
ist für die sexta allgemein vorgesehen, nach unserer auseinander-
setzung versteht es sich jetzt von selbst, dasz dieses pensum der
antiken sage zu entnehmen ist. die antike sage ist also ein notwen-
diger lehrgegenstand der sexta. alle gegenstände werden durch den
groszen und wichtigen gesiebtspunkt , dasz diese sage dazu dienen
soll, dem hauptgegenstande der sexta, dem lateinischen, das zugleich
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Die antike Bage in sexta. 437
ein h au pt gegenständ des gymnasiums ist, seine grundlage zu geben,
überwunden.
Wie könnten überhaupt solche bedenken vielen wert haben,
wenn man nur erwägt, wie viele positive vorteile schon an sich die
beschäftigung des sextaners mit der antiken sage hat. sie ist durch-
aus seinem geistigen Standpunkte angemessen, sie schlieszt sich so
vortrefflich an die märchenweit an, in die er vorhereingeführt wurde,
sie tritt in die innigste und leichteste Verbindung mit dem deutschen
unterrichte, wenn sie, wie dies ja thatsächlich der fall ist, im lesebuche
aufnähme gefunden hat. als lesestoff ist sie für die sexta ganz und gar
passend, infolge dessen wure es sogar möglich, sie selbst dann dem
lateinischen zu gründe zu legen, wenn man durchaus für den ge-
schichtsunterricht einen andern gegenständ haben möchte, wenn sie
im lesebucbe ihren platz hat, so kann sie in den deutschen stunden ge-
lesen, von den kindern zu hause wiederholt, im einzelnen durchgenom-
men und überhaupt so behandelt werden, wie die neuere methodik die
behandlung des lesestückes verlangt, es kommt noch hinzu, dasz die
antike sage auch mit vorteil zur geographie und naturkunde in be-
ziebung gesetzt werden kann, namentlich zu jener, denn die einfüh-
mng in die geographie würde sich erleichtern, wenn die namen der
örtlichkeiten durch eine bekannte geschichte zuvor mit inhalt erfüllt
sind, die geographischen bestimmungen machen einen wichtigen
unterschied der sage vom märchen aus; namentlich die griechische
sage spielt an bestimmten örtern, sie knüpft ihre zeitlichen ereig-
nisse stets in bestimmter weise an das räumliche an. dieser umstand
musz für die behandlung der sage sowohl, als wie der geographie
nutzbar gemacht werden, und in weiterer folge also auch für das
lateinische, bei so bewandten dingen dürfte es kaum noch nötig
sein, daraufhinzuweisen, dasz zur Unterstützung und bereicherung
dieses ganzen vorstellungskreises, in dessen mittelpunkt die antike
sage steht, der frühere deutsche Unterricht des sextaners, der reli-
gionsunterricht und endlich die ganze Weisheit des täglichen lebens
und der das kind umgebenden weit in der ungezwungensten weise
ihre beiträge liefern, jene ergänzen und zu den vielfältigsten ver-
gleichungen und parallelen tiberreichliche gelegenheit geben.
So erhalten wir denn, wenn wir der antiken sage nicht nur
einen platz in der sexta anweisen, sondern sie geradezu in den mittel-
punkt des lehrplans dieser classe stellen, die schönste, innigste und
natürlichste Verbindung aller lehrgegenstände dieser classe unter
einander, das latein, das die sexta sonst so fremd, so grundver-
schieden von den vorclassen zu machen scheint, tritt jetzt als gewand
der antiken sage dem märchen und allem, was sonst des Schülers
geist bisher erfüllt, nahe, die Verbindung des lateinischen mit der
sage aber erweckt die schönsten und verlockendsten aussiebten, ist
sie doch in der that der anfang einer wirklichen altertumskunde,
einer solchen, die das al turtum nach form und inhalt, nach ort und
zeit , nach spräche, geschichte, leben und treiben, kurz nach jeder
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438
Altertum und gcgenwart im Unterricht
hinsieht zu erfassen strebt, ja, es musz selbst dem kinde schon ver-
ständlich werden, weshalb es mit dem lateinischen beschäftigt wird,
wenn es erfährt, dasz in dieser spräche, die es nun erlernt, Schrift-
steller und dichter in schönster form diese und viele andere schöne
dinge überliefert haben, die es dereinst zu seiner freude in der Ur-
sprache lesen und kennen lernen wird.
Dl EDENHOFEN IN LOTHRINGEN. WlLHELM EnOCH.
41.
ALTERTUM UND GEGENWART IM UNTERRICHT,
ein Vortrag, gehalten am 27 januar 1890 im gymnasium zu Weimar.
Hochgeehrte festversammlung!
Im leben des einzelnen menschen und im leben eines ganzen
volkes kommen tage, die anlasz geben, auf geschehenes zurückzu-
blicken, ein solcher tag ist heute für das deutsche volk erschienen,
deutlicher und klarer als sonst steigen in unserer erinnerung be-
kannte bilder aus der Vergangenheit empor: die heldenthaten des
groszen krieges im leuchtenden glänze unvergänglichen ruhmes wie
das für unser volk nicht minder bedeutungsvolle und segensreiche
wirken im innern des neuerstandenen reichs ; unter den edlen ge-
stalten aller, deren bild wir in dankbarer erinnerung in der seele
tragen , ragt unser greiser heldenkaiser hervor mit seinen ehrwür-
digen zügen , für uns alle ein ewig unvergeszlich , teures bild. mit
der ihm eignen demut, aber zugleich voll froher Zuversicht und hoff-
nung in seinem festen gottvertrauen trat er an die erfüll u ng der ihm
gestellten aufgäbe heran.
auch des menschen thun
ist eine aussaat von Verhängnissen,
gestreuet in der zukunft dunkles land,
den schicksalsmächten hoffend übergeben.
diese worte Schillers, die er noch als prinz von Preuszen nach einem
besuche des Schillerhauses in Weimar niederschrieb, spiegeln sein
inneres empfinden wieder, seine aussaat hat für sein haus, für sein
land, für das deutsche volk, ja für die ganze menschheit die schönste
und reichste frucht getragen, und wenn Herder sagt:
Ein edler held ist, der fürs vaterland,
ein edlerer, der für des landes wohl,
der edelste, der für die menschheit kämpft.
so sehen wir in kaiser Wilhelm den edlen beiden, der sich diesen
dreifachen ehrenkranz erkämpft hat. ein hört unseres Vaterlandes,
ein vater seines volkes, ein wohlthäter der menschheit ist er dahin-
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Altertum uud gegenwart im Unterricht.
439
gegangen, uns allen ein vorbild und lehrer, zumeist seinem enkel,
der in unermüdlicher pflichttreue und selbstloser fürsorge für sein
volk seinem leuchtenden beispiele nachahmt, die harte schule des
lebens und leidens mit seinen prüfungen ist unserm jugendlichen
kaiser nicht erspart geblieben, mit stiller wehmut gedenken wir
der schmerzensreichen tage des trauerjahres 1888, da wir zwei kaiser
zu grabe trugen, den begründer des deutschen reiches und seinen
heldenhaften, schwergeprüften söhn, den viel geliebten, aufs tiefste
betrauerten kaiser Friedrich, und auch in diesem jähre ertönte der
glocken dumpfer ton wieder von türm zu türm durchs land: der
treuen lebensgefahrtin kaiser Wilhelms galt ihr trauergeläute , der
ersten deutschen kaiserin, die Weimars edlem fürstenhause ent-
sprossen ist. ein reich gesegnetes leben ist mit kaiserin Augusta
erloschen: ein auge bat sich für immer geschlossen, das sonst so
treu wachte Uber unserm volk und mit klarem blicke die leiden der
menscbheit erkannte ; ein mund ist verstummt, der weithin das hohe
evangelium edelster menschenliebe verkündete, eine band erstarrt,
die nicht müde ward, die frommen werke der barmherzigkeit zu
üben, wunden zu heilen und segen zu spenden.
Mehr als ein und ein halb jähr sind seit dem regierungsantritte
Wilhelms des zweiten verstrichen, mit gerechtem stolze blicken
wir heute zurück auf die erfolge, die er in friedlicher arbeit errungen
hat: auf die denkwürdige eröffnung des reichstages im juni 1888,
als die fürsten Deutschlands sich um unsern kaiser scharten und der
weit zeigten, dasz sie in unverbrüchlicher treue fest zu kaiser und
reich stehen, auf seine fahrten an fast alle höfe Europas, auf die
fürsten besuche in Berlin, auf seine reisen in Deutschland, da auch
wir ihm zujubeln konnten und in Straszburg zum ersten male ein
deutscher kaiser die kaiserpfalz betrat, von der schon Rückert pro-
phetischen geistes gesungen hat, auf seine rastlose thätigkeit bei
den groszen Übungen unseres heeres, kurz auf sein ganzes wirken
und schaffen, hatte die weit nicht ohne besorgnis dem Zeitpunkte
entgegengesehen, wo der jugend- und thatkräftige Hohenzollern-
sprosz das seepter ergreifen würde, so ist es ihm inzwischen ge-
lungen, der weit zu beweisen, dasz die zwei ziele, die er unab-
lässig im auge hat, die Wehrkraft Deutschlands möglichst schlag-
fertig zu erhalten und dabei doch zugleich die bürgsebaften für
den frieden zu verstärken, sich nur scheinbar widersprechen, in-
folge der politischen Verhältnisse Europas sich sogar aufs engste
berühren.
Was kaiser Wilhelm vermöge seiner thatkraft und unerschrocken
heit, durch freundliches entgegenkommen und Offenheit für Deutsch-
lands machtstellung und für die erbaltung des friedens gewirkt hat,
läszt sich in gegenwart wohl ahnen, aber noch nicht hinreichend er-
messen, dankbar aber wollen wir es zumeist seiner thätigkeit zu-
schreiben, dasz das gewölk, das noch bis vor kurzem drohend am
himmel stand, sich mehr und mehr zu lichten beginnt, und mit ihm
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Altertum und gegenwart im Unterricht
vereint voll innigen dankes und Zuversicht aufblicken zu gott , der
sein bemühen bisher mit erfolg gekrönt hat.
Aber wie der friede , so erfreuen sich auch alle die kostbaren
gtiter des friedens seiner förderung und pflege und nicht zum letzten
die schule, darum sei es mir gestattet, Ihre aufmerksamkeit jetzt
auf einen gegenständ zu richten, der dem weiten gebiete des unter-
richts angehört, zumal ja doch die teilnähme an schule und er-
ziehung uns bei der heutigen feier gerade in diesem räume zusammen-
geführt hat.
Schon seit langer zeit ist for den Unterricht der grundsatz
maszgebend, dasz die verschiedenen Unterrichtsgebiete sowohl im
allgemeinen, als auch ganz besonders wieder auf jeder stufe und in
jeder classe in möglichst enge bezieh ung zu einander gesetzt werden
müssen, und dasz es nicht nur aufgäbe des lehrplanes, sondern auch
aufgäbe eines jeden lehrers ist, dafür sorge zu tragen, dieser grund-
satz hat für den Unterricht im gymnasium infolge der änderungeu,
welche vor wenigen jähren der lehrplan erfuhr, dadurch nur noch
an bedeutung gewonnen, dasz er in den alten lehrplanen von selbst
mehr zum ausdruck kommen konnte, als in den neuen, wie nun
diesem gesiebt spunkt im einzelnen rechnung getragen werden kaun,
wie sich das neue und unbekannte an altes und bekanntes anschlieszen,
letzteres zur erklärung von ersterem verwerten und das Verständnis
für beides durch gegenseitiges vergleichen vertiefen läszt , dies an
einigen beispielen zu zeigen, soll meine aufgäbe sein, da die quelle,
aus der ich hierbei schöpfe, die eigne erfahrung ist, werde ich mich auf
die griechische , lateinische und deutsche litteratur und spräche be-
schränken und in losem zusammenhange solche beispiele anführen,
wie sie sich beim Unterricht in secunda ganz von selbst ergeben.
Ich beginne bei Homer.
Bei dem fest mahl , welches der Phäakenkönig Alkinoos seinem
fremden gaste zu ehren veranstaltet, singt der blinde sänger Demo-
dokos von den kämpfen der Griechen vor Troja ein lied, das den
Achill und Odysseus verherlicht.
aber Odysseus
faszte mit kräftiger band den pnrpnrfarbenen rnantel,
zop ihn über das hanpt und verhüllte sein herliches antlitz,
dasz die Phäaken nicht sähen die quellende thrän' aus den wimpern.
dies bild des Homer hat, wie bekannt, unserin Schiller im Graf
von Habsburg als vorbild gedient; daher die worte:
und verbirgt der thränen stürzenden qnell
in des mnntels purpurnen falten.
weniger bekannt dürfte sein, dasz auch Gustav Freytag im ersten
bände seiner Ahnen ein ganz ähnliches bild gezeichnet hat. die
beiden ersten capitel seines Ingo, die ankunft des beiden beim
Thüringerfürst Answald und das fest mahl, erinnern fast auf jeder
seite an Homer; ganz besonders gilt dies von Ingos erster begegnung
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Altertum und gegenwart im Unterricht
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mit Irmgard, dem herrenkind, die wie Nausikaa in dem umhergetrie-
benen fremdling alsbald den sprosz aus edlem geschlechte erkennt,
von seiner aufnähme beim forsten und dem brauch des gastrechts,
von der ftirstin , die an klugem rat der Arete nicht nachsteht und
dem gastfreunde feines gewand aus den eignen truhen spendet, von
den kampfspielen, der aufforderung an Ingo sich zu beteiligen und
der Verspottung durch einen edlen des landes, den er im wettkampf
ruhmvoll besiegt; kurzum wer tiefer zu blicken versteht, entdeckt
eine ganze reihe von bildera, die selbst in ihrer aufeinanderfolge
den Homerischen gleichen, das letzte in dieser reihe zeigt uns den
Sänger, wiederum preist sein lied den helden, ohne dasz die zuhörer
ihn inmitten der festversammlung vermuten ; wiederum wird durch
die innere erregung des helden seine erkennung herbeigeführt, neu
ist bei Freytag, dasz der sänger dem helden zugleich seine rettung
verdankt; eine ähnliche beziehung hat aber schon Schiller dadurch
zwischen beiden hergestellt, dasz er in freier Verarbeitung seiner
quelle den priester, dem der graf den edlen dienst erwiesen hat, beim
krönungsmahle des grafen im talare des sängers auftreten läszt. fflr
eine Nausikaa war in der ballade von Schiller kein räum; wohl aber
hat Freytag seine Irmgard der phäakischen köuigstochter nach-
gebildet, an dem tage, da Ingo das land der Thüringe betritt, ist
sie, von ihren mägden begleitet, mit dem gespann vom herrenhof
abgefahren, zwar nicht wie Nausikaa zu den waschgruben, um die
w&schü zu besorgen — denn dies motiv würde hier aus naheliegen-
den gründen nicht passen — , aber doch zu ähnlicher arbeit, nach
dem gehöft des rinderhirten , um nach der herde zu sehen und den
gewinn der milchkammer zum herrenbofe zu fahren. Mu kennst sie
leicht heraus', sagt der Wächter, der Ingo führt, und ebenso beiszt
es bei Homer von der Nausikaa: 'sie ist leicht unter allen erkenn-
bar.' mit den gleichen worten rühmt bei Goethe Hermann den
freunden, dem pfarrer und apotheker, die vertriebene Dorothea, für
die sich sein herz so rasch entschieden hat:
'und ihr werdet sie bald vor allen andern erkennen.'
schon vorher, im zweiten gesange, wo Hermann den zug der ver-
triebenen und die jungfrau schildert: 'wie sie die beiden gewaltigen
stiere am wagen mit langem stabe und klüglich leitete', werden wir
an Nausikaa erinnert, die auf der fahrt zur stadt 'gut lenkte und
die geiszel mit klugbeit schwang', doch da ich von Nausikaa rede,
musz ich vor allem der Nausikaafragmente Goethes gedenken, sein
entwurf zu einer tragödie Nausikaa bietet in der vortrefflichen be-
arbeitung von Scherer dem lehrer bei der erklärung Homers ein
hilfsmittel von höchster bedeutung und unvergleichlicher Wirkung,
der plan entsteht 1786 in Italien, wächst und reift im frühjabr des
folgenden jahres auf Sicilien, dessen prangende gestade Goethe —
so wie Odysseus das liebliche eiland der Phäaken — nach heftigem
stürme glücklich erreicht, in einem briefe an Fritz von Stein schreibt
442
Altertum und gegenwart im Unterricht.
er: 'ich wünschte dir, dasz du die blumen und bäume sähest und
wärest mit uns überrascht worden, als wir nach einer beschwerlichen
überfahrt am ufer des meeres die gärten des Alkinous fanden.' gleich
nach seiner ankunft auf Sicilien kauft er sich einen Homer und
schreibt nur wenige tage später (am 16 april 1787) über seine
Nausikaa: 'ich verzeichnete den plan und konnte nicht unterlassen,
einige stellen, die mich besonders anzogen, zu entwerfen und aus-
zuführen/ und am 7 mai bemerkt er in seinem reise tagebuche: rund
so sasz ich, [es war am meere unterhalb des theaters von Taormina]
den plan zu Nausikaa weiter denkend.'
Wie aber der aufenthalt an den Homerischen gestaden in Goethe
jene köstliche frucht seines geistes wachsen und gedeihen liesz , so
hörte ihr weiteres Wachstum auch wieder auf, als er die küsten ver-
liesz, an denen später Preller, dem beispiele seines groszen gönners
folgend, gleichfalls reiche nahrung für seine darstellung der Odyssee
fand, die erhaltenen fragmente Goethes stehen in engster beziehung
zum Homer, vor allem der zweite auftritt, der mit den Worten des
Odysseus beginnt:
Was rufen mich für stimmen aus dem schlaf?
wie ein geschrei, ein laut gespräch der frauen
erklang mir durch die dämin'rung des erwachens? —
sodann der dritte auftritt, in welchen der träum der Nausikaa ver-
woben ist , und der vierte, in dem Nausikaa den garten ihres vaters
schildert, das schöne gleichnis bei Homer am ende des fünften ge-
sanges ist fast wörtlich übersetzt:
Und wie der arme letzte brand
von groszer herdesglut mit asche
des abends überdeckt wird, dasz er morgens
dem hause feuer gebe, lag
in blätter eingescharrt — (ich hier auf unbekannter erde).
ein anderes fragment ist dem elften gesange entnommen, nur mit
dem unterschiede, dasz die worte, welche im epos Alkinous an den
Odysseus richtet, um ihn seines unbedingten Vertrauens zu ver-
sichern, im drama, soweit sich dies wenigstens vermuten läszt, Nau-
sikaa sprechen sollte; das fragment lautet:
Du bist nicht von den trüglichen ,
wie viele fremde kommen, die sieb rühmen
und glatte worte sprechen, wo der hörer
nichts falsches ahnet — .
Aber auch die kurzen andeutungen Goethes Uber die motive, die
er benutzen wollte, sind nicht ohne wert für das Verständnis und die
erklärung des epos; so läszt sich z. b. das innere empfinden der
Nausikaa bei ihrer aufforderung an Odysseus , ihr nicht zur stadt
zu folgen, 'um unholdes geschwätz im volke zu meiden', kaum kürzer
und treffender zum ausdruck bringen als mit folgenden Worten
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Altertum uud gegenwart im Unterricht.
443
Goethes, die sich in einem spätem berichte über seine Nausikaa
finden: 'die bedenklichkeit, den fremden nicht selbst in die Stadt
zu führen, wird schon ein verböte der neigung.' auf welche weise
Goethe den tragischen conflict herbeiführen und den Untergang der
Nausikaa motivieren wollte, kann ich hier fUglich übergehen; aber
erwähnen will ich noch eine bailade von Geibel, die sich an die dra-
matische bearbeitung Goethes von selbst anschlieszt, da sie den tod
der Nausikaa behandelt, als das PhäakenschifF mit Odysseus fern
im abendrot verschwunden ist, schreitet Nausikaa kummerschweren
sinnes zum tempel des Poseidon den felsen hinan, lauscht bangend
hinaus in das dumpfe branden des meeres und fleht zu dem gotte,
des alten grolls zu vergessen, wieder gedenkt sie jener stunde am
Strand :
Da der sturmverschlagne mann
gleich ihr ganzes herz gewann,
jenes abends, da sie mit durstigem ohr seiner rede wohllaut ver-
schlungen, und ihres schönen tranmes, der zerstoben, 'als er sich
Odysseus nannte*, mit schrecken sieht sie, dasz ihr flehn keine er-
hörung findet, dasz Poseidon, noch immer unversöhnt, dem schwer-
geprüften pilger verderben droht; da ruft sie aus:
Wenn dich, erdumfasser,
nur ein opfer sühnen kann,
nimm dies haupt, o fürst der w asser,
für das seine nimm es an!
ein donner aus der tiefe ruft ihr gewährung zu, lächelnd springt sie
in den tod, und der alte fluch ist gebrochen, des gottes zorn gestillt:
Bei des mondesaufgangs helle
schimmernd liegt die tiefe da
und den dulder trägt die welle
sanft im schlaf nach Ithaka.
Im folgenden will ich mehrere einzelne stellen der Odyssee mit
ähnlichen stellen aus andern diebtungen in aller kürze vergleichen,
als Odysseus lange jähre von der Kalypso zurückgehalten wird, sitzt
er des tags am strande 'auf das verödete meer hinschauend, thränen
vergieszend', und verlangt nur 'einmal noch den rauch empor von
der heimischen erde steigen zu sehn und zu sterben', so klagt bei
Goethe Iphigenie auf Tauris :
Denn ach! mich trennt das meer von den geliebten,
und an dem ufer steh' ich lange tage,
das land der Griechen mit der seele suchend.
mit recht hat deshalb Preller den Odysseus in jener für ihn geradezu
typisch gewordenen Stellung auf dem bilde dargestellt, wo ihn
Kalypso entsendet.
Im achten gesange der Odyssee überreicht Euryalos, einer der
edelsten Phäaken , dem gekränkten helden , um ihn zu versöhnen,
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444
Altertum und gegenwart im Unterricht
sein eignes schwert mit den worten: 'ward ein kränkendes wort ja
hingeschwatzt, schnell mögen hinweg es raffen die winde.' dasz der
sprichwörtliche ausdruck 'die winde mögen es forttragen' auch bei
den Römern üblich war, ergibt sich aus einer ode des Horaz, die
also beginnt:
Ein freund der Musen will ich verdrusz und furcht
den ungestümen winden ins Kretermeer
eu tragen geben.
auch uns ist jener bildliche ausdruck nicht fremd; so singt Heine:
Ich wollt', meine schmerzen ergössen
sich all' in ein einziges wort,
das gilb' ich den lustigen winden,
die trügen es lustig fort.
Zu der Schilderung der Charybdis bei Homer finden wir bei
Schiller im Taucher ein allbekanntes gegenbiid , zu der vision des
sehers Theoklymenos , der den freiem bei ihrem letzten schmause
das drohende unheil verkündet, in Wallensteins tod. bevor Theokljr-
menos, der gast des Telemach, den saal und die lärmende Versamm-
lung der frechgesinnten freier verläszt, bricht er in die worte aus:
Schattenbilder erfüllen die flur, erfüllen den rorhof,
die zum Erebos eilen in finsternis.
eine ähnliche vision hat Thekla, ehe sie den mauern der festung ent-
flieht, um zur gruft des geliebten zu eilen:
Nicht ruhe find' ich, bis ich diesen mauern
entronnen bin — sie stürzen auf mich ein —
fortstoszend treibt mich eine dunkle macht
von dannen — was ist das für ein gefühl!
es füllen sich mir alle räume dieses hauses
mit bleichen, hohlen geisterbildern an —
ich habe keinen platz mehr — immer neuel
es drängt mich das entsetzliche gewimmel
aus diesen wänden fort, die lebende!
Wie von Goethe, so kann man auch von Schiller sagen, dasz
sich sein dichterischer genius an den Griechen, vornehmlich an Homer
genährt hat. dasz dies auch in der äuszern form , in der spräche,
bei Schiller zum ausdruck kommt, dafür möge eine kleine blumen-
iese zum beweise dienen. Homer sagt: 'das liegt im schosze der
götter', Schiller in der Glocke :
Ihm ruhen noch im zeitenschosze
die schwarzen und die heitern lose.
und in der Braut von Messina:
Krieg oder frieden! noch liegen die lose
dunkel verhüllt in der zukunft schosze.
der Homerische ausdruck 'jener ist mir verhaszt gleichwie des Hades
pforten' kehrt bei Schiller in der form wieder: 'und werd'ihn hassen
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Altertum und gegenwart im unterriebt
445
wie der hölle pforten.' ebenso wird man an folgenden stellen ohne
weiteres die nachahmung Homerischer redeweise erkennen :
Des edeln Ibergs tochter rühm' ich mich,
des vielerfahrnen manne —
Komm du hervor, du bringer bittrer schmerzen! —
Nur jetzt noch halte fest, du treuer sträng,
der mir so oft den herben pfeil beflügelt! —
Und drinnen waltet
die züchtige hausfrau —
und füllet mit schätzen die duftenden laden, —
und sammelt im reinlich geglätteten schrein
die schimmernde wolle, den schneeigen lein.
Der rinder breitgestirnte, glatte scharen kommen brüllend.
'nebelig* heiszt bei Schiller das meer, im epos rj€poeibr|c; und das
vielbesprochene, weil dunkelsinnige bei wort des meeres örrpurCTOC
wüste ich nicht besser zu übersetzen als mit 'ewig bewegt* nach
jener stelle aus der Braut von Messina:
Oder wollen wir uns der blauen
göttin, der ewig bewegten, vertrauen — ?
Aus Homer stammt auch der ausdnick 'könig Rudolphs heilige
macht'; freilich ist jetzt fast allgemein anerkannt, dasz in den ent-
sprechenden ausdrücken bei Homer für iepöe nicht die abgeleitete
bedeutung 'heilig', sondern die ursprüngliche, mehr sinnliche be-
deutung 'mächtig, stark, rüstig' anzunehmen ist. hieraus ergibt
sich für folgende stellen eine enge beziehung zu Homer :
Schön ist der mutter
liebliche hoheit
zwischen der söhne feuriger kraft,
zu ihm hinauf gesandt hab' ich alsbald
des raschen boten jugendliche kraft.
Wenn wir jetzt Homer verlassen, um zu Xenophon und seiner
Anabasis tiberzugehen, so betreten wir ein ganz anderes, von jenem
weit verschiedenes gebiet : dort sagenhafte handlung, hier wahrhafte,
glaubwürdig überlieferte ereignisse, dort typische Charaktere als
träger der handlung, hier geschichtliche persönlichkeiten, dort die
natur im reichgeschmückten gewande der phantasie, hier im treuen
bilde der Wirklichkeit, mit einem worte dort dichtung, hier Wahr-
heit unter führung und leitung des liebenswürdigen, feingebildeten
Atheners, dessen seelenadel, feldherrnruhm und geistige bedeutung
noch beute nach mehr als zweitausend jähren im hellsten lichte
strahlt, nehmen wir teil an dem zuge des griechischen Söldnerheeres,
durchwandern einen groszen teil Kleinasiens und lernen dabei land
und leute, sitten und gebräuche kennen.
Da nun unser lehrplan für die secunda auch die leetüre der rede
Ciceros ansetzt, in welcher der berühmte redner den Pompejus als
446
Altertum und gegenwart im Unterricht.
oberfeldheim im kriege gegen den pontischen könig Mithridates
empfahl, trifft es sieb, dasz wir fast dreiundeinhalb jahrhundert nach
Xenopbon wieder Kleinasien betreten zu einer zeit, als Rom die weit
beherschte. und als einen ganz besondern glücksumstand für uns
möchte ich es bezeichnen, dasz der gröste Stratege der neuzeit, unser
Moltke, mehrere jähre (1835 — 39) in einfluszreicher Stellung in der
Türkei, besonders in Kleinasien zugebracht und seine beobachtungen
und erfahrungen, entdeckungen und Unternehmungen in einem an-
ziehend geschriebenen, überaus lehrreichen buche veröffentlicht hat.
In welcher weise sich die beziehungen , welche zwischen den
drei erwähnten Schriftwerken, besonders zwischen der Anabasis des
Xenophon und den briefen Moltkes bestehen, für den Unterricht ver-
werten lassen , will ich an einigen beispielen andeuten.
Im ersten buche seiner Anabasis erzählt Xenophon, wie die
Soldaten des Kyros nach beschwerlichen märschen durch die wüste
Mesopotamiens aus der stadt Charandre, die am rechten ufer des
Euphrat liegt, während das heer das linke fluszufer entlang zieht,
auf scblauchflöszen lebensmittel und proviant herüberholen, das-
selbe berichtet er im zweiten buche von den Soldaten des Tissa-
pherne8, als die Griechen auf dem rückzuge unter fühmng des treu-
losen Persers der stadt Känä gegenüber am östlichen ufer des Tigris
lagern, und am ende des nächsten buches lesen wir, wie ein Rhodier
dem feldherrn der Griechen den Vorschlag macht, mittelst 2000
Schläuchen eine brücke über den Tigris herzustellen und so das heer
Uber den flusz zu setzen.
Gewis wird jeder, der die Anabasis liest, mit interesse hören,
dasz noch heutzutage die bewohner Mesopotamiens auf schlauch-
fiöszen, welche sie keleks nennen, oft schwere lasten den Euphrat
und Tigris stromabwärts fortschaffen, aber mit doppeltem interesse
wird ein schüler eines deutschen gymnasiu ms es vernehmen, dasz
der spätere generalfeldmarschall Moltke auf einem solchen flosz die
Stromschnellen des Euphrat in der bis dahin noch unbekannten
gegend seines Taurusdurchbruchs und den noch ebenso wenig er-
forschten obcrn lauf des Tigris von Diarbekir bis Mosul befahren
hat, und dasz ihm dann auch der versuch gelungen ist, auf keleks ge-
schtitze und munitionswagen für die türkische armee zu befördern,
auch die armenischen dörfer, in deren unterirdischen räumen sich
die zehntausend Griechen von den Strapazen des harten winters
wieder erholten, fehlen bei Moltke nicht: in dem einen briefe er-
zählt er von einer Ortschaft, Uber welche ihre ganze karawane im
fröhlichen trabe geritten sei, und bald darauf von einem dorfe, dessen
zweihundert häuser unter einem dache oder vielmehr unter einer
einzigen terrasse sich befanden.
In seinen berichten über die zustände im ottomanischen reiche
bebt Moltke des unwesen der Steuer Verpachtung hervor; er schreibt:
'der verkauf der ämter bleibt die grosze hauptquelle der staats-
einnahme. der candidat borgt den kaufschilling zu hohen procenten
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Altertum und gegenwart im Unterricht.
447
bei einem armenischen handelshause, und die regierung überläszt
diesen generalpächtern, ihre provinzen auszuplündern, wie sie wollen,
um zu ihren kosten zu kommen, die provinzen wissen im voraus,
dasz der neue pascha komme, um zu rauben; sie waffnen sich daher,
es werden Unterhandlungen gepflogen; wo kein abkommen getroffen
wird, ist krieg, und wo es gebrochen wird, aufruhr.' setzen wir für
den pascha den römischen Statthalter ein, so passt diese Schilderung
fast wort für wort auf die traurigen zustände, die einst unter römi-
scher herschaft in den provinzen bestanden; und mit ganz ähnlichen
worten schildert Cicero in der genannten rede die bedrückungen,
welche sich die römischen beamten in Kleinasien zu schulden kom-
men lieszen, um zu beweisen, dasz man in jene so ausgeplünderten
länder einen mann von der enthaltsamkeit und mäszigung des Pom-
pejus schicken müsse, ferner erwähnt Moltke, dasz die Pforte in
weiten 1 änderstrecken des reiches gar keine autorität besitze, und
berichtet von seiner teilnähme an kriegszügen gegen die Kurden, die
vor allen volksstämmen der Pforte trotzen, diese worte passen wieder
auf die einstigen zustände im Perserreiche, wie sie Xenophon aus
eigner erfabrung kennen gelernt hat; unter andern gebirgsvölkern
haben auch die Karducben, die wir wohl als die vorfahren der heuti-
gen Kurden ansehen dürfen, gegen die Perser ihre freiheit gewahrt,
und die gefangenen der Griechen wissen dem Xenophon davon zu
erzählen, dasz einst ein königliches heer von 120 tausend mann
in den bergen der Karduchen bis auf den letzten mann vernichtet
worden sei.
Wenn wir uns nun die frage vorlegen , wie es die zehntausend
Griechen erreicht haben, sich den durchzug durch das alpenland der
Karduchen zu erzwingen und ebenso alle bindernisse und Schwierig-
keiten, die ihnen auf dem rückzuge in den weg traten, siegreich zu
überwinden, die beere der Perser wie die Streitkräfte kriegerischer
volksstämme , hohe gebirgszüge, schneebedeckte hochebenen und
reiszende ströme, unwetter, eisige kälte und winterstürme, hunger
und not und entbehrungen aller art, so wird auf diese frage keine
andere antwort zulässig sein als die, dasz dies unvergängliche ver-
dienst in erster linie dem Xenophon gebührt, freilich er selbst würde
uns in frommer demut auf die götter hinweisen, als deren Werkzeug
er sich betrachtete, dieser tief religiöse sinn des kampfesfreudigen,
nie verzagenden kriegshelden leuchtet uns aus allen seinen thaten,
aber auch aus seinen worten hervor, mehrfach begegnen uns in
seiner Anabasis gedanken und aussprüche, die an bekannte bibel-
stellen erinnern, ich erwähne nur folgende, aus dem zweiten buche:
'wer sich bewust ist, die eidschwüre bei den göttern verletzt zu haben,
den möchte ich nimmermehr glücklich preisen, und wäre er noch
so schnell, der räche der götter könnte er nicht entfliehen; welche
finsternis könnte ihn bergen, wie eine feste ihn schützen?' aus dem
dritten buche: 'die götter sind im stände, die groszen schnell zu er-
niedrigen und die geringen selbst aus groszen nöten leicht zu er-
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448
Altertum und gegenwart im Unterricht
retten.' aus dem sechsten buche: 'es ist wohl eine fügung dergott-
heit und ihr wille, jene für ihren hochmut zu demütigen, uns aber,
die wir alles mit den göttern anfangen, vor jenen zu ehren.'
Ich stehe am ende meiner betrachtung. nicht ohne absieht habe
ich bei Homer den so nahe Hegenden vergleich mit Vergil bei seit«
gelassen, da es mir vor allem darauf ankam, die beziehungen zur
deutschen litteratur und zur gegenwart hervorzuheben.
Noch einmal sei es mir gestattet, bis in das altertum zurück-
zugehen. Herodot berichtet wiederholt von der Verehrung, welche
die Griechen ihren landesheroen erwiesen, und von der frommen
sitte, sie in Zeiten der not um beistand anzurufen, die Spartaner
führten auf ihren heereszügen die bilder der beiden Tyndariden
Kastor und Pollux mit, zum zeichen, dasz diese in ihren reihen
stritten, die Delphier erzählten, dasz die barbarenschar, welche
nach der schlacht bei Tbermopylae auszog, um das berühmte heilig-
tum zu plündern, von den göttern durch furchtbares unwetter und
von ihren landesheroen unter gewaltigen Schwertstreichen vertrieben
worden sei. vor der schlacht bei Salamis beschlossen die Griechen,
zu den göttern zu beten und die Äakiden als mitstreiter im kämpfe
gegen die barbaren anzurufen, diese fromme sitte der Griechen
liegt uns näher, als mancher wohl denkt, spricht nicht die gleiche
ansebauung, der gleiche glaube aus Körners begeisterten versen in
seinem 'auf ruf* von 1813?
Die märtyrer der heilten deutschen sache,
oft ruft sie an als genien der räche ,
als gute engel des gerechten kriegs!
Luise , schwebe segnend um den gatten!
geist unsere Ferdinand, voran dem zng!
und all' ihr deutschen freien heldenschatten,
mit uns, mit uns und unsrer fahnen Aug!
und als knapp vor zwei jähren kaiser Wilhelm eingegangen war zu
seinen vätern und die deutschen dichter unserer zeit ihre trauer-
umflorte lyra ertönen lieszen , da sang Wildenbruch :
Und wenn die trommeln rufen
die männer zum gewehr,
dann geht der alte kaiser
lebendig vor uns her.
und Scherenberg:
Es lebt dein bild, es lebt dein wort
und wirkt durch unermess'ne Zeiten:
du wirst als lichter held und hört
fortan in unsern reihen streiten.
Also auch wir haben unsere heroen. ihr altar , ihr bild ist in
unserer erinnerung, in unserm herzen, in friedlichem zuge sehen
wir sie am heutigen tage aus ihren lichten höhen nahen und segnend
die hand erheben über dem haupte des dritten deutschen kaisers. wir
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Putsche-Schottmüller: lateinische schulgrammatik.
449
aber wollen bittflehend die hände znm allmächtigen emporheben:
'möge er unsern kaiser, Wilhelm den zweiten, samt seinem ganzen
hause auch fernerhin in seinen mächtigen schütz nehmen, mit Weis-
heit ihn rüsten , mit starker hand führen und alle seine werke in
gnaden gedeihen lassen!'
Mit dieser bitte wollen wir das gelübde verbinden, unser m
kaiser und unserm landesfürsten die treue zu wahren und sie da-
durch zu bethätigen, dasz wir ein jeder nach besten kräften treu
unsere pflichten erfüllen, dies gelübde wollen wir in die worte zu-
sammenfassen :
Mit gott für fürst und Vaterland !
Mit gott für kaiser und reich !
Weimar. Redslob.
42.
Putsche - Schottmüllers lateinische schulgrammatik.
dreiundzwanzigste auflage. unter mitwirkung von dr.
Fr. Heü8sner neu bearbeitet von dr. B. Heil und
dr. H. Schmitt. Hannover 1889. norddeutsche verlagsanstalt
0. Goedei. VIII u. 278 s. 8.
Vorliegende grammatik will nicht eine einfache wiederauflage
des alten werkes sein, sondern eine 'gänzliche Umarbeitung' nach
gesichtspunkten, welche auch der unterzeichnete für richtig hält. 1
Wie in andern neueren grammatiken haben die verf. nur das
wichtigere und häufiger vorkommende aufgenommen auf grund einer
thunlichst sorgfältigen feststellung des Sprachgebrauchs Caesars und
Ciceros. sie hätten jedoch meines erachtens noch mehr ausscheiden
können ; namentlich Stegmann , doch auch Harre ist ihnen an kürze
und knappheit überlegen, ferner haben sie — ebenfalls in Überein-
stimmung mit andern grammatiken — die lehraufgaben für die ein-
zelnen classen durch den druck geschieden, aber wie unübersicht-
lich ist dadurch für den sextaner die formenlehre, für den quartaner
die Satzlehre geworden ! auf ganzen seiten sind zuweilen nur zwei
bis drei zeilen zu lernen, andere Seiten müssen ganz tiberschlagen
werden, auch mitten im satze oder im regelverse wird abgebrochen,
z. b. s.42 gehört der satz 'iste und ipse folgen der declination von
ille' von dem worte ipse an der sexta, bildet also für den sextaner
nicht einmal eine richtige construetion. der regelvers 'adaequo,
sequor, fugio — deficio, iuvo, adiuvo — ulciscor, sector,
imitor — adulor sowie aemulor' ist bis ulciscor einschliesz-
1 vgl. das 3e heft der Schriften des einheitsschulvereins, welches
auch die verf. selbst anführen, und die lehrproben und lehrgUnge heft 20
und 22.
N. jahrb. f. phil. a. pid. II. »bt. 1891 hft. 8 a. 9. 29
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450
Putsche-Schottmüller: lateinische achulgrammatik.
lieh der quarta zugeteilt, entbehrt also für den quartaner des rhythmi-
schen abschl as8e8. überhaupt wird die grammatik durch den ver-
schiedenen druck so bunt, dasz an benutzung des ortsgedächtnisses
kaum zu denken ist. sollte es nicht richtiger sein, dem schüler über-
haupt nicht eine grammatik für die ganze schule in die band zu
geben, sondern sie in zwei stufen zu zerlegen, eine untere, die
wesentlich lernbuch sein und das nötigste in der knappen fassung
enthalten müste , welche für die classen bis ober tertia angemessen
ist, und eine obere für secunda und prima, die teils wiedtrholungs-
buch , teils nachschlagebuch wäre ? beide m listen natürlich genau
derselben anordnung folgen und die zweite den te*t der ersten ganz
wiedergeben, nur mit Zusätzen und erläuterungen. dann würde der
schüler in der gTammatik besser heimisch, als wenn er nur ein buch,
aber eines, das ihn anfangs stets verwirrt, durch alle classen benutzt.
Doch dies ist etwas äuszerliches. viel tiefer greift in das wesen
der beabsichtigten reform die anordnung des gesamten Stoffes
ein, welche die Verfasser gewählt haben, ich finde darin einen nicht
geringen fortschritt. um über die meist noch übliche nach der lateini-
schen form geordnete Zusammenstellung von regeln zu einer möglichst
wissenschaftlichen Satzlehre fortzuschreiten, ist der syntaktische teil
derPutsche-Schottmüllerscben grammatik gänzlich umgearbeitet und
einer lehre vom gedanken und seinem ausdruck im satze
nahe gebracht, die einteilung ist die nach den Satzarten und Satz-
teilen; zuerst kommt in abschnitt III der Satzlehre der einfache satz,
und zwar A. die teile des einfachen satzes und B. die arten des-
selben, dann im vierten abschnitt die lehre von der beiordnung und
im fünften die lehre vom zusammengesetzten satze. dagegen enthält
der zweite abschnitt der Satzlehre eine lehre vom verbum und seiner
bedeutung für den satz (d. h. eine moduslehre , tempuslehre usw.),
und die zusammenfassenden Übersichten s. 145 und s. 148 geben
eine lehre vom gebrauche des genitivs und ablativs. darin liegen
anfange zu einer lehre von der bedeutung und dem gebrauche
der formen, welche von der eigentlichen Satzlehre ganz getrennt
und mit der lehre von der bildung der formen vereinigt werden
sollte, wie unnatürlich die gegenwärtig in den grammatiken durch-
geführte Scheidung dieser beiden teile ist, verrät sich darin, dasz
häufig doch wieder vieles aus der sogenannten syntax in der formen*
lehre vorweggenommen zu werden pflegt, man vgl. z. b. die für-
worter in Knebel- Probsts französischer grammatik. Heil hat mit
recht weit mehr, als sonst zu geschehen pflegt, von der bedeutungs-
lehre in die formenlehre aufgenommen , z. b. im musterbeispiel für
die conjugation 8. 48 ff. und den Vorbemerkungen dazu s. 45, bei
den Zahlwörtern s. 38, ferner s. 62 und 63. 97. 98 usw.; umgekehrt
ist die form der conjunetionen in der Satzlehre erörtert, z. b. s. 223.
226 usw. so ist die unnatürliche trennung der formenlehre von der
bedeutungslehre wenigstens teilweise aufgehoben, es wäre nun zu
wünschen, dasz in einer folgenden aufläge diese richtung weiter ver-
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Putsche-Schottmüller: lateinische schulgrammatik. 451
folgt und die einteiluDg in wort- und Satzlehre ersetzt würde durch
die unseres er achtens allein richtige dreiteilung: lehre von den lauten
und ihrer Schreibung, lehre von der bildung und der bedeutung der
formen, lehre von dem gedanken und seinem ausdruck im satze.
über die begründung dieser einteilung habe ich eingehend in den
schriften des einheitaschulvereins heft III 8. 35 ff. und lehrproben
heft 20 s. 67 ff. gesprochen, in dem mittleren teile kann man ent-
weder bei jeder hauptgruppe der formen deren bedeutung und ge-
brauch gleich mit behandeln, wie es z. b. Peters in seiner kleinen
französischen grammatik gethan hat, oder erst die bildung aller for-
men darlegen und dann in derselben reihenfolge die gesamte be-
deutungslehre folgen lassen, vielleicht ist die zweite möglichkeit
wenigstens für jetzt vorzuziehen, weil sie gestattet, der üblichen
anordnung ziemlich nahe zu bleiben, die grammatik zerfiele dann
also in: I. laut und schrift, II. formenbildung, III. bedeu-
tungslehre, IV. lehre vom gedanken und seinem aus-
druck im satze (satzlehre). nur bei dieser oder einer ähnlichen
einteilung würden die Vorzüge der von Schmitt gewählten anord-
nung der satzlehre gewahrt und zugleich die von ihm selbst hervor-
gehobenen nachteile der zerreiszung der genitiv- und ablativregeln,
der infinitiv-, particip- und gerundiumregeln, der regeln über die
pr&positionen und über quod7 vermieden werden können.
Als höheren gewinn erwarten die verf. mit recht von der neuen
anordnung der satzlehre die 'allmähliche erkenntnis der mittel, durch
welche das deutsche und lateinische, bald übereinstimmend, bald
abweichend von einander, im satze den gedanken zum ausdrucke
bringen'; auszerdem werde 'durch die vergleichende behau dl ung der
deutschen und lateinischen grammatik ein fester bestand von gram-
matischen kategorien gewonnen, welche für alle schulsprachen gelten,
und so der weg zu einer parallelgrammatik aller schul-
sprachen gebahnt'.
In diesen gedanken liegt der kern der von den verf. erstrebten
neugestaltung des grammatischen Unterrichts, denn wenn wir der
grammatik ihre achtung erhalten bzw. zurückgewinnen wollen, so
kann dies nur dadurch geschehen, dasz wir den grammatischen Unter-
richt seines mechanischen und äußerlichen Charakters entkleiden und
ihn zu einer Werkstatt des denkens erheben, von den einzelerschei-
nungen müssen wir zu den darin waltenden allgemeinen begriffen
und gesetzen aufsteigen, möglichst viele einzelregeln auf die ihnen
zu gründe liegenden principien zurückführen, soweit möglich sollen
nur diese gelernt , alles übrige in so sichere Verbindung damit ge-
bracht werden, dasz die Schüler es vorkommendenfalls selbst wieder
daraus abzuleiten vermögen, eine solche allgemeinsprachliche bil-
dung wird aber am leichtesten gewonnen, wenn man mehrere spra-
* auch die tempns- und moduslehre ist nirgends zusammengefaszt,
die zeitbedeutung der infinitive und participien ist »ehr unvollständig
dargestellt
29*
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452 Putsche-Schottniüller: lateinische schulgrammatik
chen vergleicht, zunächst das deutsche und das lateinische, dann die
übrigen schulsprachen mit jenen und unter einander, die Verfasser
haben überall danach gestrebt, das Verhältnis des deutschen zum
lateinischen hervortreten zu lassen ; so auch in abschnitt I der Satz-
lehre (= grammatisch stilistische Vorbemerkungen), der übrigens
teilweise wohl nicht in eine grammatik, sondern in eine stillehre ge-
hört, dabei scheint mir mehrfach das streben, die Vorzüge des latei-
nischen deutlich zu machen, zur Ungerechtigkeit gegen das deutsche
zu führen, wenn z. b. bei Caesar pontem fecit = 'Caesar liesz
die brücke schlagen' die kürze des lateinischen gelobt wird, warum
dann nicht die kürze des deutschen, sondern die genauigkeit des latei-
nischen bei Caesar animos militum confirmavit = 'Caesar
ermutigte die Soldaten'? auch wird die anlehnung an das deutsche
keineswegs immer ganz ausgenutzt, ich wähle eine regelgruppe, bei
der sich auszerdem noch der doppelte mangel zeigt, dasz das zu
gründe liegende allgemeine princip nicht hervorgehoben ist, und
dasz sie ihre rechte stelle im System noch nicht gefunden hat. beide
fehler teilt übrigens die vorliegende grammatik mit allen andern
mir bekannten, überall nemlich wird der schein erweckt, als sei die
sog. congruenz etwas eigentümlich lateinisches, tiberall werden
eine menge unnötiger einzelregeln gegeben , überall nicht gehörig
an das deutsche angeknüpft3, überall bildet die congruenzlehre einen
ersten teil der syntax, ohne dasz ihr Verhältnis zu den übrigen deut-
lich würde, in der oben gegebenen anordnung der grammatik würde
sie ihren richtigen platz leicht finden, nemlich am schlusz der dritten
abteilung (= bedeutungslehre) ; denn sie enthält eine gesamtbedeu-
tung , welche alle declinations- und conjugationsformen noch neben
der jeder einzelnen eigentümlichen besitzen, das allgemeine sprach-
liche gesetz, welches den einzelnen congruenzregeln zu gründe liegt,
läszt sich etwa so ausdrücken : die Zusammengehörigkeit auf einander
zu beziehender Satzteile wird in allen sprachen, soweit es möglich ist,
durch Übereinstimmung der form ausgedrückt, dieses princip müste
an die spitze der congruenzlehre treten und dann durch eine reihe
von beispielen erläutert werden , in welchen die hauptanwendungen
hervorträten, diese sind im lateinischen : die Zugehörigkeit des prä-
dicats zum subject, des attributs, auch des prädicativen , zu seinem
beziehungswort, des selbständigen pronomens (relativs, demon-
strativs, Personalpronomens usw.) zu dem wort, worauf es deutet4,
auch des hervorgebrachten objects zu dem leidenden in Sätzen wie
Laelium facit admirantem. weiter wäre dann hinzuzufügen:
deutsch und latein stimmen in der anwendung dieses gesetzes im
ganzen tiberein; doch kann 1) das lateinische die zusammengehörig-
8 vgl. Waldeck fdie didaktische formgebang in der altsprachlichen
grammatik', lehrproben heft 17 s. 8 ff.
4 nebenbei bemerkt: ein neuer grund, weshalb man pronomen gut
durch deutewort übersetzt, vgl. weiter unten über die Verdeutschung
der grammatischen kunstsprache.
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Putsche-Schottmüller: lateinische schulgrammatik.
453
keit häufiger und genauer durch formengleichheit bezeichnen, und
2) richtet sich ein pronomen als subject nach dem prädicatssub-
stantiv , auf welches es hindeutet , während es im deutschen in das
neutrum sing, tritt, das lateinische verfahrt also dem princip ge-
mäsz; denn in Sätzen wie haec est mensa mea deutet das demon-
strativ auf den im prädicatsnomen genannten gegenständ hin; das
deutsche dagegen durchbricht das allgemeine gesetz. 3) endlich
richtet sich die person des verbs im relativsatze nach der person,
anf welche das relativ zurückweist (wie im französischen), hier sub-
stituiert sich dem deutewort (pronomen) unwillkürlich die Vorstel-
lung, auf welche es hindeutet, und danach richtet sich dann das verb.
am schlusz der congruenzlehre könnten vielleicht noch einige an-
merkungen folgen, z. b. über id quod und sätze wie quid est
libertas?
So wie in der congruenzlehre mtiste überall auf die Überein-
stimmung oder abweichung des lateinischen und deutschen von ein-
ander hingewiesen werden, damit der schüler bei der aneignung des
neuen vom bekannten ausgehe und nicht das, was er aus seiner eignen
spräche schon weisz, als etwas der fremden spräche eigentümliches
noch einmal lerne, nur durch solche vergleichende behandlung läszt
sich mit einer bedeutenden Vereinfachung der grammatik zugleich
eine Vertiefung der sprachlichen bildung erreichen, nur so kann die
erlernung fremder sprachen für eine klare erkenntnis der mutter-
sprache völlig ausgenutzt werden, in vielen regelgruppen wird die
vergleichung ebenso wie in der congruenzlehre keine gesonderte Zu-
sammenstellung des deutschen Sprachgebrauchs nötig machen, bis-
weilen jedoch, namentlich in schwierigen abschnitten, sollte man
sich auch davor nicht scheuen, so hat Hugo Weber in seiner latei-
nischen syntax dem abschnitt über die abhängige rede die regeln
über deren gebrauch im deutschen vorausgeschickt, und in meiner
vergleichenden tempuslehre habe ich im 22n hefte der lehrproben
ebenfalls eine deutsche tempuslehre als grundlage für die behand-
lung der übrigen sprachen an die spitze gestellt.
Um auch die erlernung der laut- und formenlehre nach mög-
lichkeit des mechanischen Charakters zu entkleiden, hat Heil in dieser
die wichtigsten sicheren ergebnisse der neueren sprach-
wissenschaftlichen forschung berücksichtigt, dadurch ist
es viel leichter geworden , die so fruchtbare vergleichende behand-
lung der schulsprachen auch auf diese teile der grammatik anzu-
wenden.
Vor allem hat die lautlehre vor grammatiken wie die von Harre
oder Stegmann den vorzug gröszerer wissenschaftlichkeit, sie beruht
vorzugsweise, zum teil mit wörtlicher anlehnung, auf Seelmanns
ausspräche des lateinischen , geht jedoch in dem abschnitt Über die
Silbentrennung (vgl. Seelmann s. 139) für die schule zu weit, silben-
teilungen wie do-ctrina lassen sich schwerlich einüben, und wenn
es möglich sein sollte, so lohnte es jedenfalls der mühe nicht es ist
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454
Putsche-Schottmüller: lateinische schulgrammatik.
schon sehr viel gethan , wenn man das in § 3 geforderte und eine
richtige ausspräche der Sprechdauer («— quantität) der vocale in
nicht positionslangen silben wirklich erreicht, sehr zu billigen ist
die einteilung der laute nach ihrer hervorbringung (§ 2), welche
auch den vergleich mit den andern sprachen leicht macht; nur
würde ich das h, ch, ph und th ganz aus der Übersicht entfernt,
nicht blosz eingeklammert und mit Vietors phonetik1 s. 128 den
aus druck mittellaute und noch mehr dessen gleichsetzung mit
liquidae gemieden haben, das gaumen - n gehört mit m und n zu
den nasalconsonanten , r und 1 sind teilschlieszlaute. statt
klapplaute ist ein bezeichnenderer ausdruck sprenglaute; auch
für reibelaute wäre zwänglaute treffender, leider ist aber
ersterer ausdruck schon sehr gebräuchlich geworden und schwer zu
verdrängen.8
Die benutzung der sicheren ergebnisse der Sprachwissenschaft
hat weiter zu einer besseren anordnung der declination geführt,
welche auch die vergleichung mit dem griechischen sehr erleichtert,
auf die a - declination folgt die e- declination, die u- declination ist vor
die consonantische und i-declination getreten, noch mehr würde es
freilich der im lateinischen allmählich durchgeführten ausgleichung
der declinationen entsprechen, wenn die u -declination ebenso wie
die i-declination mit der consonantischen ganz zu einer gruppe ver-
einigt wäre, damit wäre auch eine fast vollständige Übereinstim-
mung der griechischen und lateinischen declination erreicht, wie ich
in den Schriften des deutschen einheitsschulvereins heft III s. 29 ff.
ausgeführt habe, namentlich die genitive bewirken ja eine Schei-
dung der gesamten lateinischen declination in zwei gruppen : die a- ,
e- und o-declination auf der einen, die consonantische, i- und u-decli-
nation auf der andern seite. sieht man von den wenigen pluralen
der e-declination ab, welche der zweiten und ersten gruppe zugleich
angehören, so trifft hiermit auch die Verschiedenheit der bildung des
nominativs und des dativ-ablativs pluralis zusammen, wissenschaft-
lich ohne grund und unzweckmäszig scheint mir die Scheidung der
declination der adjective von der der Substantive ; Harre vereinigt
mit recht beide Wortarten unter den einzelnen declinationen.
Die regel über die bildung der steigerungsformen von Wörtern
wie acer und den fünf Wörtern facilis usw. verleiten den schüler
ohne not zu dem fehler, den Superlativ vom nominativ des positiv 8
zu bilden, die regeln sollten lauten: fünf adjective auf -i Iis hängen
im Superlativ -limus (statt -issimus) an den wortstock, die ad-
jective auf -er und vetus hängen -rimus an den wortstock, wenn
aber der wortstock auf r mit einem consonanten davor ausgeht , so
wird zur erleichterung der ausspräche ein e vor dem r eingeschoben,
z. b. wortstock acr-, Superlativ ac-e-r- rimus.
5 zu den oben gegebenen namen für r nnd 1, die matae and spirantes,
vgl. naturwiis. wocheoschr. 1889 nr. 32 s. 253.
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Putsche-Schottmüller : lateinische schulgrammatik. 455
Die lehre von der conjugation zeigt ebenfalls in der gruppierung
der formen wie in der erklärung ihrer bildung den einflusz der Sprach-
wissenschaft ; doch fällt auf, dasz der supinstamm auf o statt u (z. b.
laudäto-) angegeben und präsensformen nicht mit dem von Perthes
eingeführten richtigeren namen durativ oder dauergruppe, son-
dern mit präsensstammgruppe bezeichnet sind, auch wären falsche
Übersetzungen wie die des inf. fut. act. durch "loben werden' (statt
'wollen') und des inf. fut. pass. durch 'werden gelobt werden' zu
beseitigen; ebenso in den ersten personen umschreibender formen
(z. b. laudätus, a, cm s um) die neutralform des partieips.
Der letzte bedeutende grundsatz, dessen durchfahrung Heil und
Schmitt anbahnen wollen, ist der der Verdeutschung der gram-
matischen kunstsprache. von einer folgerechten ersetzung
aller lateinischen benennungen durch deutsche haben sie allerdings
mit recht abstand genommen , auch haben sie oft die lateinischen
Wörter noch neben den deutschen angewendet denn es gilt, allmäh-
lich an das neue zu gewöhnen ; wollte man alles auf einmal erreichen,
so würde man wahrscheinlich gar nichts gewinnen, welche fremd-
sprachlichen ausdrücke man nun ausscheiden, welche wenigstens vor-
läufig behalten soll , wird im einzelnen immer dem personlichen er-
messen überlassen bleiben müssen, ich gestehe aber, daaz mir auch
einige allgemeinere gesichtspunkte in der vorliegenden grammatik
nicht genügend beachtet scheinen.
So sollten doch vor allem fremdsprachliche kunstausdrücke
weggelassen werden, die überhaupt überflüssig sind, wozu z. b.
substantiva mobilia, commünia und epicoena (s.6), abun-
dantia, indeel I näbil ia, defectlvamit ihren Unterabteilungen
und anömala (s. 17), singuläria tantum, plürälia tantum
(s. 18)? ferner sind leicht übersetzbare lateinische kunstwörter fest-
gehalten , auch wenn die Verdeutschungen schon häufig genug ge-
braucht werden, so z.b. s. 145 ablativus separativus, causae,
mensurae, modi. wichtiger aber ist, dasz der grundsatz, zunächst
nur solche Verdeutschungen anzunehmen, die die Sache
besser bezeichnen als das lateinische wort, ziemlich häufig
verletzt ist. wo das deutsche wort nicht mindestens ebenso klar,
scharf und treffend ist, wie das fremde, erfüllt es ja gerade den von
den Verfassern hervorgehobenen zweck nicht, den schüler zu lehren,
dasz er 'beim gebrauche der grammatischen kunstausdrücke mehr
als bisher an den sinn derselben denke', also behalte man die frem-
den kunstwörter überall bei , so lange man noch kein einwandfreies
deutsches wort dafür hat. ich will an einigen beispielen zeigen, dasz
dieser grundsatz nicht selten von den Verfassern vernachlässigt ist,
und verbinde damit auch einige den inhalt der grammatik betreffende
bemerkungen, welche sich leicht an die namen anschlieszen lassen.
Grundlegend ist für die gesamte grammatische namengebung
die bezeichnung der Wortarten, Satzteile und Satzarten, sehr zu
billigen ist die einführung von gegenstände wort für Substantiv
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45G
Putsche-Schottmüller: lateinische schulgrammatik.
(schriften des einheitsschulvereins III s. 19), zumal dieses wort auci
die beziehung des Satzteiles zur wortart durch sein Verhältnis za
Satzgegenstand («= subject) deutlich macht; dagegen wäre v erb
besser beibehalten statt zeit wort, da dieser ausdruck weder dis
wesen der wortclasse noch die beziehung zum Satzteil richtig be-
zeichnet in beiden rücksichten scheint mir die einzig angemessene
Verdeutschung von verbum aussagewort, d.h. das eine sati-
aussage bildende wort, zu sein.6 auch pronomen würde ich nicht
durch für wort ersetzen, sondern so lange beibehalten, bis der das
wesen treffender bezeichnende ausdruck deutewort sich einge-
bürgert hat. die Zusammenfassung der gegenstands- und besehaffen-
heits Wörter in der gröszern gruppe der nomina ist vielleicht über-
haupt Uberflüssig, wenn man pronomina nicht durch fürwörter ver-
deutscht; jedenfalls darf aber nicht der nur wörtlich übertragende
ausdruck nenn w o rt an stelle von nomen gesetzt werden, dagegen
würde ich die Zahlwörter nicht mit Heil als einen f an bang zu den
nomina1 geben, weil sie der form nach teils adjective oder Substan-
tive, teils aber auch adverbien sind, sondern auch hier folgerichtig
nach dem sinn der wortclassen ihre benenn ung und ihre Stellung
im grammatischen System bestimmen, dann aber zeigt sich, dasz
sie als formwörter (im gegensatz zu den vollwörtern, wenn
der ausdruck erlaubt ist) mit den deutewörtern (pronomina) zu
einer gröszern gruppe zusammengehören, über die weitere ein-
teilung der deute Wörter und Zahlwörter habe ich in den schriften
des einheitsschul Vereins heft III gesprochen; dort habe ich mich
auch für einordnung des artikels unter die deute Wörter bzw. Zahl-
wörter erklärt und werde auch durch Lyons ausftihrung im pro
gramm der Annenschule zu Dresden 1890 nicht davon überzeugt,
dasz dies unrichtig sei. übrigens würde ich statt ein teil ungs-
zahlen bei Heil lieber Verteilungszahlen oder vielleicht noch
richtiger wiederholungszahlen sagen, jedenfalls aber nicht die
weitere einteilung der Zahlwörter teils nach dem sinn, teils nach der
form machen; also nicht neben grund-, ordnungs- und einteilungs-
zahlen als vierte classe: Zahladverbien, sondern v er viel •
fachungszahlen. erst innerhalb dieser vier classen müste nach
der form weiter geteilt werden ; dann würde alles zusammengehörige
deutlich als solches hervortreten, Zahladverbien wie primum,
iterum würden als zweite spalte zu den Ordnungszahlen, zahl-
adjectiva wie simplex, duplex als erste spalte zu den verviel-
fachungszahlen treten, ein besonderer paragraph wie 43 über die
einteilung der Zahlwörter wäre neben der Übersicht ganz unnötig.
In der Verdeutschung der Satzteile (§ 148) nimmt Schmitt
eine unklare mittelstellung zwischen Kerns auffassung und der bis-
her üblichen ein. will er den kunstausdruck subjectswort in Kerns
6 daneben könnte meines erachtens höchstens noch thätigkeits-
wort gewählt werden, aber nicht Zeitwort, schriften des einheitsschnl-
vereins III s. 19 mit aum. 16.
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Putsche- Schottmüller: lateinische schulgrammatik. 457
sinne anwenden, so kann er nicht das subject entweder in der
verbalform enthalten sein oder durch ein besonderes subjectswort,
bestimmt sein lassen, sondern es ist stets in der verbal form ent-
halten und kann auszerdem noch durch ein subjectswort bestimmt
werden oder nicht, auch bleibt Schmitt nicht folgerichtig bei der
§ 148 gewählten namengebung; z. b. § 151 müste es beiszen: als
subjectswort (nicht als subject) stehen in beiden sprachen häufig
infinit ive. wenn er sodann statt object ergänzung einführt, so
bin ich durchaus einverstanden, aber es ist nicht richtig, dafür
prädicatsergänzung einzusetzen; denn objecto können auch zu
verbalformen treten, die nicht prädicat sind, auch musz Schmitt
infolge dieses fehlers der sache nach gleiches noch mit einem zweiten
namen, nemlich als begriffsergänzung bezeichnen (§ 186). die
ergänzung steht zu den verben in demselben Verhältnis wie die sog.
begriffsergänzung zu den sinnverwandten adjectiven; beide mtisten
also zusammen behandelt und mit gleichem namen bezeichnet wer-
den, es ist ferner nicht zu billigen , dasz der ausdruck ergänzung
über die notwendigen bestimmungen des verbs (bzw. adjectivs)
auch auf die freiwilligen ausgedehnt wird, die letzteren würde
ich erweiterungen nennen; wie beide arten z. b. in der lehre
vom accusativ unterschieden werden können, habe ich schriften des
einheitsschulvereins III s. 63 für das griechische ausgeführt, diese
Unterscheidung ist um so fruchtbarer, als die häufigen Ubergänge
der erweiterungen in ergänzungen und umgekehrt zu betrachtungen
nötigen, welche sehr lebendig und tief in das wesen der spräche und
ihrer entwicklung einführen, zum schulmäszigen ausdruck solcher
Übergänge sowie des Verhältnisses der Satzglieder, d. h. der teile
eines mehrfachen satzes, zu den Satzteilen empfiehlt sich sehr der
z. b. in Sonnenscheins lateinischer grammatik angewandte ausdruck
equivalent, oder auf deutsch: Vertreter, ein schönes beispiel
für die möglichkeit solcher Vertretungen bieten die verben der ge-
mütsstimmung. alle thätigkeitsvorstellungen enthalten die Vorstel-
lung eines seelenzustandes ; alle verben können deshalb ergän-
zungslos gedacht werden, auch dann, wenn ihr sinn notwendig
die beziehung auf einen von der thätigkeit getroffenen gegenständ
(eine zielergänzung) voraussetzt, so ich lese neben ich lese das
"b u c h ; so auch d o 1 e o usw. ohne zielergänzung. zu d o 1 e o in diesem
sinne kann man dann eine Umstandsbestimmung (adverbial)
hinzufügen: doleo (de) aliqua re, d. h. ich bin in schmerzlicher
Stimmung von irgend einem gegenstände her. aber derselbe gegen-
ständ kann auch als derjenige gedacht werden, welchen meine
schmerzliche empfindung trifft; er tritt daher auch in die form der
accusativergänzung (doleo aliquid = ich betrauere etwas),
und es ist dann auch persönliche passivconstruction möglich , die in
omnibus rebus desperatis wirklich vorliegt, mit der accusativ-
ergänzung ist dann wieder die dativergänzung nahe verwandt;
statt: meine Verzweiflung trifft oder betrifft den gegenständ kann
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458 Putsche- Schottmüller: lateinische achulgrammatik.
ich auch sagen : sie gilt dem gegenstände (ist dem gegenstände za-
ge wandt); darum gibt es auch die construction : milites despe-
rant saluti suae. so können also nicht allein mehrere arten der
ergänzung einander vertreten, sondern sogar eine erweiterung kann
an die stelle von ergänzungen treten und so die Wirkung einer not-
wendigen Satzbestimmung erhalten.
Unter berücksichtigung dieser gedanken und mitbenntzung des
von Schmitt eingesetzten ausdrucks der begriffsergänzung (natür-
lich in anderm sinne als bei Schmitt) liesze sich also der § 148 etwa
so fassen:
1. Notwendige best and teile des einfachen satzes sind: satz-
gegenstand (subject) und aussage (prädicat).
Die aussage ist entweder einfach, wenn sie nur aus einer
personalform des aussage Wortes (verbs) besteht, oder zusammen-
gesetzt, wenn sie aus einer form des aussageworts mit einer be-
griffsergänzung besteht (vgl. Schriften des einheitsschul Vereins III
s. 20).
Eine begriffsergänzung tritt zu dem aussage wort hinzu , wenn
dieses eine so umfassende und abgeblaszte bedeutung hat , dasz es
allein für eine wertvolle aussage zu farblos ist. begriffsergänzungen
werden bezeichnet durch den aussagenominativ (prädicatsnomi-
nativ). Vertreter desselben sind : die begriffsergänzungen im genitiv,
dativ und ablativ.
Der satzgegenstand (das subject) wird entweder nur an-
gedeutet oder bezeichnet, jenes geschieht durch personalendung
des aussage wortes (verbs) oder durch ein deutewort (pronomem),
dieses durch ein gegenstandswort (substantiv) oder ein zum gegen«
standswort erhobenes anderes wort im nominativ.
2. Dem satzgegenstande und der aussage als den hauptsatz-
teilen stehen gegenüber die Satzbestimmungen als die den ge-
danken des satzes weiter ausführenden Satzteile.
Satzbestimmungen sind :
a) zum aussagewort tretende:
et) ergänzungen : Zielergänzungen im accusativ oder genitiv
und dativergänzung. Vertreter sind ergänzungen im ablativ oder
mit Verhältniswörtern (präpositionen).
ß) erweiterungen : umstände des ortes , der zeit usw.
b) zum gegenstandswort tretende: beifagungen, nnd zwar
beigefügtes gegenstandswort in gleichem casus (apposition) , beige-
fügtes beschaffenheitswort, beigefügter genitiv, ablativ, beigefügtes
Verhältniswort mit casus , beigefügtes Umstandswort.
c) die ergänzungen und erweiterungen des aussagewortes können
zum teil auch zum beschaffenheitswort (adjectiv) und zum
Umstandswort (adverb) treten.
3. Ein satz, der nur die hauptsatzteile bat, heiszt nackter
satz, ein mit Satzbestimmungen versehener satz heiszt beklei-
deter satz.
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Putsche-Schottmüller: lateinische schulgram matik.
459
4. Auszerhalb der satzftigung (construction) stehen die anreden
(im rufcasus [vocativ]) und die empfindungswörter (interjectionen).
Die von Schmitt in den abschnitten IV (s. 194) und V (s. 204)
gegebene lehre vom mehrfachen satz würde ich auch in der Über-
schrift einheitlich bezeichnen und den ausdruck Satzglied auf die
teile des mehrfachen sataes beschränken, während ich die teile des
einfachen satzes Satzteile nennen würde, wenn ich nicht irre, in
Übereinstimmung mit dem gewöhnlichen sprachgebrauche, für den
mehrfachen satz, dessen glieder nur durch bei Ordnung verbunden
sind, bietet sich das treffende wort 'satz verein', für den durch
Unterordnung gebildeten mehrfachen satz rsatzgefüge'. die arten
der nebensätze können ihrer bedeutung nach als Vertreter von
Satzteilen des einfachen satzes bezeichnet und danach benannt wer-
den , wie bei Schmitt.
Unter den kunstausdrücken der flexionslehre würde ich
casus nicht durch fall verdeutschen und auch die einzelnamen für
die casus lateinisch lassen; für genera verbi, sowie für activ und
passiv sind die Übersetzungen bei Heil : zustandsformen, thätigkeite-
und leideform ebenfalls keine Verbesserung, während sich die modi
gruppe und perfectstammgruppe dauergruppe und vollendunggruppe,
bzw. durativ und perfectiv vorziehe, habe ich schon erwähnt, statt
verbalstamm würde ich gesamtstamm sagen, und aus demselben
zwei gruppenstämme, den d au er stamm und den vollendung-
s tarn m, ableiten; die nominalformen schlieszen sich zum teil eben-
falls an diese an, zum andern teil werden sie von einem unmittelbar
aus dem gesamtstamm abgezweigten supinstamme gebildet, ein
fehler aber ist es meines er achtens, auch die umschriebenen formen
des passivs alle zur supinstammgruppe zu rechnen; Umschreibung
und ableitung darf man nicht so zusammenwerfen, übrigens sollten
alle diese arten von stammen in einer für die unteren classen be-
stimmten grammatik überhaupt nicht vorkommen. Heil hat nem-
lich wie Harre den von Perthes erfundenen ausdruck cw or ts to c k' in
seine grammatik eingeführt, gewis mit recht, zumal wenn Waldecks
ratschläge für den ersten Unterricht in der formenlehre im 22n hefte
der lehrproben zweckmäszig sind, aber der ganze pädagogische vor-
teil dieser neuerung geht verloren , wenn man daneben dann doch
von Wortstämmen spricht und diese bei der formbildung auch be-
nutzt, die Wirkung wird sicher unaufhörliche Verwirrung in den
köpfen der schüler sein, da ist doch der Engländer Sonnenschein in
meiner lateinischen grammatik praktischer und consequenter. nicht
allein die ganze declination und conjugation , sondern auch die be-
stimmung des geschlechts der gegenstände Wörter gründet er auf den
wortstock, ebenso verwirrend ist es , dasz Heil den veränderlichen
teil des wortes endung, nicht wie z. b. Ahrens aus gang nennt;
denn wir sind nun einmal gewohnt, stamm und endung einander
gegenüberzustellen. Heil selbst bleibt sich daher nicht einmal gleich
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460 Putsche-Schottmüller: lateinische schulgrammatik.
im gebrauch dieses wortes. § 57 sagt er: hinsichtlich der Bildun-
gen unterscheiden sich die vier conjugationen nur in einigen for-
men der präsensstammgruppe. aber wie viele formen sind denn
gleich? in der ersten und dritten conjugation die le pers. sing. ind.
präs. act. und pass. , in der zweiten und dritten das ganze imperfect
des activs und passivs. soll also endung so viel bedeuten wie aus-
gang, so ist Heils behauptung falsch; richtig ist sie nur, wenn man
annimmt, er habe endung im sinne von flexionszeichen genommen,
eine weitere Verwirrung entsteht durch Übersetzung des ausdrucks
raverbo' mit 'Stammformen', die sache wird dadurch mangelhaft
bezeichnet; in welchem sinne z. b. der inf. praes. act. eine Stamm-
form sein soll , ist nicht abzusehen, es ist daher nicht zu verwun-
dern, dasz Heil selbst das wort an anderer stelle (§ 68) in einer an-
dern bedeutung anwendet , für die es in der that besser passt, nem-
lich für die gruppenstämme , in welche sich der gesamtstamm
des verbs spaltet: den dauerstamm, vollendungstamm und supin-
stamm. auch hier bleibt besser das fremd wort, so lange noch keine
wirklich treffende Verdeutschung gefunden ist. eine solche liegt nun
freilich recht nah. denn das averbo enthält ja die formen, die man
sich merken musz, um das verb richtig conjugieren zu können, die
uns beim conjugieren leiten, d. h. die merk formen oder, wenn
man Ose. Brenners mittelhochdeutscher grammatik s. 17 folgt, die
leiteformen des verbs.
Schon aus dem gesagten erhellt, dasz ich die musterbeispiele
für die conjugation in mehreren punkten anders gestalten würde als
Heil; ich füge noch hinzu, dasz meines erachtens 1) die Übersetzung
der conjunetive bei Heil nicht ausreicht, und bei den indicativen
Vermittelnde' Übersetzungen zur bezeichnung der entwicklungsstafe
der handlung hinzuzufügen wären, 2) die mittelformen in der Über-
sicht nicht ganz von den personal formen getrennt werden sollten,
3) die einteilung der formen nach einem gesichtspunkt, dem der
bedeutung, ganz durchgeführt und die umschriebenen passiv-
formen demgemäsz als vollendunggruppe des passivs bezeichnet
werden müsten.
Hiernach würde das musterbeispiel der zusammengezogenen
ä-conjugationT nebenstehende gestalt erhalten.
Gestaltet man das musterbeispiel in dieser weise, so musz natür-
lich noch eine anweisung über die bildung der zum supinstock ge-
7 statt in langvocalische und kurzvocalische conjugation (§ 57) würde
ich die lateinische Verbalflexion lieber in zusammengezogene und nicht
zusammengezogene conjugation teilen, denn dasz die ausgänge der
ä-, e- und I-conjugation durch zusammenziehnng eines a, e und i mit
denen der sog. dritten conjugation entstanden sind, läszt sich anch dem
sextaner deutlich machen ; damit wird aber von vorn herein eine rich-
tigere Vorstellung von dem Verhältnis der lateinischen conjugationen
zu einander gewonnen und zugleich der grund gelegt, um später das
Verhältnis der lateinischen verbalflexion zu der griechischen klar zu
machen.
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Putsche-Schottmüller: lateinische schulgrammatik. 461
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462
B. Born : bemerkungen zu einigen oden des Horaz.
hörigen mittelformen folgen, auch sind die formen der bevorstehen-
den handlung , von denen ich einige in klammern der dauergruppe
eingefügt habe , noch in besonderer Zusammenstellung zu geben.
Ich schliesze hiermit meine so schon allzu lang gewordene be-
sprechung. wer sich sein ziel so hoch steckt, wie die Verfasser der
vorliegenden grammatik, wird selbst nicht erwarten, dasz er es beim
ersten versuch vollständig erreicht ; in der that liesze sich auch ab-
gesehen von dem oben bemerkten noch manche einzelheit beanstan-
den, aber das verdienst bleibt den Verfassern unverkümmert , den
rechten weg betreten zu haben, dem wir nur weiter zu folgen brau-
chen, um eine wirkliche reform, nicht blosz eine äuszerliche Verkür-
zung unserer schulgrammatiken zu erreichen, möge den Verfassern
vergönnt sein , noch in einer reihe von auflagen an der schwierigen
und gerade im gegenwärtigen augenblick so wichtigen aufgäbe weiter
zu arbeiten !
Hannover. F. Hornemann.
48.
BEMERKUNGEN ZU EINIGEN ODEN DES HORAZ MIT BESONDERER BE-
RÜCKSICHTIGUNG der Wortstellung von B. Born, programm
des königl. domgymnasiums zu Magdeburg. 1891.
Der Verfasser stellt hauptsächlich mit benutzung der abhand-
lungen von Eggers 'de ordine et figuris verborum quibus Horatius
in carminibus usus est', Lovanii 1877, Oesterlen 'komik und hnmor
bei Horaz', Kiessling 'philologische Untersuchungen II', Ebeling rde
imperativi usu Horatiano', Wernigerodae 1870, Rosenbergs ausgäbe
der oden, sowie der bekannteren arbeiten von Meineke, Peerlkamp,
8chtitz, Nauck, Lehrs, L. Müller und Dillenburger unter steter
berücksichtigung der anmerkungen , welche die herausgeber ihren
arbeiten beigefügt haben , eine anzahl feiner beobachtungen bezüg-
lich der Wortstellung, welche Horaz in den oden anwendet, auf. er
beweist mit überzeugender gewisheit, dasz die vom dichter beliebte,
von der herkömmlichen oft sehr abweichende Wortstellung nicht,
wie früher vielfach irrtümlich angenommen wurde, auf rein ftuszer-
lichen metrischen gründen beruht, vielmehr meist durch innerliche,
d. h. den sinn betreffende gründe bedingt ist. insofern hat die arbeit
einen hervorragenden pädagogischen wert, indem sie dem
lehrer des lateinischen in prima zahlreiche winke gibt, den schülern
zu zeigen, dasz Horazens oft angezweifelte dichterische bedeuttmg
in den oden nicht lediglich auf einer vollendeten metrischen, sondern
wesentlich auch auf einer geistig durchdachten, d. h. dem in halt
in geschickter weise angepassten form beruht.
An den auf s. 1 — 14 behandelten oden I 1. 4. 5. 6. 7. 9 weist
der Verfasser mit groszem geschick nach, dasz Horaz häufig das Sub-
stantiv an das ende eines verses und das dazu gehörige adjectiv zu
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B.Born: bemerkungen zu einigen oden des Horaz. 463
anfang des folgenden verses oder umgekehrt setzt oder dieses ver-
fahren auf den schlnsz des ersten halbverses und den anfang des
zweiten überträgt, ferner, dasz er die anaphora desselben wortes auch
da anwendet, wo er ein wort seinem begriffe nach durch ein anderes,
gleichgestelltes, untergeordnetes oder entgegengesetztes wiederholt,
sowie dasz er den imperativ und seine stellvertretenden aussage-
formen entweder an das ende des verses oder halbverses oder an
den anfang desselben stellt, jedoch unter der bedingung, dasz zu-
weilen ein einsilbiges wort vorhergeht, unter 'stellvertretenden aus-
sageformen des Imperativs' versteht Born die modale ausdrucksweise
und das futurum, auch, was Ebeling in seinen cirenmlocutiones nicht
beachtet, im weitern sinne das gerundium und gerundivum.
Dieser teil ist der glanzpunkt der ganzen arbeit, zumal er die
anführungen von Eggers und Ebeling wesentlich bereichert, im
weitern verlanfe der arbeit polemisiert Born mit groszem geschick
vielfach gegen Lehrs' willkürliche erklärungen , wird jedoch dabei
nie seinem eigentlichen thema untreu, s. 17 zeigt er, dasz non ego
eine dem dichter geläufige Verbindung überhaupt war, die er nicht
nnr in alcäischen, sondern auch in andern versen anwendet, s. 31
verlangt er mit L. Müller und Schütz hinter non in ode II 14, 5
eine interpunction, irrt jedoch, wie ich meine, wenn er frustra in
III 7, 21. m 13, 6 und durum in I 24, 19 vergleichsweise heran-
zieht, da non an erstgenannter stelle nicht den ganzen vorher-
gehenden negativen gedanken zusammenfaszt, wohl aber frustra und
darum an den letztern. es steht daher mit recht in den meisten
ausgaben hinter frustra und durum ein Semikolon , hinter non nur
ein komma.
Im allgemeinen ist die arbeit als ein sehr dankenswerter bei
trag zur Horazkritik zu bezeichnen.
Dresden. Löschhorn.
44.
BEMERKUNGEN ZUM KUNST UNTERRICHT AUF DEM GYMNASIUM VON
H. Guh rauer. programm des gymnasium« zu Wittenberg. 1891.
Der Verfasser stellt auf grund der bekannten arbeiten von
R. Menge 'gymnasium und kunst' in den pädagogischen Studien von
W. Bein, heft 12, 'der kuntunterricht im gymnasium', Langensalza
1879, rwie l&szt sich der Unterricht im gymnasium anschaulicher
gestalten?' in diesen jahrbüchern 1881 s. 133 ff. und s. 161 ff., Ein-
führung in die antike kunst' (Leipzig, Seemann, 2e Aufl. 1885),
A. Baumeister 'gymnasial reform und ans c hauung im classischen
Unterricht', München 1889, sehr gesunde und dabei höchst einfache
grundsätze zwecks einführung des 'kunstunterrichts' in unsere gym-
nasien auf, um mit hilfe desselben die erklärung der alten classi-
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464 H. Guhrauer: bemerkungen zum kunstunterricht auf dem gymn.
sehen schriftsteiler zu beleben, er behauptet mit vollem recht, dasz
weder kunstgeschichte noch ästhetik oder archäologische kritik in
die schule gehöre, es vielmehr lediglich darauf ankommen müsse,
dasz die schüler lernen antike kunstwerke — denn um diese bandelt
es sich selbstredend nur — verständig zu betrachten und ihre un-
vergänglichen Schönheiten zu begreifen, gerade auf diese weise wer-
den nach des Verfassers ansieht, der jeder einsichtige lehrer unbe-
dingt zustimmen wird, die schüler zur erkenntnis geführt, dasz die
griechische weit stets die lehrerin der menschheit auf allen gebieten
des wahrhaft schönen bleiben wird.
Man kann sagen, dasz der Verfasser durch Veröffentlichung dieser
arbeit einen sehr dankenswerten beitrag zur gymnasialpädagogik
geliefert hat. nach seiner meinung — und dieselbe ist nur zu
billigen — sollen zunächst photographische abbildungen antiker
kunstwerke, auch torsen rzu längerer betrachtung im classenzimmer
aufgehängt werden', ja schon das blosze auslegen der bilder genügt
in der hauptsache den absiebten des vom Verfasser bezweckten kunst-
unterrichts. der lehrer soll alsdann zunächst kurz über entstehungs-
zeit und inhalt des kunstwerks reden, alsdann zeigen, dasz die com-
Position des ganzen auf dem harmonischen zusammenwirken der teile
beruhe und hierbei über die sogenannten, von den meistern aufge-
wandten kunstmittel sprechen, von den schülern ist als höchste
leistuug auf diesem gebiete mit recht eine kurze, rein sachliche be-
schreibung eines durchgesprochenen bildwerkes nach des Verfassers
und Baumeisters ansieht zu verlangen.
Um die richtige auswahl unter den antiken bildwerken zu treffen,
empfiehlt der Verfasser die in Menges feinführung in die antike kunst'
aufgestellten grundsätze, der architektur weist er im gegensatz zu
A. Conze nur eine nebenrolle im kunstunterricht zu. er verwirft
daher mit recht die forderung Bruno Meyers, A. Springers und
Knokes, dasz die lehre von den baustilen mittelpunkt des kunst-
unterriebts sein solle, und zeigt dem lehrer, insbesondere dem der
geschichte , des griechischen oder deutschen in secunda und prima,
wie er in zweckmäsziger weise am anfang oder schlusz der Unter-
richtsstunden sich über die ausgehängten Photographien mit den
schülern unterhalten könne.
Um zur anlegung einer für die schüler bestimmten kunstsamm-
lung die mittel zu gewinnen, rät der Verfasser sich an abiturienten
um gewährung kleinerer geldbeiträge, an städtische oder königliche
behörden um pecuniäre Unterstützung des Unternehmens zu wenden
oder erträge öffentlicher Vorträge u. a. zu dem gedachten zwecke zu
verwerten.
Dresden. Löschhorn.
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ZWEITE ABTEILUNG
FÜB GYMNASIALPlDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AUSSCHLUSS OKR CLASSISCHBN PHILOLOOIK
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. HERMANN MASIUS.
45.
LEBENS- UND GLAUBENSANSICHTEN DES REISE-
BESCHREIBERS PAUSANIAS.
Wer den Pausanias einen nachahmer des Herodot in spräche
und Ansichten nennt, hat recht und unrecht, er hat recht, wenn er
mit dem worte nachahmung sagen will, der reisebeschreiber habe in
aus druck und anschauungen manches von Herodot entlehnt, dabei
aber weder in jenem noch in diesen seine Selbständigkeit und eigen-
tümlich keit aufgegeben; er hat aber unrecht, wenn er ihn in ein
sklavisches abhängigkeitsverbältnis zu seinem vorbilde setzt, denn
wie Pausanias sich mit bewustsein einen eignen kunstvollen stil ge-
schaffen, der wesentlich verschieden ist von dem des Herodot, von
dem des Thukydides, so sind auch seine lebens- und glaubensansichten
ihrem kern und wesen nach nicht ein fremdes gut, das er mühsam
und auf ganz mechanischem wege sich angeeignet, etwa um damit
seine nüchternen commentare zu würzen; sie sind sein eigenstes,
mit seiner individualität verwachsenes eigen tum.
Betrachten wir zuerst seine politischen ansichten.
L
Wenn man erwägt, ein wie gewaltiger unterschied zwischen
der zeit des Pausanias und der zeit Herodots obwaltet, wie im lauf
der Jahrhunderte das verfassungsieben der Völker durchweg geändert,
das freie Griechenland längst seiner politischen grösze, seiner frei-
beit verlustig und dem römischen weitreich einverleibt war, wie
allmählich zugleich mit der freiheit das bewustsein aller republika-
nischen formen erlosch und ein allmächtiger wille die weit regierte,
so wird es begreiflich, dasz Pausanias nicht gleich Herodot, ein be-
geisterter lobredner der republikanischen staatsform und politischen
gleicbberechtigung sein konnte, freilich den ausdruck iayfopta
N.jahrh. f. phil.a. päd. Il.mbt. 1S91 hfl. 10. 30
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466 Lebens- und glaubensansichten des reisebeschreibers Pausanias.
finden wir auch bei ihm \ nirgend jedoch eine äuszerung ähnlich der
Herodots, dasz sie doch eine herliche Sache sei.* wir sehen ihn viel-
mehr ungünstig Uber die brjjiOKpaTia urteilen an einer stelle, wo er
von den Epiroten erzählt, es sei, als die königsherschaft bei ihnen
aufgehört, die menge plötzlich in Übermut und ungehorsam gegen
die behörden verfallen und infolge dessen der staat eine beute der
benachbarten Illyrier geworden, ou T<*P TTU) — fährt er dann fort —
brmoKpcrriav icuev äXXouc f) 'Aenvaiouc auErjcaviac • 'AOrivaioi
Yäp rrporixöncav iit\ iitfa an* aurflc ■ cuve'cei fäp oweia tö 'EXXtj-
viköv uTtepeßriXXovro Kai vö>oic toic Ka8€crr|KÖciv dXdxicra i^7T€i-
Gouv.3 also nur der staat der Athener hat nach seiner ansieht infolge
der demokratie sich gedeihlich entwickelt und hoch emporgeschwun-
gen, aber auch er nur auf grund einer gröszeren folgsamkeit gegen
die bestehenden Satzungen und einer eignen tieferen einsieht, welche
Pausanias seinen bürgern beilegt, soweit äuszert er sich über Ver-
fassung.
Völlige zurückgezogenheit von politischer Wirksamkeit scheint
ihm ferner weiser und wünschenswerter als eine eifrige teilnähme
an der Staatsverwaltung.4 er erzählt die Schicksale des Demosthenes ;
zweimal verbannt gab er sich den tod; dabin sei dem Demosthenes
nur sein zu groszes wohlwollen gegen die Athener ausgeschlagen,
es scheine ihm daher ein wahres wort, dasz ein mann, der rücksichts-
los auf die politik sich werfe und das vertrauen des volkes für sicher
halte, nimmer ein gutes ende nehme: Ar|)iOc9^V€i )itv f) Trpöc 'AStj-
vaiouc ärav euvoia ic toöto ixibpr]cw cu bi moi XeX^xOai boxet
ävbpa ätpeibüjc darecövTa ic TToXndav Kai meid frmcdjuevov Td
toö br|jaou nrjTTOTe koXüjc TeXeuirjcai.5 dagegen findet Isokrates
seine anerkennung ; er nennt dessen politische enthaltsamkeit ein
sehr verständiges werk : cwropov^craiov öri TroXueiac dnexopevoe
bi^ycive Kai Td KOivd ou TToXu7TpaTMOVuJV.< und hat nicht ein solches
urteil in dem geiste der zeit, der unser schriftsteiler angehört, seine
hinlängliche motivierung?
Gleich wie Herodot ist er aber ein feind der gewaltherschaft,
ein feind aller derer, die sich in Staaten von freier Verfassung der
tyrannis mit list oder gewalt bemächtigt haben, wenigstens läszt
sich dies aus dem lobe schlieszen , das er den Unterdrückern solcher
1 z. b. II 19,2; 'Apreloi dxe iorfopiav Kai tö aürövouov äY<nrü>vT€C
iK iraAmxäTou usw.
* t\ Icrrfopin. üjc Ict\ xP^ua ciroubaiov Her. V 78.
8 IV 35, 3.
4 und nicht nur die zurückgezogenheit vom politischen leben, son-
dern überhaupt die völlige abkehr von dem leben und treiben der men-
schen, die einsamkeit, ist nach seiner ansieht die bedingung eines
glücklichen lebens. Timon allein habe eingesehen, dasz es keinen
andern weg zur glückseligkeit gebe, als wenn man die andern menschen
fliehe: uövoc €l6ev nn&^va Tpöirov eubaiuova elvai Y€vk6ai TrXfjv touc
äMouc (peOYOvra ävepdmouc I 30, 4.
» I 8, 4.
• I 18, 8.
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Lebens- und glaubensansichten des reisebeschreibers Pausanias. 467
gewaltherscbaften in reicblicbem masze zollt. Thrasybulos gilt ihm
von allen namhaften Athenern als der vorzüglichste, weil er die
tyrannis aufgehoben und frieden und freiheit den Athenern wieder-
geschenkt habe.7 über Aratos, der die Sikyonier vom tyrannen be-
freit und die republikanische Verfassung, das tt Tcou 7TO\iT€U€C9ai,
hergestellt, urteilt er, derselbe habe unter den Hellenen seiner zeit die
grösten thaten vollbracht.8 und dem spartanischen konig Pausanias
rühmt er nach, er habe nicht runheiliger mftnner tyrannis vermehren
und so dem spartanischen volke die scheuszliche scbmach zuziehen
wollen' : urjb^ o\ fjpece , dvoriujv dvbpwv xupavviba auEovra im-
CTrdcacGai irj CTTapirj tö aicxicrov öveibujv.*
Treffende urteile fällt er über wesen und Charakter einzelner
hellenischer' Völkerschaften, hellenischer — sage ich; denn der be-
griff des barbarenturas, welcher bei Herodot stets in so scharfen
gegensatz zu dem begriff des Griechentums tritt, konnte für eine
zeit, wie die des Pausanias, nicht mehr seine ursprüngliche geltung
haben, der reisebeschreiber thut daher der ßdpßapoi in ihrem Ver-
hältnis zu den "GXXrjvec keine erwähnung, eine einzige stelle aus-
genommen, wo die anführung und beschreibung des äuszerst kunstvoll
gefertigten sauromatischen panzers ihm anlasz gibt zu der äusze-
rung: wer auf den panzer blicke, der müsse den barbaren, was die
äuszeren künste betreffe, nicht weniger Weisheit zugestehen als die
Hellenen besitzen : ic toutöv Tic Ibwv oubfcv fjccov toOc ßctpßdpouc
<pr|cei coqpouc de rdc xdxvac elvai. 10
Die Griechen scheinen ihm auszerordentlich ehrliebend und be-
sonders, wenn es die ehre der götter gelte, nichts weniger als filzig
zu sein — haben sie doch für ihre bildsäulen aus Indien und Äthio-
pien elfenbein sich herbeigeschafft: cpiXÖTijjoi ic Td MdXicrd |iOi Kai
ic GeOuv Tipfjv ou ©eibuuXoi xpnMdTWV revecOai boKoüciv ol °€XXr|-
vec, ok fk Ttapd 'Ivbüjv rjY€TO Kai LI AiGiomac £Xe<pac ic TToinav
dYaXudTUJV.11 — Eine gewisse Vorliebe verrät er — und auch diese
erinnert uns an Herodot — für den Charakter der Athener, dasz er
ihnen eine eigne einsieht, durch welche sie über allen Hellenen stehn,
vindiciere und gröszere politische mäszigung nachrühme, ist bereits
erwähnt, auszerdem sind es zwei eigenschaften, die er an ihnen vor-
nehmlich hervorhebt, die humanität und die gottesfurcht: toutoic
— sagt er — ou Td ic (piXav8pujmav mövov KaSecrnKev, dXXd Kai
ic Geouc euceßeiv dXXuuv TiXeov.12 und später heiszt es im rückblick
auf diese äuszerung: XdXeKiai uoi Kai rrpöiepov ujc 'AGrivaioic
7 Tdqpoi OpacußouXou ävbpdc tüjv t€ öcTcpov xal ßcoi irpö aüroö
TCTÖvaciv 'Aenvcuoic XÖYipoi -ra irdvTa äpicTou — Tupawiöa yäp Snaucev
TUIV TpldKOVTa ku,\ouulviuv usw. 1 29, 3.
9 ripüjöv icnv 'Apdxou ^lificta '€\Xr)viuv ip-racajievou xwv lep* £auTOÜ
II 8, 2. vgl. § 3 CiKuiuvfoic bi än&bvjK&v il tcou iroXnreüecBai.
» III 5, 2.
10 I 21, 7.
« V 12 fin.
» I 17 in.
30 •
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468 Lebens- und glaubensansichten des reisebeschreibers Pausanias.
TiepiccÖTepöv ti f\ xoic dXXoic de Td OeTd den CT^oubf^c.,, wie ihre
humanität sich ihm unter anderem darin zu zeigen scheint, dasz sie
nicht nur freien leuten, sondern auch sklaven, welche sich um den
Staat Verdienste erworben haben, die ehre des öffentlichen begräb-
nisses und der namensinschrift gewahren u, so ersieht er ihre auszer-
ordentliche frömmigkeit einerseits aus ihren zahlreichen und zum
teil sehr kostbaren anstalten für die götterverehrung, anderseits be-
sonders aus dem umstände, dasz bei ihnen mehr götter verehrt wer-
den als anderwärts, wie sie denn z. b. dem Eleos, diesem 'auf das
menschliche leben und den Umschwung der dinge so einfluszreichen'
gott, allein von allen Hellenen Verehrung zollen.15
Die Lacedämonier stellt er hinsichtlich der ängstlichen beach-
tung himmlischer anzeichen, biocrjjieiai, den Athenern gleich: Aa»c€-
oainovtoic ndXicxa 'GXXtjvujv, dicauTwc Kai 'AOrjvaioic bei^a ai
bioameicu TrapeixovTo"; keineswegs aber hinsichtlich des streben s
nach humanität und geistesbildung. sie scheinen ihm am wenigsten
von allen menschen empfänglich zu sein für die poesie und das lob,
das von ihr ausgeht: öokoöci bk 01 drap-nuicn u°l irouiciv Kai
frraivov töv dir' autfle fixicra dvGpumiuv öaupdcai. 17
An die politischen ansichten des Pausanias knüpfen wir noch
einige seiner allgemeinen lebensanschauungen an, und die xuxn soll
uns dann auf die betrachtung seiner moralischen und religiösen an-
sichten überführen.
II.
Unter den vielen leidensebaften , die der natur des menschen
innewohnen und seinen sinn zum unrecht verleiten, schreibt er der
gewinnsucht die gröste macht zu: dv xrj dvGpcuTrivrj qpucei Kai äXXiuv
dvövTUJV dm' olc ßiaZö^eöa äbiKOi vevdcGai, rd Kdpbr) neYiCTriv
dvdYKrjv dx€i.,s einem menschen, der immer nur dem gewinne nach-
jagt, gelte das göttliche weniger als der erwerb: dvGpumuj droo-
püjvn de K€pboc Td GeTa uorepov XrinndTUiv.1" dasz aber auch eine
andere leidenschaft, die liebe, göttliche und menschliche Satzungen
zu verletzen vermöge und darum den menschen die quelle vielen
Unglücks werde20, bestätigt sich ihm durch zahlreiche beispiele. so
nimmt Lysimachos in spätem alter die Arsinoe zur gemahlin. diese
bewegt ihn in den tod seines sohnes aus früherer ehe, des Agathokles,
" I 24, 3.
14 I 29, 6: t^v bk dpa xal 6r)uou Mxaiov ßouXeuna, el bt\ xal 'A9rj-
valoi nex^öocav boüXoic bn,uoc(a Taq>f)vai Kai Td övönaTa £YYPa(P^vcu-
15 I 17 in. '€X^ou ßtuuöc, tp udXicxa Gcüöv etc dvGpi/jmvov ßlov xal
ucxaßoXdc TrpaYudTiuv öti Ukd^Xiuoc, uövoi nude '6XXnvu>v Wuouci.
>• III 5, 8.
17 III 8, l.
» IV 4, 4.
«• III 23, 2.
10 VII 19,2: u^recTiv £pum xal dv8pumu)v cuTX^al v6|uina xal äva-
CTp^vpai 6€ü>v xiudc. und I 10, 3: tiiOüuciv dv6pumoic <pü€c8ai Öl' £purra
TroXXal cujiq>opa(.
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Lebens- und glaubensanBichten des reisebeschreibers Pausanias. 469
zu willigen. Agathokles wird ermordet; seine gattin entflieht zu
Seleukos. es kommt zwischen Seleukos und Lysimacbos zu einer
Schlacht, in welcher der letztere fällt. w — So ist es ebenfalls die
liebe , welche den ursprünglichen anlasz zu dem verrat von Ithome
gab." — So geschieht es aus liebe zu Melanippos , dasz Komaitho,
die priesterin, der unbefleckten jungfrau heiligtum zu entweihen
wagt und unheil über sich selbst und über das land heraufführt."
So grosz ist diese im menschen wohnende macht der leiden-
schaft. doch kennt Pausanias eine noch gröszere, welche auszer und
über dem menschen waltet — die macht der XUXH- er weisz , dasz
die Tyche im menschenleben eine bedeutende rolle spielt, dasz aller
Wechsel und Umschwung, zu welchem die menschlichen dinge ihrer
natur nach bestimmt sind*1, von ihr bewirkt wird, und diesen Wechsel
drückt er mit dem begriffe ort uvöpujn eiai ruxoti *5 aus. den Wechsel-
fällen des glücks unterworfen, musz der mensch die erfabrung machen,
dasz es oft anders kommt als er gedacht und gewollt: ou irdvTa
dvöpübmu leXetiai Kord YvwjLirrv. w dies ist die Tuxrj irapaboEoc
die als freundliche oder feindliche, immer jedoch als unvorher-
gesehene, unerwartete macht über den menschen kommt, durch sie
wird Aristomenes aus der grübe, wo er dem sicheren tode verfallen
schien, glücklich gerettet, durch sie aber wird auch Aratos in die
notwendigkeit versetzt aus dem erbittertsten feinde der Makedonier
deren bundesgenosse zu werden.*8 — Wenn diese unvorhergesehene
Tuxn dem menschen als ein ungltick kommt, das er seinen hand-
lungen, seinem Charakter nach nicht glaubt verdient zu haben, dann
ermangelt er am meisten der mäszigung: TremuKaci be ttujc o\ öv-
epumoi näXicxa äicpctToic tyw Tipöc Td irap' d£iav.29
Ist nun aber die Tuxn wirklich so ungerecht, wie sie dem men-
schen bisweilen erscheint? unser reisebeschreiber antwortet 'keines-
wegs', wenn er bei der gelegenheit, da er die gottesfurcht der Athener
lobt, ttuszert, es sei ganz offenbar, dasz denen, die mehr frömmig-
keit als die andern bewiesen, in entsprechender weise auch die tuxh
Xpr)CTr| , das gute glück , zur seite stehe : br)\d T€ dvapYwc , öcoic
irA^ov ti £ripuuv euceßeCac jli^tcctiv, Tcöv cqpict Ttctpov tOxtic
Xpr)CTnc30; wenn er ferner an dem beispiel der Komaitho darthut,
wie der unheiligkeit unausbleiblich auch unheil folge, ist es dann
nicht unleugbar, dasz seine Vorstellung von der Tyche in engem zu-
« I 10, 3.
n IV 20, 3.
" VII 19, 2.
" IV 29, 3.
" IV 36, 4.
«• II 8 fin.
" IV 18, 4.
W II 8 fin.
*» IV 11, 2.
30 der aasdruck Tüxi XP^I^H findet sich auch IV 35, 3: Tüxnc u^v
Xpr)cxf)c cVvcko Kai biä AauirpÖTTyra SpfOuv.
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470 Lebens- und glaubensansichten des reisebeschreibers Pausanias.
sammenhange mit seinen religiösen und moralischen ansichten steht,
dasz er sie nicht als einen blinden zu fall, sondern als eine gerechte
Schicksalsfügung und götterschickung betrachtet? so geht der be-
griff der Tuxn in den der biKrj über.
Pausanias schildert die greuelthaten des königs Philippoa : wie
er durch die maske der freundschaft die einfluszreichsten der Phil-
hellenen , den Aratos , den Eurykleides , den Mikon heranlockt und
die arglosen durch gift aus dem wege räumt; wie dann sein jüngerer
söhn , in des vaters fusztapfen tretend , den älteren bruder vergiftet
und den vater selbst der kummer darüber verzehrt: rrapebriXujca
be idbe, heiszt es zum schlusz, dmbüjv ic to 'Hciöbou cüv 0etu
7T€iroirjja^vov töv dir* äXXov ßouXeüovra äbiica de auTÖv TTpüjTov
irp^TT€iv.sl diese sentenz des dichters, welche nach Pausanias meinung
ein gott ihm eingegeben, stellt das wesen der bitcr) dar. das unrecht,
das man gegen andere ersinnt, musz gegen den Urheber selbst sich
wenden, von Cleopatra, welche aus hasz gegen ihren ältesten söhn
Ptolemais dem jüngeren den thron von Ägypten verschafft, von
diesem aber ermordet wird , sagt daher unser schriftsteiler, die bitcr)
sei über sie gekommen, KXeoTTcrrpav TrepirjXSev f| bucrj"; und des
nemlichen ausdrucks bedient er sich bei der erzählung vom tode des
Skiron , den Theseus in eben dasselbe meer , in welchem jener so
vielen fremden den tod bereitet hatte, hinabwirft. "
Wo ein direct oder indirect gegen die gottheit gerichtetes ver-
brechen begangen ist, da folgt notwendig das prjviya, der götter-
zorn, und die damit verbundene strafe, wenn daher das übermütige
barbarenheer bei seiner landung auf Marathon, bevor es den feind
besiegt, schon Siegeszeichen errichtet, so wird es von dem zorne der
Nemesis, dieser 'allen übermütigen unerbittlichen' gottheit, welche
bei Marathon ihren tempel hatte, dafür aufs schwerste betroffen.34
noch weiter als das persische heer geht in seinem übermute Meno-
phanes, der feldherr des Mithridates ; er verwüstet Delphi mit feuer
und schwort, er wirft das bild Apollons Otto üßpeujc in das meer.
wie kann ein solcher frevler dem zorn des gottes entgehen? tö
Hr|vi|na £k toö 6eoö bi€<pirrev outc Mnvorpdvrjc oötc autöc MiÖpi-
bdTr|C. auch auf Mithridates erstreckt sich also der götterzorn, den
31 II 9, 4.
11 I 9, 3.
83 I 44, 2. — Eiuen ähnlichen sinn bat der ausdrnck r) NcoirroX^-
jieioc tCcic, welchen Pausanias als tö iraöeiv önolöv Tic Kai fbpacc er-
klärt, so sagt er von den Lacedämonicrn, die im raessenischen kriege
zuerst den feind durch bestechung seiner bnndesgenossen zu bewältigen
suchten, später jedoch, da der persische könig dasselbe cöcpiQia gegen
sie anwandte, ihrer eroberungen in Asien verlustig giengen: ti€pif)X6ev
aüTOOc f\ NeoTrxoX^ueioc KaAouu^vn. Tiac IV 17, 3.
34 Neu£c€ujc knv l€pöv f\ Qewv uäAiara äv6pi£nroic ößptcraic £ctiv
äTrapaixrjToc • boxe! bi xal toTc ätroßäciv tc MapaGujva tüjv ßapßdpuiv
diravrfjcai urjviua tx. ir\c Ö€o0 Taurrjc KaTaq>povr)cavT€c y&p cqpiav Ip-
ttoöujv etvai räc 'AGnvac dXriv Ai8ov TTdpiov ujc Itc* elprctcu^voic t\fov
£c xpoTraiou iro(nciv.
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Lebens- and glaubensansichten des reiaebeschreibers Pausanias. 471
dessen feldherr heraufbeschworen, wie dieser auf seiner rück fahrt
meuchlings ermordet wird, so bringt jenen der gott in die läge sich
selbst zu töten, toutoic — endet Pausanias seine Schilderung
— TOiaÖTCt ÖTtT)VTTjC€V dceßricaa. 85
Indirect auf die gottheit bezügliche vergehen sind gewaltthätig«
keiten gegen personen, die unter dem besonderen schütze des gottes
stehen, gewalttbätigkeiten also gegen schutzflehende, priester und
herolde. auch auf ihnen lastet das ^rjvijua. so sieht Pausanias Syllas
schreckliche krankheit nicht als eine folge seiner gegen Athena be-
wiesenen grausamkeit, sondern als iKeciou nr|Viya an, da er den
Aristion, der sich in das heiligtum der Athena geflüchtet hatte,
herausschleppen und ermorden liesz.M die ephoren, auf deren befehl
die verurteilten Lacedämonier, welche sich nach Tainaron in Posei-
dons schütz begeben hatten, vom altare hin weggerissen und mit dem
tode bestraft wurden, ziehen durch diesen frevel den Spartanern den
schweren zorn des Poseidon zu, ihre Stadt wird von grund aus ver-
nichtet : CTTapTiöVraic tv ouöevl Xöyiu Ge^voic touc kfrac dnrjv-
tt)C€v €k TToceiowvoc urivina, Kai ccpiav ic £baqpoc tt|v ttöXiv
TTäcav KcrreßaXev 6 Qeoc." — Weil Hippotes einen Weissager er-
mordet, fällt auf ihn und das dorische heer der zorn Apollons, dessen
beschwichtigung erst durch opfer, welche man dem getöteten (ndviic
bringt, bewirkt wird.1" — Und dasz endlich auch gewaltthfttigkeiten
gegen die geheiligte person des herolds den zorn der götter zur folge
haben, sehen wir an dem beispiel des Anthemokritos. 'an ihm' —
erzählt unser Schriftsteller — 'haben die Megarenser das unheiligste
werk gethan; denn da er als herold kam, auf dasz sie in zukunft
nicht das heilige land bebauten, bringen sie ihn um. und wegen
dieser that ruht auf ihnen bis auf den beutigen tag der groll der
eleusinischen göttinnen, da ja auch Hadrian ihnen allein von allen
Hellenen zu keinem gröszeren gedeihen verbalf."*
Die beigebrachten beispiele von dem göttlichen nrjviua, welche
keineswegs die einzigen sind, vermehren wir nur um eins, um das
beispiel von dem Spartaner Kleomenes; auf ihn nemlich ist nach
der meinung des reisebeschreibers der zorn von heroen und göttern
zugleich gefallen — xd unviMaTct £k T€ fjpujujv öjioö Kai 6eu>v ic
TO auTÖ KXeofidvei cuveXr|Xu8ÖTa — der zorn von heroen, weil er
den hain des Argos samt den darin schütz suchenden Argeern ver-
35 III 23, 2 und 3.
36 I 20, 4: Ikcciou unviya, öxi KaTa<puY6vxa kc t6 xf\c 'Aenväc Updv
dn€KT€iv€v dirocirdcac 'ApiCTiwva.
" IV 24, 2.
»J III 13, 8.
* I 86, 3: ic toOtov McrapcOdv icxiv SpYov dvc^it&raTov oi KfauKa
4A6ÖVTa ÜJC M>1 TOO XOITTOO TT1V %Ü)paV €TT€pTd2:0lVT0 KTClvOUClV 'Av9€-
uÖKprrov Kai ccpici TaöTa öpdcaci irapau^vei Kai ic xö&e un.viua £k
toIv 6colv* ok ovbt 'Aöpiavöc ö ßaciXcuc, dicre Kai £irauEn6f)vai jnövotc
€TrnpK6C€v '€XXnvu>v.
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472 Lebens- und glaubensansichten des reisebeschreibers Pausanias.
branut, den zorn von göttern , weil er einen den eleusischen göttern
geweihten ort verheert und das delphische orakel bestochen hatte.40
Mit diesen religiösen ansichten des Pausanias steht seine Vor-
stellung von dem Schicksal im engen Zusammenhang, wir haben
oben erwähnt, er lasse den Aristomenes aus der grübe Kaiadas durch
die ivxr\ gerettet werden, wer aber ist es anders , der diese Tuxn
herauffuhrt, als der baifjwv, das walten des Schicksals? so sagt er
denn auch an der nemlichen stelle: l^eXXe be dpa Kai aüröGev 6
baijiuuv ££obov ä7T09cuveiv aurif».41
Wenden wir uns nun zu einer näheren betrachtung dieses be-
griffes !
m.
Für den begriff des Schicksals gebraucht der reisebeschreiber
mannigfache bezeichnungen ; f| TT€Trpuuy€*vr|> h MOipa und tö XP*wv
nennt er es, wenn er seine notwendigkeit, 6 bcuuujv und tö baiuö-
viov, wenn er sein walten bezeichnen will, wie seine auf das Schicksal
bezüglichen ausdrücke oft an Herodot anklingen 42, so stimmen auch
seine ansichten Über dasselbe meist mit den ansichten Herodots
überein. ir\v Tr€7Tpuuji^vr|V noipctv — sagt Herodot — abuvoTCt
ddiv drroopuTeeiv4' und an einem andern orte: öti bei YevecOdi Ik
toö 6eoö d|ir|xavov dnoTpe'ujai dvGpumiu.44 Pausanias urgiert eben-
falls diesen begriff der unabwendbarkeit; es gebe für den menschen
kein mittel, dem, was der gott verhängt, aus dem wege zu gehen:
oubek TTÖpoc dcxlv dvGpuuTriy Trapaßfjvai tö Ka6fjicov Ik toö Öeoö.4*
eine stelle, welche mit dieser ansieht unseres Schriftstellers in schein-
barem widersprach steht, dient ihr bei näherer betrachtung vielmehr
zur bestätigung. die einnähme Ei ras ist vom Schicksal bestimmt;
die Messenier, männer und weiber, kämpfen mit so verzweifeltem
mute, dasz sie das Verhängnis hätten abwenden können, wenn nicht
der gott durch unaufhörlichen regen, durch häufigen blitz und donner
sie erschreckt und entmutigt hätte — ü)CT€ xetv TrapeXGeiv n,buvr|-
Gncav tö TieTrpujjuevov * dXXd ö Geöc tö übwp enrprarev dGpöov
uäXXov neTd icxupoö tujv ßpovTwv UJÖcpou Ka\ touc öcpGaXuoüc
auTuiv evavTiaic tcuc dcrpaTraTc e&TtXnTTe.46 was kann diese stelle
anderes sagen als : die Messenier hätten das ihnen bestimmte Schicksal
abwenden können, hätte nicht eben die göttliche macht, die es ihnen
bestimmt hatte, sie daran gehindert; sie hätten es abwenden können,
wäre es überhaupt abwendbar gewesen ; ihr heldenmut freilich hatte
40 III 4, 5.
41 IV 18, 4.
«* ich meine ausdrücke wie £n£Xa߀ tö XP*wv, KCtxeXaße tö ircirpiü-
u£vov u. ä.
«» I 91.
«« IX 166, 3.
« I 5, 4.
« IV 21, 4.
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Lebens- und glaubensansichten des reisebeschreibers Pausanias. 473
ein besseres Schicksal verdient, doch muste er an der unabwendbar-
keit des einmal bestimmten Verhängnisses scheitern.
Die geheimnisvollen wege des Schicksals sind dem sterblichen
oft verborgen, 'wenn ein mensch sich zu einer uneigennützigen that
entschlieszt, so verhüllt die TreTTpirnj^vri nicht selten den andern
seine edlen motive, wie der schlämm des flusses die steinchen tief
im gründe verbirgt.' dieses ist meiner ansieht nach der gedanke,
dem Pausanias folgenden ausdruck gibt : tu b€ civOpuuTiuu v Kai oux
f^Ktcia tö TrpöGuuov f) TTeirpiu^vri Korrä rauid dTUKpumei Kai ei
yjriqnba dmXdßoi IXuc TrorajLioö.47
Mit Uerodot teilt er auch die Vorstellung von dem neide des
bcujiöviov. als manner , die unter diesem neide und der misgunst
der götter zu leiden hatten, erwähnt er den Demosthenes und Homer,
diesen habe, nachdem er erblindet, drückende armut auf der ganzen
erde als bettler umhergetrieben, während jener in spätem alter noch
die bitterkeit der Verbannung kosten und auf so gewaltsame art hat
endigen müssen : Kai uoi tö baiuöviov — sagt er — bei£ai udXicra
inX toutou (toO An.uoc8€vouc) ookei Kai 'Oun.pou irpöiepov ibc
ein, ßdcKavov ci bf) "Ourjpov uev Trpobieq>6apu^vov touc öcpBaX-
Hotic im tocoutw koklu kokov beüiepov irevia m&ouca im Tiäcav
-friv TTTiuxeOovTa ffl-ev Aruioce^vei bi eputne t€ cuv^irecev iv rnpa
Aaßeiv treipav xai 6 Gdvatoc iilveio outuj ßiaioc.48 — Es fragt
sich schlieszlicb, in welchem Verhältnis sich Pausanias die götter zu
dieser uoipa denke, einigen aufschlusz hierüber gibt die stelle , wo
er ein bild des Zeus, über dessen haupt die heroen und moiren
schweben, erwähnt und deutend hinzufügt: bf|\a be Trdci Tnv TTe-
Tcpuju^vriv uövuj oi TrciGecOai/9 an einer andern stelle"0 erklärt er
den ausdruck Moipcrf da , den er als aufschrift auf einem altar ge-
funden, für ein bei wort des Zeus, weil dieser die menschlichen
Schicksale kenne, welche die moiren verleihen und alles, was den
sterblichen nicht bestimmt ist: bfjXa oüv textv ^mKXrjciv eivai
Aiöc, öc Td dvGpüJTrujv olbev, Öca biböaciv al Moöcai Kai öca uf|
TT6TrpujTöi cqpici. also Zeus allein ist der poTpa nicht unterworfen,
vielmehr ist er lenker des Schicksals, von welchem die übrigen alle
— götter wie menschen — gelenkt werden.
ANHANG.
Die naturanschauungen des Pausanias.
Nur wenig läszt sich über die naturanschauungen des Pausanias
sagen, eine ansieht über die beschaffenheit der einzelnen weltkörper
und ihr Verhältnis äuszert er nirgends, es sind merkwürdige oder
n IV 19, 4.
«' II 33, 3.
«» I 40, 3.
* V 16, 4.
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474 Lebens- und glaubensansichten des reisebeschreibers Pausanias.
groszartige naturphänomene, es sind wunderbare gebilde in der tier-
und pflanzenweit, für die er ein besonderes interesse zeigt und deren
erwähnung ihn wohl zu allgemeineren betrachtungen veranlagt.
So knüpft er an die beschreibung des indischen tigers, wie sie
ihm Ktesias bot, die betrachtung, dasz, wer bis zu den äuszersten
grenzen Libyens, Indiens oder Arabiens gehen wollte, um dort all
die tiere , welche in Hellas sind , zu finden , manche von ihnen gar
nicht, manche in ganz anderer gestalt antreffen würde, denn die
beschallen huit des klimas und des landes erzeuge ja nicht nur unter
den menschen, sondern im ganzen naturreich bedeutende unterschiede
der färbe und der gestaltung: bOKÜJ bk €1 Kai Aißürjc Tic f\ Trjc'lvbuiv
'Apäßuuv v\c dTrepxoiTO id IcxaTa dGeXiuv Grjpia ouöca Ttap*
"EXXrjciv d£eupeiv xd fifev ovbk dpxrjv auTÖv cupricciv, id bk ou
xaxd xauTd Ix^iv cpaveicGai oi* ou rdp bi\ ävGpujTroc uövov öuoö
toi äipi Kai ttJ rr) biaqpöpoic oua bidqpopov KTäTai Kai to eiboc
dXXd Kai id Xomd tö av>TÖ dv Ttdcxoi touto (IX 21, 4). so seien
die Aspissch langen in Ägypten und Libyen von derselben färbe, in
Äthiopien aber gleich den menschen schwarz. — Daher soll jeder,
wo er von seltenen und befremdlichen naturerscheinungen vernimmt,
dem gerüchte weder zu bereitwillig beistimmen noch mit völligem
mistrauen begegnen — outuj xpn Trdvia Tivd jur|T€ diubpouov ttjv
fVUJ^r]V |nr)T€ dmcxiuc Ix*™ & *d CTravituiepa. dies ist überall die
maxime des reisebeschreibers. wo ihn die eigne erfahrung, der eigne
anblick nicht überzeugt hat, glaubt er an merkwürdige naturgebilde
nur dann , wenn die analogie ihm für die möglichkeit ihrer existenz
spricht, wenn Ktesias ihm den tiger als ein ungetüm, das in jedem
backen drei reihen zäbne und auf der spitze des Schwanzes pfeil-
artige stacheln habe, beschreibt, so hält er diese beschreibung für
unwahr, denn wo hätte er von einem ähnlichen tier gehört, ein
ähnliches monstrum gesehen? fein genug erklärt er für den grund
der falschen Vorstellung von jenem tiere die furcht, welche die Inder
vor ihm empfanden : Taurrjv oük äXrjGr] ttjv opn^riv oi 'Ivboi b€£a-
c0ai boKoöci yoi irap* dXXr)Xujv uttö toö dTav Ic t6 Gnpiov bei-
juaTOC. — Wenn er dagegen von geflügelten schlangen hört, so glaubt
er, hat er gleich keine solche gesehen, dennoch an ihre existenz, weil
er ein analoges tier, einen skorpion mit heuschreckenartigen flügeln,
gesehen hat: direi toi ko\ £yuj Tmpurroüc öqxic ou Geacduevoc
TreiGoMai, biön dvr)p OpuH rjYaYev de 'Iwviav CKOpnlov xaic dxpiciv
öuoiÖTaia 7TT€pd Ixovxa.
Das göttliche walten offenbart sich nach der anschauung des
Pausanias in der natur ganz in derselben weise wie in dem menseben-
leben, denn wie sonst überall pflegt der gott auch bei ungewöhn-
lichen naturereignissen mahnende zeichen vorauszusenden: Trpocrj-
jiaiveiv Kard Td auid ibe dTrinav €iuj0€. er kündet erdbeben durch
häufigen regen oder auffallende dürre, durch heftige stürme oder
feurige Sternschnuppen, durch auffallende bildungen der gestirne
und andere Vorzeichen an, und es ist als ein beweis seines furcht-
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Über die m et ho de der griechischen schullectüre in prima. 475
baren zornes anzusehen, wenn diese vorboten — wie bei dem erd-
beben von Teos — fehlen : xd juev ouv dXXct im xoTc ce icfio ic irpo-
ccrjucuvcv 6 Geöc Kctxd xd auxd tue ^ttittov cTwee* f\ Tdp dTropßpiai
cuvcxeic f| auxMOi Trpö xüjv ceicutliv cuußcuvouciv im xpövov
irXeiova . . dXXa xe TroXXd ö Geöc im xoic ßiatoic xüjv ccicm&v
^Xei irpobeiKVuceai (VIII 24, 5. 6).
Gümbinnen. Adolf Bieder.
46.
ÜBER DIE METHODE
DER GRIECHISCHEN SCHULLECTÜRE IN PRIMA.
Vortrag gehalten in der altclassischen abteilung der ersten Versammlung
des sächsischen gymnasiallehrervereins im april 1891.
M. h. h.! in den unser volk bewegenden erörterungen , die in
den beiden letzten Jahrzehnten geführt worden sind und geführt
werden über die frage, ob unsere gymnasien den an sie gestellten
anforderungen noch genügen, bildet einen hauptangriffspunkt der
griechische Unterricht und die leetüre der griechischen schriftsteiler;
viele der gegner des gymnasiums reden von der Unfruchtbarkeit
dieses Unterrichts wie von einer feststehenden thatsache. gestatten
Sie mir die hauptsächlichsten ausstellungen, die gegen den betrieb
dieses Unterrichts erhoben wurden, kurz zu besprechen, um die frage
daran zu knüpfen , ob in ihnen etwa berechtigte vorwürfe enthalten
sind , und ob wir vielleicht gewinn aus ihnen zu ziehen vermögen
nach dem Spruche:
Teuer ist mir der freund , doch auch den feind kann ich nützen:
zeigt mir der freund, was ich kann, lehrt mich der feind, was ich soll.
Unsere sächsische lehr- und Prüfungsordnung für die gymnasien
vom 8 juli 1882 sagt: 'der Unterricht in den altclassischen sprachen,
lateinisch und griechisch, ist es, welcher den gymnasien ihr eigen-
tümliches und unterscheidendes gepräge im vergleiche mit den übri-
gen höheren Unterrichtsanstalten gibt, ihre gründliche erlernung
bleibt daher hauptaufgabe der gymnasien und sie bilden den mittel-
punkt des gymnasialunterrichts.' diesem Unterricht fällt als haupt-
aufgabe zu in den geist und das leben des classischen altertums ein-
zuführen, im besondern bezweckt nach der lehr- nnd Prüfungsordnung
rdie erlernung der griechischen spräche neben der allgemeinen geisti-
gen gymnastik durch den altclassischen Sprachunterricht die hebung
der geistigen schätze und bildungsmittel, welche in der classischen
hinterlassenschaft der Griechen enthalten sind', wenn hier noch ein
doppelter zweck des griechischen Unterrichts genannt ist, so hat in
den jähren seit dem erscheinen der lehr- und Prüfungsordnung ein
zurücktreten des ersten hinter dem zweiten, des formalen hinter dem
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476 Über die methode der griechischen schullectüre in prima.
inhaltlichen , stattgefunden, das hohe kgl. ministerium hat seitdem
die sächsischen gymnasien zu verschiedenen malen , namentlich in
der generalverordnung vom 5 juli 1890 daraufhingewiesen, dasz
'der Schwerpunkt des griechischen Unterrichts auf der obersten stufe
noch weiter als bisher von der formalen seite nach der inhaltlichen
gerückt werden soll in erfüllung einer forderung, welche von Jahr-
zehnt zu jahrzehnt gebieterischer an das gymnasium herantritt',
völlig im einklang mit dieser auffassung haben sich die mitglieder
der Berliner schulconferenz im december vorigen jahres ausgespro-
chen, der ministerialcommissar geheimrat Stauder formulierte die
beiden ziele des lateinischen und griechischen Unterrichts so (s. 210) :
das lehrziel 'ist für das lateinische: logische, historische Schulung,
verbunden mit gründlicher lectüre, für das griechische ein eindringen-
des sachliches Verständnis der für die menschheit und unsere nation
wichtigsten griechischen classiker'. von keinem der mitglieder der
conferenz, mochte seine Stellung diesem Unterrichtszweige gegenüber
die des angreift, rs oder des Verteidigers sein, ist ausgesprochen wor-
den, dasz die gymnasien aus irgend einem andern gründe griechisch
zu lehren hätten, als um die kenntnis der griechischen litteratur und
damit des griechischen altertums zu ermitteln, diese einheitlichkeit
und einfachheit des Zweckes und zieles beim griechischen Unterricht
ist es gewesen, die mich bewogen hat die folgenden ausführungen
nur an das lesen der griechischen Schriftsteller anzuknüpfen und
den lateinischen Unterricht und die lateinische lectüre, wo vieles an-
ders liegt, nicht mit unter dem gleichen gesichtspunkt zu behandeln,
dasz manches, was von der griechischen lectüre zu sagen ist, von
der lateinischen in gleichem masze gilt, wird Ihnen nicht entgehen,
auszerdem habe ich bei meinen bemerkungen Uber die behandlung
der griechischen lectüre an die classen vornehmlich gedacht, in
denen die grammatikalische erlernung der spräche als für die schule
abgeschlossen betrachtet werden soll, also an die beiden primen.
für die secunden werden diejenigen einschränkungen.zu machen sein,
die sich aus dem lehrplan und dem geistigen stand dieser classen
von selbst ergeben.
Bei dem genannten zweck des griechischen unterrichte würden
die gegner seines gymnasialen betriebes den wuchtigsten, ja geradezu
vernichtenden schlag gegen ihn führen können, wenn es ihnen ge-
länge nachzuweisen oder wenigstens glaublich zu machen , dasz die
griechische litteratur geringwertig und ihr Studium für die gymna-
siasten bedeutungslos oder ungeeignet sei. aber von dieser behaup-
tung, mag sie früher auch einmal in der hitze des gefechts gewagt
worden sein, hört man nichts mehr: in der Wertschätzung der grie-
chischen litteratur und in der anerkennung ihrer bedeutung für die
höhere bildung besteht eine geradezu erstaunliche Übereinstimmung
der meinungen auch in den reihen derer, die unser gymnasium, wie
es heute ist, heftig angreifen, prof. Virchow äuszerte sich in der
schulconferenz über den altclassischen Unterricht in den gymnasien
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Über die methode der griechischen achullectüre in prima. 477
sehr abfällig, er sagte (s. 122): 'die altsprachlichen Studien laufen
darauf hinaus, dasz der einzelne damit wenig anfangen kann, dasz
er sich nicht einmal darüber klar wird, was er eigentlich damit
machen soll'; dasz er aber nicht die altclassischen Studien an sich,
sondern nur ihren heutigen betrieb tadelnswert findet, sprach er
deutlich an einer andern stelle aus (abgeordnetensitzung vom 6 märz
1889, 8. conf. s. 167), wo er sagte: 'ich schwärme nicht für die
realschulen. wenn ich ein humanistisches gymnasium herstellen
könnte, welches die classischen Studien in einer solchen Vollständig-
keit leistete, wie sie einstmals geleistet worden sind auf unsern ge-
lehrten schulen, so dasz die sprachen wirklich gelernt, die alten das-
siker mit bequemlichkeit gelesen würden, dasz wirklich der geist der
alten in der form und stärke ihrer eignen worte hinüberströmte in
unsere jugend — dann würde ich sehr dafür sein, dasz wir das
humanistische gymnasium mit voller festigkeit verteidigten.' prof.
Paulsen sagte in der conferenz (s. 229): 'ich bin verdächtig kein
freund des classischen Unterrichts zu sein, wenigstens verdächtigt
worden, in Wahrheit habe ich nie aufgehört, ein freund des alter-
tums und des classischen Unterrichts zu sein , nur bin ich nicht ein
ebenso groszer be wunderer derer, die in unserer zeit als lobredner
des classischen altertums auftreten.' die zahl der griechischen stun-
den wünscht er auf keinen fall herabgesetzt, verlangt aber mehr Übung
in der leetüre (s. 232). freiherr v. Schenckendorff äuszerte ebenda
(s. 336): 'wir wünschen, dasz dem deutschen volke das gymnasium
erhalten bleibe, dasz es nach wie vor die idealen güter pflegen möge
und dasz die classische bildung, die Vertiefung in die antike sowie
der echte religiöse sinn immer und für alle zukunft lebendig bleibe.'
Diese grosze Übereinstimmung in der Wertschätzung der antiken,
vorzüglich der griechischen litteratur als erziehungsmittel ist es, die
uns mit froher hoflnung für die zukunft des gymnasiums erfüllt,
aber wir dürfen uns auch anderseits nicht darüber täuschen, dasz
über die art und weise, wie in den gymnasien jetzt der altclassische
Unterricht erteilt wird, in weiten kreisen Unzufriedenheit herscht,
auch bei denen, die den altertumsstudien an sich freundlich gesinnt
sind, man glaubt zu bemerken, dasz unsere schüler diesen Studien
nicht lust und liebe mehr entgegenbringen, prof. v. Helmholtz sagte
in der conferenz (s. 205): 'ich habe den eindruck empfangen, dasz
in der relativ alten zeit, in welche meine gymnasialerfahrungen zu-
rückreichen, wir damals aus unserm gymnasium mit mehr lust an
den alten Schriftstellern hervorgegangen sind, als sie bei der gegen-
wärtigen jugend zu finden ist. indessen, es war ein wesentlicher
unterschied im Unterricht, man bestrebte sich uns viel lesen zu
lassen und schlieszlich konnten wir die schriftsteiler, für die wir
etwas eingeübt waren, mit leichtigkeit lesen.' andere behaupten
geradezu, die meisten der griechischen classiker seien für unsere
gymnasiasten zu schwer, zu hause bei der sogenannten präparation
würden eben nur vocabeln aufgeschlagen, dann gehe in der schule
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478 Über die methode der griechischen schullectüre in prima.
bei der Übersetzung das radebrechen los und unter beständigem
kämpf mit grammatik und lexikon, unter fortwährendem dazwischen-
treten und weiterschieben von seiten des lehrers haspele sich die
lectüre trocken und freudlos zeile um zeile, vers um vers von an-
fang bis zum schlusz der stunde weiter. Paulsen fragt in seiner ge-
schiente des classiseben Unterrichts (s. 776 f.) : 'findet ein lesen der
Griechen wirklich statt? stellt sich nicht zwischen den lehrer und
den schuler mit peinlichster hemmung die unkunde der spräche?
bleibt nicht das lesen oft ein kümmerliches buchstabieren und sind
nicht die stunden der classischen lectüre oft, statt stunden der er-
holung, stunden der pein und lange weile? vielleicht wäre es für
nicht wenige, die das gymnasium hinter sich haben, eine der schreck-
lichsten aussichten, nochmals dazu verurteilt zu werden täglich stun-
den lang dem sogenannten tibersetzen der mitschüler zuzuhören, so
wenig Übersetzungen in anderer hinsieht geeignet sein mögen die
originale zu ersetzen, so möchte ich doch beinahe glauben, dasz ihre
gemeinsame lectüre, indem sie diese art der behandlung der alten
Schriftsteller unmöglich machte, im ganzen wohlthuendere eindrücke
hinterliesze.' dieser Vorschlag, die griechischen Schriftsteller in der
schule nicht in den originalen, sondern in deutschen Übersetzungen
zu lesen, ist ausgegangen von den Vorkämpfern für die völlige gleich-
stellung der realgymnasien mit den gymnasien; sie wollten den real-
gymnasien die kenntnis der griechischen litteratur vermitteln ohne
das erlernen der griechischen spräche ihnen zuzumuten, auszerhalb
dieser kreise hat der genannte Vorschlag sehr wenig anklang ge-
funden, man wies mit recht darauf hin , wie die Übersetzung, wenn
es darauf ankomme in den geist des altertums einzudringen, eben
diesem geiste empfindlich abbruch thue, wie sie eben ein anderes
gebe statt des Originals und auf schritt und tritt bei eingehenderer
beschäftigung zum heranziehen des Originals nötige. — Andere
wollten die Schwierigkeit der lectüre wenigstens dadurch den Schü-
lern erleichtert sehen, dasz bei der häuslichen präparation die be-
nutzung einer deutschen Übersetzung gestattet werde , wie in man-
chen gymnasien ja bereits die benutzung des Voss bei der Homer-
präparation gestattet sei. ich glaube auch hier Ihrer Zustimmung
sicher zu sein, wenn ich mich gegen diese erlaubnis ausspreche, wäre
anzunehmen, dasz die schüler zunächst den griechischen text lesen
würden und nur an schwierigeren stellen sich in der Übersetzung
rats erholten, so möchte es gehen ; aber in neunundneunzig von hun-
dert fällen wird der schüler, wenn er bei der präparation die deutsche
Übersetzung neben dem griechischen text liegen hat, jeden satz erst
in der Übersetzung lesen, um ihn im text nachher rasch zu über-
fliegen und allenfalls die unbekannten Wörter nachträglich aufzu-
schlagen, das wird ihn zur Oberflächlichkeit und leichtfertigkeit im
lesen verführen, und ihn dauernd im gefühl der Unselbständigkeit
und hilfsbedürftigkeit niederhalten, während der unterriebt und die
erziehung zur Selbständigkeit und freiheit führen soll.
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Über die methode der griechischen schullectüre in prima. 479
Aber, so sagt man, bei dem gewöhnlichen verfahren kommt die
schullectüre zu langsam vom fleck, die schüler lernen zu wenig
kennen, der blick wird zu wenig auf den Zusammenhang, das inter-
esse zu wenig auf das kunstwerk als ganzes gerichtet, weil man gar
zu intensiv sich mit den einzelheiten beschäftigt, die das kleine
bruchstück, das in der stunde Übersetzt wird, bietet, die lectüre
wird zu oft unterbrochen durch grammatische und antiquarische
notizen, und die Übersetzung wird dem schüler dadurch peinlich ge-
macht, dasz man ihn auch da, wo er den sinn verstanden hat, auf
den ausdruck allzu lange knöchelt. — Haben die leute, die so reden,
völlig unrecht?
Ich spreche zunächst von der Schwierigkeit, die dem primaner
die griechischen Schriftsteller bei der präparation bereiten.
Homer , apologie und Kriton , ein groszer teil der historischen
abschnitte des Thukydides verursacht dem fleiszigen primaner nicht
erhebliche Schwierigkeiten, gröszere anforderungen stellen an ihn
die eigentlich philosophischen dialoge Piatons, so ist z. b. in dem
gern gelesenen Prot ago ras der abschnitt, der von der erklärung des
Simonideischen gedichtes handelt, einem schüler kaum verständlich,
grosze, zum teil unübersteigliche Schwierigkeiten bereiten ihm die
reden und die reflectierenden partien bei Thukydides; schwer fällt
ihm auch, wenigstens im anfang, dem gedankengang Demostheni-
scher logik genau zu folgen und die zahlreichen beziehungen seiner
mhaltreicben sätze klar zu sehen, in den tragödien bilden die dia-
loge keine allzu schwierige aufgäbe, obgleich manche partien, wie
z. b. die stichomythien mit ihren verschränkungen der sätze und
ihrer schlag auf schlag folgenden fecbtweise, scharfes aufmerken er-
fordern, die Schwierigkeiten steigern sich aber bei den lyrischen
teilen ; von den Sophokleischen chören sind die meisten für primaner
bei der präparation kaum zu bewältigen.
Nun, dafür ist ja der Unterricht da, pflegt man zu sagen; da
wird, was dem schüler bei der präparation unklar geblieben ist, vom
lehrer erklärt, und den jungen schadet es nichts, wenn sie sich an
harten nüssen die zäbne ausbeiszen. ich glaube doch, dasz es be-
denklich ist, wenn man den schülern aufgaben stellt, die voraussicht-
lich auch bei angewandtem fleisze der gröszere teil nicht lösen kann,
erfolglose mühe erzeugt leicht überdrusz und erschlaffung; in der
stunde aber bewirkt es Zeitverlust, wenn man bei der Übersetzung
solcher abschnitte erst die durchgängigen misverständnisse und Irr-
tümer der schüler aufzudecken und zurückzuweisen hat, ehe man
dazu kommt den richtigen weg des Verständnisses zu zeigen.
Das übersetzen des präparierten abschnittes in der stunde
pflegt so gehandhabt zu werden, dasz die aufgerufenen schüler ihren
abschnitt erst griechisch lesen, dann möglichst wörtlich übersetzen,
diese erste Übersetzung oder 'vorÜbersetzung' wird vom lehrer unter
heranziehung der schüler verbessert und erklärt, und auf grund
dieser Verbesserungen wird entweder in derselben stunde nach ab-
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480 Über die methode der griechischen schullectüre in prima.
schlusz der erklärung oder am anfang der folgenden stunde eine
zweite Übersetzung, die sogenannte 'nachÜbersetzung' gegeben, bei
der auf cor rec ten und geschmackvollen deutschen ausdruck das äugen-
merk zu richten ist. zuweilen werden auch gröszere zusammen-
gehörige abschnitte, wie z. b. reden, wenn sie zu ende gelesen sind,
noch einmal im zusammenhange von anfang bis zu ende 'durch-
übersetzt'.
Die erklärung wurde früher verschieden gehandhabt, je nach-
dem man rstatarische' oder kursorische' lectüre vornahm, jetzt hat
man diesen unterschied, wo man nicht etwa den ausdruck 'curso-
rische' lectüre auf das extemporierte übersetzen überträgt, meist
aufgegeben, man pflegt sich auf Nägelsbachs ausspruch dabei zu
berufen: 'cursorisch wenn möglich, statarisch wenn nötig', wobei
freilich die begriffe 'möglich' und 'nötig' sehr verschieden gefaszt
werden.
Grammatische Übungen werden in der that noch an man-
chen orten auf kosten der lectüre vorgenommen, ich weise z. b. auf
den aufsatz Dettweilers hin: 'eine Demosthenesstunde in unterprima'
im zehnten beft der Frick - Meierschen 'lehrproben und lehrgange'
(Halle 1887). da wird empfohlen, am anfange der stunde, wenn
auch nicht regelmäszig, aus dem zu übersetzenden abschnitt die
grammatisch bemerkenswerten thatsachen zusammenzustellen, etwa
alle aus der casuslehre , für die der schüler aus seinen syntaktischen
Sammlungen bereits ein bei spiel weisz, oder aus der moduslehre,
oder aus irgend einem andern gebiete der grammatik; oder der lehrer
möge eine stelle aus dem textabschnitt nennen, an der ein genetiv
der fülle, ein inneres object, ein potential und dergleichen vorkom-
men, um sich von dem schüler sofort das in den syntaktischen Samm-
lungen gelernte musterbeispiel dafür angeben zu lassen; auch die
formenlehre möge in diesen sprachlichen Übungen gelegentlich be-
rücksichtigt werden, bei der eigentlichen lectüre empfiehlt Dett-
weiler in demselben lehrgang die erziehlichen momente aus
dem stoff herauszuheben und durch angliederung an schon vorhan-
dene gruppen zu behandeln, z. b. bei der Demostheneslectüre den
begriff der nationalen ehre; über solche 'baupteoncentrationsbegriffe'
hätten dann bei gröszeren abschnitten , z. b. am schlusz einer rede,
mündliche vortröge und schriftliche darlegungen einzutreten, man
empfiehlt wohl auch collectaneenhefte anlegen zu lassen, damit
die schüler die aus der lectüre gewonnenen urteile und begriffe, oder
anderseits die bei der lectüre besprochenen 'realien' eintragen und
systematisch ordnen könnten, es pflegt dann allerdings, wo solche
Sammlungen geführt werden, eine gewisse neigung sich einzustellen,
sie zu bereichern; und damit drängt sich von einer andern als der
grammatischen seite das beiwerk wieder vor in die lectüre. bei der
erklärung des prologs der Antigone behandelt Richter (Jena) im
siebenten und zehnten heft der 'lehrproben und lehrgänge' den bau
des trimetersso ausführlich, dasz er z. b. die frage einer bespre-
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über die methode der griechischen schullectüre in prima. 481
chung mit seinen primanern unterzieht, ob der trimeter richtiger
aufzufassen sei als eine Verbindung von drei jambischen metren oder
als eine Verbindung von drei trochäischen dipodien, zwei akatalek-
tischen und einer katalektischen, mit dem vorschlage der anakrusis.
in der parodos der Antigone läszt er die versmasze zergliedern;
es sollen die kola und periodender strophe aufgezeigt, die rhythmen
eingeübt werden durch vorsprechen und chormäsziges nachsprechen,
die von Richter mitgeteilte interpretation der 60 verse langen parodos
würde in der von ihm ausgeführten art mit allen ihren sprachlichen
und sachlichen erklärungen, ihrer ausführlichen darlegung der in-
haltlichen gliederung, der stofflichen elemente, des ideengehaltes,
der angewandten bilder und contraste usw. , abgesehen von der be-
sprechung der metra, mindestens drei stunden in anspruch nehmen.
Angesichts einer solchen, gewis gründlichen, gewis auch viel-
fach anregenden und nutzbringenden behandlung der griechischen
lectüre wird doch die klage über das zerpflücken der das-
siker und den zu langsamen gang des lesens, bei dem das
interesse für den gegenständ erlahme, uns verständlich. — Die grie-
chischen tragödien z.b. sind edle Schöpfungen der Dichtkunst, höchst
geeignet in das wesen der dramatischen poesie den schüler einzu-
führen, seinen verstand zu beschäftigen, sein herz zu ergreifen; aber
die handlung in einer griechischen tragödie ist einfach, viel ein-
facher als in den meisten der modernen dramen, und wenn nun in
den 40 oder gar in 60 der dichterlectüre in oberprima gewidmeten
stunden eines halben jahres eine einzige tragödie gelesen wird, und
der schüler dieses halbe jähr hindurch nur auf die eine handlung
den blick zu richten hat, wie Antigone, weil sie den leichnam ihres
bruders bestattet bat, durch Kreons spruch den tod erleidet, oder
wie Oedipus entdeckt, dasz er seinen vater getötet und seine mutter
geheiratet hat und darauf an sich selbst die strafe der blendung voll-
zieht, so kann ich es nicht unbegreiflich finden, wenn sich einmal
ermüdung bei den schülern einstellt, der heldengrösze einer Anti-
gone, die unbeirrt von todesfurcht allein der inneren stimme folgt
und gott mehr gehorcht als menschenworten , bringen auch unsere
schüler bewunderung entgegen und fühlen, dasz ihr handeln edel
war und geloben sich im herzen edel selbst zu handeln ; wenn aber
das hin- und herreden über die berechtigung der that Antigones ein
halbes jähr lang fortgesetzt wird, da kühlt sich auch die wärmste
begeisterung ab.
Wenn der griechische Unterricht in prima lediglich zum zweck
hat die hebung der geistigen schätze und bildungsmittel, die in der
griechischen litteratur uns vorliegen, so erscheint eine möglichst
umfassende lectüre der griechischen classiker wünschenswert,
je mehr von ihnen der schüler liest, desto besser liest er sich in sie
hinein; je mehr einzelzüge ihrer geistigen persönlichkeiten er aus
ihren werken kennen lernt, um so deutlicher und vertrauter tritt
ihm das bild der individualität eines jeden vor äugen; je mehr feste
N.jahib.f.phil.o.päd. Il.abt. 1891 hfl. 10. 31
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482 über die methode der griechischen schulleetüre in prima.
punkte er im gebiet der griechischen litteratur gewinnt, um so zahl-
reicher lassen sich die föden nerüber und hinüber ziehen, die Deutsch-
tum und Hellenentum verbinden.
Bei uns wie in Preuszen — die tragikerlectüre mag wieder als
maszstab dienen — werden in oberprima gewöhnlich zwei tragödien
gelesen, in jedem semester eine, hat man nun drei stunden wöchent-
lich für diesen Unterricht zur Verfügung, so halte ich es für thunlich
in diesen mindestens 100 Unterrichtsstunden in oberprima wenig-
stens vier tragödien zu lesen ohne einer oberflächlichen be-
Handlung sich schuldig zu machen und ohne die schtiler zu über-
bürden.
Ehe ich an die lectüre eines dramas gehe — ich bleibe bei dem
beispiel der tragikerlectüre, um mein verfahren zu erläutern — ,
teile ich das stück in verschiedene , ich will sagen in 20 abschnitte
für 20 Unterrichtsstunden, und bemerke, welche dieser abschnitte
die schüler zu präparieren und zu Ubersetzen haben, und welche ab-
schnitte ich übersetzen werde, im allgemeinen teile ich die dialog-
partien den schülern zu und behalte die lyrischen mir vor. die ab-
schnitte der schüler sind ein jeder ungefähr 60—70 verse lang, die
schüler übersetzen sie in der stunde so wörtlich, als der geist der
deutschen spräche es gestattet, der Wortstellung des griechischen so
lange folgend, als unsere dichterische spräche es erlaubt, wie sie zu
tibersetzen haben , das sollen sie an den Übersetzungen des lehrers
lernen, so hat das verfahren Übersetzungen des lehrers abwechseln
zu lassen mit den Übersetzungen der schüler einen dreifachen erfolg:
es erleichtert dem schüler die lectüre, indem es ihm die präparation
besonders schwieriger stellen erspart, es ermöglicht der lectüre einen
rascheren gang zu geben, und es gibt dem schüler fUr sein eignes
übersetzen ein eindrucksvolles vorbild. die schüler haben darauf zu
achten, dasz sie die von ihnen präparierten abschnitte in der stunde
flieszend, ohne stocken und steckenbleiben übersetzen können; wer
aufgerufen wird und die stelle, die er übersetzen soll, nicht ver-
standen hat, gibt dies an und wird darauf von der Übersetzung dieses
Stückes dispensiert, bei schwierigeren stellen werden diejenigen auf-
gefordert sich zu melden , die es sieh getrauen gut zu übersetzen,
erklär ungen der sprachlichen form treten nur da ein, wo die Über-
setzung ihrer bedarf; sachliche erläuterungen nur da, wo das Ver-
ständnis des Zusammenhangs sich nicht ohne sie erreichen läszt —
bei den abschnitten, die ich mir vorbehalten habe zu Übersetzen,
lese ich zuerst satz für satz, strophe für Strophe im griechischen text
laut den schülern vor, mache bei den lyrischen partien auf die her-
schenden rhythmen aufmerksam und suche an geeigneten fällen Ver-
ständnis für die klangwirkung der rhythmen zu erzielen, darauf
werden die Wörter erklärt, die constructionen erläutert, kurz den
schülern in knapper form gezeigt, wie man präparieren müsse; dann
wird Ubersetzt, die schUler haben am anfang der folgenden stunde
zu zeigen , dasz sie der erklärung und Übersetzung des lehrers auf-
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Über die methode der griechischen schullectüre in prima. 483
merksam gefolgt sind, rtickblicke, Charakterisierungen, Zusammen-
fassungen erfolgen am Schlüsse der dramen.
Die systematischen darstellungen einiger gebiete aus der litte-
raturgescbichte und den altertümern, die zum Verständnis der lectüre
notwendig sind , ein kurzer abrisz der vorsokratischen philosophie
für Piaton, ein Überblick über die politischen Verhältnisse und einiges
aus der athenischen Verfassung für Demosthenes, eine darstellung
der entwicklung des dramas für die tragiker, das gebe ich nicht in
den fünf lectUrestunden, von denen in oberprima zwei dem prosaiker,
drei dem dichter gehören, sondern in der siebenten griechischen
wochenstundo, die auszerdem dem extemporierten übersetzen aus-
gewählter abschnitte aus den griechischen lyrikern dient, das ex-
temporieren findet in der weise statt , dasz ich selbst den schülern
den griechischen text vorlese mit hinzugefügter erklärung der selte-
nen Wörter, und am ende jedes abschnitts frage, wer von den schülern
das vorgelesene stück gut zu übersetzen sich getraut.
M. h. h.! misdeuten Sie es nicht, das/ ich in diesem letzten
teil so viel von mir und wie ich es mache, gesprochen habe, ich
habe es nicht gern gethan. ich muste es aber thun, wenn ich zeigen
wollte, wie ich die Ihrer freundlichen beachtung empfohlene art
griechische schriftsteiler in der schule zu lesen, in praxi durch-
geführt habe.
M. h. h. ! ich bin tief überzeugt davon, dasz der beruf, dem
wir unser leben geweiht haben, eine edle kunst ist, und dasz es
der geist ist, der den künstler macht, ich weisz, wie äuszerlich
und handwerksmäszig gegenüber diesem geiste das wesen der dinge
ist, die ich zur spräche brachte, der eine liest fast ein halbes jähr
hindurch mit den schülern die leichenrede des Perikles und die
schüler werden von ihm zu lebhaftem interesse und zur bewunde-
rung der herlichkeit hellenischen geistes emporgehoben, ein anderer
liest zwei tragödien in derselben zeit und die schüler haben lange-
weile. ich gebe jedem recht, der da sagt: vom umfang der lectüre
hängt nicht das heil dieses Unterrichts ab. gewis, das ist das
alte lied :
grau, teurer freund, ist alle theorie,
und grün des lebens goldner bäum.
Aber die dem wahren künstler von gott verliehene kraft, die
ihres erfolgs bei jeder tecbnik sicher ist, die läszt sich nicht in worte
fassen, nicht mitteilen, nicht ablernen, wohl aber die handwerks-
mäszige behandlung, und wenn auch von der der alte satz gilt:
multiplex ratio est, so sind doch nicht alle rationes gleich probat,
möchten Sie die von mir empfohlene freundlich prüfen, und, wenn
sie Ihnen des Versuches wert erscheint, versuchen.
Leipzig. Richard Meister.
31*
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484 Erläuternde bemerkungen zu Cicero de officiis cap. 32. 33. 42.
47.
ERLÄUTERNDE BEMERKUNGEN
ZU CICERO DE OFFICIIS CAP. 32. 33. 42.
Wenn es eine hauptaufgabe des altclassiscben Unterrichts auf
unseren humanistischen gymnasien ist, den scbülern das altertum
als die wichtigste Vorstufe der modernen cultur zum Verständnis zu
bringen, so kann diese aufgäbe nur dann in befriedigender weise
gelöst werden , wenn der sittlichen seite des antiken lebens die ge-
bührende beachtung geschenkt wird, denn das sittliche gebiet bildet
den mittelpunkt des antiken, wie eines jeden Volkslebens, wir müssen
es daher Cicero dank wissen, dasz er uns in seinen officien einen
abrisz der Sittenlehre gegeben hat, wie er und seine zeit sie ver-
standen, ob freilich dieses buch überall mit dem interesse, welches
die hohe bedeutung des in demselben behandelten gegenständes mit
recht beanspruchen darf, von unseren scbülern gelesen wird, möchte
von mancher seite vielleicht bezweifelt worden, hätte L. Döderlein
(reden und aufsätze, zweite Sammlung s. 243) mit seiner behauptung
wirklich recht, dasz jünglinge durch historische classiker sich an-
gezogen und begeistert, durch reflectierende dagegen meistens kalt
gelassen oder abgestoszen fühlen, so wäre es überhaupt vergebliche
mühe, unsere primaner für Ciceros officien erwärmen zu wollen,
aber Döderleins urteil ist einseitig: in jedem normal angelegten
jüngling darf neben dem sinn für das thatsächliche zugleich ein leb-
haftes interesse für die tiefsten fragen des menschenlebens von vorn
herein vorausgesetzt werden, warum sollte gerade das ethische, wel-
chem doch unter den höheren lebensgebieten neben dem religiösen
die erste stelle gebührt, nicht ebenfalls im stände sein, die teilnähme
der reiferen jugend zu erregen ? es müste ihr denn in einer geradezu
abstoszenden form dargeboten werden, nun wird freilich behauptet,
dasz Ciceros darstellung in den officien wenig geeignet sei, den
jugendlichen geist zu fesseln, 'der inhalt des buches ist', so meint
man, fim allgemeinen so trivial, dasz es nicht der mühe lohnt, unsere
primaner mit seiner lectüre zu befassen, heiszt es nicht gleichgültig-
keit gegen den inhalt des gelesenen geradezu herausfordern , wenn
man sachen mit ihnen liest, die allen längst bekannt sind?* — Dasz
manches in den officien trivial ist, soll keineswegs bestritten werden,
aber auch das triviale kann das interesse des schülers erregen, wenn
es ihm in der rechten beleucbtung gezeigt wird. Wahrheiten, welche
heute von den dächern gepredigt werden, sind der menschheit einst
unbekannt gewesen, meist haben sich dieselben aus der tiefe des
allgemeinen bewustseins allmählich emporgearbeitet, nicht selten
sind sie als Offenbarungen einzelner erhabener geister zum ersten
male an das licht getreten und erst in jahrhundertelanger entwick-
lung zu allgemeinerer anerkennung gelangt, wer dieses nicht weisz,
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Erläuternde bemerkungen zu Cicero de officiis cap. 32. 33. 42. 485
ißt geneigt, dergleichen ohne weiteres für abgethan oder gar abge-
schmackt zu erklären, die historische betrachtung dagegen wird
auch trivialitäten , insofern sie ein moment in der entwicklungs-
geschichte der menschheit bilden, gebührend zu würdigen wissen,
auf diesen Standpunkt der beurteilung müssen wir auch unsere
schüler zu erheben suchen, übrigens darf nicht vergessen werden,
dasz durchaus nicht alles, was uns in Ciceros officien geboten wird,
trivial ist. es findet sich darin eine reiche fülle von sittlichen an-
scbauungen, welche von den unsrigen durchaus abweichen; vor allem
ist die grundlage der antiken ethik eine von der unsrigen ganz ver-
schiedene, und gerade dieser umstand ist von besonderer bedeu-
tung, weil die schüler dadurch zu einem nachdenkenden vergleich
zwischen antiker und modern-christlicher lebensau ffassung angeregt
werden, indem sie auf diese weise ihre einsieht in das wesen des
menschen überhaupt erweitern und vertiefen, gewinnen sie an wahrer
bildung, welche, wie die weisen aller zeiten von jenem unbekannten
Griechen, der das yvujöi cüutöv ersann , bis auf Goethe uns gelehrt
haben, ihren letzten grund nicht in dem Studium der natur, sondern
in dem Studium des menschen hat.
Es sind nur wenige capitel des ersten buches, mit denen dieser
aufsatz sich beschäftigen soll; doch scheinen dieselben um ihres be-
deutsamen inhalts willen einer eingehenderen erörterung wohl wert
zu sein: denn die frage nach der bedeutung des berufs hängt aufs
innigste mit der frage nach dem inhalt und wert des lebens über-
haupt zusammen.
Cicero beschäftigt sioh in cap. 32 zunächst mit der wähl des
berufs und macht darüber die treffendsten, noch für unsere zeit
gültigen bemerkungen. die entscheidung Uber den einzuschlagenden
lebensweg, so schreibt er, sei für den jüngling besonders schwierig:
er müsse wählen in einem lebensalter, in welchem seine einsieht
geringe, sein urteil noch unreif sei. daher lieszen sich die einen
durch den einflusz der eitern, andere durch die mode bestimmen, nur
wenige fänden, sei es durch einen glückszufall, sei es durch eigne
tüchtigkeit das richtige, doch wir wollen hier nicht den inhalt des
ganzen abschnitts recapitulieren; ein jeder leser wird gewis überrascht
sein durch die scheinbar vollständige Übereinstimmung zwischen
antiken und modernen anschauungen. da nun Cicero die Schwierig-
keiten bei der berufswahl so eingehend behandelt, so scheint man
mit recht voraussetzen zu dürfen, dasz dem römischen jüngling eine
so grosze zahl von berufsarten zur auswahl stand, dasz es ihm schwer
wurde, sich für die richtige zu entscheiden, aber so viel wir auch
suchen mögen, finden wir doch nur drei lebenswege, welche er nach
Cicero einschlagen konnte : ius civile, eloquentia, res militaris, oder
was dasselbe ist: causas defensitare, populum contionibus tenere,
bella gerere. jene umfangreiche anweisung für die richtige wähl des
berufs steht zu dieser geringen zahl der überhaupt möglichen berufe
in einem merkwürdigen contrast, zumal wenn wir erwägen, dasz
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486 Erläuternde beinerkungen zu Cicero de officiia cap. 32. 33. 42.
dieselben damals durchaus nicht so schroff von einander geschieden
waren wie heute, und der Übergang aus dem einen in den andern
sich ohne besondere Schwierigkeit vollzog, im anfange von cap. 32
findet sich übrigens auch noch das Studium der philosophie als zu-
lässiger lebensberuf genannt, aber aus andern stellen des ersten
buches geht deutlich hervor, dasz Cicero weit entfernt ist, dasselbe
der praktischen bethUtigung irgendwie gleichzustellen, ohne die zwin-
gendsten gründe, so schreibt er cap. 21, dürfe niemand dem Staats-
dienst fernbleiben: iis, qui habent a natura adiumenta rerum geren-
darum abiecta omni cunctatione adipiscendi magistratus et gerenda
res publica est. wissenschaftliche be^chäftigung als lebensberuf kann
nach ihm höchstens entschuldigt, nicht aber empfohlen werden,
wenn demnach alle, welche die nötigen fähigkeiten besaszen, sich
dem Staatsdienst zu widmen verpflichtet waren, so blieb ihnen nur
die freiheit, das eine oder das andere gebiet des staatslebens zum
besonderen felde ihrer thätigkeit zu wählen, da aber der Staatsdienst
unbesoldeter ehrendienst war, so waren offenbar nur diejenigen in
der läge sich mit demselben zu befassen, welche durch ein hinreichend
grosses vermögen der sorge für ihre materielle existenz enthoben
waren, dieses war nur eine bevorzugte minderzahl, die aristokratie.
nur der aristokrat hat nach Cicero einen wirklichen lebensberuf:
indem er dem Staate dient, erfüllt er zugleich die aufgäbe des men-
schenlebens überhaupt, wie steht's nun, fragen wir, mit denjenigen
thätigkeiten, welche dazu bestimmt sind, dem erwerb des lebens-
unterbalts zu dienen? diese behandelt Cicero bezeichnender weise
an einer ganz andern stelle, nemlich in dem capitel de artificiis et
quaestibus , qui liberales , qui sordidi habendi sint (cap. 42). beruf
(genus vitae) und erwerb (quaestus) fielen für die römische anschau-
ung auseinander, dasz der beruf seinen mann nähre und dasz der
arbeiter seines lohnes wert sei, war im bereiche des Staatsdienstes
ein dem römer fremdartiger gedanke , — wir reden hier natürlich
nur von normalen Verhältnissen, nicht von der späteren eorruption
— ja es galt ihm im allgemeinen überhaupt für gemein, zu arbeiten,
um sich zu nähren, daher sind Cicero alle quaestus bis auf einen,
weiter unten zu besprechenden, im gründe sordidi, gemein, um nun
zu den einzelnen arten des erwerbs überzugehen , so spricht Cicero
zunächst mit besonderer Verachtung von der gewöhnlichen lohn-
arbeit: illiberales et sordidi quaestus mercennariorum omnium, quo-
rum oporae, non quorum artes emuntur; est enim in illis ipsa merces
auetoramentum servitutis. nach dieser äuszerung durfte man ein
milderes urteil über das handwerk erwarten, zumal Cicero auch die
künstler zu den bandwerkern rechnet (tuscul.1 34 wird sogar Phidias
unter den opifices genannt); aber nicht minder wegwerfend heiszt
es auch von ihnen: opifices omnes in sordida arte versantur; nec
enim quiequam ingenuum habere potest officina. gemein sind auch
die klein kau fleute, fleischer, fischhändler, köche usw.; der grosz-
handel ist nicht besonders tadelnswert, doch war er bekanntlich den
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Erläuternde bemerkungen zu Cicero de officiis cap. 32. 33. 42. 487
Senatoren verboten, die mehr geistigen berufe ist Cicero geneigt in
gewissen grenzen als berechtigt anzuerkennen: quibus autem in
artibus aut prudentia maior inest aut non mediocris utilitas quae-
ritur, ut medicina, ut architectura, ut doctrina reruni honestaruni,
eae sunt iis, quorum ordini conveniunt, honestae, d. h. sie sind für
einen aristokraten , insofern er davon seinen leben9unterhalt haben
soll, nicht anständig, zur ausfüllung der musze natürlich gestattet,
volle billigung findet nur der ackerbau. diese von den unsrigcn so
stark abweichenden ansiebten über den sittlichen wert der dem er-
werb dienenden berufsarten finden in den ethischen grundanschau-
ungen des altertums ihre erklärung: die Verachtung der handarbeit
und des handwerks ist dem ganzen altertum gemeinsam, auch die
Griechen dachten bekanntlich darüber nicht anders als Cicero und
seine landsleute (vgl. Schmidt ethik der Griechen II s. 436 ff.), der
begriff des ßdvaueoe sagt genug, finden sich abweichende ansebau-
nngen namentlich in den mehr demokratischen Staaten, so sind die-
selben auch hier nicht allgemein, dasz die philosophen dieser mis-
achtung der niederen beschäftigungen noch mehr nahrung gaben,
war natürlich, diesen, welche in der weit des gedankens lebten,
muste es als des menschen nicht würdig erscheinen, tag für tag in
harter arbeit um seine existenz zu ringen und im schweisze des an-
gesichts sein brot zu essen, der schwere druck eines solchen lebens
muste nach ihrer auffassung allmählich die edleren fähigkeiten und
triebe im menschen ersticken. Plato und Aristoteles stimmen darin
tiberein, dasz durch die banausischen beschäftigungen die menschen
'an leib und seele verkümmern und keinerlei persönliche tüchtigkeit
erlangen' (Zeller philosophie der Griechen II 1 s. Ö71) und so un-
fähig werden dem Staate den schuldigen dienst zu leisten, dasz mit
der niedrigkeit der äuszeren lebensstellung sich in der regel gemein-
heit der gesinnung verbinde, war überhaupt eine den alten geläufige
Vorstellung, auf welche die schüler hinzuweisen die leettire oft genug
Gelegenheit bietet, so z. b. bei Tacitus, aber auch bei Livius. jene
bittere bemerkung de9 letzteren (XXII 25) Uber die niedrige Her-
kunft des consuls C. Terentius Varro wird schon dem secundaner
auffallen.
Mit jener Verachtung der niedrigeren lebensberufe contrastiert
bei Cicero in auffallender weise das begeisterte lob des ackerbaus.
da der landmann im allgemeinen viel schwerer arbeitet, als etwa der
handwerker, so scheint sich Cicero hier selbst zu widersprechen,
folgerichtiger scheinen daher Plato und Aristoteles dem ackerbau
dieselben entnervenden Wirkungen zuzuschreiben wie dem bandwerk
und mit recht in dem vollkommenen Staate auch den bauer von allen
staatsbürgerlichen rechten auszuschlieszen. die Römer aber dachten
praktisch genug, um die bedeutung des ackerbaus für den bestand
des Staates richtig abzuschätzen, sie hatten ein lebhaftes bewustsein
davon, dasz ein tüchtiger bauernstand die festeste grundlage des
ganzen gemeinwesens bilde, wer denkt hier nicht an den anfang von
488 Erläuternde bemerkungen zu Cicero de officiis cap. 32. 33. 42.
Cato de ro rustica: virum bonum cum laudabant maiores nostri, ita
laudabant: bonum agricolam bonuraque colonum. amplissime lau-
dari existimabatur, qui ita laudabatur. ex agricolis et viri fortissimi
et milites strenuissimi gignuutur usw. in der harten schule des land-
lebens erwuchsen jene bauerjungen (rustici adulescentes), aus denen
sich die legionen rekrutierten, von welchen Cicero den Cato sagen
läszt, dasz sie oft freudigen und erhobenen mutes dahin marschiert
seien, von wo sie überzeugt waren, niemals zurückzukehren (Cicero
Cato maior cap. XX). freilich redet Cicero hier von längst vergan-
genen zeiten. auch jenes : nihil est agricultura melius, nihil uberias,
nihil dulcius, nihil bomine libero dignius galt damals nicht mehr.
Italien trug so wenig, dasz es nicht einmal die hauptstadt zu er-
nähren im stände war und statt freier bauern bearbeiteten sklaven-
herden die meilenweit sich erstreckenden latifundien der groszen.
aber in der besten zeit der republik war es allerdings so gewesen,
wie Cicero es hier und besonders im Cato maior geschildert hat. wie
stehen wir nun diesen urteilen Ciceros und des ganzen altertums
über den sittlichen wert der berufsarbeit gegenüber?
Nach unserer anschauung macht keine arbeit den menschen ge-
mein, mag sie auch noch so niedrig sein, wenn sie nur ehrlich ist.
'arbeit schändet nicht' und 'wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen*,
d. h. arbeit ist ehre und ist pflicht eines jeden, welcher arbeits-
fähig ist. müszig gehen und sich von andern füttern lassen ist pflicht-
vergessenheit und schände zugleich, so dachten freilich jene hundert-
tausende römischer btirger nicht, welche in den letzten zeiten der
republik und in der kaiserzeit sich vom Staate ernähren lieszen: was
wir für eine schände halten, das sahen sie für ein ihnen gebührendes
recht an. sociale unterschiede gibt es allerdings auch heute und
wird es immer geben , sie müsten denn einmal in dem allgemeinen
brei des socialdemokratischen zukunftsstaats verschwinden, aber
sociale Stellung und sittliche Schätzung des einzelnen sind wohl aus-
einanderzuhalten, wir können vor einem ehrlichen bauer oder einem
tüchtigen band werksmeister, die in den salons der vornehmen gesell-
schaft selbstverständlich keinen zutritt finden , um ihrer sittlichen
eigenschaften willen eine viel grössere hochachtung hegen, als vor
manchen leuten, die dort aus- und eingehen, ja, auch grosze Staats-
männer und feldherren müssen es sich gefallen lassen, nach dem-
selben sittlichen maszstab gemessen zu werden, wie andere sterb-
liche, um so höher aber schätzen wir die tüchtigkeit des Charakters,
je niedriger die lebenssphäre ist, in der sie uns begegnet, was er-
greift uns denn an jenem bekannten gedieht von CbamUso 'die alte
waschfrau' so tief? ist es nicht die lebhafte empfindung, dasz dieses
arme weib unter den drückendsten Verhältnissen die sittliche auf-
gäbe des lebens gelöst hat, dasz sie in dem to engen kreise, der
ihrem arbeiten und schaffen gezogen war, alle jene fugenden bewährt
bat, welche dem leben seinen tiefsten gehalt'und seinen höchsten
wert verleihen? darum wünscht der dichter mit recht, er hätte einst
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Erläuternde bemerkungen zu Cicero de officiis cap. 32. 33. 42. 489
am abend seines lebens diesem weibe gleich das erfüllt, was er er-
füllen sollte in seinen 'grenzen und bereich'. dasz es auch im alter-
t um an tüehtigen menschen in den niederen ständen nicht gefehlt
hat, möchten wir nicht in abrede stellen, dasz sie aber nicht gobüh-
rend geschätzt wurden, ist gewis. für das aitertum hatte eben nur
diejenige thätigkeit sittlichen wert, welche sich unmittelbar in den
dienst des Staates stellte: hier war das feld, wo die tugend sich
tummeln und sich zeigen konnte: campus. in quo excurrere virtus
cognoscique posset. nach unserer meinung ist dem menschen auf
jedem lebensgebiet, mag es auch noch so klein und unscheinbar sein,
die möglichkeit zur bewährung tugendhafter gesinnung gegeben,
wir fassen die aufgäbe des menschenlebens in weiterem und in tiefe-
rem sinne auf als das aitertum, und dieses haben wir von dem
Christentum gelernt.
Für einen reiferen schtiler ist es gewis lehrreich , sich einmal
den eindruck zu vergegenwärtigen, welchen das Christentum auf
einen Griechen und Römer machen muste, dasselbe gewissermaszen
mit den äugen des antiken menschen zu betrachten, für das bewust-
sein des altertums war das Christentum die gröste paradoxie. ihm
muste jene forderung geradezu als Wahnsinn erscheinen, in einem
juden niederen Standes, der von seinen eignen an sich verächtlichen
Volksgenossen verworfen und dem schimpflichsten tode überliefert
worden war, die erfüllung des sittlichen ideals, die darstellung gottes
in der menschheit zu verehren. Christus war dem so verachteten
handwerkerstande entsprossen; sein ganzes leben war in niedrigkeit
dahingegangen, seine jünger waren männer geringen Standes, sein
täglicher verkehr die armen und verachteten im volke, 'die Zöllner
und sünder'. aber in diesem äuszerlich so unscheinbaren leben offen-
barte sich eine alle menschliche erfahrung Übersteigende sittliche
hoheit und als sein lebenswerk betrachtete er es, auch in den gering-
sten das bewustsein ihrer menschenwürde und ihrer ewigen, gött-
lichen bestimmung zu erwecken und sie ebenso wie alle übrigen zur
niitarbeit an der erfüllung der höchsten aufgäbe der menschheit, an
dem bau des gottesreichs auf erden aufzurufen und zu begeistern,
damit waren auch die socialen unterschiede wenigstens auf dem
religiös-sittlichen gebiet prineipieli überwunden und der unendliche
wert auch des verachtetsten menschenlebens für immer festgestellt,
seinen allgemeinen men9chenberuf kann und soll nun ein jeder er-
füllen, und zwar mit und in seinem besonderen beruf, wie enge sich
in dem christlichen bewustsein beide aufgaben verbanden, beweisen
zahlreiche stellen der Paulinischen briefe (das nähere vgl. bei Uhl-
horn die christliche liebesthätigkeit in der alten kirche s. 76 ff.), in
Übereinstimmung damit sagt Luther in seiner schritt an den christ-
lichen adel : 'ein schuster, ein schmied, ein bauer, ein jeglicher seines
hand werks amt oder werk hat, und doch alle gleichgeweihte priester
und bischöfe; und ein jeglicher soll mit seinem amt oder werk den
andern nützlich und dienstlich sein, dasz also vielerlei werk in eine
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490 Erläuternde bemerkungen zu Cicero de officiis cap. 32. 33. 42.
gemeine gerichtet sind, leib und seele zu fördern, gleichwie die glied-
masze des körpers alle eins dem andern dienet.*
Thun wir aber dem altertum nicht unrecht? wüsten die alten
nicht auch schon von der einheit und gemeinschaft des ganzen «Men-
schengeschlechts, von allgemeinen menschenpflichten und einer allen
menschen gemeinsamen lebensau fgabe? C.L.Roth (in seinem büch-
lein: von alter und neuer rhetorik s. 16) geht offenbar zu weit, wenn
er behauptet, das Vorhandensein eines berufs des menschen als mensch
hätten im altertum kaum die erleuchtetsten sich als möglich gedacht
und eine anerkennung allgemeiner menschenrechte und menschen-
pflichten sei überall da unmöglich gewesen, wo die höchsten mensch-
lichen güter als Privilegien des einen teils der bevölkerung betrachtet
wurden und der andere zahlreichere teil keinen anspruch an dieselben
hatte, ist es doch eine thatsache, dasz die grtlndung des macedo-
nischen und in noch höherem masze die des römischen Weltreichs
und die damit verbundene allmähliche abschwächung der nationalen
gegensätze, welche durch das aufkommen einer weltcultur noch ge-
fördert wurde, die auffassung der menschheit als eines ganzen an-
gebahnt haben, im stoicismus fand dieselbe ihren philosophischen
ausdruck. die stoiker waren kosmopoüten, sie lehrten die einheit
des menschengeschlechts und predigten die tugend der allgemeinen
menschenliebe nicht wesentlich verschieden vom Christentum, auch
Cicero weisz von einer societas universi generis humani und den
daraus für den einzelnen sich ergebenden pflichten, freilich sind seine
darauf bezüglichen anweisungen ziemlich dürftig und reichen nicht
an das heran, was von einem höheren Standpunkt sittlicher einsieht
die stoiker der kaiserzeit gelehrt haben, dasz übrigens die Philo-
sophie einen veredelnden einflusz auf weitere kreise der gebildeten
ausgeübt hat, ist unbestreitbar: aber eine Umgestaltung der socialen
Verhältnisse hat sie nicht herbeizuführen vermocht, in ihrer Selbst-
genügsamkeit verspürten jene philosophen gar keine neigung diese
riesenarbeit zu Ubernehmen, ihre allgemeine menschenliebe war im
gründe nur philosophische theorie, nicht zur that drängende leiden-
schaft. wenn ihnen jeder affect als etwas vernunftwidriges und
krankhaftes erschien , woher hätte ihnen der trieb kommen sollen,
ein werk zu übernehmen, das ohne die tiefste und mächtigste er-
regung des gemüts zu beginnen nicht möglich war? der stoicismus
hat den 'beweis des geistes und der kraft' nicht zu liefern vermocht
nicht die apathie der stoischen philosophen, sondern das feuer des
glaubens und der liebe, wie es in den ersten Christen, vor allem in
dem apostei Paulus glühte, hat die erneuerung der alten weit an-
gebahnt, diesem ist es freilich nicht eingefallen, die Sklaven zur
selbstbefreiung aufzurufen und die misachteten niederen stände gegen
die aristokratie der geburt und des besitzes, oder gar gegen die
obrigkeit aufzureizen, vielmehr empfahl er jedem in seinem stände
und berufe zu bleiben und innerhalb desselben seine religiösen und
sittlichen pflichten zu erfüllen, aber dadurch, dasz das Christentum
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Erläuternde bemerkungen zu Cicero de officiis cap. 32. 33. 42. 491
die religiöse Stellung des menschen von grund aus änderte und einen
jeden seiner bekenner mit dem lebendigen bewustsein seines ewigen
wertes und berufes erfüllte, hat es allmählich auch auf die übrigen
lebensgebiete einen umgestaltenden einflusz ausüben müssen, die
bewegung aber, welche es in die menschbeit gebracht hat, ist noch
heute nicht abgeschlossen, hat denn nicht die regierung des deutschen
reiches bei der einbringung der gesetze, welche der socialen not der
gegenwart abhelfen sollen, ausdrücklich erklärt, zu diesem bedeut-
samen schritt durch die rücksicht auf die sittlichen forderungen des
Christentums bestimmt worden zu sein? übrigens ist dieses der beste
beweis dafür, dasz der staat, trotzdem er heute nicht mehr wie im
altertum die erste stelle in dem bewustsein der menschbeit einnimmt,
durch das Christentum an sittlichem gehalt nicht verloren, sondern
vielmehr erheblich gewonnen hat.
Dieser aufsatz berührt sich in seinen resnltaten mit dem früher
in dieser Zeitschrift erschienenen aufsatze über das somnium Sci-
pionis. von welcher seite wir auch in ein tieferes Verständnis der
antiken ethik einzudringen suchen , so kommen wir zuletzt auf jene
grundlegende bedeutung, welche der staat im leben des altertums
hatte, auf dieses unterscheidende merkmal antiker lebensanscbau-
ung die scbüler hinzuweisen , erscheint unerläszlich. indessen sind
solche erörterungen nur sparsam und mit bedacht anzustellen, ge-
wissermaszen auf den höhepunkten der lectüre. man kann auch in
dieser beziehung des guten zu viel thun. wer es aber ganz unter-
läszt, auf den tieferen historischen Zusammenhang zwischen altertum
und Christentum hinzuweisen, der verzichtet auf ein wesentliches
mittel, den sittlichen gehalt der antiken schriftsteiler dem gedanken-
leben der schüler nahe zu bringen.
Hemel. Paul Salkowski.
48.
DIE LATEINISCHE CASUSSYNTAX
AUF GRUNDLAGE VON CAESAR (BELL. GALL. I— VII)
UND NEPOS.
So lange auf den gymnasien lateinische aufsätze angefertigt
werden, so lange wird man nicht von der forderung ablassen können,
dasz der schüler nach den besten mustern schreibt, d. h. nach Cicero
und Caesar, mit recht wird daher in letzter zeit in den lateinischen
grammatiken ausschlieszlich die prosa dieser beiden männer berück-
sichtigt, mit der casuslehre wird der 11 — 12 jährige quartaner, der
kaum noch seine lateinische formenlehre sicher beherscbt, in die
syntax eingeführt, der quartaner lernt, dasz persuadere den dativ
regiert, man versucht, 'diese fremdartige erscheinung der con-
struction' dem schüler dadurch 'leicht verständlich* zu machen,
dasz man ihm sagt, persuadere bedeute eigentlich 'etwas durchaus
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492 Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
annehmbar machen, mit erfolg raten', vgl. z. b. Schiller pädagogik*
s. 428. ob wirklich durch eine derartige deutung viel gewonnen ist,
möchte ich wenigstens bezweifeln, immerhin lobe ich das bestreben,
den schülern Schwierigkeiten aus dem wege zu räumen; dieses be-
streben ist sicherlich die folge der wahren erkenntnis, dasz die casus-
lehre aus einer groszen Sammlung von 'oft sehr wenig verbundenen
einzelbeiten' besteht, das zum teil rein gedächtnismäszige wissen
aller einzelheiten kann unmöglich schon von einem quartaner ver-
langt werden, eine beschränkung ist doch wohl sehr geboten und,
ich will es hinzufügen, in der praxis auch bereits durchgeführt: es
gibt ja bekanntlich grammatiken, in denen die einzelnen para-
graphen den verschiedenen classen zugeteilt sind, ich wünsche eine
consequente durchfÜhrung dieses princips. was die beschränkung
anbetrifft, so ist ausschlaggebend in erster linie die didaxis. daneben
ist in letzter zeit auch gefordert worden, dasz die augenblickliche
lectüre berücksichtigt wird; ich verweise namentlich auf Heynachers
schrift über den Sprachgebrauch Caesars, diese forderung wird frei-
lich nicht allseitig anerkannt, nur vielseitig; ich unterschreibe sie
gerne. Heynacher will, dasz der gesamte lernstoff für die mittleren
classen lediglich aus Caesars beil. Gall. I— VII gewonnen wird, den
Sprachgebrauch des Nepos hat Heynacher völlig unberücksichtigt
gelassen, doch wohl nur aus dem gründe, weil Nepos nicht zu den
classikern gehört, aber der Nepos genuinus bildet doch fast aus-
schlieszlich auf den preuszischen gymnasien die lectüre der quarta;
bearbeitungen scheinen weniger beliebt zu sein; ich verweise auf
Eichner 'über die lateinische lectüre in quarta', progr. des gymn. zu
Meseritz 1890. in der that verlangte bereits Kleist in derzeitschr.
für das gymnasial we6en 1883 s. 121 die berücksichtigung des Sprach-
gebrauchs des Nepos. was den lernstoff der quarta, also die casus-
syntax, anbetrifft, so stimme ich hrn. Kleist vollkommen bei. frei-
lich ist Nepos kein classiker; eben deshalb darf aber auch der
quartaner nicht lornen , dasz praesto neben dem dat. auch den acc.
regieren kann; beide constructionen finden sich bekanntlich bei
Nepos. indessen derartige abweichungen vom classischen Sprach-
gebrauch finden sich nicht gar zu viele, wie ich mir eine beider-
seitige berücksichtigung des Sprachgebrauchs in der casussyntax
denke, mögen folgende proben zeigen.
doceo, edoceo mit dem doppelten acc. kommen bei Caesar gar
nicht vor; edoceo nur 1 mal bei Nepos in der praefatio, die nicht
gelesen werden sollte, also wird die construction dieser verben erst
auf der Oberstufe gelernt, das verbum praesto c. dat. findet sich bei
Caesar im bell. Gall. I— VII nur 1 mal. demgemäsz weist Heynacher
die construction dieses verbums der Oberstufe zu , verweist für die
mittelstufe auf supero, vinco. in diesem punkte stimme ich Heynacher
nicht zu. dasz praesto in die grammatik gehört, ist selbstverständ-
lich , da es sich bei Cicero oft findet, ich möchte praesto aber auch
in den lernstoff der mittelstufe aufnehmen, denn es findet sich bei
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Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos. 493
Nepos 7 mal, allerdings 5 mal mit dem acc, nur 2 mal mit dem dat.;
immerhin kommt dem sehüler dieses verbum einigemal zu gesicht,
wenn auch nicht immer 7 mal, denn alle vitae können in einem jähre
nicht gelesen werden, wer dem princip Heynachers huldigt, wird zu
einer recht beträchtlichen beschränkung gelangen müssen, letztere
dürfte kaum auf allseitigen beifall rechnen können, denn ein fort-
laufendes ergänzen und ausfüllen von lücken in den oberen classen
hat gewis seine Schattenseiten, die- es wäre aber die folge einer con-
sequenten durchführung der inductiven methode, wie sie vielfach
auch auf die grammatik angewandt wird, ich meinerseits möchte
eine Zweiteilung vorschlagen, was speciell die casussyntax anbetrifft,
und zwar das lernpensum der m ittelstufe aufbauen auf grundlage
von Nepos und Caesar bell. Gall. I— - VII. — Für den accusativ der
ausdehnung im räum bei den adjectiven altus usw. bietet Nepos kein
beispiel, wohl aber Caesar: also weise ich diesen paragraphen erst
der tertia zu. dasz diese construction den Schülern der quarta
keinerlei Schwierigkeit bietet, weisz ich sehr wohl, nur wünsche
ich, dasz ein gewisses princip obwaltet, ich wünsche aber auch,
dasz endlich einmal über die zu lesenden viten des Nepos eine
einigung erzielt würde; nur die als lesenswert empfohlenen viten
müsten dann berücksichtigt werden, eine neue Würdigung der ein-
zelnen viten des Nepos steht, wenn ich recht erinnere, von hrn.
Bäbnisch in Glogau in aussieht, in der folgenden arbeit habe ich
natürlich sämtliche viten berücksichtigen müssen; wenn ich mir ge-
legentlich gestattet habe, mein urteil über einzelne viten durch-
blicken zu lassen, so weisz ich sehr wohl, dasz meine ansieht nicht
maszgebend ist. sollten einige lehrercollegien mit meinem princip
im allgemeinen einverstanden sein, so bliebo denselben nur die auf-
gäbe, eine auswahl der zu lesenden viten zu treffen, auch die ge-
legensten viten bieten schon einen genügenden lernstoff. was zu-
nächst den Sprachgebrauch in der casussyntax bei Nepos anbetrifft,
so liegt die dankenswerte und vollständige Zusammenstellung Köhlers
vor (Gotha 1888). ich konnte und muste mich begnügen, im allge-
meinen die resultate zu geben, oft in zahlen ausgedrückt, auf diese
schrift verweise ich hiermit, wer wissen will, in welcher oder wel-
chen viten diese oder jene spracherKcheinung sich findet, der musz die
Köhlersche schrift zu rate ziehen; ich, dieses wiederhole ich, gebe
im allgemeinen nur die resultate. diese resultate habe ich im folgen-
den mit den aus Caesar gewonnenen ergebnissen zusammengestellt,
vielfach habe ich mir gestattet, nach dem Vorgang Heynachers so-
genannte 8chluszbetrachtungon den einzelnen paragraphen zuzu-
fügen; selbstverständlich sind dieselben eben nur subjectiver art ;
über mancherlei punkte wird stets verschieden geurteilt werden
können, doch wie dem auch sei , gerade auf dem gebiete der casus-
syntax hielt ich eine beschränkung für durchaus wünschenswert;
ich wünsche, dasz diese beschränkung von einem bestimmten princip
aus vorgenommen wird.
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494 Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
In gewisser beziehung bin ich über die durch meine aufgäbe
gesteckten grenzen hinausgegangen, ich hoffe nemlich, dasz es man-
chem lehrer erwünscht ist, zu erfahren, in welcher ausdebnung etwa
eine bei Nepos oder Caesar gar nicht oder sehr selten zu belegende
spracherscheinung bei Cicero sich findet; auch Livius habe ich zu-
weilen berücksichtigt, zu diesem zwecke habe ich eine reichliche
litteratur benutzt, auf die ich an den betreffenden stellen verwiesen
habe, so stellte es sich heraus, dasz manche einzelheiten überhaupt
aus der lateinischen grammatik gestrichen werden können, was
dieses weitergehende masz der beschränkung betrifft, so stimme ich
im allgemeinen mit der vorzüglichen grammatik von Stegmann
überein; dieser grammatik, die bereits an mehr als 30 gymuasien
eingeführt ist, folge ich in der reihenfolge der paragraphen.
Heynachers schrift liegt bereits in zweiter aufläge vor. Hey-
nacher selber gesteht, dasz er die anfange der lexica Caesariana noch
nicht benutzt habe, so kam mir der entschlusz, das betreffende
capitel dieser schrift auf grund eigner lectüre gleichsam zu revi-
dieren, alsbald erschien das lexicon von Menge -Preuss. an der
hand dieses lexicons controllierte ich zuletzt meine Zusammenstel-
lung, so hoffe ich, dem begriffe der Vollständigkeit möglichst nahe
gekommen zu sein ; sollte mir dennoch gelegentlich eine stelle ent-
gangen sein , so möge es entschuldigt werden, namentlich habe ich
in weit ausgedehnterem masze als Heynacher die handscbriften-
classe ß berücksichtigt so bin ich gelegentlich zu andern resultaten
gelangt, wie weit auch sonst meine schrift sich von dem betreffen-
den capitel in Heynachers schrift unterscheidet, möge der gütige
leser selber beurteilen, im übrigen wurde auch mir gleich Heynacher
bald klar, dasz grosze 'philologische lorbeeren* bei meiner arbeit
nicht zu pflücken waren, das meiste verdanke ich dem trefflichen
lexicon von Menge-Preuss. auch ich bitte, meine Zusammenstellung
'lediglich vom pädagogischen Standpunkt aus' betrachten zu wollen.
Zum schlusz gebe ich die abkürzungen für die am meisten
citierten aufsätze usw.
Draeger = Draeger historische syntax der lat. spräche I*. —
Kühner = Kühner ausführliche lat. gramm. II 1 (1878). — Harre
= Harre lat. schulgramm. 2r teil. — Ell.-Seyff. = Ellendt-Seyffert-
Fries lat. gramm.30; nachträglich habe ich noch die 34e aufl. ver-
glichen. — Haase-Peter Haase-Peter Vorlesungen über lat. Sprach-
wissenschaft II band. — Stegmann = grammatik. — Heynacher
«= Heynacher 'was ergibt sich aus dem Sprachgebrauch Caesars im
bell. Gall. für die behandlung der lat. syntax in der schule". —
Köhler = Köhler der Sprachgebrauch des Cornelius Nepos in der
casussyntax. — Kr.-Dtt. = Caesarausgabe von Kraner-Dittenberger14.
— Db.-Di. = Caesarausgabe von Doberenz-Dinter*. — M. = Caesar-
ausgabe von Menge3. — M.-Pr. = lex. Caes. von Menge-Preuss. —
Fischer =* Fischer casuslehre bei Caesar, progr. der lat. hauptschule
zu Halle 1853. 1854. — Schmalz A. = antibarbarus von Krebs-
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Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos. 495
Allgayer-Schmalz. — Fügner = Fügner Livius XXI — XXIII. —
Richter = Richter kritische beraerkungen zu Caesars comm. VII de
bello Gallico, progr. des gymn. zu Stargard in Pommern 1889. —
Neitzert = Neitzert bemerkungen zur lat. gramm. usw., progr. des
gymn. zu Weimar 1886. — Gaede = Gaede die lat. schulgramma-
tiken von Ellendt-Seyffert und von Stegmann, programm vonDanzig
1889. — Bähnisch = Bähnisch sämtliche sätze des Cornelius Nepos
usw., Leipzig, Teubner, 1890. — JGW. «= Berliner Jahresberichte
in der Zeitschrift für das gymnasialwesen (= ZG W.). — JP.
Masius jahrb. f. pfid. — N. = Nepos; C. — Caesar bell. Gall. I— VII.
eine einfache zahl hinter N. und C. gibt an , wie oft eine sprach-
erscheinung bei Nepos oder Caesar (bell. Gall. I — VII) sich findet.
Nachträglich verweise ich noch auf Plochmann : Caesars Sprach-
gebrauch in bezug auf die syntax des casus (Pr.-Schweinfurt 1891).
die schritt von Heynacher ist dem Verfasser ganz unbekannt ge-
blieben; die lex. Caesariana sind nicht benutzt, um kritik hat sich
PI. fast gar nicht gekümmert, auf Vollständigkeit will die schrift
keinen anspruch machen ; im übrigen ist sie lesenswert.
A. Accusativns.
§i.
adaequare 1 aliquid alicuius C. 4 z. b. cursum navium. — iuvare
C. 4, N. 2; adiuvare C. 3 (absolut noch 2), N. 9. — fugere aliquid
C. nur VII 30, 1, N. nur Att. 15, 3. — effugere C. 2, N. 6. merke
eff. mortem, periculum, invidiam. — subterfugere C. N. 0. — de-
fugere C. 1. — aliquid me deficit C. 4; deficere ab aliquo und aliqua
re z. b. amicitia C. 3 (3 noch absolut), N. 3 (absolut noch 2); animo
deficere nur C. VII 30, 1. — ulcisci iniuriam C. 1, N. 1 (Att. 11, 5
erg. iniuriam); u. aliquem (pro aliqua re) C. 3. — sequi C. 18*
(4 = verfolgen), N. 13. — consequi C. 3 einholen (aliquem), 7 er-
reichen, erlangen z. b. auctoritatem, libertatem; verfolgen III 19, 4;
sich anschlieszen VI 38,3; N. 17 (meistens = erlangen). — exsequi
nur C. I 4, 3. — insequi verfolgen C. 10 (VII 80, 8, wird richtig
insecuti gelesen mit codd. «; consecuti codd. ß), N. nur Att. 9, 2. —
persequi C. 7 (5 = verfolgen3; I 53, 5 persequentem die editt.
1 aeqnare nliquem, aliquid CO; ans Cic. ist Schmalz (vgl. «ntib. 8. v.)
kein beispiel bekannt; nequare Sali. O; aber vgl. Liv. 23, 46, 12 (Fügner
8. 21) u. a. N. bat nur das wenig gebräuchliche aequiperare (Thenn, 6, 1.
Ale. 11, 3). vgl. Schmalz A. 8. v. fman vermeide das wort wenigstens in
der schule,. Harre 8. 12 unterscheidet adaequare aliquam rem und alicui
parem ease'faliqna re). C. VI 12, 7 soll nach Kr.-Ditt., Db.-Dt., M. Aeduos
als personenobject ergänzt werden, also adaequare aliquem aliqua re?
Schmalz A. 8. v. adaequare alicui «liqua re oder aliquill alicuius.
* Caes. VII 87, 4 equitum partem sequi . . . iubet (Caesar); so
Nipperdey, Menge nacb er; Kr.-Ditt., Db.-Dt. richtig mit ß se sequi,
weil Caesar stets so sagt, vgl. Richter 8. 32.
8 'verfolgen* = persequi; erst bei gelegenheit der Caesarlectüre
braucht insequi gemerkt zu werden: speciellere bedeutung hat bei Caesar
prosequi; vgl. auch Schmalz A. s. v. prosequi.
496 Die lat. oasussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
mit er; inseq. die cod. TLUH), N. 15, meistens = verfolgen; merke
aliquem bello persequi C. N. 6. — prosequi aliquem verfolgen C.
II 11, 4 (multa milia passuum); V 9, 8 (longius); abs., jedoch mit
dem zusatz longius IV 26, 5; V 52, 1. also C. gebraucht prosequi
nicht gleichbedeutend mit persequi; vgl. noch II 5, 1 p. aliquem
liberaliter oratione; N. 2 pros. aliquem «= jemandem das geleit
geben. — subsequi C. 9 , N. 0. — sectari nur C. VI 35, 8 (prae-
dam). — consectari aliquem, eifrig verfolgen C. 6, N. 2. — imitari
aliquid C. 2, N. 1 (Dion 3, 1 aliquem in aliqua re).
Anm. consolari, gratulari, minari aliquid (Ell.-Seyff.) C. N. 0.
— aemulari aliquem N. 1 (Cicero aemulari alicui; aliquid an weni-
gen stellen, vgl. Schmalz A. s. v.). — adulari alicui N. Att. 8, 6
(Cic. ad. aliquem , selten).
Resultat.
adaequo, iuvo, adiuvo, fugio (V) ," effugio, deficio (aliquem und
ab aliquo), ulciscor, sequor, imitor.
§2.
decet, dedecet; fallit, fugit, praeterit C. 0; Nep. hat nur decet
im Att. 6, 4 ; fugit im Dion 2, 1 ; fallit 3 mal: Ale. 8, 6, Dion 5, 5,
Ages. 3, 5 (aliqua res z. b. opinio me fallit, täusche mich in etwas;
fallo transitiv wie das deutsche 'täuschen', also gehört die wendung
aliquid me fallit nicht in die grammatik, sondern in eine phrasen-
sammlung.
§3.
Die transitiv gebrauchten verben des affects.
Die gebäuchlichsten, bei Cic. vorkommenden verben des affects
8. Draeger s. 358 f., Kühner s. 196 f. Nep. indignari Dion 4, 2;
tacere ebd. 2, 5; mirari Hann. 11, 3; admirari = bewundern 4(5);
sich wundern über4 Epara. 6, 3; vgl. Con. 3, l neque id erat miran-
dum u. ä.; Köhler s. 8 f. Caes. tacere I 17, 1; horrere I 32, 4;
extimesco II 13, 9; miserari beklagen (also gleiche construetion im
deutschen und lateinischen) I 39, 4; VII 1, 5. mirari sich wundern
V 54, 5; admirari bewundern VII 52, 3; V 52, 2. — In betracht
kommen nur queri und desperare : queri bei Caes. mit acc. und de
in den bedeutungen 1) klagen über, sich beschwerden I 20, 6;
VI 42, 1; IV 8, 3. 2) klagen über, bejammern I 39, 4; VII 63, 8;
VII 1, 4. desperare trans., jedoch stets in der constr. des abl. abs.5,
4 kein unterschied ist zwischen mirari und admirari. v. Kobilinski
vorwort zu einer neuen Zusammenstellung der gebräuchlichsten lat.
synonymen, gymn.-progr. Königsberg i. Pr. 1890 s. 3. bei miror finden
sich altitudinem, moderattonem patientiamque, vas; bei admiror: artem
et malitiatn, audaciam.
s Cic. gebraucht desperare trans. nicht ausschliesslich in der con-
struetion des abl. abs. vgl. Lael. 90, Mar. 43, Cat. II 19, MiL 56 u. a.
IJarre ZGW. 1889 s. 664.
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Die lat. casu.ssyntax auf grundlage von Caesar und Nepos. 497
bei C. 11 mal z. b. salute desperata; ähnlich auch Nep. vgl. C.
VII 3, 1 desperatis hominibus. sonst desperare de aliqua re bei C. 6
(so auch Nep.). vgl. desp. sibi C. VII 50, 4; suis fortunis III 12, 3.
für die mittelclasaen empöehlt sich folgende fassung der regel:
'einige verben werden sowohl transitiv als auch intransitiv ge-
braucht, z. b. despero, queror rem und de re.' so Harre, der nur
noch lugeo hinzufügt.
§ 4.
Viele intransitiva, welche eine bewegung oder ein verweilen
im räum ausdrücken, werden durch Zusammensetzung mit präposi-
tionen transitiv.
a) circum, per, praeter, trans. vgl. Draeger s. 378 ff.
C. 4 circumire*, N. 6 (4 feindlich, umgehen). C. 21 circum-
venire (feindlich) umzingeln, 3 in die falle locken (pass.). N. nur
Cato 4, 3. C. 6 circumsistere (feindlich) umringen, 2 sich herum-
stellen um jemanden IV 5, 2; VII 8, 4. N. 1 circumvehi, 1 circum-
sedere. — N. 1 peragrare. — praeterire aliquid, unerwähnt lassen
C. 2, N. 3. — transcendere nur C. VII 70, 5j transgredi C. 3;
transire C. 41, N. 7. — Harre lat. wortkunde usw. vorrede IV 2:
'die ganze regel über die composita mit circum usw. ist nichts wert.'
für die schüler der mittelclassen dürfte genügen die vocabelmliszige
kenntnis der verba circum venire (-sistere, -ire) umzingeln, praeterire
unerwähnt lassen, transire (-gredi, oft Liv., vgl. Fügner s. 21) über-
schreiten.
Anm. copias flumen.7 traducere u. ä. C. 6. — traicere N. Ages.
4, 4. — transportare nur C. IV 16, 6. — transmittere C. VII 61, 2
(erg. flumen), vgl. VI 24, 1 trans Rhenum colonias mitterent. dasz
bei gleichzeitiger angäbe des zieles trans stehen musz, scheint Kr.-
Di 1 1. nur aus C. I 35, 3 geschlossen zu haben. Schmalz A. s. v. tra-
ducere. aus Cic. ist Eichler (ZGW. 1887 s. 421) kein beispiel be-
kannt, für die mittelstufe genügt die kenntnis von traducere.
b) Intransitiva der bewegung werden oft in der Zusammen-
setzung mit den präpositionen ad, con, in, sub, ob transitiv, aller-
dings meist in übertragener bedeutung. vgl. Draeger s. 377 ff. 414,
Kühner s. 199 ff.
Sehen wir ab von verben wie aggredi, angreifen (so nur Caes.),
8 circutnire, umzingeln, mit personetiobject findet sich im bell. Gall.
nur in dem manche Singularitäten enthaltenden Tu buch cap. 67 § 6
(circnmirentur a; ist mit ß eircumvenirentur zu schreiben?), anders
III 25, 2; VII 87, 4; V 2, 2. allerdings bell. civ. I 44, 3 circumiri sese
ab aperto latere.
7 die Verbindung flumine exercitum traducere ist mit Sicherheit bei
Caes. nirht nachzuweisen, denn VII 53, 4 wird eo (so a; pontem ß) an-
gezweifelt, vgl. Kr.-Ditt. krit. anhang; Meusel JGW. 1885 p. 192 f.,
Richter s. 18. C. Schneider, Walther, Prammer lesen mit ß pontem für
eo. allerdings heiszt es bell. civ. III 37, 1 Scipio . . . exercitum vado
traducit, aber vado = an einer seichten stelle, vgl. bell. Gall. VI 9, 3
supra eum locura, quo . . . exercitum traduxerat.
W. jahrb. f. phil. a. pid. 11. abt. 1891 hfl. 10. 32
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498 Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
adoriri, ascendere u. a., so kommen für C. in betracht adire, con-
venire, inire, insistere, subire, obire.
adire loca, nationes u. 8. II 7, 3 (quo ß, Kr.-Ditt, M.; quos
Db.-Dt., Schneider), III 7, 1; 11, 2; IV 20, 2; 21, 8; VI 35, 6;
VII 71, 2; 86, 3; adire aliqnem sich wenden an VII 4, 3; adire ad
local 4. Nep. 4 adire ad ; vgl. Timoth. 4, 3 capitis periculum adire,
ähnlich Timol. 5, 2 (vgl. Seyffert-Mueller zum Laelius s. 167; adit
periculum, wer die gefahr aufsucht, subit, wer sich der vorhandenen
unterzieht; übrigens gehören die obigen zwei vitae zu den weniger
gelesenen); convenire aliquem treffen, nur C. II 27,2; aliqnid
convenit inter II 19, 6, abs. I 36, 5; convenire bei N. in verschie-
denen constructionen (vgl. Köhler s. 10) : aliquid convenit alicui rei
praef. 2, Ages. 5, 3, Eum. 11, 3 (in betracht kommt wohl höchstens
nur Ages. 5, 3); aliquid c. in aliquem nur Ale. 3, 4; aliquid c. inter
nur Paus. 4, 2 (abs. Hann. 6, 3); mihi convenit cum aliquo überein-
kommen, nur Ages. 2, 3; conv. aliquem antreffen, nur Dat. 5, 1
(Dat. vielfach ausgeschlossen als leetüre) ; c. aliquem besuchen Epam.
4, 1 ; Dion 8, 3 u. 9, 3 ; Ale. 9, 5 ; abs. Paus. 3, 3. — inire consilium
C. 13 (abs. oder mit de, contra) plan fassen, vgl. VI 12, 4 nihil se
contra Sequanos consilii inituros; VII 9, 4 si quid ... de sua saiute
ab Aeduis iniretur consilii; IV 5,3 de summis rebus consilia ineunt;
V 27, 6; VII 1, 3; 43, 3; 43, 5 (folgt indirecter fragesatz); con-
silium inire = c. capere (vgl. VI 20, 2 de summis rebus c. capere;
Menge-Preuss lex. Caes. s. v.), allerdings findet sich bei Caesar nie
(auch im bell. civ. nicht) c. inire cum infin.8 vgl. inire gratiam
VI 43, 5; rationem, numerum VII 24, 4; 76, 3. N. 4 inire (con
silia, gratiam, rationem). — insistere rationem C. III 14, 3. — in-
vadere N. 2 trans. gegen den classischen gebrauch (Schmalz A. s. v.;
Cic. inv. in, Caes. überhaupt nicht). — subire periculum C. I 5,3;
VI 30, 4, vgl. N. Epam. 8, 2 poenam ; anders C. subire trans. local
II 27, 5 (vgl. VIII 15, 1), I 36, 7; s. condicionem VII 78, 2. -
obire = administrare C. V 33, 3; N. Dion 1, 4 legationes; — diem
supremum obire N. 5, ohne supr. Dion 10, 3. nach Schmalz A. s. v.
obire ist classisch nur mortem obire; Ell.-Seyff. , Stegmann führen
diem supremum obire an (Sali. Liv. 0).
Der schüler lerne folgende Wendungen : adire terras usw. auf-
suchen; convenire aliquem besuchen; aliquid convenit inter überein-
kommen V consilium inire (tertia); subire pericula sich unterziehen.
Anm. adire ad local; societatem coire nur N. Con. 2, 2; Sali.
Liv. 0; Cic. oft.
Die verba des Übertreffens.
anteire C. 0; N. Thras. 1, 3; Chabr. 4, 1 (beide vitae seltener
gelesen); antestare N. Arist. 1, 2 c. dat. dersache (Cic. nur de inv.
II 1, 2; vgl. Schmalz A. s. v.); ante- excellere C. N. 0; praecedere
Nep. Lys. III 1 iniit consilia reges Lacedaemoniorum tollere.
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Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos. 499
■
N. 0 (Cic. 0 nach Schmalz); Caes. nur I 1, 4; antecedere c. acc. C.
HI 8, 1; VE 54, 2; abs. VI 12, 3; 27, 1; N. 7; Cic. antecedere
c. dat.; Seyffert (vorrede zur 5n aufl. der gramm. VII weist hin auf
das sehwanken der hss., hält es für möglich, dasz Cic. antecedere
c. acc. schrieb; praesto hat Nep. 5 mal mit dem acc. gegen den
strengclassischen Sprachgebrauch, 2 mal der dativ, Chabr. 4,3; Ages.
3, 3; bei Liv. steht bald der dat., bald der acc; Cic. stets der dat.,
so auch Caes. I 2, 2 ; abs. III 13, 7, vgl. II 15, 1. Schmalz A. s. v.
Heynacher s. 129 will, dasz der schaler bis II* sich mit superare,
vincere aliquem aliqua re9 behilft, beide verben finden sich häufiger
bei Caes. Nep. auch antecedere c. acc. scheint mir nicht unwichtig
zu sein; praestare c. dat. ist vielleicht zu entbehren, zumal der
Chabrias zu den seltener gelesenen viten gehört.
§5.
a) Die figura etymologica C. 0, denn in ausdrücken wie tridui
viam progressi IV 4, 5 , VI 25, 4 u. a. ist tr. v. ein acc. der raum-
bestimmung, wie z. b. magnum spatium abesse II 17, 2 u. a. Nep.
sicher nur Hann. 5, 1 hac pugna pugnata. Timol. 4, 2 iumentis
iunctis. vgl. übrigens Pretzsch: zur Stilistik des Nepos, Spandau
progr. 1890 s. 45—47.
Die verba oleo, redoleo, sitio, sapio, resipio C. N. 0. über diese
verben bei Cic. vgl. Stegmann JP. 1885 s. 231 : die hier angeführten
stellen beziehen sich fast alle auf Schriften philosophischen inhalts.
b) hoc gaudeo, id studeo, illud te rogo C. 0; sehr wenige falle
bei N., vgl. Köhler s. 9.
§6.
Der acc. adverbialis.
multum = sehr, bei confidere, adiuvare, difierre 8, z.b. III 9, 3 ;
V 1, 3; 14, 1; vgl. noch IV 1, 8; m. = oft IV 1, 8; 3, 3; m. =
lange V 47, 3; m. posse 2; m. valere 2; m. abesse bildlich V 2, 2
(räumlich longe abesse). — plus posse I 17, 1 ; pl. valere I 40, 14
(plus zu lesen mit /?, vgl. Schneider JGW. 1885 s. 157, Meusel ebd.
s. 195); plus proficere VII 82, 1 (proficere der bedeutung nach
intrans., vgl. bell. civ. III 23, 3 adeo . . . profecit, ut; pr. nihil 2;
parum 1; quid 1). — plurimum posse, valere 10. — nihil durchaus
nicht; sicher 8, denn V 34, 4 streicht Paul ZGW. 1881 s. 283 levi-
tate — posse; die worte eingeklammert Kr.-Ditt. ; V 36, 2 non
9 nach Schultz lat. Synonymik" 1879 8. 67: f vincere setzt immer
einen feind oder gegner und daher einen kämpf voraus, durch welchen
der sieg erlangt wird, daher z. b. in bezug auf schlachten und pro-
cesse vincrre, in bezug auf die Überlegenheit des talents usw. superare
das bezeichnende wort ist.' dagegen v. Kobilinski a. o. vincere bestias
icnmanitate, Cic. Sext. Kose. 63; ingenio, venustate artificio, Quinct. 70;
prudentia consilioque. Verr. III 16; stultitia omnis, Phil. II 19. — vgl.
Nep. Eum. 1, 3 vincebat enim omnes cura, vigilantia, patientia, calli-
ditate et celeritate ingenii u. ö.
32»
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500 Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepoe.
codd. ß] nonnihil III 17, 5. — paulum 18; paululum sicher nur
II 8, 3. — minimum posse I 20, 2. — plerumque 15; aliquid 1 40,5;
(ali)quid 3; quid? 5; tantum posse u. a. 8; = nur soweit II 8, 3;
VI 27, 4; quantum distare 2; q. posse, valere 5; tantum — quan-
tum 2; aliquantum V 10, 2; maximam partem IV 1, 8. ausdrücke
wie potius, minus, facile u. a. lasse ich unerwähnt, der acc. ad?,
bei Nep. häufig, vgl. Köhler e. 17.
Der schüler merke multum, plus usw. posse ; paulum z. b. pro-
gredi; nihil durchaus nicht; plerumque meistens; auch multum,
viel, sehr?
§7.
Der doppelte accusativ.
I. Bei den verben machen , wählen zu etwas usw.
1) facere, efficere, reddere. — facere I 36, 3; 36, 4; IV 3, 4;
V 1, 2—3; N. 21; aliquem certiorem facere C. 25 (de aliqua re,
nicht gen.), N. 6 (nie mit de oder gen.) ; efficere C. I 38„6 ; III 24,5;
V 33, 5; VI 7, 9. N. 0; reddere C. activisch mit prädicatsadjectiv
II 5, 5; N. 8.
Anm. am gebräuchlichsten ist facere (mit prädicatssubstantiv
und -adjectiv; Cic. aliquem consulem, heredem facere; facere mit
adj. bei Cic. nach Hildebrands Zählung 150 mal, efficere und reddere
50 mal; reddere bei Liv. nur lmal); efficere aliquem consulem usw.
kann nach Schmalz A. s. v. 'gut lat. nicht gesagt werden; efficere
wird nemlich von allem dem gesagt, an dessen entstehung langsam,
aber consequent, natürlich oft mit mühe, oft aber auch ohne mühe
gearbeitet wird*, dieser bedeutung entsprechen obige stellen bei
Oaes. durchaus; vgl. z. b. auch b. civ. III 9, 6 cum diuturnitas
oppugnationis neglegentiores Octavianos effecisset, III 84, 2 quae
res in dies confirmatiorem eius exercitum efficiebat u. a. Liv. hat
efficere selten, es dürfte sich empfehlen, den scbüler der raittel-
classen in der anwendung sich auf facere und reddere (im act.) be-
schränken zu lassen. — Für reddere hat C. redigere II 27, 5 ; IV 3,4 ;
vgl. Kr.-Ditt. zu II 27, 5.
2) creare usw. creare C. VII 33, 3 und I 16, 5 ; N. Thras. 3, 1.
Schmalz A. s. v. creare , wählen zu einem amte , nicht etwa aliquem
amicum creare für deligere ; deligere C. III 23, 5 (ducem, so N. 4),
IV 19, 3; constituere aliquem regem C. IV 21, 7; V 54, 2; eligere,
declarare , designare C. N. 0.
3) appellare usw. C. 28 appellare (benennung von personen,
Völkern, inseln, tieren usw.; vgl. noch besonders VI 36, 2 qui illius
patientiam paene obsessionem appellabant). N. 19. — dicere C.
b. Gall. 0 (sonst 3 mal); N. Milt. 8, 3, Att. 9, 1. — Zu vocare vgl.
C. V 21, 3 oppidum . . . Britanni vocant, cum Silvas impeditas vallo
atque fossa munierunt; N. 7 (= sogenannt). — nominare C. VII
73, 9; N. 2 mal. Schmalz A. s. v. nominare wird meistens da ge-
braucht, wo es 'einen namen von etwas (ex) erhalten' bedeutet, ist
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Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepoe. 501
dies nicht der fall, so wird appellare, dicere, vocare gebraucht. —
Am häufigsten ist jedenfalls bei C. N. appellare.10 vgl. ferre C.
VI 17, 1.
4) halten für: an zahlreichen stellen stehen die verba puto,
existimo usw. nur anscheinend mit dopp. acc. verbunden, vgl. C.
III 21, 1 cum Sontiates ... in sua virtute totius Galliae salutem
positam putarent; ähnlich V 34, 1 (posita a; posita esse ß), VII 25, 1 ;
V 44, 10; [eine Übersetzung mit 'halten für' würde ungelenk sein.
— putare, halten für, aber mit infin. als object V 12, 6, VI 23, 9
(fas non putant), VII 8, 1 (periculosum putabat; hingegen VII 33,1
detrimentosum esse existimabat). N. 10 putare mit dopp. acc. —
existimare mit dopp. acc. bei C. I 39, 6, VI 21, 2, VII 19, 3 (erg.
Gallos), IV 16, 4; vgl. VII 40, 5 (interfectos für tot), III 7, 1; N.
existimare 5. — arbitrari (fehlt in den meisten grammatiken) C.
II 28, 1 (cum victoribas nihil impeditum, victis nihil tu tum arbi-
trarentur), IV 24, 4; VII 27, 1; esse fehlt V 44, 10; VII 25, 1;
N. 4 mal (vgl. Köhler s. 14 oben). Schmalz A. s. v. für die class.
Verbindung zweier accusative ohne esse bei diesem verbum, die man
vielleicht leugnen konnte, diene Cic. Fam. V 12, 6: non eos magis
. . . invidos, quam eos, qui laudant, assentatores arbitrari. — ducere
halten für, mit infin. als obj. VI 18, 3 (turpe ducunt); ducere
glauben , mit acc. c. inf. I 3, 2 ; IV 30, 2. N. ducere 4 mal ; ducere
halten für, rechnen zu (in) numero alicuius ducere aliquem C.
VI 21, 2; 23, 8; 32, 1. N. 0. auch sonst ducere in numero ge-
bräuchlicher, Schmalz A. s. v. — habere halten für, activ. Cic. 3
mit adj.: V 33,6; VI 23,9; VII 19,5 (vgl. auch z. b. b. civ.I 8,3);
N. 3; einigemal auch Cic, vgl. Schmalz A. s. v. I 585. hauptsäch-
lich allerdings steht habere in dieser bedeutung pass. C. 6, N. 5. vgl.
aber habere aliquem (in) numero , loco alicuius C. 7 (I 26, 6 ; 28, 2
» behandeln); N. 4 mal; vgl. noch C. I 44, 11 (aliquem pro amico
habere), VI 5, 3; VII 42, 2.
Also: die verba des glaubens, puto, existimo, arbitror, sowie
habeo, duco regieren in der bedeutung 'halten für' den dopp, acc.
merke (tertia?) aliquem ducere, habere (in) numero, (in) loco;
habere pro.
5) habere mit dopp. acc. «==» haben zu, als C. 6, N. 20; iudicare
erklären ftir C. I 30, 3; V 36, 3 (aliquem hostem), VII 77, 13. N. 6
(einigemal aliquem hostem) ; numerare C. N. 0.
6) C. 7 relinquere (vgl. Heynacher s. 18) z. b. VII 25, 4 locum
vacuum; N. 9. seltener finden sich bei C. folgende verba: dare 2
(I 31, 7 u. 8 aliquem obsidem), poscere I 31, 12; adsciscere aliquem
sibi socium I 5, 4, III 9, 10; adducere II 5, 1; probare VII 43, 6;
10 J. H. Heinr. Schmidt handbuch der lat. und griecb. Synonymik
8. 18. appellare und vocare bezeichnen das nennen als die form der
anrede an eine person oder als das, wie man zu einem gegenstände
sagt, wenn man die rede anf ihn lenkt, vgl. Schultz Synonymik6 s. 33.
diese definitionen sind nicht zutreffend; v. Kobilinski a. o. s. 8.
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502 Die lat casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepoa.
mittere I 7, 3; accipere II 13, 1; VI 12, 4; VII 54, 4; profiteri
V 38, 4; cognoscere VII 77, 15; V 6, 1. mit unrecht zieht Fischer
I s. 5 und 6 hierher I 19, 2 und V 4, 3. für Nep. vgl. Köhler s. 14.
(Nepos macht einen ausgedehnten gebrauch von dieser construction,
z. b. dare 3, cognoscere 5, adiungere 2, sumere 1 , reperire 2, in-
venire 1 u. a.)
Die termini technici wie aliquem dictatorem dicere C. bell.
Gall. , N. 0.
7) se praestare C. N. 0; se praebere nur N. Ages. 6, 1 ; se gerere
mit adv. N. 6, aber C. 0; Cic. selten.
II. Der doppelte acc. bei den verben doceo usw., posco usw.,
oro usw.
1) docere, edocere weder C. b. Gall. noch b. civ., N. nur edocere
in der praef. 1 ; ed. Cic. 0, vgl. Neitzert s. 10; imbui, instrui, erudiri
aliqua re C. 0; N. einigemal erudire (i), Att. 1, 12; 2, 4; Epam.
1, 4; Iphicr. 2, 4; Tbem. 10, 1; docere aliquem de C. nur VII 10,3.
N. 0. — celare mit dopp. acc. C. 0, N. Ale. ö, 2 (id Alcibiades
diutius celari non potuit).
2) poscere mit dopp. acc. C. N. 0"j reposcere aliquid ab C.
V 30, 2; postulare aliquid (satz mit ut) ab I 35, 2; 34, 1; N. 0;
flagitare mit dopp. acc. C. 1 16, 1. vgl. Heynacher 8. 129 *die verba
«fordern» construiere wie im deutschen'.
3) oro, rogo mit dopp. acc. C. 0; nur bloszer acc. der sache
I 11, 2; VII 5, 2 (auxilium, subsidium rogatum), sonst ut, ne. Nep.
nur Att. 15, 1 quidquid rogabatur; precari aliquid ab Nep. Timol.
5, 3. wichtig für die schüler der mittelclassen ist nur petere ah
aliquo aliquid C. I 32, 1; IV 8, 3; II 13, 3; IV 27, 5; vgl. peto ab
aliquo ut usw. M.-Pr. lex. s. v. Nep. petere aliquid ab aliquo 8 (ut,
ne 8). petere aliquem, aliquid oft C. N.
rogare, interrogare mit dopp. acc. C. N. 0; percontari, sciscitari
C. N. 0; oft quaerere ex (C. 6), ab aliquo (C. 3) : es folgt acc. eines
Substantivs oder pronomens VI 37, 6; VII 44, 2; I 18, 2; 18, 3;
folgt indir. fragesatz 4 mal. N. hat quaerere ab mit abhängigem
fragesatz 5, ebenso ohne ab 6.
Resultat, wichtig nur petere aliquid ab aliquo und quaerere ali-
quid ex (ab) aliquo. 12
§8.
Der acc. in ausrufungen fehlt bei C. N.
11 poscere mit dopp. acc. nach Draeger s. 374 selten bei Cic; jedoch
führt v. Kobilinski (ZQW. 1886 s. 16) noch an: Verr. 17; I 44; I 86;
I 127; II 119; II 143; IV 82. vgl. Haase -Peter s. 90; v. Kobilinski
(ZGW. 1889 s. 446): in Ciceros reden posco 2 mal mit a. 9 mal mit dopp.
acc. reposcere mit dopp. acc. Verr. IV 17; IV 113.
,s am gebräuchlichsten nach den verben des fragens überhaupt
wohl ein indir. fragesatz. aliquem sententiam rogare C. N. 0.
(fortsetzung folgt.)
Schwerin. K. Brinker.
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Zur geschiente des geogr. unterrichte auf den gymnasien. 503
49.
EIN BEITRAG ZÜR GESCHICHTE DES GEOGRAPHISCHEN
UNTERRICHTS AUF DEN GYMNASIEN.
Im Zeitalter der reformation wurden die grundlagen mittelalter-
licher bildung auf allen gebieten erschüttert , die fesseln des geistes
wurden beseitigt, wie die menschheit ihre religiöse freiheit wieder
erhielt, so durchbrach auch der forschungstrieb die schranken des
geschichtlichen und geographischen wissens. die Wiederbelebung des
classischen altertums besiegte die Unwissenheit, in welcher die kirche
des mittel alters die menschheit gelassen hatte, der geographische
gesichtskreis wurde bedeutend erweitert, die groszen entdeckungen
eines Christoph Columbus in Amerika und eines Vasca de Gama in
Indien, nicht minder die durch Fernando Magellan begonnene, wenn
auch von ihm nicht zu ende geführte Weltumsegelung führten eine
reform geographischer Vorstellungen herbei, die stellang der erde
im Universum wurde durch den deutschen astronomen Nicolaus Co-
pernicus entdeckt; die Copernicanische lehre von der drehung der
erde um die sonne begründete eine ganz neue anschauung vom weitall.
zu diesen entdeckungen kamen noch die erfindungen des compasses
und des fernrohrs , durch welche erst die transatlantische fahrt und
astronomische beobachtungen ermöglicht wurden, das interesse an
der erdkunde wurde hierdurch allgemein geweckt; auch Deutsch-
land nahm an dieser Strömung regen anteil.
Man könnte sich fragen, warum bei dem lebhaften interesse an
der geographie während des reformationszeitalters diese nicht auch
in den Schulunterricht aufgenommen wurde, der grund hierfür ist
darin zu suchen , dasz die erdkunde zu jener zeit noch keine selb-
ständige fertige Wissenschaft bildete , und dasz in der schule noch
immer die religion alle andern diseiplinen in den hintergrund drängte.
Luther und Melanchthon legten nur wert auf die Unterweisung in
der religion und den classischen sprachen ; alle übrigen fach er musten
dagegen zurücktreten, bei einer solchen auffassung gelehrter bil-
dung kann es nicht befremden, dasz die erst aufblühende geographie
keinen platz fand im lehrplan der deutschen schule.
Während des 16n jahrhunderts bildete demnach die erdkunde
noch keinen Unterrichtsgegenstand; in den reformationsschulen über-
wog noch ganz das kirchliche interesse; die realien fanden so gut
wie keine berücksieb tigung. und wo wirklich das Zeitalter der ent-
deckungen einen einflusz auf die gestaltung des lehrplans auszuüben
schien, da war es weniger geographie als astronomie und astrologie,
welche gelehrt wurde, die astrologie gehörte zu den damaligen mode-
studien und wurde vielfach in den Gymnasien getrieben, so war sie
auch in die von Johannes Sturm 1538 verfaszte Ordnung des Strasz-
burger gymnasiums aufgenommen worden, indem der höchsten classe
die elemente der astrologie gelehrt werden sollten, wo man sich
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504 Zur geschiente des geogr. Unterrichts auf den gymnasicn.
von dieser damals sehr beliebten, aber doch recht wertlosen be-
schäftigung fernhielt, war es die astronomie, welche einen ersatz für
die erdkunde bilden muste. in der regel wurden nur in der höch-
sten classe und hier auch nur die am weitesten fortgeschrittenen
scbüler in den anfangsgründen der astronomie unterrichtet.1
Auch in der folgezeit wurde auf den gymnasien geographischer
Unterricht noch nicht erteilt; einzelne zweige desselben, wie pbysik
und astronomie wurden wohl gelehrt; aber von einer speciellen erd-
kunde war noch nicht die rede, erst um die mitte des lTnjahr-
hunderts erscheint diese häufig im lehrplan höherer schulen, wenn
auch meist die berichte über geographischen Unterricht äuszerst
knapp und dürftig sind und sich nur schwer die ziele desselben er-
kennen lassen, so ist derselbe doch um diese zeit in den gelehrten
schulen der verschiedensten städte Deutschlands nachzuweisen, schon
sehr früh ist dieser in der Nicolaischule zu Leipzig eingeführt ge-
wesen, da nach der Schulordnung von 1611 für die gesamte prima
die bestimmung getroffen war, die schüler gelegentlich auch in ge-
schiente und geographle zu unterweisen, weil beide Wissenschaften
in jeder hinsieht den grösten vorteil gewährten.2 das Nicolaigymna-
sium zu Leipzig war hierin den meisten andern schulen weit voraus,
bei denen die geograpbie erst um 1650 und oft noch später im lehr-
plan erscheint.
Nicht ohne einflusz auf den geographischen Unterricht war die
läge der stadt, in welcher das gymnasium sich befand, bemerkens-
wert in dieser beziehung sind die lectionsverzeichnisse des Danziger
gymnasiums aus den jähren 1665 und 1687. nach dem ersten lehrte
der professor der mathematik die demente der astronomie und mathe-
matische geographie; nach dem zweiten unterrichtete er die schüler
der beiden höchsten classen über handel und Seeschiffahrt und ver-
band mit seiner mathematik die lehre vom globus, von den mächtig-
sten fürsten und Staaten, vom handel des morgen- und abendlandes.
da zu dieser zeit, wie auch noch im 18n und dem grösten teile des
19n jahrhunderts die erdkunde noch keine Wissenschaft war, welche
auf der Universität studiert werden konnte, und demnach geogra-
phisch gebildete lehrer nicht vorhanden waren, so ist es besondere
anzuerkennen, dasz der geographische Unterricht nicht einem cantor
oder philologen anvertraut wurde, welche durch ihre thätigkeit oder
ihre Studien dieser Wissenschaft ganz fern standen, vielmehr lag hier
die Unterweisung in der erdkunde demjenigen professor ob, welcher
durch seine beschäftigung mit mathematik und mathematischer geo-
graphie noch am meisten dazu berufen war. wie hier in Danzig, so
1 so war dies besonders auch in der sächsischen Schulordnung von
1580 vorgeschrieben: codex Angustus oder neu vermehrtes corpus iuris
Saxonici von J. Chr. Lüniz bd. I s. 475 ff. (1724); vgl. Zober urkundL
geschiebte des Stralsunder gymnasiums 1660—1860 (Schulordnung von
1591 für das Stralsunder gymn.).
* Dohmke fdie Nicolaischule zu Leipzig im siebzehnten Jahrhundert',
progr. des Nicolaigymnasiums zu Leipzig 1874.
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Zur geschichte des geogr. unterrichte auf den gymnasien. 505
legte man auch anderweit mehr und mehr wert auf die beschäftigung
mit der geographie. in den gymnasien zu Frankfurt, Bayreuth,
Wolfenbüttel usw. fand dieselbe eingang. in Bayreuth ordnete der
herzog an, dasz in seinem gymnasium die rdisciplinae instrumentales
et reales systematice docirt' würden: absonderlich sollte auch auf das
Studium der mathematik und geographie fleiszig gesehen werden. 3
Diese der geographie immerhin günstige Strömung hielt auch
während des 18n jahrhunderts an und wurde vor allem durch die
pietistische schule gefördert, freilich musz man bedenken , dasz an
vielen orten die lehrstunden des gymnasiums in öffentliche und pri-
vate getrennt waren und dasz diese Unterscheidung keinen andern
zweck hatte als eine erhöhung der schulgelderträge, die geographie
wurde dann meist in privaten stunden gelehrt, so dasz dieser Unter-
richt für die schüler durchaus nicht allgemein war und wohl nur die
wenigsten an demselben teil genommen haben dürften, der wert des
geographischen Unterrichts war zudem auch noch ein sehr geringer,
da es nur auf mechanische gedächtnisübung ankam und vor allem
diese stunden von lehrern erteilt wurden, welche weder mit der
geographie sich beschäftigt hatten noch besondere fähigkeiten für
den Unterricht in derselben besaszen. merkwürdig ist, dasz sehr oft
der cantor die erdkunde lehrte, gerade diejenige lehrkraft in der
schule, welche die wenigste Vorbereitung für diesen gegenständ
gehabt haben wird, als dann während des 18n jahrhunderts in
mehreren classen geographischer Unterricht erteilt wurde, schien
der cantor immer noch die geeignete persönlichkeit, der jugend die
*rudimenta geographiae' beizubringen, er wurde dann meist in den
unteren classen beschäftigt, während der rector und der conrector
den älteren schülern einige anleitung in der erdkunde zu geben ver-
suchten.
Einen fortschritt machte die pietistische schule am anfang des
18n jahrhunderts, indem sie die geographie als besondere disciplin
in den unterrichtsplan einführte, in der lateinischen schule des
Franckeschen Waisenhauses und im pädagogium zu Halle wurde
die erdkunde regelmäszig gelehrt, zwar blieb auch jetzt noch der
Unterricht recht dürftig, wie dies besonders aus der Ordnung für das
pädagogium vom jähre 1702 erhellt, denn die grundlage für die
geographie bildeten Hübners geographische fragen, durch welche
ohne Zusammenhang den schülern eine grosze reihe namen von län-
dern, flüssen und Städten beigebracht werden sollten, die Ordnung
von 1702 schrieb vor, diese fragen von anfang bis ende durchzu-
gehen, nur bei dem gelobten lande sollte man sich etwas länger auf-
halten, bei erklärung der einzelnen namen würde man am besten
die geschichte heranziehen, die bibel sollte aber dabei fleiszig auf-
geschlagen werden, und die historien, welche sich an jeglichem ort
begeben, dazu erzählet werden, sonst wird nur noch verlangt, dasz
s Vormbaum evangelische Schulordnungen bd. II 8. 627 ff.
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506 Zur geschiente des geogr. Unterrichts auf den gymnasien.
man auf die Verhältnisse in Deutschland etwas näher eingehe, aber
auch hier zeigt die lehrordnung, wie vollständig man die aufgäbe
und das ziel der erdkunde und erdbeschreibung verkannte, indem
man, statt die schüler mit bodenbeschaifenheit, pflanzen- und tier-
weit bekannt zu machen, es für hinreichend fand: eines jeglichen
kreises directorem zu zeigen und etwas hinzuzuthun von der genea-
logie der vornehmsten häuser! besondern wert legte man darauf,
den schülern die lateinischen namen eines jeden ortes geläufig zu
machen, eine bestimmung verdient noch hervorgehoben zu werden,
um so mehr, da sie in der folgezeit ganz allgemein wird: die neuig-
keiten aus der zeitung während der geographischen stunde mitzu-
teilen, nicht selten kam es auch vor, dasz den schülern die ganze
zeitung vorgelesen wurde, das mag freilich für den präeeptor recht
bequem gewesen sein, da dies keiner weiteren Vorbereitung bedurfte,
um jedoch hierbei einen gröszern vorteil zu erzielen, wird in der
Franckeschen lehrart von 1702 die kleine einschränkung hinzu-
gefügt: es sollten wohl die deutschen Zeitungen tractiert werden,
aber der lehrer möchte sie zuvor durchlesen und am anfang der
lection die vornehmsten punkte erzählen, damit während der stunde
nicht zu viel zeit entgehe.
Ein solcher geographischer Unterricht konnte natürlich lust und
liebe zur erdkunde, begeisteiung für dieselbe nicht erwecken; das
buch der natur blieb den schülern unverständlich, weil ihre lehrer
selbst weit entfernt waren , die bedeutung und den wert der geo-
graphie zu verstehen, anstatt mit offenem auge in die weit zu schauen
und wenn das fernerliegende nicht bekannt war, zur beobachtung
der heimat und des Vaterlandes anzuleiten, beschäftigte man sich
während des geographischen Unterrichts mit geschiente, den historien
der bibel oder höchstens einer politischen einteilung des landes ; durch
genealogie der vornehmsten häuser sollte die Unterweisung in der
geographie vervollständigt werden!
Bei allem mangel der ausfuhrung war jedoch die gute absieht
vorhanden gewesen, dieser bisher so vernachlässigten und doch so
unendlich wichtigen diseiplin etwas aufzuhelfen, bei der erneuerten
Ordnung des pädagogiums von 1721 sind wenigstens mehrere be-
sonders verfehlte bestimmungen weggelassen und ist die consideratio
geographica nach den grenzen und flüssen eines landes als die baupt-
aufgabe des Unterrichts bezeichnet, vor allem wird auf die grosze
bedeutung der geographie für die historie hingewiesen, indem fest-
gesetzt ist, dasz zur geschiente niemand zugelassen werden solle, der
nicht zuvor in der geographie seine Schuldigkeit gethan habe; denn
man könne ohne diese in jener nicht fortkommen.
Diese richtige erkenntnis, dasz man beim Studium der geschiente
die geographie nicht entbehren könne, verbreitete sich in der ersten
hälfte des 18n jahrhunderts mehr und mehr, man hätte glauben
sollen, wenn nun einmal die Überzeugung von der bedeutung der
geographie vorhanden war, dasz der Unterricht in diesem fache nun
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Zur geschiente deB geogr. Unterrichts auf den gymnasien. 507
auch sachgemäszer erteilt worden wäre, leider blieb es im allge-
meinen bei der Wertschätzung derselben; nur wenige ausnahmen
zeigen, wie kläglich sonst tiberall die erdkunde bedacht war.
Die Franckeschen schulen waren vielen andern voraus ; denn
während in Halle die geographie bereits ein fester lehrgegenstand
war, wurde sie an vielen gymnasien nur gelegentlich berührt, zu-
meist im geschichtsunterricht, welcher immer rücksicht nehmen
sollte auf geographie, genealogie und Chronologie, früher war sie
häufig nur in der obersten classe gelehrt worden, aber beim beginn
des I8n Jahrhunderts machte sich die auf fassung geltend, dasz schon
die jüngeren schüler den anfang mit der geographie machen müsten,
weil dieselbe sowohl ein iucundum Studium, als auch res memoriae
sei. eine besondere erwäbnung verdient hier die Hirschbergische
Schulordnung von 1713, welche die geographie als die schöne Wissen-
schaft bezeichnet, wie man aus denlandkarten und erdbeschreibungen
klimata, Situation und connexion der teile der weit, dero provinzen,
städte usw. begreifen solle, zwar bilden auch hier Hübners geogra-
phische fragen die grundlage des Unterrichts, das wichtigste aber
ist, dasz sich hier bereits ein anfang des karten Zeichnens findet, denn
weil nicht alle schüler die raappas geographiae antiquae sich an-
schaffen könnten, sollte ihnen hiervon ein abrisz an der tafel gegeben
werden , 'damit solche Wissenschaft desto besser durch die äugen in
das gedächtnis fallen möge'.
Dasz Hübners geographische fragen für eine zweckmäszige Unter-
weisung in der erdkunde unbrauchbar seien, dafür erhoben sich zwar
schon manche stimmen , aber nur an wenigen orten wurde man da-
durch bewogen, einen neuen weg einzuschlagen, eine eigenartige
Stellung nahm hier das coliegium Carolinum zu Braunschweig ein,
in welchem man die geographie, soweit sie nur die grosze der länder,
deren abteilungen, grenzen und fiüsse betrachtete, für eine zu trockene
Wissenschaft und deshalb nicht hinreichend fruchtbar für die zwecke
dieser anstalt hielt, es wurde daher bestimmt, dasz hier über alle
diese dinge mit hinzufügung dessen, was aus der mathematik, physik
und andern Wissenschaften nötig sei, ein coliegium unter dem namen
rstaatsgeographie' gelesen werde, bei jedem land sollten seine natür-
lichen vorteile und nachteile bemerkt, dabei auch die politischen Ver-
hältnisse berührt werden, die zuverlässigsten reisebeschreibungen
und die staatszeitungen dürften nicht auszer acht gelassen werden,
bei der erneuerten Ordnung des coliegium Carolinum vom jähre 17744
scheint an stelle der staatsgeographie ein sogenanntes zeitungscolleg
getreten zu sein, in welchem der lehrer jederzeit die neuesten und
interessantesten staatsbegebenheiten aus den öffentlichen nachrichten
anzeigte und zu besserem Verständnis das nötigste aus der geographie
und staatsgeschichte hinzufügte, ob dieser Unterricht die schüler
besser in die erdkunde einführte als Hübners geographische fragen,
4 beide Ordnungen sind abgedruckt: Monumenta Germaniae paeda-
gogica bd. I (Berlin 1886) 8. 236 ff. und 401 ff.
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508 Zur geschiente dee geogr. Unterrichts auf den gymnasien.
soll hier nicht untersucht werden; nur die eine bemerkung sei ge-
stattet, dasz man im collegium Carolinum einen versuch machte,
dasz dieser versuch aber gänzlich verfehlt war, weil die Unterweisung
in der staatsgeographie hauptsächlich das politische betonte und
später das zeitungscolleg nur gelegentlich die erdkunde streifte.
Etwas besser erscheint hierin der entwurf einer Ordnung für
die groszen schulen der stadt Braunschweig 1755, welcher zunächst
geographischen Unterricht für alle classen von quarta aufwärts
empfahl und dann vor allem doch einigermaszen systematisch den
stoff zu verteilen suchte.
Die etwa 20 jähre später, 1773 erlassene Schulordnung für das
kurfürstentum Sachsen5 berücksichtigt nur wenig die geographische
disciplin. für die drei kursächsischen fürstenschulen wird nur ge-
fordert, dasz die schüler die läge der reiche, republiken und be-
rühmter städte kennen lernen sollen, kenntnis der politischen Ver-
hältnisse auf der erde ist das einzige ziel, welches erstrebt wird,
damit sich die schüler dann bei dem historischen Unterricht besser
zurechtfinden möchten, für die übrigen lateinschulen wurde wöchent-
lich eine stunde als hinreichend erachtet; dem lehrer war es anheim-
gestellt, geographie in öffentlichen oder in privaten stunden zu
lehren, damit aber war die erdkunde als ein zur bildung nicht not-
wendiges fach behandelt, was nützte die bestimmung, dasz die kna-
ben schon in früher jugend zur kenntnis der natur, der gewöhnlichen
erscheinungen des himmels, der bescbaffenheit der erde und ihrer
gewächse angeleitet werden sollten, wenn die erdkunde nicht ein
fester und öffentlicher lehrgegenstand war? die privatstunden waren
allerorts nicht sehr zahlreich besucht, und so wird wohl auch hier die
jugend mit geographischen Übungen nicht überbürdet gewesen sein.
Während des 17n und 18n Jahrhunderts war die geographie in
den unterrichtsplan der gymnasien aufgenommen worden; im 17n
mehr vereinzelt, im 18n allgemeiner, die Unterweisung aber in dieser
so wichtigen disciplin war jeder wissenschaftlichen auffassung bar,
und nicht mit unrecht konnte man sagen, dasz 'die erdkunde zu
einem trockenen namensverzeichnisse von ländern, flüssen und städten
sich verknöchert hatte', in dieser zeit hielt Herder seine rede Won
der annehmlichkeit, nützlichkeit und notwendigkeit des Studiums
der geographie'; mit begeisterten worten schilderte er die fülle ihres
lebens, eindringlich hinweisend auf ihre bedeutung für die völker-
geschichte ; sie sei ebenso wenig trocken wie die Ilm oder das grosze
Weltmeer, geschiente und geographie gehörten untrennbar zusam-
men; sie seien der Schauplatz und das buch der haushaltung gottes
auf unserer weit: die geschiente das buch, die geographie der Schau-
platz, in jeder Wissenschaft der akademie müsse ein studierender
zurückbleiben, wenn er diese grundwissenschaften, beinahe die mate-
rialien zu allem, nicht von schulen mitbringe, 'glücklich, wer sie
5 Vormbaum III 613 ff.
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Zur geschiente des geogr. Unterrichts auf den gymnasien. 509
r
auf denselben in einer schönen, reizenden gestalt sah! glücklich,
wem ihre Unterhaltung nicht das gedächtnis füllte, sondern die seele
bildete und den geist aufscblosz!'
Die worte Herders fanden freilich kein vielstimmiges echo ; nur
wenig beherzigte man seinen mahnruf; im allgemeinen blieb alles
beim alten, das ende des 18n, der anfang des 19n jahrbnnderts
brachte keine änderung; die kriegsstürme der Napoleonischen zeit
lieszen überhaupt das interesse für schulen und Schulunterricht sin-
ken, statt einer besserung trat eher eine Verschlechterung ein, so
dasz der geographische Unterricht fast überall in Deutschland ganz
stiefmütterlich bedacht war. das wenige, was bei der Unterweisung
in der erdkunde geboten wurde, war mehr eine elende noraenclatur
als eine anleitung, den Schauplatz der geschichte des menschen-
geschlechts kennen zu lernen; das ziel des Unterrichts, eine ent-
sprechende geographische bildung vorzubereiten, wurde dabei sicher
nicht erreicht.
' Durch Alexander von Humboldt und Karl Ritter trat die geo-
graphische Wissenschaft in ein neues Stadium ihrer entwicklung;
wenn auch Humboldt zunächst die naturwissenschaftliche und Ritter
die geschichtliche richtung der geographie betonte, so waren doch in
der hauptsache ihre ansichten dieselben; durch beide haben sich die
aufgaben der erdkunde bedeutend erweitert. Karl Ritter ist der be-
gründer der vergleichenden erdkunde; durch ihn wurde zum ersten
mal das Verhältnis der geographie zur geschichte wissenschaftlich
untersucht und der natürliche Zusammenhang beider klargelegt, ein
groszer teil der beziehungen zwischen der erde und dem menschen
gehöre zweifellos dem naturwissenschaftlichen gebiete an, aber 'die
geographische Wissenschaft kann nicht des historischen elementes
entbehren, wenn sie eine wirkliche lehre der irdischen räum verhält-
nisse sein will und nicht ein abstractes machwerk, durch welches
zwar der rahmen und das fachwerk zur durchsieht in die weite land-
sebaft gegeben sind, aber nicht die raumerfüllung selbst'.
Wie die geographische Wissenschaft durch Humboldt und Ritter
einen ungeahnten aufschwung erhielt, so wurde auch seit dieser zeit
unsere kenntnis der erdoberfläche bedeutend erweitert; denn um die
mitte unseres jahrhunderts hat ein neues, ein zweites Zeitalter der
entdeckungen begonnen, welches durch seinen idealen forschungs-
trieb glänzend sich abbebt von der zeit der kühnen Seefahrten und
entdeckungen. die schätze und erzeugnisse ferner länder zu erringen,
eroberungsgelüste sind nicht mehr in erster linie der grund, unbe-
kannte gegenden zu betreten ; das streben nach möglichst umfassen-
der kenntnis der erdoberfläche ist es, welche heute männer begeistert,
fremde gebiete zu erforschen, jedes jähr und jeder monat erweitert
noch unsere kenntnis ; die erdkunde ist dadurch zu einer selbständigen
Wissenschaft emporgewachsen; ihre berührungspunkte mit geschichte
und naturwissensebaft sind zwar sehr zahlreich, aber die auffassung,
dasz sie nur ein anhang beider diseiplinen sei , ist eine veraltete.
510 Zur geschiebte des geogr. Unterrichts auf den gymnasien.
Welchen einflusz hatte nun dieser aufschwung der erdkunde auf
den geographischen Unterricht in der schule, in den gymnasien?
Bei lebzeiten Ritters und Humboldts trat eine änderung nicht
ein, so dasz an vielen orten klagen über die Vernachlässigung der
real Wissenschaften laut wurden, tiberall, wo eifrige philologen das
schulruder regierten, sei Sprachfertigkeit das masz, womit des Schü-
lers fortschritt und fähigkeit gemessen werde; die kenntnisse in den
realfächern kämen dabei nicht in anschlag. geographie erscheine
ganz geringfügig, als etwas, das man kurzweg behandeln könne, wo-
gegen oft ein einziger Horazischer vers eine ganze, ja mehrere lehr-
stunden wegnehme, das studium der alten classiker betrachtete man
deshalb nicht als nutzlos; aber aus dem groszen, uralten werke der
natur liesze sich noch viel mehr erleuchtung für die geistige bildung
gewinnen, der geogr. Unterricht sei geradezu erbärmlich, indem man
die namen der länder und städte einfach auswendig lernen lasse.*
Diese von Guts Muths, dem ausgezeichneten lehrer Karl Ritters,
hingeworfenen bemerkungen über den geographischen Unterricht
seiner zeit werfen ein grelles licht auf die un Vollkommenheiten des-
selben während der ersten hälfte unseres Jahrhunderts, und wenn
aus den sechziger jähren ein urteil über die erdkunde als unterrichts-
gegenstand, welches von keinem geringeren als Oskar Peschel aus-
gesprochen worden ist, hier gleich noch hinzugefügt werden soll, so
mögen folgende worte Pescheis über Hübners geographische fragen
hier platz finden: 'mit dieser gedankenlosen gedächtnisquälerei ist
die deutsche jugend mishandelt worden, im allgemeinen hat es sich
heute höchstens noch verschlimmert.' 7
Die regulative freilich und die lehrordnungen für die gymnasien
gaben immerhin noch eine aufgäbe und erstrebten ein ziel , welches,
wenn es erreicht worden wäre, befriedigende erfolge hätte aufweisen
müssen ; dasz man dasselbe aber auch nicht im entferntesten erreichte,
beweisen die worte Pescheis aus dem jähre 1868. .
Als lehrziel war zumeist bezeichnet, die schüler mit der allge-
meinen natürlichen beschafifenheit der bekannten teile der erde und
ihrer bewohner vertraut zu machen und ihnen einige kenntnisse in
der mathematischen geographie beizubringen, das ziel sollte in der
tertia des gymnasiums erreicht sein, dieser unterriebt konnte aber,
seitdem die geographische Wissenschaft einen solchen aufschwung ge-
nommen , selbst geringen ansprüchen nicht genügen, denn die erd-
kunde muste von lehrern behandelt werden, welche keine gelegen-
beit gehabt hatten, durch Universitätsstudien die nötige Vorbildung
sich zu erwerben, dieser tibelstand blieb jahrzehnte lang und konnte
einen Peschel noch im jähre 1868 zu dem so abfälligen urteil über
den geographischen Unterricht seiner zeit berechtigen.
6 Guts Muths versuch einer methodik des geographischen Unter-
richts. Weimar 1835.
7 Oskar Peschel 'die erdkunde als unterrichtsgegenstand,l deutsche
vierteljahrsschrift 18G8 hft. 2 s. 103 ff.
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Zur geschichte des geogr. Unterrichts auf den gymnasien. 511
Erst um die mitte des vorigen jahrzehnts hat eine neue epoche
begonnen: durch begründung geographischer professuren auf den
meisten Universitäten Deutschlands, nachdem Sachsen und Bayern
vorangegangen, folgte man 1876 in Preuszen nach, ein wissenschaft-
liches Studium der geographie ist dadurch erst möglich geworden,
jetzt erst wird man daran* denken können , die fortschritte der geo-
graphischen Wissenschaft für den Unterricht in der schule nutzbar zu
machen, nachdem lehrkräfte vorhanden sind, welche die anleitung
in der erdkunde von andern grundlagen her zu geben befähigt sind.
Schon alt sind die klagen über einseitigkeit der lehrziele in den
gymnasien; es läszt sich nicht ableugnen, dasz die geographische
disciplin höchst unzweckmäszig betrieben wurde, ja sogar dasz man
nicht tiberall von ihrer bedeutung durchdrungen war und sie für
minder notwendig für eine gelehrte bildung hielt, wiederholt ist
auch schon die forderung erhoben worden, allen classen des gymna-
siums geographischen Unterricht zu teil werden zu lassen; gewis
nicht ohne berechtigung bei dem mangel an geographischen kennt-
nissen , welchen man bei schülern der mittleren und oberen classen
findet, der gröste fehler dieses lehrgegenstandes wird überhaupt
darin gesehen, dasz der 'Schwerpunkt desselben nahezu ganz in die
untersten classen verlegt worden ist, so dasz der schüler genötigt
ist, den grösten teil des Stoffes in sich aufzunehmen, wo ihm noch
ganz und gar die geistige reife fehlt, wo ihm alles lernen noch reine
gedächtnissache ist. besonders führt dies F. Junge aus in seinem
aufsatz: 'über ziel und methode des Unterrichts in der geographie
auf gymnasien.' er verkennt auch nicht die hohe bedeutung der
geographischen Wissenschaft, unklar bleibt aber, warum für das
gymnasium der grundsatz weiter geltung behalten soll, dasz die geo-
graphie der geschichte hilfswissenschaft sei, wenn sonst in der ge-
lehrten weit die auffassung durchgedrungen ist, dasz diese eine
selbständige disciplin sei. und weiter scheinen auch folgende ge-
danken in genanntem aufsatz nicht glücklich zu sein : der geogra-
phische Unterricht spiele seiner natur nach am gymnasium immer
nur eine untergeordnete rolle und könne keine andere spielen ; denn
alle fticher könnten nicht hauptföcher sein, wenn früher dieser Unter-
richt von untergeordneter bedeutung erschien, so könnte als ent-
schuldigung gelten , dasz die geographische Wissenschaft selbst erst
noch im entstehen war. sollen aber die fortschritte unseres jahr-
hunderts, besonders der letzten jahrzehnte keinen einflusz auf die
gestaltung des lehrplans unserer gymnasien gewinnen, um so mehr,
da unsere lehranstalten doch nicht allein philologische, sondern eine
allgemeine humanistische bildung erstreben? recht bequem kann
man die erdkunde bei seite schieben, wenn man sagt, alle fächer
könnten nicht hauptfacher sein, wenn nun einmal die geographische
Wissenschaft einen solchen aufschwung genommen hat, der sich nicht
wegleugnen läszt, warum soll dann der Unterricht in diesem fache
in seiner alten Stellung belassen werden? ob hauptfach oder nicht,
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512 Zur geschiente des geogr. unterrichte auf den gymnasien.
er soll jedenfalls auf der höhe des sonstigen gymnasial Unterrichts
stehen.
Gegenwärtig freilich ist die forderung, geographie bis zur prima
zu lehren, noch nicht erfüllt, die letzten Verordnungen für die gymna-
sien : die revidierten lehrpläne für die höheren schulen Preuszens von
1882, die lehrordnung für die sächsischen gymnasien aus demselben
jähre ordnen nur von sexta bis untersecunda einen vom geschicht-
lichen getrennten geographischen Unterricht an. besonders betont
wird nur, jedes übermaaz von gedächtnisaufgaben zu vermeiden, die-
selben vielmehr auf das dringend notwendige zu beschränken , um
so die unentbehrliche kenntnis der wichtigsten daten und namen
desto sicherer zu erreichen.
Das beste, was der Unterricht in der schule zu erreichen ver-
mag, ist lust und liebe zum gegenstände, dasselbe gilt auch von der
erdkunde ; denn die aufgäbe, die erde mit ihren Stoffen und kräften
als wohnort der menschen zu betrachten, wird immer einem akademi-
schen Studium vorbehalten bleiben müssen, die höheren lebranstalten
erstreben natürlich ein weiteres ziel als die elementarschulen ; das-
selbe kann aber weniger erreicht werden, wenn der geographische
Unterricht nur in unter- und mittelclassen des gymnasiums erteilt
wird, die gründe hierfür sind schon oft dargelegt.
Unter den arbeiten, welche sachgemäsz die notwendigkeit einer
reform des geographischen Unterrichts auf unsern gymnasien begrün-
den, ist wohl die beste die gekrönte preissebrift von Anton Stauber:
Förderung des geographischen Studiums und Unterrichts, in und
auszer der schule' (Augsburg 1888). Stauber findet zunächst den
grund, dasz die erdkunde so lange vernachlässigt worden ist, darin,
dasz es vor drei jahrhunderten bei Stiftung der gymnasien noch keine
geographische Wissenschaft gab. heute aber hätten wir eine solche
und sie verlange ihre rechte, sie sei ein lehrfach und zwar ein un-
entbehrliches hauptfach, dessen gründliche kenntnis einen integrie-
renden teil der allgemeinen bildung ausmache, drei punkte hebt er
besonders hervor:
Die geographie ist ein selbständiges fach und kein bloszer
annei, weder der natur Wissenschaften, noch der geschiente; beson-
ders ist dies in den oberen classen zu beachten.
Der geographieunterricht soll durch alle classen der mittel-
schulen als selbständige diseiplin in einigen wochenstunden erteilt,
nicht aber schon bei den schülern der tertia abgebrochen werden.
Der geographische Unterricht musz durch fachmännisch ge-
bildete lehrer erteilt werden.
In diesen forderungen ist das ziel einer verständigen reform dieses
Unterrichtsgegenstandes auf unseren gymnasien enthalten, möchte
es erreicht werden und die Überzeugung immer mehr sich verbrei-
ten, dasz eine gründliche kenntnis des Schauplatzes unseres ge-
schichtlichen lebens zur wahren bildung unerläszlich ist.
Dresden. Reinhold Moses.
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ZWEITE ABTEILUNG
FÜR GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AUSSCHLUSS DBB CLA8SI8CHRN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. HERMANN MA8IÜ8.
(48.)
DIE LATEINISCHE CA SUSSTNT AX
AUF GRUNDLAGE VON CAESAR (BELL. GALL. I-VII)
UND NEPOS.
(fortsetaung.)
B. Dativus.
§1-
Völlig entbehrlich ist die aufzähl ung (vgl. die gramm. von
Ell.-Seyff.) derjenigen verben, deren lateinische construetion der
deutschen entspricht, daher werde ein verbum wie accidere zu-
stoszen ausschlieszlich als vocabel gelernt, dasselbe gilt von den
adjectiven nützlich, passend usw. vgl. Gaede die lat. schulgramma-
tiken, progr. Danzig 1889 s. 6. für Caes. vgl. Fischer I 24—25,
für Nep. Köhler 19—20.
amicus mit dat. Caes. I 9, 3, inimicus II 31, 5; familiaris stets
substantivisch bei C. , desgl. propinquus verwandter, necessarius;
aequalis Omal bei C. , desgl. affinis, vicinus; die Superlative von
amicus, inimicus , familiaris subst. C. Omal; finitimus subst. , auch
adj. mit dat. öfter, z. b. I 28, 4; die Verbindungen amicus, aequus
u. a. erga, ad versus, in C. 0.
sacer C. N. 0; superstes mit dat. Nep. Att. 19, 1; Epam. 10,2;
par alicui, gleich , gewachsen (C. 2, N. 4) = dem deutschen; pro-
prius C. VI 23, 2 mit gen., N. 3 (Thras. 1, 5; Pelop. 4, 1; Lys.
1, 5); communis c. gen. C. N. 0; aliquid mihi cum aliquo commune
est Nep. z. b. Thras. 1, 4.
similis mit dat. C. VII 77,4; VII 43, 5; 47,4; VI 7,9; V 53,7;
consimilis mit dat. 3; verisimile nur III 13, 6. N. similis 5 mit gen.
(ähnlichkeit mit einer person). vgl. übrigens Schmalz A. s. v., Haase-
Peter s. 134 — 142 (similis mit dat. bei personenähnlichkeit, wenn
N.jahrb. f. phtl.o. pid. H.abt. 1891 hfl. 11. 33
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514 Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
die äbnlicbkeit keine wesentliche [abbild , urbild] , sondern be-
schränkte, bedingte ist, vgl. Cic. acad. 2, 118: Democritus huic
in hoc similis; mei, tui usw. similis gewöhnlich, keineswegs aber
durchgängig), dissimilis N. 2 mit gen. (personen).
propior C. N. 0; proximus in Verbindung mit esse bei C. mit
dat. (I 1, 3; 6, 3; II 3, 1; 12, 1; III 11, 1; VI 31, 3; 35, 5); 2mal
mit acc. I 54, 1 (incolunt), III 7, 2 (hiemarat). N. Pel. 4, 3 (per-
sona proxima Epaminondae); propius mit acc. bei C. öfter, bei an-
näherung an sachen und personen, z. b. V 37, 1 ; IV 9, 1 (accedere,
castra movere u. a.). N. Milt. 7, 2 (propius muros accessit); Hann.
8, 3 (propius Tiberi quam Thermopylis . . . dimicasset).
Heynacher 8. 129: 'man begnüge sich, wenn die schüler proxi-
mus und similis, dem deutschen folgend, mit demdativeonstruieren.*
füge hinzu: similis mit gen. von personen (so Nep., dessen Sprach-
gebrauch Heyn acher unberücksichtigt gelassen hat).
§2.
supplico, maledico vaco, nubo, obtrecto, operam do C. 0; N.
nubo Cim. 1, 4; Att. 2, 1; 5, 3; Timol. 1, 4; operam do Epam. 2, 4;
Cato 1, 1; Att. 4, 3 (Cato, Att. ausgeschlossen als leetüre). — in-
video C. II 31, 5; Nep. Thras. 4, 2 (? vgl. Nipperdey excurs 3):
medeor C. V 24, 6; N. Pel. 1, 1; faveo C. 1 18, 8; VI 7, 7; N. Phoc.
3, 1; Att. 2, 2. vgl. cupio C. I 18, 8. parento C. VII 17, 7.
Heynacher 8. 129: *auf IV und III lasse man nur lernen
das wichtige persuadeo, parco, studeo.' persuadeo C. 18, parco 6,
studeo 15 (vgl. Heynacher s. 22, 26). N. persuadeo 11, parco 6,
studeo 3.
Anm. C. III 2, 5 sibi persuasum habeant ; vgl. Stegmann JP.
1887 s. 269: s. p. h. verhält sich zu sibi persuaserant wie rem cogni-
tam habebant zu rem cognoverant; sibi persuasum habere vereinzelt ;
vermeide persuasum habere. — vaco, maledico, supplico, nubo bei
Cic. nicht häufig; Stegmann JP. 1885 s. 232; v. Kobilinski ZGW.
1886 s. 706.
§3.
Composita mit ad, ante, con usw. (Zumpt. gramm.'8 § 415).
1) ad: für C. vgl. M.-Pr. lex. die verba adire, adequitare, ac-
cedere, accurrere, adhaerescere, adiacere, assuescere, adesse, accidere,
appropinquare; adaequare, addere, adducere, adhibere, adicere, afferre,
adiungere, affigere, aggregare, allicere, applicare, adsciscere, ac-
commodare, attribuere.
Die mit ad zusammengesetzten intransitiva der bewegung oder
ruhe im räum wiederholen in localer bedeutung die prfiposition,
adire ad usw.; allerdings liest Schneider VI 33, 2 mit ß eam
regionem, quae Aduaticis adiacet, indessen a und die edd. mit et
wohl richtig ad Aduatucos, vgl. b. civ. II 1, 2: mare quod adiacet
ad ostium; in bildlichem sinne steht der dat., adesse alicui VII 62, 5,
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Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos. 515
helfend zur seite stehen, Kr.-Dtt; II 7, 2 Remis studium pro-
pugnandi accessit; oft aliquid mihi accidit; jedoch VI 28,4 assuescere
ad homines; vgl. noch I 19, 1: cum ad has suspiciones certissimae
res accederent. stets appropinquare mit dat. (b. Gall. 11; auch
b. civ. ; zu II 19, 2 (ad nach /3; setze den dat. ein) vgl. Anton ZGW.
1887 s. 560. — Die mit ad zusammengesetzten transitiva haben in
örtlicher beziehnng meist ad: addere zusätze machen VII 73, 2;
adducere; adicere V 9, 7; afferre rumores ad II 1, 1 ; äff. aliquid ad
amicitiam alicuius, in den freundschaftsbund mitbringen I 43, 8;
allicere; se applicare; der dat. rein local III 14, 5 falces afnxae
longuriis. in bildlicher beziehung der dat. bei den verben des hinzu -
fügens addere, adicere, adiungere III 2, 5, vgl. aliquem sibi ad-
iungere für sich gewinnen VI 2, 2 ; VII 4, 6 ; ähnlich 2 mal aliquem
sibi adsciscere; attribuere zuerteilen; afferre alicui aliquid 3 (Heyn.
8. 24); adaequare gleichmachen III 12,3; schwankende construction
adhibere aliquem ad consilium 2, consilio 1 ; accommodare naves ad
magnitudinem fluctuum III 13, 2 local? vgl. endlich VII 77, 9:
omnem Galliam perpetuae servituti addicere (so ß) , jedoch die edd.
mit a subicere; zu aliquem alicui rei addicere könnte verglichen
werden aliquem morti addicere; Liv. sagt liberum corpus in servi-
tutem addicere; Georges lex.5 aliquem perpetuae servituti addicere,
Caes. ; alicui raagistratum assignare VII 37, 1 ß, jedoch die edd.
mit a adiudicare, vgl. Liv. assignare alicui ordinem (centurionen
stelle). Gas. sagt afferre aliquid ad amicitiam alicuius (I 43, 8), se
aggregare ad amicitiam alicuius (VI 12, 6), adiungere aliquem ad
amicitiam b. civ. I 60, 5.
2) ante: antecedere aliquem vorangehen 2, auch 'übertreffen' 2;
anteferre aliquem alicui vorziehen 2, anteponere 1; antevertere 1.
3) con: die lat. construction entspricht der deutschen: commen-
dare, committere (anvertrauen); concedere weichen, abtreten usw.,
conciliare, comparare verschaffen; aliquid mihi contingit; collocare
aliquem alicui verheiraten I 18, 6; mortem sibi consciscere 2; vgl.
aliquid mihi constat VII 5, 6.
Unberücksichtigt lasse ich ausdrücke wie colloqui, confligere,
contendere cum aliquo u. a. vgl. Heynacher s. 71.
communicare aliquid cum aliquo 6 (Heyn. 8. 71); alicui aliquid
VI 13, 9; 23, 9.
coniungere cum von personen 8; VII 5, 7 edd. a iunguntur,
jedoch iungi rerlex. C. sonst nicht, deshalb musz mit ß se coniungunt
gelesen werden, vgl. Meusel JGW. 1886 s. 274. auch sonst con-
iungere cum: V 11,5 (naves cum castris); V 30,3; IV 17,9; I 38,6.
vgl. VII 33, 1 coniunetus c. dat. = befreundet. — conferre aliquid
cum I 31, 11; ebd. comparare, Db.-Dt., se comparare cum aliquo
VI 24, 6.
4) in: in localer beziehung steht meist in; immittere, inferre
z. b. signa in hostem; influere, infodere, insilire; insistere in iugo
IV 33, 3; irrumpere in castra u. a.; incidere in aliquem stoszen auf;
38*
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516 Die lat casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
der dat. local III 14, 5 falces insertae longuriis; insistere iacentibus
II 27, 3; bildlich steht der dat. imponere alicui Stipendium 2; in-
dulgere (dulcis) 2; inferre alicui bellum 10; calamitatem usw. 7;
inicere alicui metum usw. 2 : iniungere alicui servitutem 1 ; aliquid
alicui innatum est VII 42, 2; invidere 1; bildlich in: incumbere in
bellum VII 76, 2, insistere in bellum VI 5, 1.
5) inter: örtlich inter bei intercedere (II 17, 2; I 39, 6), inter-
icere VII 80, 3; interesse I 15, 5; VI 36, 2; bildlich der dat. ali-
quid alicui in tor cedit cum 14 3, 6; V 11, 9; interdicere alicui aqua
et igni VI 44, 3; vgl. I 46, 4 ; VI 13, 6 erg. ei; VI 13, 7 erg. sacri-
ficiis; interdicere alicui, ne 2; interponere alicui fidem 1; interesse
proelio u. a. 3.
6) Die mit ob zusammengesetzten verben regieren den dativ;
obicere 2 , obsistere 1 , obtemperare 2 , obvenire zu teil werden 3 ;
occurrere 9; offerre alicui aliquid u. ä. 6 mal.
7) postpono abs. V 7, 6; VI 3, 4.
8) prae: praecedere aliquem übertreffen I 1, 4; praeferre ali-
quem alicui vorziehen II 27, 2: V 54, 5; praeficere aliquem alicni
rei 20; praeponere = praeficere I 54, 3; VI 40, 4. praestare alicui
I 2, 2; vgl. praestare alicui aliquid V 45, 2; IV 25, 3; VI 8, 4;
praeesse alicui rei 17.
9) sub: die mit sub zusammengesetzten verba haben den dativ;
subicere 3 (auch VII 77, 9?); subvenire 4; succedere 4; succum-
bere 1 ; succurrere 2 ; submittere aliquem alicui 4 , subsidium 2 ;
subministrare , supportare alicui aliquid je lmal; aliquid suppetit
alicui 1 ; hingegen succedere sub aciem I 24, 5. — II 6, 2 ist über-
liefert portas succendunt; so lesen Menge u. a.; Nipperdey u. a.
portas succedunt, freilich succedere cum acc. sonst bei Caesar nicht;
allerdings Liv. XXII 28, 12 succedere tumulum; Fügner s. 22 hält
auf grund dieser stelle bei Liv. die conjectur portas succedunt für
richtig; Kr.-Dtt., Db.-Dt. [portas] succedunt; das verbum succedunt
wird wohl als richtig bestätigt durch Kraners hinweis auf Sali. Jug.
57, 4 pars eminus lapidibus pugnare, alii succedere ac murum suf-
fodere, vgl. dazu Caes. II 6 § 2, namentlich testudine facta [portas]
succedunt murumque subruunt. hinweisen möchte ich auch noch
auf Sali. Jug. 94, 3 testudine acta succedere. demnach ist wohl das
überlieferte portas nur als späterer zusatz zu betrachten.
Resultat
Die mit den präpositionen ad ante usw. zusammengesetzten
verba wiederholen bei Caes. b. Gall. I — VII meist die präp. in ört-
licher beziehung; in bildlicher bedeutung steht meist der dativ; vgl.
Haase- Peter s. 125: hauptsächlich kommt es an auf die aus der com-
position hervorgehende bedeutung. Harre 'die ganze regel Über die
composita mit ad ante usw. ist nichts wert', beistimmen kann man
wohl Stegmann JP. 1885 s. 233: 'für die schwankende construction
der composita mit dem dativ ist keine durchgreifende regel mög-
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Die lat caeussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos. 517
lieh, . . . eine schulgrammatik wird sich auf die anflibrung einiger
der üblichsten phrasen beschränken müssen.' für Caes. verweise ich
auf Heynacher s. 23, für Nepos auf Köhler s. 18, 22 ff. merke:
afferre alicui aliquid (C. 3, voluptatem u. a. ; N. allerdings in wenig
gelesenen vitae: Dion 10, 1, Eum. 12, 3 vim; Att. 2, 3 detrimen-
tum rei familiari) ; — vorziehen anteferre (C. 2, N. 4 mal , Tbem.
1, 1; Epam. 6, 3, Ages. 4,6, Tim. 1, 3), praeferre (C. 2, N. nur
Thras. 1,1; Ell.-Seyff., Stegmann erwähnen praeferre, nicht ante-
ferre [auch Cic.]), anteponere (C. 1, N. Epam. 1, 4; 2, 2; Eum. 1, 3;
Iphicr. 1, 1 erg. ei); communicare aliquid cum aliquo (nur C); con-
iungere cum, auch von leblosen gegenständen (Caes., N. so aller-
dings 0); comparare vergleichen C. 2, N. Them. 5,3, Iphicr. 1, 1
(conferre nur C. 1, N. 1 abs.); inferre alicui bellum C. 10, N. 5;
inferre zufügen C. 7; inicere einflöszen C. 2, N. 5 (beide timorem
usw.); bellum indicere alicui N. 7, CO (nur concilium); interesse
teilnehmen C. 3, N. Arist 2, 1, Timol. 4,1, Att. 13, 7: merke
i. proelio; praeficere C. oft, N. 6; praeesse C. oft, N. 28; verba wie
obsistere, sub venire lerne schon der quintaner; schon der quintaner
werde daran gewöhnt, in localer beziehung und bei personen im all-
gemeinen die entsprechende präposition zu setzen: adducere, acce-
dere, adire ad; irrumpere in hostes, influere in usw. die verba des
verhöhnens (Ell.-Seyff.) CO, N. nur je lmal illudo, irrideo Hann.
10, 1; 11, 3.
§4.
consulere alicui (rei) sorgen für C 9, N. 5; aliquem nur N.
Milt. 1, 2; prospicio mit dat. C. 2, N. Phoc. 1, 3; providere mit dat.
C. III 18, 6, N. 0; providere frumentum besorgen C. oft, N. Hann.
9, 2 (nisi quid providisset eine vorsichtsmaszregel treffen); cavere
mit dat. C. N. 0; cavere aliquem, ab aliquo C N. 0; timeo mit dat.
C. 3, N. 0; metuo C. N. 0 (praemetuo C. VII 49, 1); timere ali-
quem, aliquid C 6, N. 3; metuere aliquem N. Timol. 3, 4; timere
de C. III 3, 1 ; V 37, 1, vgl. Stegmann JP. 1886 s. 223; timeo de
N. Dion 8, 4; vereri C. oft mit acc. (periculum, insidias u.a.), N. 0;
vereri c. dat. C. V 9, 1 (navibus veritus); moderari, temperare mit
dat. C N. 0; nur C. I 33,4 mihi non tempero quin ; I 7, 6 temperare
ab aliqua re = abstinere; moderari aliquid zügeln C. 2; volo tibi,
constr. von manere C N. 0.
Also: consulere (prospicere) mit dem dat. sorgen für; timere
mit dem dat. besorgt sein für.
§5.
Der dativ des interesses geht sehr weit, da man die meisten
dative dazu rechnen kann , er lfiszt sich daher in keine bestimmte
regel bringen, vgl. Haase- Peter s. 146, Kühner s. 231, Drägers.431.
'beim dat. commodi handelt es sich um ein persönliches interesse
(interesse für eine person oder persönlich gedachte sache).' hierher
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518 Die lat. casussyntax auf grundlage vou Caesar und Nepoe.
gehören z. b. die verba consulere, timere, nubere, alicui aliquid re-
linquere u. a. ; adjectiva wie iniquus (z. b. C. V 33, 2 loco nostris
iniquissimo), periculosus u.a. vgl. für Caesar Fischer Is. 24; fürNepos
vgl. Köhler s. 19. aus Caesar führt Heynacher s.26 einige besonders
hervortretende fälle an (V 20, 3; II 11, 1 ; 4, 5; 31, 6; V 53, 1; VII
34, 2). ich verweise ferner auf VII 36, 2 quos sibi; I 33, 5; VII
52, 1; 10,1 quod nulluni; II 11,5 in fuga sibi; 153,2 sibi salutem;
Fischer u. a. ziehen hierher condonare alicui aliquid I 20, 5; 20, 6,
vgl. Db.-Dt., Kr .-DU.; Fischer I 18 führt noch an: I 31 , 2 (alicui
ad pedes se proicere), ähnlich VII 15, 4; — alicui in contemptionem
venire III 17, 5; V 49, 7; vgl. VI 12, 7 — V33, 5 nostris militibua
spem minuit; V 35, 6 alicui femur traicitur, ähnlich V 44, 7; VII
25, 1 ; 45,6; 70,3. wir haben hier eine freiere anwendung des dativs
für den genitiv, vgl. ad pedes alicuius se proicere; VII 84,4 pugnan-
tibus, dafür gen. VII 62, 6; ein frei gebrauchter dativ VI 25, 1:
latitudo Hercyniae silvae novem dierum iter expedito patet (dativ
des localen Standpunktes, Haase- Peter s. 157, Kühner s. 237. vgl.
die gleiche griechi&che constr.; Caes. nur noch b. civ. III 80, 1).
§ 6-
Der von Buttmann benannte dativus ethicus ist von ihm alsein
leiserer dat. commodi bezeichnet worden ; andere nannten ihn den
überflüssigen dativ; Haase- Peter s. 149: es ist ein gemütlicher casu9,
mit dem der sprechende je nach dem Zusammenhang bittend, for-
dernd, drohend, hoffend oder vermöge des sensus communis vor-
aussetzend eine gewisse rücksicht auf sich oder den angeredeten
andeutet. Heynacher s. 22 verweist auf I 3, 4 (sibi, scharfe hervor-
hebung des subjectsbegriffes , Fischer); mehr commodaler sinn liegt
in sibi I 5,3; 28, 1 ; — I 36, 3 Aeduos sibi stipendiarios esse factos,
hier steht sibi im sinne von a se; Fischer I 26 vergleicht zu diesem
gebrauch des dativs beim passiv VII 20, 7 quae victoria iam esset
sibi atque omnibus Gallis explorata, indessen exploratA hat hier mehr
adjectivische bedeutung, vgl. III 18, 8 explorata victoria, ein ge-
wisser sieg. vgl. Draeger s.427 § 189, s. 429. allgemein gebräuch-
lich iat der dat. statt der präp. ab beim gerund. , jedoch auch häufig
beim part. perf. pass. Cic. (oft susceptus).
Ein ausdruck der Verwunderung liegt vor I 44, 7 quid sibi
vellet. Fischer I 25. für Nep. vgl. Köhler s. 20 — 21, Bähnisch
sämtliche sätze des Corn. Nepos, 1890 s. 26 ff.
für = zum schütze, zu gunsten jemandes II 14, 1; 14, 5; VII
19, 5; 39, 2; N. MUt. 7, 5; Thras. 2, 4; — für = anstatt: 21mal
bei C, vgl. aliquid pro explorato, pro re comperta habere u. ä.;
N. 6; — für = zum lohn, zur Vergeltung C. 14 z.b. ulcisci aliquem
pro; alicui gratiam habere pro meritis u.a., Nep. Them. 8,7, Thras.
4, 1 ; — für = gemäsz, im Verhältnis zu: 15mal bei C, N. 6. —
vgl. M.-Pr. lex. Caes. s. v., Heynacher s. 72—73; Köhler s. 39.
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Die lat. casussyutax auf gruudlage von Caesar und Nepos. 519
§7.
Der dat. possess. bei esse = haben, besitzen: I 11,5 (sibi
praeter agri solum nihil esse reliqui), VI 13, 2 (quibus in hos eadem
omnia sunt iura), II 6, 3 (in muro consistendi potestas erat nulli);
VII 37, 3; 5, 5; 48, 4; 77, 8; II 15, 4 und 16, 5 mihi est aditus ad,
ähnlich IV 2, 1 ; V 27, 4 u. a. Nep. Lys. 1, 4; Dion 2, 5; 8, 5.
mihi est aliquid (amicitia, hospitium, res u.a.) cumaliquo C. 6,
N. 5. vgl. C. VII 39, 2 his erat inter se de principatu contentio.
Anm. habere aliquid cum aliquo: I 44, 9 (contentiones), VII
67, 7 (controversias) ; vgl. b. civ. 16, 3 u. ö. (Harre s. 33).
aliquid est in aliquo C. III 13, 8 (firmitudo est in navibus);
III 16, 2 (in aliquo est aliquid consilii aut dignitatis); VI 12, 2
(summa auctoritas erat in Aeduis); VII 36, 4 (in aliquo est aliquid
animi ac virtutis); 38, 8 (si quid in nobis animi est); I 31, 14 (nisi
quid in Caesare . . . sit auxilii). Heynacher s. 78. Nep. 9.
meum est CO, N. 0; mihi nomen est C. N. 0. vgl. Neitzert
bemerkungen zur lateinischen grammatik, gymn.-progr. Weimar 1886
8. 11 : f bei nomen (cognomen) est, datur u. ä. setzt Cic. den namen
regelmäszig als apposition zu nomen (cognomen). der dativ wird
nur an einer stelle gelesen, Verr. 3, 74 cui Pyagro cognomen est.'
vgl. dagegen Stegmann JP. 1887 s. 261 (name im nom. und dat.).
Schmalz A.s. v. nomen 'bei Cic. ist der nominativ des namens regel,
ausnahmen nur Rose. Am. 17, Verr. 3, 74 und 5, 16.
§8.
Der dativ des Zweckes und der Wirkung.
[In einer redensart wie aliquid est mihi calamitati drückt der
dativ die Wirkung aus, vgl. Eichler in ZGW. 1887 s. 442.]
1) esse mit dem dopp. dativ. Heynacher s.25: 'usui esse 12 mal
an stelle des fehlenden passivs.' unterscheide das einfache usui esse
ohne dativ der person (= passiv zu utor: I 38,3; II 12,3; IV 29,4;
31, 2; V 1, 4; VII 11, 5) von alicui magno esse usui, von nutzen
sein, gute diensto leisten II 9, 5; IV 20, 2; 25, 1; VII 55, 7; der
dativ der person fehlt III 14,5; VII 41, 3. — alicui praesidio esse 8;
andere dative 18 mal noch (curae, saluti, dolori u. a.). N. 22 (prae-
iuio, malo, perniciei, opprobrio, invidiae, laetitiae u. a.).
2) anrechnen zu: dare, vertere, habere, tribuere C. weder im
b. gall. noch b. civ.; N. nur Epam. 8, 2 (crimini dare), Timol. 4, 2
(superbiae tribuere), praef. 4 (laudi ducere). Cic. vertere nur Farn.
7, 6, 1, tribuere nur Pam. 2, 16, 3. Schmalz A. s. v. tribuere.
3) Merke einzelne Wendungen wie: relinquere copias (aliquem,
aliquem cum copiis) castris (impedimentis, navibus) praesidio C. 6.
in ausdrücken wie praesidium castris relinquere (151, 1 u. ö.) ist
castris dativus des nutzens. eine Vermischung beider dative z. b.
II 29, 4. — castris locum (idoneum) detigere II 18, 1; VII 16, 1;
I 49, 1, II 17, 1, VI 10, 2, VII 35,5 u.ö.; deligere locum colloquio,
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520 Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
domicilio 3; diem constituere concilio, colloquio, pugnae u. a. 4;
diem dicere colloquio u. a. 2 ; aliquem (alicui) subsidio mittere 6,
auxilio 2; submittere aliquem alicui subsidio 1, auxilio 1; (alicui)
subsidio venire 3, auxilio 2; aliquem auxilio arcessere 1; andere
ähnliche Wendungen s. Heynacher s.25. — N. je lmal auxilio (sub-
sidio) venire; auxilio (subsidio) mittere; auxilio proficisci; subsidio
ire, udducere; subsidio proficisci 2; praesidio proficisci 1. — nur N.
hat 3 muneri dare (Thras. 4, 2, Hann. 12, 3, Ages. 8,6), muneri
mittere Paus. 2, 3, Att. 8, 6. [dono statt muneri unclassisch.] —
vgl. Att. l 2, 5 alicui curae esse.
Wichtig also 1) und einzelne Wendungen aus 3) auxilio venire
u. ä. — castris copias praesidio relinquere u. ä. (tertia).
C. Genetivus.
§1.
Der gen. possess., esse c. gen., es ist eigentum, sache jemandes,
gehören zu u. a. I 45, 1; V 34, 1 — III 23, 3; V 7, 8; V 5, 2;
IV 16, 4; 17, 1; -141, 3; VI 30, 2; IV 13, 2 - I 21, 2 ; VI 7,8;
VII 77, 12; V 11, 5 res erat multae operae ac laboris, nach Kr.-Dtt.
u. a. gen. qualitatis; hinzugefügt ist res VII 38, 7 (das subject ist
zu entnehmen aus ut sibi consulat), VII 45, 9 (occasionis esse rem,
non proelii, subject ist das gelingen des Unternehmens, Db.-Dt.);
vgl. VI 23, 2 hoc proprium virtutis (erg. esse) existimant. — N. 5.
fieri c. gen. C. N. 0.
§2.
Der gen. obiectivus excl. gerund. 200 mal bei C. nach Heynacher
s. 19; N. etwa 270, vgl. Köhler s. 1, Bähnisch a. a. o. s. 6 — 9.
Ich führe aus Caes. nur die gebräuchlichsten substantiva mit
folgendem gen. an: opinio virtutis, iustitiae, bellicaelaudis u.a. (12);
simulatio 5 (allerdings liest Menge I 40, 10 statt in rei frumentariae
simulationem, so codd., in — subvectionem, vgl. VII 10, 1); timor,
metus 8; cupiditas 6; scientia 5; potestas vitae necisque 3; vgl.
I 40, 8 sui; principatus 5; imperium 8; inopia 16; memoria 6;
causa 8; usus 6; iniuria4; initium 8; am häufigsten spes. vgl. lexic.
8. v. suspicio, commutatio, aspectus, conspectus, dilectus, quaestus,
odium, Studium, in — conscientia, regnum, mentio, immunitas,
notitia, fiducia, aditus, occupatio, quaestio, vacatio, dubitatio, fides,
finis, Signum und andere verbalsubstantiva wie oppugnatio u. a.;
vgl. bellum der krieg mit 8 (I 30, 1 u. a.), für den gen. steht ein
adjectivum 1 13, 2; III 18, 6; IV 16, 1 ; 20, 1; 21,4; V 4, 1; 54,4;
in ähnlicher weise III 5, 2 Nervico proelio; VII 28, 4 lesen wohl
mit recht Paul, Meusel Cenabensi caede (so ß) statt Cenabi caede.
Für den gen. obiect. stehen die präpositionen in usw. bei Sub-
stantiven der zu- und abneigung (benevolentia u. a.) und Substan-
tiven wie beneficium, meritum. C. animus I6,3;V41,5; 4, 4;
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Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos. 521
benevolentia V 25, 2; VII 43, 4; voluntaa I 19, 2; V 4, 3; fides
V 64, 4; indulgentia VII 63, 8; beneficium I 42, 3; 43, 4; V 27, 2;
meritum VII 54, 3; 71, 3; Studium I 19, 2: nur V 54, 4 gebraucht
C. erga [3 mal b.civ.], sonst stets in, nie adversus: der präpositional-
ausdruck steht zwischen attribut (adj., pron., genetiv) und Substantiv
z. b. I 43, 4 sua senatusque in eum beneficia commemoravit; auch
VII 63, 8 hält doch wohl mit recht Schneider (vgl. Richter s. 37)
die lesart von ß Caesaris in se indulgentiam für besser als die von <*
Caesaris indulgentiam in se. nach Richter abweichend nur b. civ. I
7, 1 omnium temporum iniurias inimicorum in se commemorat. —
Nep. adversus 0; erga einige mal unclassisch im feindlichen sinne;
im freundlichen sinne nur 1 ; in 2 mal. für Cic. verweise ich auf
Froehlich de grammaticae latinae locis aliquot controversis , gymn.-
progr. Hagenau 1889 s. 7 — 14. Cic. hat adversus in den reden nie-
mals, dagegen oft erga und in, vgl. Amic. 16, 56 (ut nostra in amicos
benevolentia illorum erga nos benevolentia . . . respondeat: erga
und in), die präp. steht nur von personen und begriffen, die dem
einer person gleichkommen (patria u. a.), bei den ausdrücken des
affects, also sage nicht amor in litteras für amor litterarum (Berger
Stilistik8 § 55c. anm.). nicht überall finden wir bei Cic. zwischen-
stellung des präpositionalausdrucks, vgl. z.b.Flacc.96 summi amoris
in patriam. — adversus gebraucht Liv. wenigstens XXI — XXIII
nicht, vgl. Fügner s. 50—51 ; Sali. Oj erga von freundlicher gesin-
nung Liv. XXI — XXIII 3 mal; Sali. 0; am gebräuchlichsten ist jeden-
falls tiberall in ; vermeide adversus.
Vom pron. pers. hat C. nur folgende gen. obi. IV 28, 2 (magno
sui cum periculo; Meusel u. a. lesen suo), I 40, 8 (sui potestatem
facere) ; V 29, 2 (contemptio nostri). N. 4.
Der genitiv eines Substantivs bei causa »wegen C. etwa 35 mal,
N. 9. — mea causa usw. C. 0, N. 1 ; gratia C. 0 (allerdings VII 43, 2
mit gerund.), N. 1 (5 mit gerund.); ergo C. 0, N. 1; Cic. nur in
formein, vgl. Schmalz A. s. v.; Stegmann JP. 1885 s. 229; instar
C. nur II 17, 4, N. 0.
§3.
Der gen. explicativus. vgl. Heynacher 8. 21. Caes. V 47, 5
copiae equitatus peditatusque , ähnlich VI 7, 1; 10, 1; VII 5,3;
76, 5; — VII 65, 1 praesidia cohortium duarum et viginti; diese
und ähnliche stellen 8. unter gen. qualitatis. Heyn, führt ferner an
III 10, 2; 8, 2. bei Cic. oft der gen. expl. bei genus, vgl. Caes. VI
13, 4; 15, 1; 28, 1.
Classisch ist bekanntlich urbs Roma, flumen Rhenus u. a., vgl.
Caes. VII 56, 2 mons Cevenna (so die besten hss.) , I 8, 1 ; I 38, 4
(flumen Dubis) u. Ö.
Andere genetivi expl. C. III 2, 5 obsidum nomine; VI 19, 1;
VII 77, 3; 89, 5; vgl. II 27, 2 ut turpitudinem fugae virtute de-
leren t.
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522 Die lat. casusByntax auf grundlage von Caeaar und Nepos.
»
Aus Nepos fuhrt Köhler s. 1 17 beispiele an; unclassisch urbs
Syracusaruin (Dion 5, 5); Epam. 5, 3 nomen otii, Dion 1, 4 nomen
tyranni u. a.
Gleich dem dat. ethicus werde auch der gen. explic. nur bei
gelegenheit der lectüre besprochen, am durchsichtigsten und zahl-
reichsten sind fälle wie copiae equitatus peditatusque und nomen
obsidum, dotis, praedae u. a.
§*.
Genetivus partitivus.
a) bei Superlativen, Zahlwörtern usw.
1) bei comparativen nur VI 9, 7 und VII 72, 3 (quarum sc.
fossarum interiorem).
2) bei Superlativen: I 3, 6; V 3, 1; III 8, 1 ; IV 1, 3; I 7, 3 ;
21, 2; 31, 7; 31, 10; 38, 1; 23, 1; 53, 6; II 4, 7; 32, 4; IV 16, 1;
VI 24, 2; 29, 4; 42, 3; VII 15, 4. also 18 mal. die präp. ex steht
I 30, 3; V 14, 1; 30, 2; I 41, 4; VI 25, 5; V 56, 2; VI 28, 3;
II 3, 1.
3) bei cardinalzahlen; oft nach milia; auch nach ruille I 25, 5?
die edd. haben auf Dinters Vorschlag spatio hinzugefügt; bekanntlich
ist der gen. die regel neben den Verbindungen unus . . . alius . . .
tertius u. ä., so Cic; auch Caes. I 1, 1 ; VI 9, 1; vgl. auch I 31, 3;
53, 4; V 27, 9; VII 17, 2; 32, 4; ex nur VI 3, 3; V 24, 2. vgl.
Stegmann JP. 1885 s. 248.
Ausnahmsweise heiszt es buch VII 35, 3 unius eorum pontium.
— Häufig steht nach cardinalzahlen ex, stets nach unus (11 mal);
femer IV 32, 2; 36, 4; VII 33, 3; IV 12, 3; VII 28, 5; IV 1, 4;
VII 68, 2; I 29, 2; VII 89, 5.
4) bei Ordinalzahlen V 15, 4; II 11, 1; 27, 3; primi = prin-
cipes II 3, 1; 13, 1; vgl. I 1, 1 unam . . . aliam . . . tertiam; ex
V 24, 2 ex quibus unam . . . alteram . . . tertiam; ebd. quartus.
5) bei den uneigentlichen Zahlwörtern multi, nonnulli, com-
plures, per-pauci, tot, quot, aliquot überwiegt bei weitem das attri-
butive Verhältnis; der gen. nur V 22, 2; VI 40, 7 (multi, nonnulli
mit pronominalem genetiv); hingegen ex: complures 4, multi 1, plu-
rimi 1, nonnulli 2, pauci 2, perpauci 4. Ciceros Sprachgebrauch
stimmt mit dem Caesars völlig Überein, Stegmann a. o. o.
6) bei folgenden pronominibus: nullus IV 28, 2; nemo V 43, 6;
VII 66, 6; uter VI 19, 2; quisquam VII 76, 5 (omnium quisquam;
Kratfert: omnino); VI 25, 4 (neque q. est huius Germaniae); quis-
que IV 5, 2; V 33, 6; VII 31, 2 ; 32, 5; 48, 2; 71, 2 ; uterque eorum
VII 32, 3; oft uterque attributiv bei einem Substantiv, vgl. plural.
hit> utrisque (id est Atrebatibus et Virimanduis) II 16, 2 und haec
utraque sc. tigna IV 17, 6. — Die präp. ex steht nach aliquis 147, 1;
V 26, 4; qui I 39, 6; IV 18, 4; VI 23, 8; 36, 3; quicunque VII
40, 3; quidum I 42, 6; II 17, 2; V 48, 3; VI 30, 4 ; ne quis ex
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Die lat. casussyntax auf gruudlage von Caesar und Nepos. 523
plebe VI 11, 4; ubi quis VI 23, 7; vgl. auch V 23, 3; VI 19, 1 ;
I 54, 1; V 61, 5; III 6,2; 26, 6 — VII 75, 1 certum numerum
cuique ex civitate (Db.-Dt.), Kr.-Dtt. liest richtig mit ß cuique
civitati.
Anm.l. die präposition de steht nur VI 13, 3; I 15,2; V42,2;
inter II 4, 5 (plurimum inter eos Bellovacos valere) , V 4, 3 ; hier
tiberwiegt mehr die locale bedeutung wie VI 13, 8; 21, 4; zu II 4, 8
vgl. Db.-Dt. vgl. in his u. ä. f unter diesen* I 16, 5; 53, 3; II 25, 1;
IV 12, 3; V 4, 2; 53, 6; VII 3, 1; 39, 1. - Zu a II 25, 1 und 2
vgl. Db.-Dt., Kr.-Dtt.
Anm. 2. Fischer II 32 sagt : 'Caesar pflegt partitiven adjectiven
und Zahlwörtern das pron. poss. mit und ohne Substantiv in gleichem
casus statt im gen. oder einer präposition beizufügen.'
I 52, 5 (reperti sunt complures nostri milites, qui); IV 12, 2;
VII 47, 7 (tres suos nactus manipulares). 13 dasz hier ein partitives
Verhältnis vorliege, leugnen mit unrecht Db.-Dt., Kr.-Dtt. zu I 52, 5.
Draeger s. 458 führt noch an V 14, 2 interiores plerique frumenta
non serunt. vgl. zu plerique mit dem gen. Kühner s. 313 anm. 3.
beispiele für Wendungen wie quos multos finde ich nicht; vgl. Steg-
mann JP. 1885 s. 248.
Bekannt ist das attributive Verhältnis in ausdrücken wie multi
alii, plerique omnes u. a. vgl. die partitive apposition I 8, 4 (Hel-
vetii . . . alii), IV 26, 4 (hostes . . . plures . . . alii); ein das ganze
bezeichnende Substantiv ist zu ergänzen IV 28, 2; V 51, 4.
Zum gebrauch der präpositionen bei Cic. vgl. Froehlich a. o. o.
s. 1 5 ff. ex meist nach den pluralischen zahladjectiven und den pro-
nominibus, nach letzteren auch am häufigsten (ex c. 40 mal, de c.
20 mal); inter nur abhängig von Superlativen oder worten mit super-
lativischer bedeutung wie princeps; zum gebrauch von in bemerkt
Froehlich s. 17: ex Ciceronis libris certum huius usus exemplum
quod proferam habeo nullum. nam quod in nonnullis libris gram-
maticis invenio allegatum 'Thaies Milesius sapientissimus in Septem
fuit* leg. II 11, 26, equidem huc nequaquain rettulerim, primum
quia dubitatio mihi affertur adiecto verbo 'fuit', tum quod praepo-
sitio in etiam aliam habet explicationem.
b) bei den Substantiven des maszes und der quantität.
Sehr oft steht der gen. part. bei pars, numerus, multitudo,
copia ; vis nur IV 1 7, 7 ; VI 36, 3 ; facultas 1 38, 3 ; III 12,3; acervus
II 32, 4; manus V 27, 8; 29, 1 ; I 37, 4; II 5, 2; VII 84, 3. ver-
einzelt steht numerus frumenti VII 38, 9; vgl. numerus pecudis
V 21, 2; 12, 3; 21, 6; VI 6, 1 ; 35, 6; nichts anstösziges liegt in
numerus equitatus für equitum (dies I 18, 5; III 11, 3). Nep.
pars 17, numerus 14, multitudo 9; manus, modius, pondus, fre-
quentia, vis je 1 mal.
" vgl. b. civ. III 28, 2; I 29, 2; III 96, 4; 104, 3; I 46, 4; III 58, 2;
II 27, 1.
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524 Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepoe.
c) bei den substantivisch gebrauchten neutr. sing, der pronomina usw.
hoc 1 (solacii VH 15, 2); id 1 (consilii VII 5,5), quod 4,
quid? 9, aliquid 3, quid 6, quicquam 3 (IV 16, 4 gehört nicht hier-
her), quantum 6, aliquäntum 1 , multum 1 , plus 1, minus 2, mini-
mnm 1, nihil 11.
Anna, quid certi VII 45, 4; nihil reliqui I 11, 5; II 26, 5; sui
I 43, 8; quid aliud VII 77, 16; quid gravius I 20, 1; 48, 6.
Der gen. part. bei den adverb. loci C. N. 0; vgl. übrigens Steg-
mann JP. 1885 s. 248.
affatim, parum, nimis C. N. 0; nimis nach Stegmann bei Cic.
nur orat. 170, dafür nimium c. gen.; parum nur Rose. 46, 49, Cato
m. 3, Brut. 240. 327; satis Cic. oft; Caes. nur I 19, 1; III 23, 7;
Nep. Cim. 2, 1 ; Timoth. 3, 1 ; Epam. 4, 2. — Caes. hat einigemal
satis magna copia, s. magnus numerus ; Caes. magnae, maiores tan tae
copiae 16 mal ; einige mal auch Nep. ; magna pecunia Caes. b. Gall. 0,
Nep. 4.
Über den gen. part. bei Nepos vgl. Köhler s. 3 — 6: inter nur
Ages. 2, 3 (qui summum imperium inter praefectos habebat) ; häufiger
als Caesar14 hat Nep. de (lOmal).
§5.
Von den zahlreichen bei Zumpt § 436 u. a. angeführten adjec-
tiven mit dem gen. obiect. (adiectiva relativa) kommen bei Caes. im
b. Gall. I— VII nur folgende vor: peritus 3 (I 21, 4; III 21, 3; VII
83, 1) ; Nep. 6 ; imperitus C. 6 (1 44, 9 ; V 27, 4 ; VII 29, 2 ; IV 22, 1 ;
VI 39, 2; IV 24, 4); Nep. 1; insuetus C. VII 30, 4 (laboris; vgl.
V 6, 3 navigandi); N. Dion 7, 3 (male audiendi); plenus C. VII 76, 5
(fiduciae: codd. ß fiducia; der abl. auch b. civ. I 74, 7, hingegen der
gen. II 5, 2; 41, 8; 37, 6; III 32, 4; 69, 4); Nep. 2; cupidus C. 4
(I 18, 3; V 6 1; VI 35, 6; I 2,4); Nep. 4mal. conscius C. I 14, 2;
N. 1. Nep. hat noch studiosus Epam. 3, 2 audiendi; Cato 3, 5; Att.
1, 2; rudis Pelop. 1, 1; prudens Con. 1, 2; memor 2; expers 4;
partieeps 3; supplex 2.
Vogt (das deutsche als ausgangspunkt im fremdsprachlichen
Unterricht, gymn.-progr. Neuwied 1886 s.6) stelltauf grund psycho-
logischer betrachtungen folgende regel auf: res sollen nicht in ein-
und derselben regel fälle, in denen Übereinstimmung mit dem deut-
schen und solche, in denen abweichung herscht, bunt durcheinander
gewürfelt werden.' als entbehrlich führt er mit recht an partieeps,
expers, compos, potens, memor, immemor, inops, conscius. wichtig
demnach sind nur peritus, imperitus, cupidus, plenus.
Participia transitiver verba c. gen. C. 0; nach Stegmann JP.
1885 s. 230 nur fugiens laboris im b. civ. I 69, 3; Cic. meist nur in
den philosophischen Schriften; zu den von Stegmann angeführten
" Caea. b. civ. steht de partitiv nur II 35, 1 Fabius Paelignus qui-
dam ex infimia ordinibua de exercitu Curionis.
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Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos. 525
stellen fügt Gaede a. o.o. 8. 7 hinzu: pro Quinctio 39; 62; de imper.
P. 7 , Plane. 5, 13. — Nep. nur veritatis diligens Epam. 3, 1. —
Diese construetion weist Stegmann mit recht einer späteren stufe
zu. nach v. Kobilinski ZGW. 1886 s. 707 passt diese regel ihrer
einfachheit(?) wegen gerade für die entwicklung der unteren stufe.
§6.
Dasz die regel Über die verba des erinnerns im laufe der zeit
viele änderungen erfahren hat, bemerken mit recht v. Kobilinski
ZGW. 1886 s. 19 und Eichler ebd. 1887 s. 435.
Caes. moneo, ad — commoneo, memini, recordor, mihi in men-
tem venit 0; reminisci c. gen. I 13, 4; oblivisci c. gen. I 14, 3; VII
34, 1. Nep. Ale. 8, 5 moneo illud; reminisci c. gen. Phoc. 4, 1;
hingegen c. acc. Ale. 6, 3; obliviscor c. gen. Eum. 6, 2; vgl. Dat.
11,3 quiddam. nach Schmalz im antib. classisch moneo de; admoneo
de und gen.; commoneo de, aliquam rem, gen.; commonefacio gen.,
aliquid; memini mit gen. ; recordari von Sachen de und aliquam rem,
von personen de; oblivisci nur(!) mit acc. der sache, nicht mit acc.
der person (überall id usw.).
Die fassung dieser regel (vgl. z. b. Ell.-Seyff.34) hat allerdings
etwas verwirrendes für die schüler.
§7.
Die verba absolvo, libero, damno, arguo, coarguo, accuso, in-
cuso, reum facio c. gen. C. b. ( t all. 0; C. hat den gen. der schuld bei
condemno VII 19, 5; aliquem proditionis insimulare VII 20, 1;
20, 12; 38, 2. vgl. die ungewöhnliche construetion avaritiam sc.
eius esse convictam I 40, 12.
Nep. ineuso, insimulo, coarguo, convinco, condemno, absolvo 0;
accusare mit gen. 3 (2 proditionis Milt. 7, 5; Timoth. 3, 5); 4 mal
mit abl. crimine; arguere aliquem crimine Paus. 3, 7; reum facere
c. gen. Ale. 8, 4; damnare 4 mit gen. (2 proditionis, Them. 10, 5;
8, 2); capitis damnare 5; c. absolvere 2 (Milt. 7, 6; Paus. 2; 6).
Also : anklagen wegen accusare, insimulare ; verurteilen wegen
damnare, condemnare; zum tode verurteilen 18 damnare; freisprechen
absolvere.
multare c. abl. C. VII 54, 3 (agris, zur strafe berauben); N. 9
(4 pecunia, 2 morte, 3 exsilio).
Wendungen wie postulare aliquem de repetundis C. N. 0.
§8.
Die verba des schätzens: C. nur I 20, 5 (tanti esse), IV 21, 7
(magni habere). Nep. 10 mal, allerdings in den nicht überall ge-
lesenen viten Cato, Iphicr., Dat., Eum., Timoth., Conon; wohl überall
15 nach Eichler ZGW. 1887 s. 437 capitis damnare Cic. 0; vgl. capitis
damnare Caes. b. civ. III 83, 3; 110, 3.
526 Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
gelesen nur Epam. (10, 4). es finden >ich bei aestimo, facio, esse
die genetive magni , pluris, piurirni; parvi, minoris; tanti. vgl. zu
den verben des schätzen« Stegmann JP. 1890 s. 29 ff. Cic. an über
je 60 stellen aestimo, facio (vgl. Nep.); puto nur 8 mal in den philo-
sophischen Schriften, briefen, Flacc. 10, 4. duco nur 4; habere nur
div. 1, 132; pendere 0; für esse gelten führt Stegmann ca. 90 stellen
an; Caes. 1, Nep. 4; fieri hat Cic. namentlich oft im briefstil; haberi
nur Caes. 1 ; Cic. Phil. 6, 10; Verr. 4, 19. für plurimi steht maximi
vereinzelt, zum teil kritisch unsicher.
pro nihilo putare C. N. 0; öfter Cic. pro nihilo putare, habere;
p. n. ducere 4. der gen. nihili sehr selten.
Heynacher s. 128: die beiden genetivi des wortes bei Caesar,
in 365 Caesarstücken, dem maximum der zweijährigen lectüre auf
lila und b, lohnen die mühe nicht, welche das einüben von 13 gene-
tiven des wortes kostet, allerdings kann eingewandt werden, dasz
Nepos nach Lupus' Zählungen 10 genetivi pretii bietet, doch wird
in dem einen Schuljahr der IV durchschnittlich kaum der halbe Nepos
gelesen.
§9.
Caes. nur IV 5, 3 paenitet me alicuius rei; vgl. pudet absolut
VII 42, 4. Nep. hat 3 paenitet Cim. 3, 2, Timoth. 4, 1; Att. 15, 2
(eum suscepti negotii pertaesum est); vgl. pudet aliquem c. inf.
praef. 6. — misereri c. gen. C. 0, N. Phoc. 4, 1.
Nach Stegmann JP. 1885 s. 230 sind piget, taedet bei Cic.
kaum zu finden, miseret nur Mil. 92, Ligar. 14, Phil. 2, 69. 90;
misereri entbehrlich, nur mit dem gen. Verr. 2, 1, 72. oft paenitet
und pudet. — Sali. Jug. 4, 9 me civitatis morum piget taedetque;
miseret 0, dagegen misereri c. gen. 4 mal; Liv. XXI — XXIII (vgl.
Fügner) s. 13 taedet nur 21, 19, 7 ; dagegen 7 mal paenitet, 1 pudet,
1 misereri. wichtig also paenitet und pudet (III).
§ 10.
interest, refert N. 0; Caes. hat nur interest; II 5, 2 quantopere
rei publicae communisque salutis intersit manus hostium distineri
(für communis salutis müste man erwarten ad communem salutem,
Db. Dt. u.a.); V 4, 3 magni interesse arbitrabatur eius auctoritatem
inter suos quam plurimum valere; VI 1, 3 magni interesse etiam in
reliquum tempus ad opinionem Galliae . . . tantas videri Italiae facul-
tates; VII 14, 8 neque interesse mit doppelfrage ne . . . ne.
interest Sali. 0; Liv. XXI — XXIII nach Fügner s. 13 nur
23, 43, 13; häufig Cic; zu refert vgl. Sali. Cat. 52, 16. Jug. III 1.
Liv. XXI-XXIII Omal.
Die besprechung dieser regel fällt erst in die III.
Nachträge.
1) zum dativ § 7. mit VI 13, 2 vgl. V 27, 3 ut non minus
haberet iuris in se multitud o; Caesar sagt auctoritatem habere VI 11,3;
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Zur gestaltung der lateinischen lectüre im gymnasium. 527
11, 4 ; 13, 8; auctoritas est in aliquo VI 12, 2; habere controversiani
V 44, 2; VIT 67, 7; VI 13, 10; alicui est c. VII 33, 2; vgl. spem
habere I 33, 1.
2) zum genetiv § 1. esse mit dem gen. von adjectiven statt
der entsprechenden substantiva findet sich bei Caesar nicht, vgl.
Plochmann s. 23. ebendort lesen wir: als possessiv in weiterem
sinne ist der genetiv auch in folgendun auffallenden Verbindungen
anzusehen: IV14,3 pristini diei perfidia; IV 22,1; VI 32,5; V54,4
u. a. , auch z. b. Lutetia Parisiorum VI 3. 4. zu esse mit dem gen.
eines adj. vgl. Nepos Att. 13, 4; 15, 1.
3) zum gen. explic. III 13,6 onera navium; V58,2 contumelia
verborum; VI 21, 5 rhenonum tegimentis. Plochmann s. 23.
4) zum gen. part. b. VI 22, 2 modus masz; turma VII 45, 1.
Plochmunn s. 25.
(schlnsz folgt.)
Schwerin. K. Brinker.
50.
ZUR GESTALTUNG DER LATEINISCHEN LECTÜRE
IM GYMNASIUM.
In der dritten sitzung der zur beratung Uber fragen des höheren
Unterrichts einberufenen conferenz fiel am 6 december 1890 von
autoritativer stelle bezüglich des lateinischen das ebenso wichtige
als richtige wort: 'das lehrziel ist für das gymnasium:
logische, historische Schulung, verbunden mit gründ-
licher lectüre* (geheimrat dr. Stauder, Verhandlungen s. 210).
bedenkt man, wo diese worte gesprochen wurden, und wer sie sagte,
so dürfen alle freunde des humanistischen gymnasiums guten mutes
in die Zukunft schauen; es ist damit auch für die folgezeit anerkannt
worden, dasz im gymnasium die lateinische spräche auch fortan noch
die grundlage der grammatischen Schulung bleiben werde, und dasz
dem lateinischen lehrziele erhalten werden sollen, welche dasselbe
des betreibens wert machen: an ihm soll der schüler des gymna-
siums denken lernen und durch dasselbe angeleitet werden, den be-
griff der entwicklung zu verstehen und zu erfassen, da die spräche
die höchste Schöpfung des menschengeistes von jeher gewesen ist und
noch ist, so musz sie auch als das geeignetste mittel gelten, an ihr
das zu lernen, was des menschen höchstes ist, zu denken; und keine
spräche ist einerseits so scharf nach logischen gesetzen ausgeprägt
wie die lateinische, dabei in wort und satzform so klar und durch-
sichtig , anderseits aber auch so ganz anders als unsere spräche ge-
artet, dasz das deutsche gymnasium keinen dankbareren und wirk-
sameren Unterrichtsgegenstand finden kann als das lateinische, die
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4
528 Zur gestaltung der lateinischen lectüre im gymnasium.
Unterweisung in ihm zerfällt aber naturgemäsz in zwei grosze teile:
in grammatik (im weitesten sinne des Wortes genommen) und in
lectüre. wird lateinische grammatik fernerhin betrieben, so wird
dies geschehen, wie es des deutschen gymnasiums würdig ist, und
es wird auch in zukunft als ziel dieses Unterrichts erstrebt werden
müssen, bei festhalten einer ausreichenden Stundenzahl1: 1) eine
ausreichende menge von grammatischen kennt niesen, die jedoch
auf das wichtigste und notwendigste beschränkt werden müssen , so
aber, dasz das hertibersetzen (um die trefflichen bezeichnungen von
Rothfuchs zu gebrauchen) kein blindes raten werde, das hinüber-
setzen richtiges latein liefere; 2) kenntnis der synonymen unter-
schiede der wichtigsten Wörter, damit keine verkehrten Wortverbin-
dungen gebraucht und die wichtigsten abtönungen im gebrauch der
Wörter ausreichend verstanden werden ; 3) kenntnis der wichtigsten
stilistischen regeln, damit Verständnis der eigentümlichkeiten der
lateinischen spräche erzielt werde, das förderlichste beim Umtausch
mit deutschen eigentümlichkeiten, auch wichtig für vertiefte erkennt-
nis unserer spräche; endlich 4) kenntnis der hauptvorschriften der
rhetorischen technik, um eine zusammenhängende lateinische d Er-
stellung, wenigstens in ihren wichtigsten gesetzen, verstehen und
würdigen zu können, im besten falle auf grund eines gegebenen
deutschen textes eine solche nicht zu verfehlen, dies ist ungefähr
das masz der kenntnisse, welches der Verfasser in seinem jüngst er-
schienenen büchlein (vorlagen zu Übersetzungen ins lateinische
für die prima des gjmnasiums, Breslau 1891) voraussetzt und auch
fernerhin zu erstreben anrät, wenn das lateinische des betreibens auf
unseren gymnasien wert sein soll, wichtiger aber wird in zukunft
auf den gymnasien das andere stück des lateinischen Unterrichts, die
lectüre werden, welcher wir in den folgenden Zeilen eine eingehen-
dere, aber zwanglose betrachtung widmen wollen, und zwar auf
grund langjähriger erfahrungen in der Vergangenheit und eingehen-
den sorgenvollen nachdenkens bezüglich der zukunft, wobei wir uns
bewust sind, nicht etwa neue oder besondere gedanken vorzu-
bringen, aber es gilt für das bestehende in echt conservativem sinne
einzutreten, d. h. das berechtigte festzuhalten, aber neuen un-
abweisbaren forderungen sich nicht nur nicht zu verschlieszen,
1 nach unserer Überzeugung sollte man nicht unter das masz der
jetzt in Preuszen vorhandenen lehrstunden heruntergehen, welche wö-
chentlich 9 stunden in VI — III, 8 stunden in II und I betragen, höch-
stens kann man durchgehends 8 stunden zulassen; denn wenn man troU
aller oft schon geltend gemachten bedenken doch noch dem lateinischen
glaubt stunden wegnehmen zu dürfen, so möge es, wenn es unabwend-
bar ist , in den unteren und mittleren classen geschehen, wo vielleicht
durch eine noch überlegtere lehrweise, peinlichstes ausnutzen der lehr-
zeit und beschränkung de« lehrstoffes noch etwas hergegeben werden
kann, während der gewaltige Stoff der lectüre in den oberen classen,
der ja eher zu vermehren als zu verringern ist, eine Verminderung der
stunden widerrät, wir sprechen de lege ferenda.
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Zur geötaltung der lateinischen lectüre im gymnasium. 529
sondern das gute und bewährte alte in die neuen formen, soweit sie
eben als berechtigt allgemein anerkannt werden müssen, richtig
hinüberzuleiten, zum nutzen und frommen unserer jugend, und da-
mit zum heile unseres heiszgeliebten Vaterlandes, freilich können
wir dabei auf die vorhandene weitschichtige litteratur nur geringe
rücksicht nehmen, weil dies einerseits die gewollten zwecke nicht
fördern würde, anderseits unsere ausführungen dann den ihnen ge-
statteten räum weit überschreiten würden.
Bei der ersten frage nach der aus wähl der lectüre heischt zu-
nächst eine allgemeine betrachtung, welche freilich bei der aus wähl
jeder lectüre für die schule sich gebieterisch vordrängen wird, ihre
erledigung. sie findet dieselbe, wenn wir als obersten und allge-
meinen grundsatz hinstellen: es ist nur zu lesen, was sowohl dem
verstände als dem gemüte frommt, ein grundsatz, welcher zwar
dem wesen nach allgemein zugestanden ist, der aber in der aus-
führung so oft verletzt wird, dasz seine erwähnung an dieser stelle
gerechtfertigt erscheinen musz. positiv ausführen läszt er sich nur
durch darlegung des einzelnen, aber seine grosze bedeutung beruht
wesentlich auf der negativen seite, auf der ab Weisung ungeeigneter
Stoffe, was frommt dem verstände unserer jugend ? von diesem
Standpunkte aus musz bei der auswahl alles fern gehalten werden,
durch dessen kenntnis das wissen unserer jugend nicht in hervor-
ragendem masze gefördert wird: nur grosze ereignisse, edle thaten
und gedanken groszer männer, anderseits auch schwere Unglücks-
falle, gewaltige unthaten und unheilvolle laster ganzer Völker und
Verkehrtheiten der einzelnen, sowie deren ahndung und bestrafung
soll sie kennen lernen, mit einem worte, das walten der göttlichen
Vorsehung in dem geschichtlichen und culturellen leben der antiken
Völker und der antiken gesellschaft. damit verknüpft sich sofort,
oder ist unauflöslich damit verbunden die andere frage: was frommt
dem gemüte? hierbei kommt die betrachtung zu demselben ergebnis
wie oben, handelte es sich jedoch dort darum, was mitgeteilt wurde,
so ist hier bei jedem litteraturwerke sorgsam zu beachten, wie das
ganze und das einzelne gesagt ist. es ist dabei nicht zu umgehen,
dasz die jugend auch die verirrungen der Völker und individuen
kennen lernt, die nachtseiten des Völker- wie des einzellebens,
namentlich in cultureller beziehung, aber es kommt doch dabei vor
allem darauf an, wie der schriftsteiler seinen stoff auffaszt und dar-
stellt, ob z. b. der schüler die von sittlichem pathos durchtränkten
Schilderungen des Tacitus liest oder etwa (wovor er stets behütet
ist) die an Jämmerlichkeiten haftenden, im schmutze wühlenden und
unterschiedslos das gräszüche und abscheulichste, ich möchte fast
sagen mit einem gewissen behagen berichtenden darstellungen des
Sueton lesen würde, praktisch wird dieser gesichtspunkt unter an-
dern bei der lectüre des Ovid und Horaz. denn steht unter dem
ersten gesichtspunkte , dem des nutzens für den verstand, die aus-
wahl ganzer werke , so fordert dieser letztere bei der lectüre selbst
f*. Jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1S91 hft. 11. 34
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530 Zur ge&taltung der lateinischen lectüre im gymnasium.
die beachtung einer sorgsamen auswahl aas den werken, weil es —
wir dürfen es nicht verschweigen — viele antike werke gibt, bei wel
chen eine sehr sorgfältige auswahl der gelesenen stücke höchst nötig
ist (sorgfältiger, als es noch vielfach geschieht), wenn man auf das
sorgsamste den grundsatz befolgt: puero reverentia debetur, ohne
dasz wir einer kleinlichen und ungesunden Überängstlichkeit das
wort reden wollen, wir werden später noch hierauf bei der einrich-
tung der ausgaben zu sprechen kommen, also: abdruck der werke,
auswahl durch den lehrer, da die anschauungen , wo hier die grenz-
linien zu ziehen sind, stets verschieden bein werden, und da dem
persönlichen ermessen des lehrers, weil ja persönliche Verantwortung
vorliegt, auch ein möglichst weitgehender Spielraum gelassen wer-
den musz.
Nun zum einzelnen ! ehe wir jedoch zu den litteraturwerken
selbst und zu den classen , wo lateinische Schriftsteller gelesen wer-
den, kommen, müssen wir noch einige grundsätzliche bemerkungen
Über die Vorstufe vorausschicken, welche die zwei untersten
classen, sexta und qujnta, umfäszt; in ihnen vertritt das lese-
buch die stelle der litteraturwerke, wenn es auch natürlich noch
andere aufgaben als das lesen der sätze hat. die bei der abfas-
sung des lesebuchs zu beachtenden grundsätze müssen nach unserer
meinung folgende sein: 1) allgemein: einzelsätze können und
sollen nicht vermieden werden (so auch Waldeck lehrproben heft 25
s. 25); der stoff derselben liege im gesicbtskreise des schülers, be-
handle also, ohne trivial zu sein, inhaltlich ihm verständliche, wo-
möglich ihn erfreuende und seine aufmerksamkeit weckende oder
wachhaltende Verhältnisse, der stoff habe also inhalt, wenn ich so
sagen darf, dann mögen, sobald es thunlicb ist, zusammenhängende
stücke folgen, die spräche sei gutes latein, in den deutschen Sätzen
lesbares deutsch, das sich in ordentliches latein übertragen läszt!
wie sehr es die lesebücher für sexta und quinta hieran noch fehlen
lassen, weisz jeder kundige, obschon es allmählich viel besser ge-
worden ist. dabei darf wohl auch die erwartung ausgesprochen wer-
den, dasz der lateinlehrer auch auf dieser stufe (ich möchte nicht
sagen, gerade auf ihr, da es überall nötig ist) ein geschulter philolog
sei, der schon in diesen classen durch die eigne handhabung der
lateinischen spräche vorbildlich wirken kann; kommt dieses doch
bei der Übersetzung fast eines jeden deutschen satzes ins lateinische
zum ausdruck, und was der knabe in frühester zeit lernt, haftet am
festesten, auch ist es schlimm, wenn er das, was er in sexta und
quinta gelernt bat, später umlernen musz. diese worte erscheinen, ich
kann mir das im voraus denken , vielen sicherlich ganz überflüssig,
aber die praxis lehrt: sie sind es nicht 1 — 2) im besonderen:
das lesebuch für sexta beginne mit einzelsätzen, nominal- und verbal-
lehre sei in einander gearbeitet, und es dürfen möglichst nur regel-
niäszige formen von den schülern gefordert werden; letzteres wird
noch viel zu oft unbeachtet gelassen, denn die unregelmäszigkeiten
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Zur gestaltung der lateinischen lectüre im gymuasium. 531
kommen, weil ihr vermeiden nicht selten recht unbequem, ja oft
schwierig ist, noch viel zu häufig in unseren sextanerlesebüchern
vor. tiberall mögen kleine erzählungen und fabeln (freilich mit
Vermeidung alier seltenen vocabeln !) bald folgen, so dasz die einzel-
sätze höchstens die hälfte des buche» ausmachen; lateinische und
deutsche sätze müssen hier einander die wage halten, dadurch ist
klar, dasz ich nicht auf dem Standpunkte des Verfassers von Pauli
Sextani Uber oder ähnlicher blicher stehe; für griechische lesebücher,
welche selbst auf der untersten stufe des Unterrichts an ganz anders
geförderte schüler sich wenden, stimme ich zu, aber nicht für latei-
nische bücher. — Das lesebuch für quinta musz vor allem schon
einen stufenweisen fortgang in der schwere und länge der sätze be-
achten ; hier müssen die lateinischen sätze bereits die breitere masse
in der gesamtheit bilden, die Unregelmässigkeiten müssen viel mehr,
als es früher geschah, auf das unumgänglich nötigste und wichtigste
in der nominal- und verballehre beschränkt, auch im einzelfalle nicht
zu sehr gehäuft werden, einzelsätze können noch nicht ganz entbehrt
werden, erscheinen aber in immer geringerem umfange, so dasz zu-
letzt nur zusammenhängende stücke vorhanden sind, die, nament-
lich zur lectüre der letzteren nötigen, syntaktischen regeln stehen
am besten in einem möglichst knapp gehaltenen anhange, damit der
lehrer sie heranziehen kann , wo und wann er will. — Weitere ins
einzelne gehende bemerkungen darf ich mir wohl ersparen: sie ge-
hören mehr in eine didaktische Studie über den betrieb der latei-
nischen grammatik; daher werde ich auch von Übersetzungsbüchern
in quarta und den folgenden classen schweigen, für sexta und quinta
muste aber das lesebuch als Vorstufe der lectüre herangezogen
werden.
Quarta: für diese classe schlagen viele einsichtige schulmänner
ein aus zusammenhängenden erzählungen bestehendes lateinisches
lesebuch bzw. eine Chrestomathie vor. würde ein derartiges werk
vorbanden sein, das allen anforderungen genügte, so würde ich mich
mit diesem vorschlage gern befreunden; aber die versuche aus älterer
zeit (und diese waren nach meiner meinung die besseren, z. b. die
jetzt wohl schon ziemlich vergessene historia romana von dem treff-
lichen Nordhäuser director Schirlitz) wie die neueren datums können
nicht als ausreichend gut angesehen werden; wir werden also bis" auf
weiteres bei einem leichten römischen historiker verharren müssen,
in erster linie bei Cornelius Nepos, obschon die grammatischen und
sachlichen bedenken bei ihm wahrlich nicht gering sind, das bre-
viarium des Eutrop, früher in quinta gelesen, dürfte sich nur aus
dem gründe nicht empfehlen, weil es zu leicht ist, denn sonst erfüllt
es, was lesbarkeit des textes anlangt, infolge der trefflichen arbeiten,
die ihm von tüchtigen forschem gewidmet sind, alle billigen anfor-
derungen, und eine Schulausgabe nach unseren ideen würde sich
leicht herstellen lassen, den Phaedrus schon in quarta zu lesen,
ist man in neuerer zeit immer mehr abgekommen, ich glaube, mit
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532 Zur gestaltung der lateinischen lectüre im gymnasium.
unrecht; ebenso urteilt Maurer programm des gymnasiums zu Gieszen
1891. denn für nichts ist das kindliche geinüt empfänglicher als für
die stoffe der fabeln, sprachliche Schwierigkeiten (von der metrik
aber sieht man wohl bis auf die kenntnis der thatsächlichen gestal-
tung des verses gänzlich ab) kann eine entsprechende ausgäbe leicht
aus dem wege schaffen, wie die Sachen bei uns liegen, sind die fabeln
des Phaedrus die einzigen nichtdeutschen fabeln, welche die schüler
zu lesen bekommen, ob französische fabeln gelesen werden — natür-
lich von einzelnen, in die Chrestomathien eingestreuten abgesehen —
ist von mir weder beobachtet noch mir je bekannt geworden, ebenso
wenig, was ja viel besser wäre, griechische, wohl aber habe ich in
prima häufig deutsche fabeln ins griechische übersetzen lassen, auch
die fabeln des Phaedrus als grundlage für lateinische Sprechübungen
gebraucht, es wäre auch concentrierend eine gute Vorbereitung für
die behandlung der fabel in der deutschen litteraturgeschichte in
prima, wenn bei der Lessingschen fabel an eine frühere lectüre
angeknüpft werden kann; bei rechtzeitigem und geeignetem hinweis
wird sich jeder schüler sicher seinen Phaedrus aufbewahren und in
späteren zeiten, wenn ihm die spräche keine Schwierigkeit mehr
macht, sicherlich oft und gern hineinschauen.
Tertia: hier wird der Caesar wohl seinen platz behaupten,
gilt auch von ihm, dasz man, wie Horaz das Schicksal seiner episteln,
so das beklagt, welches diese eigenartigen und sicherlich nicht für
knaben geschriebenen tagebücher betroffen hat, nemlich das pueros
elementa docere, so hiesze es doch wasser ins meer gieszen, wollte
man die gründe aufzählen oder es gar verteidigen , warum wir diese
lectüre für unsere tertianer für passend erachten, in obertertia
komme zum bellum Gallicum das bellum civile hinzu; der vielfach
verdorbene text musz sich eben den anforderungen fügen, welche
für eine Schulausgabe maszgebend sind, empfehlenswert ist für
obertertia auch Curtius. der kundige lehrer wird, wie späterhin in
prima beim Tacitus, leicht auf die abweichungen vom classischen
sprachgebrauche hindeuten, so dasz hieraus kein schaden für die
schüler erwächst; anderseits machen die treffenden Schilderungen
der erlebnisse des groszen Macedoniers, welcher die weiten länder
des Ostens der griechischen bildung erschlosz und unterwarf und
diese bildung zu einer culturmacht erhob, welche Jahrtausende masz-
gebend blieb und es nie aufgehört hat zu sein, ferner die packende
Schilderung der wunder des Orients, und vieles andere den Curtius zu
einer recht erfreulichen lectüre für den Obertertianer, ebenso wenig
darf die farbenprächtige märchen- und wunderweit in Ovids meta-
morphosen fehlen; hier ist ja überall schon eine entsprechende Sich-
tung des Stoffes getroffen; ergänzt werden die metamorphosen im
letzten Vierteljahr durch eine auswahl aus den tristien, welche die
hauptzüge des Ovidianiscben lebens und sein denken und fühlen den
schülern nahe bringen soll, namentlich aus der unglücklichen ver-
bannungszeit von Tomi, dessen schaurige öde und abgelegenheit
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Zur gestaltung der lateinischen lectüre im gymnasium. 533
ergreifend von dem dichter, wenn auch oft mit unmännlicher Weich-
lichkeit, geschildert wird.
Secunda: in dieser classe ist die aus wähl schon reicher, für
untersecunda würde ich leichtere reden von Cicero (pro rege Deio-
taro, pro Ligario, die Catilinarischen reden) und leichtere stücke
von Livius festsetzen, und zwar so geordnet, dasz die aus tertia kom-
menden schüler erst in den Cicero eingeführt werden, dann sich fest
in den Livius während 4 — 5 monate einlesen, um im letzten tertiale
des Schuljahres zum Cicero zurückzukehren, hei dem sie dann bleiben,
poetische lectüre musz in untersecunda Vergils Aeneis bleiben, in
obersecunda, einer classe, in welcher der schüler nicht mehr für die
erlernung grammatischen Wissensstoffes in anspruch genommen wer-
den darf, wo ferner alle diejenigen schülerelemente glücklicher-
weise in naher zukunft durch das sogenannte freiwilligenexamen,
wie es geplant ist, abgestoszen sein werden, welche im gymnasium
leider nur die stätte sehen, an welcher man die berechtigung zu
den schnüren oder zum eintritt in den subalternen Staatsdienst er-
wirbt, — in dieser classe müssen die schüler mit leichtigkeit die
mittelschweren reden Ciceros bewältigen können (pro Archia poeta,
pro Roscio Amerino, de imperio Cn.Pompei, divinatio in Caecilium);
auch ist dort neben Livius Sallust als classenlectüre passend, nicht
minder die zwei leichten und ansprechenden philosophischen abhand-
lungen Ciceros ftiber das alter' und 'über die freundschaft*. bezüg-
lich der poesie möchte ich glauben, dasz der Aeneide Vergils nur
noch das kürzere sommersemester zu widmen ist, von Michaelis ab
aber eine Chrestomathie aus der römischen elegie einzutreten hat, in
welcher ein kurzer anhang aus der Anthologie' nicht fehlen möge.
Prima: immer voller und mächtiger flieszt nunmehr der ström,
immer mehr kann er auf seinem breiten rücken tragen, in der ersten
classe des gymnasiums dürfen wir uns glücklicherweise in zukunft
nur solche schüler denken, welche der Universität zureifen ; auf andere
elemente, wenn sie sich wirklich noch finden werden, ist keine rück-
siebt zu nehmen, auch ist genügend räum für die lectüre da. denn
ist in obersecunda die grammatische Unterweisung bereits aufgegeben ,
so hat diese classe doch noch repetitionen zu veranstalten und den
schülern an der band der Schriftsteller die hauptlehren der Stilistik
(die in prima nur feiner ausgebaut werden) und Synonymik mitzu-
teilen; in prima endlich wird die lectüre voll und ganz das, was ihr
im gymnasium der zukunft zugewiesen werden musz, die schüler
culturhistorisch in das antike leben in allen seinen beziebungen
und äuszerungen einzuführen, mit den Römern von der zeit an zu
leben, wo ihre mauern entstanden, das volk durch alle Wandlungen
seiner Schicksale, vom kleinen städtischen gemein wesen bis zur
weltgebieterin, zu begleiten, all sein glück und all sein leid kennen
zu lernen, bis zur Antoninenzeit. — In der prosa ist eine reiche
fülle für die auswahl vorhanden; ich stelle alles lesenswerte zusam-
men, die auswahl selbst ist dann nach zeit und ort zu treffen:
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534 Zur gestaltung der lateinischen lectüre im gymnasium.
reden: Ciceros schwerere reden (pro Milone; act. IlinVerrem
lib. IV und V; pro Murena; pro Sulla; pro Sestio; pro Plancio; die
Philippiacben reden);
rhetorische werke: dogmatisch: Cicero de oratore und
orator; Quintilian inst. orat. lib. X; historisch: Cicero Brutus, Ta-
citus(?) dialogus de oratoribus;
philosophische werke: Cicero de officiis, disput. Tuscul.
(de natura deorum erwähne ich nur zaghaft), Senecas briefe (vgl.
unten) ;
brieflitteratur, welche ich gerade vom culturhistorischen
Standpunkte aus, besonders mit hinblick auf das privatleben, für
sehr wichtig halte : Cicero, Seneca (vgl. oben), Plinius der jüngere;
historische litteratur: Tacitus, und zwar musz jeder
deutsche gymnasiast entweder die unser Vaterland betreffenden stel-
len aus den 'annalen* oder die 'Germania' selbst lesen , aber nicht
blosz den allgemeinen teil bis zum 27n capitel ; ebenso hängen inner-
lich zusammen, so dasz sie für die schule auch ein 'entweder — oder*
bilden, die 'historien' und die lebensbeschreibung des Agricola:
durch sie wird der schüler in die blutigen wirrsale am ende des
ersten nachchristlichen jahrhunderts eingeführt und lernt in letzte-
rem auch die eroberung und Verwaltung einer römischen provinz
kennen, bis er durch Plinius (vgl. oben) zu der glücklichen zeit
Trajans geleitet wird.
In der poesie bleibe Horaz mittel punkt als die beste Verkör-
perung römischen wesens auf dem höbepunkte des culturellen leben«
der Römer, namentlich mit berücksichtigung dessen, was -die Römer
den Griechen verdanken ; anderseits lernt der schüler durch ihn auch
den Übergang zum principat und dessen berechtigung und m it wendig-
keit im spiegelbilde einer groszen seele begreifen, welche nur schwer
von den idealen einer schwärmerischen Jugendzeit sich losrisz, sach-
lich aber aus reinster Vaterlandsliebe zuzustimmen sich entschlosz,
wenn der dichter auch sich persönlich von dem neuen herrn der weit
fern hielt. — Fortschreiten ist oft nur ein sich-erinnern ! sollte es,
so frage ich, unseren primanern, wenn sie von allem 'wissensqualm*
der grammatik befreit sind, weil sie dieselbe, die wesentlich ver-
einfacht ist, in dieser beschrankung gründlich beherschen gelernt
haben, nicht wieder möglich werden, wie dieses früher geschah, eine
komödie des Terenz zu lesen, namentlich da jetzt die hilfsmittel der
erklärung ganz andere sind als ehedem? ferner, wird man ihnen die
für die kenntnis des socialen lebens der kaiserzeit so Uberaus wich-
tigen späteren Satiriker, Persius und Juvenal, vorenthalten dürfen,
freilich ja nur in einer kurzen und geeigneten au- wähl ?* discutabel
ist es, aber ich würde mich aus gründen der Wertschätzung der poesie
im allgemeinen schwer dazu entschlieszen können, ob man nicht auch
eine tragödie Senecas liest, will man als forderung der allgemeinen
1 vpl. auch Vogel in diesen Jahrbüchern 1891 8. 209 ff.
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Zur gestaltung der lateinischen lectüre im gymnaeium. 535
bildung aufstellen, die entwicklung der tragödie von Aeschylus
bis Goethe zu kennen, so dürfte freilich dieses eine, wenn auch
noch so minderwertige mittelglied nicht fehlen (Racine lernen ja
unsere schuler im französischen, Shakespeare im deutschen unter-
richte kennen), aber diese forderung zu erfüllen, ist doch nicht sacbe
des lateinischen Unterrichts, der besseres kennen lehren musz; höch-
stens kann die nötige anleitung vom lateinlehrer gegeben werden,
die lectüre selbst müste sache des privatfleiszes bleiben.
Das wäre die reiche fülle des möglichen Vorrates an lateinischer
schullectüre! die aus wähl zu treffen, musz freie entschlieszung der
einzelnen anstalt und der einzelnen lehrer bleiben: die nötige frei-
heit, welche ja dem Unterrichtsbetrieb an den höheren leh ran stalten
im allgemeinen in aussieht gestellt ist (vgl. in den 'Verhandlungen
über fragen das höhere Schulwesen betreffend' unter andern besonders
die einstimmige annähme der dabin abzielenden resolution der herren
fürstbischof dr. Kopp, geheimrat dr. Schräder und abt dr. Uhlhorn
s.655), wird auch hier gewährt werden müssen und sicherlich reiche
flüchte tragen.
Es läge uns jetzt nun ob, über die betreibung der nach ihrem
umfang festgestellten möglichen lectüre, speciell eingehender Uber
das Verhältnis der statarischen , cursorischen und privatlectüre auf
den einzelnen stufen und nach den einzelnen stoifen zu handeln,
aber bei dieser methodischen auseinandersetzung müste uns die durch
die neuorganisation des gyinnasiums im einzelnen dem lateinischen
zugemessene zeit bekannt sein, um daher nicht ins blaue hinein zu
reden, sehen wir von dieser erörterung zur zeit ab, obschon die hier-
her gehörenden auseinandersetzungen eine notwendige ergänzung
der obigen bemerkungen bilden; darüber hoffentlich später einmal.
Nicht abweisen können wir aber, jetzt schon in eine nähere er-
örterung darüber einzutreten, wie wir uns bei dem quantitativ und
qualitativ einschneidend veränderten betriebe der lateinischen lectüre
die ausgaben denken, welche in die hände der schüler zu geben
sind: mit der richtigen lösung dieser aufgäbe steht und fällt die
möglichkeit der ausfuhrung einer solchen lectüre. nackte texte den
Schülern in die hände zu geben (selbst wenn sie mit den später zu
erwähnenden kanones ausgestattet sind), scheint nicht mehr an-
gängig zu sein, wie man wohl überall anerkennen wird; denn wir
müssen hinfort viel lesen, darum, wo es möglich ist, zeit ersparen,
für die schüler auch arbeit, und deshalb alles überflüssige vermeiden,
aber stets alles nötige zur hand haben." eine solche Schulausgabe
herzustellen, wie wir sie uns denken, wird wahrlich keine leichte
aufgäbe sein: wissenschaftliche tüchtigkeit, pädagogische einsieht,
takt und praktisches gesebick musz ein solcher herausgeber in hohem
3 wir berühren uns im folgenden mehrfach mit forderungen, die
auch andere, z. b. H. Ziemer (Rethwisch jahresber. für «las höhere Schul-
wesen 1 164; IIB 76 f. und 97; III 13 100 f.), stellen, jedoch nicht ohne
mehr- oder minHerforderungen.
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536 Zur geBtaltung der lateinischen lecture im gymnasium.
grade vereinigt besitzen, mit einem gewissen mute der entsagung
wird er an seine aufgäbe berangehen müssen, denn wissenschaftliche
lorbeeren zu erwerben, wird hierbei nicht möglich sein, und das,
was er nicht schreibt, wird ihm die meiste mühe bereiten, weil
übermasz hier mehr schadet als wegbleiben einzelner notwendiger
bemerkungen , die leicht vom lehrer ergänzt werden können , kurz,
hier gilt besonders das Perikleische wort, das uns Thukydides auf-
bewahrt hat: äuaOict u£v Öpdcoc, Xoficuöc bfc Ökvov cpe'pei.
Was verlangen wir also für die schüler von diesen künftigen aus-
gaben lateinischer autoren? nur, dasz sie wahre Schulausgaben
sind! zu dem zwecke müssen «sie, meine ich, folgendermaszen -ein-
gerichtet sein, jede ausgäbe beginne mit einer e i n 1 e i t u n g , welche
das notwendigste über den betreffenden schriftsteiler im allgemeinen
mitteilt, im besondern aber das beireffende werk hinsichtlich seiner
Stellung in der lateinischen litteralur und eventuell innerhalb der
werke seines Schöpfers darlegt, an diese einleitung müssen sich stets
knappe und tibersichtliche inhaltsübersichten anschlieszen , damit
man mit der lectüre bei jedem wichtigen abschnitte beginnen kann,
der schüler aber im stände ist, sich sofort selbst inhaltlich zurecbt
zu finden ; das gesprochene wort des lehrers verhallt hier nur zu
leicht (da ja der schüler nicht ausreichend orientiert ist), ohne das
nötige wissen überall erzielt zu haben, und vor nachschreiben in der
classe müssen wir doch unsere schüler möglichst bewahren, ferner
sind sogenannte kanones nötig, diese neuerung halte ich für sehr
wichtig, wir werden, wie ich schon oben sagte, fernerhin viel und
vielerlei lesen müssen, viel mehr als bis jetzt geschehen ist; das
fordert natürlich eine auswahl : tiberall soll das beste herausgehoben
werden, das herausgenommene aber läszt sich oft nach den verschie-
densten gesichtspunkten gruppieren; es braucht auch nicht immer
alles, auch nicht bei der wiedervornahme desselben Werkes das gleiche
gelesen zu werden, volle texte zu geben, ist nötig, da der lehrer,
unterstützt durch die qj)en erwähnten inhaltsangaben vor dem texte,
bei getroffener auswahl das dazwischenliegende mehr oder minder
eingehend ergänzen kann, sich auch nicht an die von dem eiuzelnen
herausgeber doch immer nach subjectivem ermessen getroffene aus-
wahl in den kanones gebunden zu fühlen braucht: er möge hinzu-
thun oder weglassen, was er will, nach eignem geschmack und nach
seinem geftihle, nach seiner didaktischen einsieht oder nach seiner
besondern kenntnis des betreffenden Schriftstellers oder des einzelnen
Werkes desselben, denn auch hier sei das losungswort der zukunft:
unbedingte freiheit de* lehrenden, gebunden nur durch sein päda-
gogisches gewissen.
Betrachten wir unter diesem gesichtspunkt einmal die werke
des jüngern Plinius. es ist mir immer unbegreiflich gewesen, warum
das gymnasium diese wertvollen denkmfiler, besonders hinsichtlich
des privatlebens der Römer am ende des ersten und am anfange des
zweiten christlichen jabrhunderts, seinen schtilern vorenthalten hat.
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Zur gestultung der lateinischen Iectüre im gvmnasium. 537
etwa wegen des panegyricus? derselbe ist ja für die schule durch-
aus unbrauchbar, obschon eine unbefangene historische kritik dem
einzelnen nicht wird besonders anrechnen dürfen, was ein gebrechen
der ganzen zeit war: mehr oder minder charakterlose Schmeichelei, —
aber für die schule ist ein solches werk, wie gesagt, unbrauch-
bar, die briefe des Plinius jedoch, dieses hochgebildeten und fein-
sinnigen mannes, dieses warmherzigen freundes seiner freunde (zu
denen ja auch ein Tacitus zählt), dieses edlen bürgers und guten
unterthanen, der in seinem reichen geiste das gesamte culturleben
der damaligen zeit umspannt, staat und Staatsverwaltung, rechts-
leben in der hauptstadt und in der provinz, privatleben in gesell-
schaft, familie und haus, die litterarischen und sonstigen kunst-
bestrebungen seiner zeit — welche dankbaren stoffe bietet er nicht
für eine eingehende Iectüre! an der nicht vollkommenen classicität
seiner spräche wird doch nur der ganz crasso Ciceronianer anstosz
nehmen} thut man es doch auch bei Tacitus und Quintilian nicht,
und zwar würde eine Schulausgabe nach unsern begriffen hier ebenso
erfolgrefch mit kurzen inbaltsangaben gruppieren, wie es z. b. schon
längst bei Horaz geschehen ist, wo wir zu scheiden gewohnt sind
und unsere auswahl etwa nach folgenden gesichtspunkten treffen:
persönliche erlebnisse und Stellung des dichters, sein dichterberuf,
des dichters Verhältnis zur natur und zur gottheit, seine philosophi-
schen ansichten, seine politische Stellung, wie sie sich zeigt in seinem
Verhältnis zu Augustus und in seinem urteile über politische ereig-
nisse und sociale zustände, sein Verhältnis zu Maecenas und seinen
sonstigen freunden, seine anscbauungen über kunst und litteratur,
sowie über litterarische erscheinungen und Strömungen der früheren
wie seiner zeit, seine ansichten über freundschaft, liebe und frohen
lebensgenusz, besonders bei Sokratischem becber.
Was den text angeht, so ist lesbarkeit desselben die erste Vor-
schrift, das vorgehen darf jedoch bei der ccnstituierung desselben
durchaus nicht unwissenschaftlich sein, denn bei jedem Schriftsteller
musz der auf guter kritischer grundlage aufgebaute und anerkannt
beste text zu gründe gelegt werden; kritisch unsichere und noch nicht
geheilte stellen aber müssen für den schüler lesbar gemacht werden;
aber die im interesse der schüler getroffenen abänderungen sind stets
in einem anbange zu verzeichnen und zusammenzustellen, auch die
gründe der abänderung dabei kurz anzugeben, endlich die gewählte
änderung zu verteidigen, text und anhang geben so für das nach-
prüfende auge der Wissenschaft stets einen kritisch controllierbaren
text, der als genügend bezeichnet werden musz, wenn er das Ver-
ständnis der stelle ermöglicht. — Dabei musz der text recht über-
sichtlich gedruckt werden , besonders mit reicher interpunction und
in absätzen; ferner bringe man, so oft es thunlich ist, am rande
kurze inhaltsangaben an, damit der schüler sich selbst leicht zurecht-
finden kann, die forderung, einen vollständigen text zu liefern, ist
schon oben aufgestellt worden; hier fügen wir nur noch die ein-
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538 Zur geataltung der lateinischen lectüre im gymnasium.
schränkung hinzu, dasz nur unbestritten sittlich anstösziges fort-
fallt, z. b. die zweite satire des ersten buches bei Horaz.
Die erklärung, welche selbstredend in deutscher spräche ab-
gefaszt sein musz , möge doppelter natur sein, zunächst sei sie an-
leitung zum guten deutschen ausdruck, sowohl im allgemeinen als
auch besonders bei wiedergäbe besonderer eigen tümlichkeiten im
lateinischen ausdruck, nach dem als grundsatz für jede Ubersetzung
geltenden gesetze: cso wörtlich als möglich, so frei als
nötig.' die zweite und hauptsächlichere aufgäbe der erklärung
aber sei sachlicher art durch bemerkungen historischen und anti-
quarischen, philosophischen oder juristischen inhalts oder was gerade
sachlich nötig ist, jedoch stets mit peinlichster beschränkung auf
das für das Verständnis des vorliegenden unbedingt nötige, die
grammatische erklärung ist sache des lehrenden und gehört in die
schule, und auch hier walte die gröste Sparsamkeit, damit der alte,
aber, gott sei dank, meist veraltete Vorwurf gegen unsere altsprach-
liche gymnasiallectüre endlich einmal verstumme, dasz die Schrift-
steller nur der grammatik wegen gelesen werden, nur als bei-
spielsammlung für die grammatischen regeln dienen, sollte eine
grammatische bemerkung nötig sein, namentlich mit berticksicbti-
gung des umstanden, dasz die ausgaben auch für die privatlectüre
brauchbar sein müssen, so darf eine solche höchstens auf eine auf-
fallige oder abweichende Spracherscheinung aufmerksam machen
oder hinweisen oder als eine kurze belebrung (namentlich für die
mittleren classen) dienen, um eine schwerere construcüon zu zer-
legen.
Am Schlüsse finde sich dann der anhang, dessen ersterteil
der gesamtwürdigung, der pädagogischen fructificierung des ganzen,
dient, teils durch aufstellung von themen für deutsche aufsätze, wo
es angängig ist, oder durch eine zusammenhängende besprechung
des inhalts des ganzen wie einzelner hauptteile , teils durch Zu-
sammenstellung antiquarischer einzelheiten , die bei der erklärung
zu breiten räum gefordert hätten oder besser übersichtlich zusammen-
gestellt werden, während der zweite teil jener oben besprochene, den
lesarten gewidmete kritische abschnitt ist.
Wo es aus irgend welchen gründen, von denen die rücksichten auf
sittlich anstöszige stellen und anderseits die ökonomischen Verhält-
nisse der schüler die wichtigsten sind, notwendig erscheint, begnüge
man sich, unter Währung aller obigen forderungen, mit auszügen,
die sachlich eine einheit bilden, etwa nach art des trefflichen aus-
zuges, den Valentin Hintner aus dem Herodot unter dem titel
'Perserkriege' veröffentlicht hat. schlieszlich würde ich einer Ver-
bindung von auswahl und Zusammenstellung das wort reden, nicht
blosz auf dem gebiete der poesie, für die ich schon solche Samm-
lungen kurz berührt habe, sondern auch der prosa, wo ich z. b. schon
lange ein corpus epistularum latinarum in usuin scholaruua col-
lectum schmerzlich vermisse.
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Zur gestaltung der lateinischen lecture im gymnasinm. 539
Man hat nun schon seit längerer zeit und auf verschiedenste
weise durch gestaltung der ausgaben die zwecke der schule zu för-
dern gesucht, und es sind vielfach auch schon in nutzbringender
weise die richtigen wege eingeschlagen worden — und es fuhren
vielleicht manche zum ziel — , ich erinnere nur an die achtungs-
werten leistungen der bibliotbeca Gothana, an die bemüh ungen
Freytags u. a. ; aber man ist auch hier schon auf abwege geraten,
namentlich hat man teilweise die Schulausgaben bereits mit bild-
werken, karten u. a. zuthaten zu freigebig ausgestattet, aber ihren
preis natürlich dadurch so verteuert, dasz sie nur für die söhne
der aristokratie und der plutokratie erschwinglich sind, hingegen
möchten wir dringend anraten, die erklärung der lateinischen Schrift-
steller auf immer breitere grundlagen nicht blosz des verbesserten
antiquarischen wissens der lebrer, sondern auch reicherer an-
tchauungsmittel zu stellen, welche jede schule in tadelloser güte
und ausreichender menge besitzen sollte, warum kann nicht für
jedes gymna8ium, wie es sein physikalisches cabinet, seine natur-
historischen Sammlungen u. a. besitzt, so auch ein kleines museura
von anscbauung8mitteln kunstgewerblichen und rein künstlerischen
Charakters, soweit sie für den Unterricht im weitesten sinne nötig
sind, allmählich hergestellt werden? hier ist in zukunft noch viel
zu thun und iäszt sich viel thun, wenn nur ausreichende geldmittel
flüssig gemacht werden.
Ein wort sei hier auch noch gegen die viel zu weit ausgedehnte
litteratur der speciallexika gesprochen, diese haben als wissenschaft-
liche werke ihre hohe bedeutung , wenn sie so sind , wie sie vater
Bitsehl einst in seinen Vorlesungen so dringend anriet zu schaffen:
für die schule sind sie (die classen bis tertia nehme ich aus)
nach meiner meinung nur ein übel, da sie den Schülern die denk-
arbeit in schädlicher weise erleichtern, dasselbe urteil gilt von den
jetzt, wie es scheint, mode werdenden 'präparationen' ; für einzelne
werke oder nur einzelne bücher derselben , namentlich für solche,
welche beim anfangsunterricht gelesen werden, lasse ich sie allen-
falls noch gelten , aber was sie bieten , kann und musz der lehrer in
der classe leisten.
Damit nun die bisherigen erörterungen nicht eitel graue theorie
zu sein scheinen , will ich für ein werk Ciceros die gestellten anfor-
derungen durch kurze, fast schematische andeutungen durchführen;
ich wähle dazu die sogenannten Philippischen reden, mit dem
nebenzwecke noch, da bisher blosz die von Halm u. a. edierte erste
und zweite rede (selten noch die vierzehnte, vereinzelt die dritte
oder vierte) in der schule gelesen werden , für alle in derselben das
bürgerrecht zu erkämpfen.
Die Philippischen reden Ciceros werden unseres erachtens am
besten in drei heften ediert, von denen das erste die allgemeine ein-
leitung (zu jeder rede würde ja nach unsern obigen forderungen
noch eine kurze besondere einleitung nötig sein) nebst rede I und II
540 Zur geataltung der lateinischen lectüre im gymnasium.
enthält (61 capitel), das zweite heft rede III — IX (74 capitel), das
dritte rede X— XIV (73 capitel); jede rede musz ihren besondern
anbang bekommen.
In der allgemeinen einleitung musz, nach einem kurzen capitel
über Ciceros leben , die historische Situation in groszen zügen dar-
gelegt werden, man beginnt mit den blutigen Iden des raärz im
j. 44 vor Ch., schildert das zerfahrene handeln der verschworenen,
das emporkommen des Antonius, die entfernung Ciceros von Rom,
Antonius' thaten, seine reise in Italien, ankunft Octavians in Rom,
Ciceros rückkehr, beginn des kampfes, die entfernung der ver-
schworenen und des Antonius aus Rom, die belagerung von Mutina,
die provinzen und die machthaber daselbst, kämpf vor Mutina, die
ferneren ereignisse bis zum zweiten triumvirat und zum tode Ciceros,
immer mit sorgsamer beschränkung auf das, was für die erklärung der
reden nötig ist. als beigäbe möge sich eine genaue Stammtafel des
Julischen hauses , ebenso eine solche von dem des Antonius, consul-
tibersichten vom jähre 45 — 42, Zusammenstellung der aufenthalts-
orte Ciceros vom 5 april 44 bis zum 21 april 43 (nach den briefen)
anscblieszen. themata (vgl. oben) sind z. b. : Caesars ermordung,
eine unthat oder eine groszthat? oder: warum gehörte Cicero nicht
zu der zahl der verschworenen? oder: ist der name Thilippische
reden' richtig gewählt worden? u. ä.
Rede I und II bilden eine gesonderte einheit. die erste rede
(am 2 September 44 gehalten) ist gleichsam der prolog der ganzen
reihe, die zweite rede eine politische schütz- und anklageschrift; sie
ist nicht gehalten , gibt aber eine umfassende darlegung der Sach-
lage, auch ist sie eine offene absage an Antonius: Cicero nimmt den
ihm von Antonius hingeworfenen Fehdehandschuh auf und geht gegen
seinen feind aggressiv vor, den er nicht blosz politisch, sondern auch
moralisch zu vernichten strebt, indem er die ganze persönlichkeit des-
selben nach der intellectuellen wie ethischen seite hin schildert, von
da an ist eine Versöhnung zwischen Cicero und Antonius nicht mehr
möglich , und sie haben sich ehrliche feindschaft gehalten , bis der
schwächere, aber ehrlichere und anständigere, Cicero, untergieng.
Heft II enthält die specielle rednerische action Ciceros gegen
Antonius, aber noch in kleinerem persönlichen maszstabe. in der
dritten rede, eine motivierte abstimmung im Senate, handelt es sich
darum, dasz die consuln des jahres 43, Hirtius und Pansa, ihr amt
zur gesetzlichen zeit sicher antreten können; deshalb musz Antonius
unschädlich gemacht, d. h. für einen staatsfeind erklärt werden,
dieses erreicht Cicero in der dritten rede im senat, und durch die
vierte rede wei9z er dieses vorgehen des Senats auch dem volke
annehmbar zu machen; beide reden sind am 20 deceraber 44 ge-
halten, die fünfte rede, vom 1 januar 43, ist ebenfalls eine moti-
vierte abstimmung im Senate; sie schlieszt mit einem antrage, die
neuen consuln haben über die läge des Staates Vortrag gehalten, der
senat soll sich nun erklären, was zu thun sei; der zuerst befragte
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Zur gestaltuug der lateinischen lectiire im gymnasium. 541
Q. Fufius Calenus beantragt, eine gesandtschaft an Antonius zu
schicken; dagegen wendet sich Cicero, welcher sofortigen krieg
gegen den übermütigen friedensstörer und unbotmäszigen beamten
will; Ciceros meinung wird zuerst im senate günstig aufgenommen,
nach dreitägigen Verhandlungen im Senate (während derselben hält
Cicero noch eine rede im Senate , welche nicht mehr vorhanden ist,
Appian de bell. civ. III cap. 52 f. gibt davon den inhalt, wie sich auch
bei Cassius Dio XLV cap. 18 — 47 noch eine rede Ciceros mit der
antwort des Calenus bei Dio XLVI cap* 1 — 28 findet; auf eine
weitere rede Ciceros endlich wird bei Dio XLVI cap. 29 hingedeutet)
wird jedoch die Gesandtschaft beschlossen. Cicero gibt in der sechsten
rede am 4 januar 43 dem volke sehr erregt hiervon künde, doch
sieht er in dem beschlusse immerhin eine demonstration gegen An-
tonius, welcher die kriegserklärung folgen müsse, die siebente und
achte rede sind ebenfalls motivierte abstimmungen im senate, die
letztere schlieszt wiederum mit einem antrage, anläszlich längerer
Verhandlungen im senate spricht sich Cicero (ende januar 43) noch-
mals dafür aus, den krieg an Antonius zu erklären und rasch und
energisch gegen ihn vorzugehen, die früher beschlossene gesandt-
schaft (auf welcher Sulpicius stirbt) kehrte unverrichteter sache
von Antonius zurück; trotzdem beschlieszt man (anfang februar 43)
keinen krieg gegen ihn, sondern nur tumultus. als am folgenden
tage über eine depesche des Hirtius und einen restitutionsantrag
Massilias verhandelt wird, spricht sich Cicero bei der abstimmung
im senate wiederum für energische maszregeln gegen Antonius aus,
unter heftigem tadel und mit ausfallen gegen seinen Widersacher
und mit hinweis auf einzelne maszregeln. die neunte rede ist im
senate improvisiert (wohl noch ende februar gehalten) und schlieszt
mit dem antrage, dem Sulpicius eine ehrensäule und ein grabmal zu
errichten. — Der einigende gedanke also aller dieser reden ist, dasz
Antonius zum staatsfeind erklärt werden soll; alle hinhaltenden
maszregeln haben nichts geholfen, wie die gesandtschaft bewiesen
hat, die nutzlos verlaufen ist; die ehren für Sulpicius sollen der dem
Antonius feindlichen gesinnung an maszgebender stelle in Rom aus-
druck verleihen.
Heft III behandelt das vorgehen Ciceros gegen Antonius im
groszen , staatsmännisch-politischen stile. die zehnte rede (vom an-
fang märz 43), ebenso wie die elfte und zwölfte rede motivierte ab-
stimmungen im senate, ist gegen Calenus eine befürwortung der
gonehmigung der maszregeln des Brutus, wie dieselbe von Pansa
beantragt worden ist. der senat stimmt zu. die elfte rede (am ende
der ersten hälfte des märz 43 gehalten) empfiehlt, dasz gegen den
wegen seiner grausamkeit und wegen der ermordung des Trebonius
znm staatsfeinde erklärten Dolabella nicht der nicht im amte stehende
Servilius, auch nicht die sehr beschäftigten consuln, sondern Cassius,
dessen maszregeln nachträglich vom senate genehmigt werden sollen,
den krieg in Syrien führe. Ciceros bestreben ist klar: er will durch
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542 Zur gestaltung der lateinischen lectüre im gymnasium.
diese beiden im märz 43 gehaltenen reden Brutus und Cassius, die
tyrannenmörder, wieder in den Vordergrund schieben, denn sie sollen
die legitimen heerführer des Senats werden, und durch sie soll An-
tonius, wenn sie siegreich, wie einst Caesar, aus dem Orient heim-
kehren, mit Waffengewalt niedergeschlagen werden, allerdings drang
Cicero mit seinem vorschlage im Senate nicht durch, besonders weil
der consul Pansa dagegen war, wohl aber stand, wie Cicero in einem
briefe an Cassius (ad fam. XII 7) mitteilt, das volk auf seiner seite
(ea sententia dicta productus sum in concionem a tribuno pl. M. Ser-
vilio; dixi de te, quae potui, tanta contentione, quantum forum est,
tanto clamore consensuque populi, ut nihil unquam simile viderim).
waren die letzten maszregeln nur mittelbar gegen Antonius gerichtet,
so tritt Cicero mit der zwölften rede (nach unserer meinungam abend
des 19 märz 43 gehalten) wieder in den unmittelbaren kämpf gegen
Antonius ein, indem er dem senate den am (morgen des) 19 märz 43
gefaszten beschlusz, eine zweite gesandtschaft an Antonius zu senden
(zu deren mitglied auch Cicero gewählt ist), wieder aufzugeben rät,
wenigstens seinerseits die teilnähme ablehnt wegen der gefahren,
denen er sich selbst aussetze, ohne dem Staate zu helfen, welchem
er durch seine Wirksamkeit in der stadt viel nützlicher sein könne,
nach längerer stille beginnt also der stürm wieder loszubrechen : es
gibt keine Versöhnung mit Antonius mehr, darum schlägt die (wohl
am 20 märz 43 gehaltene) dreizehnte rede wieder vollere accorde an.
aus innerster Überzeugung wendet sich Cicero gegen die meinung des
Lepidus (dessen hohe Verdienste er aber sonst anerkennt), dasz man
mit Antonius frieden schlieszen müsse; das sei bei dem Charakter
des Antonius unmöglich; letztern schildert er nun in der weise, dasz
er ein Schriftstück, welches Antonius an den consul Hirtius und an
Octavianus gerichtet hat, bruchstückweise vorliest und an jede stelle
seine bemerkungen anknüpft, doch so, dasz im ganzen ein Charakter-
bild des Antonius entsteht, wir nähern uns dem ende; alles drängt
auf die entscheidung los, — und sie fällt, fällt zu Ungunsten des
Antonius; aber da der treulose mann mit dem noch verschlageneren
Octavianus und dem schwachen Lepidus sich später verbindet, miuz
Cicero diesen letzten und grösten erfolg mit dem leben büszen. doch
sein letztes wort, das er öffentlich sprach — wenigstens soweit es
uns erhalten ist: reden aus späterer zeit, und ebenso briefe aus noch
spätem tagen sind wohl absichtlich vernichtet, wahrscheinlich durch
des spätem kaisers Augustus einflusz und bemühungen, für dessen
treulosigkeit sie ja ein Schandmal gewesen wären — , dieser sein
schwanengesang ist erhaben und erhebend, gesprochen am 21 april 43,
also am gründungstage Roms, eine merkwürdige ironie des Schick-
sals! nach den kämpfen bei forum Galloruin am 15 april 43, wo
Pansa zwar geschlagen und verwundet war, aber Antonius noch an
demselben tage von Hirtius geschlagen wurde, während Octavianus
das lager vor Mutina glücklich gegen L. Antonius verteidigte, kamen
erst falsche nachrichten nach Rom , auch wurden unwahre gerüchte
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Zur gestaltung der lateinischen lectüre im gymnasium. 543
verbreitet, z. b. Cicero wolle sich zum dictator aufwerfen, bis end-
lich die Wahrheit bekannt wurde, da erhob sich allgemeine begeiste-
rung, und dieser verleiht Cicero in seiner letzten der vierzehn
Philippischen reden ausdruck. er verlangt, dasz Antonius nun aus-
drücklich für einen staatsfeind erklärt werde (was auch geschah),
ferner belohnungen für die drei siegreichen feldherrn Pansa, Hirtius
und Octavianus, ansetzung eines ftinfzigtägigen dankfestes, beloh-
nungen für die siegenden krieger, errichtung eines ehrendenkmals
für die gefallenen und sorge für ihre hinterbliebenen , — also ein
wahrer Xötoc dmTäquoc, wie ihn einst Thukydides von Perikles auf-
bewahrt hat, mit verherlichung der Vaterlandsliebe, ein würdiger
schlusz für Cicero, dem man vielleicht staatsmännisches geschick
und scharfen politischen blick absprechen darf, bei dem aber jeder
edeldenkende warme liebe zum vaterlande und zur grösze und frei-
beit desselben als in hohem masze vorhanden annehmen musz, ge-
sinnungen, die um so höher zu preisen sind, je weniger dem edlen
manne die sonne des glückes gelächelt hat, je schwerer die gefahren
waren, denen er entgegengieng , je trauriger das ende war, das ihn
bald ereilen sollte: starb doch Cicero noch in demselben jähre, am
7 december 43, von der hand der meuchelmörder, welche Antonius
gegen ihn ausgesandt hatte.
Derartig sind die Schulausgaben, die mir als künftig notwendig
vorschweben, sie lassen, meine ich, dem denkenden lehrer noch viel
Spielraum für eigne arbeit an und in der classe, denn jeder wird,
je nach seiner eigenart, sicherlich noch vieles von dem seinigen hinzu-
thun, namentlich wird er sich bei der freiheit, die ihm geblieben ist,
angeregt fühlen müssen, bei gegebener gelegenheit die erklärung,
namentlich auf der obersten stufe des Unterrichts, mit eignem sitt-
lichen fühlen zu durchdringen und das gebotene mit dem adel einer
gereiften Weltanschauung zu durchgeistigen; nur darf von ihm nicht
das gelten, was ich mit Veränderung eines bekannten Wortes so aus-
sprechen möchte: 'weh dem lehrer, an dem nichts ist, als sein
wissen.' mit solchen ausgaben wird es sich auch ermöglichen lassen,
das früher als forderung hingestellte ziel aller lateinischer lectüre
zu erreichen: culturhistorische einfuhrung der schüler in das antike
leben nach seinen verschiedenen äuszerungen. viel höher als die
lateinische litteratur steht ja die der Griechen, und durch die
griechische lectüre erreicht ja das gymnasium noch viele andere
und höhere ziele, aber nach unserer auffassung fördert auch die
lateinische lectüre an ihrem teile unsere schüler geistig in befrie-
digendster weise, denn wird der schüler so auf der vorbereitungs-
stufe in klarer und lichter darstellung der das antike leben in bezug
auf religion und Sittlichkeit bestimmenden momente empfänglich
für die tugenden des öffentlichen wie des privaten lebens gemacht,
so wird er, wenn er später in stufenweisem fortgange immer ein-
gebender den Patriotismus und die bürgerlichen tugenden der groszen
männerRom8 kennen und schätzen, anderseits aber auch deren gegen-
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544 J. H. Schmalz u. C.Wugeoer: lateinische schulgrauimatik.
bilder verabscheuen lernt, wirkliches Verständnis für antikes denken,
fühlen, reden und handeln bekommen, und dadurch in ihm neben der
ausbildung des Verstandes festigung des willens auf sittlichem ge-
biete und erweckung der thatkraft in praktischer hinsieht durch die
richtige betreibung der lateinischen leetüre erzielt werden: er wird
mit durch sie, was der wahre und richtige endzweck aller erziehung
sein musz, zum sittlichen Charakter gebildet werden, d. h. zu einem
menschen , der das sittliche ideal in gedanken , Worten und werken
anstrebt.
Ratibor. E. Thiele.
51.
LATEINISCHE SCHULGRAMMATIK BEARBEITET VON J. H. SCHMALZ
und dr. C. Wagen er. Bielefeld und Leipzig, Velhagen und
Klasing. 1891. IV u. 233 a.
Viribus unitis — an sich schon ein tüchtiges wort, wird vom
besten klänge, wenn die vires solche ersten grades sind, die sich zu
gemeinsamem wirken zusammengefunden haben, dasz Carl Wagener
eine autorität auf dem gebiete der lateinischen formenlehre ist, wissen
alle faebgenossen. dasz er ferner die tausende von kleiuigkeiten nicht
nur wissenschaftlich systematisch durchgearbeitet hat, die wir unter
dem begriff der formenlehre zu begreifen pflegen, was bei dem ver-
besserer der Neueschen formenlehre der lateinischen spräche der Ver-
sicherung nicht bedarf, sondern dasz er auch als echter gymnasial-
lehrer stets die Verwertung seiner studien für den unterriebt im auge
hat, ist uns in der angenehmsten weise wieder klar geworden durch
die Veröffentlichung des zweckdienlichen vademecums Hir jeden latei-
nischen grammatiker: 'hauptschwierigkeiten der lateinischen formen-
lehre.' wenn also einer berufen war, die formenlehre einer schulgram-
matik zu verfassen, so war es gewislich Carl Wagen er in Bremen.
Seine arbeit zeichnet sich in den beiden hauptpunkten aus, die
man von der formenlehre für schulen verlangen darf und musz:
kürze und genauigkeit. die ganze formenlehre füllt nur 98 seiten,
während die neueste aufläge von Ellendt-Seyffert bei gedrängterem
satze noch 114 seiten umfaszt, wobei dieser die partikeln noch auf
1 seite abthut, während Wagener sie aufzählt und ordnet und darauf
mehr als 3 seiten verwendet, der räumliche unterschied zwischen
beiden grammatiken liegt nemlich in der darstellung des verbums,
beide fangen dieses capitel auf s. 46 an und schlieszen es, Ellendt-
Seyffert auf s. 102, Wagener auf s. 89 ; letzterer spart also 13 seiten.
woran liegt dies? hat W. etwa den räum dadurch beschränkt, dasz
er die Übersicht über den bau des verbums zu kurz gegeben, an
tabellen und ähnlichen wichtigen dingen geknickert hat? das trifft
erfreulicherweise nicht zu. Wagener ist mit der darbietung des regel-
mäszigen verbs einschließlich deponentia und semideponentia auf
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J. H. Schmalz u. C. Wagener: lateinische schulgraramatik. 545
s. 67 fertig, E11.-S. aufs. 73, wobei ich es noch als einen vorzug
W.s ansehe, dasz er die deponentia für sich behandelt hat. die haupt-
ersparnis an räum liegt in der aufzählung der wichtigsten verben
nach ihrer stammbildung, die bei W. 14, bei Ell.-S. aber 21 seiten
beanspruchen, freilich bei jenem in erster linie durch kleineren druck
veranlasst . es ist Uberhaupt ein übelstand bei W., dasz alle tabellen
zu klein gedruckt sind. W. überschreibt diesen abschnitt, den wir
näher betrachten wollen: 1 Verzeichnis der gebräuchlichsten verba nach
ihren Stammformen.' da ist Ell.-S.s Überschrift: 'Verzeichnis der
wichtigsten verba' usw. noch genauer, gemeint haben beide: Ver-
zeichnis der formell bemerkenswerten verba* usw. ein anonymer
gymnasialdirector, dem die grammatik vor der ausgäbe vorgelegen
hat, jubelt, dasz diese verba nun nicht mehr als unregelmäszige ge-
brandmarkt werden, der 'hervorragende* anonymus thut damit den
neueren grammatikern unrecht, und sein namenloser beroldsruf ist
eine des buches unwürdige reclame. wen will man damit locken,
dasz er glauben soll?! beachtenswert ist hier vor allem die an-
ordnung der masse. Ell.-S. wie W. ordnen die verba der
ersten conjugation nach der perfectbildung, weichen aber darin von
einander ab, dasz jene scheiden: 1) perf. mit reduplication, 2) mit
dehnung des stamm vocals, 3) auf vi und ui, dieser aber 1) perf. auf
vi, 2) auf ui, 3) mit reduplication, 4) mit dehnung. Wagener steigt
also vom häufigsten zum seltensten hinab, Ell.-S. folgen dem histo-
rischen verlauf der perfectbildung. praktischer ist also W., aber
lehrreicher und wissenschaftlicher unstreitig in diesem punkte Ell.-S.
in den andern conjugationen wiederholt sich dasselbe. W. ordnet
ferner: laudare, delere, audire, emere (tribuere, capere), was ja
an sieb zu billigen ist, aber leicht Verwirrung hervorrufen kann,
da die Übungsbücher nicht gleichen schritt halten dürften, auch
die durchnähme aller vier conjugationen nach den tempusstämmen,
ehe laudare fest sitzt, wird sich in der praxis kaum bewähren.
— Das prineip, nach welchem W. ausgewählt hat, ist mir nicht
ganz genehm, er berücksichtigt Wörter, die sonst selten oder gar
nicht bei schulschriftstellern vorkommen, wenn sie von Cicero ver-
wendet worden sind, sonst läszt er gern die Wörter und formen
weg, die nicht bei Caesar und Cicero zu finden sind, ich stehe auf
dem Standpunkte, dasz in erster linie diejenigen Schriften berück-
sichtigung finden, die in der regel den kanon bilden (Wichtigkeit der
kanonbildung!), einzelheiten aber auch dann nicht beachtet zu werden
brauchen, wenn hie nicht typisch oder grammatisch besonders lehr-
reich sind, dasz in zweiter reihe die schulschriftsteller im ganzen ge-
nommen zu behandeln sind, natürlich Caesar und Cicero voran, alles
andere hat für die schulgram raatik keinen wert, wenn ich nun z. b.
opinatus im passiven sinne zwar bei Cicero finde, aber nur an einer
stelle (Tusc. IV), die den wenigsten schülern zu gesichte kommt,
aber auch von denen nicht in quinta gelernt zu werden braucht, so
meine ich, diese einzelheit ist für die schulgrammatik durchaus ent-
N.jahrb.f.phil.u.pid. H.abt. 1891 hfl. 11. 35
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546 J. H. Schmalz u. C. Wagener: lateinische schulgrammatik.
behrlich; wenn dagegen depopulatus = vastatus bei Caesar und
Livius sicher von dem schüler gelesen werden und diese angäbe
neben populatus in der schulgrammatik fehlt, so halte ich dies nicht
für zweckmäszig. wenn ferner iuvaturus höchstens bei Sali. lug. an
einer stelle für den schüler existiert, sonist stets adiuturus dafür
gesagt wird, so stimme ich Ell.-S. bei, der gleich sagt: fpart. fut.
ersetzt durch adiuturus', und wenn endlich refricare zwar bei Cic.
wiederholt vorkommt, freilich fast stets in übertragener anwendung,
sonst aber bei fccbulschriftstellern nicht, so halte ich die er wähnung
desselben für weniger notwendig als diejenige anderer composita,
z. b. neben accubare noch incumbere u. ä. (reflexive bedeutung nach
der consonantischen conjugation!) ; blosz abdo anzuführen, condo
u. a. wegzulassen, desgl. praesto ohne obsto u. a. erscheint mir nicht
gerechtfertigt ; sie weichen ja alle vom simplex ab und sind gewis
nicht ungebräuchlich, lichtvoll und kurz sind die §§ 81—83, die
stammbildung der verba, deren durchnähme sich am besten in IV
machen dürfte und dann nicht nur einen lebendigen Überblick über
den bau der verba liefert , sondern auch für das griechische in III b
eine willkommene Vorübung bildet, auch andere teile der formen-
lehre verraten das praktische geschick des Verfassers, z. b. § 72 die
pronomina indefinita, § 34 ff. die adjectiva nach der dritten decli-
nation, aber die anordnung der sub^tantiva dritter declination nach
den stammauslauten wird den sextanern schwer verständlich sein,
aus dem gesagten, so kurz es auch gefaszt werden muste, wird
sich so viel ergeben haben, dasz wir es hier mit einer formenlehre
des lateinischen zu thun haben, zu der jeder lateinlehrer Stellung zu
nehmen sich veranlaszt fühlen wird, eine gröszere berücksicbtigung
des schülerstandpunkts werden wir freilich von einer zweiten auf-
läge des buchet! erhoffen dürfen.
Noch mehr eigenartiges bietet die syntax aus Schmal?/ feder.
sie musz im zusammenhange mit der program m bei läge ('erlfiute-
rungen zu meiner lateinischen schulgrammatik', Tauberbischofsheim
1^90) betrachtet und beurteilt werden, und beide zusammen bilden
eine der wichtigsten erscheinungen der letzten zeit auf dem gebiete
der lat. syntax. ihr genaues Studium ist dringend anzuempfehlen,
mag man scblieszlich auch bedenken tragen, alle worte des verf. zu
unterschreiben , ohne groszen nutzen wird niemand Schmalz' werk
gelesen und durchdacht haben, nach dem betr. programm hat
Schmalz die syntax nach folgenden allgemeinen gesichtsp unkten
abgefaszt: 1) kürze, auf 120 Seiten, recht tibersichtlich und frei-
gebig gedruckt, ist die eigentliche satzsyntax nebst einem stili-
stischen anhang abgehandelt (zur vergleichung diene: Stegmann4
144 s., Ell.-S. 31 146 s., Harre 173 s., Heraeus 186 s. , Lattmann 5
232 s.). dabei bat sich Schm von der Versuchung freigehalten, zu
gunsten der Statistik aus den schulschriftstellern die systematische
gescblossenheit zu schädigen, man kann ferner durchaus nicht be-
haupten, dasz zu wenig mustersätze gegeben oder sonst nötige
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J. H. Schnitilz u. C. Wagener: lateinische schulgrammatik. 547
durchblicke unterlassen wären, mir ist trotz längerer prüfung nicht
aufgefallen, dasz der dargebotene stoff an irgend einer wichtigen
stelle nicht genügte, wohl aber, dasz Schm. oft viel mehr bietet als
die bisherigen grammatiker. darüber weiter unten mehr, nur hier
und da vermiszte ich eine Verweisung, z. b. § 222 auf § 241 , denn
man sucht nach der herkömmlichen mode die erscheinung spero te
rediturum nicht unter den 'zeiten des indicativs'. so sehr ich auch
meistens hinsichtlich der disposition auf Seiten des verf. stehe, so
dringendes bedürfnis erscheint es mir doch, die einführung in die-
selbe zu erleichtern, und dazu scheinen kurze Verweisungen aus-
zureichen. — 2) psychologische auffassung der sprach-
erscheinung. diese zweite forderung an die schulgrammatik
unserer tage hat Schmalz sich mit entscbiedenheit angeeignet, wenn
er gleich mit recht betont, dasz das gedruckte buch sich auf diesem
gebiete mit andeutungen und Schlagwörtern begnügen, die nähere
ausführung aber dem lehrer überlassen bleiben müsse. — 3) w issen-
schaftlicher Charakter, die weitgehendste erfüllung dieser
dritten forderung verleiht der Scbmalzschen syntax ihr eigentüm-
liches gepräge und ihren seltenen wert, eine schule der logik
soll die grammatik sein, verlangt Schmalz im anschlusz an Lattmann.
Wölfflin drückt sich unter der vorrede so aus: 'vor allem müssen
die regeln nicht polizeivorschriften gleichen, deren innere begrün-
dung nicht immer sofort in die äugen springt, sondern die ganze
Sprachbehandlung soll sich auf klare und gesunde grundsätze stützen ;
ist doch die spräche selbst, die ein lebenskräftiges volk geschaffen,
auch eine gesunde . . . die historische entwicklung, welche die Wissen-
schaft erforschte, ist zugleich die beste erklärung dessen, was für
uns classisch geworden ist/ ganz entsprechend lauten die grundsätze
von Schmalz (progr. s. 7) : 'die grammatik mu>z schon in ihrer ganzen
anläge eine saubere methode, überall eine klare disposition, scharfe
abgrenzung nach einleuchtenden gesichtspunkten zeigen und, wenn
thunlicb, die grammatische erscheinung herleiten ; wo eine allmähliche
entwicklung zu tage tritt, musz sie diese erkennen lassen; jedenfalls
darf sie nicht das fert ige gesetz der spräche unvermittelt hinstellen.'
wir können Schmalz das zeugnis geben, dasz er seinem programm
möglichst treu geblieben ist und ein werk mit 'sauberer methode'
geliefert hat, von dessen einwirkung auf den lateinischen Unterricht
wir uns bedeutendes versprechen, wir können nur wiederholt raten
die betr. Seiten in Schmalz' progr. nachzulesen , auf denen er von
der anläge seiner syntax handelt, wollte gott, alle schulgrammatiken
zeigten eine solche geschlossenheit des Systems und eine solche durch-
sichtigkeit der anläge, dasz der schüler 'keinen augenblick außer-
halb des Systems* weilt, bei der ersten durchnähme wird das da-
durch entstandene gefühl der geborgenheit beim schüler ein un-
bewusteres bleiben, um desto deutlicher und befriedigender auf der
oberen stufe zu wirken, jeder, der nach lebendiger durchdringung
des grammatischen gebäudes im Unterricht gedreht hat, empfängt
35»
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548 J. H. Schmalz u. C. Wagener: lateinische schuigramniatik.
an Schmalz einen kundigen Wegweiser, bei solchem betriebe ist
die gefürchtete langeweile aus dem grammatischen Unterricht, die
Öde regelanhäufung und ausnah menaufzühlung verbannt; geblieben
ist die Schulung der denkkraft, die zwar ermattet, aber nicht er-
müdet, die man zwar nicht eine ganze stunde lang ununterbrochen
verlangen, wohl aber in jeder sprachstunde mit stets willigen schu-
lern von neuem beginnen kann, dasz die spräche ihre eigne logik
hat, wissen wir; dasz die gesetze des menschlichen denkens mit den
Sprachgesetzen nicht zusammenfallen, ist bekannt, gibt es da etwas
geistbildenderes, als den schüler diese teilweise congruenz und
wiederum divergenz zwischen spräche und logik finden oder wenig-
stens ahnen zu lassen? was aber die didaktische geschicklich-
k e i t des verf. anlangt , mit der er seine regeln entwickelt, so diene
dafür ein beispiel für viele: § 267. fragebauptsätze (directe fragen)
werden zu fragenebensätzen (indirecte fragen), indem man sie von
Sätzen abhängig macht, deren prädicat für sich oder in Verbindung
mit bestimmungen den begriff wissen (nicht wissen), wissen wollen
oder wissen lassen enthält, dabei werden 1) conjunctivische frage-
sät ze nach den regeln der cons. temp. angefügt , z. b. quid faciam?
. . . quaero, quid faciam, quid facerem (n. b. ist die-* nach den
regeln der cons. temp.?) ... 2) indicativische fragesätze in den con-
junctiv (der fremden meinung, den Schmalz coni. subiectivus nennt)
gesetzt, z. b. quid facitis? . . . quaero quid faciatis ... es stehen
somit alle fragenebensätze (indirecte fragen) im conjunctiv. —
In solcher weise erfolgt die ableitung der regel, und der schüler
sieht nun nicht nur, wie der Lateiner indirecte fragen behandelt,
sondern auch warum er so und nicht anders verfährt, überhaupt
ist die regelgebung sehr anerkennenswert und bei aller kürze des
Busdrucks weit von der orakelhaften gesetzgebermanier mancher
grammatiker entfernt, diedisposition der Syntax, die unsere
beachtung in erster linie verdient, ist folgende (ein inhaltsverzeichnis
fehlt leider): satz und Satzarten § 128 — 130. vom einfachen
satz § 131 — 230. vom subject und prädicat § 131 — 134. beziehung
des prädicats auf das subject § 135 — 137. bestimmungen zum Sub-
stantiv, apposition und attribut § 138 — 144 (darunter § 142 das
attributive particip, § 143 der genetivus definitivus, posse9Mvus,
subiectivus und obiectivus, derselbe bei adjectiven und participien,
qualitatis [und abl. qualitatis], partitivus und endlich attributive
präpositionale Wendungen), prädicatsbestimmungen durch einen ob-
jectscubiis. accusativ § 145 — 153. dativ § 154 — 159. genetiv
§ 160 — 163. prädicatsbestimmungen durch einen adverbialen casus
mit oder ohne präposition. der ablativ. der sociative ablativ § 165
— 172: causae, modi, comitativus, respectus mit dem zweiten supi-
num, raensurae, pretii. der eigentliche instru mentalis § 173 — 178.
der ablativ als separativu9 § 179 — 183, und zwar comparationie,
aeparativus ohne, mit oder ohne, mit präposition [eine Übertreibung
des an sich richtigen principe der schematisierung, libero ab aliqua
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J. H. Schmalz u. C. Wagener: lateinische echulgrammatik. 549
re ist mir nicht bekannt, vgl. § 181 anm., der blosze abl. ist beson-
ders häufig in übertragener bedeutung, zu § 182 senatu movere u.ä.].
vom locativ und den orts- und Zeitbestimmungen Uberhaupt § 184
— 195. prädicatsbestimmungen durch prädicativa. veränderliches
prädicativum § 196 — 208 (und zwar: usus est magist er omnium
rerum § 196, haec est pugna Cannensis § 197 rempublicam consul
servavi u.ä. § 198, prüdicatives particip § 199, subjectsprädicutivuin
bei sum — eligor § 200, dasselbe beim infinitiv § 201, abl. abso-
lutus 'ist ein mit einem subjectsprädicativum versehener ablativ*
§ 202 , objectsprädicativum bei video — me praesto § 203 , part.
präs. act. als solches § 204, pecunias collocatas habebant § 205,
pontem faciendum curavit § 206, acc. des ausrufs § 207, objects-
prädicativum im abl. bei utor § 208). das unveränderliche prädi-
cativum § 209 — 213: der genetiv als prädicativum, der abl. quali-
tativ, gen. pretii, prädicativer dativ (finaler dativ). vom infinitiv
(und gerundium) § 214 — 217. der infinitiv als object (aec. c. inf.) •
§ 218 — 225. der infinitiv (bzw. acc. c. inf.) als subject § 226. Zu-
sätze § 227—230. — Die satzbeiordnung § 231—234: asyn-
deton. einfache beiordnende conjunctionen. desgleichen correspon-
dierende. — Die Satzunterordnung § 235 — 310. modi und
tempora. vcm indicativ § 235. zeiten des indicativs § 236 — 243.
bezogener gebrauch der zeiten § 244 — 248 (aber selbständige zeit-
gebung bei dum und ubi, postquam § 248).' vom conjunctiv. der
conjunctiv in hauptsätzen § 250 (durchbrechung des einteilungs-
princips!), in nebensätzen § 251 ff. consecutio temporum § 252 —
260. arten der nebensätze. fragesätze. fragehauptsätze (ein fache
Sätze!): bestätigungsfragen § 263, Verdeutlichungsfragen § 264,
gegenfragen § 265, an § 266. fragenebensätze § 267 f. relativsätze
§ 269 — 276. conjunctionalsätzo. entstehung derselben (sehr lehr-
reich! aus den Wunschsätzen abgeleitet), ut, ne, quo, quominus,
quin § 277—289. quod und quia § 290—297 (weg vom neutrum
des relativpronomens bis nihil est, quod). quam § 298. dum § 299.
cum 300—303. si 304 — 308. oratio obliqua 309 f. — Diesem vor-
züglich klaren, zwar im umfangreichen prädicativum anfänglich
etwas verwirrenden, aber auch hier folgerichtig durchgeführten auf-
bau der satzsyntax, der von den forderungen der logik zu gunaten
der Schulpraxis nur in wenigen punkten (modi und tempora die
ersten paragraphen, fragehauptsätze) abgeht, schlieszt sich ein gram-
matisch-stilistischer anhang an, der erstens im wesentlichen
dasselbe enthält wie das bekannte capitel f eigentüralichkeiten im
gebrauche der redeteile' bei Seyffert, zweitens aber einen abschnitt
über Wortstellung und drittens vom satzbau (periode, satzverschrän-
kungen) hinzufügt, die sich im Unterricht sehr gut bewähren dürften.
— Dazu kommen: anhang I: Verslehre, bezeichnend ist die weg-
lassung einer prosodie. die verf. halten dieselbe für entbehrlich,
weil in der formenlehre jede länge (sogar die vocallänge in positions-
längen) sorgfältigst als solche bezeichnet ist, ein punkt, der als vor-
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550 J. H. Schmalz u. C. Wagener: lateinische schulgrammatik.
zug der formenlehre hier noch nachgetragen werden mag. anhang II :
der römische kalender. anhang III: münze, masze usw. fehlt leider.
Mit der darlegung der klaren, einheitlichen disposition der
Schmalzschen syntax und mit der hervorhebung der praktischen Ver-
wendung der inductiven methode neben stetiger berücksichtigung
der muttersprache habe ich auf die charakteristischen vorzöge des
buches aufmerksam gemacht.
Desgleichen bin ich in der hauptsache mit dem Standpunkte
des verf. in den fragen zweiten grades, die eine schulgrammatik be-
treffen, einverstanden. 1) die grammatik ist in erster reihe
berufen, der lectüre zu dienen (progr. s. 3). es ist keine
frage, dasz sie deshalb vor allem die spräche der schulschriftsteller
zu berücksichtigen und zu erläutern hat. auch das räume ich willig
ein, da&z Caesar den vortritt haben musz (die dahin zielenden worte
Andresens, citiert von Schmalz in anm. 10, sind gelegentlich einer
• besprechung meiner 'Caesarsätze' gefallen) , das/, darauf Cicero das
meiste anrecht hat, die schulgrammatik zu beherschen, aber doch
kann ich mich der befürchtung nicht erwehren, dasz die beschrän-
kung auf diese beiden autoren 'den Sprachgebrauch zu sehr einenge'
(Schmalz a.a.O. s.4) und dasz dadurch constructionen als unclassisch
verpönt werden, die vielleicht zufällig selten oder gar nicht in den
erhaltenen Schriften der beiden männer vorkommen, ich bin der
meinung (vgl. den lesenswerten aufsatz von Theodor Vogel in dieser
Zeitschrift), dasz die rigoristische forderung, nur das latein zuzu-
lassen , was ein paar jahrzehnte lang in Rom geschrieben ist , der
Wertschätzung unseres lateinunterrichts ungemeinen abbruch gethan
hat, ja dasz es etwas höchst unnatürliches ist, die schülerarbeiten an
der band eines zweibändigen Antibarbarus verbessern zu sollen,
wenn man lange jähre sich mit der lateinischen spräche beschäftigt
hat. ich stimme in gewissem grade Paulsen (geschichte des gelehrten
Unterrichts s.27) bei: 'wenn barbarisch reden bedeutet: anders reden
als die Römer zu Ciceros Zeiten redeten, dann ist das mittelalterliche
latein ohne allen zweifei barbarisch, nicht viel weniger als französisch
und deutsch, wenn man dagegen unter barbarisch reden nicht
diese zufällige abweichung verstünde, sondern allgemein: unan-
gemessen zum inhalt reden, ohne Sprachgefühl reden, mit
überallher zusammengerafften, an diesem orte unpassenden
und sinnlosen phrasen reden, dann dürfte der Vorwurf der barba-
rischen rede den humanisten häufiger zu machen sein, als den mittel-
alterlichen Philosophen und theologen.' ist nicht den arbeiten unserer
primaner, wie es hier mit den humanisten geschieht, nur zu häufig
der Vorwurf einer barbarischen spräche im geschilderten wortsinn
zu machen gewesen? selbstverständlich befürworte ich nicht die
erlernung des mittelalterlichen lateins der Scholastiker, aber ich
möchte dem schüler die freiheit gewahrt wissen , seine schulschrift-
steller in vollem umfange als muster seiner latinität anzusehen,
es ihm z. b. nicht zu verargen und nicht als fehler anzustreichen,
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J. H. Schmalz u. C. Wagener: lateinische schulgrammatik. 551
wenn er das part. fut. activi selbständig im finalen sinne verwendet,
hier liegt ja auch nach Schmalz' einsichtsvollen worten lediglich eine
'Weiterbildung' vor, durchaus keine entartung. vor allem ihn in
manchen dingen vor Livius zu warnen, den raeister des historischen
stils, den die alten bewunderten, halte ich für bare und bedenkliche
pedanterie. — 2) die grammatik hat die nötige anleitung
zum hinübersetzen zu geben, meine soeben geschriebenen
worte wird Schmalz mit Kühnast (Livianische syntax s. 8) zurück-
weisen, weil ich nach ihnen reine mischspracbe aus verschiedenen
culturphasen der entwicklung des latein dulde', aber die folgenden
äuszerungen von Schmalz, in denen er sein verfahren bei beurteilung
der lateinischen stilübungen in prima angibt, beweisen mir, dasz er
es so gar schlimm nicht meint, denn auch er läszt die nachclassischen
Verbindungen zu, die sich 'unmittelbar aus der entwicklung der
spräche ergeben', und damit decken sich unsere ansichten so gut
wie ganz, über den begriff des unmittelbaren ergebnisses wird zwar
immer ein gewisses halbdunkel schweben, aber es ist höchst erfreu-
lich, dasz damit Schmalz das princip des starren Caesaro-Ciceronia-
nismus verwirft. — 3) die grammatik soll dem schüler ge-
legenheit zur spontanen thätigkeit geben, es ist klar,
dasz die denkthätigkeit des schülers und seine beschäftigung mit
der zu lernenden spräche um so mehr angeregt wird, als sie ihm in
durchdachtem lehrgebäude nach wissenschaftlichen grundsätzen vor-
geführt wird, und um so fruchtbarer wird diese durchdenkung der
grammatik unter verschiedenen gesichts winkeln, je durchsichtiger in
ihren teilen und abgeschlossener als ganzes sie vom verf. ausgestaltet
ist. die manigfaltigsten Zusammenstellungen werden in den ober-
classen als Wiederholungen vorgenommen werden können (aber wird
dazu noch zeit sein?!), etwa wie ein wohlgeordneter park die schönsten
durchblicke und fernsichten gewährt, aber auch die anziehendsten weg-
variationen je nach dem ausgangspunkte und dem ziele ermöglicht. —
4) die beispiele einer schulgrammatik sollen a) kurz sein, b) nicht
vorgreifen, c) desto häufiger zurückgreifen, d) den geistigen besitz des
schülers vermehren, e) leicht lernbar sein, f) vor allem sprachlich
mustergiltiges latein enthalten. Über den letzten punkt läszt sich
Schmalz (progr. s. 18) weiter aus. er hat, als er es schrieb, in Latt-
mann6 noch nicht einsieht nehmen können, woselbst (einl. s. VII vom
märz 1890) Hermann Lattmann, der neue herausgeber des trefflichen
Ruches, 6ich zu dem grundsatz der beispielauswahl bekennt, der von
Schmalz a. o. angeregt wird, nemlich die mustersätze der induetiven
methode entsprechend aus der jedesmaligen classenlectüre auszu-
wählen. Schmalz trägt bedenken, dem tertianer möglichst nur solche
aus Caesar vorzulegen , er hält es für unpädagogisch , 'toujours per-
drix' zu geben; ich musz bekennen (mit Theobald Ziegler bei Schmalz
a. o.), dasz nach meinen erfahrungen der schüler das unpädagogische
nicht zu fühlen scheint und auch nicht über toujours perdrix murrt,
auch auf den inhalt bei einem grammatischen beispiel wenig achtet
»
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552 J. H. Schmalz u. C. Wagener: lateinische schulgrammutik.
und froh ist, wenn er darauf wenig zu achten braucht, weil er ihm
im wesentlichen bekannt ist, ja dasz ihm das leichte Verständnis des
inhalts die einsieht in den grammatischen bau des sattes und die
vorliegende grammatische thatsache wesentlich erleichtert ; ich bin
deshalb mit der Verwendung meiner 'Caesarsätze' im Unterricht recht
wohl zufrieden und höre dies auch von anderer seite, während die
grammatische belehruug durch manche sätze in der Ellendt-Seyrfert-
schen grammatik viel zu sehr gehemmt wird und die dadurch her-
vorgerufene ruhepause in der grammatikstuude mir zu teuer erkauft
scheint. Lattmann6 hat in dem pensum für IV besonders Nepos-
sätze verwendet, in dem für III Caesar.*ätze ; 'Cicerosätze werden nur,
wenn sie allgemein verständlich sind, zur notwendigen ergänzung
herangezogen.' wenn Lattmann dann fragt: c ist eine solche aus-
wahl der beispiele vom pädagogischen Standpunkte aus nicht bei
weitem wichtiger als eine beschränkung auf Cicero und Caesar?' so
tragen wir kein bedenken, ihm mit einem kräftigen ja! zu antworten,
gerade das ist auch u. a. bei Stegmann als vorzug anerkannt, dasz
er seine beispiele in erster linie dem Caesar entnommen hat. unter
diesem gesichtspunkte vertragen die beispiele bei Schmalz wohl eine
nochmalige durchsieht. — 5) die fassung der regeln soll knapp,
klar und bestimmt sein, dasz Schmalz diesem punkte die gröste
Sorgfalt gewidmet und eine glückliche hand dabei gezeigt bat , ist
im verlauf der besprechung öfter schon betont und braucht deshalb
an einzelnen fällen nicht genauer bewiesen zu werden, ausstellungen
wären ja hier und dort wohl zu machen, aber mit recht sagt Schmalz
gegen Marg (progr.s. 19), dasz tadeln leichter ist als besser machen;
die praxis wird dem buche gewis noch diese und jene ausfeilung des
ausdrucks bringen, wenn wir schlieszlich noch bemerken, dasz
Schmalz die reform Vorschläge Franz Kerns für Vereinfachung der
Satzlehre für das lateinische in fünf punkten verwertet hat (1. satz-
bildende kraft des verbum fiuitum. 2. Verwerfung der subjectlosen
sätze. 3. Scheidung des subjects Wortes vom subjecte. 4. Zurück-
weisung eines logischen subjects. 5. beseitigung der copula), so thun
wir dies nur, um unserseits zustimmen zu können und dem wünsche
ausdruck zu geben, es möchten die übrigen grammatiken seinem vor-
gange bald nachfolgen.
Die ausfübrlichkeit dieser anzeige einer lateinischen schulgram-
matik wird demjenigen nicht mehr auffallen, der sie geprüft hat,
uud ihre absieht ist erfüllt, wenn die herren collegen daraus verj
anlassung nehmen , sich näher mit dem zum mindesten sehr an-
ziehenden und lehrreichen buche näher zu beschäftigen, höchst
wahrscheinlich hat die grammatik von Schmalz- Wagener eine glän-
zende zukunft.
Nienburg, Weser. F Fügner.
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W. Ribbeck : griechißche achulgrammatik.
52.
GRIECHISCHE SCHULGRAMMATIK. FORMENLEHRE DER ATTISCHEN PR08A
NEBST CASU8- UND MODUSREGELN, BEARBEITET VON Wo L D E M A R
Ribbeck. Berlin 1891. v erlag von Leonhard Simion.
Das den neueren griechischen schulgrammatiken ziemlich ge-
meinsame streben nach beschränkung auf das notwendige kündigt
sich in dem vorliegenden buche schon auf dem titelblatte an. der
verf. hat nicht nur alle nichtattischen formen ausgeschlossen , son-
dern auch auf eine reihe von capiteln der syntax verzichtet, welche
in den andern neueren schulgrammatiken, selbst in den 'kurzge-
faszten', behandelt sind, dasz in der formenlehre auszer den Attikern
nicht wenigstens Homer berücksichtigung gefunden hat, werden
manche bedauern, denn wenn auch die Homerlectüre mit dem texte
selbst zu beginnen hat und nichts verkehrter wäre, als eine durch-
nähme der ganzen Homerischen formenlehre vor der lectüre, so
empfiehlt es sich doch, eine gedruckte Homerische formenlehre in
möglichst knapper form — Koch in seiner kurzgefaszten griechischen
formenlehre und Wendt in seiner griechischen schulgram matik schei-
nen mir hier das richtige am meisten getroffen zu haben — den
schillern in die band zu geben, damit die bei der lectüre besproche-
nen Spracheigentümlichkeiten der Homerischen gedichte von zeit zu
zeit zusammengefaszt und wiederholt werden können, ohne dasz man
zu dem mislichen dictieren von regeln seine Zuflucht nehmen müste.
Wenn von den capiteln der syntax die lehre vom subject und
prädicat, vom artikel, von den pronominibus, von den generibus
verbi, von den temporibus und von den partikeln fortgelassen ist,
so musz ja zugegeben werden, dasz diese abschnitte für eine schul-
grammalik die verhältnismäßig unwichtigeren sind, da aber einige
regeln daraus dem schüler doch beigebracht werden müssen, wie der
verf. selbst zugibt, wenn er im Vorworte sagt, dasz er sie dem Unter-
richt überlassen wolle, so weisz ich nicht, weshalb er nicht auch
diese capitel unter beschränkung auf das notwendigste seiner schul-
grammatik eingefügt hat.
Soviel über die auslassungen der Ribbeckschen schulgrammatik
im allgemeinen, betrachten wir nunmehr das gegebene, so läszt der
verf. hier die sonst so sichtbar erstrebte beschränkung auf das un-
erläszliche vielfach vermissen, er hat den regeln manche anmer-
kungen in kleinerem druck hinzugefügt, die, wie er im Vorworte
selbst sagt, 'bei der ersten durchnähme der paragraphen übergangen
werden können und müssen', ist letzteres richtig — und hinsicht-
lich der meisten anmerkungen wird man dem verf. beistimmen —
so ist nicht recht verständlich, weshalb er diese anmerkungen nicht
einfach fortgelassen hat. jedenfalls sind die meisten derselben für
den schüler weniger wichtig, als die hauptregeln der von dem verf.
ganz ausgeschlossenen syntaktischen capitel.
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554
W. Ribbeck : griechische schulgrammatik
Eine weitere Verkürzung hätte das buch ohne schaden für seine
brauchbarkeit erfahren können, wenn derverf. bei den syntaktischen
regeln auf einige wenige, möglichst kurze beispielsätze sich be-
schränkt hätte, welche auswendig gelernt werden können, dasz er
seine überaus zahlreichen beispiele sämtlich auswendig gelernt wissen
will, ist natürlich nicht anzunehmen; allein selbst dazu fehlt es an
zeit, dieselben alle übersetzen zu lassen, wollte er aber dem ] obrer
eine gröszere zahl von Sätzen nur zur auswahl stellen , so hätte er
gut gethan, dieselben mit nummem zu versehen, damit die von dem
lehrer ausgesuchten beispiele von dem schüler ohne Zeitverlust ge-
funden werden können.
Endlich waren auch die gröszer gedruckten regeln vielfach kürzer
zu fassen, auf manches seltener vorkommende verbum und nomen
hätte füglich verzichtet werden können.
Ich wende mich nun zu der besprechung der einzelnen capitel.
§ 6 (accent Übungen) enthält eine anzahl jambischer trimeter
und einzelner worte, ohne accente gedruckt, die aufgäbe des Schülers
soll nun darin bestehen, von jedem einzelnen worte nachzuweisen,
welche der überhaupt möglichen accentuationen es nach seiner be-
sonderen beschaffenheit haben kann, diese Übung läszt sich an die
Wörterverzeichnisse, wie sie der verf. in seiner grammatik wieder-
holt bringt (vgl. z. b. §§ 15. 18. 21) und an die den syntaktischen
regeln beigefügten beispielsätze ebenso gut anknüpfen , wie an ein
Verzeichnis unaccentuierter Wörter, und vergeblich wird man sich
fragen, weshalb dazu jambische trimeter, von denen der Untertertianer
noch gar nichts weisz, herangezogen worden sind.
In § 27 wird von den Wörtern auf €UC gesagt, dasz sie im genetiv
statt des Charakters eu den vocal e vor der endung haben, also nur
im genetiv? gilt dasselbe nicht von allen casus mit ausnähme des
nominativ und vocativ singularis und dativ pluralis? abgesehen
hiervon aber vermiszt man eine erklärung dafür, wie es kommt, dasz
in den zuletzt genannten casus die Wörter auf €UC einen andern
Stammcharakter zu haben scheinen, als in den übrigen fallen, ohne
eine solche erklärung erscheinen sie dem schüler in hohem grade
unregelmäszig und machen ihm Schwierigkeiten, nun wird freilich
die erklärung verschieden gegeben. 6. Curtius in seinen erläute-
rungen zu seiner griechischen schulgrammatik hält €u für den eigent-
lichen stammauslaut und nimmt an, dasz in demselben vor vocalen
für das u ein digamma eingetreten und dieses dann ausgefallen sei.
damit stimmen Müller-Lattmann in ihrer griechischen formenlehre
im wesentlichen tiberein, ebenso die späteren herausgeber von
schulgrammatiken Koch, Kaegi und Wendt. Hermann dagegen und
Ehlinger halten den stammauslaut eF für den ursprünglicheren, ihnen
schliesze ich mich an, und indem ich ßoCc, TP<*öc, vauc und die verba
ttXeuj , nveuj, v('uj (schwimme), öe'uj , kXcuuj und kcuuj mit ihren
Stämmen ßoF, tpaF, vaF (veF, vr)F), ttXcF, ttvcF, veF, 9eF, kAoiF und
KaF mit berücksichtige, pflege ich meinen Schülern die regel in
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W. Ribbeck: griechische scbulgrammatik. 555
folgender fassung zu geben: Migamma im auslaut von nominal- und
verbalstämmen fällt aus, wenn es in der flexion oder tempusbildung
vor einen vocul zu stehen kommt (z. b. ßaciX&x, ypaoc, ßoi, TrXeuu,
tK(h]V ), in allen andern fällen wird es zu u vocalisiert, also sowohl
vor consonanten (z. b. ßaciXeuc , tpoöv, tt^ttXcukq) , als auch dann,
wenn der stamm keinerlei zusatz annimmt (z. b. ßaciXeu, YPOÖ, ßoö).'
diese regel beseitigt aus einer reihe von häufig vorkommenden Sub-
stantiven und verben alle scheinbaren Unregelmässigkeiten mit aus-
nähme des genetiv singularis auf tue bei den Wörtern auf €UC und
bei vetüc und erleichtert das erlernen derselben den schulern wesent-
lich, bringt man sie in der obigen form in der lau tl ehre unter, so
bedarf es bei den genannten Substantiven und verben nur einer hin-
weisung auf jenen paragraphen der lautlehre. wer diese regel als
richtig und zweckmäszig anerkennt, wird natürlich auch demjenigen
nicht beistimmen können, was der verf. über den vocativ der Wörter
auf €Üc und von fpaöc in § 30, 2 a, I sagt, wo von einem abwerfen
des nominativischen c die rede ist; ebenso wenig demjenigen, was
in § 32, 1. 2 steht, wo die Wörter auf €ÜC, fpave und ßoöc zu den-
jenigen gezählt werden, deren stamm auf einen vocal ausgeht, und
dem § 66, 11. 13, wo von den verben veiu, ttX&ju, ttvcuj, ö^uj,
k6uj und kXcuuj gesprochen wird , die der verf. für unregelmäszige
verba hält.
In § 49, 7 vermisse ich eine erklärung der präsensstammbil-
dung der verba impura, insbesondere die erwähnung des iota bei
den verben auf £w und ccuu (ttuu) und den verbis liquidis. ist den
scbülern früher der comparativ Güccuj v (aus xaxiwv) erklärt worden,
so macht ihnen idccu) aus Tdxjw keine Schwierigkeit mehr, und sie
behalten die auf den ersten blick seltsame stamm Veränderung leichter,
auch das in die Stammsilbe überspringende iota der verba auf v und
p (z.b. (peuvuj, Ka0CUpw) läszt den schtiler diese scheinbare präsens-
stammdehnung von der aoristdehnung (z.b. £qpr)va, dKdGrjpa) besser
unterscheiden, und auch die Verdoppelung des X bei Stämmen auf X
(vgl. ctcXXuj aus creXjuj) wird ihm dadurch klarer.
In § 98 sind unter den verben auf vujlu mit vocalischen Stäm-
men auch öXXum und ö(uivum angeführt, was angefochten werden
musz. der eigentliche stamm ist bei diesen beiden verben unzweifel-
haft consonantisch auslautend und heiszt üX bzw. öfi. dasz für einige
tempora noch ein vocalisch auslautender neben stamm öXt und öuo
angesetzt werden musz, berechtigt nicht dazu, die beiden verba
unter die verba mit vocalischen Stämmen zu rechnen, fast alle andern
grammatiken haben sie denn auch zu den consonan tischen gezählt.
Koch, Kaegi und Wcndt verzichten auf die Unterscheidung voca-
lischer und consonantischer stämmu bei den verben auf vuui gänz-
lich, was insofern etwas für sich hat, als man bei einigen derselben
in der that in zweifei sein kann, in welche der beiden gruppen man
sie einreihen soll, so namentlich bei dpqpi€vvupi , das Müller- Latt-
mann und Fritsche wegen der ursprünglichen Stammform Fee zu den
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556 W. Ribbeck: griechische schul Grammatik.
verben mit consonantischem stam mauslaute rechnen, während die
meisten andern grammatiker, welche die beiden gruppen unter-
scheiden, es unter den verben mit vocalischem stammauslaute auf-
führen, pädagogische gründe sprechen für das letztere verfahren,
wissenschaftlich richtiger ist das erstere. in solchen fällen wird die
pädagogische rticksicht den vorzug verdienen; doch empfiehlt es
sich, wie gesagt, in einer schulgrammatik auf jene Unterscheidung
ganz zu verzichten.
Wende ich mich nun zu den einzelheiten des syntaktischen
anhanges, so kann ich mich wenigstens mit den a ccusati v regeln
einverstanden erklären, nur nr. 12 würde ich streichen, denn nicht
wegen, der Zusammensetzung mit präpositionen , wie der verf. be-
hauptet, haben die verba der äuszeren oder inneren (geistigen) be-
wegung den accusativ bei sich , sondern der Sprachgebrauch der
dichter zeigt, dasz verba der bewegung, auch wenn sie simplicia sind,
zur bezeichnung der richtung oder des ziels den bloszen accusativ
bei sich haben können, diese bedeutung wohnt also dem accusativ
an sich schon inne; sie wird im Sprachgebrauch der prosa durch die
präpositionen nur noch schärfer hervorgehoben, die obige regel
wird aber auch dem schüler insofern nicht recht einleuchten, als sie
ja auch mit solchen präpositionen zusammengesetzte verba anführt
und anführen musz (vgl. Trapaßcrivuj, ii€Tilvai, Trepuciapai, urro-
bOojiai), welche nicht blosz den accusativ, sondern auch andere
casus regieren, soll eine regel über den accusativ bei den verben
der bewegung gegeben werden, so wird man mit Godofredus sagen
müssen: 'der accusativ bezeichnet auch die richtung, wohin sich
etwas bewegt', ich glaube aber, wie gesagt, dasz eine schulgrammatik
am besten thut, auf eine regel hier ganz zu verzichten, zumal da die
von dem verf. angeführten verba sämtlich durch deutsche transitiva
wiedergegeben werden können , die der schüler von selbst mit dem
accusativ verbindet, wenn ihm nicht eine andere construction aus-
drücklich vorgeschrieben wird.
Aus demselben gründe, der in erster linie gegen die 12e accu-
sativregel sprach, musz ich mich natürlich auch gegen die 18e du* iv-
regel erklären, wo es heiszt: 'wegen der Zusammensetzung mit prä-
positionen steht der dativ usw.' die alsdann angeführten verba (z. b.
^ßdXXeiv, £TTiK€ic6oa, 7r€pmrfX<iveiv usw.) gehören auszerdem fast
sämtlich zu der gruppe der verba freundlicher oder feindlicher an-
näherung, welche in nr. 3 und 4 schon besprochen sind, wo der verf.,
wie ja auch ganz in der Ordnung ist, ein verbum (cuvoAXcnrecOai)
schon angeführt hat, welches mit einer präposition zusammengesetzt
ist, die den dativ nach sich bat. hielt der verf. wegen einiger anderer
verba, die er in nr. 10 anführt, z. b. wegen £veTvcu, £jhjli^V€IV eine
regel für nötig, so muste er von der localen bedeutung des dativs
sprechen, kraft welcher sie, nicht wegen der präposition, mit diesem
casus sich verbinden, es führt mich dies auf ein bedenken, das ich
gegen die behandlung des dativs und genetivs durch den verf. tiber-
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W. Ribbeck: griechische Bchulgrammatik. 557
haupt geltend machen musz. bedenkt man, dasz die griechische
casuslehre in der untersecunda gelehrt wird, in der es an der zeit
und am platze sein dürfte, die schüler, die so viele jähre schon mit
den verschiedenen casus zu thun gehabt haben, über die eigentliche
bedeutang derselben an der band der sichersten ergebnisse der neue-
ren Sprachwissenschaft aufzuklären, und dasz diese ergebnisse in der
that geeignet sind, in das chaos von einzelheiten der casussyntax
Ordnung und klarheit zu bringen , so kann man es nur lebhaft be-
dauern , dasz dieselben bei dem verf. keinerlei berücksichtigung ge-
funden haben, warum soll man dem secundaner vom instrumentalis
und localis nichts sagen? warum soll er nicht erfahren, dasz im
griechischen der dativ die functionen dieser ausgestorbenen oder
doch im aussterben begriffenen casus übernommen hat? jedenfalls
aber musten in der grammatik die dativregeln nach diesen drei
hauptpunkten geordnet werden: 1) vom eigentlichen dativ, 2) vom
instrumentalen dativ, 3) vom localen dativ.
Dementsprechend hätten natürlich auch die genetivregeln
eingeteilt werden müssen: 1) in die regeln vom eigentlichen genetiv,
2) in die regeln vom ablativischen genetiv, d. h. von demjenigen
genetiv, welcher den verloren gegangenen woher- casus (vgl. Holz-
weissig griechische syntax), den casus des ausgangspunktes und der
trennung (vgl. Wendt griechische schulgrammatik) vertritt.
Die lOe genetivregel würde ich streichen, weil sie einen dem
schüler selten vorkommenden gebrauch betrifft und weil das am
schlusz derselben erwähnte frf€ic8cu und irpuJT€U€iv an eine andere
stelle gehört.
Die lle genetivregel hängt mit der lOn nicht zusammen, son-
dern handelt von einer ganz andern art des genetivs, nemlich von
dem ablativischen, dem Vertreter des woher-casus. als solchen erkläre
ich auch den genetiv bei den verben der Wahrnehmung (regel 13),
welche der verf. mit den verben der berührung zusammenstellt.
Der genetiv des grundes ist nicht, wie der verf. in der 22n regel
behauptet, von einem fortgelassenen inneren object abhängig, son-
dern als eine abart des woher casus direct mit dem dabei stehenden
verbum zu verbinden, vom genetiv bei CrraMCti und 6au^i䣀iv ist
an zwei stellen die rede, in der 6n und in der 22n regel. erst die
anmerkung zu dieser regel gibt einigen aufschlusz hierüber.
Auch die verba des herschens und anführens waren jedenfalls
in einer regel unterzubringen, bei dem verf. sind sie zerstreut,
einige erwähnt er in der 8n, andere in der lOn, wieder andere in der
2 In regel.
Regel 30 dürfte in einer schulgrammatik zu entbehren sein,
und regel 31, wo es heiszt 'wegen Zusammensetzung mit Präpo-
sitionen regieren den genetiv usw.*, ist aus demselben gründe zu
verwerfen, wie die 12e accusativ- und die 18e dativregel, von wel-
chen oben die rede war.
Während die casuslehre mehr enthält, als eine kurzgefaszte
Digitized by GflOgle
558 W. Ribbeck: griechische schulgrammatik.
Bchulgrammalik bringen sollte, ist die modus lehre zu knapp be-
handelt, so weit der grosz gedruckte text in betracht kommt, die
anmerkungen enthalten hier manches, was regel hätte werden müssen,
so z. b. die anmerkungen Uber den negativen imperativ (I 2 a anm. 1),
von den verben des fUrchtens (I 2 a anm. 2), von öttujc nach den
verben des Sorgens und betreibens (I 2 a anm. 7), von £iuc und TTpiv
(I 2 b anm. 1. 2. 3).
Was die anordnung anbelangt, so würde es sich empfohlen
haben, die modusregeln der hauptsätze von denen der nebensätze
scharf zu trennen, und dasjenige, was letztere angeht, so zusammen-
zustellen , dasz die modusverhältnisse der einzelnen gattungen der
nebensätze in einer regel zusammenstehen, während aus der anord-
nung des verf., der alle einzelneren den beiden abschnitten con-
junctiv (1) und optativ (II) unterordnet, der übelstand sich ergebeu
hat, dasz das auf dieselben arten von nebensätzen sich beziehende
an verschiedenen stellen erscheint, so musz der schüler das-
jenige, was er über die finalsätze wissen musz, unter I 2a und unter
II 2 c suchen, die regeln von den relativ- und zeitsätzen der Wieder-
holung unter I 2b und II 2b usw.
Nur die lehre von den hypothetischen perioden hat der
verf. in einem besonderen abschnitt V, der seltsamerweise durch die
capitel vom infinitiv, vom participium und von den negationen von
der moduslehre getrennt ist, im zusammenhange bearbeitet, nachdem
er einen fall derselben, den fall der potentialität, bereits beim
optativ (II 2 a) angeführt hat.
Die reibenfolge der einzelnen fälle der hypothetischen perioden
ist in diesem abschnitte die richtige, insofern der verf. die fälle der
Wirklichkeit, der Wahrscheinlichkeit, der möglichkeit und der nicht-
Wirklichkeit auf einander folgen läszt, wag andern grammatikern
gegenüber anerkannt werden musx, allein inV2 wäre die erwähnung
des opt. c. <Sv besser fortgeblieben , da sie den schüler leicht ver-
wirren könnte, dasselbe gilt von der sehr breiten besprechung der
gemischten hypothetischen perioden der nichtwirklichkeit in den
regeln 7 und 8; auch die regeln 9. 10. lt. 12. 13 halte ich für über-
flüssig, während die I4e regel, welche mit den hypothetischen perio-
den nichts zu thun hat — sie betrifft die regel von den unerfüllbaren
wünschen — mit der regel der andern \vunscb>ätze (II la) verbunden
werden muste.
In dem abschnitt III des syntaktischen anbanges, welcher vom
infinitiv handelt, finde ich folgendes zu bemerken:
Die regel 4 gehört in den abschnitt von den negationen (s. 248),
wo denn auch von den negationen beim infinitiv noch einmal die
rede ist. die trennung der ausdrücke des wollens (regel 12) von
denen des forderns, befehlens usw. (regel 11) ist nicht zu billigen,
die anmerkung zur regel 17 war in diese selbst hineinzuziehen, der
infinitiv nach den conjunctionen übe, ujctc, tcp1 ibie (regel 18 und 19)
war in der lehre von den modi der nebensätze zu behandeln, welche,
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W. Ribbeck: griechische schulgramwatik. 559
wie oben schon gesagt ist, einen besonderen abschnitt des syntak-
tischen anhangs bilden musten. wenn der verf. aber die conjunctio-
nen, welche den infinitiv nach sich haben können, bei diesem behan-
deln wollte, so ist nicht recht einzusehen, weshalb er hier nicht auch
irpiv besprochen hat, dessen infinitivconstruction bei ihm in der
lehre vom conjunctiv erwähnt wird.
In der lehre vom participium (abschnitt IV) ist die anmer-
kung zur 6n regel aus der zahl der anmerkungen auszuscheiden und
als regel zu geben.
Der besondere abschnitt über die negationen, von welchem
oben schon die rede war, hätte alle diejenigen fälle, in denen urj
steht, wie es z. b. Holzweissig gethan hat, zusammenstellen und
auszer der schon erwähnten 4n infinitivregel die regeln von ou ^irj
und von \xr\ ou bringen müssen, welche der verf. teilweise früher
schon, nemlich in der lehre vom conjunctiv, gebracht hat.
Abschnitt VI des syntaktischen anbanges handelt von der
oratio obliqua. er wäre überflüssig gewesen, wenn der verf. die
regeln von den modi in nebensätzen, nach den verschiedenen arten
dieser letzteren geordnet, in einem besonderen abschnitte der modus-
lehre zusammengestellt hätte, in diesem hätten dann auch die aus-
sagesätze mit übe und Öti (regel 1) und die indirecten tragesätze
(regel 3) ihren platz gefunden, und die regel von den nebensätzen
der oratio obliqua (regel 4) würde einen passenden schlusz für diesen
abschnitt gebildet haben, wegen der infinitivsätze der oratio obliqua
bedurfte es eines besonderen abschnittes über diese nicht, denn sie
ergeben >>ich von selbst aus früheren regeln vom infinitiv, und zwar,
soweit sie eine aussage enthalten, aus der infinitivregel 7, soweit sie
aufforderungssätze sind, aus den infinitivregeln 11 und 12.
Der regel 1 a fügt der verf. eine bemerkuug über die pronomina
hinzu und erwähnt hier auch das personal pronomen der 3u person
ou, ol, H. dies musz auffallen, weil der verf. sonst nur die attische
prosa berücksichtigt, ou und £ aber in dieser bekanntlich sehr selten
vorkommen, wie die regel vom optativ in finaUätzen als anmerkung 2
der 4n regel in die lehre von der oratio obliqua kommt, ist nicht
einzusehen.
Regel 5 und 6 halte ich für entbehrlich.
Den schlusz des syntaktischen anhanges bilden die präpo-
si t ionen. hier vermisse ich einerseits die für eine schulgrammatik
sehr praktische bekannte reimregel der Märkischen grammatik, ander-
seits möchte ich d|i<pi c. gen. gestrichen wissen , weil es in der atti-
schen prosa fast gar nicht vorkommt.
Breslau. Adolf Moller.
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560
Über das correctum der schriftlichen arbeiten.
58.
EINIGE GEDANKEN ÜBER DAS CORRECTUM
DER SCHRIFTLICHEN ARBEITEN.
Zu den lästigsten, oft auch unfruchtbarsten arbeiten der lehrer
kann die durchsieht der Verbesserungen, hier und da wohl correcta,
emendationes, emendata genannt, gerechnet werden.
Diese sind offenbar dazu bestimmt, den schüler, nachdem er
bei der rückgabe der hefte über seine fehler vom lehrer gründlich
aufgeklärt worden ist, durch die nochmalige häusliche Überlegung
derselben, endgiltig von seinen schwächen zu befreien.
Es läszt sich nun die frage aufwerfen, ob die meist übliche art,
das correctum zu behandeln, auch wirklich den angedeuteten zweck
erreicht.
Wenn sich nun die amtsgenossen über die erfolgreichste ein-
richtung der schriftlichen arbeiten wiederholt in den Zeitschriften
und programmabhandlungen ausgesprochen haben, so kann man
sich wohl mit recht darüber wundern , dasz man in der art der be-
handlung des correctums noch nicht zur einigung gekommen ist.
Über diesen punkt des Unterrichts ist meines wissens bisher
nur weniges, und zwar zerstreut den fachgenosson zur prüfung vor-
gelegt worden.
Ein einheitliches verfahren hierbei ist kaum an einer anstalt,
geschweige in einer provinz oder gar im ganzen reiche anzutreffen,
und doch verdient auch diese seite des Unterrichts eine gröszere
beachtung.
Stelle ich die erinnerungen aus meiner eignen Schulzeit und die
beobachtungen, die ich an mehreren anstalten meiner heimatsprovini
gemacht, zusammen, so ergibt sich etwa folgendes bild , dem das
verfahren der collegen in anderen provinzen im ganzen ähnlich sein
dürfte.
In den unteren und mittleren classen folgte der besprechung
seitens des lehrer»* eine nachsebrift der von diesem ausgearbeiteten
vorläge gegen ende der stunde, eine vollständige abschrift wurde
von den schülern verlangt, deren arbeiten das prädicat mittelmäszig
und darunter erhielten, während sich die lehrer bei besseren arbeiten
mit der abschrift der fehlerhaften sätze begnügten, hiermit war die
in rede stehende arbeit abgelhan und die folgende veranlaszte ein
gleiches verfahren.
Ganz abgesehen davon , dasz die kürze der zeit zum schnellen
hinschmieren verleitete oder der schwächere und unaufmerksamere
schüler gar nicht nachkommen konnte, dürfte die nachschrift in der
stunde selbst schwerlich den gewünschten zweck erreichen.
Andere dictierten die arbeiten zunächst ins diarium und ver-
langten alsdann eine sorgfältige reinschrift im hefte, wodurch der
schüler allerdings gelegenheit bekam, das stück nochmals zu dureb-
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Über das correctum der schriftlichen arbeiten.
561
denken; doch hat nach meinen erfahrungen die mechanische abschrift
die geistige arbeit in den meisten fällen ersetzt.
Noch andere verlangten auszer der abschrift das auswendig-
lernen des correctums, welches verfahren zu billigen ist, voraus-
gesetzt, dasz der fachlehrer im stände ist, ein mustergiltiges correc-
tum zu bieten.
Einen wie geringen wert aber die in der stunde nachgeschriebe-
nen correcta haben, kann man daraus erkennen, dasz die nächste
arbeit, in die man vorher richtig gestellte dinge von neuem ver-
arbeitet hat, die früheren fehler wieder zu tage fördert.
Das ist ein deutlicher beweis dafür, dasz der schüler seine
fehler nicht gehörig erkannt und die gebotene belehrung nicht ge-
nügend verdaut hat.
Andere collegen begnügten sich mit der Verbesserung am rande,
sobald die arbeit mindestens das prädicat ziemlich befriedigend er-
halten hatte.
Mir persönlich sind solche rand Verbesserungen verhaszt. man
betrachte nur einmal ein solches heft. die rote correctur des lehrers
verbindet sich mit den oft nachlässigen schriftzügen des schülers zu
einem abstoszenden gesamtbilde. denn dem schüler geht meist die
fähigkeit ab, eine gewisse Symmetrie herzustellen, und die benutzung
eines lineals ist ihm zu beschwerlich.
An anderen anstalten herscht der gebrauch, dasz der schüler
das correctum nach mündlicher anleitung des lehrers selbständig zu
hause fertigt, freilich strotzen solche correcta dann oft genug von
fehlem, der lehrer ist nur zu sehr geneigt, unüeisz bei den schülern
anzunehmen, anstatt zu bedenken, dasz der schüler, in dessen köpf
mehrere stunden oft die heterogensten dinge gepfropft werden, ein-
fach das richtige längst vergessen hat, ehe er zur ausarbeitung des
correctums schreitet.
Will sich also der lehrer unnötigen ärger ersparen und gerecht
bleiben , so müste er darauf bedacht sein , dasz das correctum gleich
am nächsten morgen ihm zur durchsieht überreicht werde, hierauf
könnte, braucht aber nicht die neue arbeit geschrieben werden, ob-
wohl dies das wünschenswerteste wäre, da wird nun mancher er-
widern, er müsse schreiben lassen an den tagen, an denen er zeit
habe zu corrigieren: das sei der mittwoch- und sonnabend-nachmittag
und leider auch der sonntag. dies verhindert ihn aber keineswegs,
die correcta am folgenden tage von den schülern einzufordern.
Jedenfalls haben die häuslichen, selbständigen correcta der
schüler mehr wert, als wenn sie nur nachschriften des dictates des
lehrers sind, für diesen ist es allerdings bequemer, möglichst rich-
tige correcta zu durchfliegen, als den selbständigen arbeiten der
schüler von neuem seine kraft zu widmen; erwächst ihm doch hieraus
gleichsam eine zweite correctur, die, eben weil es nur correcta sind,
nicht die vorschriftsmäszige zahl der schriftlichen arbeiten ver-
mehren, doch müssen bequemlichkeitsrücksichten seitens der lehrer,
N. jahrb. f. phil. u. pid. II. abt. 1891 hft. 11. 36
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562 Über das correctum der schriftlichen arbeiten.
wenn es sich um die förderang der schüler dreht, einfach bei seite
geschoben werden, und man ist berechtigt, die amtstreue eines lehrers
auch nach der art der correctur der correcta zu beurteilen.
Unter manchem correctum habe ich leider schon oft ein vidi
gesehen, wo von rechtswegen ein non vidi hätte stehen sollen.
Lästig mag ja die durchsieht des correctums sein, doch so lange
Verbesserungen verlangt werden, müssen wir auch bierin unsere
pflicht voll und ganz erfüllen, man hoffe nicht etwa, dasz der schüler
die gleichgiltigkeit des lehrers gegen das correctum nicht bemerke;
im gegenteil , sein auge ist bei solchen dingen oft recht scharf, und
er behandelt es bald, wie sein lebrer damit verfahrt.
Ist aber eine gleichgiltigkeit des lehrers hiergegen begründet?
Das correctum gleicht nach meiner auffassung der naebüber-
setzung bei der leetüre. hat der schüler, weil er ohne Übersetzungen
gearbeitet hatte, trotz redlichster bemühung so manche stelle des
textes nicht herausbekommen ; hat dann die Unterrichtsstunde durch
die arbeit aller schüler das richtige zu tage gefördert und der lehrer
eine allen anforderungen entsprechende Übersetzung geboten, so soll
die nachÜbersetzung beweisen, wie viel und wie der schüler die
vorige stunde ausgenutzt bat. was hier mündlich erstrebt wird, soll
das correctum schriftlich beweisen.
Unter diesem gesictitspunkt gehört das correctum nicht zu den
nebensachen des Unterrichts, und die etwaige gleichgiltigkeit der
lehrer hiergegen ist zu rügen.
Anders werden die schüler das correctum behandeln, wenn der
lehrer sie nochmals corrigiert und womöglich prädiciert.
Doch halte ich das verfahren derer für verfehlt , welche die im
correctum gemachten fehler zur neuen arbeit hinzurechnen, soll jede
arbeit für sich ein ganzes sein , so dürfen offenbar die verstösze im
correctum nicht das prädicat der arbeit selbst verschieben, lieder-
liche correcta könnten nur dazu dienen, in ihrer summe das allge*
meine prädicat des fleiszes in der quartalscensur zu beeinflussen,
ebenso ist es nicht zu billigen, dasz loderige correcta zur mehr-
maligen abschrift aufgegeben werden, dies liesze sich allenfalls be-
gründen, wenn die völlige, vom lehrer gebotene naebsebrift rein
äuszerlich die grösste nachlässigkeit verrät; ist das correctum aber
vom schüler selbst gefertigt ,• so müste die wiederholte abschrift in
sorgfältiger weise gerade die fehler im schüler befestigen, was
jedoch der absieht des correctums widerspricht.
Solchem schüler müste man eine andere arbeit stellen, die ihn
straft, weil er arbeiten musz, die ihn aber auch fördert, anstatt ihn
in den fehlem zu befestigen.
Mit allzu groszem eifer gehen die schüler erfahrungsgem&sz
nicht an die anfertigung des correctums. für sie ist die fehlerzahl
und das prädicat der arbeit selbst die hauptsache; interesse fürs cor-
rectum musz ihnen erst vom lehrer eingeflöszt werden.
Wird das correctum nicht für den folgenden tag verlangt, so
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über das correctum der schriftlichen arbeiten.
563
ereignet e& sich nicht selten , daaz der schOler die anfertigung des-
selben vergiszt, zuweilen auch erst in der Zwischenpause macht oder
den rest in der schule nachträgt, nachdem er den anfang zu hause
geschrieben , wie man dies aus der verschiedenen färbe der tinte zu
beweinen vermag.
Was man aber vergiszt, liegt einem nur wenig am herzen, und
je weiter nach oben, desto gröszer wird die gleicbgiltigkeit der
schüler gegen das correctum. hier genügt die bemerkung des lohrers :
verbessere i c h das correctum, so haben Sie die pflicbt, es gewissen-
haft zu fertigen, oft, doch nicht immer, um eine sorgfaltigere be-
handlung des correctums zu erzielen.
Soll die schule die jugend zur Selbständigkeit im urteilen,
wollen und handeln heranbilden , so ist gewis auch die selbständige
abfassung des correctums ein wirksameres mittel hierzu , als wenn
der schüler das correctum mechanisch ab- oder nachschreibt.
In diesem falle musz man freilich verlangen, dasz das gebotene
sich erstens streng an das original hält und zweitens einen für sich
verständlichen sinn gibt, wenn man auch die möglichste kürzung
durch auslassung des richtigen dem schüler gestattet.
Liegt also der fehler im nebensatze, so musz unbedingt auszer
der berichtigung desselben der hauptsatz iu einer an sich verständ-
lichen, wenn auch möglichst abgekürzten form erscheinen.
Es ist nicht gerade leicht, den schüler hierzu zu bringen, ver-
leitet wird er zur auslassung des einen für den sinn unbedingt nötigen
gliedes bei der correctur einer periode meist wohl durch eine ge-
wisse trägheit, die entschuldigt werden könnte, wenn der weggelas-
sene teil im original von ihm richtig gebildet worden ist, anderseits
dürfte auch das verfahren der grammatiker hierzu verleiten, wenig-
stens bietet die grammatik von Ellendt- Seyffert trotz ihrer zahl-
reichen auflagen noch eine reihe von beispielen, die wegen weg-
las&ung eines für das Verständnis nötigen teiles selbst für den lehrer
schwer, für den schüler aber gar nicht verständlich sind.
Pädagogisch richtig ist diese darbietung derartiger beispiele
gewis nicht, und so musz auch dem das correctum durchlesenden
lehrer eine periode als an sich verständliches ganzes geboten werden,
auf dasz nicht der gewissenhafte lehrer genötigt werde, an solchen
stellen die eigentliche arbeit zur controlle aufzuschlagen.
Dreht es sich um fehler der formen lehre oder der syntax, so
genügte allenfalls die richtige form und construction, ohne dasz ein
ganzer satz im correctum geboten werde.
Benutzt man das correctum zur befestigungder kenntnisse und
als mittel, den schüler zur gröszeren Selbständigkeit zu führen, dann
musz er genötigt werden, zu hause seine hilfsmittel zu benützen,
dies würde erreicht, wenn man von ihm verlangte, nicht blosz den
fehler zu berichtigen, sondern auch zu begründen, die begründung
müste natürlich möglichst kurz gehalten sein, meist genügte die an-
gäbe des paragraphen in der grammatik.
36*
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5f>4
Über das correctum der schriftlichen arbeiten.
So wird der schüler nicht blosz zur erkenntnis des Öti, sondern
auch — und das ist im Unterricht doch wohl die hauptsache — zu
der des biöxi geführt, aus der erkenntnis der gründe seiner fehler
erwächst aber dem schüler erst ein sicheres wissen.
Es braucht nicht erst gesagt zu werden, dasz, so lange einmal
die durchsieht der correcta von amtswegen gefordert wird, auch alle
gegenstände mit schriftlichen arbeiten correcta aufweisen müssen.
Ist der lateinlehrer in den obersten classen verpflichtet, die oft
recht schwere correctur des correctums zu verrichten, so wäre er
bezüglich seiner arbeitslast ungerecht behandelt, wenn etwa der
lehrer des deutschen oder der mathematik auf das correctum ver-
zichten dürfte.
Wie die durchsieht der correcta nun dem lehrer oftmals lästig
ist und doch ein prächtiges mittel bietet, seine amtliche gewissen-
haft i^keit zu erkennen, so ist die rückgabe der corrigierten arbeiten
einer der wichtigsten gesichtspunkte , das lehrgeschick besonders
jüngerer lehrer zu beurteilen, obwohl letztere dies zuweilen gar nicht
ahnen, ist es mir doch unlängst selbst begegnet, dasz ein jüngerer
lehrer mich vom hospitieren in seiner stunde dadurch gleichsam ab-
zuschrecken suchte, dasz er ja nur arbeiten zurückgebe, natürlich
bei mir in diesem falle ohne erfolg.
Ich wage es, die behauptung aufzustellen, dasz die correcta-
stunden, um mich so auszudrücken, die fruchtbarsten und anregend-
sten werden können, sobald der lehrer pädagogisch genügend durch-
gebildet ist.
Um sie fruchtbar zu machen, musz der lehrer freilich sich alle
fehler der schüler verzeichnen, dieselben dispositionsartig gliedern
und aus der vollen kenntnis der verstösze das correctum bieten.
In der oben erwähnten stunde wurden deutsche hefte in der
tertia zurückgegeben.
Aus den vom fachlehrer gebotenen einzelheiten stellte ich durch
mein eingreifen in den Unterricht mit hilfe der schüler fest, dasz
sich folgende gruppenbildung ermöglichen liesz: es wurden l) fehler
gemacht, die auf flüchtigkeit beruhten, 2) orthographische, 3) gram-
matische, 4) stilistische, 5) sachliche, also in den gebotenen that-
sachen, und 6) verstösze gegen die logik.
Wie sich nun fürs deutsche correctum die fehler gruppieren
lassen, so natürlich auch für die fremdsprachlichen arbeiten.
Hierdurch gewinnt der lehrer nicht nur zeit, sondern seine
gleichsam statistischen notizen zeigen ihm aufs klarste die lücken
im wissen seiner schüler, wo also eine gründliche repetition unum-
gänglich nötig ist.
Auch ist es pflicht des lehrers, nicht selbst das richtige zu bieten,
sondern die schüler dasselbe aus eignen kräften finden zu lassen;
erst wenn die von ihm gebotenen stützen zu keinem erfolge geführt,
darf der lehrer das richtige selbst angeben.
So kommt in diese stunden ein reges leben, und findet der
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Über das correctum der schriftlichen arbeiten
565
schüler erst vernügen an ihnen , dann wird auch das correctum er-
freulichere erfolge aufweisen.
Betreibt nun der lebrer sein fach mit der nötigen liebe, besitzt
er obendrein ein gutes gedächtnis, so dasz er auch nach mehreren
tagen, ja wochen noch die fehler der schüler im köpfe hat, so wird
die leetüre reichlich gelegenheit bieten , diesem oder jenem schüler
nochmals seinen einst gemachten fehler an der vorliegenden stelle
zum bewustsein zu bringen.
Ob man dem schüler gleich am anfange der stunde oder erst
am ende derselben die corrigierten hefte in die hand geben musz,
wird von der zeit der rückgabe überhaupt abhängen.
Wer aus dem vollen arbeiten will, musz die arbeiten womög-
lich schon am nächsten tage abliefern, in diesem falle hat der schüler
noch frisch im gedächtnis, was er geschrieben, und braucht das heft
zur correctur nicht vor äugen zu haben.
Seine Ungeduld, zu erfahren, wie er geschrieben, kann der
lehrer durch angäbe der fehlerzahl am anfange der stunde leicht be-
schwichtigen.
So wird der lehrer auch sich selbst die rückgabe erleichtern,
denn trotz der sorgfältigsten aufzeichnung verblaszt auch bei ihm
so manches, wenn mehrere tage seit der correctur verflossen sind.
Demnach wage ich es, den fachgenossen folgende thesen bezüg-
lich des correctums zur prüfung vorzulegen : a) zwischen der rück-
gabe der hefte und der neuen arbeit darf nur der kürzeste Zeitraum
liegen ; beziehungsweise ist auch ohne folgende neue arbeit das cor-
rectum am nächsten tage dem lehrer zu überreichen; b) noch besser
erfolgte am nächsten tage eine mündliche repetition des bei der
rückgabe besprochenen, sowie eine nochmalige abschlieszende Über-
setzung der vorläge seitens der schüler, bevor dieselben zur schrift-
lichen anfertigung des correctums schreiten.
Eine zeitvertrödelung wird nach meiner erfahrung hierdurch
nicht ohne weiteres veranlaszt. ist es doch nicht unumgänglich
nötig, dasz man sich bei den correctis nur auf die wirklich gemachten
fehler beschränke; sie sind, allgemein bezeichnet, grammatische
repetitionsstunden , so dasz der lehrer also berechtigt ist, an das
vorliegende verwandte begriffsreihen zu knüpfen und ganze abschnitte
der grammatik in fruchtbarer weise zu repetieren.
Zur belebung der correctastunde und zur klärung des Urteils
trägt besonders in den oberen classen der lehrer auch dadurch bei,
dasz er in freundlicher weise seine schüler ermutigt , ihre falsche
auffassung mit ihren gründen zu verteidigen; die mitschüler oder
der lehrer selbst hat die unhaltbarkeit jener gründe aufzudecken,
ich selbst habe mich nie geschämt, eine falsche auffassung meiner-
seits den schülem gegenüber offen einzugestehen; war ich doch Über-
zeugt, dasz sie mich meinem fache für gewachsen erachteten, habe
dadurch aber manchmal etwas für mich selbst gelernt.
Mit ganz besonderem eifer habe ich auch darnach gestrebt,
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566
Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
dahinter zu kommen, infolge welcher Vermischung von Vorstellungen
der schtller zu seinem fehler gelangt ist.
Diese psychologische erkenntnis hat dann in meinem gesamten
unterrichte mich zu möglichster klarheit getrieben.
Schliesslich musz der lehrer auch ein pessimist sein, wo es sich
um das Verständnis der fehler seitens der schaler dreht.
Auf die frage, ob sie die fehler nunmehr eingesehen, antworten
sie gewis ja. doch traue man dieser antwort nicht, Oberzeuge sich
vielmehr, ob dieses ja der Wahrheit entspricht, und ermutige die
schttler wiederholt, sich nichtverstandenes nochmals erklären zu
lassen.
Langmut und Hilfsbereitschaft schwachen schalern gegenüber
bilden ja den schmuck des echten und gewissenhaften erziehers der
jugend.
Mögen diese zeilen dazu beitragen, das correctum nicht mehr
als eine lästige und unfruchtbare arbeit für den lehrer zu betrachten,
sondern es als ein geeignetes mittel zur förderung der scbüler eifrig
zu benutzen.
Kempen in Posen. Paul Mahn.
54.
KRITISCH - EXEGETISCHES ZU SCHILLER UND GOETHE.'
1. Wallensteins tod, act IV scene 10.
Mit groszer Sorgfalt hat Schiller in seinen meisten dramen die
Zeitfolge der handlung angegeben und festgehalten , mit peinlicher
genauigkeit im Fiesco, wo fast bei jeder scenenreihe sogleich zu
anfang die stunde bezeichnet wird', in allgemeinerer weise, aber
doch auch klar und bestimmt, in Cabale und Liebe, im Don Carlos,
Wallenstein, der Maria Stuart und Braut von Messina. man sieht,
es kam ihm darauf an, auch in dieser mehr äuszerlichen beziehung
den pragmatischen Zusammenhang der handlung streng durchzu-
führen.
Die handlung des Wallenstein verteilt sich in folgender
weise auf vier tage (ich stelle neben die in den drucken befolgte
acteinteilung die in den handscbriften gegebene):
1 Verfasser hat sich auf das sorgfältigste bemüht, bei den einzelnen
stellen die vorhandene Ittteratur heranzuziehen; sollte wider erwarten
doch diese oder jene beobachtung schon von andern vorweggenommen
sein, so wird dies jeder entschuldigen, der weis«, wie schwer es ist bei
dem mangel einer zusammenfassenden bibliographie die weit zerstreuten
und zersplitterten publicationen zu kennen und zu erreichen. — Minor
Schiller bd. II war bei absendung meines aufsatzes noch nicht erschienen.
* vgl. meinen aufsatz in der Weimarer vierteljahrschrift für litteratur-
geschichte bd. III hft. 4.
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Kritisch-exegetisches zu Schüler und Goethe. 567
Piccolornini
^ jj J = Picc. act I i. d. hdschr. lr tag vormittag
- III i jt , t abend
- IV i - - • 11 - • • ,r -Lacht
- V = - III - - - 2r - morgendämmerung
Wallenst. Tod
act I = - IV - - - 2r - morgen
- II = - - V - - - 2r - abend
[vgl.ni7, 1611]
- 1111-12= W.T.- I - - - in Ä ...
13-23= - - - n - - }3r ' vormittag u. später
- IV 1-8 = - - - III - -
:
1.2]}
9-14 = - - - IV - - - >4r - spät abend
[dazu V
- V «= ... V - - 4r - nacht
jedes der beiden dramen umfaszte also ursprünglich zwei tage, ein
zeitmasz, das Schiller auch im Fiesco und in Cabale und Liebe3 fest-
gehalten hat.
Mit dieser klaren und übersichtlichen gliederung steht die er-
Zählung des schwedischen hauptmanns von Maxens tod IV 11 in
schroffstem Widerspruch, vergegenwärtigen wir uns genauer die
chronologischen Voraussetzungen des vierten actes.
Wallenstein hatte am ende des vorhergehenden actes Buttler
befohlen, dem commandanten von Eger zu schreiben
Durch einen eilenden, er soll bereit sein
uns morgen in die festung einzunehmen;
beim beginn des vierten actes ist er soeben in Eger eingetroffen, er
hatte zugleich gehofft, noch an diesem tage sich mit den Schweden
zu vereinigen (III 13, 1281):
Morgen stöszt
ein heer zu uns von sechzehntausend Schweden.
aber Max hat sie angegriffen, um noch in letzter stunde in ver-
zweifeltem kämpf Wallensteins Vereinigung mit ihnen zu hindern;
dadurch ist ihre ankunft verzögert, erst am morgen des folgenden
(fünften) tagen werden sie vor Eger erscheinen (IV 7, 2755 f. 2843,
vgl. V 3, 3392). dieser todesritt der Pappenheimer cürassiere ist
nicht lange vor Wallensteins ankunft in Eger zu ende gegangen :
3 irrtümlich nimmt L. Bellermann Schillers dramen bd. I s. 162 drei
tage an. act III spielt nicht am zweiten tage, sondern noch am abend
desselben tnges, an welchem der präsident in Millers haus eindrang,
sonst hätte Luisens frage an Wurm (III 6) 'suchen Sie etwa den Prä-
sidenten? er ist nicht mehr da% gar keinen sinn, auch wäre ein
stillstand der handlung gerade hier ganz unerträglich.
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568
Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
IV 3, 2619
Ein starkes schieszen war ja diesen abend
znr linken hand, als wir den weg hieher
gemacht, vernahm man's auch hier in der festnng?
fwohl hörten wir's . . .
von Neustadt oder Weiden schien's zu kommen.'
das ist der wog, auf dem die Schweden nahn.
IV 4, 2646
Eine Schlacht ist vorgefallen
bei Neustadt, und die Schweden blieben sieger. . . .
nach Sonnenuntergang hat's angefangen,
ein kaiserlicher trupp von Tachau her
ist eingebrochen in das schwed'sche lager,
zwei stunden hat das schieszen angehalten.
Endlich scene 5:
Die Schweden stehn fünf meilen nur von hier,
bei Neustadt hat der Piccolomini
sich mit der reiterei auf sie geworfen usw.
mit scene 9 verwandelt sich die scene, die handlung aber erfährt gar
keine Unterbrechung. Thekla, die scene ö in obnmacht sank, liegt
noch 'bleich, mit geschlossenen äugen in einem sessel' ; sie erwacht
mit der frage nach dem boten, fder dieses unglückswort aussprach',
auf ihren wünsch musz er ihr nun scene 10 den genaueren bericht
vom tode des geliebten geben, er beginnt wieder mit der Zeitangabe :
Wir standen keines Überfalls gewärtig
bei Neustadt dicht verschanzt, in unserm lager,
als gegen abend eine wölke staube«
aufstieg vom walde her.
nachdem so dem zuhörer wiederholt nachdrücklich eingeprägt ist, dasz
die schlacht, in der Max seinen tod fand, heute abend statt-
gefunden hat, nachdem er durch die rasch aufeinander folgenden,
erst unbestimmten, dann immer genaueren nachrichten das ereignis
fast unmittelbar mit durchlebt hat, jetzt heiszt es plötzlich am schlusz :
heut früh bestatteten wir ihn . . .
gewis eine seltsame chronologische Verwirrung, denn dasz Max nicht
gestern abend gefallen sein kann, ist ausgeschlossen, gestern
schied er erst spät act III scene 23 aus Pilsen, auch sagt ja Wallen-
stein 2619 ausdrücklich: diesen abend habe er das schieszen von
Neustadt her gehört. — Der schroffe Widerspruch, in dem die letzte
angäbe des schwedischen hauptmanns zu den früheren steht, musz
auch frühzeitig bei der aufführung aufgefallen sein, so hatte das
Berliner theatermanuscript v. 2649 geändert in
Vor Sonnenaufgang hab' es angefangen,
und ebenso stand, wie Hoffmeister nachlese III 226 berichtet, in
dein nach dem Verluste des ursprünglichen aus der erinnerung her-
gestellten Weimarer tbeaterexemplar. auch Coleridge übersetzte —
seine vorläge stand dem Berliner mscr. nahe;
Soon after sunrise did the fight begin.
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
569
natürlich wird durch diese correctur der Widerspruch nur verschoben,
nicht gehoben.
Wie läszt sich nun in einem drama, welches die Zeitfolge sonst
so streng durchführt, dieser chronologische Widerspruch erklären?
Bekanntlich hat Schiller, wie R. lioxberger in Schnorrs archiv
IX 563 nachwies, bei der Schilderung von Maxens bestattung der
bericht von Ewald von Kleists begräbnis vorgeschwebt, charakte-
ristische ztige, wie den, dasz der fübrer der feinde dem toten den
eignen degen auf den sarg legte, hat er daher entlehnt, es wäre
denkbar, dasz Schiller erst nachträglich durch die lecttire jenes be-
richts angeregt wurde, den schluszabschnitt der erzählung 3062 —
3072 einzuschieben , und so den Widerspruch nicht bedachte, in den
er zu dem vorhergehenden geriet, die verse, welche diesen absatz
einschlieszen, scheinen für diese Vermutung zu sprechen, vers 3061
fragt Thekla, nachdem der schlusz des kampfes erzählt ist:
Und wo — wo ist — Sie sagten mir nicht alles —
nun schiebt sich 'nach einer pause' die erzählung von der bestattung
ein, die nicht recht zu jener frage passt. am ende derselben nimmt
daher Thekla diese, 14 verse vorher begonnene, frage mit denselben
worten wieder auf:
Wo ist sein grab?
man sieht, die verse scblieszen sich lückenlos zusammen, wenn man
jenen abschnitt sich fortdenkt, sollte hier nicht vielleicht noch die
naht zu erkennen sein?
2. Maria Stuart, act V scene 10 und die kerkerscene
des Fau 8 1.
Daniel Jacoby hat im Goethe-jabrbuch III 1882 s. 185 f. eine
abhängigkeit des Schillerschen dramas von der Gretchen - tragödie
im Faust nachzuweisen versucht, was er über die ähnlichkeit des
grundgedankens sagt, wird niemanden überzeugen, der da weisz,
wie tief das tragische problem der Maria Stuart in Schillers tragi-
schen anschauungen wurzelt, schwerer scheint eine beobacbtung
über die technik Schillers in act V scene 10 zu wiegen, er bemerkt
darüber: 'für den schlusz der Maria Stuart ist eine scene des Faust
von höchster bedeutung.' Goethe habe Schiller die kerker-
scene mitgeteilt, dieselbe habe zu eingehenden erörterungen anlasz
gegeben : * im hinblick auf den zehnten auftritt des letzten aufzugs
erfreuen wir uns des gewinnes, welchen Schiller aus so be-
deutsamen schriftlichen wie mündlichen besprechungen gezogen.'
wie Goethe die hinrichtung Gretchens den äugen des Zuschauers ent-
rückte, indem er sie dieselbe nur in einer vision durchleben lasse,
genau so lasse Schiller den grafen Lester die hinrichtung der Maria
Stuart, die unter seinen füszen sich abspielt, durchleben; wie Goethe
zeige er uns also das furchtbare nur durch seine Spiegelung in der
erschütterten seele der handelnden person.
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570 Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
Ich sehe ganz davon ab, dasz es höchst zweifelhaft ist, ob
Schiller wirklich die 1808 erschienene kerkerscene gelesen hat; ich
frage einfach : brauchte Schiller wirklich diesen 'kunstgriff' (um mit
Lessing zu reden) erst von Goethe zu lernen? derselbe hat eine viel
ältere geschiente, als Jacoby zu ahnen scheint.
'Durch das mittel, dessen sich die antiken dichter bedienten,
die berichte der boten, konnte dem zuschauer nicht mit der notwen-
digen stärke das ereignis zum be wustsein gebracht werden.' so
Jacoby 8. 187. dasz schon die antiken dichter auch andere mittel
kannten, mag ihm die Elektra des Sophokles zeigen, hier sehen wir
die heldin, während Orestes und Pylades im palast die that voll-
bringen , an den thüren in furchtbarer erregung verharren und den
Vorgängen drinnen lauschen; der dichter läszt sie auf diese weise
den mord, den sie selbst als weib nicht begehen kann, mit so leiden-
schaftlicher teilnähme durchleben, dasz er wie ihre eigne that er-
scheint, flüchtig hat dieses motiv auch Euripides in dem gleich-
namigen stück aufgegriffen: der cbor lauscht auf Elytämnestras
weherufe (1165 f.). ähnlich schon Aischylos im Agam. und den
Choeph.
Hier also fand Schiller das unmittelbarste Vorbild, um ein
gleichzeitig hinter der bühne sich vollziehendes furchtbares Schick-
sal dem hörer zu vergegenwärtigen, davon ist die von Goethe ge-
wählte vorwegnähme der bevorstehenden katastrophe durch
eine vision wohl zu unterscheiden, aber auch hierin waren ihm schon
längst andere dichter voraufgegangen.
Schon Aischylos läszt im Agamemnon die Kassandra den
Untergang Agamemnons und ihren eignen vor dem grausenden chor
im geiste schauen und mit entsetzen durchleben, vgl. nament-
lich 1125
dd, l6ou Iboü' dir€X€ Täc ßoöc
töv TaOpov £v irlTrAotci
ucXaTK^pH) XaßoOca unxavf^uaTi
TÖTrrer nirvci o* Iv ivuöptp t€üx«.
Racine wandte dieses mittel in seiner Iphigenie (1674) an; wo
Euripides in der Iphig. Aul. nur den botenbericht von Iphigenies
Opferung ihm bot, liesz er die Cly temnestre , von den Wächtern zu-
rückgehalten, in gedanken das blutige Schauspiel miterleben (acte V
scene 4):
Mais, cependant, ö ciel! 6 mere infortune'e!
de festins odieux ma tille couronne'e
tend la gorge aux couteaux par son per© apprete's.
Calchas va dans son sang . . . Barbares, arretez;
c'est le pur sang du dien qui lance le tonnerre . . .
j'entends gronder la foudre et sens trembler la terre usw.
nach Racines drama wurde der text von Glucks zu Goethes zeit
allbekannter, 1774 zuerst, als ein musikalisches ereignis, in Paris
aufgeführter, bis 1785 175 mal gegebener oper Iphigenie en Aulide
verfaszt (Glucks Iphigenie en Tauride war bekanntlich auch von ein-
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
571
flusz auf Goethes Iphigenie), hier ist diese vision der Clytemnestre,
welche unter den trauen zurückbleibt« nachdem Iphigenie sich von
ihr gerissen, zu einem ganzen recitativ des letzten actes ausgespon-
nen, ans dem ich (nach der Ubersetzung von Cornelius) anführe:
In mein mütterlich herz senket mir tief den stahl;
am altar, der von grauen umwoben,
laszt finden ein grab meine qual, . . .
die tochter . . .ja, da bist's . . . seht, das messer schon blinkt,
geschliffen dir vom vater, znm tode dir winkt,
ein priester, zum mord gedrängt von dem tobenden schwärme,
schwingt um dein haupt den stahl mit dem nervigen arme . . .
ach! da strömet dein blut . . . und er lauscht und er schaut
in dem blut, das noch glühet, was der gott ihm vertraut!
haltet ein! grause mordgenossen! erbebt! usw.
erst später folgt, nach einer Verwandlung, Iphigeniens zug zum altar.
3. Maria Stuart, act II scene 3
schlieszt Burleigh seine rede für die hinrichtung der Maria mit der
wirkungsvollen antithese:
Ihr leben ist dein tod! ihr tod dein leben!
der aus Goethes ' Wahrheit und dichtung* bekannte Leipziger professor
ClodiuB hatte 1780 im zweiten teil seiner vermischten schriften, aus
denen jüngst Sauer auszüge in der vierteljahrschrift für litteratur-
geschichte III 288 gegeben hat, auch mitteilungen über sein traner-
spiel Conradin gemacht ; darunter finden sich die verse :
Der tod des Conradin ist Carl des königs leben,
das leben Conrad ins ist Carl des königs tod.
ich würde das eigentümliche zusammentreffen kaum erwähnen, wenn
nicht Streicher Schillers flucht s. 192 erzählte, dasz Schiller 'schon
in Stuttgart sich vorgenommen hatte, Conradin von Schwaben zu
bearbeiten*, der plan wurde also unmittelbar nach dem erscheinen
der Ciodiusschen vermischten schriften gefaszt.4
Beiläufig bemerke ich, dasz man vielleicht auch in der ersten
hälfte des fünften actes nachklänge der jugendeindrticke des dichters
finden darf ; mich wenigstens haben sowohl die ausmalung der ganzen
Situation wie einzelne stellen lebhaft an Wielands jugenddrama
Job an na Gray erinnert. Lessings schneidende kritik desselben
im 63n und 64 n litteraturbriefe brauchte Schiller nicht abgehalten
zu haben , das drama in seiner jugend mit tiefer teilnähme in sich
aufzunehmen, wie tief der einflusz Wielands auf Schiller war , ist
bekannt; hier will ich nur erwähnen, dasz ganz ähnlich die beiden
ersten acte der Alceste auf die composition und den ausdruck der
exodos der Braut von Messina eingewirkt haben*, auch hier hat ge-
rade die breite ausmalung dea todesganges bei Wieland ihn gefesselt.
4 auf andere anregungen weist Weltlich Schiller s. 669 hin.
5 vgl. meine ausführungen in der Zeitschrift für deutsche philologie
XVIII 264 f.
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572
Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
4. Fiesco, act V scene 5 und 10.
Ist es Schillers eigne erfindung, dasz er Leonore in Gianettinos
kleidern von ihrem gatten töten läszt, der in ihr seinen feind zu
sehen glaubt ? jedenfalls hatte er dies motiv schon in dem ihm wohl
bekannten 6 Ossian (im Fingal) vorgefunden; ob ihm dies noch be-
wust war, mag zweifelhaft sein. vgl. Ossians und Sineds lieder,
Wien 1784 (die erste ausgäbe war schon 1768 — 69 erschienen) 1 47 :
Aber indessen entschleuszt sich Galbina, die tochter von Conloch,
ihren buhlen zu prüfen, die niedlichen glieder bedecket
mitdemgeschmeide deskriegs verläszt sie die höhle, nun glaubet
Co mal den gegner zu sehn, ihm pochet das herz, er entfärbt sich,
finster wird's um ihn her. er belastet den bogen, der pfeil zischt,
ach Galbina! — sie sinkt in ihr blut! nun stürzt er zur höhle
wütend und rufet die tochter von Conloch. — Die einsamen felsen
starren verstummt. — O meine geliebte ! wo bist du? — Gib antwort! —
endlich erblickt er ihr schlagendes herz, sein pfeil ist darinnen —
Conlochs tochterl dich hab' ich erlegt — und vergeht ihr am busen.
auf Macphersons erzäblung ist offenbar wiederum die sage von Cepha-
lus und Procris, Ovid. Metam. VII 796 f., von einflusz gewesen.
5. Räuber, act I scene 2.
Auf Karl Moors worte : ' feuchtohrige buben . . . greinen über
die siege des Scipio, weil sie sie exponieren müssen' wirft Spiegel-
berg ein: 'das ist ja recht Alexandrinisch geflennt.' Bellermann
Schillers dramen I 96 bemerkt dazu: 'bindeutung auf die alexan-
drinischen gelehrten, welche den groszen geistern der vorzeit
nicht gleichkommen, sondern nur «phrases aus ihnen fischen» und sie
«exponieren» konnten.' bei dieser erklärung bleibt ebenso das 'ge-
flennt' unberücksichtigt, obwohl doch an diesen begriff der ganze
vergleich anknüpft, wie die beziehung auf die siege, und endlich
Bebreibt B. ganz willkürlich 'alexandrinisch' mit kleinem anfangs-
buchstaben.
Schiller spielt vielmehr offenbar an auf die bekannte anecdote
aus Alexanders jugend, Plut. vit. AI. c. 5, 2 ücükic fovv dTray-
T€\8€in OiXittttoc f\ ttöXiv £vbo£ov rjpriKÜJC f\ näxnv TIVd 7T€pi-
ßonjov v€vncrjKUK, ou TT dl v u (poibpöc fjv ÖKOUUJV, dXXdirpdc
touc rjXiKiurrac IXerev «uj TtaTbec, Travia TrpoXr|UJ6Tai ö rcaifip,
^jaol b* oub£v dTroXeuyei neO* ujiwv £ptov dTrobe^acöai ulfa Kai
XcuuTtpöv». R o 1 1 i n , aus dem Schiller diese erzählung — direct oder
indirect — kennen mochte, steigerte dies: 'toutes les fois qu'on lui
apportait la nouvelle que son pere avait pris quelque ville, ou
gagne quelque grande bataille, loin de s'en rejouir avec
le royaume, il disait d; un ton plaintif aux jeunes gens qui
Gtaient eleves avec lui : mes amis, mon pere prendra tout, et ne nous
6 eine Ossianische Situation bietet noch die Braut von Messtna III 1;
vgl. a. a. o. III 77 f über mir erbraust ein bäum . . . o meine liebe!
zeigte sich dein wandeln in der ebne!» usw.
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
573
laissera rien ä faire.' so konnte dann Spiegelberg in derber Über-
treibung geradezu von einem 'flennen' reden und mit dem schmerz
des antiken beldenjünglings über die vor ihm errungenen siege
ironisch den schmerz der heutigen jugend vergleichen.
6. Räuber, act III scene 2
wählt sich Kosinsky, um den minister zu ermorden, einen 'drei-
spitzigen degen'. Bellermann Schillers dramen s. 106 bemerkt dazu,
er wisse nicht, was darunter zu verstehen sei. unzweifelhaft ein drei-
schneidiger, wie auch die tbeaterausgabe seit 1798 und ebenso die
dritte aufläge der bucbausgabe geradezu in den text gesetzt haben;
wenn diese änderung selbstverständlich auch nicht den mindesten
kritischen wert besitzt, so zeigt sie uns doch, wie man das epitheton
damals verstand. Schiller gebrauchte es wohl im sinne 'von drei
Seiten zugespitzt'; anderseits werden dreieckig, dreikantig und drei-
spitzig (vgl. Grimm wb. II 1384. 1392) promiscue gebraucht. —
Eine dreischneidige watFe aber liesz der dichter Kosinsky wählen,
um dadurch seinen tötlichen groll zu malen, denn dieselben reiszen
— man denke an unsere alten bajonets — gezackte und deswegen
schmerzlichere und schwerer zu heilende wunden.7
7. Fi es co, act II scene 17.
Fiesco: und was ist wirklich Ihres pinsels beschüftigung?
Romano: er int weggeworfen, gnädiger herr. das licht des genies
bekam weniger fett als das licht des lebens. über einen gewissen punkt
hinaus brennt nur die papierne kröne, hier ist meine letzte arbeit.
Dasz unter der papiernen kröne die papiermanchette zu ver-
stehen ist, in der das licht steht, hat zuerst Mick witz in diesen
jahrbüchern 1873 s. 387 bemerkt der sinn des betreffenden satzes
ist danach offenbar: 'das licht des genies ist (bei mir) dem erlöschen
nahe.' was aber heiszt im vorhergehenden satze das 'licht des lebens' ?
zwei erklärungen sind möglich, entweder bezieht es sich auf Roma-
nos leben oder auf das leben überhaupt, im ersteren fall würde
er sagen: 'meine Schöpferkraft ist geringer als meine lebenskraft;
obwohl ich noch in der blüte meiner jähre stehe, habe ich doch schon
mein künstlerisches können erschöpft; ich habe mich selbst über-
lebt.' — Im zweiten falle würde das leben die reale Wirklichkeit be-
zeichnen, und es würden danach das schaffen des künstlerischen
genies und die schöpferischen tbaten, welche das leben bietet, in
parallele gestellt, an dem licht des letzteren soll sich — so könnte
man den gedanken mit beibehaltung des bildes ausführen — das
licht des ersteren entzünden oder nähren, es scheint mir kaum
7 vgl. auch Wilh. Raabe Unseres herrgotts canzlei II 103 (nach einer
Magdeburger chronik) fmit einem dreiecker wurde herzog Georg in
die lende gestoszen'.
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574
Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
zweifelhaft, dasz wir uns für diese zweite erklärung entscheiden
müssen, nach der ersteren würde Romano hier eine bemerkung
machen, die für die scene gar keinen zweck und in der art, wie
er bisher charakterisiert ist, gar keine begründung hat. er ist ja
soweit davon entfernt , sich selbst für invalide zu erklären , dasz er
'gegenwartig ist, die grosze linie zu einem Brutuskopfe zu finden'!!
und gerade, indem er in Fiesco ein modell für das ihm vorschwebende
ideal sucht, indem er ferner sich einen maier nennt, fder sich vom
diebstahl an der natur ernährt', deutet er bereits denselben gedanken
an, den ich in den obigen worten fand, und damit ergibt sich auch
die pointe dieses gedankens im zusammenbang der scene; indem er
zu Fiesco sagt: 'ich kann nichts, wenn das leben mir kein vorbild
bietet, in dir suchte ich das bild eines Brutus' — spricht auch er an
seinem teile indirect die mahnung aus, der die ganze scene nach
Verrinas wünsch dienen soll: 'sei du ein Brutus, der du allein es
sein kannst'
8. Melancholie an Laura, v. 91 — 94.
Ach die kühnste harmouie
wirft das saitenspiel zu trümmer,
und der lohe ätherstrahl genie
nährt sich nur vom lebenslampenschimmer.
Ich setze diese stelle der anthologie v. 1782 hierher, weil sie
das bild in anderer weise wendet, in den beiden ersten versen kann
es fraglich erscheinen, was subject ist. Viehoff Schillers gedichte
I6 85 (1887) wollte anscheinend 'barmonie' als solches ansehen,
wenn man dies auch aus seiner verschwommenen Umschreibung nicht
klar erkennen kann 'die allzu kühnen regungen meines genies haben
die gesundheit meines körpers untergraben', da er dabei beide sätze
vermischte. Düntzer Schillers lyrische gedichte I* 343 (1874) con-
struierte umgekehrt und erklärte: 'die kühnste harmonie d. h. die
groszartig entworfene Übereinstimmung der lebenskräfte , wird zer-
trümmert durch das saitenspiel d. h. die dichtkunst.' ihm schlosz
sich Weltl ich an in der jüngst erschienenen zweiten lieferung seiner
Schillerbiograpbie s.465. und doch wird durch diese erklärung das
ganze bild — wenn man überhaupt noch an dem bilde als solchem
festhält — in einer geradezu unerträglichen weise auf den köpf ge-
stellt! ein saitenspiel kann wohl durch das anschlagen der 'kühn-
sten harmonien', durch ein leidenschaftliches, wildes spiel zersprengt,
'zu trümmer geworfen' werden — das umgekehrte aber ist undenk-
bar, übertragen ist der dichtergei.st ein solches saitenspiel, welches
durch ein übergewaltiges künstlerisches schaffen sich zerstört, der
vergleich des menschen mit dem saitenspiel ist Schiller geläufig, so
sagt Don Carlos V 4, 4821 von Posa:
Die9 feine saitenspiel zerbrach in Ihrer
metallnen hand. Sie kounten nichts, als ihn
ermorden.
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
575
und auf die seele speciell wendet er ihn an ebd. I 2, 199:
[Die natur, die] unsrer Beelen zartes saitenspiel
am morgen unsres lebens gleich bezog.
das büd geht zurück auf die bekannte analogie zwischen der seelen-
tbätigkeit und den Schwingungen der saiten, auf welche Schiller z.b.
auch seinen Franz Moor, Räuber V 1, sich beziehen läszt.
Das abenteuerlichste aber bietet Weltrichs erklärung der letzten
Strophe v. 114 — 119:
Brich die blume in der schönsten schöne,
lösch, o jüngling mit der trauermiene!
meine fackel weinend aus,
wie der vorbang an der trnuerbühne
niederrauschet bei der schönsten scene,
fliehn die schatten — uud noch schweigend horcht das haus.
Boxberger hatte in diesen jahrbüchern 1868 s.301 unten daraufhin-
gewiesen , dasz Schiller die gestalten der bühne als die schatten des
lebens betrachtet, ein bild, welches um so geeigneter ist, wenn man
sich den augenblick denkt, wo der Vorhang heruntergelassen wird*;
er führte dafür den prolog zum Wallenstein v. 67 und *an Goethe,
als er den Mahomet usw.' v. 45 an. dem gegenüber behauptete
Weltrich, diese stellen gehörten Schillers späterer dichtung und be-
trachtungsweise an, und näher läge es hier an die gestalten der
Schauspieler zu denken, deren schatten (!) auf die rückseite des herab-
fallenden, halbdurchsichtigen (!!) Vorhangs sich abzeichnen, eine er-
scheinung, welche bekanntermaßen (?) etwas wunderliches, die naive
phantasie anregendes habe, ganz abgesehen von dieser höchst wun-
derlichen Vorstellung: worin sucht denn eigentlich Weltrich das
tertium comparationis? Schiller will das schnelle dahinscheiden in
der vollen kraft des Schaffens und im augenblick der höchsten be-
wunderung malen — also gerade auf das plötzliche verschwinden
de3 Schattenbildes unter der noch fortdauernden ergriflfenheit der
Zuschauer kommt es bei dem bilde an! dasz er aber auch schon in
seiner jugenddicbtung die bühne als ein Schattenspiel bezeichnet —
natürlich nicht im sinne seiner späteren ästhetischen terminologie
— und das leben in der flüchtigkeit seiner erscheiiiungen mit ihm
vergleicht, zeigt Franzens monolog, Räuber IV 2 "die ganze schatten-
spielerei ist verschwunden*, ihre parallele finden die obigen verse
aus der 'melancholie* in der 'resignation' :
Der stille gott — o weinet meine brüder —
der stille gott taucht meine fackel nieder,
und die erscheinung flieht.
9. Kabale und Liebe, act V scene 1.
'Ich kann dir die inesser nehmen, du kannst dich mit einer
Stricknadel töten.' Schiller schwebte wohl hier die äuszerung der
Emilia Galotti vor: cvater, mir geben Sie diesen dolch.' — Odoardo :
*kind, es ist keine haarnadel.' — Emilia: fso werde die haarnadel
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
zumdolche! gleichviel.' ebenso läs/t dann Wagner in seiner 'kinder-
mörderin' (welche bekanntlich auf die Zeichnung des musikus Miller
und seiner frau von einflusz war), Evchen H umbrecht das kind mit
einer Stecknadel töten, dasz Lessing wohl an Hamlets worte
'with a bare bodkin' dachte, in denen er bodkin, das ebenso wohl
dolch wie nadel heiszen kann, im letzteren sinne nahm, bemerkt
R. M. Werner Leasings Emilia Galotti s. 74.
Die betreffende stelle der Emilia Galotti klingt noch in einer
ähnlichen Situation einer späteren dichtung Schillers wieder, als
Mortimer, anstatt sich an dem Verräter Leicester zu rächen, sich
selbst opfert, gebraucht er dieselbe Wendung wie Emilia in den un-
mittelbar vorhergehenden worten: 'dieses leben ist alles was die
lasterhaften haben' sagt Emilia, als sie ihren vater entschlossen
sieht, den prinzen zu töten; und ebenso ruft Mortimer aus: 'das
leben ist das einz'ge gut der schlechten' (Maria Stuart IV 4). wel-
chen eindruck Emilias todesscene auf Schiller gemacht haben musz,
zeigt auch der hinweis auf dieselbe in der unterdrückten vorrede zu
den Räubern, Goed. II 6.
In derselben scene von Kabale und Liebe äuszert Luise, als ihr
vater ihren brief an Ferdinand erbrechen will: 'wie er will, vater —
aber er wird nicht klug daraus werden, die buchstaben liegen wie
kalte leicbname da, und leben nur äugen der liebe.' Düntzer in
seinen erläuterungen bd. 16 (1878) 8. 210 erklärt dies in folgender
weise: 'sie hat gar nichts dagegen, als er den brief erbrechen zu
wollen erklärt, wobei sie seltsam genug (!) sich einredet, er werde
den brief nicht lesen können, da die buchstaben wie
leichen übereinander lägen.' wenn hier etwas seltsam ist, so
ist es Düntzers erklärung. Luise will natürlich sagen, dasz die buch-
staben nur 'tote zeichen' — wie Recha in Nathan dem Weisen
V 6 ganz ähnlich sich ausdrückt — für die empfindung seien, und
dasz nur derjenige, welcher dieselbe empfindung mitbringt, sie zum
leben erwecken und den inhalt des briefes völlig mitfühlen und ver-
stehen kann, denselben gedanken spricht Schiller in einer von ihm
oft citierten, für den Don Carlos bestimmten, aber in das drama nicht
aufgenommenen stelle aus:
Schlimm dasz der gedanke
erst in der worte tote elemente
zersplittern musz, die seele zum gerippe
verdorren musz, der seele zu erscheinen.
(so lauten die verse im brief an Lotte vom 24 juli 1789, etwas anders
in den briefen an Körner vom 15 april 1786 und an W. v. Humboldt
vom 1 februar 1796.)
(schlusz folgt.)
SOHULPPORTA. GU8TAV KETTNEB.
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ZWEITE ABTEILUNG
FÜR GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AÜB8CHLÜ8E DEB CLA8SI8CHBN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. HERMANN MaSIUS.
55.
DIE DEHNUNG DES SYNTAKTISCHEN UNTERRICHTS
IN DEN ALTEN SPRACHEN.
Unter den vorwürfen, welche gegen die höheren schulen in den
letzten jähren laut geworden sind, nimmt ohne zweifei eine hervor-
ragende stelle die behauptung ein, der altsprachliche Unterricht
werde an denselben zu grammatisch erteilt, und zwar sind es
nicht blosz die umsturzmänner auf dem gebiete der pädagogik,
welche sich in diesem sinne äuszern ; auch zahlreiche Verteidiger der
bestehenden schuleinrichtungen haben diesen Vorwurf erhoben oder
wenigstens als einen bis zu einem gewissen grade berechtigten an-
erkannt, es ist daher wohl angezeigt, dieser anklage etwas schärfer
ins gesicht zu sehen.
Verfolgt man die zur erhärtung derselben vorgebrachten be-
gründungen, so stöszt man etwa auf folgende sätze: 1) es wird zu
viel an grammatischem stoff geboten, 2) die schriftstellerlecttire wird
zu grammatisch betrieben, 3) auf die einübung der grammatischen
regeln durch schriftliche Übungen wird zu viel zeit und kraft ver-
wendet, 4) der betreffende Unterricht, zumal der syntaktische, wird
ungebührlich gedehnt.
Der ersterwähnte Vorwurf wird, wie die Verhältnisse neuer-
dings liegen, als unbegründet abzuweisen sein, die zeit der dick-
leibigen grammatiken und Stilistiken ist für den schulbetrieb vorüber,
dem anfangsunterricht in beiden alten sprachen werden fast allgemein
kleine hilfsbücher zu gründe gelegt, welche fernliegendes und un-
regelmäsziges, soweit möglich, ganz ausschlieszen und das trockene
regelwerk auf ein geringes masz beschränken, die schulgrammatiken
aber werden von jähr zu jähr gedrängter, um nicht zu sagen dürftiger,
hunderte von einzelheiten der formenlehre und syntax, mit welchen
frühere geschlechter sich unweigerlich herumschlagen musten, sind
aus jenen ganz verschwunden, damit die liebe jugend, welche alle
N.jahrb. f.phil.a. pid. Il.tbt. 1891 hfl. 12. 37
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578 Die dehnung des syntaktischen Unterrichts in den alten sprachen.
weit jetzt als so schonungsbedürftig hinzustellen beliebt , ja nicht
ohne not strapaziert werde , haben fleiszige gelehrte sämtliche
griechische und lateinische rschulschriftsteller' mit rück sieht darauf
durchgearbeitet, welche der von den gangbaren schulgrammatiken
aufgeführten grammatischen besonderheiten in ihnen gar nicht oder
selten vorkommen, und auf grund dieser ermittel ungen haben die
Verfasser der neuesten schulgrammatiken wetteifernd sich bemüht,
bailast auf bailast über bord zu werfen, sunt certi denique fines.
geht man weiter auf diesem wege fort, so hört schlieszlich aller
gründliche Schulunterricht auf oder es müssen den reiferen schülern
zu ihrer selbstbelehrung nachschlagebücher neben den eingeführten
grammatiken in die hand gegeben werden, anstatt vieler beispiele
nur eins aus der lateinischen grammatik. in der zehnten aufläge von
Zumpt (1850) spukt noch die alte reimregel, welche 38 masculina
der dritten declination auf is aufführt, darunter Wörter wie glis,
mugilis, follis, scrobis, um schlimmeres nicht zu erwähnen. Holz-
w eis 8 ig (1889) und Steg mann (1889) haben von jenen 38 Wör-
tern 22, bzw. 23 gestrichen, Landgraf (1891) bietet nur 12,
Waldeck (1891) sogar nur noch 6. entsprechend ist bekanntlich
in allen abschnitten der lateinischen grammatik neuerdings stark
'gelichtet' worden, und im griechischen ist es nicht anders, als
älterer mann schüttelt man schier den köpf, wonn formen wie otöiGi.
rfcoucGrrv, ityr|8nv, cuveiXoxct, £br|boKa, die einem von früher her
so geläufig sind, von mancher neueren grammatik kaum in einer
anmerkung erwähnt werden, so lange der schüler von seinen lehrern
gegängelt wird und die ausgetretenen bahnen der gangbaren schul-
leetüre verfolgt, geht es ja ganz leidlich mit den neumodischen schul»
grammatiken. sowie er aber einmal, um zunächst vom latein zu
reden , einen schritt über den bereich der schulschriftsteller hinaus-
thut, in einem lateinisch geschriebenen buche aus der zeit unserer
groszväter blättert oder eine lateinische inschrift an einem älteren
gebäude zu entziffern sucht, dürfte er inne werden, wie lückenhaft
und unsicher sein in der jetztzeit erworbenes grammatisches wissen
ist. genug, noch weitere stoffabwerfung kann unseres erachtens nur
zur bedenklichsten ungründlichkeit führen.*
Der zweite Vorwurf, dasz die schriftsteiler zu grammatisch be-
handelt würden , ist in der letzten zeit bis zum überdrusse erhoben
worden, die höhere schule steht ihm gegenüber ziemlich wehrlos
da. denn erstens ist nicht ganz klar, was damit gemeint ist, und
* von den grundsätzlichen gegnern der latein und griechisch be-
treibenden schulen wird aus 'taktischen* gründen natürlich davon
geschwiegen, dasz die jetzt gangbaren schulgrammatiken der beiden
alten sprachen nur ein zehntel von dem lernstofie bieten, welcher > he -
dem der lernenden jugend zugemutet wurde, und doch liegen die d nge
jetzt so, dasz dem gyranasiasten fernliegende einzelheiten des Sprach-
gebrauchs leicht viel mehr in seiner französischen grammatik entgegen-
treten als in seiner lateinischen und griechischen, selbst wenn diese
französische grammatik die f kurzgef aszte' von K.Plötz sein sollte.
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Die dehnuüg des syntaktischen Unterrichts in den alten sprachen. 579
•
dann ist niemand vorhanden , der die berechtigung jener im allge-
meinen erhobenen anklage auf grund ausreichender Sachkenntnis
anzuerkennen oder abzuweisen vermöchte, klar ist von vorn herein,
dasz die gründliche behandlung eines Schriftstellers, er heisze Caesar
oder Tacitus, Ovid oder Horaz, ohne gelegentliche herbeiziebung
grammatischer fragen ebenso undenkbar ist, als eine schulmäszige
lectüre von Moliere oder Shakespeare ohne grammatik. es kann sich
somit nur um den grad handeln, in dem das grammatische beachtet
und betont wird, dasz es unter den lehrern an höheren schulen, wie
unter allerhand menschen sonst, trockene leute gibt, denen das
kleinste und kleinlichste Uber gebühr freude macht, ist von vorn
herein anzunehmen, aber die schulbehörden von ganz Deutschland
haben zum öfteren seit 1870 sich gegen die überwiegend gramma-
tische behandlung der schriftstellerlectüre in den oberclassen erklärt,
die jetzt gangbaren erklärenden Schulausgaben verführen im allge-
meinen nicht zu einer übermäszigen betonung des grammatischen,
nach ausweis der schulprogramme werden heutzutage von den schul-
schriftstellern ungleich umfänglichere abschnitte als früher im classen-
unter nebte bewältigt, nach alledem kann kaum angenommen werden,
dasz der misbrauch der schriftstellerlectüre zu einseitig gramma-
tischen zwecken in dem masze besteht, wie man dies nach der schärfe
der dahin gehenden häufigen anklagen anzunehmen verführt sein
könnte, dasz ältere schüler diesen Vorwurf gegen ihre lehrer häufig
erhoben haben und bis zur stunde noch erheben, glauben wir gern,
eine auslegung, welche auf genauestes Verständnis der einzelnen
sprachlichen Wendungen wie der gedankenzusammenhänge dringt,
wird dem phantasievollen Jüngling, um von dem blasierten gar nicht
zu reden, immer unbequem sein, sehr leicht wird derselbe daher
über trocken-philologische behandlung klagen, auch dann, wenn der
Unterricht bezüglich des genauen erfassens des gelesenen nur durch-
aus billige anforderungen stellt.
Wesentlich beachtlicher erscheinen mir die oben unter 3 und
4 aufgeführten ein Wendungen , welche füglich zu einer, wenigstens
für den vorliegenden zweck, zusammengefaszt werden können, indem
ich dies ausspreche, bin ich mir bewust, auf strittiges gebiet meinen
fusz zu setzen, musz auch verschiedentlicher misdeutungen gewärtig
sein, der ernst der läge, in der sich das höhere Schulwesen jetzt
befindet, hilft mir aber über diese bedenken hinweg, so hoch ich
auch den wert der sprachlichen, insbesondere der altsprachlichen
schulstudien veranschlage, so entschieden hege ich , und zwar schon
seit langen jähren, die Überzeugung, dasz wir Deutschen dazu
neigen, die bildende kraft des grammatischen Unterrichts zu über-
schätzen, 'grammatik ist angewandte iogik', f wer gut grammatisch
geschult ist, hat klar denken gelernt', diese und ähnliche sätze hat
man noch unlängst im schulstreite von hochachtungswerter seite
aussprechen hören, gern gebe ich zu, dasz zur allseitigen Schulung
und geschmeidigmachung des geistes nichts wirksamer sein kann
37*
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580 Die dehnung des syntaktischen unterrichte in den alten sprachen.
als viele jähre lang gründlich betriebene Übungen im übersetzen aus
einer spräche in die andere, verbunden mit der auslegung bedeuten-
der fremdsprachlicher meisterwerke ; nicht minder lege natürlich auch
ich einen groszen wert auf diejenige einsieht in den eigenartigen bau
einer spräche, welche die grammatik vermittelt, nur soll man dieser
letzteren — ich spreche nur von derauf schulen betriebenen gram-
matik — nicht mit lobsprüchen, wie ich sie eben angeführt habe,
einen nimbus geben wollen, den sie nicht verdient, indem der
mensch denkt und seine gedanken zusammenhängend äuszert, voll-
zieht er unbewust logische processe. er sucht seine Vorstellungen
zu begriffen abzuklären, er urteilt, er schlieszt, er verbindet schlusz-
reihen zum beweis usw. was aber die grammatik anbelangt, welche
der spräche ja doch gegenübersteht wie ein herbarium der leben-
digen pflanzenweit, so bin ich völlig auszer stand, deren logischen
gehalt sonderlich hoch zu veranschlagen, die denkbezieh ungen,
welche für den menschlichen geist bestehen zwischen ding und eigen-
schaft, dem teil und dem ganzen, der Ursache und Wirkung usw.
lassen sich selbstverständlich, soweit dies die mühe lohnt, auch auf
syntaktischem gebiet verfolgen ; nichts hindert, die b9sprechung ge-
wisser Spracherscheinungen nach den Schablonen der logischen Urteils-
lehre zu ordnen, wenn man dies irgendwie für ersprieszlich erachtet.
Was die spräche aber beherscht, sind nicht die reinen denk-
formen, sondern die sinnlichen grundanschauungen und, so
weit geistiges zum ausdruck kommen soll, poetisch -bildliche auf-
fassungen. den einen wie den anderen nachzugehen ist ebenso
interessant als vielseitig bildend, dadurch erst erhält das, was
die grammatik unter ihren zusammenfassenden trockenen rubriken
aufführt, leben und rechtes licht, zieht man dazu noch die wort-
bildungslehre, die Sprachgeschichte, die Volkssprache herbei, so erhält
man für hunderterlei dinge befriedigende erklärungen, welche sonst
als willkürlichkeiten erscheinen müssen, dasz die dickleibigen gram-
matiken früherer zeit, die von Zumpt, Buttmann, Thiersch
u. a., es sich angelegen sein lieszen , die Spracherscheinungen nicht
nur aufzuführen, sondern bis zu einem gewissen grade aus der ge-
schiente der spräche heraus zu erklären, hat dem anfänger, der nach
ihnen unterrichtet wurde , manche herbe pein bereitet; aber solch*
ein buch sorgfältig durchgenommen zu haben war auch ein erheb-
licher gewinn für die ganze geistige entwicklung. je kürzer, kate-
chi sinusartiger unsere schul Grammatiken werden, je mehr (und zwar
aus guten pädagogischen gründen) das leben aus ihnen weicht, wel-
ches in der fülle der verschiedenartigen einzelheiten liegt, um so
rascher gelangt einerseits der anfänger zur kenntnis der für den
nächsten gebrauch unentbehrlichsten haupt- und grundregeln, um so
geringer wird aber anderseits die bildende kraft der von ihm be-
triebenen grammatischen arbeit, das bekannte wort : 'die grammatik
bietet keine gesetze, sondern nur Zusammenfassungen gleicher
oder ähnlicher erscheinungen und daraus gezogene geböte wie
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Die dehnung des syntaktischen Unterrichts in den alten sprachen. 581
verböte' musz voll berechtigt erscheinen gegenüber behandlungen
der hauptsächlichsten Spracherscheinungen, welche es in erster linie
auf kürze und bequeme Übersichtlichkeit anlegen, wenn in einer
lateinischen syntax, um ein beispiel anzuführen, unter der rnbrik
'dasz-sätze' oder, wie man sie sonst bezeichnen mag, infinitiv, parti-
cipium, quod, ut, quin, quominus nach einander aufgeführt werden
mit den erforderlichen gebrauchsanweisungen, so wird sich vom
praktischen Standpunkte aus dagegen nichts einwenden lassen, aber
jede dieser ausdrucksweisen hat ihre eigenartige entstehung und be-
sondere geschichte. dadurch, dasz sie, so zu sagen, als synonyma
neben einander aufgeführt werden, wird das wahre wesen jeder ein-
zelnen unleugbar verdunkelt und schiefen auffassungen Vorschub
geleistet.
Man könnte sagen: je mehr unsere scbulgrammatiken von einzel-
heiten, insbesondere von ausnahmen entlastet werden, um so maje-
stätischer, nicht von Schnörkeln entstellt, tritt dem lernenden der
auf bau des ganzen entgegen, um so mehr kann der vereinfachte
lernstofF zu denkübungen aller art ausgenutzt werden, das wäre
sicher richtig, wenn die spräche überwiegend angewandte logik
wäre; dies aber haben wir bereits oben in abrede gestellt, ein
systematiker, der die absieht verfolgt, den unsäglich manigfaltigen
und dehnbaren usus einer ausgebildeten spräche in ein regelwerk
zu zwängen, musz demselben bis zu einem ziemlichen grade ge walt
antbun, je kunstvoller gegliedert dieses ist, um so mehr, wie hat
man sich bis auf diese stunde gemüht, die casus-, tempus- und
moduslehren der verschiedenen sprachen aus gewissen einfachen
grundgedanken schematisch herzuleiten 1 welchen fund meinte man
seiner zeit gethan zu haben, als man für die nebensätze die getrennte
aufführung der Substantiv-, adjectiv- und adverbialsätze ausgeklügelt
hatte, für die tempora die Unterscheidung von zeitart und zeitstufe,
selbständigem und bezogenem gebrauch usw. sowie man aber daran
gieng, den lebendigen Sprachgebrauch in diese netze einzufangen,
überzeugte man sich, dasz wesentliche stücke desselben zwischen
den maschen durchglitten, was ist nicht alles gesammelt und theo-
retisiert worden über die consecutio temporum im lateinischen! und
noch in diesen tagen klagt Landgraf in den litteraturnach weisen
zu seiner schulgrammatik (s. 36), dasz kein capitel der spräche
proteusartiger sei als dieses, was hat man für aufhebens aus den
bedingungssätzen, zumal im griechischen, gemacht, als handele es
sich dabei um die verschiedensten und schwierigsten denkfragen,
während für die logik sogar die beiden grundformen 'wenn A ist,
so ist B' und 'wenn A wäre , so wäre B' zusammenfallen , insofern
hier wie dort nichts anderes ausgesagt wird, als das bedingtsein von
B durch A.
Alles das werde beileibe nicht so aufgefaszt, als sei einsender
den grammatischen Studien abhold oder wisse diese nicht gebührend
zu schätzen, das gegenteil ist der fall, aber gerade weil er sie zu
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582 Die dehnung des syntaktischen Unterrichts in den alten sprachen.
schätzen weisz und sein lebelang eifrig betrieben hat, will er nicht,
dasz man jede kürzung des schulgranimatik-unterrichts als eine
einbusze, wohl gar gleich als eine schwere einbusze ansehe, welche
die lernende jugend erleide, die klage, dasz der syntaktische Unter-
richt der mittelclassen in beiden alten sprachen zu sehr gedehnt
werde, ist eine oft erhobene und meines erachten* eine durchaus
berechtigte.
Welchen nutzen kann es bringen, mit dem dürftigen gerippe
von syntax , welches unsere neueren schulgrammatiken bieten , sich
jahrelang in ein paar wochenstunden herumzuschlagen? eine ein-
sieht in das wesen der meisten syntaktischen erscheinungen lfiszt
sich auf grund des kärglichen Stoffes, welchen jene bücher bieten,
schlechterdings nicht erzielen, dazu müste zurückgegangen werden
auf die anfange der spräche, die grundbedeutungen der Wörter, müste
volkstümliches, dichterisches, nachclassisches herbeigezogen, müste
— kurz gesagt — alles das wieder beigebracht werden, was die
neueren Schulbücher mit mühe ausgeschieden haben, oder will man
philosophieren über die grundanschauungen , auf denen die casus-,
tempus-, moduslehre ruht? dabei kommt wenig genug greifbares
und für die jugend nutzbares heraus; dazu läuft man noch beständig
gefahr, die zu behandelnde spräche in ein Prokrustesbette zu spannen.
Dasz die unerläszliche mündliche und schriftliche einübung des
in der grammatikstunde gelernten ein gewisses masz von zeit in
anspruch zu nehmen hat, ist selbstverständlich, aber dieses musz
im Verhältnis stehen zu dem umfange des behandelten grammatischen
Stoffes, etwas anderes ist es doch, ob im griechischen die lehre vom
artikel, vom genus verbi, von den präpositionen usw. nach K. W.
Krüger oder Härtel, nach Buttmann oder Gerth behandelt
worden ist. erforderlich ist freilich, dasz neben kurzgefaszten gram-
matiken auch die entsprechenden Übungsbücher im gebrauche sind,
sonst treten durch das Übungsbuch alle die knaupeligen einzelheiten
des Sprachgebrauchs an den anfänger heran, welche der Verfasser
der Schulgrammatik aus guten gründen demselben hat zunächst er-
sparen wollen.
Man wende nicht ein, dasz die gründlichkeit der grammatischen
Schulung durch eine kürzung und beschleunigtere durchnähme der
syntax einbusze erleide, in früheren jahrzehnten hat man es erprobt,
wie viel bei einer gedehnten, alle einzelheiten gewissenhaft mit-
nehmenden behandlung herauskommt man hat sich überzeugt, dasz
dem lernenden dabei dumm im köpfe, dasz er dabei zudem das
bedrückende geftihl nicht los wird, als sei er, wohin sein blick sich
auch wende , von zahlreichen engmaschigen regelnetzen umspannt
dasz man diese erfahrung vielfältig gemacht hat, wird am besten
durch die thatsache bezeugt dasz an zahlreichen schulen schon früher
neben den umfänglichen schulgrammatiken kurze, nur wenige bogen
umfassende Übersichten über die syntax — geschrieben oder ge-
druckt — im gebrauche waren.
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Die dehnung des syntaktischen Unterrichts in den alten sprachen. 583
Jetzt will man es nun anders machen, man will als lernbücher
kurze abrisse benutzen und ausführlichere grammatiken nur als
nachschlagebticher in den händen oberer schüler sehen, der zu-
sammenhängende Unterricht in der grammatik soll nur das unerläsz-
liebste, gleichsam das gerippe geben, die fülle der einzelheiten,
welche sich in den früheren schulgram matiken so breit machte, soll
— so weit dies im einzelnen falle überhaupt nötig erscheint, — erst
dann zu gelegentlicher besprechung kommen , wenn ein bestimmter
anlasz gegeben ist.
Will man dieses verfahren ungründlich nennen, so thue man
es. ich finde es nur vernünftig und saebgemäsz. was soll dem an-
fanger, der eben erst im allgemeinen orientiert und mit den nötigsten
gebrauchs regeln versehen werden soll, der hinweis auf einzelfälle,
die ihm zunächst ganz fern liegen, auf mögliche Verwickelungen
unter den oder jenen Voraussetzungen, welche erst künstlich an ihn
herangebracht werden müssen? aber auch sachlich ist es gerecht-
fertigt, wenn syntaktische einzelheiten erst dann besprochen werden,
sobald ein praktischer anlasz dazu vorliegt, d. h. vornehmlich dann,
wenn sie bei der classenlectüre vorkommen, treten sie doch erst dann
in das rechte licht, manches an sich befremdliche erscheint nicht
auffällig in dem oder jenem Zusammenhang, findet ausreichende er-
klärung in dem gedachten oder ausgesprochenen gegensatze, in
nebengedanken, die dem schriftsteiler vorschweben, in angleichun-
gen der einen ausdrucksweise an die andere, in der gewählten stil-
gattung, in einer gewissen manier des Schriftstellers usw. so erklären
sich z. b. zahlreiche Sonderbarkeiten in bezug auf tempus-, modus-
gebrauch , consecutio temporum usw. , welche aus dem Zusammen-
hang gerissen, befremdlich erscheinen müssen, ziemlich leicht in und
aus demselben, hier verstattet sich der Schriftsteller mit oder ohne
bewustsein dichterische freiheiten, dort beliebt es ihm im altertüm-
lichen stil oder im trocknen geschäftsstil zu schreiben, hier wagt er
eine ganz ungewöhnliche ausdrucksweise um einer bestimmten red-
nerischen Wirkung willen, dort verliert er den faden des strengen
satzbaus oder läszt ihn absichtlich fallen , um den eindruck volks-
tümlicher zwanglosigkeit zu machen, genug, die volle, zutreffende
erklärung finden die meisten grammatischen curiosa erst im zu-
sammenhange der rede, die persönliche gepflogenheit und liebhaberei
der einzelnen Schriftsteller spielt auch in syntaktischen dingen eine
gröszere rolle, als der nicht-kenner anzunehmen geneigt ist. wie
grosze Verschiedenheiten bestehen unter nahezu gleichzeitigen grie-
chischen Prosaikern bezüglich des gebrauchs des artikels, der prä-
positionen, der genera verbi! fast noch mehr gilt dies von den
römischen Prosaschriftstellern, was conjunetivgebrauch und con-
secutio temporum anbelangt, so ist man bekanntlich berechtigt, von
bestimmten eigentümlichkeiten der Ciceronianischen rede zu sprechen,
gewisse grenzlinien in bezug auf den gebrauch einzelner pronomina,
Präpositionen, einzelner infinitiv- und participialconstructionen halten
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584 Die dehnung des syntaktischen Unterrichts in den alten sprachen.
nur Cicero und Caesar annähernd gleich streng ein. andere syntak-
tische gebrauchsweisen finden sich vorhersehend bei Sallust, Livius,
Tacitus. wenn somit das meiste von dem, was die älteren gramma-
tiken in ihren reichlich bemessenen anmerkungen zu bieten pflegten,
erst bei behandlung der einzelnen Schriftsteller das rechte licht er-
hält, ist. es nicht auch sachlich gerechtfertigt, derartiges im anschlusz
an die leetüre zu behandeln?
Aber verfällt man damit nicht aus einem übel in das andere,
wenn man die zusammenhängende grammatische Unterweisung be-
schränkt und dafür die leetüre mit grammatik belastet? wir ver-
kennen nicht, dasz dieser einwand gewichtig ist und nicht leichtbin
zu beseitigen, er verliert aber bedeutend an schärfe, wenn man
unterscheidet zwischen der ganzen in jeder woche für die schrift-
stellerlectüre zur Verfügung stehenden zeit und den halben oder
ganzen stunden, in denen zusammenhängend übersetzt wird, die
Übersetzung, sobald sie einmal im gange ist, wünschen auch wir
durch nichts fremdartiges unterbrochen zu sehen, durch gramma-
tische so wenig wie durch antiquarische , geschichtliche, ästhetische
und sonstige bemerkungen. hat der schriftsteiler einmal das wort,
so werde er gehört ohne Zwischenrufe und zwischenreden, wird aber
ein abschnitt im voraus oder nachträglich besprochen nach inhalt,
gedankenzusammenhang, vorkommenden sachlichen und sprachlichen
einzelheiten, so ist die grammatik wohl ebenso berechtigt zu worte
zu kommen wie mythologie, altertümer und litteraturgesebichte.
den schreiern auf dem markte ist das natürlich nicht einleuchtend,
soweit diese überhaupt von griechischer und römischer schriftsteller-
lectüre noch etwas wissen wollen, vergönnen sie derselben nur in
soweit bis auf weiteres das gnadenbrot, als dieselbe in rden geist
des alter tu ms einführt', politische, nationalöconomische und ästhe-
tische Weisheit lehrt, man braucht aber nur ein paar hundert verse
von Sophokles, einige capitel des Tacitus im urtext ordentlich ge-
lesen zu haben, um zu der einsieht zu kommen, dasz keiner der be-
zeichneten schätze sich ohne scharfes sprachliches Verständnis heben
läszt, dieses aber nicht möglich ist ohne einen festen grammatischen
grund.
Wir täuschen uns darüber nicht, dasz der eben ausgesprochene
satz von der unentbehrlichkeit des festen grammatischen grundes so
ausgebeutet und an die spitze gestellt werden kann, dasz der ganze
unfug vergangener Zeiten unter dieser losung sich wieder einstellt,
aber welcher pädagogische satz liesze sich nicht gröblich misver-
stehen, so dasz das heil zum unheil verkehrt wird? uns kam es nur
darauf an, der neuerdings so oft und so zuversichtlich ausgesproche-
nen bebauptung entschieden entgegenzutreten, die grammatik —
soweit man sie Uberhaupt noch leiden mag — sei jedenfalls mit den
mittelclassen abzutbun, so dasz die oberclassen, unbehindert durch
solche fesseln, im geiste der autoren schwelgen könnten, das letztere
erklären wir einfach für unmöglich, wenn man nicht unter dem
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Die dehnung des syntaktischen Unterrichts in den alten sprachen. 585
'geist der autoren' schöne redensarten über diese autoren und das
von ihnen behandelte versteht.
Zum glück bedarf es aber auch für einen gereiften schüler, der
im regelmäszigen spracbgebrauche gut geschult ist, nicht langer, ins
einzelne gehender ausftthrungen, sondern nur einzelner wohlerwoge-
ner winke , um denselben in die sprachliche eigenart eines Schrift-
stellers einzuführen, es ist durchaus nicht nötig, ja nicht einmal
erstrebenswert, dasz dem schüler alles neue, was bei einem schrift-
steiler an sprachlichen erscheinungen ihm entgegentritt, auch klar
bewust wird, sind ihm nur einige gesichtspunkte gegeben , unter
denen er die eigenart eines autors sich zurecht legen kann, so ist
ihm im wesentlichen geholfen, hat er seiner zeit achtsam seinen
Sali u. <t und Vergils Aeneide gelesen, so wird er bei einigen nach-
helfenden winken sich ohne zweifei rasch in die werke des Tacitus
einlesen und diese in nicht zu langer zeit auch nach der sprachlichen
seite genügend zu erfassen wissen, auch in die abweichungen der
Homerischen wie der Sophokleischen syntax von der der attischen
Prosaiker pflegen sich erfahrungsmäszig schüler leicht hineinzufinden,
wenn ihnen nur ein dann und wann eingestreutes ttukvöv £ttoc des
lehrers den rechten weg weist.
Dazu, dasz die lectürestunden mit grammatik nicht übermäszig
behelligt werden, können aber auch — was bis jetzt noch gar nicht
erwähnt worden ist — die schriftlichen Übungen erheblich beitragen,
es ist gar nicht anders möglich, als dasz aus anlasz derselben vielerlei
besprochen wird, was über den bereich der schulgrammatik hinaus-
liegt, neben lexikalischem, synonymischem und stilistischem musz
dabei auch grammatisches aller art zur erörterung kommen, sicher
aber wird es sich so einrichten lassen, dasz alles für Bchüler nötige
von grammatischen dingen, was die schulgrammatik nicht bietet,
bei der lectüre und bei den schriftlichen Übungen nach und nach
zur spräche gebracht wird, ohne dasz die idealen aufgaben des latein-
unterrichts dadurch beeinträchtigt werden, den kreis des für schüler
nötigen wird man zudem erheblich enger ziehen dürfen, nachdem in
den meisten deutschen Staaten die vielgeschmähten freien lateini-
schen aufsätze beseitigt und die Übersetzungen ins griechische er-
heblich beschränkt worden sind ; manches wird fortan unbedenklich
dem Sprachgefühl überlassen werden können, was bisher durch-
gesprochen und eingeübt werden muste.
Die einsieht, dasz unsere mittelclassen — alle drei fremd-
sprachen zusammengerechnet — bis jetzt mit viel zu viel grammatik
gefüttert worden sind, gewinnt erfreulicherweise auch in lehrerkreisen
immer mehr boden. das gute hat wohl die Schulreformbewegung,
welche nach anderen Seiten so viel unheil gestiftet hat, gewirkt,
dasz man zwischen den beiden extremen, dem überladen der jugend
mit grammatik und dem beiseiteschieben aller systematischen gram-
matischen Unterweisung einen verständigen mittelweg suchen wird.
Dresden. Theodor Vogel.
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586 Die lat casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
(48.)
DIE LATEINISCHE CASüSSYNTAX
AUF GRUNDLAGE VON CAESAR (BELL. GALL. I— VII)
UND NEPOS.
(schlusz.)
D. Ablativus. 16
Der eigentliche ablativ auf die frage woher?
1) die verba der trennung abesse, cedere u. a.
abesse a (bei personen; Sachen in räumlicher oder zeitlicher be-
deutung; in übertragener bedeutung wie VI 3, 5 ab consilio abesse
sich nicht beteiligen an) 28 mal; in toto abessent hello , VII 63, 7
ist der abl. nicht, wie Heyn, will, abhängig von abesse, sondern abl.
temporis. zu abesse c. dat. (I 36, 5) vgl. Kr.-Dtt. — absistere a 1;
abire e conspectu 1 ; abstinere proelio 1 , a mulieribus VII 47, 5
(a fehlt ß); avertere a 4; abstrahere a III 2, 5; abdere (entfernen) a
VII 79, 2; also die composita mit a wiederholen die präposition,
namentlich örtlich ; nur abstinere proelio ; vgl. Nep. Ages. 2, 5 (se
abstinere cibo). im b. civ. averto a 5; abl. III 21, 5.
cedo loco 1 ; auch b. civ. so 2 ; cedere ex VII 80, 8. — III 5, 3
commovere se ex loco (so «); jedoch steht bei Caes. commovere nur
in übertragener bedeutung, fast immer im passiv; vgl. Schneider
JGW. 1885 s. 156; also lies mit ß movere, vgl. b. Gall. II 31, 3;
b. civ. III 92, 1; II 17, 2; 17, 3. — continere suos a proelio 1; se
convertere ab aliquo 1.
Composita mit de: decedere de örtlich 2; decidere equo 1; de-
currere ex montibus III 2, 4; deducere örtlich: de V 51, 2 (TU e
vallo); ex I 44, 11; IV 30, 2; VII 81, 6; 87, 4; 87, 5; deficere
s. beim accusativ; deicere mit abl. 3 örtlich, 3 bildlich (spe u. a.);
deligere ex 7; demigrare de 1, ex 1; demittere de 1; bildlich animo
se d. VII 29, 1 ; deminuere de, einer sache abbruch thun 3 (de bene-
volentia, voluptate, iure); depello c. abl. 3 local; derivare aquam ex
flumine 1 5 desilire de 1; ex 5 (equis, navi, essedis); desistere c. abl.
16 Heynacher hat den ablativ am ausführlichsten behandelt, fast
überall gibt er eine angäbe der einzelnen stellen; aus rauraersparnis
werde ich mich also kürzer fassen können, im allgemeinen werde ich
mich damit begnügen, in zahlen anzugeben, wie oft die einzelne erschei-
nung bei Caes. sich findet; dennoch bedarf das betreffende capitel bei
Heynacher mancher ergänzungen und berichtigungen. — Die ansichten
über eine praktische gruppierung der einzelnen Unterarten innerhalb
des dreigeteilten ablativus scheinen vielfach verschieden zu sein. vgl.
auszer den grammatiken z. b. Lattmann, progr. Clausthal 1885 s. 36;
v. Kobilinski ZGW. 1886 s. 714; Fügner JP. 1887 s. 113. grundlegend
ist bekanntlich Delbrücks schrift 'ablativ, localis, instrumeutalis im alt-
indischen' usw. Berlin 1867.
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Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos. 587
bildlich 8 (VII 12, 1 ab oppugnatione ß, vgl. b. civ. II 12, 3); de-
terrere ab consilio 1 ; detrahere de 1 : detrudere c.abl. örtlich II 21, 5
(ß detrabenda) ; statt deturbare de VII 81, 2 (ß auszer TH) ist wohl
mit PBMH, edd. proturbare zu lesen, darauf weist hin perturbare
BT; deturbare ex VII 86, 5.
Composita mit ex: educere copias castris 2, sonst ex castris
(hibernis, finibus, oppido) 18 mal; efferre domo I 5, 3; egredi c. abl.
local 5 (IV 21, 9 hat TU ex nave), ex 14 mal (e castris u.a.); eicere
domo 1; sonst 5 mal se eicere ex oppido u.a.; elabi ex proelioV37, 7
(so ß; lapsi or, Nipperdey); elicere ex 1; eligere ex 1; eminere ex 1,
vgl. VII 73, 3 (ab ramis); emittere c. abl. 2, ex 3; eripere ex 3
(manibus, periculo); erumpere ex 1; evadere ex fuga 1; evocare
Tolosa III 20, 2; evolare ex 2; excedere c. abl. örtlich 10 mal, sogar
GalliaVII 66, 3 (vgl. b. civ. I 27, 2; II 32, 3 Italia); ex 6; excellere
ex ceteris VI 13^9; excludere a re frumentaria VII 56, 9 (a fehlt
LTUV), a navigatione V 23, 5 (a fehlt /?); exire domo 3; ex 3;
de finibus 1 ; expellere c. abl. local 6; ex 3; exponere ex navibus 1 ;
exstare ex aqua 1.
intercluderealiquem frumento, reditu u.a. 6; intercludere fugam
alicuius 1; itineribus interclusis 2, commeatu intercluso 1; i. ab
exercitu 1 , a praesidio 1 ; interdicere alicui aliqua re 3 (1 aqua
et igni).
labi spe 1; levare aliquem hibernis 1 ; liberare obsidione u.a. 3.
movere ex I 15, 1 ; III 15, 3; VII 8, 5.
praecipitare de muro VII 33, 1 (so 0; muro a); procedere ab
Alesia VII 80, 9 ; procurrere ex V 44, 6 ; prodire ex VI 38, 2 ; pro-
ducere ex VII 45, 2; profugere 3; progredi ex 2; prohibere com-
meatu, pugna 15; pr. aliquem ab iniuria II 28, 3; V 21, 1 ; VI 23, 9
(a fehlt T L H S) ; a pugna IV 34, 4 ; ab oppidis vim hostium I 1,14;
zu VI 10, 5 vgl. Kr.-Dtt., Db.-Dtt. ; vgl. defendere aliquem ab in-
iuria 2; vgl. VII 23, 5; se def. ab aliquo 2; se proicere ex 1; pellere
ex 1; proturbare de 1.
recedere ex V 43, 6; reducere a V 26, 3; VII 51, 4; 88, 5; ex
Britannia IV 38, 1 ; removere ex conspectu 1 ; a 2; repellere ab hac
spe 1 ; revocare ab agricultura III 17, 4.
solvere ex portu IV 28, 1 ; submovere ex 1, a 1.
Composita mit dis und se: differre ab 5 (V 14, 1 und VI 28, 5
fehlt a in a); dimittere aliquem a se*3; ex manibus, ex concilio 3;
discedere a castris, a Rheno, ab officio u. a. 16 ; oft a bei personen;
ex castris u. a. 4; discludere a VII 8, 2; dissentire ab VII 29, 6;
dividere a (bei geographischen bestimmungen) 7; separare a 1.
Resultat.
1) die composita mit a wiederholen die präposition, merke ab-
esse ; nur 1 mal abstinere proelio (Nep. 1).
2) selten gebraucht Caes. die verba simplicia pello (1 ex); cedo
(1 loco, 2 ex); moveo (1 ex).
Digitized by Gq^le^,
588 Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
3) composita mit de und ex: die composita mit de haben im
bildlichen sinne den bloszen abl. , merke desistere (8 mal), örtlich
steht der blosze ablativ 8; de 10 mal (de von herab, von weg); ex 2t
(heraus ; aber auch = von weg), die composita mit ex haben circa
30 mal den bloszen ablativ, ca. 65 mal ex. also die composita mit de
und ex wiederholen häufiger die präposition. Heynacher s. 68: 'mit-
hin wird der schüler am sichersten gehen, die präposition zu wieder-
holen, auszer bei expello, excedo.' es ist doch wohl nur zufall, dasz
einem 10 maligen excedere c. abl. entgegensteht 6 maliges excedere
ex; expello c. abl. 6; 3 mal ex. im b. civ. 4 expellere ex; 6 blosze
abl.; excedere ex 1; blosze abl. öfter, allerdings excedere auch bei
Cic, Liv. häufiger blosze abl. als ex, vgl. Schmalz s.v., Kühner s. 271
expellere, Schmalz s. v. 'wird von Cic. und Caes. mit abl. oder ex
verbunden'.
4) die composita mit dis haben a, merke discedere, differre,
divido; separare nur 1 mal.
5) andere mit prac , pro , sub, re zusammengesetzte verba wer-
den nach dem sinne mit a, de, ex verbunden.
Für Nep. vgl. Köhler s. 33 ff.
6) merke einzelne Wendungen: intercludere aliquem frumento,
reditu u. a. (intercludere Nep. 0); interdicere alicui aliqua re (C. 3,
Nep. Hann. 3, 2); prohibere aliquem commeatu hindern an (C. oft,
Nep. Hann. 3, 4 transitu); proh. aliquem ab iniuria schützen vor;
defendere aliquem ab schützen, verteidigen vor (C. 5, Nep. Them.
7, 4; Hann. 10, 5); desistere aliqua re (C. 8; Nep. Timoth. 2, 2 de
aliqua re); liberare obsidione C. 3, Nep. 7 (obsidione, poena, peri-
culo) ; deterrere a (C. 1 , Nep. Milt. 7, 4 [a deditione] , Dion 3, 3,
Dat. 4, 5); excludere a (C. 2, N. Them. 5, 1 reditu; Cic. blosze abl.
und a).
2) bezeichnung der herkunft: abstammend von, natus meist mit
bloszem ablativ (sowohl vom vater, als auch der mutter), seltener ex
(sowohl vom vater, als der mutter); ex notwendig beim pronomen:
also Mercurius Iove et Maia natus erat; ex nobis natos liberos appel-
lamus. vgl. Stegmann JP. 1887 s. 257 — 8. der locus classicus für
natus mit abl. Cic. nat. deor. 3, 42 — 60 (mehr als 40 belege), für
Caesar vgl. Heynacher s. 45, 4; für Nep. vgl. Köhler s. 27.
ortus a bezeichnet die entferntere abstammung; zur angäbe des
Standes natus (ortus) genere nobili.
Anm. natus gebräuchlicher als ortus, auch bei Caes.; genitus
kaum classiscb, Schmalz A. s. v.
3) der abl. separationis ohne präposition bei den verben :
a) liberare (C. 3, N. 7). C. nur noch levare V 27, 11 , N. 0;
solvo, ab-, exsolvo C. N. 0.
b) berauben: Heynacher s. 44. privo C. b. Gall. 0, N. 4; spo-
liare C. V 6, 5; VII 66, 5; N. Thras. 2, 6; Att. 9, 2; de-, exspoliare
C. je 1; nudare C. 3 (abs. vom lager noch II 23, 4; VII 70, 7),
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Die lat. caaussyntax auf grundiage von Caesar und Nepos. 589
N. Dat. 11, 1; exuere C. 4 (auch IV 34, 5 vermutet Menge für ex-
pulissent exuissent), N. 0.
Ell.-Seyff.'4 orbare, privare, spoliare, nudare;17 Stegmann fügt
exuere hinzu.
c) mangel haben: egeo C. VI 11, 4 c. gen. (b. civ. III 32, 4
abl.); N. 0; indigeo C. 0 (b. civ. II 35, 4 mit abl.), N. 4 mit gen.
(Cim. 4, 2; de reg. 3, 4; Hann. 1, 3; Thras. 2, 6), 3 mit abl. (Ages.
7, 2, Att. 9, 3; 21, 2). Stegmann JP. 1885 s. 235: egeo, indigeo
c. gen. nur vereinzelt; Schmalz A. s. v. indigeo: class. abl. seltener
als gen. — carere C. 2, N. 5; vacare C. N. 0.
muh is, orbus, inanis C. N. 0; liber ab aliqua re C. VII 56, 4,
N. Milt. 3, 4; liber ab aliqua re nach Stegmann a. o. o. s. 236 class.
vereinzelt (Cic. off. I 67); vacuus ab aliquo C. II 12, 2; VII 25, 4
(ab aliqua re b. civ. 2, auch Cic. nach Stegmann), N. 0.
4) opus est: mihi opus est aliqua re, dagegen haec, multa mihi
opus sunt. vgl. Stegmann JP. 1887 s. 252. vgl. Caes. I 34, 2;
II 22, 1 ; V 40, 6; vgl. I 42, 5 (si quid opus facto esset); hingegen
II 8, 5 quo = irgendwohin. Nep. Milt. 4, 3; Epam. 4, 2; Them.
1, 3, Att. 7, 1 ; vgl. Eum. 9, 1 (si quid opus sit facto).
5) ablativus limitationis : Heynacher 8. 34 — 35. dieser ablativ
steht a) bei den verben des Übertreffens, sich auszeichnens, vor-
ziehens, Vergleichens , gleichkommens : superare 3, antecedere 3,
praestare 3, praecedere 1, excellere VI 13, 9; — anteferre 1, prae-
ferre V 54, 5 ; — comparare VI 24, 6 ; — adaequare VI 12, 7; alicui
parem esse V 34, 2; VII 48, 4. b) nach comparativen ausdrücken:
VI 28, 1 (uri sunt magnitudine paulo infra elephantos); VII 65, 4;
I 43, 8 ; 3 mal maior natu, c) VI 15, 2 ut quisque est genere copiis-
que amplissimus; VI 27, 1 alces sunt mutilae cornibus; VII 77, 15.
oft steht ein abl. bei posse, valere, derselbe ist meistens instrumental
aufzufassen (z. b. I 9, 3; 20, 2; II 17, 4; VII 63, 2 u. a.), zuweilen
ist die auffassung als abl. limit. zulässig, II 17, 4; III 20, 3 ; V 3, 1;
' II 4, 5; I 51, 1 ; III 9, 6. — vgl. ausdrücke wie aliquem animo con-
firmare V 49, 4; II 21, 2; VI 5, 3; VII 30, 4 (confirmati Nipp.,
Kr.-Dtt.; consternati codd. Db.-Dt. u. a.) — animo permoveri VII
31,1; 53,1; animo paraü VII 19, 2; 19,5; 47,1. d) naturaVl3,l;
iudicio alicuius VI 1 1, 3 ; consensu VII 77, 4 (modal II 28, 2 ; 29, 5 ;
VII 4, 6; 15, 1); numero 7; natione 1; nomine 2. e) dignus und
indignus 3.
Stegmann rechnet hierher den abl. bei den verben des messens :
C. VI 18, 2.
Nep. Ages. 8, 1 Agesilaus altero pede claudus fuit u. a. (Köhler
17 die anwendnng der verba spoliare, orbare, nudare ist viel allge-
meiner als meist angenommen wird: spoliare verbindet Cic. mit bonis,
copiis, argento, beneficio; zu nudare vgl. Verr. V 184 (an bedeckung,
Schutz nicht zn denken); beim seltenen orbare fehlt der begriff des
teuersten bei objecten wie militibus, auxilio. vgl. v. Kobilin.sk i progr.
Königsberg i. Pr. 1890 s. 6.
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590 Die lat. casussyntax auf gruudlage von Caesar und Nepos.
s. 30. 35). merke nomine 3, cognomine 4, re vera 3, natione 2,
genere 1, natu (maior, maximus) 4 u. a.; opinione, iudicio je 1 ; der
abl. limit. bei iudicare praef. 3; Paus. 3, 7, Att. 13, 3; metiri tum.
1, 1; Att. 14, 3. dignus 7 (poena, laude, memoria), indignus 1.
dignari C. N. 0; auch Liv. Sali. 0; nach Stegmann JP. 1885
8. 236 bei Cic. nur or. 3, 25; de inv. 2, 114. 161 (dafür dignum
putari Mur. 16, iudicari Phil. 2, 32; off. 2, 36).
6) der abl. comparationis steht bei comparativen für quam mit
dem nom. und acc. ; zu vermeiden ist der abl. statt quam mit acc.
nur dann, wenn Zweideutigkeit entstehen würde. Stegmann JP. 1885
8. 234 — 35; 1887 s. 264. die Stegmannsche fassung dieser regel
auch Ell.-Seyff.-Fries84 (vgl. hingegen noch die fassung in der 30n
aufl.). vgl. Caes. IV 3, 3; VI 26, 1—VII 19, 5; VII 19, 1 (hier
abl. sogar statt des accusativs auf die frage wie breit?).
Nach plus, minus, amplius, longius fällt bei Caes. b.Gall.I— VII
quam stets weg vor zahl- und maszbestimmungen (ohne einflnsz auf
die construction) in allen casus: V 8, 6; VII 15, 1 ; 51, 4 — I 38, 5;
41, 4; II 9, 3 — II 16, 1; IV 12, 1; V 53, 7 — 06, 2; II 7, 3;
V 42, 5. jedoch setzt Caesar nach amplius, longius statt des accu-
sativs von zeit- und räum bestimm ungen (so II 16, 1; IV 12, 1;
V 53, 7) häufiger den ablativ: I 15, 5; 23, 1; II 7, 4; IV 11, 1 ;
VI 29, 4; VII 73, 6; III 5, 1 — I 22, 1; IV 10, 2; 11, 4; 1, 7;
VI 7, 2; VII 9, 2; 79, 1.
Anm. von Zeitbestimmungen amplius III 5, 1; longius IV 1, 7;
VII 9, 2; 71, 4 (vgl. Schmalz A. s. v. longe). Fischer I 44: 'longius
stets mit einer negation verbunden.' aber auch bei amplius steht
einige mal die negation, z. b. I 15, 5 ; I 23, 1 usw.
Der abl. comp, für quam qui und quam quem Caes. nur in einem
brief ad Att. X 8 (fr. 143, 3). Nep. nur Milt. 5, 5; Dat. 6, 8; Att.
15, 2; 18, 4 (besprechung dieser construction auf der mittelstufe
unnötig).
Einen verkürzten abl. bat C. b. Gall. I— VII nur II 3, 1 (celerius
omni spe), N. 0.
Für Nep. vgl. Köhler s. 32 — 33. Nep. hat nach amplius 3 mal
quam (Thras. 4, 2; Eum. 12, 4; Att. 13, 6), 8mal fehlt quam; im
übrigen der abl. comp, statt quam mit nom. und acc. 7 (auch Thras.
1,4? Nipp. «Lup.9 hic; Fleckeisen his; Koch -Georges lexic.6 hic).
Der ablativ als Vertreter des Instrumentalis.
Der abl. instrumentalis bezeichnet das 'materielle und geistige'
(Delbrück s. 58) Werkzeug, mit dem ein lebendes wesen eine hand-
lung vollbringt, dieser ablativ steht demnach in erster linie bei
transitiven verben; vgl. die zahlreichen beispiele bei Heynacher s. 30.
häufig sind bei Caes. Wendungen wie vadis 11 innen transire; fuga
salutem petere, se recipere; bello persequi; deterrere aliquem aliqua
re, castra vallo munire, praemiis (pollicitationibus u. ä.) aliquem ad
se allicere u. ä., consequi aliquid aliqua re; efficere; aliquid navibus
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Die lat. casussyntax auf grondlage von Caesar und Nepos. 591
vehere; armis confligere, multum posse aliqua re; vincere aliqua
re u. a.
Die mittel8person wird durch per 37 mal umschrieben (oft ali-
quid cognoscere, comperire per, aliquem certiorem facere per, von
mehreren personen). Nep. 11. — Umschreibung mit opera alicuius 4
(Nep. 8), vgl. II 14, 6; beneficio C. I 9, 3; 53, 7; V 52, 6; VII
20, 2; 41, 1; I 43, 5. Nep. 2 auzilio alicuius.
Insbesondere steht der abl. instrum. bei den verben :
a) anfüllen: C. complere 10; explere 4; repleo 1. Nep. com-
pleo Hann. 9, 3; oppleo Hann. 11, 6. impleo C. N. 0, oft Liv. Cic.
(vgl. Schmalz A. s. v.). C. N. refercio, onero, cumulo 0. ttberflusz
haben : abnndare C.VII 14, 3; 64, 2, Nep. Eum. 5, 2. redundo usw.
C. N. 0. refertus, onustus C. 0; onustus Nep. Ale. 5, 7. also: com-
ex- (im-?) pleo — abundo.
b) unterrichten: erudio, imbuo, instruo, instituo CO; N. eru-
dio ö (Them. 10, 1; Iphicr. 2, 4; Epam. 1, 4; Att. 1,2; 12, 4);
impertio Att. 1, 2. also: erudire aliquem aliqua re. ferner exercere
C. 3, Nep. 2 im Epam. 2, 5; 5, 4.
ausstatten usw. C. instruo, inficio, indueo je 1 ; ornare, vestire
je 2; donare I 47, 4; jedoch alicui aliquid VII 11, 9; circumdare 4;
assuefacere 2; circumfundere 1; afficere 11. Nep. ornare 4, circum-
dare 3, aspergere 1, impertire Att. 1, 2; donare 2 (alicui aliquid 3),
circumfundere 2; afficere 6. — praeditus C. N. 0.
lacessere aliquem proelio n. a. C. 6; equo vehi Nep. Dat. 4, 5,
vgl. Timol. 4, 2 ; cantare tibiis N. 2 ; pedibus C. aditum habere III
12, 1; transire V 18, 1, vgl. pedibus contendere V 16, 2; proeliari
IV 2, 3; 33, 1. Nep. 0. navibus C. VII 55, 8 (frumentum avehere);
III 12, 1; navibus flumen transire u. iL Nep. 1 navibus proficisci;
N. 2 classe proficisci.
In dem satze deus mundum sole illustrat ist sole abl. instru-
menti; also auch in dem satze sole mundus illustratur? vgl. Hey-
nacher s. 28. Zumpt13 § 451 spricht in letzterem falle von einem
abl. rei efficientis (vgl. Scheindler lat. gr. § 137). Delbrück s. 66:
fes tritt bei passiver construetion in den instrumentalis , was bei
activer construetion subject sein würde.' Fügner s. 30: 'der instru-
mentalis kann, darin stimme ich Heynacber bei, ohne künstelei vom
abl. rei effic. nicht streng getrennt werden, und für die schule hat
man dies noch weniger nötig.' allerdings berühren sich beide ab-
lativi sehr, indessen für das deutsche Sprachgefühl dürften ablative
wie timore perterreri, naufragio interire kaum instrumentale bedeu-
tung haben. — Das naufragium ist nicht mittel, nicht grund, son-
dern die res efficiens, veranlassung. der abl. rei effic. steht bei
passiven verben wie aliqua re perterreri, perturbari, commoveri, de-
fatigari, itnpediri, premi, sollicitari u. a. in dem satze ira incensus
amicum meum neeavi ist ira die res effieiens, ira me incendit; der
gesamtbegriff, der in ira incensus liegt, ist der grund, weshalb ich
meinen freund tütete, manche intransitive verben haben passiven
4
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592 Die lat. caaussyntax auf grundlage von Caesar und Nepoa.
sinn, desgleichen manche adjectiva, also ist ein abl. rei effic. anzu-
nehmen in folgenden Sätzen: III 15, 4 vino relanguescunt animi,
ähnlich IV 2, 6; V 32, 2 nonnullae tempestate deperierant naves;
tutus IV 16, 7, VII 14, 9; defessus I 25, 5, vgl. III 4, 3; VII 88, 6.
vgl. zahlreiche beispiele bei Heynacber s.28 — 30 (die Sammlung ist
ziemlich vollständig), auch bei transitiven verben steht häufig ein
ablativ, der weniger rein instrumentale bedeutung bat, sondern die
sache bezeichnet, durch die jemand etwas bewirkt, erreicht usw.;
vgl. C. I 36, 4 magnam Caesarem iniuriam facere, qui suo adventu
vectigalia sibi deteriora redderet; ich verweise noch auf I 19, 2
(suppiicio); I 53, 6 (calamitate); IV 1, 9 (cibi genere ff.); IV 33, 1
(terrore); V 31, 1 (dissensione); 43, 2 (magnitudine venti); 58, 4
(mora); VII 50, 2 (similitudine); 70, 3 (multitudine); 77, 9 (stul-
titia). vgl. efficere mit abl. IV 1, 9; 35, 3; 33, 3. V 19, 3, VI 7, 8,
VII 26, 2, IV 2, 2; proficere VI 29, 4; VII 82, 1 u. dgl.
An zahlreichen stellen streift der abl. rei effic. das gebiet des
ablativs der äuszeren veranlassung ('infolge von', es kann vielfach
propter für den ablativ eingesetzt oder ein participium wie adductus
hinzugefügt werden), also der sog. abl. causae, abl. des äuszeren
grundes, d.h. des in äuszeren Verhältnissen liegenden grundes, wegen
dessen etwas geschieht oder nicht geschehen kann, vgl. Kühner
s. 291, 13. VI 9, 7 (communi odio); VII 39, 3 (consiliis); III 21, 3
(diligentia); V34, 4 (levitate); III 29, 2 (continuatione) ; VII 15, 6
(precibus); IV 34, 1 (novitate); VI 36, 1 (praeceptis) ; VI 7, 4
(temeritate) ; I 48, 7 (exercitatione) ; I 47,4 (consuetudine); Vll
17, 3 (tenuitate usw.); V 29, 7 (obsidione) ; VII 59, 3 (commuta-
tione); VII 78, 1 (valetudine); VII 77, 12 (aetate); VI 32, 5 (reli-
quis rebus) u. a. ; vgl. die causalen abl. abs. III 12, 5; V 42, 3;
12, 6; VI 34, 4; VII 38, 3 u. a. für den abl. causae steht propter
19 mal (vgl. z. b. I 18, 8; 28, 4; II 20, 4 usw.); der hinderungs-
grund wird durch prae bezeichnet nur VII 44, 1 (b. civ. Omal), oft
durch propter (16), z. b. I 20, 2 (cum ille minimum propter adu-
lescentiam posset), II 12, 2; III 13, 8 u. a.; auch folgende stellen
können hierher gezogen werden: IV 17, 2 (etsi summa difficultas
faciendi pontis propter latitudinem proponebatur), IV 25, 3; Vi, 2;
VII 77, 2; IV 1, 10; III 13, 6; IV 24, 2; V 24, 1; I 26, 5; IV 38, 2.
kein hinderungsgrund liegt vor, aber auch der abl. und part. ist un-
zulässig VI 25, 3; I 18, 3; VII 52, 2. vgl. III 9, 2 impeditis hosti-
bus propter ea, quae ferebant, onera (an den letzten vier stellen
könnte der blosze ablativ stehen).
Der innere beweggrund wird selten durch den bloszen abl. be-
zeichnet: VII 19, 2 (fiducia loci); 38, 9 (fiducia praesidii); 45, 8
(studio pugnandi . . . spe praedae) ; I 44, 5 (hac spe). propter nur
I 39, 7; VII 20, 5.
Sehr oft drückt Caesar den äuszeren beweggrund zu einer hand-
lung aus durch einen abl. und part. perf. pass. [nicht alle von Hey-
nacher s. 29 angeführten stellen gehören hierher, wie z. b. VI, 28, 2
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Die lat. casussyntax auf gnindlage von Caesar und Nepos. 593
(captos), I 38, 4 (circumductum), II 30, 2; III 13, 4; II 4, 4; VI
16, 4; 19, 3-, II 20, 3; III 14, 6; VII 60, 4; 8, 3; VI 6,4; V 8, 2;
I 8, 4; III 13, 5; VII 82, 1; 62, 4; I 53, 5; VII 20, 6].
adductus 14; afflictus 1; captus 2; coactus 3; com motu s 4;
confectus 9; conflictatus 1; contaminatus 1; defatigatus 2; de-
feasus 2; delatus 1; exanimatus 2; excitatus 1; exclusus 2; frac-
tus I ; impulsus 2; incitatus 3; invitatus 2; oppressus 1; permotus 9;
perterritus 12; perturbatus 3; prohibitus 1; subactus 1; sublatus 2;
superatus 2.
Substantiva der gemütsstimmung und part.: impulsus 1; ad-
ductus 5; inductus 2; elatus 1; exterritus 1; oppressus 1; perter-
ritus 1 (merke furore, cupiditate, invidia, spe, pudore, timore,
amentia).
Am häufigsten adductus (auctoritate, fame, inopia, necessitate,
precibus u. a.), permotus (adventu, auctoritate, defectione, inopia,
precibus u. a.). C. wechselt ab mit den participiis; inopia adductus
(coactus, permotus); auctoritate alicuius adductus (permotus); ne-
cessitate adductus, coactus; cupiditate adductus (inductus), spe ad-
ductus (elatus, inductus), rebus adductus (per-, commotus), precibus
adductus (permotus); timore perterritus (exterritus, oppressus); vul-
neribus, aetate confectus.
ob eam rem, ob eas res, quamobrem, ob eam causam, ob eas
causas C. 15; vgl. die causale bedeutung von per: II 16, 5 (qui per
aetatem ad bellum inutiles viderentur, ähnlich V 3, 4; VII 71, 2;
dafür aetate VII 77, 12; 78, 1), III 9, 2.
Der abl. causae von Verbalsubstantiven der 4n decl. adventu 17,
casu 8, coactu 1, concessu 1, consensu 5, discessu 7, ductu 1, inter-
ventu 1, impulsu 1, iussu 1, iniussu 2, missu 2 (zuweilen haben
diese ablative temporale oder modale bedeutung).
Person ification1* liegt vor V 34, 2 ab duce et a fortuna desere-
bantur; öfter a bei collectiven wie civitas, equitatus, multitudo; zu
VII 17, 1; III 26, 2; 13, 9 vgl. Db.-Dt.
Für Nep. vgl. Köhler s. 27, Bähnisch s. 41 ff. zur angäbe des
äuszeren beweggrundes steht abl. und part. (ductus, adductus, per-,
commotus, impulsus, perterritus, coactus, captus, perculsus, elatus);
am häufigsten captus 6, commotus 5, ductus 4, perterritus 4. innere
gemütsstimmung, abl. und part. (Them. 8, 7 misericordia captus;
Cim.1,2 amore ductus; Ale. 5,1 caritate patriae ductus; Att. 12, 13
studio ductus; Lys. 3, 1 dolore incensus; Pelop. 5, 4 ira incensus;
Dion 8, 4 timore perterritus). in beiden fallen steht auch der blosze
ablativ, z. b. Milt. 1, 4; Paus. 5, 5; Ale. 3, 1 ; Con. 3, 1; Dion 6, 1 ;
Chabr. 3, 1; Dat. 11, 3; Ages. 8, 5; Eum. 8, 2; Ham. 2, 1; Hann.
11,4; Att. 11,1; 17,3; 15,3; Dion 4, 2; Timol. 2, 3. — propter be-
zeichnet 31 mal den äuszeren grund, 2 mal den inneren beweggrund,
18 öfter Cicero, Vgl. Draeger s. 549, namentlich beim passiv der
verba des verlassens.
N. jahrb. f. phil. u. pSd. Il.abt. 1891 hft. 12. 38
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594 Die lat. casuseyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
Epam. 7, 1; Eum. 11, 2. Caes. und Nep. stimmen hinsichtlich der
bezeichnung des äuszeren und inneren grundes überein. — ob 15 mal
(quam ob causam, quas ob causas, ob eam rem, ob quam rem ; vgl.
Them. 8, 1 ob eundem timorem). — iussu , rogatu je 3 ; ductu 2 ;
admonitu, hortatu, impulsu, missu je 1.
laborare C. VII 10, 1 (duris subvectionibus); N. 0.
Der abl. causae bei gaudeo, laetor, exsulto, doleo, maereo CO;
gaudeo Nep. Paus. 2, 5; glorior C. 144,4, Nep. Att. 17,1 acc. hoc;
acquiesco C. N. Omal.
niti C. I 13, 6; N. Milt. 3, 5. — contineri beruhen auf C. VTI
2, 2; Nep. Lys. 1,5; Dat. 10, 3. — contentus C. VII 64,2; Nep. 7.
— fretus C. VI 5, 7; III 21, 1, Nep. 4. — constare in C. VII 84, 4;
N. Dat. 14, 3 (Att. 13, 2 bloszer abl.); consistere in C. II 33, 4;
VI 21, 3; 22, 1; VII 86, 3; Nep. Dat. 8, 3; positum esse in C. VII
32, 5 ; V 34, 1 ; 48, 1 ; III 14,8; VII 10,1; 40, 2; III 21,1 ; V 29,6;
VII 25, 1 ; fidere C. b. Gall. 0 (b. civ. III 111, 1 copiis); confidere
III 25, 1, auxiliares, quibus, wohl dat.; 142,5 legionis, cui maxime
confidebat; Paul streicht den relativsatz als glossem; I 40, 15 huic
legioni . . . confidebat, hier könnte an sich der dativ hervorgerufen
sein durch das dazwischen stehende verbum indulserat; da Caes.
niemals confidere absolut gebraucht, so ist VII 33, 1 mit ß quae
minus tibi (fehlt a) confideret zu schreiben, vgl. Schneider im 1 In
jahrebbericbt des philol. Vereins s. 157. 196. demnach behaupte ich
gegen Heyn. s. 51, dasz die von Fischer I 30 aufgestellte regel von
bestand bleibt, nach der Caes. confidere mit dem dat. von personen
und persönlich zu fassenden begriffen (legio u. a.) construiert; vgl.
Kleist Z6W. 1883 s. 123 anm. 2. im b. civ. steht der dat. sicher
II 40, 1; III 7, 2; III 10, 7; 94, 5. allerdings b. Gall. VII 68, 3
equitatu, qua . . . parte exercitus confidebant. die Fischersche regel
trifft auch zu auf Cic. und andere Schriftsteller. Schmalz A. 8. v.
confidere aliqua re VII 50, 1 ; III 9, 3 ; confisus mit abl. VI 14, 4 ;
V 17, 3; III 27, 2; I 53, 2. Cic. hat auch von Sachen häufiger den
dat. als den abl., vgl. Schmalz. Nep. confido 0; fido mit abl. Lys.
3, 5; Chabr. 1, 2. — diffidere mit dat. Caes. VI 38, 2, also auch
wohl V 41, 5 (suis rebus); b. civ. c. dat., so auch stets Cicero.
Zum abl. causae gehören noch folgende ablative : consilio I 30, 5 ;
III 8, 3; V 6, 6; 11, 8; I 12, 6; V 1, 7 (nihil erani rerum publico
factum consilio); V 54,3 (publico consilio); VII 43, 1; demcausaien
ablativ rechne ich zu eo consilio ut (aus dem gründe , weil ; in der
absiebt, dasz) I 30, 3; 48, 2 ; II 9, 2 ; V 49, 7; VI 42,3; VII 72,2;
alio c. III 6, 4 ; quo c. I 40, 1 ; VII 76, 4 bis delecti attribuuntnr,
quorum c. bellum administraretur: consilio abl. instrum. oder rei
efficientis. casu hat causale bedeutung (infolge von; casu fit ut;
abl. rei effic.) I 12, 6 (ita sive casu sive consilio deorum . . . ea sc.
pars prineeps poenas solvit); II 21, 6; V 48, 8; VI 30, 2; 37, 1;
VII 20, 6; für causale bedeutung (nicht modale) spricht VI 27, 2
(si quo afflictae casu conciderunt) , VI 36, 2. — indicio, voluntate
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Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos. 595
V27,3 (neque id . . . aut iudicio aut voluntate sua fecisse, sed coactu
civitatis) ; voluntate nach Heyn. s. 37 modal ; voluntate alicuius noch
I 44, 2; 20, 4; 7, 3; 30, 4; 35, 3; 39, 3; 44, 4; II 4, 7. — natura
III 10, 3 (homines natura libertati studere); II 8, 3; VII 14, 9;
V 13, 1. — sua sponte I 9, 2; 44, 2; V 28, 1; VI 14, 2 ; VII 65, 2.
— merito alicuius I 14, 1 ; II 32, 1 ; V 4, 3 ; causal lege communi
V 56, 2 ; VII 32, 3 (legibus eorum); VII 33,2 (legibus Aeduorum);
iure belli I 44, 2; VII 41, 1. — Causal sind die ablative more, con-
suetudine, instituto, exemplo (vgl. z. b. Db.-Dt. zu VI 27,5; V26, 4 ;
I 8, 3; II 19, 2; I 50, 1): more 14 mal (V 26, 4 streicht Schneider
suo more; Hartz liest sine mora; vgl. VII 48, 3 more Gallico, sonst
more suo oder more alicuius), vgl. Heyn. 8. 35; consuetudine ali-
cuius 7 (vgl. Db.-Dt. zu VI 27, 5); exemplo p. Rom. I 8, 3; insti-
tuto alicuius I 50, 1 ; VII 24, 5. für die causale natur spricht hinzu-
gefügtes ex: I 52, 4 (ex consuetudine sua; vgl. IV 32, 1 ; V 58, 2);
omnium consensu II 28, 2; 29, 5; VII 4, 6; 15, 1; 77, 4, vgl. ex
communi c. I 30, 4 (Db.-Dt. zu I 30, 4).
Für Nep. vgl. Köhler s. 31 : hoc consilio, ut Milt. 5, 3; ohne
ut Ham. 1, 5; consilio mit attribut (gen., adj.) Them. 6, 1; 7, 4,
Pelop. 1, 2 (idque suo privato, non publico consilio fecit); casu 2;
voluntato 2; sua sponte 7; legibus Them. 10, 5; Paus. 3, 5 (legibus
eorum — Cim. 1, 1), Timol. 5, 2 (lege, legibus), Phoc. 3, 4 (legibus);
— communi iure gentium Them. 7, 4 ; Thras. 1 , 4 suo iure ; —
more 6 (ex more Con. 3, 2); moribus 5 — consuetudine AU. 2, 3 —
consensu Dion 6, 3.
Merke also: iure, consilio, voluntate, lege(ibus), more, consue-
tudine, nach dem recht, der absieht, dem willen, der sitte, der ge-
wohnheit jemandes; eo consilio, ut in der absieht, dasz; sua sponte;
casu; omnium consensu einstimmig.
Der abl. instr. steht bei utor usw. utor 45 (IV 24, 4 utebantur,
so codd.; Nipp., Schneider nitebantur); mit hinzugefügtem prädicats-
ablativ noch 7. Heyn. s. 41. Nep. 39, mit 2 ablativen 4. Nep. uti
aliquo familiariter Eum. 4,4; Phoc. 4, 3; familiarius Att. 8, 2;
familiarissime Ages. 1, 1; intime Att. 5, 4. — frui C. IH 22, 2
(omnibus in vita commodis); Schmalz A.s.v. frui zeigt frohen genusz
an (nicht gleich 'haben'); Nep. Cim. 4, 1; Epam. 5, 4; Att. 20, 2.
— fungi munere C. VII 25, 3 = Nep. Paus. 3, 6 ; vgl. noch Them.
7, 3, Con. 3, 4. — potior C. 13 mal mit abl., z. b. imperio totius
Galliae I 2, 2; I 3, 8 heiszt es: totius Galliae sese potiri; Schneider
ZGW. 1886 s. 429 — 30 will mit recht schreiben imperio totius
Galliae; cod. B imperio von anderer band hinzugefügt zwar potiri
c. gen. Cic. ad fam. I 7, 5; de offic. III 113; fin. I 18, 60. dieser
gebrauch ist vorzugsweise Sallustisch. 'man musz Caesars Sprach-
gebrauch aus seinen eignen Schriften betrachten.' Nep. potior 6
c. abl., 6 c. gen., rerum potiri Nep. Att. 9, 6; Cic. nur Rose.
Am. 70, Fam. 1, 7, 5; oft Tac; Liv. XXI— XXIII Omal. — vesci
C. N. 0.
38 •
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596 Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
Ablativua mensurae.
Für C. vgl. Heynacher s. 39—40, für Nepos Köhler s. 32.
C. III 13, 1 carinae aliquanto planiores; V 13,2 dimidio minor.
Häufig multo, paulo, nihilo, hoc, eo, quanto, tanto vor compa-
rativen und ante, post, infra, supra. nur VI 27, 1 paulo vor ante-
cedere.
multo vor comparativen 9; paulo vor comparativen 15; vor
ante, post 10; vor infra, supra 3; vor antecedere 1; nihilo magis 1;
nihilo minus 3; nihilo setius 4; eo magis u. ä. 7; eo minus 1; eo
ecientius 1 ; eo — quo 2; hoc vor comparativen 8; quo — hoc 1 ;
quo (= ut eo) vor comparativen 1; quo facilius 9; quo gravius 1;
quo maiore 1; quo minore 1; quanto — tanto 1.
aliquot diebus ante IV 19, 3; paucis mensibus ante I 31, 10;
anno post IV 1, 5; VI 22,2; biduo post I 47, 1 — paucis ante diebus
III 20, 1 ; multis (paucis) ante diebus VII 9, 4 ; 1 18, 10 ; VII 20, 9.
vgl. IV 9, 1 se . . . post diem tertium ad Caesarem reversuros; VI
33, 4 ; IV 28, 1 (post diem quartum quam « quattuor diebus post
quam). Stegmann JP. 1887 s. 258—259. Nep. hat häufiger ablative
mensurae vor antecedere, antestare, praestare; nihilo setius 5, nihilo
minus 2; Cic. sagt für nihilo minus nnr inv. 2, 132; 2, 170 nihilo
setius; C. b. civ. nihilo minus 2, nihilo setius 2; quo — eo, quanto
— tanto Nep. 0, nur Hann. 1, 1 tanto — quanto; ausdrücke wie
paucis annis ante 6 (7) mal. merke postannum quartum quam Arist.
3, 3; Cim. 3, 3; Dion 5, 3; 10, 3; vgl. ante aliquot dies Dat. 11,2.
Vor Superlativ hat Caesar stets (8) longe; vgl. VI 12, 9 longe
principe:? ; Nep. 3 multo vor superl., Ale. 1,2; Ages.3, 1 ; Att. 12,4;
Caes. longe alius III 9, 7 ; 28, 1 ; VII 14, 2 ; 59, 3 ; Nep. 2 mal multo
aliter (pr. 7, Ham. 2, 1).
Ablativus pretii.
C. redimere aliquid parvo pretio 1 18,3 (vgl. I 44, 12; I 37,2);
Nep. Dion 10, 2 aliquem ab Acherunte suo sanguine redimere. —
Caes. IV 2, 2 aliquid impenso pretio parare, Nep. Att. 13, 4 pretio
parare. — C. VII 19, 4 victoria constat morte alieuius. — Vgl. C.
VII 39, 3 aliquid levi momento aestimare. — mercede conducere
Nep. praef. 4. — condueo, colloco, loeo selten, vgl. Stegmann JP.
1885 s. 235. Fügner s. 32 : 'die allgemeinen ausdrücke magno esse
usw. kommen weder bei Caesar noch bei Liv. XXI— XXIII vor. den
schtiler, dem diese bekanntlich nicht leicht fallen, lasse man magno
pretio usw. anwenden.' Liv. XXI— XXIII hat redimere aliquid pretio
3 mal (maiore, minore, quo pretio).
Ablativus sociativus.
C. hat una cum I 5, 4; 47, 4; II 16, 2; 24, 1; 28, 1; III 22, 2;
23, 5; IV 21, 7; 27, 2; V 6, 1 ; VI 14, 1; 31, 5; VII 50, 4; 71, 3.
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Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos. 597
vgl. Hellwig, über den pleonasmus bei Caesar, g.-pr. Berlin 1889
s. 9: 'wo cum von Caesar zur bezeichnung der gemeinschaft ge-
braucht wird, steht es bei dingen, deren Zugehörigkeit zu einem
anderen naturgemäsz und notwendig ist; es wird darum stets ge-
braucht bei dem heere, den truppen, den schiffen, mit denen ein
feldherr marschiert, fährt, dem eigentum, das jemand mit sich führt,
wo das Zusammensein zweier dinge nur ein äuszerliches , zufälliges
ist, gebraucht Caesar una cum, das dann genau einem ipse quoque
entspricht, von dieser regel finden sich wenige ausnahmen. VI 8,8;
VI 38, 1 ; VII 71, 3 (richtig una cum a ; una fehlt ß). — cum, ver-
sehen mit, VII 45,2 (muliones cum cassidibus); vgl. VI 19,2; 41,1 ;
1,2 (cum imperio); I 24, 4 (cum omnibus suis carris secuti); I 35, 1
(Caesar legatos cum his mandatis mittit).
Die militärische begleitung wird durch cum ausgedrückt:
copiae 9 (cum omnibus copiis u. a.); cohortes 6; equitatus 16;
exercitus 3; legio 35; impedimenta 4; naves 2; praesidium(VI 38, 1
fehlt cum o); cum parte (numero) equitatus, copiarum u. a. 6; —
cum stets bei pro frei sei (b. civ. III 41, 3 omnibus copiis) 21 mal;
17 mal bei mittere und re- praemittere; die andern verba sind ire,
venire, pervenire, contendere, sub- sequi, occurrere, progredi, ac-
cedere; aliquem relinquere cum — ; VII 60,4 cum tribus legionibus
eum locum petit: cum = an der spitze von.
cum fehlt bei militärischer begleitung , bei copiae 8 mal (meist
omnibus copiis); vgl. die verba venire, pervenire, contendere, sub-
sequi , provolare ; vgl. ferner V 8, 5 (accessum est ad Britanniam
omnibus; dagegen IV 23,2 cum primis navibus Britanniam attigit);
VI 43, 6; V 26, 2 (magna manu venerunt); V 9, 3 (illi equitatu
atque essedis ad flumen progressi : wir erwarten cum).
Die militärische 'begleitung' (vgl. obige verba) wird meist
durch cum ausgedrückt, im b. Gall. stets bei proficisci, mittere und
compositis; zuweilen steht der blosze ablativ bei allgemeiner angäbe
(omnibus copiis u. ä.).
Wiegt die instrumentale bedeutung vor, so steht der blosze
ablativ: agmen novissimum I 15, 3 (a novissimo agmine Prammer
n. a.) ; copiae 8 (V 49, 6 tantulis copiis; Schneider mit ß cum tantis) ;
equitatus 7, vgl. noch equitatu aliquid posse, valere; zu VII 68, 3
Db.-Dt. ; exeubitores 1; exercitus 2; legatio 3; manus 1; multi-
tudo 2; legio 2; milites 1; obsides 2; milia 1; turmae 1. vgl. die
verba tenere, obtinere, circumvenire , opprimere, persequi, adoriri,
superare, eruptionem facere u. a.
Nep. cum bei militärischer begleitung 19 (proficisci 5, mittere 4);
3 mal navibus, classe bei proficisci. truppen als sachliches mittel 12;
aliquem cum epistula mittere Paus. 2, 5; vgl. Paus. 3, 4; Ale. 9, 2;
Cim. 4, 2; Epam. 4, 1; Hann. 11, 1 (aliquem mittere cum; venire
cum pondere auri u. ä.). vgl. Epam. 8, 5 risus omnium cum hilari-
tate coortus est; Eum. 3, 4 simul cum nuntio dilabi; vgl. C. V 46,2
exit cum nnntio Crassus.
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598 Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
Ablativus modi.
1) körperliche bestimmungen : incredibili celeritate III 19, 2;
vgl. II 19, 7; 19,8; 31,2; V 18,5; 40,2; VII 20, 1; magno cursu
contendere III 19, 1 ; auch VII 48, 1 wollen für magno concursu
(a, edd.) Meusel, Schneider magno cursu (TLH) contendernnt
lesen; vgl. VI 37, 1; passis manibus pacem petere (flere) I 51, 3;
III 13, 3; VII 47, 5; infestis signis VI 8, 6; VII 51, 3; summa vi
u. ä. III 19, 4; 15, 1; VII 70, 1; 73, 1; integris viribus III 4, 2;
4, 3. andere beispiele s. Heyn. s. 36. — VII 72, 1 fossam pedum
viginti directis lateribus duxit; nach M.-Pr., Db.-Dt abl. qual.;
I 21, 1 flumen incredibili lenitate in Rhodanum infinit (so Heyn.);
bei anderer interpunction (M.-Pr., Db.-Dt.) abl. qual.; Omnibus pre-
cibus petere (orare, detestari) V 6, 3; VI 31, 5; VII 26, 3; 78, 4,
wohl abl. instr.; ebenso I 20, 5.
2) geistige eigenschaften: nullo (summo) studio VII 17, 2;
IV 31, 3 (hingegen VI 9, 4; VII 41, 5 abl. rei effic. 8. causae);
IV 24,4 ist utebantur zu lesen. — aequo animo V 49,6; VII 64,3;
aequiore animo V52,6. — magno (maiore) animo VII 10,3; 66,6;
magno dolore ferre VII 63, 8. andere beispiele s. Heyn. s. 36 f.
cum steht mit attribut: III 23, 4 ; IV 1, 1 ; V 58,2; VII 54,4;
VII 83, 1; 65, 3; VII 15, 2; I 20, 3; V 44, 13; III 1, 2 (cum fehlt
TU); V 52, 3 (cum fehlt TU); oft bei periculum: I 10, 2; 17, 6;
47, 3; III 1, 2 (cum fehlt TU); IV 28, 2; V 16, 2; 19, 2; 29, 6;
47, 5; 50, 3 (cum fehlt L); 52, 3; VII 14, 7 (cum fehlt a); an
letzter stelle musz mit ß cum gelesen werden, tiberall steht cum
zwischen1* adjectiv und Substantiv; demnach musz VI 36, 1 cum
summa diligentia (a) mit ß cum gestrichen werden, vgl. Meusel
12r Jahresbericht d. phil. v. s. 280. es bleibt nur VI 34, 7 cum
aliquo militum detrimento.
cum steht ohne attribut: V 45, 1; VII 74, 2; V 50, 5; hin-
gegen VI 17, 5 steht cum wohl nicht modal.
Nep. Substantiv und attribut mit cum: Milt. 7, 4; Them. 4, 4;
8, 2; Timoth. 4, 1 ; Harn. 1, 5; Att. 7, 2; ohne cum c. 50 mal.
Der blosze abl. bei modus C. 6 (tuli modo; oratoris modo u. a.),
N. 20; ratio C. 13, N. 3; aequo animo u. ä. C. 5; N. 4 aequo animo,
sonst noch 5 mal (z. b. forti animo cedere); inimica mente N. 1
(5 mal hac mente) ; condicione C. N. je 1 ; merke vi C. 2, N. 3 ; suo
iure N. 1 ; iniuria C. 1, N. 0; ritu, fraude, cursu C. N. 0; vitio N. 1 ;
dolo N. 4; ordine N. 1; silentio C. 10, N. 0.
Das modale per C. VII 9, 1 ; VI 20, 3; II 31, 6 ; IV 13, 1 (per
dolum et insidias); I 42, 4 per insidias; VII 20, 7; 4 mal per vim,
z. b. III 11, 2; — I 4, 1; 46, 3. Heynacher s. 31 u. 60. Nep. nur
per littera8 (epistula) Con. 3, 3 ; Att. 7, 3.
» vgl. M.-Pr. lex. s. 270 a. 19-27. Livius XXI— XXIII settt 23mal
das modale cum dem adjectiv voran, 6 mal nach. Fügner s. 39. Nep.
cum 2 voran, 4 nach. Sallust stellt cum voran.
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Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepoa. 599
'ohne* ausgedrückt durch den abl. modi und nullo (a, is) C.
nur II 11, 1 (nullo certo ordine), VII 17,2 nullo studio (vgl. b. civ.
II 26, 4; 38, 4 nullo [is] ordine [nibus]; III 101, 1 nullis custodiis
neque ordinibus certis). N. 0.
Ablativus qualitatis.
Vgl. Heynacher s. 38 f. der abl. qual. steht:
* 1) attributiv: I 7, 5; 18, 3; 38, 5; 47, 4; II 6, 4; 18, 2;
III 13, 4; 24, 3 (Kr.-Dtt.); 14, 5; IV 1, 9; VI 16, 4; 7, 5; 10, 5;
18, 3; 26, 1; VII 23, 5; 39, 1; 50, 2; 69, 5; 72, 3; 73, ö; 73, 6;
73, 2; vgl. noch III 13, 4; I 6, 3; VII 50, 2; I 28, 5; V 13, 2
(Db.-DL).
2) prädicativ: V 41, 5; 4, 4; II 15, 1; V 14, 3; VI 28, 1 ;
I 39, 1; VII 23, 1; VI 13, 1; 13, 4; 12, 9; V 40, 7.
Genetivus qualitatis.
1) attributiv: V 35, 6; 54, 2; VII 55, 4; 22, 1; II 15, 5;
27, 5; 30, 4; 31, 2; VII 80, 3 — II 10, lj 24, 1; VII 65, 4; —
II 30, 4; III 5, 2; II 29, 3; III 16, 2; V 49, 6; VII 4, 1; 39, 1;
5, 1; 32, 4; 22, 1; 53, 9; 22, 5.
2) prädicativ: IV 2, 2; V 11, 5; VII 77, 3; V 6, 1.
Im gen. qual. stehen Zahlbestimmungen: acies legionum IV
Veteran o[a]rum I 24, 2; numerus mit folgendem gen. 8 mal, z. b.
I 15, 1 ; — den gen. non pes abhängig von: altitudo I 8, 1; II 18, 3;
5, 6; VII 8, 2; 69, 5; 73, 5 (wohl mit ß triura . . . pedum zu lesen;
Meusel llr Jahresbericht d. phil. v. 193); fos8a II 5, 6; V 42, 1;
VII 36, 7; 72, 1; intervallum IV 17, 3; 17, 5; latitudo II 29, 3;
longitudo VI 29, 2; VII 23, 1 ; murus VII 46, 3; trabes VII 23, 5;
vallum II 30, 2; V 42, 1; VII 72, 4; spatium I 38, 5 — passuum
abhängig II 8, 3; VI 7, 4; I 25, 5 (vgl. Kr.-Dtt. krit. anhang);
V 13, 6; ergänze passuum V 13, 5; I 41, 4; IV 14, 1 ; III 17, 5;
V 13, 7; 42, 4; II 30, 2; VII 3, 3 — horarum III 12, 1; dierum
IV 7, 2 (paucorum dierum iter); VI 25, 1; 25, 4; II 35, 4 (lies
dierum XV supplicatio, vgl. IV 38, 5; VII 90,8); cohortium VI 7,4;
29, 3; VII 65, 1 ; tabulatorum VI 29,3; vgl. tridui via u. ä. I 38, 1 ;
IV 4, 4; VI 7, 2; IV 11, 4; 11, 3; temporal: I 5, 3 trium mensum
molita cibaria; VII 71, 4; 74, 2.
Häufig ist der gen. qual. von modus, genus: eius modi: V 33,4;
VI 36, 2; III 13, 7; V 29, 5; VI 34, 7; III 3, 3 (T ÜL; sonst über-
liefert hui us modi, dieses aber nur b. civ. 3 mal); III 29, 2; 12, 1;
V 27, 3; cuiusquemodi VII 22, 1; huius (eius, eiusdem, cuiusque,
omnis, cuius) generis: IV 24, 4; VII 73, 8; V 16, 1; VI 16, 5;
V 2, 2; IV 3, 3; VII 74, 1; VI 16, 3, V 18, 3; 12, 5; VII 41, 3
(ß omni genere tela) ; V 2, 2.
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600 Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Ncpos.
Resultat.
1) Alle Zahlbestimmungen stehen im gen. quäl. ; vgl. auch aus-
drücke wie via tridui (5 mal); Haase-Peter s. 34.
Der gen. qual. steht ferner zur bezeichnung der art und gat-
tung; eiusmodi, huius generis u. ä.; hierher gehört nicht VII 39, 1
Viridomarus . . . genere dispari; nur V 35, 7 Lucanius eiusdem
ordinis primi pili centurio (b. civ. einigemal ordinis senatorii,
equestris); hier ist die qualitative bestimmung einem eigennamen
hinzugefügt ohne vir, homo; vgl. II 6,4; I 18,3, VII 39, 1. Haase-
Peter s. 33 anm. 1 und s. 189. ergänze vir (um) bei esse, baberi,
cognoscere I 6, 3; 28, 6; V 6, 1; VII 60, 2; 77, 3. Db.-Dt zu
I 18, 3.
Der gen. qual. steht zur bezeichnung des gewichts: II 30, 4;
29, 3 ; VII 22, 5 ; ein genitiv zur bezeichnung des wertes fehlt bei
Caes. im b. Gall. ; I 20,5 tanti esse apud se gratiam: tanti esse wird
in den grammatiken zum gen. pretii gerechnet; vgl. Haase-Peter
34—35.
Stegmann: ralle Zahlbestimmungen, sowie angaben nach gewicht
und wert, art und gattung stehen im genitivus qualitatis, jedoch nur
in Verbindung mit einem adjecti vischen attribut.*
2) In allen anderen fällen überwiegt nach den statistischen
Untersuchungen Stegmanns (Cic. und Caes.) der ablativus qualitatis.
ßtegmann hat JP. 1885 s. 244 — 45; 1887 s. 265 — 67 aus einer
reihe von Schriften Ciceros 445 beispiele gesammelt für den abl.
qual.; nur 27 mal den gen. qual.; St. hat nicht benutzt die briefe
und folgende reden : pro Quinctio, pro Rose, com., post red., de domo,
de har. resp., in Vatic, pro Cael., prov. cons., Corn. Balb., Pis.,
Plane, Rab., Post.; Gaede s. 7, 1 hat untersucht pro Quinctio, pro
Rose, com., post red.; er findet 18 mal den abl. qual., 3 mal den gen.
qual., eingerechnet 2 genetivi pretii. Stegmanns aus Cic. Caes. ge-
wonnenes resultat ist auch von Seyffert- Fries31 adoptiert worden,
allerdings findet sich bei Caes. der gen. qual. häufiger als bei Cicero.
Caes. altitudine 2, altitudinis 1 ; aetate 2, aetaüs 1 ; stets levis arma-
turae; auetoritate 1, auetoritatis 5; virtute 3, virtutis 3; audacia 1,
audaciae 1; gratia 3; honore 2; potentiae 3; sollertiae 2; nobili-
tate 1; forma, figura je 2; magnitudine 4; animo 4 (gesinnung),
animi 1 (mut) usw. Stegmann hat richtig beachtet, dasz bei Caes.
der gen. qual. meist attributiv steht und namentlich mit den attri-
buten magnus, maximus, summus, tantus; sonst nur levis armaturae,
gravioris aetatis, multae operae et laboris; so nach St. auch Cic.
indessen steht bei Caes. auch der abl. qual. mit magnus (7 mal, gegen
20 mal, wo der gen. steht); auch bei Cic. finde ich in den von St.
angeführten beispielen ca. 85 mal den abl. qual. mit obigen adjectiven.
Caes. sagt V 14, 3 capillo promisso; jedoch II 30, 4 tantulae
staturae (körperliche bestimmung). im ablativ stehen alle bestim-
mungen mit einem attribut im genitiv: Caes. VI 26, 1 (cervi figura);
28, 1 (specie — tauri); VII 73, 6 (feminis crassitudine) , III 13, 4.
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Die lat. casußsyntax auf grundlage von Caesar und Nepoß. 601
Ortsbestimmungen.
Was die einzelnen städte- und ländernamen20 bei Caes. betrifft,
so verweise icb auf das geographische register in der ausgäbe von
Db.-Dt. ; vgl. Heymacher s. 46—47. VII 90, 7 überliefert in allen
codd. Bibracte; hingegen VII 55, 4 Bibracti mit a; indessen hält
Meusel im lln Jahresbericht des philol. Vereins s. 191, die lesart
von |5, Bibracte, für richtig: 'Bibracte werden durch den Constanten
Sprachgebrauch der prosa gefordert, Neue I* 232/ Kr.-Dtt. Bibracte ;
Db.-Dt.8, Menge Bibracti; vgl. Matascone VII 90, 7. nur III 7, 1
fehlt in ß und den beiden codd. der classe or, BM in vor Illyricum;
V 1, 5 überall in Illyricum überliefert. — Nep. Dat. 4, 1 Aegyptum
proficisei. — Caes. sagt ad (1 in) oppidum Avaricum usw. II 12, 1;
13, 2; VII 13, 3; 34, 2; ex oppido Gergovia u. a. VII 4, 2; 42, 5;
79, 3. Nep. Cim. 3, 5 in oppido Citio; Ale. 3, 2 in oppido Athen is.
Zu oppidum in der apposition vgl. I 23, 1 quod a Bibracte,
oppido Aeduorum; VII 9, 6 profectus Gergobinam, Boiorum oppi-
dum. wir erwarten nach der grammatik die Wiederholung der prä-
position. Nep. Ale. 11, 2 Athenis, splendidissima civitate natus.
ad bezeichnet die nähe, umgegend einer stadt, wo etwas ge-
schieht: 17,2; 39,1; VII 68, 2; 16,1; 52,2; 37,1; 42,1; VII 75,1
dum haec apud Alesiam geruntur (a) ; indessen will Meusel mit ß
ad Alesiam lesen («o VII 68, 2; b. civ. III 47, 6). Richter s. 25:
'überhaupt findet sich apud bei einem städtenamen in Caesars
schriften sonst nur lmal: b. civ. III 57, 1 haec cum in Achaia
atque apud Dyrrhachium gererentur. auffallend ist hierbei, dasz C.
einige capitel vorher (53, 1) und ebenso einige capitel nachher
(62, 3) ad Dyrrhachium sagt, weshalb C. auch nicht 57, 1 ad ge-
braucht haben sollte , da dies doch die gewöhnliche ausdrucksweise
ist, begreift man nicht.' Richter will lesen ad Alesiam. nicht un-
erwähnt lasse ich, dasz es fr. 145, 2 heiszt: quae apud Corfinium
gesta sunt. — ad = in die nähe: I 7, 1; VII 41, 1; 58, 5; 76, 5;
79, 1.
a steht zur schärferen hervorhebung der richtung (abesse, dis-
cedere, procedere): VII 38, 1; 80, 9; 43, 5; 45, 4; 59, 1 ; I 10, 5;
23, 1; VII 16, 1.
domi C. 6 ohne attribut; domum C. 13, vgl. II 10, 4 domum
suam quemque reverti; domo C. 9 ohne attribut. treten attribute
zu domus, so stehen präpositionen (C. b. gall. 0, denn VI 11, 2 in
[fehlt in a] singulis domibus = in den einzelnen familien ; b. civ.
II 21, 3 in privat am domum); nur bei attributen, welche den be-
sit/.er anzeigen, fehlt die präposition (C. b. Gall. II 10, 4; jedoch
b. civ. II 18, 2 in domum Galloni). von dieser von St in JP. 1887
s. 255—56 auch aus Cic. begründeten regel weicht Nep. an ein-
zelnen stellen ab , vgl. Köhler s. 4 1.
40 bei Nep. auch Ortsbestimmungen bei Damen von inseln und balb-
inseln, .vgl. Köhler s. 40. ^^^^^
/ TT " . T TT ■
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602 Die lat. casussyntax auf grandlage von Caeear und Nepoa.
Formen von rus, humi fehlen C. N. gänzlich; domi militiaeque
u. a. C 0; N. Ale. 7, 1 domi bellique.
Der abl. loci ohne prüposition bei ortsbezeichnungen mit
1) totus 10 mal, Heyn. s. 48 (totis castris, tota Gallia n. a.).
Nep. 4 mal.
2) locus 50 mal, Heyn. s. 47 (multis, Omnibus locis; loco idoneo,
alieno, iniquo, bei verben, die sonst mit in c. abl. construiert wer-
den, collocare, constituere u. a.; uno loco, tribns locis; suo loco,
quodam, alio loco).
Heyn. s. 48: 'bei locus in Verbindung mit qni, is, hic wird in
der regel die präposition gesetzt.' der blosze abl. steht VI 27, 4;
I 27, 4 (in eo loco, quo); V 43, 6 (ex eo, quo stabant, loco); VI 9, 3
(supra eum locum, quo); VI 22, 2 quo loco; IV 14, 4 (quo loco;
TH quorum loco; Heyn, quo in loco?); die präposition steht an
18 stellen. Heynachers bemerkung ist an sich richtig; indessen steht
in auch sonst einige mal: omnibus in locis 2; uno in loco 1; vgl.
ferner IV 33, 3; VI 30,3; VII 20,4; V 53,4; VI 13,10; VII 79,2;
18,3; II 18,3; VI 25,5; III 6,2; VII 28,1; in b. civ. 8mal bloszer
abl. bei locus und is, hic, qui; 5 mal nur in. also stimme ich Fischer
I 46 bei: 'seltener, obgleich immer noch häufig genug, wird auch
die präposition häufig bei locus hinzugefügt, ohne wesentlichen unter-
schied vom bloszen ablativ.' demnach brauchen wir an den von
Heyn. 8. 48 ß, 2 angegebenen stellen (IV 33, 3 usw.) nicht nach be-
sondern stilistischen gründen für die Setzung von in zu suchen.
Nep. hat den bloszen abl. 32 mal; in nur 3 mal; locus und hic, is,
qui, idem im bloszen abl. 18; quibus in locis Att. 20, l.
Nach dem Vorgang von Delbrück nehmen Heynacher s. 49,
Stegmann 8. 138 u. a. noch in zahlreichen andern ausdrücken einen
abl. loci an; oft parallelconstruction mit in. nach der auffassung
anderer (vgl. Seyffert-Fries) abl. instrum.
considere trinis castris VII 66, 3 (b. civ. III 76, 1 und 2: in);
hiemare . . hibernis V 33, 3; aliquem castris continere I 48, 4;
II 11, 2 (in IV 34, 4; VI 36, 1); colle, oppido, sedibus, vallo se
continere 4; munitionibus c. 1; castris se tenere 5 (vgl. memoria
tenere 2, abl. instr.?); reeipere aliquem finibus, tecto, oppido (is) 5;
anders se reeipere in oppidum usw.; (se) occultare 3 (in VII 85,6);
se abdere C. örtlich, in c. acc. 9; in c. abl. 2; 27 proelio bei con-
certare, confligere, congredi, contendere, decertare, dimicare, pellere,
periclitari, pugnare, superare, vincere, superiorem esse. — pugna 2;
hello 4.
Stegmann unterscheidet eo proelio Persae victi sunt von in
eo proelio Cyrus interfectus est (vgl. C. IV 12, 3); I 12, 7. — ali-
quem numero alieuius ducere VI 21, 2; habere VI 6, 3; 13, 7; ali-
quem obsidum numero mittere V 27, 2; VI 13, 1 qui (in ß) aliquo
sunt numero atque honore, abl. qual.; in numero I 28, 2; VI 23, 8;
32, 1 ; oft in numero esse; aliquem honore habere V 54,4 (in honore
b. civ. I 77, 2; III 47, 7). über den abl. animo vgl. abl. limit.;
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Die lat. casußsyntax auf grundlage von Caesar und Nepos. 603
recta regione VI 25, 2; VII 46,1; hia (diversis) regionibus V 19,1;
VI 25, 3; in his regionibus z. b. IV 21, 7.
Der ablativ steht zur bezeichnung des weges, auf dem eine be-
wegung stattfindet: via ire I 9, 1; vgl. V 19, 2; in Wendungen wie
maximis itineribus proficisci sprechen einige vom abl. instr. (Steg-
mann), andere vom abl. loci (Heynacher), andere (Menge) vom abl.
modi. Caeb. sagt niemals in magnis itineribus contendere; der abl.
ist wohl instrumental oder modal zu fassen; esse in itinere II 16,3;
in eo itinere I 3, 4; in nach Heyn. s. 50 temporal, vgl. in prin-
cipatu: oft in itinere unterwegs, die locale bedeutung bei iter tritt
mehr hervor III 26, 2 (cohortibus longiore itinere circumductis);
I 21,3; III 3,3; I 6, 1; III 1,2; VII 16,3; V 37,7; 58,2; 1113,2;
V 49, 8; 50, 3; VII 41, 2 (Menge will in hinzufügen); VI 34, 4;
andere abl. loci vgl. VII 45, 5; 45, 10; 50, 1 ; VII 45, 3 longo cir-
cuitu . . . easdem petere regiones; abl. instrumenti? vgl. I 41, 4 ut
milium amplius L circuitu locis apertis exercitum duceret — VII 66,4
(AO in agmine, so Kr.-Dtt., Menge, Schneider u. a.); in agmine
III 24, 3; 20, 3; flumine frumentum subvehere I 16, 3; V 15, 1
omnibus partibus.
Der ablativ bezeichnet den räum , über den hin die bewegung
stattfindet: III 26,6 quos equitatus apertissimis campis consectatus ;
I 41, 4; VII 45, 2; 45, 5; IV 23, 6; VII 61, 1; I 39, 5; V 34, 1;
55, 3; VI 37, 6; VII 1, 1; 38, 10; 72, 4.
qua 9; hac, ea C. b. Gall. Omal.
Nepos; vgl. Köhler s. 30 und 41. zahlreiche der angeführten
Wendungen wie castris considere u. a. begegnen den schülern erst
in der Caesarlectüre. Nep. hat se abdere in c. acc. Ale. 9, 1 ; reeipere
aliquem in patriam Them. 7, 6; in fidem Them. 8, 4 (vgl. Caes.
reeipere in fidem II 15, 1; IV 22, 2; in servitutem, in deditionem,
condicionem VII 78, 4; III 21, 3; I 28, 5); teuere in potestate,
obsidione, ancoris 4; se tenere domi, uno loco in castello 4: bene-
ficia memoria retinere Att. 11, 5; proelio vinci u. ä. Ale. 4, 7; 5, 5;
Paus. 1, 2; Conon 4, 4; Ages. 4, 5 u. a. ; esse in numero Dat. 9, 2;
militium numero fuit eorum Dat. 1, 1 (abl. qual.); haberi numero
Thras. 4, 2; Ag. 4,8; Ep. 7,1; der weg oder die strasze, auf welcher
eine bewegung stattfindet, nur Eum. 3, 5; 8, 5; Hann. 4, 3 (Nipp.
Lup.9 hoc itinere; Fleckeisen hoc in itinere) ; in itinere unterwegs Dat.
5, 1; Paus. 5, 1; Dat. 9, 3; Eum. 5, 2; qua, ea, eadem, hac 10 mal.
in c. abl. bei den verben pono, loco, colloco usw.
ponere C. 21 (merke positum esse in virtute, celeritate u. a.,
urbs posita est in monte, valle; VII 69, 7 ponebantur a; disp. 0);
ibi, ubi II 5,4; 8,3; 13,3. Nep. 11. — dispono Caes. 5. — deponere
C. 2, Nep. Hann. 9, 3. — exponere C. 1.
loco C. überhaupt nicht; N. 0. — colloco C. 17 (copias in
hibernis u. a.), auch II 30, 4? vgl. M.-Pr. s. 189, 59 ff.; ibi 4mal;
vgl. collocare verheiraten I 18, 7; 18, 6. Nep. 2.
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604 Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar und Nepos.
statuo C. überhaupt nicht; Nep. Eum. 7, 2. constituo C. 10;
Nep. 2.
considere C. 8; hic, ibi u. a. 4; Nep. 2. consistere sich auf-
stellen, stehen bleiben u. ä. 16; beruhen auf 4; ibi u. a. 6; vgl. in
orbem V 33, 3. Nep. Dat. 8, 3 (beruhen), insisto C. IV 33, 3.
Anm. imponere in c. acc. (oder eo) C. 142, 5; 51,3; VII 58,4
(impositis |3; inectis a, edd.). Nep. Dion 4, 2 in naves.
figo, infigo, insculpo, inscribo, incido, iinprimo C. 0; nur deßgo
V 44, 7. Nep. incido Ale. 4, 5 ; inscribo Ep. 8, 2 (Fleckeisen, scri-
berent Nipp. Lup.).
in c. acc. bei den verben advenio usw.
advenio C. N. 0; pervenio C. N. oft; con venire 8; eo, huc
usw. 11; Nep. 3 (quo, eo). coneurro C. 3, Nep. Hann. 10, 5 (in
unam navem , angriffsweise), congregari C. N. 0. cogere in locum,
eo C. 6. contrahere C. 1, Nep. 2 (eo, illuc). conferre C. 8; huc,
eo 5; Aduatucam 1 ; Nep. 3. nuntiare in Italiain C. 1 , N. 0. Be-
vern C. N. 0; devertere Nep. Pelop. 2, 5; Lys. 2, 2. appelli (C. V
13, 1 ; VII 60, 4 quo), N. appellere classein ad 2.
Raumbestimmungen.
Der acc. steht auf die frage wie lang, breit usw. C. longus VII
73, 9; latus VII 24, 1; 72, 3; vgl. VII 19, 1 palus . . . non latior
pedibus quinquaginta (= quam und acc); altus VII 24, 1; 73, 2.
im b. civ. latus, longus nur je 1 mal. — Vgl. C. III 19, 1 locus erat
castrorum . . . paulatim ab imo aeclivis circiter passus mille. Nep. 0;
nur 2 mal den gen. qual., so auch Caesar; vgl. Db.-Dt. zu II 5, 6.
obige adjectiva Liv. XXI — XXIII 12 mal.
C. sagt gern in longitudinem , latitudinem patere (esse) c. acc.
I 2, 5; II 7, 4 (amplius c. abl. = amplius quam c. acc); V 13, 6;
VI 29, 4 (vgl. II 7, 4) ; VII 69, 3; 70, 1 ; 79, 2. bei anderen verben
zusatz von in longitudinem usw. mit gen. qual. VI 29, 2 (partem
ultimam pontis ... in longitudinem pedum CC rescindit) 18,1;
II 5, 6; III 13, 4; VII 8, 2; 69, 5; 73, 5; II 29, 3; VII 23, 5. —
alieuius rei longitudo, altitudo est c gen. qual. V 13, 5; II 18, 3.
vgl. noch VII 46, 3 ; VI 25, 1. der acc. auf die frage wie weit? noch
VII 72, 2; 23, 5 (pedes quadragenos . . . revinetae, so codd. edd.;
Menge: gen.) II 18, 2; 17, 2; I 49, 1; I 22, 6 milia passuum trium
ab eorum castris castra ponit; IV 3, 2; V 11,8; VII 16, 1; 121, 1;
V 47, 5; VII 66, 2; V 13, 1; 153, 1; V 47, 1; IV 23, 6; V 9, 2;
49, 5; VII 40, 4; 60, 1; II 11, 4; — VI 25, 4 cum dierum iterLX
processerit; I 38, 1 ; V 10, 2; VII 45, 5; IV 24. 3; I 50, 1; VII
49, 3; 61, 5; IV 4, 4. häufig bei distare und abesse: IV 17, 6; VII
72, 1; 23, 1; 72, 4; 73, 8; II 17, 2; V 27, 9; IV 7, 2; I 49, 3;
II 6, 1 ; 13, 2 ; V 46, 1 ; 53, 1 ; VII 38, 1 ; 46, 1 ; der abl. steht nur
I 41, 5; 43, 5; vgl. den abl. noch I 25, 5 (Kr.-Dtt. krit. anhang);
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Die lat. casussyntax auf grundlage von Caesar and Nepos. 605
III 17, 5; II 23, 4; IV 17, 5; I 43, 2; ist der ort, von dem aus die
entfernung berechnet ist, nur aus dem Zusammenhang zu erschlieszen,
so steht a: II 7, 3; V 32, 1; VI 7, 3; IV 22, 4; 1130,3. Nep. Milt.
4, 2, Hann. 6, 3 (abesse a und acc.).
Ell.-SeyfiV0 § 180 anm. 1 : spatium und intervallum stehen nur
im ablativ. — Diese anm. fehlt in der 34n aufl. wohl in rücksicht
auf C. II 17, 2 magnum spatium abesse.
Zeitbestimmungen.
1) der ablativ steht auf die frage wann? und innerhalb wel-
cher zeit?
Bei tempus wann? 44; innerhalb I 40, 11; VI 1, 3; VII 24, 1
(brevi, toto tempore).
Bei annus wann 9 (proximo, superiore anno usw.); innerhalb:
I 31, 11 (paucis annis).
Bei aestas 4 (superiore, inita, una); vgl. II 35, 2 inita proxima
aestate, so edd. und a; TUL (teil von ß) initio proximae aestatis;
für et spricht II 2, 1 inita aestate. — hieme 2. — vere primo 1 ;
autumno 0.
Bei dies 76 mal (innerhalb II 2, 5; IV 18, 1 ; I 48, 4 u. a.).
tri-biduo innerhalb 5.
prima luce 11 mal, prima nocte usw. 19; nocte allein II 17, 2;
noctu 16 (V 17, 6 noctu; nocte nur TU); innerhalb z. b. IV 4, 5;
vigilia und zahl wort 6.
Bei hora 4 (innerhalb VI 35, 8).
Bei spatio innerhalb III 12, 1 ; VI 36, 3; VII 81, 1.
memoria nostra u.ä. II 4, 7; III 22, 3; VI 3,5; 1 12,5; 40, 5;
II 4, 2 ; perpetua vita, innerhalb, während I 40, 13 ; initio orationis
I 43, 4; proximis comitiis VII 67, 7; proelio(iis), während, im ver-
lauf I 26, 2; III 5, 2; IV 2, 3; VI 58, 1; bello I 13, 2; 40, 13;
44, 9; IV 20, 1; VII 77, 12. sowohl bello als proelio verbunden
mit attribut; quintis castris VII 36, 1; solis occasu I 50, 3; sole
Oriente VII 3,3; Tencterorum transitu V 55, 2; tumultu servili
I 40, 5; imperio pop. Rom. I 18, 9; imperio nostro II 1, 4; ad-
ventu 5; discessu 3.
inter, während I 36, 7; intra vor ablauf VI 21, 5.
in im verlauf, während, bei: VI 42, 1 ; V 33, 1; III 26, 4; IV
5, 3; V 25, 2; VI 1, 3; VII 29, 3; I 46, 3; 46, 4; I 35, 2; I 44, 9;
V 44, 14; Vü 52, 2; 39, 2; I 53, 4; 53, 5; V 16, 1; VII 17, 4;
VI 23, 5; IV 24, 4; 33, 3; VII 88, 1 ; V 14, 2; 33, 2; III 22, 2:
in bello, proelio, vita, fuga, colloquio u. a.
2) der accusativ steht auf die frage wie lange? I 40,8 ; V53, 3;
IV 34, 4; VII 17, 3; 32, 1; V 13, 3; IV 34, 4; I 48, 3; VI 36, 1 ;
I 39, 1; IV 19, 1; VII 5, 4; I 15, 5; VI 38, 1; VII 77, 11; 42, 6;
I 3, 4; I 18, 3; 31, 4; II 29, 6; in 23, 5; IV 1, 2; 4, 1; V 25, 3;
VI 14, 3; VII 17,5; 32, 3; III 12, 5; VII 35,2; IV 4,7; VII 10, 1;
I 26, 5; V 7, 3; I 26, 5; II 16, 1; VII 9, 1.
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606 Kritisch-exegetisches zu Schiller and Goethe.
per steht nur VI 36, 1 in ß\ per fehlt a, edd.; per einige-
mal b. civ.
Zeitbestimmungen mit abhinc fehlen, desgleichen altersangaben
mit natus und agens.
Seit: ex I 42, 3; 48, 3; IV 18, 4 u. ö. vgl. V 25, 3 tertium iam
hunc annum regnantem.
Von — an, a I 26, 2; III 15, 5; VI 8, 9; VII 13, 1; 28, 6;
V 35, 5; VII 80, 6; VI 21, 3; IV 1, 9; V 45, 2; oft mit ad (usque
ad) verbunden.
in c. acc. auf wie lange? in praesentia, in perpetuum, in dies
24 mal.
Für Nep. vgl. Köhler s. 43—46. in pueritia, in senectute je 1 ;
in consulatu, in magistratu je 1 (vgl. Caes. I 35,2 in consulatu suo);
in tempore 0 (Caes. 0); suo tempore 1 (Caes. 0); hoc in tempore in
dieser läge. Milt. 5, 1 ; per fehlt ; innerhalb welcher zeit? 21 (brevi
tempore usw.); inter, intra 0; abhinc 0; ex nur Timol. 6, 5; vgl.
Eum. 11,3 quare iam tertium diem teneretur; auf wie lange? 2 mal;
wie alt? natus c. acc. 5; agens Omal.
Schwerin. K. Brinker.
(54.)
KRITISCH- EXEGETISCHES ZU SCHILLER UND GOETHE.
(8chlU8Z.)
10. Don Carlos, act II scene 15.
Sprich doch — was haben
entweihungen des königlichen bettes
2405 mit deiner — deiner liebe denn zu schaffen?
war Philipp dir gefährlich? welches band
kann die verletzten pflichten des gemahls
mit deinen kühnern hoffnungen verknüpfen?
hat er gesündigt, wo du liebst?
Ich gehe von dem schwierigen letzten satze aus. wir haben eine
doppelte scharfe antithese, der hauptaccent fällt auf 'er' und Mu';
betont man so, dann ist auch gesprochen die stelle kaum miszu ver-
stehen, der sinn ist, um mich zunächst möglichst an den gegebenen
Wortlaut anzuschlieszen : 'hat er in einem Verhältnis (dem ehebruch)
sünde begangen, in dem du für dich nur liebe siehst?' oder freier:
'nennst du das bei ihm sünde, was du bei dir selbst liebe nennst?'
das t band ', welches die f kühneren hoffnungen' des Don Carlos mit
der pflicht Vergessenheit des gatten verknüpft, ist das recht, welches
die logik der leidenschaft aus fremder schuld für die eigne schuld
entnehmen will; die 'kühnern hoffnungen' bezeichnen eine liebe,
welche den idealen Charakter, den sie bisher trug, abzustreifen sich
anschickt.
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
607
Ich komme damit im wesentlichen auf Düntzera erklärung zurück:
'hat blosz er gesündigt, dasz er die Eboli liebt, nicht auch du, wenn
du denkst, die königin werde deine begierden befriedigen?' Beller-
manns einwand: von einem solchen 'nicht nur — sondern auch' stehe
nichts im texte, erledigt sich durch meine ausführungen, sein zweiter
einwurf 'Posa halte Carlos' liebe, wie er sie ihm erklärt, nicht
für stinde' ist mir unbegreiflich , da Posa ja unmittelbar vorher ge-
sagt hat :
Karl, ich lese
in deinen mienen etwas — mir ganz neu —
ganz fremd bis diesen augenblick — du wendest
die äugen von mir? warum wendest du
die äugen von mir? so ist's wahr?
also mit schmerzen sieht er, dasz Carlos diese liebe, wie er sie ihm
erklärt hat, jetzt vergessen will. — - Bellermann selbst faszt die stelle
so: 'ist es dieselbe höhe, gleichsam derselbe boden (niveau), auf*
welchem deine liebe und seine sünde sich bewegen? der könig em-
pfindet niedere sinneniust zur Eboli, du ideale anbetung für die
königin; kann das eine das andere irgendwie berühren?' diese er-
klärung ist sprachlich äuszerst gezwungen, sie verwischt die sprach-
lich klar gegebene antithese, um eine neue, die gar nicht ausgedrückt
ist, zu ergänzen, und ignoriert, dasz mit den 'kühnern hoffnungen'
Posa von der liebe seines freundes, wie sie sein sollte, bereits zu der
sündhaften liebe, wie sie jetzt ist, übergegangen ist. ich kann nur
annehmen , dasz Bellermann zu dieser erklärung durch die vorher-
gehenden verse geführt ist: 'war Philipp dir gefährlich ?' Düntzer
bemerkte dazu : 'gefährlich ist hier wenig bezeichnend (!). hat Philipp
deine rechte auf sie durch seine Vermählung vernichtet, wie kannst du
hoffen, dasz die königin ihre heiligen pflichten gegen den gatten ver-
nachlässigen werde?' über diese erklärung urteilte Bellermann mit
sehr berechtigter ironie: 'es dürfte schwer gelingen, zwischen diesen
Worten und der zu erklärenden stelle einen gedankenzusammenhang
aufzuweisen.' Bellermann selbst hat die stelle richtig umschrieben:
'auf dem gebiet idealer, entsagungsvoller liebe, wo ich dich hoffte,
konnte dir Philipp niemals gefährlich sein.' aber er verkannte den
gedankenfortschritt, welchen v. 2407 gegenüber dem parallelen
v. 2403 bringt: a) was für ein hindernis deiner platonischen liebe
zur königin kann Philipps person sein? b) oder glaubtest du etwa
gar in seiner untreue das recht zu kühneren wünschen zu finden?
11. Don Carlos, act III scene 3.
2630 König (nach den papieren greifend) Auch das nicht?
und das? und wieder das? und dieser laute
zusammenklang verdammender beweise?
o es ist klärer, als das licht.
Bellermann s. 310 sagt hierzu: 'genau betrachtet sind es nur zwei
Verdachtsgründe : die briefe an die königin und sein gespräch mit
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
ihr im garten von Aranjuez. aber es ist ein sehr natürlicher zug der
erregung des königs, dasz ihm dies wie eine ganze schar von be-
weisen erscheint.' wunderlich ! Bellermann schafft sich hier Schwie-
rigkeiten, die jede scenische darstellung der stelle sofort beseitigt:
der könig greift beim beginn seiner rede nach den briefen des Don
Carlos an die königin , mit einem bezeichnenden gestus (etwa mit
dem rücken der band) weist er auf die einzelnen gravierenden blätter
hin, mit 'wieder das' geht er dann, die hand erhebend, auf den
ersten verdachtsgrund , das von Alba angeführte zusammentreffen
der königin mit Carlos in Aranjuez, zurück, auf welches nun rück-
wirkend ein neues licht fällt, und hebt am schlusz hervor, in wel-
chem klaren Zusammenhang nunmehr alles erscheint.
12. Das Siegesfest, v. 150.
Rauch ist alles ird'sche wesen,
wie des rauches säule weht,
schwinden alle erdengrüszen . . .
der anfang ist wohl eine unbewuste reminiscenz an Uz, sämtliche
poetische werke (Reuttiingen 1777) I 145:
Rauch ist alles, was wir schätzen:
unser teuerstes ergetzen,
unser leben selbst ist rauch.
es ist zu beachten , dasz diese verse von Schillers gattin in einem
brief an Knebel vom 26 november 1789 (briefe von Schillers gattin
an einen vertrauten freund, herausgegeben von Düntzers. 62), aller-
dings scherzhaft, wie sie ursprünglich gemeint waren, citiert wer-
den, dasz Schiller, wie R. Köhler hervorhob, das gedieht von Uz 'an
die freude' (I 248)
Freude, königin der weisen usw.
bei seinem hymnus 'an die freude' vorschwebte, und dasz überhaupt
Uz einer der lieblingsdichter seiner jugend war; vgl. Car. v. Wolzogen
Schillers leben (1845) s. 11, Boxberger in Schnorrs archiv f. litt.-
gesch. VIII 124 f. IX 565.
Wie vorsichtig man sonst in der annähme einzelner reminis-
cenzen und entlebnungen im ausdruck sein musz, zeigt in eclatanter
weise folgende parallele: Schiller beginnt bekanntlich den eben ge-
nannten hymnus:
Freude, schöner götter funken,
tochter aus Elysium.
dazu vergleiche man Klopstocks ode f Wink* v. 25 f.
Freude, freude, du h i mmel skind!
danksagend küszt er den zauberstab,
von dem, als du damit ihn berührtest,
ein heiliger funken ihm in die seele sprang.
sollte man nicht meinen, dasz Schiller zu jenem ungewöhnlichen
epitheton der freude durch den letzten vers angeregt sei? indessen
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe. 609
Klopstocks ode entstand zwar schon 1778, wurde aber erst 1798 in
der Göschenschen Sammlung seiner werke veröffentlicht (Klopstocks
oden herausg. von Muncker und Pawel II 13).
13. Nänie.
Der anfangsvers dieses nach Schillers angäbe 1799 entstandenen
gedichtes:
Auch das schöne musz sterben! das menschen und götter be-
zwinget,
und der schluszvers:
denn das gemeine geht klanglos zum Orcus hinab,
enthalten eine mechanische reminiscenz an die scbluszverse der 7n
und 8n römischen elegie Goethes, welche 1795 im ersten j ahrgang
von Schillers Hören erschienen waren:
. . . wenn die beere gereift menschen und götter entzückt.
. . . Cestius mal vorbei leise zum Orcus binab.
14. Braut von Messina, act IV scene 4.
Bei den worten der Isabella:
Nichts wahres läszt sich von der zukunft wissen,
du schöpfest drunten an der hölle flüssen,
du schöpfest droben an dem quell des lichts!
schwebte Schiller unzweifelhaft die stelle Jesajas VII 11 vor: for-
dere dir ein zeichen vom herrn, deinem gott, es sei unten in
der hölle oder droben in der höhe.* ob ihm das biblische
citat als solches bewust war, bleibe dahingestellt; wie vertraut ihm
biblische Wendungen in seinen jugend werken sind, ist bekannt.
Ebenso enthalten die anfangsworte der Isabella:
Es zieht mich grausend hin und zieht mich schaudernd
mit dunkler, kalter schreckenshand zurück,
wie schon die worte Theklas (W. T. III 2, 1345) :
jetzt ist sie da, die kalte schreckenshand!
ein unbewustes citat aus Goethes Iphigenie I 3 :
. . . elend, das jeden schweifenden . . .
mit kalter, fremder schreckenshand erwartet.
15. Über anmut und würde.
Es scheint noch nicht beachtet zu sein, dasz die berühmte
allegorie vom gürtel der Venus , mit der Schiller seine abhandlung
eröffnet, auf Winckelmanns anregung zurückzuführen ist. in
der geschichte der kunst VIII 2 § 16 (in der Weimarischen ausgäbe
der werke V 248) sagt er: 'die künstler des schönen stils geselleten
N. jahrb. f. phil. n. p*d. II. abt. 1891 hft. 12. 39
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
mit der ersten und höchsten Gratie die zwote, und sowie des
Homerus Juno den gürtel der Venus nahm, um dem
Jupiter gefälliger und liebenswürdiger zu erscheinen, so suchten
diese meister die hohe Schönheit mit einem sinnlicheren reize zu be-
gleiten und die groszheit durch eine zuvorkommende gefälligkeit
gleichsam geselliger zu machen.'
Die ausfuhrungen am schlusz über das Verhältnis des liebenden
zu d em [das masculinum schon ist bezeichnend!] geliebten (Goedeke
X 120 f.) beruhen auf Piatons Symposium, von dem die Neue Thalia
erst im vorigen jähre (1792 III teil, stück 2. 3) eine Übersetzung
gebracht hatte; vgl. in derselben s. 199. 346 f. 353. 355.
16. Tasso, act IV scene 2.
V. 2402 hat Strehlke in der Hempelschen ausgäbe die lesart
aufgenommen :
auch in der ferne zeigt sich alles reiner,
was in der gegenwart uns nur verwirrt.
ihm ist jetzt Weinhold in der Weimarer Sophien- ausgäbe beigetreten;
bei der autorität dieser Standard- edition ist anzunehmen, dasz damit
auch diese lesart alsbald zur vulgata werden wird, dagegen wollen
Düntzer (erläuterungen zu Goethes werken 10' s. 138) und Franz
Kern (Goethes Tasso, beitrüge zur erklärung des dramas 8. 153
anm. 45) die ältere lesart 'ach' für 'auch' aufgenommen sehen.
So unbedeutend die Variante auf den ersten blick scheinen mag,
so enthält sie doch eine nicht unwesentliche nuance , und die frage
verdient eine eindringendere erwägung, als sie bisher erfahren hat,
damit sie endlich einmal zum ab.schlusz gebracht wird.
Für die lesart rach' sprechen zunächst alle äuszeren gründe.
Die sämtlichen hand Schriften , die erste ausgäbe in 'Goethes
Schriften' 1790 bd. VI, der abdruck von 1791 bd. III und die einzel-
ausgaben von 1790. 1816. 1819, sowie die zweite ausgäbe in 'Goethes
werken' 1807 bd. VI zeigen übereinstimmend diese lesart. erst die
dritte ausgäbe in 'Goethes werken' 1816 bd. VII bringt dann 'auch',
die beiden ausgaben letzter hand von 1828, in taschenformat und
groszoctav haben diese änderung beibehalten, wenn nun auch für
die constituierung des textes die vom dichter selbst ihm endgültig
gegebene gestalt maszgebend sein soll, so können in diesem falle
doch die änderungen der beiden letzten ausgaben nicht als ab-
schlieszende, von Goethe selbst gewollte gelten, weil sie mehrfach
unzweifelhafte Verschlechterungen sind, z. b. v. 1550 'ein kind'
statt 'kein', v. 1669 'zu ihm' statt 'zu uns', wo der Zusammen-
hang mit notwendigkeit die frühere lesart als die richtige ergibt
(vgl. Weinhold s. 426 unten).
Sodann ist die Wortstellung in dem von 'auch' eingeleiteten
satze bei Goethe zwar nicht unerhört, aber doch immerhin sehr
selten, die von Kern a. a. o. dafür angeführten stellen sind zum teil
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
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ganz anderer art. den von Weinbold hier geltend gemachten 'älteren
deutschen brauch' mag man sich in dem geflissentlich an den älteren
Sprachgebrauch sich anlehnenden ersten teil des Faust gefallen
lassen (v. 2939):
auch er bereute seine fehler sehr;
für die diction des Tasso kommt dieser hinweis schwerlich in be-
tracht. so ist die einzige Tassostelle, die Kern citiert, v. 176
allein mir scheint auch ihn das wirkliche
gewaltsam anzuziehen und festzuhalten,
unzweifelhaft so zu verstehen, wie jeder sie zunächst auffassen wird:
das 'auch' bezieht sich nur auf 'ihn', die prinzessin weist damit den
gegensatz zurück, welchen Leonore so eben zwischen dem welt-
entrückten dichter und den übrigen menschen gemacht hatte, nicht
zu vergleichen ist auch 'das göttliche* v. 26
auch so das glück
tappt unter die menge;
hier ist der erste vers des nachdrucks halber losgelöst und fast wie
ein selbständiger elliptischer satz vorangestellt.
Entscheidend aber ist, dasz allein die lesart 'ach' vor einer
schärferen prtifung des Zusammenhangs bestehen kann, vergegen-
wärtigen wir uns zunächst den auf bau der scene.
Leonore tritt an Tasso heran mit der bewusten absieht, ihn zu
sich nach Florenz zu ziehen, aber es hiesze ebenso ihre fein ge-
wandte art wie die trotz aller selbstsüchtigen regungen bewahrte
reinheit und tiefe ihres empfindens verkennen, wenn man annehmen
wollte, dasz sie diese absieht Tasso gegenüber unmittelbar ausspräche
oder planmäszig verfolgte.
Nach dem gewinnenden eingang (2241 — 2250), in dem sie,
geschickt den tadel Uber Tassos unbesonnenes und maszloses wesen
in scheinbare anerkennung der entgegengesetzten Vorzüge kleidend,
ihn zu seinem besseren selbst zurückzuführen sucht, bemüht sie sich
im ersten teile der Unterredung (—2338) ihn zu einer milderen
und gerechteren beurteilung Antonios zu bringen, wobei sie
ebenso schonend auf Tassos empfindlichkeit eingeht, als ehrlich und
unbefangen gegen alle einwendungen desselben den wahren Charakter
des gegners hervorhebt, erst als ihr dies nicht gelungen ist und sie
sich von der vergeblichkeit weiteren dringens in Tasso bei dessen
absichtlicher verstockung überzeugt hat ( — 2352), deutet sie im
zweiten teile zunächst nur leise an, dasz seine weitere Stellung in
Ferrara dadurch eine unhaltbare werde, aber als Tasso sofort hart
und bitter sein Verhältnis zum hofe bezeichnet, ist sie es wiederum,
die ihn dreimal zu einer gerechteren Würdigung desselben auffor-
dert, indem sie ihn hinweist auf die liebe, die ihm entgegengebracht
wird (2359 f.), den dank, welchen die freiheit, die man ihm ge-
währt, verdiene (2374 f.), den nutzen, welchen die musze seines
hiesigen lebens ihm bringe (2378). jetzt erst, als alles dies vergeb-
39»
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
lieh bleibt, wagt, sie sich im dritten teil Tasso wie ihrem eignen
gewissen gegenüber mit dem bestimmter, aber auch hier nur zögernd
ausgesprochenen rate hervor: 'du solltest dich entfernen* (2385).
aber genau so wie im zweiten teile biegt sie unmittelbar
darauf wieder ab: dadurch, dasz Tasso den hingeworfenen gedanken
sofort begierig aufgreift, beim scheiden nur an sich denkt, schroff
sich lossagt von dem vertrauten kreise und seinen wert auf das un-
gerechteste verkennt, musz ihr edleres empfinden sich abgestoszen
und zur hervorhebung der treuen liebe derer, die er so rücksichtslos
verlassen will, gedrängt fühlen, hier ist schlechterdings nur die
form eines wehmütigen ausrufs am platze:
nch in der ferne zeigt sich alles reiner,
was in der gegenwart uns nur verwirrt,
vielleicht wirst du erkennen, welche liebe
dich überall umgab, und weli-hen wert
die treue wahrer freunde hat, und wie
die weite weit die nächsten nicht ersetzt.
es erscheint mir dem gegenüber geradezu plump und in schreiendem
Widerspruch zu ihrem bisher beobachteten verfahren zu stehen, wenn
sie hier, wie bei einem schlechten gespräch, wo jeder,
nur mit sich beschäftigt, die worte des andern über-
hört, an dieser stelle, als ob Tassos bittere worte ohne
jeden eindruck an ihr vorübergegangen wären, ruhig und
kühl mit 'auch* an ihre früheren worte anknüpfen wollte, und nicht
blosz plump , auch unlogisch wäre es , denn das , wozu sie übergeht,
ist gar kein neuer grund, sondern im gegenteil die abweisung
von Tassos klage, und indem sie hervorhebt, wie die von ihm so
verzerrt dargestellten Verhältnisse in Ferrara ihm bald in einem
reineren und verklärten lichte erscheinen werden, fühlt sie zugleich,
dasz bald nach seinem scheiden die Sehnsucht nach dem verlassenen
in ihm erwachen und ihm das bleiben bei ihr bald ebenso verleiden
werde, wie dort — auch dies führt uns mit notwendigkeit auf die
anknüpfung mit dem bedeutungsvollen 'ach' an stelle des ebenso
äuszerlichen wie schiefen 'auch'!
Erst als sie dann aus Tassos antwort ersieht, dasz alle empfin-
dung für Ferrara wie ausgelöscht ist, so dasz er aus ihren worten
nur den halben gedanken, die klage über die fühllosigkeit der weit
heraushört und aufgreift, erst da bietet sie nun dem verbitterten
und verlassenen die Zuflucht bei sich selbst an.
17. Tasso, act I scene 1.
V. 125 ff.:
Ich höre gern dem streit der klugen zu,
wenn um die kräfte, die des menschen brüst
so freundlich und so fürchterlich bewegen,
mit grazie die rerlnerlippe spielt;
gern, wenn die fürstliche begier des ruhms,
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
613
130 des ausgebreiteten besitzes, Stoff
dem denker wird, und wenn die feine klagheit,
von einem klugen manne zart entwickelt,
statt uns zu hintergehen uns belehrt.
die prinzessin preist es als ein glück, dasz sie auch an der ernsteren
geistesthätigkeit der männer teilnehmen könne; aber von welchen
gebieten derselben redet sie hier eigentlich? ich finde in den be-
sprechungen der stelle keine klare und bestimmte auskunft hier-
über, und doch hat Goethe durch die sehr deutlich markierte glie-
derung derselben eine schärfere Scheidung der einzelnen Wissen-
schaften dem leser an die hand gegeben.
Den neun citierten versen gehen ebenso viel vorauf, welche zu
denselben eine parallele bilden; die strenge gliederung derselben,
welche sofort in die äugen springt , deute ich durch buchstaben an :
A. ich freue mich, wenn kluge männer sprechen,
dasz ich verstehen kann, wie sie es meinen.
a. es sei ein urteil über einen mann
der alten zeit und seiner thaten wert;
b. es sei von einer Wissenschaft die rede,
die, durch erfahrung weiter ausgebreitet,
dem menschen nutzt, indem sie ihn erhebt;
A. wohin sich das gespräch der edlen lenkt,
ich folge gern, denn mir wird leicht zu folgen.
durch die parallelen verspaare , die am anfang und am schlusz den
allgemeinen gedanken aussprechen, ist diese erste hälfte der Schil-
derung in sich abgeschlossen; die beiden Wissenschaften, von denen
sie spricht, geschiente und naturforschung, werden dadurch in
klarer einheit zusammengefaszt als erfahrungswissenschaften.
Ihnen tritt nun in der zweiten hälfte als zweites gebiet des
wissens gegenüber die philosophische erkenntnis. wie dort durch
das anaphorische 'es sei . . .' die beiden überhaupt möglichen gat-
tungen geschieden sind, genau so wird hier durch das dreimalige
'gern . . . wenn' — egern wenn' — 'und wenn' die philosophie in
ihre drei teile zerlegt, auf die psyebologie weist die erwähnung der
kräfte hin, die des menschen brüst bewegen; als aufgäbe der ethik
wird beispielsweise die beurteilung des strebens nach den höchsten
irdischen gütern, rühm und macht, angeführt; endlich die logik
wird — ganz im sinne der Platonischen auffassung und der auf ihr
beruhenden der renaissance — im gegensatze zu einer trügerischen,
sophistischen dialektik charakterisiert alle drei gebiete philosophi-
scher forschung aber werden — wieder im sinne Piatos und der da-
maligen zeit — in der form von disputationen gedacht, das ist im
ersten verse ausgedrückt, der, ähnlich wie in dem vorhergehenden
abschnitt, alle übrigen zusammen faszt und einleitet.
So ist von der prinzessin fein und genau das ganze gebiet der
Wissenschaft umschrieben, und Leonore fällt nun die aufgäbe zu,
diesem 'weiten reich* (139) die bedeutung der poesie gegenüber-
zustellen.
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
18. Tasso, act V scene 1.
2942 das haben uns die Medicis gelehrt,
dH8 haben uns die päpste selbst gewiesen.
Kern a. a. o. 8. 155 anra. 51 weisz das 'selbst' nicht anders zu er-
klären, als dasz dadurch von Alphons die päpste nicht so hoch ge-
stellt werden, wie die Medicis. zu dieser annähme liegt auch nicht
der geringste anlasz vor. wie Alphons von den päpsten denkt,
spricht er aus v. 611
vom Vatican herab sieht man die reiche
sehon klein genug zu seinen füszen liegen,
geschweige denn die fürsten und die menschen;
und von dieser auffassung aus ergibt sich gerade die entgegen-
gesetzte erklärung unserer stelle: selbst die päpste, die grösten
herscher, die sonst selbst auf einen fürsten (vgl. 608 u. 609) keine
rücksicht zu nehmen gewohnt sind , haben dem künstler gegenüber
den gebietet verleugnet und sich nicht gescheut, 'mit geduld und
langmut' sie 'in ihrer art zu gebrauchen*.
Diese erklärung scheint mir die nächstliegende zu sein, man
könnte sonst vielleicht auch meinen, Alphons weise mit jenen Worten
zurück auf Antonios Charakteristik des papstes 665 f., durch die er
Tassos frage, ob er auch die kunst beschütze, zurückweist:
er ehrt die Wissenschaft, sofern sie nutzt usw.
19. Tasso, act V scene 5.
3371 Verzweiflung faszt mit aller wut mich an,
und in der höllenqual, die mich vernichtet,
wird lästrung nur ein leiser schmerzenslaut.
was ist im letzten verse subject, lästrung oder schmerzenslaut?
Düntzer a. a. o. 8. 169 entscheidet sich für das erstere, indem er
umschreibt : 'die Schmähungen sind nur ein leiser nachklang der ihn
innerlich verzehrenden höllenqual.' dagegen nimmt Kern a. a. o.
8. 160 anm. 68 das zweite an: 'sich entschuldigend sagt Tasso,
durch die furchtbare qual seiner seele geschehe es, dasz jeder aus-
druck seines Schmerzes nichts anderes als lästerung werde.' Kern
will dem entsprechend 'nur' zu dem vorhergehenden Substantiv
ziehen, indessen bei dieser construction bleibt ebensowohl das zu
'schmerzenslaut' hinzugefügte epitheton wie der unbestimmte
artikel ganz unberücksichtigt; mindestens muste Kern also das 'nur'
auf das folgende beziehen, so dasz es den sinn hätte von 'auch nur'
mm «schon der leiseste', was doch sprachlich sehr gewaltsam wäre.
Sollte Goethe übrigens nicht vielleicht bei dieser stelle die Schil-
derung vorgeschwebt haben, welche Dante von dem zustande der
gepeinigten gibt? bei eintritt aus dem vorhofe in die eigentliche
hölle sagt er (Inferno , canto V) :
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
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25 Ora incomincian le dolente note
a farmisi seotire: or son vennto
la dove molto pianto rai percuote.
34 Quando giungon davanti alla ruiDa ,
quivi te strida, il compianto e M lamento;
bestemmian quivi la Virtu divina.
20. Winckelmann, schluszabschnitt.
Die weihevollen worte, welche Goethe dem 'hingang* des groszen
toten widmet, erinnern auffallend an den nachruf, welchen Cicero in
'de amicitia* den Laelius seinem freunde Scipio halten läszt in
ganz ähnlichen gedanken und empfindungen, ja mehrfach fast in den-
selben Wendungen suchen beide uns über den schmerz um das jähe,
ja furchtbare ende, durch welches beide männer 'mitten aus der
bahn' gerissen wurden, zu erheben, man vergleiche Goethes worte:
'so war er denn auf der höchsten stufe des glücks, das
er sich nur hatte wünschen dürfen, der weit verschwun-
den . . . und in diesem sinne dürfen wir ihn wohl glücklich preisen,
dasz er von dem gipfel des menschlichen daseinszu den
seligen emporgestiegen, dasz ein kurzer schrecken, ein
schneller schmerz ihn von den lebendigen hinweggenommen,
die gebrechen des alters, die abnähme der geistes-
kräfte hat er nicht empfunden',
mit Laelius § 11 — 12:
'cum illo vero quis neget actum esse praeclare? nisi enim, quod
ille minime putabat, immortalitatem optare vellet: quid non
adeptus est, quod homini fas esset optare? . . . ut ex
tarn alto dignitatis gradu ad superos videatur deos potius
quam ad inferos pervenisse . . . vita quidem talis fuit vel for-
tuna vel gloria, ut nihil posset accedere; moriundi
autem sensum celeritas abstulit . . . senectus quamvis
non sit gravis, tarnen aufert eam viriditatem, in qua
etiamnun erat Scipio.'
"21. Werthers leiden, brief vom 10 mai.
'Eine wunderbare heiterkeit hat meine ganze seele eingenom-
men, gleich den süszen frühlingsmorgen, die ich mit ganzem herzen
geniesze . . .wenn das liebe thal um mich dampft, und die hohe
sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen finsternis meines
waldes ruht ...ich dann im hohen grase am fallenden bache
liege, und näher an der erde tausend manigfaltige gräschen mir
merkwürdig werden, wenn ich das wimmeln der kleinen weit
zwischen halmen, die unzähligen, unergründlichen gestalten der
würmchen , der mückchen näher an meinem herzen fühle und fühle
die gegen wart des allmächtigen , der uns nach seinem bilde schuf
. . . wenns dann um meine äugen dämmert, und die weit um mich
her und der himmel ganz in meiner seele ruhn wie die gestalt
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
einer geliebten, dann sehne ich mich oft und denke: ach
könntest du das wieder ausdrücken' usw.
Man vgl. hierzu aus Gessners idyllen (Sal. Gessners Schriften,
Zürich 1795, III 43): fo was für freude durchströmt mich! wie her-
lich ist alles um uns her! . . . wenn ich vom hohen hügel die
weit ausgebreitete gegend Ubersehe, oder, wenn ich, ins gras
hingestreckt, die manigfaltigen blumen und kräuter betrachte
und ihre kleinen bewohn er . . . wenn ich die wunder be-
trachte, dann schwellt mir die brüst; gedanken drangen sieb dann
auf, ich kann sie nicht entwickeln; dann wein' ich und sinke
hin, und stammle mein entzücken dem, der die erde schuf! o Daphne!
nichts gleicht dem entzücken, es sei denn das entzücken, von
dir geliebt zu sein.' die idylle war schon 1756 erschienen; nicht
blosz der gedanke, auch der ausdruck und satzbau kehren bei G.
wieder.
22. Epilog zu Schillers Glocke.
41 Ihm schwollen der geschiente flut auf fluten,
verspülend, was getadelt, was gelobt,
der erdbeherscher wilde heeresgluten,
die in der weit sich grimmig ausgetobt,
45 im niedrig schrecklichsten, im höchsten guten
nach ihrem wesen deutlich durchgeprobt. —
die sehr dunkle stelle verlangt eine erklärung satz für satz.
Was bedeutet in v. 41 'geschieh te* ? res gestae oder historia?
doch wohl das erstere; denn nur von der geschiente als der in un-
unterbrochener folge sich entwickelnden fülle der ereignisse ist das
bild völlig bezeichnend gesagt, dieser geschichtliche stoff 'schwillt
ihm', d.h. entweder vor seinen äugen dehnt sich das geschehene
in immer weiterer und weiterer folge aus, er Uberblickt es, oder —
was hier keinen wesentlichen unterschied macht — die starren
massen beginnen vor ihm zu schwellen, fUr ihn die gestalten und
ereignisse aufs neue sich zu beleben.
Diese fluten der geschieh te rverspülen, was getadelt, was ge-
lobt', man sollte zunächst meinen, dasz sie lob und tadel hinweg-
spülen, nicht die ereignisse selbst, die anlasz zu lob und tadel wer-
den , sondern die von den leidensebaften der mitlebenden bedingte
beurteilung derselben 'cum ira et studio', man könnte deshalb fast
sich versucht fühlen, das 'was* hier als inneres object zu fassen
= öca tanWOn,, was an lob und tadel ausgesprochen wurde, in-
dessen, ist dies im deutschen schon grammatisch sehr hart, so wird
es unmöglich durch den folgenden appositioneil angefügten satzteil:
der erdbeherscher wilde heeresgluten.
gehen wir bei unserer erklärung von diesem satze aus, der ein —
mit rücksicht auf die von Schiller in seinen beiden hauptwerken be-
handelten geschichtsabschnitte gewähltes — beispiel zu dem vorher-
gehenden enthält, so ergibt sich der sinn: die unablässig sich folgen-
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Kritisch-exegetisches zu Schiller und Goethe.
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den fluten der geschichtlichen thaten und begebenheiten verdrängen
eine die andere — 'ein ewiges meer, ein wechselnd weben* — und
nehmen hinweg was einst grosz oder furchtbar war, mit leidenschaft-
lichem lob oder tadel bei den Zeitgenossen aufgenommen wurde, jene
leidenschaftlichen thaten haben sich nun 'ausgetobt' und jene leiden-
schaftliche beurteilung in 'der parteien gunst und hasz' ist verstummt,
aber zugleich sind jene ereignisse
im niedrig schrecklichsten, im höchsten guten
nach ihrem wesen deutlich durchgeprobt,
d. h. ihr wesen ist in der geschichtlichen entwicklung, die der blick
des forschers überschaut, klar hervorgetreten in der furchtbaren wie
in der segensreichen bedeutung, die sie gehabt haben. Goethe mochte
hier an Schillers einleitung zur gescbichte des dreiszigjährigen krieges
denken, in welcher derselbe gewürdigt wird im hinblick auf 'die
schrecklichen und verderblichen Wirkungen' wie auf den 'gewinn',
welchen die weit aus ihm zog, wo der 'flamme der Verwüstung,
welche das halbe Europa entzündete', die 'fackel der cultur' gegen-
übergestellt wird, welche von da 'einen weg sich öffnete, die Staaten
zu erleuchten'.
Grammatisch ist 'nach ihrem wesen' wohl am einfachsten zu
'durchgeprobt' zu ziehen = 'auf ihr wesen hin', weniger würde
dem sinne des ganzen eine unmittelbare Verbindung mit den beiden
vorhergehenden, disjunctiven gliedern entsprechen = 'je nach ihrem
wesen'. der ganze participialsatz aber schlieszt sich formell zwar
zunächst eng an den vorhergehenden relativsatz an, greift aber dem
sinne nach doch über diesen, der ja nur appositionelle, specificierende
bedeutung hatte, hinüber auf den ersten relativen objectssatz 'was
getadelt, was gelobt': in der geschichtlichen betrachtung tritt dem
schein das wesen, dem parteiischen urteil der wahre gebalt, der
vorüberrauscbenden begebenheit die dauernde Wirkung gegenüber,
zugleich gewinnt der zunächst temporale participialsatz die bedeu-
tung eines consecutivsatzes 'so dasz sie nun . . .' und das regierende
verbum die nebenbedeutung 'rein spülen, klären'.
Eine weitere Schwierigkeit liegt vor in v. 22:
wie sein ernst, nnschlieszend , wohlgefällig. . .
der lebensplane tiefen sinn erzeugt.
nähme man 'der lebensplane tiefer sinn' für sich, so würde den aus-
druck wohl jeder zunächst auffassen als 'die eigentliche , wahre be-
deutung, der innere Zusammenhang der lebensführung', der fden
meisten menschen, die ohne viel zu grübeln dahin leben, nicht
zum bewustsein gelangt, damit würde sich freilich das verbum 'er-
zeugt' nur schwer verbinden lassen, man erwartete dafür 'gedeutet,
erklärt', oder, was sich noch am meisten demselben nähert, 'hervor-
treten lassen', so bleibt nur übrig 'sinn' in subjectiver bedeutung
und 'lebensplane' als gen. obj. zu fassen = tiefes Verständnis für
die entwicklung des eignen lebens.
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618
Kritisch- exegetisches zu Schiller und Goethe.
Ich möchte annehmen , dasz Goethe dabei an sehr bestimmte
erfahrungen aus seinem eignen verkehr mit Schiller dachte, dasz
ihm dabei so manche aufklärungen vorschwebten, die er, der 'wie
ein nachtwandlet seinen weg gieng, durch den freund erhalten, ich
möchte vor allem hinweisen auf den berühmten brief vom 23 august
1794, durch welchen der grundstein zu ihrer freundschaft gelegt
wurde, in dem Schiller 'den gang von Goethes geist be-
urteilte' und u. a. hinwies auf das, 'was derselbe schwerlich
wissen könne, weil das genie sich immer selbst das gröste geheim-
nis bleibe, die schöne Übereinstimmung seines philosophischen in-
stinctes mit den reinsten res ul taten der speculierenden Vernunft',
das begonnene führte der brief vom 31 august weiter. Goethe
dankte schon am 27n: rzu seinem geburtstag habe ihm kein an-
genehmer geschenk werden können , als jener brief, in welchem
Schiller mit freundschaftlicher hand die summe seiner
existenz gezogen und ihn durch seine teilnähme zu einem
emsigeren und lebhafteren gebrauch seiner kräfte aufgemuntert
habe* ; er 'rechnete von jenen tagen der Unterhaltung mit Schiller,
dessen redlichen und so seltenen ernst er immer zu schätzen
gewust, eine epoche' und hoffte: 'haben wir uns wechselseitig die
punkte klar gemacht, wohin wir gegenwärtig gelangt sind , so wer-
den wir desto ununterbrochener gemeinschaftlich arbeiten können.'
und wie auch im einzelnen ihm Schiller den sinn seiner dichte-
rischen lebensplane erschlieszen sollte, zeigt jene bitte, die er an
den freund richtete, als er den Faust wieder aufnahm (22 Juni 1797):
'nun wünsche ich, dasz Sie die güte hätten, die sacbe einmal in
schlafloser nacht durchzudenken und ...so mir meine eignen
träume, als ein wahrer prophet, zu erzählen und zu deuten.'
SCHÜLPFORTA. GU8TAV KETTNEB.
56.
der schwarze erdteil und beine erforscher. reisen und ent-
deckungen, kämpfe und erlebnisse, land und volk in afbika.
von Friedrich Seiler, zugleich fünfte bis auf die
gegenwart fortgesetzte auflage des buche8 der 8chwabzb
erdteil von Reinhard Zöllner. Bielefeld und Leipzig,
Velhagen und Klasing. 1891. IV u. 601 s.
Das deutsche volk bat sich diesem buche freundlich gezeigt,
durchschnittlich alle 3 — 4 jähre ist eine neue aufläge nötig gewor-
den ; und da gleichzeitig die Verhältnisse in Afrika in fortwährender
um wandelung gewesen sind, so bat sich mit ihnen das buch von auf-
läge zu aufläge gewandelt, ursprünglich war es geschrieben, als uns
Afrika nur dadurch nahe lag, dasz deutsche forschungsreisende dort
gesundheit und leben für die Wissenschaft einsetzten, da konnte das
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F. Seiler: der schwarze erdteil uiid seine erforschen
619
buch inhaltlich mehr international sein, nachdem wir dort besitzet
von colonien geworden und auch die über den wert solcher fernen
Vorwerke entscheidende friedliche arbeit begonnen haben, muste
das buch zum groszen teil seinen Charakter ändern, vieles muste als
nun überflüssiger ballast über bord geworfen werden, um für andere
wertvollere ladung platz zu machen, diese Umarbeitung ist in der
letzten ausgäbe durch Friedrich Seiler in der weise geschehen, dasz
er ein recht hat das buch, welches gewis vielen lesern als Zöllners
'schwarzer erdteil' bekannt ist, nunmehr als sein werk zu bezeichnen.
Das ziel bei der neuen bearbeitung war teils überhaupt alle
neuen entscheidenden ereignisse besonders ausführlich darzustellen,
teils im besondern die thaten und bestrebungen der Deutschen
uns vorzuführen, dabei sollte umfang und preis ungefähr derselbe
bleiben, so muste denn vieles wegfallen oder gekürzt werden, ganze
capitel der vierten aufläge sind deshalb ausgelassen, so land und
leute am blauen Nil, Harniers fahrten und jagden am weiszen Nil,
Gerhard Rohlfs und Gustav Nachtigall, verkürzt sind alle älteren
abschnitte, die auf die thätigkeit unserer landsleute wenig bezug
haben, so Livingstones und Camerons reisen, Henry Stanleys erster
zug durch den dunklen erdteil , onkel Toms Urheimat (eine etwas
altmodische bezeichnung für die küste von Oberguinea) u. a. be-
dauert habe ich dabei den Wegfall von Nachtigalls reise, besonders
seinem zuge nach Tibesti; hier boten seine von herzerfreuendem
humor durchtränkten briefe, die frau dr. Berlin in Rodenbergs rund-
schau veröffentlicht hat, die möglichkeit ein besonders erquickendes
bild heldenhaften kampfes mit allen Widerwärtigkeiten zu zeichnen,
dazu ist es nun doch ein eigentümlicher zustand, dasz in einem buche
über den dunklen erdteil die Sahara im wesentlichen unberücksich-
tigt bleibt.
Die völlige Umarbeitung zeigt sich auch an den bildern und
kartenskizzen. von den bildern der vierten aufläge sind, wenn
ich richtig gezählt habe, 16 ausgelassen und dafür etwa 30 neue
aufgenommen , darunter statt des früheren sehr mäszigen porträtä
Stanleys ein neues gutes, unter den kärtchen ist wohl nur der
Schauplatz der kämpfe des Machdi (so schreibt der verf. jetzt mit
recht statt Mahdi) unverändert geblieben, der früher ägyptische
Sudan ist eben jetzt den Europäern verschlossen, auf der karte von
Südwestafrika ist die nordgrenze des deutschen besitzes eingetragen,
in Mittelafrika sind überall besonders die seenverhältnisse bestimmter
und klarer geworden, völlig neu bearbeitet sind die skizzen von
Deutsch-Ostafrika und dem Kamerungebiet, bei einer vergleichung
sieht man, wie schwach besonders jene früher war. hinzugekommen
sind endlich eine karte, welche durch dunkle Schraffierung das ge-
biet des Sklavenhandels darstellt, und eine andere, in welche Stanleys
letzter zug eingetragen ist. ich möchte aber einen wünsch nicht
unterdrücken, bei der bevorzugung der deutschen interessen be-
sonders in Ostafrika, wie sie der text des buches zeigt, wäre eine
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620
F. Seiler : der schwarze erdteil und seine erforschen
noch ausführlichere karte von Deutsch-Ost afrika ein bedürfnis, auf
welcher alle die örtlich keilen , die genannt werden, auch zu finden
sind, skizzen des landes gibt am ende jetzt jeder atlas. früheren
auflagen des buch es , z. b. der zweiten , war eine farbige karte von
Afrika im maszstabe von 1 zu 35 millionen beigegeben, sie ist als
Uberflüssig mit recht ausgelassen; vielleicht könnte an ihre stelle
eine recht zuverlässige specialkarte der colonie treten.
Wollte der verf. die Verhältnisse klarlegen, unter denen unsere
lan dsltute in Afrika arbeiten, so muste er besonders die Araber-
frage und die sklavenfrage besprechen, beides ist in ausreichendem
masze geschehen, die macht der Araber ist in der einleitung ge-
schildert, das capitel Uber die sklavenjagden , welches schon früher
da war, ist umgearbeitet und vervollständigt, im übrigen ist der
räum, den der verf. durch die oben erwähnten Streichungen gewann,
benutzt, um überall die thaten der Deutschen noch mehr hervor-
treten zu lassen, und um ganz neue abschnitte einzuschieben: über
die friedliche arbeit in Ostafrika, über den Araberaufstand in diesem
lande, über Emin Pascha und Stanley, zusammen 118 seiten, fast
ein fünftel des ganzen buches.
Betrachten wir nun das werk als fertiges ganzes, es ist keine
geographie von Afrika, weder bodenform, noch flora und fauna, noch
Völkerkunde wird im zusammenhange besprochen; es ist eine ge-
schieh te. wir können den inhalt übersichtlich um wenige geistige
mittelpunkte gruppieren, der eine ist die erzählung der groszen ent-
scheidenden entdeckungsreisen. dem Nil und seiner entdeckung
ist billig ein besonderes capitel gewidmet, an welches sich die er-
zählung vom aufstände des Machdi und von Gordons Schicksal an-
schlieszt. daneben erhalten wir einen bericht über die bereisung
Sansibars und seines hinterlandes, eine schöne Schilderung von
Li vings ton es Wirksamkeit, eine erzählung der reisen zu den Niani-
Niam und am Ue'lle, wobei Schweinfurths persönlichkeit in den
Vordergrund tritt, der reisen im Südkongogebiete, d. h. der ruhmes-
thaten Wissmanns und Pogges, der entdeckung des Nigersystems,
des arbeitsfeldes Flegels, endlich und am ausführlichsten der fahrten
Stanleys, sowohl jener ersten groszen entschleierung des Kongos,
als des zuges zu Emin. Peters neueste reise ist noch nicht darge-
stellt, weil erst seine eigne Veröffentlichung abgewartet werden soll,
der letzte marsch Stanleys ist ja leider höchst widerwärtig durch
die rohe art des reisenden, die rein materiellen zwecke, welche er
hinter einem vorhange von idealistischen lügen verfolgte, sein eitles
ruhmsüchtiges wesen. er wird ja in einem solchen buche nie fehlen
dürfen, weil er Emins Stellung am äquator vernichtet hat und weil
dabei manche entdeckungen gemacht sind (Ruwenzori, Albert -
Edward see). aber man musz wünschen, dasz in den folgenden auf-
lagen dieses häszliche bild etwas in den hintergrund gedrängt wird.
Ein zweiter mittelpunkt, um den sich grosze massen gruppieren,
ist, wie oben schon angedeutet, die geschichtliche entwicklung der
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F. Seiler: der schwarze erdteil und seine erforschen 621
deutschen ansiedelungen, besonders der ostafrikanischen, der verf.
bestimmt in der vorrede sein buch besonders auch für die reifere
jugend. eine zusammenhängende darstellung dieser Verhältnisse ist
aber jetzt für jeden gebildeten ein bedtirfnis. die dortigen ereignisse
sind in den tagesblättern an uns vorübergerauscht, aber das genügt
doch nicht zur bildung eines klaren Urteils in der parteien gezänk.
von diesem gesichtspunkte aus möchte man öfter wünschen, genauere,
auch statistische angaben über die grösze der dortigen interessen
zu finden, sie brauchten in einer neuen aufläge nur geringen räum
einzunehmen.
Das politische urteil ist milde und zurückhaltend, so wird der
deutsch-englische vertrag vom 1 juli 1890 mehrmals besprochen,
seine schmerzlichen punkte angedeutet, aber auch seine guten Seiten
hervorgehoben, besonders die, dasz nun das gebiet der Wirksamkeit
klar vor uns liegt, dasz wir alle kräfte auf das concentrieren können,
was wir behalten haben — 'und das ist, wie wir gesehen haben, noch
reichlich genug'. — Scharf absprechend ist das urteil über die eng-
lische missionsweise, welche die Zöglinge zu müsziggang und zu
einem 'selbstbewusten, unverschämten betragen' erzieht; 'daher
nimmt kein Europäer, wenn er es irgend vermeiden kann, einen eng-
lischen missionszögling in seinen dienst', warm anerkennend sind
dagegen die katholischen missionen, besonders die in Bagamojo, be-
sprochen, von deutschen versuchen war ja noch nichts zu berichten,
als das unglückliche ende der Station, die miasionär Greiner in Dar-
es-Salaam errichtet hat. sie ist jetzt wieder aufgebaut und bezogen ;
möge sie sich den ihr obliegenden aufgaben gewachsen zeigen, da-
mit nicht die protestantische mission in den ruf kommt, als wäre sie
unfähig ihre Zöglinge zu gesitteten menschen zu machen.
Als leser des buches hat sich der verf., wie gesagt, besonders
die reifere jugend gedacht, ihr soll es ersatz geben für die unwahren
und phantastischen Indianergesebich ten einer früheren zeit; die kna-
ben sollen als Deutsche ihre freude haben an den thaten ihrer lands-
leute, sie sollen die erkenntnis gewinnen, dasz es auch in unserer
zeit noch helden gibt, denen nachzueifern sich verlohnt, in der that
ist das buch so recht geschaffen für die classenbibliotheken; man
wird es aber auch gern schtilervorträgen zu gründe legen, um so die
ereignisse der gegenwart in unsern Unterricht hereinzuziehen, schon
seit jähren macht sich ja im stillen, aber nicht unmächtig die vom
kaiser in seinen äuszerungen über das höhere Schulwesen noch vor-
miszte neigung mehr und mehr geltend, alles auf die gegenwart und
auf unser volk zu beziehen , und so teils die schüler in ihrer zeit
heimisch zu machen, teils aber auch die zustände der Vergangenheit
ihnen lebendiger zu machen, indem das ferne durch das nahe Ver-
ständnis gewinnt.
Schlawb in Pommern. Th. Becker.
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622
A. Fulda: die Kiffbäusersage.
57.
DIE KIFFHÄÜ8ER8AGE. REDE, GEHALTEN IM JAHRE 1877 IN DER HAUPT-
VERSAMMLUNG DES HARZVEREINS VON DR. ALBERT FüLDA,
WEIL. GYMNA8IALDIRECTOR IN SANGERHAUSEN. NACH DEM VON
DEM VERPA88ER HINTERLA88ENEN MANUSORIPTE MIT EINER KARTE
UND ANMERKUNGEN HERAUSGEGEBEN VON DR. JüLlUS SCHMIDT
UND E. Gnau. Sangerhauaen und Leipzig, verlag von Bernhard
Franke. 1889.
Kiffhauser, alter würd'ger berg, —
o sprich, wie kam's, dasz just von dir
ergieng so wundersame künde,
dasz viele hundert jähre lang
du warst in allen Volkes munde?
wie kam's, dasz just in deinen schosz
der alte kaiser Friedrich stieg
unri schlummernd harrte, bis das reich
aufs neu erstand aus kämpf und sieg?
Der bistoriker Georg Voigt war der meinung, diese frage ent-
ziehe sich jeder erörterung. dagegen wies der mythen forscher Adalbert
Kuhn auf die frauengestalt bin, welche nach der volkssage im Kiff-
häuser wohnen soll und von einigen geradezu frau Holle genannt
wird; der Kiffbäuser erschien nun, ebenso wie der HöTselberg, als
ein wolkenberg, und wenn in demselben zusammen mit frau Holle
auch eine männliche person hausend gedacht wurde, so konnte das
niemand anders sein, als der held, der gekommen ist, die in der
wölke eingeschlossene himmlische wasserfrau zu befreien, so ergab
sich denn die Vermutung, dasz schon lange vor dem Hohenstaufen
Friedrich das volk von einem im Kiffhäuser wohnenden helden mit
langem barte gesprochen und darunter den gott des gewitters, gleich-
viel ob Wodan oder Donar, verstanden habe, jetzt erhält diese Ver-
mutung durch da» vorliegende schriftchen eine ungeahnte bestätigung.
dem verstorbenen director Fulda war es aufgefallen, dasz wir den
sagenberühmten berg nur nach der auf seiner höhe liegenden bürg
(Kiff-hausen, in ältester form Kufese) benennen; er vermutete, dasz
ein in der flachen landschaft so charakteristisch sich erhebender und
für die umwohner als Wetterprophet dienender berg schon vor er-
bauung dieser bürg einen namen gehabt haben möge und es glückte
ihm, in einer Urkunde des klosters Walkenried vom jähre 1277 eine
stelle zu entdecken, wo ein Wodansberg erwähnt wird; aus dem
zusammenhange glaubte er folgern zu dürfen, dasz damit unser Kiff-
häuserberg gemeint sei. ein blick aber auf das kärtcben, welches dr.
Schmidt, director des sächs.provinzialmuseuras zu Halle, dem Fulda-
schen vortrage beigegeben hat, erhebt diese folgerung zur gewisheit.
Jetzt wird es verständlich, wie nicht nur bei Otmar in der
deutschen monatsschrift 1795, sondern noch in diesem jahrhundert
in manchen Ortschaften der umgegend der name des verzauberten
kaisers Otto lauten konnte; es war dies nichts anderes als eine Ver-
drehung des namens Wotan ; in der sage vom kaiser Otto hatte der
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A. Fulda: die Kiffhäusersage.
623
glaube an den alten heidengott sich erhalten, wie kam es aber nun,
dase an stelle kaiser Ottos ein kaiser Friedrich trat? es ist durch
Georg Voigts und anderer forschungen nachgewiesen, dasz von dem
Hohenstaufen Friedrich II, der 1250 in Apulien gestorben war, bald
nach seinem tode die sage gieng, er lebe noch, ums jähr 1300 be-
hauptete das deutsche volk: er wird kommen, unser heiland Friedrich
der zweite, in gewaltiger majestät, und wird die verrottete kirche
läutern und verbessern; er wird kommen, denn er musz kommen,
aber kaiser Friedrich kam nicht, und so erhob sich die frage: wo
weilt er? in der goldenen aue beantwortete man diese frage mit
dem hinweis auf die im Kiffhäuser bausende kaisergestalt. vielleicht
meinte man, kaiser Friedrich fühle dort in der nähe der alten kaiser-
pfalz Tilleda, wo sein groszvater und sein vater wiederholt residiert
hatten, sich besonders heimisch, vielleicht war wie bei der beziebung
auf Otto, so auch bei der beziehung auf Friedrich ein einzelnes wort
veranlassung. bekanntlich zeichnet sich der Kiffhäuser durch seinen
hochragenden wartturm vor den benachbarten berghöhen aus. wir
wissen nun aus Prätorius Alectryomantia, dasz im siebzehnten jahr-
hundert, wenn von diesem türme wölken aufwärts stiegen, die leute
ausriefen: fhoho, kaiser Friedrich brauet, es wird schlackicht wetter
werden.' der türm hiesz und heiszt heute noch geradezu 'der kaiser
Friedrich', im mittelalter nannte man einen solchen türm einen
'bergfried'. vielleicht war dieses wort mit veranlassung zur loca-
lisierung der kaiser Friedrichssage im Kiffhäuser.
Um einige jahrhunderte später, nachdem die identificierung
kaiser Friedrichs des zweiten mit der im berge hausenden bärtigen
gottheit erfolgt war, meinten litterarisch gebildete leute, der kaiser
Friedrich, von dem das volk spreche, müsse Friedrich I oder Bar-
barossa sein, denn nur dieser sei durch seinen hart berühmt ge-
wesen; eine folge dieser behauptung war, dasz der bart von nun an
als rot bezeichnet wurde, in dieser fassung nahm Büsching 1812
die sage in seine rvolkssagen, märchen und legenden' auf. sein buch
kam dem jungen Rückert in die hände, als dieser sich gerade mit
dem gedanken trug, den kaiser Barbarossa als idealgestalt eines
deutschen kaisers in einem epischen gediente zu preisen; das epos
kam nicht zu stände; nur zwei kleinere gedichte dieses Stoffes er-
schienen, das sonett 'o ungestorbner kaiser Barbarossa' und das
wehmütige lied 'der alte Barbarossa, der kaiser Friedrich', erste res
im april 1817, letzteres nur wenige monate früher entstanden (vgl.
meine schrift 'die sage vom kaiser Friedrich im Kyffhäuser', Leipzig,
Teubner, 1886, s. 37 ff.).
Auszer der entdeckung des namens Wodansberg in der Wal-
kenrieder Urkunde ist noch manches andere in der Fuldaschen schrift
beachtenswert; so zb. der hinweis auf den in der jüngern Edda mit-
geteilten mythus vom gotte Odhin , wie er den begeisternden meth
von der hüterin des hohlen berges gewinnt, was dagegen den ver-
such betrifft, für die Kiffhäusersage erklärung aus dem nordischen
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624
Zum mathematischen Unterricht.
mythus von der götterdömmerung zu gewinnen, so dürfte derselbe,
wie so manches, was Fulda früher in seiner gehaltvollen recension von
Bratuscheks germanischer göttersage in diesen jahrb. 1871 s. 369 ff.
behauptet hat, durch des norwegischen gelehrten Sophus Bugge
Studien Uber die entstehung der nordischen götter- und heldensagen
(deutsch von Oscar Brenner, München 1889) hinfällig geworden sein.
Die beiden berren, welche Fuldas rede 12 jähre nachdem sie
gesprochen, zum druck beförderten und mit einer karte und anmer-
kungen versahen, haben damit nicht nur ein werk der pietfit gethan ;
sie haben das interesse an der Kiffhäusersage aufs neue geweckt,
gerade jetzt, wo das denkmal kaiser Wilhelms, des Barbablanca, auf
der höhe des götterberges sich erbeben soll.
Beigegeben ist dem Fuldaschen vortrage ein gedieht, in wel-
chem eine dem verstorbenen Verfasser nahestehende dame auf grund
der Hauptgedanken des Vortrags in schwungvollen versen antwort
gibt auf die oben abgedruckte frage: o sprich, wie kam's usw.
Der ertrag des schriftchens ist zum besten der Fuldastiftung
bestimmt.
Moskau. Ernst Koch.
58.
ZUM MATHEMATISCHEN UNTERRICHT.
1) 6500 AUFGABEN FÜR DEN UNTERRICHT IN DER ARITHMETIK UND
ALGEBRA. MIT ERKLÄRUNGEN UND AUSGEFÜHRTEN BEISPIELEN,
NEBST EINER LOGARITHMENTAFEL. IN METHODISCHER STUFEN-
FOLGE BEARBEITET '0N W. AüAM, KÖNIGL. SEMINARLEHRER IN
NEU-RUPPIN. VOLLSTÄNDIG IN ZWEI TEILEN.* Verlag VOO Rudolph
Petrenz in Neu-Ruppin.
2) ARITHMETISCHES UND ALGEBRAISCHES ÜBUNGSBUCH MIT AUSGE-
FÜHRTEN MUSTERBEISPIELEN, MEHR ALS 2500 AUFGABEN ENT-
HALTEND. ZUM GEBRAUCH AN LEHRERSEMINARIEN , MITTEL UND
GEWERBESCHULEN WIE AUCH AN HÖHEREN LEHRANSTALTEN BE-
ARBEITET VON W. A D AM, KÖNIGL. 8KMINARLEHRER IN NEU-RtfPPIN.
zweite Auflage. Neu-Ruppin, verlag von Rudolph Petrenz. 1889.
Vor einiger zeit habe ich in diesen Jahrbüchern 1890 s. 395 —
400 bei gelegenheit des Wröbelschen Übungsbuches für arithmetik
und algebra auf einige mängel hingewiesen, die so ziemlich allen
derartigen werken anzuhaften schienen, da die beiden vorliegenden
* erster teil: die vier species mit absoluten und relativen zahlen,
bruchrechnuug. Verhältnisse und proportionen. gleichungen des ersten
grades mit einer und mit mehreren unbekannten, das quadrieren und
das kubieren, nebst umkehrung dieser Operationen, einfache gleichnn-
gen mit wurzelgröszen. anhang: decimalbrüche. 1888. zweiter teil:
quadratische gleichungen mit einer und mit mehreren unbekannten, sowie
gleichungen höhereu grades, welche sich auf quadratische zurückführen
lassen, arithmetische reihen, potenzen, wurzeln und Iogaritbmen. geo~
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Zum mathematischen Unterricht.
625
Adamschen Schulbücher indessen von denselben völlig frei sind, er-
laube ich mir ihnen eine kurze besprechung zu widmen , um hierbei
an einige punkte zu erinnern, die zwar weniger wichtig sind als die
früher erörterten , doch aber einer beleuchtung auch nicht unwert
erscheinen.
In der Hauptsache erfolgt der auf bau, wie aus der inhaltsangabe
ersichtlich, in herkömmlicher weise; doch ist bemerkenswert, dasz
Verfasser sich thunlichst beeilt, den lernenden in die gleichungen
hinein zu befördern, das ist zu billigen, zumal es nur ganz vereinzelt
einen lehrer geben dürfte, der die gleichungen erst nach durcharbei-
tung der gesamten arithmetik d rannähme.
In 2) ist die zahl der aufgaben eine viel beschränktere als in
den meisten derartigen Schulbüchern, das ist aber keineswegs ein
übelstand; denn ein dutzend aufgaben, gründlich durchgearbeitet
und namentlich nach verschiedenen methoden gelöst, gewähren dem
schüler sicherlich mehr nutzen , als drei dutzend , die eben nur so
durchgepeitscht worden sind. — Sehr zu billigen ist die durchgängig
scharfe fragestellung, die strenge Scheidung der gleichungen nach
ihrem grade , die trennung der algebraischen von den exponential-
gleichungen , die treffliche aufsetzung der gleichungen , die genaue
behandlung der proportionen u. v. a.
Die proportion :
x : y : z = a : b : c
besteht aus den beiden Verhältnissen :
x : y : z und a : b : c;
das Verhältnis x :y : z aber enthält die beiden Verhältnisse x : y und
y \ z. man könnte es füglich als ein zweifaches und jene proportion
als eine zweifache proportion bezeichnen; dadurch würde sich für:
ax : a2 : • • • ! an = b{ : b2 : • • • bn
der name (w — 1) fache proportion ergeben, wer aber, allerdings
ohne not, wie mir scheint, in der bezeichnung noch mit ausdrücken
will, dasz die einzelnen Verhältnisse sich mit end- und anfangsglied
aneinanderschlieszen , der wird sagen: das mehrfache Verhältnis
x : y : z läuft von dem einfachen Verhältnis x : y zu dem einfachen
Verhältnis y : z weiter, er wird demgemäsz von weiterlaufenden,
wohl auch von fortlaufenden Verhältnissen und proportionen spre-
chen, nicht aber von laufenden, wie in 2) der fall; am wenigsten
aber dürfte es sich empfehlen, aus fortlaufenden Verhältnissen lau-
fende proportionen zu bilden, wie in 1) geschieht. — Im gebrauche
der klammern befleiszigt sich Verfasser einer so weitgehenden Spar-
samkeit, dasz sie zwar nicht nachweislich die grenzen des gestatteten
tiberschreitet, zuweilen aber doch so weit geht, dasz sie manchen
metrische reihen, zinseszins- und rentenrechnung. diophantische auf-
gaben, kettenbrüche. anhang: kubische gleichungen. der binomische
lehrsatz. logarithmentafel. 1889.
W. Jthrb. f. phil. a. p&d. II. »bt. 1891 hfl. 12. 40
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02(3
Zum mathematischen Unterricht.
nicht mehr sympathisch berühren dürfte, so z.b. schlieszeich lieber
Proportion sglieder in klammern ein, sobald sie die form einer summe
oder einer differenz haben ; dasselbe gilt von mehrgliedrigen dividen-
den und divisoren, auch dann wenn sie besonders als solche bezeich-
net worden sind, die hierdurch bewirkte betonung der Zusammen-
gehörigkeit erscheint mir der kleinen mühe der klammersetzung
mehr als wert. — Die Unterweisung ist im allgemeinen wohl ge-
lungen, doch fehlt (in 2) z. b. eine anleitung zur lösung derjenigen
gestellten aufgaben , die auf unbestimmte gleichungen von höherem
als dem ersten grade führen, während mir in 1) die regel für die
multiplication und division periodischer decimalbrüche aufgefallen
ist (1 § 48). es ist doch wahrlich nicht nötig und in vielen fällen
nicht einmal praktisch , die periodischen decimalbrüche in gemeine
zu verwandeln , diese zu multiplicieren bzw. zu dividieren und das
resultat dann wieder in einen decimalbruch umzuwandeln ; nament-
lich bei der division wäre das sehr oft recht unpraktisch. — Die mit
buchstaben bezeichneten gröszen haben bekanntlich allgemeinen
wert, und man kann deshalb von der proportion :
a : b mm c : d
behaupten, weder dasz sie keine brüche enthalte noch das gegenteil,
weder dasz sie in den kleinsten ganzen zahlen ausgedrückt sei noch
das gegenteil; demnach wären die aufgaben: 1) § 17 und § 24 und
2) § 16 etwa in folgender gestalt zu geben: vereinfache thunlichst
die folgenden Verhältnisse und proportionen , entferne aus den fol-
genden Proportionen die quotienten u. 8. f.
Es liesze sich wohl noch mancherlei über diese in ihrer gesamt-
heit guten bücher sagen , von denen mir 2) besonders gefallen hat.
das obige mag genügen und mir nur noch gestattet sein, einen punkt
zur spräche zu bringen , auf den ich weniger durch die Adamschen
bücher, als bei den in meinem rechenunterrichte gesammelten erfah-
rungen aufmerksam geworden bin. aus diesem gründe will ich hier
auch nur den teil berühren, der auf algebraischem gebiete liegt, das
übrige einer späteren gelegenheit vorbehaltend, es gibt aufgaben,
welche trotz richtiger lösung falsche antworten ergeben ; so z. b. er-
gibt sich durch richtige division :
j _^ x « 1 + x + x2 + • • • in inf.
und doch sind für x > 1 beide durch gleichheitszeichen verbundene
werte offenbar ungleich, man hilft sich nun in verschiedener weise,
während die einen solche Divisionen Uberhaupt nicht ausführen lassen
und dadurch sich und den schülern diese Verlegenheit ersparen, ver-
meiden andere thatsächliche fehler, indem sie stets x < 1 wählen,
also nur mit convergenten reihen arbeiten , ohne doch namen und
begriff derselben schon auf dieser stufe einzuführen, beide behand-
lungBweisen wollen mir nicht recht gefallen, ich meine, dasz es
einen weg gibt, dem schtiler in einfacher weise diese ihn gewis inter-
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Zum mathematischen Unterricht. 627
essierende sache klar zu machen, einen weg, den ich neuerdings
zu meiner freude schon in einer algebra angedeutet gefunden zu
haben glaube, und den ich hier ganz in kürze darlegen will, wenn'
ich mir auch sehr wohl bewust bin, dasz ich den fachgenossen hier-
mit keineswegs sachlich neues biete, wie:
so ist auch :
1 — x ^ 1 — X
- 1 + * + r~t
soll dieses res ul tat mit dem obigen identisch sein, so musz das rest-
glied mit unbegrenzt zunehmendem r sich unbegrenzt der null nähern ;
d. h. es musz sein, wodurch die convergenzbedingung der reihe
und damit zugleich die giltigkeitsbedingung der gleichung:
j-^— = 1 + x + + • • • in inf.
gefunden, zugleich aber auch nachgewiesen ist, dasz und warum die
division für den vermeintlichen fehler nicht verantwortlich gemacht
werden kann, um irrigen auffassungen meiner darlegung vorzu-
beugen, bemerke ich noch, dasz ich die Untersuchung auf die für
_^ gefundene reihe , sowie auf die hiermit eng zusammenhängen-
den etwas allgemeineren fälle beschränkt, die entwicklung anderer
quotienten in unendliche reihen aber und die dann hierfür notwendig
werdende Untersuchung über die convergenz einer späteren zeit vor-
behalten sehen möchte, vor die wähl gestellt zwischen den jetzt
üblichen behandlungsweisen dieses capitels, würde ich lieber darauf
verzichten, quotienten in reihen zu entwickeln, als diese entwicklung
auszuführen, ohne die schüler über die beschränkte zulässigkeit der-
selben aufzuklären.
* *
*
1) erkenntnistheoretische: Einleitung in die Geometrie von
OBERLEHRER MaxRaSCHIG. WISSENSCHAFTLICHE BEILAGE ZUM
JAHRESBERICHT DES KÖNIGL. GYMNASIUMS ZU SCHNEEBERG 1890.
mit einer pigurentafel. Schneeberg 1890. 38 b. 4.
. Obwohl die geometrie sich einer sichern grundlage erfreut, —
das , meine ich , würden nötigenfalls allein schon ihre resultate be-
weisen — werden dennoch immer und immer wieder Untersuchungen
40*
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628 Zum mathematischen Unterricht i
gewissermaszen über die Solidität derselben, um es kurz auszudrücken,
angestellt, so weit diese nun von gewissen denkmöglichkeiten aus-
gehend zu räumen gelangen und geometrien entwickeln, die zwar
in sich widerspruchsfrei sind, der nun einmal vorhandenen Wirk-
lichkeit aber nicht entsprechen, erscheinen sie mir, als fl üchte eines
mehr scharfsinnigen als zweckmäszigen denksports, völlig wertlos;
so weit sie aber darauf abzielen, den nun einmal notwendigen grund-
lagen der Wissenschaft eine durchaus klare fassung, eine mehr als
seither einleuchtende und denknotwendige gestalt und den ent Wick-
lungen ein einheitliches gepräge zu geben, sind sie berechtigt und
verdienen die beachtung aller derjenigen, die irgend welches inter-
esse an diesem gegenstände nehmen, also vor allem die beachtung
aller mathematiker, die sich im Unterricht mit den elementen der
geometrie zu beschäftigen haben, da die vorliegende abhandlung zu
der letztern art gehört, versuche ich es, die leser dieser jahrbücher
mit ihrem inhalt bekannt zu machen, so zwar, dasz ich die mehr auf
metaphysischem gebiete liegenden ersten teile so kurz als möglich
behandele, doch bemerke ich noch, dasz es mir fern liegt, eine er-
schöpfende kritik der in der fleiszigen schrift enthaltenen reichen
denkarbeit geben zu wollen; es kann mir das um so weniger ein-
fallen, als ich wie schon angedeutet mich gegen manche der dort
angestellten erörterungen ablehnend verhalte, bei anderer gelegen-
heit hoffe ich, meine diesbezüglichen ansichten ausführlicher dar-
legen und eingehender begründen zu können.
Zunächst erörtert Verfasser seinen Standpunkt gegenüber der
frage nach der erkenntnis einer realen auszenwelt und bekennt sich
hierbei zu jener ansieht, welche, zwischen der apriorischen und der
empiristischen richtung vermittelnd die reale auszenwelt sich in uns
spiegeln und unsere erkenntnis derselben von gewissen anfängen aus
sich mit uns entwickeln läszt. hieran schlieszt sich ein versuch, die
ausnahmslose giltigkeit des causalgesetzes mit der Willensfreiheit
des menschen zu vereinbaren, ein versuch, der meines erachtens ge-
scheitert ist wie er scheitern muste, und wie alle ähnlichen auch in
zukunft scheitern werden, wenn das causalgesetz ausnahmlose gel-
tung hat, so ist der mensch unfrei, weil durch jenes gebunden, einerlei
ob er sich dieser Unfreiheit bewust ist oder nicht; wenn aber der
mensch frei ist, so ist das causalgesetz nicht mehr ausnahmslos giltig,
weil es ja durch ihn eine ausnähme erleidet; ein drittes ist für mich
geradezu denkunmöglich, dabei habe ich genau dasselbe bedürfnis,
die Willensfreiheit des menschen gegenüber dem causalgesetze zu
retten, wie der Verfasser, und wollte für meine person auch lieber
eine lücke in diesem zugeben, als jene leugnen, nur dasz mir rein
objectiv betrachtet die sache eher umgekehrt zu liegen scheint; denn
ausnahmen von der Willensfreiheit dürften sich eher wahrscheinlich
machen lassen, als ausnahmen vom causalgesetze.
Um nun darzulegen , wie sich das empirische element allmäh-
lich auf kosten des apriorischen verstärkt, ohne indessen dieses je
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Zum mathematischen Unterricht
629
ganz zu beseitigen, zeigt Verfasser im folgenden capitel: erfahrung
und abstraction in der mathematik, wie sich begriffe aus der erfah-
rung durch abstraction bilden und weist dann auf eine Stufenfolge
der abstraction auf dem gebiet des naturerkennens hin; am wenig-
sten werde abstrahiert in den beschreibenden naturwissenschaften,
mehr in physik und chemie, noch mehr in geometrie, am meisten
aber in der arithmetik, die sich mit der zahl, dem abstractesten pro-
ducte unseres geistes auf mathematischem gebiete , beschäftige; die
zahl sei demnach abzuleiten aus unserer Vorstellung des raumes,
nicht aber der zeit, sodann werden die geometrischen classenformen :
körper, fläche, linie, punkt, in ihrer abhängigkeit von einander dar-
gestellt, die niedrigere als grenze der nächst höhern, und die höhere
als spur , d. h. als bewegungsproduct der nächst niedrigeren , wobei
Verfasser sich stets bemüht , das rein empirische element von einem
apriorischen zu trennen, 'welches allein die geometrie und damit die
gesamte mathematik bezüglich der allgemeingiltigkeit ihrer resultate
über eine erfahrungswissenschaft hinaushebe'. Verfasser behandelt
nun in einem längeren abschnitte den Ursprung unserer raumvor-
stellung, wobei denn auch der vierdimensionale räum und ähnliche
müszige speculationen eine gebührende berücksichtigung finden, ge-
langt hierbei zu dem satze, 'dasz der räum als ein dreifach und
stetig aber ohne grenzen ausgedehntes vorgestellt und ein dem ent-
sprechender begriff erfahrungsgemäsz gebildet werde' und teilt
hierauf die Wundtschen definitionen mit, sie in kürze kritisch be-
leuchtend.
Es entwickelt sich hieraus die aufgäbe, die gerade aus dem
grundprincip aller geometrischen construction , der bewegung, und
damit unabhängig von dem begriffe der richtung zu definieren nach
einer zwar wohlgelungenen, aber, wie mir scheint, doch auch kaum
nötigen rechtfertigung der geometrischen beweismethode , als auf
einer unendlichkeitsinduction beruhend, und nach ablehnung der
Neumannschen definition: 'die gerade ist die spur eines sich selbst
überlassenen punktes', gelingt die lösung in der weise, dasz die
gerade definiert wird als 'eine linie, welche zwischen zwei beliebigen
punkten eindeutig liegt*, ist denn aber die eindeutigkeit so a priori
einleuchtend und das Vorhandensein einer eindeutigen läge so von
vorn herein feststehend, dasz man gerade hierauf mit glück die defi-
nition der geraden aufbaute? ich meine, dasz die obige Neumannsche,
wie die Legendresche: 'die gerade ist die kürzeste zwischen zwei
beliebigen ihrer punkte', ungefähr ebenso plausibel seien, wenn
Verfasser namentlich gegen letztere einwendet, dasz dieselbe ein leb r-
satz und als solcher von Baltzer bewiesen sei, so ist das doch wohl
ein irrtum; denn wenn man die gerade so definiert, so ist das
eben kein lehrsatz, sondern eine definition, es fragt sich nur, ob
sie eine fruchtbare ist oder nicht, und ob sich z. b. die identität
der so definierten geraden mit einer anderweit definierten nach-
weisen läszt.
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630 Zum mathematischen Unterricht.
Nachdem sodann festgestellt worden ist, dasz der winkel als
eine selbständige grösze nicht vor der ebene definiert werden kann,
wird 'die normale als diejenige gerade erklärt, welche zu einer
zweiten liege, wie die Symmetrielinie zur basis des gleichschenkligen
dreiecks'. nunmehr werden für die ebene drei definitionen auf-
gestellt, von denen die zweite zunächst die erste ergänzt, von der
dritten aber: 'die normale einer geraden in einem gegebenen punkte
ergibt als spur einer drehenden bewegung um jene festliegend ge-
dachte gerade eine ebene', wird nachgewiesen , dasz die durch sie
definierte fläche sowohl mit der durch die erste als auch mit der
durch die zweite definierten identisch sei, wodurch sich dann die
erste definition als einwurfsfrei und vollständig erweist; sie lautet:
'eine ebene ist die spur einer geraden, welche durch einen punkt so
bewegt wird, dasz sie bei dieser bewegung zugleich auf einer fest
mit diesem punkt verbundenen geraden hingleitet'; dann ist die
fundamentalste eigenschaft derselben nach der zweiten definition die,
'dasz man zwei beliebige ihrer punkte durch eine gerade verbinden
kann, die mit allen ihren punkten in ihr liegt'.
Die nun folgende Untersuchung bezweckt dem Euklidischen
elften axiom: 'zwei gerade, welche von einer dritten so geschnitten
werden, dasz die beiden innern an einer seile liegenden winkel zu-
sammen kleiner als zwei rechte sind , schneiden sich verlängert an
eben dieser seite', eine denknotwendigere fassung zu geben und
findet dieselbe in dem von Günther (Ansbach) vorgeschlagenen
axiom: 'eine aus ihrer ursprünglichen richtung herausgerückte und
dann in ein und derselben ebene willkürlich bewegte gerade hat, so-
bald sie in ihre anfangslage zurückgelangt ist, jedenfalls eine drehung
von m vollen winkeln (=* 360°) zurückgelegt, unter m eine ganze
zahl verstanden.' hieraus wird zunächst der satz abgeleitet, dasz
die summe der auszen winkel einer figur gleich 412 und mithin die
summe der innen winkel eines dreiecks gleich 2 JB, woraus sich dann
die sätze über die winkelpaare an parallelen ergeben, diese darstel-
lung ist sehr einfach und klar und eignet sich vortrefflich zur ein-
führung in den Unterricht in den elementen der planimetrie.
Die arbeit zeugt von guter kenntnis der einschlägigen litteratur
und enthält des beachtenswerten mancherlei, dasz ich zuweilen den
eindruck gehabt habe, als ob Verfasser auf autoritäten mehr als gut
gewicht lege, mag meine subjective falsche ansieht sein ; das würde
sich in etwas wohl auch durch die natur des gegenständes recht-
fertigen, der zn dem problemenreichen grenzgebiete zwischen mathe-
matik und philosophie gehört und als solcher weniger mit der apodik-
tischen gewisheit der ersteren als mit der den auseinandergehenden
meinungen der forscher entspringenden Unsicherheit der letzteren
behaftet ist. von da an , wo die eigentliche mathematische behand-
lang anfängt, d. h. im letzten drittel etwa, erscheint die darstellung
auch entsprechend sicherer, und ich empfehle deshalb namentlich
diesen letzteren den fachgenossen zur geneigten beachtung.
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Zum mathematischen Unterricht.
631
2) ÜBERSICHTLICHE DARSTELLUNO DER MATHEMATISCHEN THEORIEN
ÜBER DIE DI8PER8ION DES LICHTES. EINHEITLICH UND LEICHT
FASZLICH ENTWICKELT VON ADALBERT B REU KR, K . K. PRO-
FESSOR IN TRAUTKNAU , BÖHMEN. ERSTER TEIL. NORMALE DIS-
PERSION, mit einer figurentafel. Hannover 1890. 46 s. 4.
Nachdem Verfasser in der einleitung eine kurze Vorgeschichte
seines gegenständes gegeben und die gesetze der schwingenden be-
wegung unter beschränkung auf isotrope mittel und transversale
Schwingungen für geradlinig polarisiertes licht entwickelt hat , be-
handelt er eingehend auf mathematischer grundlage die theorien von
Cauchy, Powell, Broch, Bedtenbacher, Eisenlohr, Christoffel, Briot,
Neumann und Boussinesq und schlieszlich Kettelers empirische glei-
chungen und die approximationsgleichungen derätherbewegung. die
darst eilung ist klar und übersichtlich ; wenn es auch nicht möglich
ist , den gegenständ bei dieser kürze zu erschöpfen , so ist es dem.
Verfasser doch gelungen, die einschlägigen hauptfragen dem leser in
ihrer geschichtlichen entwicklung vorzuführen , und ihn dadurch zu
befähigen, genügende mathematische Vorbildung vorausgesetzt, an der
weitern förderung dieses Wissenszweiges selbstthätig teil zu nehmen,
ohne besondere andere Vorstudien zu machen, da ich hierin für jeder-
mann, namentlich für jeden, dem nicht eine gröszere fachbibliothek zu
bequemer Verfügung steht, mit dem Verfasser einen nicht zu unter-
schätzenden gewinn erblicke, wünsche ich ihm für diese abhandlung
so wohl als auch für ihre auf 1891 in aussieht gestellte fortsetzung
Über die anomale dispersion ebenso zahlreiche als aufmerksame leser.
3) CONSTRUCTIVE GEOMETRIE DER KEGELSCHNITTE AUF GRUND DER
FOCALEIGENSOHAFTEN. EINHEITLICH ENTWICKELT VON ADAL-
BERT BREUER, K. K. REALLEHRER IN TRAUTEN AU, BÖHMEN. EIN
LEHRBUCH FÜR HÖHERE UNTERRICHTSANSTALTEN UND FÜR DEN
SELBSTUNTERRICHT. MIT 80 IN DEN TEXT GEDRUCKTEN ORIGINAL-
FIGUREN. Eisenach 1888. 110 s. 4.
Verfasser definiert zunächst die Kegelschnitte als geometrische
örter, lehrt dann deren construetion für bestimmte zahlen werte der
excentricität ( ' , l, ! ) und behandelt nunmehr zuerst die kegel-
schnitte in ihrer gesamtheit und hierauf einzeln die ellipse, die
parabel und die hyperbel. da das werkchen sich schon ziemlich lange
auf dem büchermarkte befindet, beschränke ich mich nach dieser
kurzen andeutung über die gruppierung seines reichen inhalts auf
die folgende kurze Charakteristik: die spräche ist äuszerst einfach
und klar, die anordnung übersichtlich und methodisch vortrefflich,
die ausstattung gut und insbesondere die figuren grosz und deutlich,
demnach, meine ich, dürfte sich das buch als Schulbuch in den oberen
classen der realgymnasien und der oberrealschulen sowie an tech-
nischen lehranstalten , soweit sie sich mit der kegelschnittslehre be-
fassen, wohl bewähren.
Frankenberg. J. Sievers.
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INHALTSVERZEICHNIS.
Adam: 6500 aufgaben usw. 8. mathematischer Unterricht.
— , arithmetisches und algebraisches Übungsbuch. 8. mathematischer
Unterricht.
Altertum und gegenwart im Unterricht, ein Vortrag. {Redslob.) s. 438.
JBone: wie soll ich übersetzen? winke und ratschläge. praktisches
hilfsbuch usw. 1890. {Mahn.) s. 359.
Born: bemerkungen zu einigen oden des Horas, besonders bezüglich
der Wortstellung. 1891. {Löschhorn.) s. 462.
Breuer: übersichtliche darstellung der mathematischen theorien über
dispersion des lichts. 8. mathematischer Unterricht.
— : constructive theorie der kegelschnitte. 8. mathematischer Unterricht.
Caesar, die lateinische casussyntax auf grundlage desselben und des
Nepos. {Brinker.) s. 491. 613. 586.
Chronologie im gymnasium, eine lehrstunde in derselben. Vortrag.
(Sollau.) s. 124.
Cicero, die nachahmung desselben auf unseren gymnasien. {Vogel.) s. 1.
— de officiis I cap. 32. 33. 42; erläuternde bemerkungen dazu. {Sal-
kowski.) 8. 484.
Correctum der schriftl. arbeiten, einige gedanken darüber. {Mahn.) s. 560.
Fulda: die Kiffhäusorsage , herausgegeben von J. Schmidt u. E. Gnau.
1889. {Koch.) s. 622.
Geographischer Unterricht auf gymnasien, zur geschichte desselben.
{Moses.) 8.503.
Gerber et Greef: lexicon Taciteum fascic. VIIL 1890. {Pfitzner.) s. 299.
Gnau s. Fulda.
Goethe 8. Schiller.
Greef s. Gerber.
Griechische lyriker in den oberen c lassen. {Biese.) s. 415.
Griechische schullectüre in prima, methode ders. Vortrag. {Meisler.) s. 475.
Guhrauer: bemerkungen zum kunstunterricht auf dem gymnasium. progr.
{Löschhorn.) 8. 463.
Gymnasialunterricht, einige fragen zur reform desselben. {DÖmald.) s. 8.
— , antwort auf 'einige fragen zur reform des gymnasialunterrichts'.
{Dolega.) s. 138.
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Inhaltsverzeichnis.
633
Hartfelder'. Philipp Melanchthon als praeceptor Germaniae. 1889.
(Holstein.) s. 132.
Haupt: kurzgefaszte lateinische formenlehre. 1890. (Matthias.) s. 357.
Hebräische grammatik nnd metrik, beiträge dazu. (Leg.) s. 311. 408,
Heidrich: handbnch für den religionsonterricht in den oberen classen.
teil L (Sterz.) s. 253.
Herwig: griechisches lese- und Übungsbuch für tertia. 1891.
— : vocabularium und regel Verzeichnis zum lesebuch für tertia. 1891.
(Fritsche.) s.
Hexameter, wie kann man dem anfänger die haupteäsuren desselben
klar machen? (Stawicki.) s. 3AL
Johannesbrief, der erste, gedankengang desselben. (Regelt.) s. 105.
Kümmel: deutsche geschiente. 1889. (DiesteL) s. LLL
Kiffhäusersage s. Fulda.
Lateinische leetüre im gymn., zur gestaltung derselben. (Thiele.) 8. 527.
Lateinische classenlectüre der gymnasien, eine lücke in derselben. (Vogel.)
s. 2Ü£L
Lateinischer Unterricht, zum späteren beginn desselben. (VÖlcker.) s. 20»
Lutsch: lateinisches lehr- und lesebuch für sexta. 1889. (Haupt.) s. 312.
Mathematischer Unterricht, zu demselben. (Sievers.) s. 624.
Müller: Übungsbuch für den uuterricht im lateinischen, heft L für
sexta. 1889. (Haupt.) s. :>TJ.
Nepos 8. Caesar.
Nerrlich: Jean Paul, sein leben und seine werke. 1889. (Jung f.) s. 246.
Neutestamentliche exegese, beiträge zu derselben. (Cron.) s. 283.
Oberlausitz 8. Schulwesen.
Pausanias, der reisebeschreiber, seine lebens- und glaubensansichten.
(Rieder.) s. 4filL
Personalnotizen. (Herausgeber.) 8. 6jL 112, 208» 324L
Perthes: die notwendigkeit einer durchgreifenden Umgestaltung unseres
Schulwesens. 1891. (Bolle.) s. '203. %
Pindar, das daktylo-epitritische versmasz bei demselben und die neuere
rhythmologische theorie. (Hermann.) s. 65.
Primaner, sind dieselben während des letzten jahres ihrer Schulzeit mit
recht als überbürdet anzusehen und wie können — bejahendenfalls —
dieselben entlastet werden? (Mahn.) s. 170.
Progymnasien, die reifeprüfang auf denselben. (Gronau.) s.
Putsche-Schottmüller: lateinische schulgrammatik. 23e aufl. unter mit-
wirkung von Fr, Heussner neu bearbeitet von B. Heil u. IL Schmitt.
1889. (Homemann.) s. 4ML
Haschig: erkenntnistheoretische einleituDg in die geometrie s. mathe-
matischer Unterricht.
634
Inhalts Verzeichnis.
Ribbeck, [La griechische schalgrammatik. formenlehre der attischen
prosa usw. 1891. (Möller.) s. hhZL
Rössler(f): geschiente der Königl. sächsischen fürsten- and landesschale
Grimma. 1891. (Haupt.) s. 365.
Sage, die antike, in sexta. (Enoch.) s. 426.
Scheindler: lateinische schalgrammatik. 1889. (Matthias.) 8. 140.
Schiller und Goethe, kritisch - exegetisches zu denselben. (Seltner.)
s. &6JL 606,
Schmalz a. Wagner: lateinische schulgrammatik. 1891. (Fügner.) s. 51L
Schmidt, Job., s. Weidner.
Schmidt, Jul., s. Fulda.
Schottmüller S, Putsche.
Schalfeierlichkeiten, gymnastische, musikalische and declamatorische;
über dieselben. (Stöwer.) s. 60, 77.
Schalwesen, höheres, in der Ober lau sitz; zur geschiente desselben.
(Heyden.) s. 1ÜL l&L 218. 273. 321.
Seiler: der schwarze erdteil and seine er forscher, zugleich 5e aufläge
des gleichnamigen buches von Reinh. Zöllner. 1891. (Becker.) s. 618.
Steiner u. Scheindler : lateinisches lese- und Übungsbuch im anschlusz an
die lat. grammatik von Scheindler. lr teil (sexta). (Matthias.) 8. 1ÜL
Thiele: vorlagen zu Übersetzungen ins lateinische für die prima der
gymnasien. 1891. (Muff.) s. LfiQ.
Trosien: über den religionsunterricht an evangelischen gymnasien. 1889.
(Krah.) s. 2QS.
•t
Uberbürdungsfrage, zu derselben. (Schröter.) 8. 18JL
Unterricht in den alten sprachen, die debnung des syntaktischen unter-
richte in denselben. (Vogel.) s. 577.
Varrcntrapp: Johannes Schulze und das höhere preuszische Unterrichts -
wesen in seiner zeit. (Lothholz.) s. 8X
Versammlung, 41e, deutscher philologen und Schulmänner zu München,
Verhandlungen derselben, s. 255,
Wagner s. Schmalz.
Weidner: Com. Nepotis viÄe. für den schulgebrauch bearb. 3e auf], mit
namensverzeichnis und anhang von Jo/i. Schmidt. 1890. (Stange.) s. 353.
Wesener: lateinisches elementarbuch. 3 teile, für sexta, quinta, qnarta.
3e bzw. 4e aufi. 1889. (Haupt.) s. 312.
Wiese: der evangelische religionsunterricht im lehrplan der höheren
schulen, ein pädagogisches bedenken. 2e aufl. 1891. {Krah.) s. 36G.
Willmann: didaktik als bildungslehre usw. 2. bde. 1882 u. 1888. (Muff".)
s. 12&
Xenophon, Agesilaus, dessen didaktischer wert im zusammenhange mit
der Kyropädie und den Memorabilien als schullectüre untersucht.
(Dörwald.) 8. 33L 3fi9_
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NAMENSVERZEICHNIS
DER AN DIESEM BANDE BETEILIGTEN MITARBEITER.
Becker in Schlawe. s. 618.
Biese in Kiel. b. 415.
Bolle in Wismar. 8. 203.
Brinker in 8chwerin. 8. 491. 510. 586.
Cbon in Augsburg, b. 283.
Dibstel in Dresden, b. 61.
Doleoa in Rogaaen. s. 133.
Dükwald in Ohlau. 8. 8. 331. 369.
Enoch in Diedenhofen. 8. 426.
Fritzbchb in Mülheim a. d. Ruhr. s. 243.
Fügner in Nienburg a. d. Weser. 8. 544.
Gronau in Schwetz. 8. 232.
Haüpt in Annaberg. s. 312. 365.
Hermann in Leipzig, s. 65.
Heyden in Dresden, s. 113. 161. 218. 273. 321.
Holstein in Wilhelmshaven, ß. 137.
Hornemann in Hannover, s. 449.
f Juno in Meseritz 8. 246.
Kettneb in Pforta. s. 566. 606.
Koch in Moskau, s. 622.
Krah in Insterbnrg. s. 206. 366.
Lev in Marburg, s. 341. 408t
Lothholz in Halle, s. 87.
Löschhorn in Dresden, s. 463.
Mahn in Kempen, a. 170. 369. 560.
Matthias in Zittau, s. 146. 357.
Meister in Leipzig, s. 476.
636
Namenverzeichnis der mitarbeiter.
Mos in Dresden, s. 503.
Möller in Breslau, s. 553.
Müff in Stettin, s. 160. 196.
Pfitzner in Parchim. s. 299.
Rbdslob in Weimar, s. 438.
Rbgbll in Hirschberg (Schlesien), s. 105.
Kibdbb in Gambinnen, s. 465.
Salkowski in Memel. s. 481.
Schröter in Posen, s. 185.
SiBVEBS in Frankenberg. s. 624.
Soltaü in Zabern. s. 124.
Stange in Dresden, s. 353.
Stawicki in Heiligenstadt, s. 351.
Sterz in Cöthen. s. 253.
Stöwbr in Berent (Westprenszen). 8. 50. 77.
Thiblb in Ratibor. s. 527.
Vogel in Dresden, s. 1. 209. 577.
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