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Full text of "Neue Jahrbücher für Philologie und Paedogogik"

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Neue 


Jahrbücher  für 
Philologie  und 
Paedagogik 


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I 


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NEUE  JAHRBUCHER 


FÜR 


PHILOLOGIE  UND  PAEDAGOGIK. 

GEGENWÄRTIG  HERAUSGEGEBEN 


VON 


ALFRED  FLECKEISEN  und  HERMANN  MASIUS 

PROTZSSOIl  IX  DK  KS  DK  5  PROPTKSOR  tW  LRIPZtO. 


Eun  U  ND  SECHZIGSTER  JAHRGANG. 

EINHUNDERTUNDVIERUNDVIERZIGSTER  BAND. 


LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER. 

1891. 


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JAHRBÜCHER 

FÜR 

PHILOLOGIE  und  PAEDAGOGIK. 


ZWEITE  ABTEILUNG. 


HERAUSOEGEBEN 

VON 

HERMANN  M  A  S  I  U  S. 


SIEBENUNDDREISZIGSTER  JAHRGANG  1891 

ODER 

DER   JAHNSCHEN  JAHRBÜCHER  FÜR  PHILOLQGIE  UND  PAEDAGOGIK 
EINHUNDERTUNDVIERUNDVI ERZIGSTER  BAND. 

y<S    o?  thr  4^ 
LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER. 


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/7)3 

v.  M 


ZWEITE  ABTEILUNG 


FÜB  GYMNASIALPiDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 


DIE  NACHAHMUNG  CICEROS  AUF  UNSEREN  GYMNASIEN. 

Jeder  fachmann  weisz,  dasz  bedenken  wegen  des  freien  latei- 
nischen aufsatzes  auf  dem  gymnasium  vereinzelt  schon  im  vorigen 
Jahrhundert  laut  geworden  sind  und  im  laufenden  Jahrhundert  von 
Jahrzehnt  zu  jahrzehnt  in  verstärktem  masze.  zur  zeit  unserer  väter 
und  groszv&ter  lag  aber  die  sache  doch  noch  wesentlich  anders  als 
jetzt,  bei  der  machtstell ung,  die  das  latein  damals  in  den  lebrplKnen 
und  im  ganzen  leben  der  gelehrtenschule  noch  hatte,  konnte  bei 
niemandem  der  zweifei  auftauchen,  ob  etwa  der  jugend  durch  jene 
forderung  zu  viel  zugemutet  werde,  nach  dem  vieljährigen  latein- 
lesen, lateinsprechen  und  lateinsprechenhören  fiel  auf  der  obersten 
stufe  der  freie  aufsatz  gleichsam  wie  eine  reife  frucht  vom  bäume, 
ebenso  wenig  konnte  der  praktische  nutzen  dieser  Übungen  in  zweifei 
gezogen  werden  in  einer  zeit,  da  die  hälfte  der  wissenschaftlichen 
Schriften  noch  lateinisch  geschrieben  wurde,  lateinische  Vorlesungen, 
disputationen,  festreden  u.  dgl.  noch  im  schwänge  waren,  bedenken 
gegen  den  lateinischen  aufsatz  konnten  daher  damals  im  wesentlichen 
nur  darauf  hinauslaufen ,  ob  aus  idealen  rücksichten  andern  schrift- 
lichen Übungen  im  latein  nicht  der  vorzug  zu  geben  sein  möchte. 

Das  ist  alles  anders  worden  in  dieser  neuen  zeit,  nur  von  alt- 
classischen  philologen  und  theologen  wird  das  lateinsprechen  und 
•schreiben  heutzutage  einigermaszen  gepflegt,  immer  seltener  er- 
scheint in  Deutschland  neben  tausenden  von  deutsch  abgefaszten  ein 
lateinisch  geschriebenes  umfängliches  werk;  denn  die  groszen  kri- 
tischen classike rausgaben  bieten  zusammenhängende  lateinisch  ge- 
schriebene erOrterungen  doch  meist  nur  in  den  prolegomenen.  ganze 
disciplinen  der  al tertums Wissenschaft ,  z.  b.  litteraturgeschichte, 
mythologie,  altertttmer,  vergleichende  grammatik,  haben  sich  der 
lateinischen  gewandung  völlig  entwöhnt,  so  dasz  der  doctorand, 

H.  jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  Ii  «bt.  1891  hfl.  1.  1 


MIT  AU88CHLU8I  DKK  CLA8S  ISCHEN  PHILOLOGIE 


HERAU8GEGEBEN  VON  PROF.  DR.  HERMANN  MaSIUS. 


L 


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2  Die  nachahmung  Ciceros  auf  unseren  gymnasien. 

welcher  die  anlegung  der  lateinischen  Zwangsjacke  geboten  erachtet,, 
sich  nicht  nur  unbehaglich  in  derselben  fühlt,  sondern  öfters  wegen 
der  kunstausdrticke  ernstlich  in  Verlegenheit  gerät,  lateinische  fest- 
reden  hört  man  fast  nur  noch  in  den  valedictionsacten  der  abi- 
turienten. 

Dazu  hat  sich  unzweifelhaft  herausgestellt,  dasz  schwächer© 
schtiler  der  meisten  gymnasien  einigermaszen  annehmbare  lateinisch© 
aufsätze  nicht  mehr  lief  ern  können,  wenn  sie  für  diese leistung" 
nicht  auf  kosten  ihrer  allgemeinen  entwicklung  künstlich  gedrillt 
werden,  das  sei  nur  unumwunden  zugestanden,  an  einzelnen  schulen 
mag  sich  die  Sachlage  etwas  günstiger  darstellen,  im  allgemeinen 
steht  es  wohl,  wie  wir  sagten. 

Ist  doch  zu  den  Schwierigkeiten,  die  in  der  aufgäbe  an  sich 
liegen,  in  diesem  jahrhundert  noch  eine  neue  besondere  gekommen, 
die  neuere  lexicographie ,  Synonymik,  Stilistik,  welche  alle  früheren 
leistungen  auf  diesen  gebieten  in  tiefen  schatten  stellen,  haben 
massen  von  einzelbeobachtungen  aller  art  aufgehäuft,  die  kaum  der 
fachmann  notdürftig  zu  bewältigen  vermag,  der  Sprachgebrauch 
zahlreicher  lateinischer  schriftsteiler  ist  so  genau  durchforscht  wor- 
den, dasz  über  denselben  Zusammenstellungen  von  fast  statistischer 
genauigkeit  vorliegen,  die  ihrer  zeit  mit  recht  so  hoch  gehaltenen 
stilistisch. antibarbaristischen  arbeiten  eines  Cellarius,  Vavassor, 
Vorstius  und  Noltenius  haben  heutzutage ,  abgesehen  von  ihrer  ge- 
schichtlichen bedeutung,  nicht  viel  mehr  als  maculaturwert.  die 
hälfte  der  behauptungen,  welche  jene  vielbelesenen  lehrmeister  der 
casta  Latinitas  ausgesprochen  haben ,  müssen  wir  neueren  nach  der 
oder  jener  seite  beanstanden  auf  grund  unanfechtbarer  einzelfor- 
schungen.  das  Verhängnis  des  deutschen  gymnasiums  hat  es  nun 
gewollt,  dasz  dasselbe  von  diesen  neuen  errungenschaften  der  latei- 
nischen Sprachwissenschaft  mehr  als  billig  zu  kosten  bekommen  hat. 
von  aufläge  zu  aufläge  wurden  die  schulgram matiken  reicher  an 
feinen  Unterscheidungen,  an  geboten  und  verboten,  von  denen  sich 
die  gefeiertsten  Latinisten  früherer  zeit  nichts  hatten  träumen  lassen, 
die  nachahmung  Cicero 8  insbesondere,  welche  in  früheren  zeit- 
läufen  wesentlich  aufs  viele  lesen  und  anempfinden  angewiesen  ge- 
wesen war,  erhielt  in  den  weit  verbreiteten  Übungsbüchern  des  treff- 
lichen M.  S  e  y  f  fe  r  t  ein  werk-  und  rüstzeug ,  das  man  in  seiner  art 
clasBisch  nennen  durfte,  wie  viel  schülerfleisz  und  noch  mehr  lehrer- 
fleisz  ist  auf  die  palaestra,  scholae  und  progymnasmata  Seyfferts 
verwendet  worden!  sicher  nicht  ohne  gewinn;  denn  jede  ernste, 
uneigennützige  arbeit  fördert  den  arbeiter  und  bleibt  nicht  ohne 
frucbt.  überwiegend  aber,  das  ist  unsere  entschiedene  ansiebt,  hat 
sich  diese  richtung  als  nachteilig  für  die  schüler  erwiesen,  als 
um  1850  die  Seyffertschen  bücher  sich  den  eingang  in  die  gymna- 
sien zu  bahnen  an fi engen ,  war  geläufigkeit  im  lateinschreiben  und 
lateinsprechen  kaum  noch  auf  den  fürstenschulen  und  verwandten 
anstalten  zu  finden,   nun  kam  das  kalte  sturzbad  der  enthüllungen 


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Die  nachahmung  Ciceros  auf  unseren  gymnasien.  3 

darüber,  was  in  bezug  auf  Wortschatz,  Wortverbindung,  Wortstellung, 
satzverkntipfung  usw.  f Ciceronianisch,  sei ,  was  nicht,  was  folgte, 
liesz  sich  voraussagen,  die  geübtesten  Lateiner  wurden  kopfscheu, 
bestand  doch  vor  dem  richterstuhle  des  vielbelesenen  Ciceronianus 
Seyffert  kein  modernes  latein  mehr,  auch  nicht  das  eines  F.  A.Wolf, 
Böckh  und  G.  Hermann,  wer  damals  mitten  in  der  lehrarbeit  ge- 
standen hat,  wird  es  bestätigen,  dasz  alle,  lehrer  wie  schüler,  mit 
ihrem  lateinschrei ben  immer  zaghafter  wurden,  immer  mehr  hilfs- 
bücher  wälzten  und  dabei  doch  nie  zu  einer  genüge  kamen.  Cicero 
und  Caesar  waren  für  den  Stilisten  die  einzigen  Standard  authors. 
ihnen  suchte  man  'jedes  räuspern  und  spucken  (nach  bekanntem 
Schillers chcn  kraftwort)  abzugucken';  eine  kleine  einschmuggelung 
von  Sallost  oder  Liviüs  galt  schon  als  contrebande. 

Der  erfrischende  hauch  der  siebenziger  jähre  hat  ja  viel  von 
alledem  hinweggeweht,  freiwillig  oder  notgedrungen  ist  man  davon 
zurückgekommen,  Ciceronianischen  color  in  den  schülerarbeiten  zu 
verlangen,  muste  man  doch  vielfach  froh  sein,  wenn  diese  überhaupt 
lateinischent  ragen,  aber  die  alte  Harmlosigkeit  ist  dahin  —  für 
immer,  der  geschulte  lehrer  kann  sich  dessen  selbstverständlich 
nicht  entäuszern,  was  er  gelernt  hat.  übt  er  auch  dem  schülerlatein 
gegenüber  weitgehende  nachsieht;  für  seine  person  wird  er  sich 
nimmer  entschlieszen  können,  des  sermo  vulgaris  der  alten  latein- 
redenchen  herren  sich  zu  bedienen,  nachdem  die  Wissenschaft  in  diesem 
solöcismen  und  barbarismen  in  menge  nachgewiesen  hat. 

Nach  der  bisherigen  erörterung  könnte  es  scheinen,  als  sollte  dem 
freien  lateinischen  aufsatz,  der  schon  so  gut  wie  ausgelebt  hat,  noch 
ein  unnötiger  todesstosz  versetzt  werden,  das  ist  nicht  unsere  absieht, 
als  maszgebende  Pflichtleistung,  als  ständige  Übung  für  prima  dürfte 
der  aufsatz  kaum  irgendwo  in  Deutschland  das  jähr  1892  überleben, 
nach  dieser  seite  würde  somit  ein  abwägen  des  für  und  wider  ziem- 
lich unnütz  sein,   hoffentlich  verfällt  man  aber  auch  nicht  in  das 
andere  extrem,  Übungen  dieser  art  ganz  zu  verpönen.  das  hiesze  der 
schule  untersagen,  einem  natürlichen  trieb  der  strebsamen  schüler 
befriedigung  zu  gewähren,  wer  sechs,  sieben  jähre  lang  eine  fremde 
spräche  betrieben  hat,  wird  bei  seinen  schriftlichen  Übungen  nicht 
immer  nur  am  leitseil  gehen  mögen,  abhandlungen  freilich  mit  teilen 
und  unterteilen  zu  schreiben  möchte  wohl  wenige  jünglinge  gelüsten, 
aber  die  au  ff  orderung,  etwas  zusammenhängend  lateinisch  nachzu- 
erzählen oder  zu  erörtern,  einen  selbst  erdachten  lateinischen  brief 
zu  schreiben  u.  dgl.  wird  dem  strebsamen  sicher  nirgends  unwill- 
kommen sein ,  zumal  wenn  derartige  Übungen  nicht  die  regel ,  son- 
dern die  ausnähme  bilden,   also  nicht  der  aufsatz  an  sich  ist  uns 
anstöszig,  sondern  der  druck,  den  die  sorge  für  die  classicität  des 
lateins,  d.  b.  im  letzten  gründe  die  nachahmung  Ciceros  noch 
immer  auf  die  schreibübungen  der  schüler  und  auf  den  ganzen  latei- 
nischen Unterricht  ausübt,  in  diesem  punkte  möchte  nicht  blosz  — 
wie  dies  bereits  seit  jähren  in  beachtlicher  weise  geschehen  ist,  — 


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Die  nachahmung  Ciceros  auf  unseren  gymnasien. 


am  bestehenden  gebessert,  sondern  mit  dem  ganzen  sy  stein 
herzhaft  gebrochen  werden. 

Latein  schreiben  müssen  unsere  gymnasiasten,  das  steht  mir 
fest,  mag  man  den  zweck  des  Unterrichts  in  den  alten  sprachen 
feststellen,  wie  man  will,  ein  gewisses  masz  von  schreibttbungen 
auch  in  den  oberclassen  ist  schlechterdings  unentbehrlich,  selbst 
der  reife  mann,  der  fremde  sprachen  erlernt,  wird  das  gefühl  der 
beherschung  derselben  erst  dann  erhalten,  wenn  er  sie  schreiben  oder 
sprechen  kann,  kein  professor  des  altenglischen  oder  arabischen, 
und  wenn  er  zu  den  schwierigsten  litteraturwerken  noch  so  gelehrte 
commentare  schreibt,  wird  das  geftlhl  der  freien  yerfUgung  über 
diese  sprachen  haben ,  dafern  er  nicht  neben  dem  lesen  sich  auch  in 
der  handhabung  derselben  irgendwie  geübt  hat.  beim  latein  auf  dem 
gyninasium  kommt  dazu,  dasz  bis  zu  einem  gewissen  grade  die  spräche 
doch  auch  um  ihrer  selbst  willen  erlernt  wird. 

Die  forderung  der  classicität  aber  in  der  weise,  wie  sie  der 
lateinunterricht  hier  und  da  noch  immer  stellt,  läszt  sich  meines  er- 
achtens  unter  keiner  rücksicht  mehr  aufrecht  erhalten,  der  sprach- 
gebrauch  des  Caesar  und  Cicero  ist  durch  lexica  und  einzelschriften 
so  ziemlich  festgestellt  (bezüglich  Ciceros  bekanntlich  noch  lange 
nicht  vollständig),  wie  Varro,  Asinius  Pollio  und  manche  andere 
gediegene  Schriftsteller  der  classischen  zeit  geschrieben  haben,  davon 
wissen  wir  herzlich  wenig;  denn  von  Varro  sind  uns  gerade  nur  zwei 
ziemlich  trockene  Schriften  erhalten,  genauer  von  der  einen  nur  ein 
fünftel,  an  der  geschichtserzählung  des  Livius  erbaute  sich  das 
Zeitalter  des  August  us,  wenn  feine  groszstäd  tische  obren  auch  einige 
provincialismen  an  ihr  auszusetzen  hatten,  der  bescheidene  Quinti- 
lian  schaut  zu  Cicero  zwar  ehrerbietig  auf  als  zu  einem  nicht  zu  er- 
reichenden rednerischen  vorbilde,  aber  das  gefühl,  als  sei  er  ein 
halber  barbar  diesem  classiker  gegenüber,  ist  ihm,  dem  Spanier, 
völlig  fremd,  dasz  bezüglich  des  Wortschatzes,  des  wortgebrauchs 
eine  wirkliche  kluft  bestehe  zwischen  ihm  und  seinem  groszen  meister, 
wird  ihm  nicht  beigekommen  sein  anzunehmen,  auch  lag  zu  solcher 
annähme  für  ihn  gar  kein  anlasz  vor;  so  sehr  hatte  sich  das  neue 
durch  naturgemäsze  Weiterbildung  aus  dem  alten  entwickelt,  noch 
weniger  wird  der  selbstgefällige  jüngere  Plinius  gemeint  haben  eine 
andere  spräche  zu  reden  als  die  des  Urbanen  Ciceronianischen  lateins. 
von  Livius  ab  hatte  man  sich  allmählich,  wie  bekannt  ist,  gewöhnt, 
dem  prosaischen  stil  durch  dichterische  freiheiten  und  dichterischen 
redeschmuck  einen  gewissen  schwung  zu  verleihen,  eine  andere 
richtung  knüpfte  dagegen  an  an  die  körnige  sentenziöse  kürze  der 
älteren  zeit,  man  wurde  pathetischer,  declamatorischer ;  man  fieng 
an  glänzend  zu  schreiben;  dabei  kam,  wie  zugegeben  ist,  neben 
packendem  und  geistvollem  auch  viel  bombast  und  manier  zu  tage, 
das  alles  kann  man  unumwunden  zugeben;  damit  ist  aber  noch  nicht 
gesagt,  dasz  mit  Ciceros  tode  der  mustergiltigen  latinität  der  lebens- 
odem  ausgegangen  sei.  es  war  nicht  anders  damals,  als  z.  b.  in  unserem 


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Die  nachahmung  Ciceros  auf  unseren  gymnasien.  5 


jahrbundert  mit  dem  deutschen  stil.  die  prosa  von  Goethes  Wilhelm 
Meister,  dichtung  und  Wahrheit  usw.  schreibt  heutzutage  kein  mensch 
mehr,  kann  sie  nicht  mehr  schreiben  und  möchte  sie  wohl  auch  kaum 
schreiben,  unser  geschmack  ist  eben  ein  anderer  geworden;  wir 
immer  gehetzten  modernen  bedürfen  raschere  tempi  und  kräftigere 
reizmittel  der  darstellung,  um  überhaupt  bei  einer  lectttre  auszu- 
haken, unbewust  sind  daher  alle  modernen  Stilisten  auf  gewisse 
reizmittel  bedacht  gewesen,  der  eine  ergeht  sich  in  groszartigen, 
reich  ausgestatteten  perioden;  der  andere  zerhackt  seine  gedanken 
in  kurze,  nach  art  Senecas  sentenziös  zugespitzte  sätzchen ;  ein  dritter 
coquettiert  mit  einer  studierten  einfachheit  der  darstellung;  ein 
vierter  sucht  zu  fesseln  durch  geistesblitze,  durch  blendendes  wort- 
und  gedankenspiel;  andere  wirken  durch 'schneidigkeiten'/schnauzig- 
keiten',  f  schnotterigkeiten',  um  für  die  moderne  sache  auch  ganz 
moderne  ausdrücke  zu  brauchen,  genau  so  war  es  in  der  argen tea 
aetas.  leicht  könnte  man  den  angesehensten  Schriftstellern  jenes 
Zeitalters  deutsche  Stilisten  unseres  jahrhunderts  von  ähnlicher  art 
gegenüberstellen,  keiner  unserer  neueren  deutschen  Stilisten,  so  sehr 
er  sich  auch  sonst  bescheidentlich  als  epigone  fühlen  mag,  wird  aber 
meinen,  er  schreibe  ein  toto  genere  anderes  neuhochdeutsch  als 
Schiller  und  Goethe,  man  ist  sich  gewisser  unterschiede  der  Zeit- 
alter bewust,  wie  Quintilian  es  war  und  die  Sprecher  in  Tacitus  dia- 
logus  gegenüber  dem  Zeitalter  des  Cicero,  aber  keiner  tiefgehenden 
und  wesentlich  trennenden. 

Wozu  die  ganze  ausführung?  sie  soll  darthun,  dasz  es  durchaus 
ungerechtfertigt  ist,  die  mustergültige  periode  der  lateinischen  prosa 
in  die  kurze  spanne  etwa  von  70—40  vor  Christi  geburt  einzuengen, 
allerdings  stammt  diese,  wie  wir  meinen,  engherzige  auffassung  schon 
aus  dem  altertum.  indem  die  antiquarii  von  Hadrians  zeit  ab,  ver- 
ächtlich die  leistungen  des  ersten  jahrhunderts  ignorierend,  nur  die 
antiqui  von  Cato  bis  Cicero  und  auszerdem  blosz  die  schriftstellerei 
gewisser  neuerer  archaisierenden  grammatici  gelten  lieszen,  haben 
sie  der  irrtümlichen  auffassung  die  wege  gebahnt,  als  beginne  mit 
Ciceros  tod  nach  allen  seiten  der  verfall  der  lateinischen  prosa ,  als 
seien  die  von  da  ab  eingeschlagenen  wege  nur  abschüssige  gewesen, 
jene  einseitige  auffassung  hat  ihren  verhängnisvollen  einflusz  aus- 
geübt auf  die  späteren  sammelnden  römischen  grammatiker.  der 
humanismus  setzte  bekanntlich  wieder  mit  einer  verherlichung  Ciceros 
ein ,  welche  bei  einzelnen  namhaften  Vertretern  der  neuen  richtung 
gar  seltsame  biUten  trieb,  die  folgenden  jahrhunderte  wurden,  wie 
alle  sachkundigen  wissen,  bezüglich  des  lateinischen  stils  weither- 
ziger, wenn  Cicero  auch  verdientermaszen  als  höchstes  Vorbild  glatten 
stils  und  rednerisch  wirksamer  ausdrucks weise  seine  ehrenstellung 
behielt,  einzelne  namhafte  gelehrte  scheuten  sich  nicht,  für  ihre 
person  muster  wie  Livius,  Sallust,  Tacitus  sich  auszuerlesen.  so 
bildete  sich  allmählich  das  gelehrte  'Vulgärlatein'  heraus,  welches 
im  allgemeinen  zwar  an  den  usus  des  Cicero  sich  anlehnte,  im  ein- 


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6  Die  nachahmung  Ciceros  auf  unseren  gymnasieo. 

zelnen  aber  zahlreiche ,  in  den  fachdisciplinen  oft  recht  weitgehende 
freiheiten  sich  gestattete. 

Der  harmlose  wahn,  dasz  man  in  gelehrten  kreisen  ein  ganz 
gutes  latein  von  Uberwiegend  Ciceronianischer  färbe  schreibe,  wurde 
in  Deutschland  nun  um  die  mitte  dieses  Jahrhunderts,  somit  gerade 
zu  einem  Zeitpunkte  verscheucht,  da  das  deutsche  gymnasium  bereits 
sich  in  der  notlage  befand ,  bezüglich  des  altclassischen  Unterrichts 
ein  segel  nach  dem  andern  einziehen  zu  müssen,  das  muste  ver- 
hängnisvoll werden. 

Ehedem  bildete  sich  jeder  philologisch  gut  geschulte  landpastor 
ein,  ein  latein  zu  schreiben,  das  sich  könne  hören  lassen,  nun  kamen 
die  Haarspaltereien  der  Ciceronianissimi  bezüglich  der  hunderterlei 
einzelheiten  des  classischen  Sprachgebrauchs,  dazu  noch,  um  die  un- 
behaglichkeit  zu  verstärken,  moderne  Orthoepie  mit  ihren  kleinlich- 
keiten.  was  wunder,  wenn  einer  nach  dem  andern  von  den  tren 
bewährten  bejahrten  fürsprechern  der  lateinisch-griechischen  schul  - 
Studien  das  geltibde  that,  fortan  höchstens  im  geschlossenen  kreise 
der  'alten  herren'  ein  lateinisches  sätzchen  zu  sprechen? 

Dazu  kam  nun  der  Umschwung  aller  unserer  ideen  in  dieser 
neuen  zeit,  bis  ins  zweite  drittel  des  vorigen  jahrhunderts  hatte  das 
wort  nachahmung  noch  keinen  widerwärtigen  beigeschmack  in 
ästhetischen  kreisen,  von  nachahmung  des  Horaz,  Anakreon,  Yergil, 
Homer,  Shakespeare  usw.  war  sattsam  damals  die  rede,  mit  Herder, 
Goethe  und  den  romantikern  sind  wir  Deutsche  nun  zwar  keine 
'originalgenies'  geworden  und  die  meisten  von  uns  werden  daher 
nach  wie  vor  sehr  gut  thun,  bei  irgendwelchen  geistigen  Schöpfungen 
sich  thatsächlich  an  grosze  Vorbilder  bescheidentlich  anzulehnen, 
immerhin,  aus  dem  ganzen  nachahm ungsgedankenkreis  haben 
wir  uns  völlig  herausgelebt,  und  nun  eine  nachahmung  Ciceros, 
des  einen  Cicero,  in  den  jähren  der  frischestenjünglingsentwicklung! 
eine  unerträgliche  losung  für  die  jetztzeit.  bekanntlich  ist  nun  nahezu 
gleichzeitig  mit  M.  Seyfferts  Schulbüchern  die  erste  aufläge  von 
Mommsens  römischer  geschichte  in  den  bereich  der  schule  einge- 
drungen, die  überaus  geringschätzige  beurteilung,  welche  der  ge- 
nannte grosze  meister  dem  Staatsmann  und  menschen  Cicero  ange- 
deihen  liesz,  konnte  nicht  ohne  einflusz  bleiben,  so  redlich  man  auch 
bestrebt  gewesen  ist,  für  den  herabgesetzten  der  jugend  gegenüber 
einzutreten,  die  letzten  jahrzehnte  haben  auszerdem  bekanntlich 
noch  dahin  zu  wirken  gesucht,  dem  ehedem  so  gefeierten  noch  den 
letzten  kränz  vom  haupte  zu  reiszen ,  den  Mommsen  ihm  gelassen 
hatte,  den  der  stilistischen  meisterschaft.  in  dem  unerfreulichen 
schulstreit,  von  dem  manches  geplänkel  sich  leider  auch  in  viel- 
gelesenen tagesblättern  abgespielt  hat,  ist  manches  vernichtende 
wort  gefallen  über  die  breite,  gedankenarmut  und  phrasenhaftigkeit 
des  Ciceroniauischen  stils.  aus  dieser  ganzen  Sachlage  vermag  ich 
nur  das  einzige  facit  zu  ziehen:  brechen  wir  mit  der  imitatio 
Ciceronis  grundsätzlich  und  endgültig! 


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Die  nachahmung  CiceroB  auf  unseren  gymnasien.  7 

Weder  volks-  noch  staatsreden  hat  heutzutage  jemand  in  latei- 
nischer zunge  zu  halten;  lateinische  briefe  schreiben  sich  nur  noch 
wenige  gelehrte  Sonderlinge,  alle  unsere  Wissenschaften  sind  aus 
dem  Prokrustesbette  der  lateinschreiberei  befreit,  nur  im  bereiche 
der  Universität  und  der  schulprogrammlitteratur  spielen  die  latei- 
nisch geschriebenen  abhandlungen  noch  eine  bescheidene  rolle,  sehen 
wir  uns  diese  aber  genauer  an,  so  werden  wir  finden,  dasz  dieselben 
—  abgesehen  vielleicht  Von  einigen  rednerisch  gefärbten  anfangs- 
und  schluszpartien  —  weit  mehr  an  den  stil  des  Quintilian,  des 
ältern  Plinius,  des  Frontin  und  Vitruv  als  an  den  des  Cicero  ge- 
mahnen, angestrebt  wird  natürlich  auch  in  ihnen  Ciceronianische 
Phraseologie ;  aber  die  ganze  färbung  des  stils  ist  keine  Ciceronia- 
nische, und  sehr  mit  recht,  da  Cicero  eben  redner  und  popularschrift- 
steller,  nicht  aber  gelehrter  war. 

Also  soll  alles  künftig  in  lateinischer  rede  und  scbrift  frei 
passieren ,  was  nicht  gerade  gegen  die  eingeführte  schulgraramatik 
verstöszt?  wir  nehmen  nicht  anstand  die  frage  zu  bejahen  mit  der 
beschränkung:  wenn  es  aus  eigner  lectüre  stammt,  die  römischen 
Prosaiker  vor  Sallust  und  nach  Tacitus,  bzw.  Sueton  lernt  der  schüler 
heutzutage  durchschnittlieh  überhaupt  nicht  kennen,  von  dem  aber, 
was  zwischen  diesen  grenzen  liegt,  sollte  ihm,  das  ist  unsere  meinung, 
nichts  durch  abwägen  der  gröszeren  oder  geringeren  classicität  ver- 
leidet werden,  es  kann  dabei  doch  nichts  ordentliches  in  wissen- 
schaftlicher beziehung  herauskommen  und  den  eindruck  einer  vor 
der  modernen  Weltanschauung  schwer  zu  rechtfertigenden*  kleinlich- 
heit wird  es  nur  zu  leicht  auf  die  frische  jugend  machen,  wenn 
Wörter  und  Wendungen  in  den  scriptis  von  1891  beanstandet  wer- 
den, welche  Römer  wie  Livius  und  Quintilian  wenige  jahrzehnte 
nach  der  blütezeit  der  classischen  prosa  gebraucht  haben. 

Der  befürchtung,  dasz  nach  der  niederreiszung  der  näher  be- 
zeichneten engen  schranken  in  den  lateinischen  stilübungen  der 
schüler  nun  eine  wahre  Verwilderung  einreiszen  werde,  gebe  ich 
keinen  raura.  auf  den  gedanken,  irgend  einen  lateinischen  schrift- 
steiler i  Ucksicht  lieh  des  ganzen  genus  dicendi  copieren  zu  wollen, 
wird  sicherlich  kein  schüler  der  jetztzeit  verfallen;  dazu  ist  er  mit 
keinem  derselben  vertraut  genug,  indem  er  öfters  sich  darin  übt, 
das  deutsch  von  ihm  gedachte  und  empfundene  nach  gewissen  scbul- 
regeln  und  leetüre-erinnerungen  lateinisch  auszudrücken,  wird  jeder 
schüler  eine  art  von  lateinischem  stil  sich  allmählich  selbst  bilden, 
die  ihm  gemäsz  und,  so  zu  sagen,  sein  eigentum  ist.  die  gefahr,  dasz 
ein  schüler  Ciceronianische  und  Livianische  perioden  mit  abgerissenen 
Taciteischen  sätzen  zusammenmenge ,  ist  thatsächlich  nicht  vorhan- 
den, das  wird  jeder  erfahrene  lateinlehrer  in  oberclassen  bestätigen, 
dazu  gehörte  eine  ganz  anders  umfangreiche  und  vertiefte  lectüre,  als 
unsere  gymnasialjugend  sie  kennt,  somit  würde  das  laxere  verfahren, 
das  wir  befürworten,  im  wesentlichen  doch  nur  den  nachteilhaben, 
dasz  ungescheuter  als  bisher  Wörter,  Wortverbindungen,  wortstel- 


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8 


Die  nachahmung  Ciceros  auf  unseren  gymnasien 


lungen  in  scbülerarbeiten  sich  herauswagen,  welche  das  drohende 
anathema  'nicht  bei  Caesar  und  Cicero'  bisher  verscheucht  hatte, 
würde  das  ein  misstand  sein  des  aufhebens  wert?  wir  meinen  nicht, 
wälzt  ein  schüler  einmal  das  lexikon,  so  mag  er  nach  wie  vor  auf  an- 
weisung  die  classische  phrase  vor  der  nachclassischen  bevorzugen, 
aber  ihm  zu  verbieten,  beim  sprechen  und  schreiben  ex  tempore  die 
erinnerungen  aus  seiner  gesamten  lateinischen  lectüre  zu  verwerten, 
ist  eine  härte  an  sich  und  der  neuzeit  gegenüber  musz  es  erscheinen 
als  eine  philologische  borniertheit.  was  classisches  latein  ist,  was 
nicht,  weisz  heutzutage,  da  alle  einschlägigen  einzelfragen  so  viel 
untersucht  und  zugespitzt  sind,  kein  lehrer  ohne  seinen  gelehrten 
ap  parat,  hinweg  darum  mit  der  antibarbari-  und  Stilistiken  Weisheit 
in  einer  zeit ,  die  am  liebsten  die  ernsteren  altertumsstudien  ganz 
hinwegfegen  möchte! 

Was  dadurch  an  zeit  und  kraft  gewonnen  wird ,  komme  vor- 
nehmlich der  Vertiefung  und  erweiterung  der  lectüre  zu  gute,  ja, 
auch  der  erweiterung  trotz  allem  tiberbürdungsgeschrei !  wenn 
Cicero ,  der  ein  geachteter  schulschriftsteller  hoffentlich  immer  blei- 
ben wird,  als  der  popanz  des  lateinunterricbts  beseitigt  ist,  dann 
findet  sich  hoffentlich  zeit,  dasz  unsere  deutsche  jugend  von  den  be- 
deutenden Schriftstellern  ab  excessu  divi  Augusti  bis  zum  tode  Tra- 
jans  noch  einig?  andere  auszer  Tacitus  kennen  lernt,  wenn  auch  nur 
(wie  dies  in  England  und  Frankreich  längst  geschieht)  in  sorgfaltig 
bearbeiteten  Chrestomathien,  unsere  bedenklichkeitskrämer  werden 
voraussichtlich  gegen  diesen  gedanken  sich  erklären  mit  den  be- 
kannten einwendungen  gegen  alle  blumeniesen,  wir  aber  meinen, 
dasz  das  bessere  nicht  der  feind  des  guten  sein  dürfe. 

Dresden.  Theodor  Vogel. 

2. 

EINIGE  FRAGEN  ZUR  REFORM  DES  GYMNASIAL- 
UNTERRICHTS. 


Nicht  einen  neuen  reformvorschlag  zu  der  ohnehin  schon  unge- 
bührlich groszen  zahl  von  versuchen  die  brennende  frage  des  höheren 
Unterrichts  zu  lösen  wollen  sich  die  folgenden  Zeilen  zu  fügen  unter- 
fangen, die  Überschrift,  mit  welcher  sie  eröffnet  sind ,  soll  weiter 
nichts  bedeuten,  als  dasz  sie  auf  gewisse  Schäden,  welche  dem  huma- 
nistischen gymnasium  anhaften  und  welche  nur  allzu  geeignet  sind 
unsere  sache  auch  bei  den  freunden  der  altclassischen  bildung  in 
miscredit  zu  bringen,  die  aufmerksamkeit  lenken  und  zur  heilung 
derselben  und  somit  zur  gesunden  reform  des  gymnasiums  ein  scherf- 
lein  beitragen  wollen,  selbst  auf  die  gefahr  hin,  dem  Vorwurf  be- 
gegnen zu  müssen  schon  öfter  und  von  berufenerer  seite  gesagtes 
wieder  vorzutragen. 

Zunächst  möchten  wir  die  Stellung  der  grammatik  im  alt- 


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Einige  fragen  zur  reform  des  gjmnasialunterrichts. 


9 


sprachlichen  Unterricht  einer  prüfung  unterziehen,   wir  sind 
weit  davon  entfernt,  die  hohe  bedeutuog  der  grammatischen  Schulung 
für  den  jugendlichen  geist  überhaupt  wie  im  besonderen  die  not- 
wendigkeit  grammatischen  wissens  und  könnens  für  das  Verständnis 
der  antiken  Schriftwerke  zu  verkennen,   im  gegenteil,  wir  glauben 
sogar  in  mancher  beziehung  einer  gröszeren  Vertiefung  des  gramma- 
tischen Unterrichts  das  wort  reden  zu  sollen,    lassen  wir  hier  die 
frage  nach  der  behandlung  der  deutschen  grammatik  unberührt  und 
nehmen  wir  keine  Stellung  zu  den  Kernschen  reformen,  so  viel  ist 
gewis,  dasz  die  grammatischen  kategorien  im  lateinischen  und  grie- 
chischen Unterricht  zu  gröszerer  klarheit  entwickelt  werden  müssen, 
als  das  gemeiniglich  zu  geschehen  pflegt  —  wie  wir  wohl  aus  dem 
weitverbreiteten  gebrauch  der  Ellendt-  Seyffertschen  grammatik  im 
lateinischen  schlieszen  können,  schon  in  den  untersten  classen  musz 
in  einem  der  betreffenden  classenstufe  angemessenen  grade  von  der 
mechanischen  erlernung  der  fremden  spräche  zu  einem  die  denkarbeit 
in  den  Vordergrund  stellenden  Verständnis  der  sprachlichen  gebilde 
vorgeschritten  werden,   es  seien  ein  paar  beispiele  zur  erläuterung 
angeführt:  so  darf  die  behandlung  der  casuslehre  im  lateinischen 
nicht  in  dem  äuszeren  erlernen  der  bekannten  summe  von  regeln 
bestehen ,  bereits  der  quartaner  musz  über  die  Verschiedenheit  der 
lateinischen  und  deutschen  auffassung  bezüglich  des  gebrauchs  des 
abl.  instrum. ,  bzw.  der  localen  bestimmung  in  einem  copias  castris 
continere  und  'die  truppen  im  lager  halten'  zur  klarheit  kommen, 
der  abl.  modi  und  der  abl.  qualit.  müssen  ihm  scharf  als  adverbiale 
und  als  attributive  bestimmung  auseinandertreten,  das  prädicats- 
nomen  musz  ihm  im  accusativ  ebenso  gut  wie  im  nominativ  vertraut 
werden,  Uber  den  verschiedenen  gebrauch  des  acc.  c.  inf.  als  der 
form  der  abhängigen  aussagesätze  und  derut-sätze  als  der  abhängigen 
befehlssätze  musz  er  durch  stete  Überlegung  der  natur  der  ihm  auf- 
stoszenden  dasz-sätze  und  deren  Verwandlung  in  unabhängige  sätze- 
ins  klare  kommen,   überhaupt  musz  der  lateinische  grammatische 
Unterricht  sich  streng  auf  der  Satzlehre  aufbauen,    weiter  hinauf 
musz  der  schüler  es  aus  dem  wesen  der  tempora  heraus  verstehen, 
warum  in  einem  satze  mit  priusquam  das  plusquamperfectum  (ind.) 
unmöglich  ist.   für  die  syntax ,  besonders  aber  für  die  Stilistik  und 
Synonymik  ist  im  weitesten  umfang  auf  den  oberen  stufen,  nach 
möglichkeit  auch  schon  früher  die  etymologie  heranzuziehen,  ja  selbst 
die  formenbildungsgesetze  sind  in  den  oberen  classen  möglichst 
durch  eingehen  auf  ihre  historische  entwicklung,  vor  allem  in  hin- 
blick  auf  die  griechische  formenlehre,  zu  erklären,  wir  sind  uns  wohl 
bewust  mit  alle  diesem  nichts  neues  zu  sagen:  wird  aber  in  der  that, 
so  möchten  wir  fragen,  der  grammatische  Unterricht  derartig  gehand- 
habt, dasz  er  die  beziehung  der  sprachform  zu  den  denkkategorien 
stets  festhält?  und  doch  können  die  grammatischen  Übungen  nur 
dann,  wenn  sie  nicht  sowohl  Übungen  für  das  gedächtnis  als  für  das 
denkvermögen  sind,  für  die  geistige  entwicklung  des  Schülers  von 


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10  Einige  fragen  zur  reform  des  gymnasialunterrichts. 

nutzen  sein ,  andernfalls  verliert  der  grammatische  Unterricht  sein 
recht  eine  selbständige  lehrdisciplin  zu  sein,  wird,  fragen  wir  noch 
einmal  auch  bezüglich  des  griechischen  grammatischen  Unterrichts, 
beispielsweise  dem  schüler  nicht  etwa  blosz  die  mechanische  regel  ge- 
geben: edvc.coui.pr.ies.  entspricht  dem  lateinischen  si  c.  fut.  I,  ddv 
c.coni.aor.  dem  lateinischen  si  c.  fut.exact.,  anstatt  dasz  ihm  die  frage 
beantwortet  wird,  warum  dieser  unterschied  stattfindet?  ist  doch  das 
system  der  griechischen  moduslehre  so  klar  und  einfach  aufgebaut, 
wenn  der  lehrer  von  der  bedeutung  der  tempusstämme  ausgeht  und 
womöglich  das  wesen  dieser  aus  den  tempusformen  erklärt  (vgl.  diesen 
versuch  in  Frick-Meiers  lehrgängen  und  lehrproben  heft  XIX  s.  29) 
und  wenn  die  grundfunction  der  einzelnen  modi  klar  gestellt  wird, 
wird  die  construction  von  öttujc  c.  ind.  fut.  auch  in  Zusammenhang 
mit  den  relativsätzen,  in  welchen  das  fut.  die  folge  einer  besch  äffen  - 
heit  bezeichnet,  behandelt?  im  finalsatz  der  conjunctiv  als  der  be- 
gehrungsmodus,  der  optativ  als  opt.  obliquus?  und  wie  steht's  mit 
den  Sätzen  nach  den  verben  des  fürchtens  und  mit  dem  verneinten 
infinitiv  nach  den  negativen  verben  des  zweifelns  usw.?  begnügt 
sich  der  unterriebt  nicht  etwa  damit,  die  construction  der  verba 
ükoiilu,  uav0dvu),  oiba.  utuvr)uai ,  aicxuvouai  usw.  mit  dem  inf. 
oder  dem  part.  mechanisch  lernen  zu  lassen,  oder  geht  er  zur  erklä- 
rung  auf  die  grundbedeutung  beider  verbalformen  zurück?  wird 
die  griechische  casuslehre  auf  die  entsprechende  lateinische  aufge- 
baut, so  dasz  der  griechische  genetiv  auch  als  ablativ  (entsprechend 
dem  lateinischen  abl.  comp,  und  abl.  separ.,  oder  richtiger,  da  der 
abl.  comp,  ein  abl.  separ.  ist,  beide  in  umgekehrter  reihenfolge  zu 
nennen !) ,  der  dativ  auch  als  locativ  und  Instrumentalis  aufgefaszt 
wird?  die  griechische  grammatik  ist  ja  in  dieser  beziehung  ungleich 
besser  gestellt  als  die  lateinische,  die  vielgebrauchte  Kochsche  gram- 
matik beispielsweise  sucht  in  den  meisten  der  berührten  punkte  dem 
•Unterricht  eine  stütze  zu  bieten,  und  die  griechische  formenlehre 
läszt  sich  ja  durch  stetes  betonen  der  lautgesetze  dem  Verständnis 
des  sehülers  nahe  bringen,  so  aber  allein  vermag  auch  der  griechische 
Sprachunterricht  gewinn  und  bereichern nur  des  geistigen  lebens  des 
sehülers  in  formaler  beziehung  zu  erreichen. 

Für  diesen  grammatischen  Unterricht  im  lateinischen  und  grie- 
chischen nun  sind  lehrplanmäszig  bestimmte  wöchentliche  stunden 
angesetzt,  nutzt  man  diese  für  die  erlernung  und  einübung  der 
grammatik  verfügbare  zeit  aus,  so  wird  es  nicht  nötig  werden  die 
leetüre  der  classiker  zu  ihren  gunsten  zu  schädigen,  wir  kommen 
damit  auf  den  gesichtspunkt ,  welchen  wir  von  vorn  herein  im  auge 
hatten  und  den  vor  misverständnissen  zu  schützen  die  vorstehenden 
zeilen  allein  bestimmt  waren :  ist  der  Vorwurf,  das  gymnasium  treibe 
grammatisterei,  nicht  wirklich  berechtigt?  wird  nicht  in  der  that 
trotz  der  kaum  eine  irrige,  der  grammatisterei  günstige  auslegung 
ermöglichenden  lebrpläne  von  1882  noch  vielfach  die  leetüre  als 
eine  fundgrube  für  grammatische  Übungen  verwendet,  wird  nicht 


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Einige  fragen  zur  reform  des  gymnasialunterrichta. 


11 


immer  noch  die  lectüre  zu  einer  grammatikstunde  herabgewürdigt, 
wird  wenigstens  nicht  der  Schwerpunkt  des  altclassischen  Unterrichts 
zu  Ungunsten  der  Verarbeitung  des  inhalts  des  gelesenen  auf  die 
formale,  grammatische  und  sprachliche  seite  der  lectüre  gelegt?  wir 
sehen  nicht  so  schwarz,  um  zu  glauben,  dasz  in  der  tbat  in  den  äugen 
altsprachlicher  lehrer  noch  immer  die  lectüre  nur  um  der  grammatik 
und  der  spräche  willen  eine  daseinsberechtiguug  hätte  —  obwohl  es 
nach  dem  ausweis  der  programme  so  scheinen  könnte,  als  ob  die  aus- 
wahl  der  lectüre  um  ihres  inhaltes  willen  etwas  ganz  nebensächliches 
sei,  aber  wir  können  es  als  unsere  Überzeugung  aussprechen,  und 
meinen  mit  dieser  durchaus  nicht  vereinzelt  dazustehen,  dasz  die 
grammatik  lange  nicht  die  untergeordnete  rolle  im  betrieb  der  alt- 
sprachlichen lectüre  spielt,  welche  ihr  zukommt,  freilich  ohne  hilfe 
der  grammatik  ist  kein  fremdsprachlicher  satz  ins  deutsche  zu  über- 
tragen, und  wenn  wir  die  alten  in  ihrem  fremden  classischen  ge- 
wande  lesen,  so  thun  wir  das  ja  auch  um  des  reichen  gewinnes  willen, 
welchen  die  erschlieszung  der  gedankenweit  der  schriftsteiler  mittels 
der  erkenntnis  der  originalen  form  gewährt,  man  vergleiche  bezüg- 
lich dessen  nur  den  überaus  lehrreichen  aufsatz  von  0.  Weissenfeis, 
z.  £  d.  g.-w.,  40r  jabrgang  s.  513  ff.  und  diese  arbeit  möchten  wir 
der  Unterrichtsstunde  nicht  erspart  wissen :  fordern  müssen  wir  aber, 
um  dem  sonst  berechtigten  Vorwurf  der  grammatisterei  entgegen- 
treten zu  können,  dasz  in  der  leetürestunde  jegliche  grammatische, 
stilistische  oder  sprachliche  erörterung  überhaupt  unterbleibt,  die 
nicht  strenge  zur  erschlieszung  des  sinnes  der  gelesenen  oder  zu 
lesenden  stelle  erforderlich  ist.  wir  haben,  abgesehen  von  gröberen 
pädagogischen  misgriffen,  vor  allem  die  gewinnung  grammatischer 
und  sprachlicher  gesetze  im  anschlusz  an  die  lectüre  im  auge  —  sie 
gehört  in  die  grammatikstunde,  in  welcher  man  an  das  gelesene  ja 
am  fruchtbarsten  anknüpft  — ,  die  gelegentliche  repetition  gramma- 
tischer regeln,  besonders  im  griechischen  Unterricht  das  abfragen 
der  sog.  unregelmäszigen  verba,  überhaupt  Übungen  in  der  formen- 
lehre  usw.  wir  halten  es  geradezu  für  eine  grausamkeit  die  behand- 
lung  des  altclassischen  autors  durch  grammatische  besprechungen  zu 
stören  und  die  schüler  um  die  schönsten  früchte  zu  bringen,  welche 
ihnen  das  gymnasium  für  das  leben  mitzugeben  vermag,  würde 
man  eine  religionsstunde ,  in  welcher  das  neue  testainent  im  urtext 
gelesen  wird,  noch  als  den  hohen  zielen  des  religionsunterrichts 
dienlich  erachten,  wenn  der  lehrer  den  heiligen  text  benutzt,  um  an 
ihn  grammatische  Übungen  anzuschlieszen  ?  —  und  doch  soll  das 
vorkommen,  was  an  grammatischen  erörterungen  für  das  Verständ- 
nis der  zu  lesenden  partie  nötig  ist,  das  mag,  ebenso  wenn  sich  der 
lehrer  zur  controle  der  präparation  zu  fragen  nach  der  sprachlichen 
form,  in  lexikalischer  oder  in  grammatischer  beziehung,  genötigt 
sieht,  etwa  in  den  ersten  5 — 10  minuten  der  Unterrichtsstunde  ab- 
gemacht werden,  aber  dann  nicht  mehr  den  Unterricht,  vielleicht  gar 
ständig,  unterbrechen,  sonst  wird  der  hauptgewinn,  welchen  der  alt- 


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12  Einige  fragen  zur  reform  des  gymnasialunterrichtB. 


classiscbe  unterriebt  zu  bieten  vermag  in  der  erscblieszung  der  antiken 
weit,  aufs  empfindlichste  geschädigt,  ja  gänzlich  in  frage  gestellt 

Ja,  aber  da  sind  die  schriftlichen  arbeiten,  für  welche  jede  ge- 
legenbeit  zur  Vorbereitung  ausgebeutet  werden  musz !  so  lange  die 
dinge  that sächlich  so  liegen,  dasz  die  extemporalien,  bzw.  lateinischen 
aufsätze,  statt  als  eine  wertvolle  stütze  des  Unterrichts  angesehen  zu 
werden,  den  Schwerpunkt  des  altsprachlichen  Unterrichts  bilden,  so 
lange  wird  die  Versuchung  zur  grammatisterei  unüberwindbar  sein, 
und  geben  denn  nicht  wirklich  in  den  altsprachlichen  fächern  für  die 
beurteilung  eines  Schülers  seine  leistungen  in  der  grammatik  noch 
vielfach  den  ausschlag?  er  mag  mit  noch  so  groszer  gewandtheit 
den  schriftsteiler  übersetzen  und  an  verständnisvollem  erfassen  der 
leetüre  und  an  interesse  für  sie  seine  mitschüler  weit  tiberragen,  ge- 
lingt es  ihm  in  den  schriftlichen  arbeiten,  d.  h.  in  dem  übersetzen 
in  die  fremde  spräche  nicht,  so  mag  wohl  günstigsten  falls  sein  guter 
wille  anerkannt  werden,  seine  leistungen  werden  einer  gewissen 
geistigen  geschicklichkeit  zugeschrieben,  aber  das  gesamturteil  wird 
gegen  ihn  ausfallen,  und  dieser  bestimmende  einflusz  der  extempo- 
ralien  als  maszstab  für  die  beurteilung  der  leistungen  des  schülers 
reicht  bis  oben  hin,  bis  zum  abiturientenexamen.  der  deutsche  auf- 
satz  mag  hier  von  klarheit  des  denkens  und  reife  des  Urteils  zeugen 
und  das  geforderte  masz  von  können  in  der  darstellung  der  gedanken 
beweisen,  auch  der  lateinische  aufsatz  inhaltlich  genügen  und  die 
leistungen  im  Verständnis  der  vorgelegten  autoren  anerkannt  werden, 
wird  das  urteil  wohl  günstig  ausfallen,  wenn  in  den  fremdsprach- 
lichen schriftlichen  arbeiten  ein  paar  gröbere  fehler  untergelaufen 
sind  ?  in  der  that  wiegen  ein  paar  falsche  lateinische  formen  mehr 
als  bildung  und  reife  des  Urteils!  und  leider  wird  die  bedeutung 
der  extemporalien  zu  einer  völlig  ungerechtfertigten  höhe  herauf- 
geschroben,  dadurch  dasz  sogar  revisoren  ihr  urteil  über  den  stand 
einer  classe  von  den  schriftlichen  leistungen  abhängig  machen,  da 
sieht  sich  freilich  der  lehrer  gezwungen  diese  in  den  mittelpunkt 
seines  Unterrichts  zu  stellen  und  —  grammatisterei  zu  treiben,  und 
geben  denn  die  schriftlichen  arbeiten  überhaupt  von  dem  wissen  und 
können  des  schülers  auch  nur  in  formaler  beziehung  ein  so  sicheres 
bild?  wir  meinen,  dasz  der  mündliche  Unterricht  dies  viel  richtiger 
herauszustellen  vermag,  wir  sehen  in  der  so  stark  bevorzugten  Stel- 
lung der  extemporalien  auf  dem  gymnasium  nicht  blosz  eine  Unge- 
rechtigkeit gerade  gegen  die  besseren  schüler,  sondern  geradezu  eine 
schwere  Schädigung  des  gymnasiums  überhaupt;  ist  es  doch  sattsam 
bekannt,  dasz  die  besten  extemporalienscbreiber  lange  nicht  die  reif- 
sten schüler  sind  und  dasz  grammatisches  können  mit  dem  gewinn, 
welchen  die  altsprachlichen  studien  dem  schüler  gewähren  sollen, 
sich  längst  nicht  deckt,  scheinen  möchte  es  dem  unbefangenen  be- 
urteiler  freilich  so,  wenn  er  hören  musz,  wie  beim  abiturienten- 
examen die  in  der  secunda  gelernten  griechischen  syntaktischen  regeln 
abgefragt  werden,  anstatt  dasz  die  erfassung  der  gedankenweit  der 


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Einige  fragen  zur  reform  des  gymnasialunterrichta.  13 

griechischen  autoren  —  und  um  ihretwillen  treiben  wir  doch  wohl 
griechisch  —  gezeigt  wird,  freilich  sind  wir  uns  der  Schwierigkeiten 
wohl  bewnst,  welche  in  der  ausführung  dieser  letzteren  forderung 
liegen,  aber  wir  fürchten,  dasz  das  abiturientenexamen  hier  nur  ein 
abbild  des  Unterrichts  ist,  welcher  auch  in  den  oberen  classen  noch 
die  grammatik  mehr  oder  weniger  dominieren  läszt.  will  das  gym- 
nasium  den  nur  zu  berechtigten  Vorwurf,  grammatisterei  zu  treiben, 
erfolgreich  bekämpfen  und  so  den  gegnern  die  wirksamste  warte  ent- 
winden, so  dränge  es  die  grammatik  in  die  bescheidene  dienende  Stel- 
lung zurück,  welehe  ihr  allein  gebührt,  man  gebe  von  der  forderung 
festen  grammatischen  wissens  und  können*  nichts  nach,  aber  man 
mache  dasselbe  nicht  zum  maszstabe  der  beurteilung  des  schülers, 
man  beschränke  den  cultus  —  der  ausdruck  scheint  mit  rücksicht 
auf  die  Wirklichkeit  nicht  zu  hart  —  der  schriftlichen  arbeiten,  welche 
übrigens  auch  dadurch  den  Unterricht  auf  das  empfindlichste  schädigen, 
weil  sie  einen  starken  bruchteil  der  so  kostbaren  zeit  für  sich  in  anspruch 
nehmen,  und  lege  vor  allem,  wie  es  ja  in  den  lehrplänen  gefordert 
wird,  den  Schwerpunkt  des  altsprachlichen  Unterrichts  in  die  lectüre. 

Aber  auch  angenommen,  die  griechische  und  lateinische  lec- 
türe komme  zu  ibrem  rechte  auf  dem  gymnasium,  sie  bilde  in  der 
that  den  mittelpunkt  des  altclassischen  Unterrichts,  ein  sorgfältiges 
eingehen  auf  den  inbalt  und  den  gedankengang  der  Schriftwerke  sei 
wirklich  dem  lehrer  in  ihm  die  hauptsache ,  so  müssen  wir  dennoch 
fragen:  legt  das  gymnasium  mit  seinem  betrieb  der  alten  sprachen 
thatsächlich  den  grund  zu  einer  classischen  bildung  bei  seinen  Zög- 
lingen, steht  das  resultat  dieses  Unterrichts  in  einem  nur  einiger- 
maszen  entsprechenden  Verhältnis  zu  der  aufgewandten  zeit  und 
mühe,  so  dasz  wir  versichert  sein  könnten,  die  wichtigsten  bildungs- 
momente  des  altertums  seien  zu  einem  geistigen  eigentum  der  schüier 
geworden  und  versprächen  eine  dauernde  einwirkung  auf  deren  vor- 
stellungswelt?  ohne  diesen  erfolg  würde  die  für  diese  Unterrichts- 
fächer angesetzte  zeit .  vergeudet  sein  und  die  heftigsten  angriffe 
unserer  gegner  nur  allzu  berechtigt  sein,  freilich  wollen  und  können 
wir  nicht  verlangen,  dasz  die  resultate  der  beschäftigung  mit  den 
alten  bei  unseren  Schülern  handgreifliche  wären;  gleicht  doch  die 
thätigkeit  des  lehrers  auch  in  dieser  beziehung  nur  zu  sehr  der  arbeit 
des  säemanns,  ein  aufgehen  der  gestreuten  saat  darf  er  nicht  so  bald  zu 
sehen  verlangen,  auch  hängt  dasselbe  ja  noch  an  vielen  anderen  sich 
semer  mitwirkung  entziehenden  factoren  ab.  aber  auf  der  anderen 
seite  können  wir  uns  nicht  dazu  entschlieszen,  uns  mit  dem  bewust- 
sein  zufrieden  zu  geben ,  dasz  die  antike  weit,  in  welcher  wir  durch 
eine  ganze  reihe  von  jähren  den  schüier  festhalten,  für  ihn  nur  einen 
formalbildenden  wert  habe  und  ihre  Schuldigkeit  gethan  habe,  daher 
mit  recht  überflüssig  sei,  wenn  er  die  scbulbank  verläszt:  nein,  die 
anschauungsweit  des  altertums  soll  auch  einen  bleibenden  materiellen 
grund  legen  für  das  reifende  Urteilsvermögen  auch  über  die  fragen 
des  modernen  lebens,  welche  ihn  dann  bestürmen,  und  wie  steht  es 


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Einige  fragen  zur  reform  des  gymnasial  Unterrichts. 


mit  der  erfüllung  dieser  forderung  ?  wie  viele  unserer  schüler  nehmen 
denn  —  ich  will  nicht  sagen  lust  und  liebe  die  classiker  weiter  zu 
lesen,  dazu  möchten  die  hohen  anforderungen,  welche  unsere  zeit  an 
specialstudien  und  beruf  stellt,  schwerlich  zeit  lassen,  dies  ziel  müssen 
wir  schon  aufgeben  —  den  schätz  von  bildungsstoffen,  welchen  die 
beschäftigt] ng  mit  der  antike  gewährt,  mit  ins  leben  hinaus,  so  dasz 
sein  einflusz  für  das  reifende  politische,  sociale,  ethische  und  ästhe- 
tische urteil  mitbestimmend  wird?  nehmen  doch,  und  man  musz  es 
eingestehen,  wenn  man  sich  nicht  absichtlich  der  Wahrheit  ver- 
schlieszen  will,  bei  weitem  die  meisten  —  gott  sei  dank,  gibts  ja 
auch  viele  ausnahmen  —  nicht  einmal  die  freude  an  der  alten  weit 
mit  hinaus,  warum  das?  blosz  weil  ihnen  vielfach  durch  die  leidige 
grammatisterei  alle  freude  an  den  alten  genommen  ist?  —  denn  an 
diesen  kann  die  schuld  nicht  liegen,  sind  sie  doch  wie  geschaffen  für 
das  dem  idealen  zugewandte  jünglingsgemüt.  die  schuld  scheint  uns 
an  einer  anderen  stelle  noch  zu  liegen,  unterrichten  wir  denn  auch 
so,  dasz  wir  einen  erfolg  unserer  thätigkeit  erwarten  könnten? 

Es  ist  das  hohe  verdienst  der  an  den  namen  Herbarts  anknüpfen- 
den pädagogik,  im  besondern  das  verdienst  der  in  seinen  Lehrgängen 
und  lehrproben'  hauptsächlich  niedergelegten  theoretisch -didakti- 
schen thätigkeit  0.  Fricks,  durch  zurückgehen  auf  die  gesetze  des 
Seelenlebens  auch  dem  altsprachlichen  Unterricht  erfolgreiche  und 
fruchtbringende  wege  gewiesen  zu  haben,  ohne  den  dem  gegner 
manche  blösze  bietenden  Schematismus  formaler  art  zu  billigen, 
können  wir  doch  nur  mit  lebhaftem  dank  auf  die  reichen  anregun- 
gen  zurückblicken,  welchen  diese  wissenschaftliche  didaktik  für  den 
altsprachlichen  Unterricht  darbietet,  gewis  kann  nur  durch  stete 
lebendige  Verknüpfung  der  vorstellungsreihen  eine  starke  bestim- 
mende vorstellungsmasse  entstehen,  gewis  ist  jede  einzelvorstellung, 
welche  mit  dem  schon  gefestigten  geistigen  besitz  nicht  in  engen 
inneren  Zusammenhang  gebracht  wird,  dem  baldigen  erblassen  aus- 
gesetzt, demnach  haben  wir  die  pflicht,  wollen  wir  die  gedanken- 
schätze der  alten  für  die  schule  heben,  sie  durch  stete  Verbindung 
der  in  ihr  enthaltenen  vorstellungsmassen  unter  einander,  sowie 
durch  Verbindung  mit  dem  übrigen  geistigen  leben  zu  einem  seeli- 
schen besitztum  der  Zöglinge  zu  machen,  die  aus  ihnen  geschöpften 
bildungsmomente  dürfen  nicht  für  sich  vereinzelt  bleiben,  sondern 
müssen  in  möglichst  engen  Zusammenhang  mit  dem  gesamten  Seelen- 
leben gebracht  werden,  so  entsteht  für  uns  im  altclassischen  Unter- 
richt eine  doppelte  aufgäbe:  nemlich  einmal  die  in  der  antiken  Ii tte- 
ratur  liegenden  bildungsmomente  möglichst  stark  und  kräftig  zu 
gestalten ,  also  diejenigen  in  ihr  niedergelegten  vorstellungsmassen, 
welche  für  die  bildung  des  jugendlichen  geistes  die  wichtigsten  sind, 
in  möglichster  stärke  und  klarheit  dem  schüler  zuzuführen,  d.  h. 
nur  das  didaktisch  beste  für  die  schule  auszusuchen  und  diese  bil- 
dungsstoffe  durch  einen  plan-  und  zielbewusten  aufbau  zu  einem 
starken  bildungsfactor  zu  machen  —  sodann  aber  auch  die  lectüre 


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Einige  tragen  zur  reform  des  gymnasialunterrichts. 


15 


jeder  classenstufe  mit  rücksiebt  auf  die  sonstige  bildungsarbeit  zu 
bestimmen,  es  erwachst  aus  der  ersten  Forderung  unabweisbar  die 
aufgäbe  für  das  gymnasium,  die  griechisch-römische  litteratur  auf 
die  didaktisch  wertvollsten  Schriftwerke  hin  zu  untersuchen  (den 
anfang  damit  macht  die  Fricksche  Sammlung  pädagogischer  auf- 
sätze),  welche  damit  noch  nicht  gelöst  ist,  dasz  infolge  des  gesunden 
sinnes  und  taktes  schon  früherer  jahrhunderte  ja  in  der  that  die 
besten  autoren  gelesen  zu  werden  pflegen,  und  nun  die  weitere,  die 
Schriftwerke,  bzw.  lesestücke  den  einzelnen  classen  zuzuweisen,  diese 
aufgäbe  läszt  sich  aber  nur  lösen,  wenn  wir  bei  der  auswahl  der 
antiken  autoren  bewust  den  zweck  der  gewinnung  bestimmter  vor- 
stellungscentren  verfolgen,  wir  sehen  wohl,  dasz  dieselbe  eine 
äuszerst  schwierige  ist,  und  eine  längere  zeit  mit  vielen  versuchen 
wird  vergehen  müssen,  ehe  zwischen  den  widerstrebenden  ansichten 
eine  einigung  erreicht  wird,  aber  der  versuch  musz  ernstlich  ge- 
macht werden;  ohne  dies  ziel  fest  ins  auge  zu  fassen,  verliert  das 
humanistische  gymnasium  seine  daseinsberechtigung. 

Wie  steht  es  nemlich  in  Wirklichkeit  mit  der  auswahl  der  grie- 
chischen und  lateinischen  leetüre  auf  dem  gymnasium?  sieht  man 
wirklich  bei  derselben  ein  pädagogisch-didaktisches  bestreben  nicht 
blosz  das  an  sich  beste,  sondern  auch  das  nach  didaktischen  grund- 
sätzen  wertvollste  der  jugend  zu  bieten  und  so  zu  bieten ,  dasz  eine 
dauernde  Wirkung  desselben  gehofft  werden  kann?  wir  müssen 
diese  frage  leider  im  allgemeinen  verneinen,  es  scheint,  als  ob  man 
von  der  ansieht  ausgienge,  dasz  die  griechischen  und  römischen 
autoren,  soweit  sie  auf  die  bezeiebnung  classiker  anspruch  machen 
können,  für  die  jugendbildung  unter  einander  schlechthin  gleich- 
wertig seien  und  für  ihre  Verwertung  zur  Unterrichtsarbeit  nur  äuszere 
gesichtspunkte  wie  der  grad  der  Schwierigkeit  der  einzelnen  Schrift- 
werke hinsichtlich  der  Verteilung  auf  die  classen  ausschlag  gäben, 
eine  nach  irgend  welchen  bedeutsamen  didaktischen  gesichtspunkten 
angelegte  auswahl  der  leettire  vermögen  wir  wenigstens  aus  den 
schulprogrammen  nicht  zu  erkennen,  wir  wollen  beispielsweise  auf 
einen  jahrgang  programme  der  monarchie  für  ein  fach  einen  blick 
werfen  und  wählen  dazu  den  griechischen  Unterricht  in  secunda  für 
das  jähr  1885/86,  d.  h.  einen  jahrgang,  in  welchem  die  lehrpläne 
von  1882  schon  vier  jähre  lang  in  kraft  waren,  es  mögen  des  all- 
gemeinen interesses  halber,  welches  die  sache  finden  dürfte,  nähere 
angaben  hergesetzt  werden. 

Untersecunda  fällt  für  unsern  zweck  so  ziemlich  weg,  da  in 
dieser  classe  glücklicherweise  fast  allgemein  wenigstens  für  das  erste 
halbjahr  die  Anabasis  gelesen  wird,  bedauerlich  ist  es,  wenn  sich 
wie  in  Dillenburg  und  Coblenz  dieselbe  durch  die  Hellenika  ersetzt 
findet,  bei  combinierter  secunda  musz  die  leetüre  von  Memor.  L  II 
(ßogasen),  welche  sich  das  ganze  jähr  hindurchzieht,  entsprechend 
die  von  Hell.  V.  VI  (Hadersleben),  Cyrop.  I — V  ausw.  (Meldorf), 
aber  auch  die  der  Anabasis  für  beide  semester,  wie  in  Moers,  Meppen, 


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Einige  fragen  zur  reform  des  gymnaaialunterrichts. 


Sagan,  auffallen,  das  dürfte  denn  doch  für  die*  Anabasis  zu  viel  des 
guten  und  für  die  bildungszwecke  des  gymnasiums  zu  wenig  sein, 
die  lectüre  der  obersecunda  zeigt  ein  buntes  allerlei,  da  findet  sich 
an  117  anstalten  Herodot  1.  1.  VI — IX  (auswahl),  an  64  gymnasien 
auswabl  aus  den  Memorabilien,  57  mal  des  Lysias  Eratosth.  und 
Agorat.  gelesen,  50 mal  die  kleineren  reden  desselben;  es  folgen 
die  Hellenika  44 mal,  die  ersten  bücber  Herodots  38 mal,  die  Cyro- 
paedie  29 mal,  Plutarcbiscbe  viten  15 mal,  Piatos  Apologie  lOmal, 
Lykurg ,  Isokrates'  Panegyricus  und  Lucian  je  6  mal  notiert. 

Die  schrift  C.  v.  Oppens  'die  wähl  der  lectüre  im  altsprachlichen 
Unterricht,  wie  sie  getroffen  wird  und  wie  sie  zu  treffen  wäre'  (Berlin, 
Gärtner,  1885)  hat  das  unbestrittene  verdienst  gezeigt  zu  haben,  wie 
viel  nach  ausweis  der  schulnachrichten  (des  Jahrgangs  83/84)  noch  ge- 
sündigt wird  gegen  die  einfachsten  und  einleuchtendsten  didaktischen 
grundsätze,  wie  wenig  die  lectüre  auf  die  forderungen  der  Vertiefung 
und  der  angemessenheit  derselben  nach  dem  grade  ihrer  Schwierig- 
keit rücksicht  nimmt,  wir  meinen  aber,  viel  höher  als  diese  gewis 
beachtenswerten  formellen  gesicbtspunkte  stehen  doch  erwägungen 
Uber  den  didaktischen  wert  der  einzelnen  Schriftwerke,  dasz  dieselben 
vielfach  gänzlich  auszer  acht  gelassen  werden,  weisen  unsere  Pro- 
gramme nach,  sollte  wirklich,  um  noch  einige  beispiele  anzuführen, 
die  durch  ein  ganzes  Schuljahr  für  den  Unterricht  in  obersecunda 
zu  gründe  gelegte  bebandlung  des  vierten  buches  der  Memorabilien 
(Gütersloh)  oder  Herodot  I  (Minden)  oder  Cyropaedie  I.  II  (War- 
burg) oder  Memor.  I.  II(Rogasen)  oder  Herodot  I — III  (Schweidnitz) 
oder  Cyrop.  I  (Münstereifel)  dem  schüler  tiefere  einblicke  in  die 
griechische  litteratur  ermöglichen  ?  sollten  nicht  an  stelle  der  ganzen 
genannten  partien  andere  Schriftwerke,  bzw.  andere  bücher  der  ge- 
nannten autoren,  bzw.  werke  ungleich  mehr  ausbeute  gewähren? 
sollten  wirklich  irgend  welche  pädagogische ,  bzw.  didaktischen  er- 
wägungen zu  der  beschäftigung  einer  secunda  mit  dem  ersten  buche 
der  Cyropaedie  durch  ein  ganzes  Schuljahr  geführt  haben?  wir 
fürchten,  nein;  man  liest  eben,  wohl  unter  dem  motto  'beati  possi- 
dentes',  nach  willkür  und  belieben  die  alten,  vielleicht  dasz  lang- 
jährige tradition  hier  und  da  den  weg  weist,  aber  wir  sagten  schon 
oben,  den  alten  sprachen  droht  verlust  ihrer  langjährigen  herschaft 
auf  den  gymnasien,  wenn  der  Unterricht  nicht  ernstlich  bemüht  ist 
die  in  ihnen  verborgenen  bildungsschätze  für  den  jugendlichen  geist 
wirklich  zu  heben,  die  phrasen  von  den  'goldenen  früchten  in  sil- 
bernen schalen',  wie  man  gern  die  classiker  nennt,  und  von  der  her- 
lichkeit  der  Griechenwelt  werden  uns  schwerlich  dagegen  schützen. 

Wir  fordern  also,  dasz  die  auswahl  der  lectüre  wirklich  nach 
didaktischen  gesichtspunkten  geregelt  werde,  soll  aber  darum  einem 
bindenden  kanon  für  das  gymnasium  das  wort  geredet  werden?  oder 
wird  man  uns  auch  vorhalten  'nicht  früh  genug  aufgestanden  zu 
sein',  da  doch  schon  eine  stattliche  reihe  von  directorenconferenzen 
mit  der  aufstellung  eines  kanons  der  altsprachlichen  lectüre  sich  be- 


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Einige  fragen  zur  reform  des  gyinnasiaiunterriehta.  17 

scbäftigt  haben?  was  den  ersten  punkt  betrifft,  so  sind  wir  uns 
wohl  bewust,  dasz  es  das  gerade  für  den  in  rede  stehenden  Unter- 
richt nötige  masz  von  freiheit  der  bewegung  beeinträchtigen  hiesze, 
wollten  wir  einen  den  lehrer  unbedingt  bindenden  kanon  fordern, 
macht  doch  gerade  hier  der  stoff  das  wenigste,  die  bebandlung  des- 
selben alles,  sie  vermag  aus  dem  scheinbar  undankbarsten  stoff  didak- 
tischen gewinn  zu  erzielen ,  während  anderseits  der  herlichste  stoff, 
wie  eine  griechische  tragödie,  für  die  schüler  völlig  ergebnislos  blei- 
ben kann,  wenn  der  Unterricht  seine  Schuldigkeit  nicht  thut.  dazu 
kann  bei  der  fülle  des  lesenswerten  doch  wohl  dem  lehrer  die  mög- 
lichkeit  offen  gelassen  bleiben  im  Unterricht  das  zu  bebandeln,  was 
er  gemäsz  seiner  individuellen  persönlichkeit  seinen  schillern  am 
fruchtbarsten  machen  zu  können  glaubt,   also  wohl  eine  gesunde 
freiheit,  aber  keine  Willkür,  sondern  didaktische  gcsichtspunkte 
müssen  die  lectüre  bestimmen,  als  grundsatz  für  ihre  auswahl  kann 
nach  dem  oben  gesagten  nur  das  didaktische  gesetz  der  concentra- 
tion  in  erster  linie  maszgebend  sein,  in  einem  doppelten  sinne :  zu 
wählen  sind  diejenigen  Schriftwerke,  welche  die  engste  berührung 
mit  den  gedankenkreisen  des  gesamten  sonstigen  Unterrichts  der 
classe  aufweisen,  aber  auch  die  continuität  des  gesamten  sprach- 
lichen Unterrichts  in  seiner  eigenart,  d.  h.  mit  dem  ziele  den  schülern 
die  antike  weit  in  religion  und  sitte,  in  kunst  und  Wissenschaft,  in 
geschiente  und  politik  zu  erschlieszen. 

Der  altsprachliche  Unterricht  steht  ja  darin  fast  sämtlichen 
gymnasialfacbern  nach,  dasz  es  ihm  schwer  gelingen  will,  abgesehen 
von  der  behandlung  der  alten  sprachen  selbst,  die  ergebnisse  des 
Unterrichts  in  eine  einheitliche  Verbindung  zu  bringen,  die  mathe- 
matik  und  auch  die  natur Wissenschaften,  die  geographie  und  die 
geschiente,  der  religions-  und  der  deutsche  Unterricht  bauen  sich 
systematisch  von  stufe  zu  stufe  auf.  für  diese  lache r  gilt  der  satz, 
dasz  von  den  in  früheren  classen  gewonnenen  resultaten  nichts  ver- 
loren wird,  sondern,  sei  es  unmittelbar,  sei  es  mittelbar,  der  gesamte 
herausgearbeitete  Unterrichtsstoff  dem  in  der  höheren  classe  zu  be- 
handelnden zu  gründe  gelegt  wird,  ja  erst  recht  in  der  obersten 
classe  noch  durch  Zusammenfassung  und  Vertiefung  zur  geltung 
kommt,  es  mag  ja  in  dem  wesen  des  altsprachlichen  Unterrichts 
liegen ,  dasz  vieles  auf  früheren  stufen  gewonnene  nur  schwer  eine 
Verwertung  weiter  oben  bin  zuläszt;  aber  das  streben  auch  dieser 
unterrichtsfacher  musz,  wenn  anders  sie  dauernden  erfolg  haben 
sollen,  darauf  gerichtet  sein,  diesen  grundsatz  an  sich  zu  verwirk- 
lichen, was  soll  es  auch  für  ergebnisse  haben ,  wenn  der  lehrer  der 
höheren  classen  einfach  unbeachtet  läszt,  was  an  vorstellungs-  und 
begrifflichem  material  auf  der  Vorstufe  gewonnen  ist?  man  kann 
die  probe  machen,  wie  wenig  von  den  früher  gelesenen  autoren  oft 
noch  in  prima  eigentum  der  schüler  ist,  trotzdem  der  anknüpfungen 
sich  doch  so  viele  geboten  haben,  aber  wir  meinen,  diese  an- 
knüpfungen müssen  wir  suchen,  und  in  diesem  sinne  müssen  wir 

N.  fmhrb.  f.  phii.  u.  pid.  IL  ibt.  1891  hft.  1.  2 


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]  8  Einige  fragen  zur  reform  des  gymnaualunterrichts. 

concentrische  kreise  zu  bilden  bemüht  sein  bei  der  auswabl  der 
lectOre,  oder  ohne  bild,  wir  müssen  die  bedeutendsten  vors  teil  ungs- 
massen ,  welche  die  alten  darbieten ,  durch  wohl  ausgesuchte  lectüre 
im  steten  Zusammenhang  der  einzelnen  classen  behandeln,  bis  sie 
auf  der  obersten  stufe  ihre  letzte  Vertiefung  finden,  diese  didak- 
tiche  forderung  halten  wir  für  ebenso  wichtig,  ja  ihre  geltend- 
machung  im  hinblick  auf  die  Wirklichkeit  für  noch  dringender  als 
das  gesetz  der  Verknüpfung  des  altsprachlichen  Unterrichtsstoffes 
der  einzelnen  classen  mit  dem  gesamten  geistigen  leben  der  scbüler, 
welches  nach  dem  oben  gesagten  gleichfalls  bei  der  auswahl  der 
lectüre  bestimmend  sein  musz. 

Es  ist  hier  nicht  der  ort  diese  gedanken,  welche  wir  in  groben  um- 
rissen gezeichnet  vorgetragen  haben,  weiter  auszuführen,  wir  begnü- 
gen uns  damit,  zur  erlauterung  des  gesagten  ein  beispiel  herzusetzen, 
nemlich  für  den  griechischen  Unterricht  in  obersecunda,  wenngleich 
auch  nur  als  einen  versuch,  nicht  als  ein  abschlieszendes  resultat : 

1.  Nachdem  in  III*  die  lectüre  von  Xenophons  Anabasis  be- 
gonnen ist,  wird  dieselbe  in  IIb  während  des  sommersemesters  fort- 
gesetzt und  (im  durchblick)  beendet,  so  dasz  der  schüler  mit  den 
bedeutsamsten  momenten  des  rückzuges  der  zehntausend  bekannt 
wird  und  ein  anschauliches  bild  von  der  persönlichkeit  des  feldherm 
wie  nicht  minder  des  Schriftstellers  Xenophon  gewinnt. 

2.  Für  das  zweite  Semester  der  IIb  empfiehlt  sich  nicht  die 
lectüre  des  Herodot1,  auch  nicht  Xenophons  Hellenika*,  sondern 
dessen  Cyropaedie  im  durchblick  (etwa  I  1.  2.  5.  6.  IV  4.  6. 
VIII  1.  7),  aus  welcher  sich  ergeben  müssen  die  hauptzüge  des 
Xenophontischen  königsideals  und  eine  erweiterung  der  kenntnis 
des  Politikers  und  bedeutsame  züge  des  Sokratikers  Xenophon 
(parallelen  für  diesen  Unterrichtsstoff  bieten  im  religionsunterricht 
die  theokratie  des  alten  bundes,  im  deutschen  das  heldenepos,  in 
der  geschiente  der  Orient,  besonders  aber  die  politische  ent Wick- 
lung Griechenlands,  in  der  geographie  Asien). 

3.  In  das  erste  Semester  der  II*  fällt  die  lectüre  der  Perser- 
kriege in  Herodots  geschichtswerk  (VI — IX  mit  auswahl). 

4.  Im  zweiten  Semester  sind  in  II  *  zu  lesen :  Xenophons  Age- 
silaus3  (welcher  eine  schnellere  lesung  ermöglicht,  daher  auch  eine 
wertvolle  Wiedereinführung  in  den  attischen  dialekt  darbietet),  dessen 
lectüre  die  Xenopbontische  idee  des  königtums  sowohl  nach  der 
philosophischen  seite  (vgl.  vorher  Cyrop.,  nachher  Memor.)  wie 
nach  der  geschichtlichen  seite  (vgl.  besonders  die  Memor.)  vertieft 

1  auch  aus  äusseren  gründen,  da  Herodot  schnelles  lesen  verlangt 
und  sein  dialekt  nicht  neben  dem  Homerischen  her  erlernt  werden  kann. 

*  Uber  sie  geht  wohl  das  allgemeine  urteil  dahin,  dasz  sie,  abge- 
sehen von  einzelnen  wertvollen  partien,  kein  für  die  schule  geeignetes 
Schriftwerk  ist,  vgl.  auch  unten. 

*  über  dessen  didaktischen  gehalt  verf .  sich  an  anderer  stelle  auslassen 
wird,  im  übrigen  bitten  wir  den  von  O.  Altenburg  (Oh Inn}  in  Frick- Richter 
lehrproben  und  lehrgttnge  hft.  X  aufgestellten  lehrplan  zu  vergleichen. 


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Einige  fragen  zur  reform  des  gymnasialunterrichts.  19 


und  schon  die  grundzüge  des  Sokratischen  tugendideals  enthält,  zu- 
gleich aber  auch  eine  typische  weltgeschichtliche  bewegung  dar- 
stellt ,  und  Xenophons  Memorabilien  als  abschlusz  des  Xenophonti- 
schen  bildes  des  Sokrates,  dessen  geschichtliche  bedeutung  als  des 
refonnators  seines  Volkstums  zugleich  aus  ihnen  klar  wird  wie  nicht 
minder  die  geschichtliche  epoche  des  niederganges  Athens  über- 
haupt, zugleich  als  abschlusz  der  beschäftigung  mit  dem  bilde  Xeno- 
phons ,  endlich  als  Vorbereitung  auf  Plato. 

5.  Abzuweisen  für  II a  sind  Lysias  und  Xenophons  Hellenika, 
empfohlen  dagegen  wird  Lucians  träum  (parallel  Memor.  II  l)  zur 
beleuchtung  der  Weltanschauung  des  Hellenismus. 

Zum  bessern  Verständnis  des  vorstehenden  lehrplanentwurfs 
setzen  wir  noch  die  folgenden  thesen  über  die  aus  wähl  der  griechi- 
schen prosalecttire  überhaupt  her,  freilich  ohne  dieselben  an  dieser 
stelle  zu  begründen: 

1.  Unter  rdem  bedeutendsten  aus  der  classischen  griechischen 
litteratur,  dessen  lectüre  geeignet  ist  einen  bleibenden  eindruck  von 
dem  werte  der  griechischen  litteratur  hervorzubringen'  (lehrpläne 
von  1882),  sind  diejenigen  litteratur  werke  zu  verstehen,  welche  am 
deutlichsten  die  eigenart  des  griechischen  geistes  in  der  blüte  seiner 
ent wicklung  auf  den  gebieten  des  sittlich- religiösen,  des  geistigen 
und  des  politischen  lebens  widerspiegeln ,  und  zwar  hat  ein  Schrift- 
werk um  so  gröszeres  anrecht  auf  aufnähme  in  den  schulkanon,  je 
mehr  in  ihm  der  antik-griechische  geist  in  seiner  gesamterscbeinung 
zur  geltung  kommt. 

(Auszuschheszen  sind  darum  von  der  schule  als  einer  späteren 
entwicklung  des  griechischen  geisteslebens  angehörig  vor  allem 
Plutarch,  auch  Arrian  und  im  allgemeinen  Lucian  —  die  gerichtsreden 
des  Lysias,  weil  im  allgemeinen  des  sittlichen  gehaltes  entbehrend.) 

2.  Abzuweisen  ist  darum  eine  einseitige  bevorzugung  der  poli- 
tisch-geschichtliche Stoffe  darstellenden  Schriftwerke;  dieselben  sind 
nur  soweit  heranzuziehen ,  als  sie  typische  politische  einrichtungen, 
entwicklungen  und  gestalten  behandeln. 

3.  Der  didaktische  wert  eines  Schriftwerkes  hängt  nicht  minder 
von  dem  Charakter  des  Verfassers  als  einer  erziehlich  wirksamen  per- 
sönlichkeit wie  von  den  in  ihm  enthaltenen  bildungsmomenten  ab. 

4.  Wenn  in  den  schulkanon  nicht  aufzunehmen  sind  diejenigen 
werke,  deren  Verständnis  übergrosze  Schwierigkeit  bereiten  würde 
(wie  manche  Platonische  dialoge),  so  ist  auch  bei  der  Verteilung  der 
Schriftwerke  auf  die  einzelnen  classenstufen  der  grad  ihrer  Schwierig- 
keit mit  entscheidend. 

5.  Diese  Verteilung  ist  in  erster  linie  zu  bestimmen  nach  dem 
didaktischen  gesichtspunkte  der  concentration  des  Unterrichts  so- 
wohl im  sinne  der  Verbindung  der  griechischen  lectüre  mit  den 
übrigen  Unterrichtsstoffen  der  einzelnen  classen  wie  im  hinblick  auf 
den  steten  Zusammenhang  der  griechischen  lectüre  auf  dem  gymna- 
sium  überhaupt. 

2* 


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20  Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts. 

6.  Abzuweisen  sind  für  die  lectüre  alle  äuszeren  gesichtspunkte, 
wie  solche  hergeleitet  werden  von  den  litteraturgattungen  und  der 
spracht«,  bzw.  den  mundarten. 

7.  Nicht  bruchstücke,  sondern  ganze  Ii tteratur werke  sind  zu 
lesen,  derart  dasz  der  schüler  wenigstens  im  durch  blick  mit  ihnen 
vertraut  wird. 

Endlich  sei  mit  rücksicht  auf  den  ersten  teil  unserer  dar- 
legungen  noch  gesagt: 

8.  Die  lectüre  hat  auf  die  sprachliche  form  nur  soweit  einzu- 
gehen, als  es  zum  vollen  Verständnis  des  inhalts  erforderlich  ist; 
eine  weitere  berücksiehtigung  verdient  nur  ihr  etwaiger  künstleri- 
scher wert. 

Mit  der  aufstellung  dieser  grundsätze  schlieszen  wir  unsere  dar- 
legungen  ab :  wir  glaubten  nur  unsere  pflicht  zu  thun,  wenn  wir  auf 
gewisse  wunde  stellen,  welche  sich  am  Organismus  unseres  gymna- 
siums  zeigen  und  deren  heilung  als  lebensfrage  für  dasselbe  er- 
scheint, hinwiesen  und  auf  wege  aufmerksam  machten,  auf  welchen 
unseres  erachtens  eine  besserung  herbeigeführt  werden  kann;  ohne 
offene  ausspräche  ist  diese  undenkbar,  wenn  die  angegebenen  wege 
schon  mehrfach  beschritten  werden  mögen ,  wie  sich  der  unter- 
zeichnete keineswegs  verhehlt,  so  glaubt  er  im  hinblick  auf  die 
geringen  anfange ,  welche  doch  im  groszen  und  ganzen  damit  erst 
gemacht  sind,  nichts  überflüssiges  gesagt  zu  haben. 

Ohlau.  ________       Paul  Dörwald. 


3. 

ZUM  SPÄTEREN  BEGINN  DES  LATEINISCHEN 

UNTERRICHTS. 


Im  zweiten  band  der  Jahresberichte  von  Rethwisch  faszt  der 
berichterstatter  Ziemer  seine  beobachtungen  in  folgenden  worten 
zusammen:  'trügen  nicht  alle  an /eichen,  so  dürften  sich  die  Verhält- 
nisse einmal  ändern  und  eine  ausgleichspartei ,  die  anhänger  einer 
weniger  starren  richtung  sich  mehren,  welche  dem  latein  das  Über- 
gewicht im  lehrplan  nehmen  oder  einen  späteren  an  fang  wollen.' 

Als  hervorragender  Vertreter  der  letzteren  richtung  ist  Stein- 
thal aufgetreten  in  der  philologischen  Wochenschrift  1888  nr.  48. 
von  seinen  ausführnngen  gebe  ich  hier  folgende  stellen: 

'Die  forderung,  dasz  in  unsern  schulen  nicht  zu  früh  mit  den 
fremden  sprachen  begonnen  werde,  wird  mir  derjenige  lehrer  am 
leichtesten  zugestehen,  der  mit  betrübnis  bemerkt,  wie  in  unserer 
zeit  eine  Verderbnis  der  deutschen  spräche  um  sich  greift,  welch 
ein  erschreckender  mangel  an  reinem  Sprachgefühl  im  gebrauche  der 
ino di ,  der  partieipien,  der  composita,  der  synonyma  und  überhaupt 
der  Wortbedeutungen,  in  der  bildung  der  wortformen  usw.  und 
dies  bei  unsern  vielen  schulen,  bei  der  ausdehnung  eines  wissen- 


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Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  unterrichte.  21 

schaftlichen  Unterrichts  über  alle  stände  des  deutschen  volks?  weist 
das  nicht  sicher  auf  einen  fehler  der  schuleinrichtung?  nach  erinne- 
rungen  aus  meiner  eignen  kindheit  und  Schulzeit  behaupte  ich,  dasz 
der  eigentliche  grammatische  Unterricht  in  der  muttersprache  sich 
daran  als  rechtzeitig  und  gut  gegeben  erweist,  dasz  er  dem  schüler 
von  allem  Unterricht  der  angenehmste  ist.  der  schüler  hat  dabei 
nicht  das  gefühl  des  anstrengenden  lernens,  sondern  des  sichbesinnens 
auf  sich  selbst;  er  lernt  nichts  neues,  sondern  er  wird  sich  seines 
inneren  Schatzes  bewust:  es  fällt  ihm  wie  schuppen  von  den  äugen, 
er  lernt  in  sich  blicken,  das  kann  aber  erst  geschehen,  wenn  er  den 
besitz  schon  erworben  hat  und  sicher  hat.' 

'Der  edlere  Wortschatz,  die  vollere  und  feinere  grammatik  in 
formenlebre  und  syntax  musz  vom  kinde  gelernt  werden,  kann  aber 
vor  dem  neunten  jähre  nicht  nach  methodischer  analytik  oder  syn- 
thetik  begriffen,  sondern  zunächst  nur  durch  den  gebrauch  ange- 
eignet werden,  die  spräche  musz  also  in  dieser  zeit  dem  kinde  vor- 
geführt werden :  es  ist  ein  anscbauungsunterricht.  solcher  Unterricht 
in  der  muttersprache  dauert  ja  unbewust  durch  den  ganzen  verlauf 
der  Schulzeit  und  darüber  hinaus;  denn  es  ist  wesentlich  die  ent- 
wicklung  des  denkens  und  der  gedanken  in  der  form  des  Sprechens 
und  der  rede,  um  was  es  sich  hierbei  handelt,  daneben  aber  bietet 
doch  die  schule  noch  den  methodischen  begrifflichen  Unterricht  zum 
tieferen  Verständnis  der  muttersprache.  ist  dieser  natürlich  abge- 
stuft, so  bestimmen  sich  die  stufen  desselben  nach  dem  masze,  in  wel- 
chem der  schüler  durch  den  (wie  ich  ihn  so  eben  nannte)  anscbauungs- 
unterricht schon  vorgebildet  ist.  und  so  erkläre  ich  mich  bestimmter 
dahin: 

*  1)  der  anscbauungsunterricht  in  der  muttersprache  beginnt 
mit  dem  eintritt  des  scbülers  in  die  schule. 

1 2)  während  sich  dieser  ohne  Unterbrechung  fortsetzt,  beginne 
mit  dem  zurückgelegten  neunten  jähre  der  begriffliche  Unter- 
richt in  den  bestimmungen  des  einfachen  satzes  der  muttersprache. 

*3)  während  sich  dieser  doppelte  Unterricht  in  der  muttersprache 
fortsetzt,  beginne  mit  dem  zurückgelegten  zwölften  jähre  der 
Unterricht  in  den  fremden  sprachen.' 

Alsdann  erinnert  Steinthal  daran,  dasz  über  das  wesen  des  be- 
wustseins  erst  in  neuerer  zeit  von  der  psychologie  die  richtige  an- 
sieht gewonnen  worden  sei,  und  zeigt,  wie  jene  drei  sätze  in  der 
realen  dialektik  der  culturgesebichte  und  der  einzelentwicklung  be- 
gründet seien,  dasz  nemlich 

1)  der  zu  anfang  natürliche  (instinetive,  naive,  unbe wüste)  geist 
die  eigentliche  Schöpferkraft  in  sich  trägt ;  dasz 

2)  diese  geistige  natur  ihren  gegensatz,  den  bewusten  geist, 
den  reflectierenden  verstand,  die  Überlegung  erzeugt;  und 

3)  dasz  der  verstand  zur  natur  zurückkehrt,  oder  dasz  der  natur- 
geist  in  seinem  von  ihm  selbst  geschaffenen  gegensatze  auch  seine 
eigne  wahre  natur  wieder  herstellt,  wodurch  er  Schöpferkraft  mit 


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22  Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  unterrichte. 

bewustsein  vereinigt,  wodurch  er  zur  andern  natur  wird,  die  nicht 
mehr  die  erste,  die  naive  natur  ist  (wodurch  der  naive  geist  znr 
geistigen  natur  wird). 

Steinthal  spricht  sich  also  gegen  den  beginn  jeglichen  fremd- 
sprachlichen Unterrichts  vor  zurückgelegtem  zwölften  lebensjahre 
aus.  man  kann  ihm  darin  grundsätzlich  beistimmen,  mit  ihm  for- 
dern vollere  einführung  in  die  realien,  gründlichere  Übung  in  der 
muttersprache,  tiefer  gehende  grundlegung  für  die  anschau ungs weit 
und  allgemeine  bildung  und  sich  doch  für  den  beginn  mit  einer 
modernen  fremdsprache  schon  in  sexta  aussprechen ,  da  dieser  letz- 
tere die  erfüllung  jener  f orderungen  erheblich  fördern  würde. 

Die  durch  die  geschichtlichen  Verhältnisse,  unter  denen  sich 
unsere  cultur  gegründet  hat,  entwickelte  schulüberliefernng  wider- 
streitet aufs  entschiedenste  für  die  nächste  zukunft  einem  solchen 
hinausschieben  des  gesamten  fremdsprachlichen  Unterrichts. 

Von  dem  letzteren  gesichtspunkt  geleitet,  bekennt  Lattmann 
sich  jetzt  zu  dem  grundsatz,  dasz  das  französische  in  sexta,  das  latein 
in  quinta  zu  beginnen  sei.  er  thut  dies  in  der  programmabhandlung 
des  gymnasiums  zu  Clausthal  1888:  'welche  Veränderungen 
des  lehrplans  in  den  alten  sprachen  würden  erforder- 
lich sein,  wenn  der  fremdsprachliche  Unterricht  mit 
dem  französischen  begonnen  wird?'  dieses  Zugeständnis 
des  hervorragendsten  lebenden  methodikers  auf  dem  gebiete  des 
lateinischen  elementarunterrichts  ist  ein  sehr  schwer  wiegendes. 
Ziemer  meint  (jahresberichte  von  Rethwisch  bd.  III  s.  63),  in  dem 
streit  der  gegensätze  könne  die  stimme  dieses  ehrwürdigen  Vor- 
kämpfers für  den  lateinischen  Unterricht  nicht  unbeachtet  bleiben, 
dennoch  ist  sie  fast  unbeachtet  geblieben,  oder  will  man  sie  tot 
schweigen?  auszer  Ziemer,  der  a.  o.  nach  den  ihm  gesteckten 
grenzen  sich  nur  kurz  mit  dem  gegenstände  beschäftigen  konnte, 
hat  nur  0.  Weissenfeis  im  Wochenbericht  für  classische  philologie 
1888  s.  925  sich  zu  Lattmanns  Vorschlägen  geäuszert  und  zwar  in 
ablehnender  weise.  F.  Müller  bespricht  sogar  in  der  philologischen 
Wochenschrift  1889  s.  1013  Lattmanns  schrift:  'über  den  in  quinta 
zu  beginnenden  lateinischen  Unterricht  nebst  einem  entsprechenden 
lehrbuche',  1889,  ohne  zu  der  priorität  des  französischen,  auf  wel- 
cher diese  ganze  schrift  fuszt  und  auf  welche  sie  häufig  bezug  nimmt, 
auch  nur  mit  einem  worte  Stellung  zu  nehmen,  ich  selbst  habe  die 
programmabhandlung  ausführlich  besprochen  in  dem  pädagogischen 
archiv  1888  s.  289 — 324,  will  aber  auch  an  dieser  stelle  noch  ein- 
mal die  leitenden  didaktischen  grundsätze  dieser  schrift  sowie  der 
im  jähre  1889  erschienenen  hervorheben. 

Von  vorn  herein  erklärt  Lattmann,  er  sei  zu  seiner  arbeit  ver- 
anlaszt  worden  durch  meine  die  Ostendorfschen  Vorschläge  behan- 
delnde schrift.  da  ich  darin  sehr  oft  auf  seine  gegen  Ostendorf  geführte 
polemik  und  andere  seiner  äuszerungen  bezug  nehme,  so  halte  er  sich 


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Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts. 


23 


für  verpflichtet,  zu  erklären,  wie  er  nach  dem  erscheinen  meines 
bochs  zu  der  sache  stehe,  er  entwickelt  dann,  wie  er  seit  23  jähren 
durch  eine  reihe  methodischer  Schriften  und  lehrmittel  sich  bemüht 
habe,  eine  angemessenere  behandlung  des  lateinischen  Unterrichts 
herauszubilden,  er  war  der  ansieht,  dasz  für  den  lateinischen  ele- 
mentarunterricht  dasselbe  verfahren  zur  anwendung  kommen  könne, 
welches  man  jetzt  lebhaft  für  die  neueren  sprachen  erstrebt,  indem 
man  zugleich  die  berech  tigung  ihrer  priori  tat  zu  begründen  sucht, 
aber  mehr  und  mehr  hat  er  erkannt,  welche  Schwierigkeiten  es  macht, 
jene  methodischen  grundsätze  auf  den  lateinischen  Unterricht  anzu- 
wenden, vor  allem  hat  er  eingesehen,  dasz  die  erlernung  der  um- 
fangreichen formenlehre  eino  bedeutende  gedächtnisarbeit  ist,  dasz 
die  einübung  der  so  manigfaltigen  formen  eine  menge  von  Übungs- 
sätzen notwendig  macht,  welche  nur  zu  einem  geringen  teile  aus 
dem  langsam  anwachsenden  lebrstoffe  der  fabeln  entnommen  werden 
können,  zwar  hat  er  sich  bemüht,  die  Übungssätze  aus  dem  durch- 
schnittlich jedem  schüler  nahe  liegenden  erfabrungskreise  zu  ent- 
nehmen, aber  bei  dieser  arbeit  ist  es  ihm  immer  mehr  zum  bewust- 
sein  gekommen,  wie  beschränkt  dieses  gebiet  ist,  wenn  es 
in  gutem  latein  dem  sextaner  faszbar  zum  au* druck  kommen  und  zu- 
gleich der  formenlehre  dienstbar  gemacht  werden  soll,  alsdann  hat 
er  18  jabre  lang  veranlassung  gehabt,  den  lateinischen  Unterricht  in 
sexta  bei  der  einfuhrung  von  probecandidaten  eingehend  zu  beob- 
achten und  teilweise  selbst  zu  erteilen,  seine  lehrbücher  wurden  auf 
grund  der  hierbei  gemachten  erfahrungen  verbessert,  der  Unterricht 
wurde  von  hervorragend  tüchtigen  lehrern  ganz  nach  seinen  metho- 
dischen grundsätzen  behandelt,  und  zwar  —  nach  den  urteilen  der 
aufsichtsbehörde  —  mit  gutem  erfolg,  aber  bei  aller  befriedigung, 
welche  dieser  Unterricht  ihm  bereitete,  verliesz  er  die  stunden  doch 
oft  mit  einem  daneben  hergehenden  gefühle  des  misbehagens,  das 
ihm  sagte:  'das  ist  alles  recht  schön,  aber  trotz  alledem 
—  es  ist  und  bleibt  ein  unsinn,  das  lateinische  in  sexta 
anzufangen.'  etwa  ein  drittel  oder  viertel  der  schüler  folgte  dem 
Unterricht  mit  lebhaftem  interesse  und  faszte  alles  so  gut  auf,  dasz 
mit  diesen  allein  das  ganze  pensum  in  einem  halben  jähre  oder  in 
drei  Vierteljahren  hätte  durchgemacht  werden  können,  aber  das 
zweite  drittel  oder  etwas  mehr  liesz  die  Spontaneität  vermissen,  be- 
durfte häufiger  anstacbelungen  und  erreichte  das  ziel  nur  eben  ge- 
nügend, dagegen  hieng  der  rest  wie  bleigewicht  an  dem  unterrichte, 
offenbar  übte  die  lange  arbeit  au  diesen  stümpern  auf  die  ganze 
classe  einen  abstumpfenden  einflusz;  es  muste  den  besseren  der 
Unterricht  langweilig  werden,  und  jene  schwachen  selbst  fühlten 
sich  nur  gepeinigt,  unter  diesen  waren  zwar  mehrere  überhaupt 
unfähige  schüler,  welche  nicht  auf  ein  gymnasium  gehörten,  aber 
einige  davon  genügten  wenigstens  in  allen  andern  fächern,  nament- 
lich im  rechnen ;  und  unter  dem  lateinischen  mittelgute  fanden  sich 
solche,  welche  sich  in  andern  fächern  auszeichneten  und  geweckt  er- 


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24  Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  unterrichte. 

schienen,  so  mußte  denn  Lattmann  stets  mit  innigem  bedauern 
sehen ,  dasz  einer  groszen  anzahl  guter  jungen  etwas  zugemutet 
wurde,  wozu  ihre  ganze  geistige  entwicklung  noch  nicht  reif  war. 

Bemerkenswert  ist  die  beobachtung,  dasz  es  auch  den  schlech- 
testen Lateinern  nicht  an  regsamkeit  fehlte,  wenn  der  inhalt 
eines  satzes  aus  ihrem  erfahrungskreise  besprochen  und 
erläutert  wurde,  für  die  Sachen  hatten  sie  alle  interesse, 
und  das  blosze  auswendigleinen  der  formen  konnte  auch  genügen, 
aber  sobald  es  auf  die  Verwendung  der  formen  ankam ,  dawar 
es,  als  ob  das  gehirn  seine  function  versagte,  'die  äugen  ver- 
gl  asten',  so  war  auf  die  mehrzahl  der  schüler  anzuwenden  ,  was 
Herbart  (umrisz  289)  sagt:  'wo  das  interesse  nicht  erwacht  und 
nicht  kann  erweckt  werden,  da  ist  das  einzwingen  der  fertig- 
keit  (und  von  diesem  erbfehler  der  alten  methode  ist  auf  der  sexta 
nicht  loszukommen)  nicht  blotz  wertlos,  weil  es  zu  einem  geistlosen 
treiben  führt,  sondern  auch  schädlich,  weil  es  die  gemtitsstim- 
mung  verdirbt.'  —  fJa,  das  empfangende  interesse  aufzustacheln, 
ist  sehr  leicht,  aber  das  weiter  verfolgende,  fortführende  zu  wecken 
und  auf  denjenigen  punkt  hinzuführen,  auf  den  es  ankommt,  auf 
die  erlernung  der  spräche,  die  Verwendung  der  formen,  das 
ist  noch  eine  andere  aufgäbe!  gewis  werden  viele  schulmänner  der 
ansieht  Völckeis  s.  104  zustimmen,  dasz  wir  weniger  grund  haben, 
von  einer  Uberbürdnng  durch  ein  zu  groszes  quantum  häuslicher 
arbeiten  zu  sprechen,  als  von  einer  Uberspannung  der  geisti- 
gen kräfte  der  jugend,  aber  wahrscheinlich  sind  es  noch  wenige, 
welche  mit  ihm  diese  Überspannung  in  erster  linie  auf  den  zu  früh- 
zeitigen beginn  des  lateinischen  zurückführen.' 

Früher  hatte  Lattmann  den  wünsch,  dasz  das  latein  nach  quinta 
verschoben  werde,  doch  aber  immer  noch  den  anfang  des  fremd- 
sprachlichen Unterrichts  bilden  solle,  jedoch  die  neueren  erörte- 
rungen  über  flie  erstrebte  methode  des  französischen  anfangsunter« 
richts  haben  ihn  Uberzeugt,  dasz  das  für  diesen  empfohlene  metho- 
dische verfahren  gerade  für  den  ersten  fremdsprachlichen  Unterricht 
das  angemessenste  sei  und  dasz  deshalb  die  neuere  spräche  dem 
latein  vorauszugehen  habe,  diese  Überzeugung  wurde  besonders  ge- 
fördert durch  die  sich  darbietende  gelegenheit,  die  erstrebte  neue 
methode  des  französischen  in  der  praxis  zu  beobachten,  hier  ergab 
es  sich  ganz  von  selbst,  stets  von  dem  mündlichen  Unterricht 
auszugeben,  den  schülern  die  spräche  zuerst  durch  sprechen  vorzu- 
führen, die  ganze  classe  wurde  gleichmäszig  herangezogen,  die  aus 
dem  munde  aufzufassenden  regelmäszigen  laute  der  französischen 
ausspräche  übten  offenbar  gerade  durch  ihre  auffällige  neuheit  einen 
starken  reiz  auf  die  schüler  aus.  sie  hatten  lust  an  der  mit  den 
äuszerlichen  mittein  ihres  noch  leicht  bildsamen  organs  zu  übenden 
nachbildung,  das  französische  wort  interessierte  allein  schon  durch 
seinen  laut,  was  im  lateinischen  Unterricht  nur  selten  zu  bemerken 
war.  —  Ferner  konnte  hier  ohne  langes  bedenken  gleichsam  hinein- 


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Zum  späteren  beginn  deß  lateinischen  unterrichte. 


25 


gegriffen  werden  ins  volle  leben  der  jugend :  kleidung  und  speise, 
tagesordnung  und  schule,  häusliches  leben,  Familienverhältnisse, 
reisen,  jedes  tagesereignis,  die  stadt  mit  ihren  bewohnern  und  deren 
beschäftigungen ,  die  umgegend,  geschichtliche  erinnerungstage, 
stoff  aus  jedem  beliebigen  unterrichte,  auch  das  kirchliche  leben 
und  die  ethischen  Vorstellungen  des  kindergemüts,  alles  das  liesz 
sich  zwanglos  und  ohne  hindernisse  sprachlicher  bedingungen,  welche 
dem  lehrer  im  lateinischen  so  oft  entgegentreten,  herbeiziehen,  und 
damit  war  denn  auch  ein  reichliches  'inductionsmaterial'  ge- 
wonnen, um  die  formen  aus  der  lebendigen  spräche  erfassen  zu 
lassen.  —  Dieser  formen  bedurfte  es  in  weit  geringerer  und  leichter 
aufzufassender  menge  und  art,  um  kurze  sätze  des  raanigf altigsten 
inhalts  zu  bilden,  wie  bald  war  die  declination  erfaszt,  und  für  den 
freieren  gebrauch  von  Zeitwörtern  kam  die  dem  deutschen  entspre- 
chende Verwendung  von  avoir  und  ctre  sehr  zu  statten,  indem  die 
dazu  gehörigen  participien  leicht  als  vocabeln  gefaszt  werden.  — 
Ferner  die  notwendige  forderung,  dasz  der  französische  satz  in  einem 
fortlaufenden  flusse  mit  heraushebung  des  satztones  gesprochen 
werde,  zwingt  den  knaben  zur  auffassung  der  beziehung  der  Satz- 
teile zu  einander  und  des  ganzen  gedankens,  während  man  im  latei- 
nischen nur  gar  zu  leicht  mit  dem  bloszen  mosaik  der  worte  sich  zu 
begnügen  geneigt  ist.  ohne  zweifei  ist  die  denkübung  bei  auffassung 
der  bildung  des  lateinischen  satzes  eine  schwerere,  man igf altigere, 
combiniertere;  aber  sie  ist  in  der  that  für  den  neunjährigen  knaben 
eine  noch  zu  schwierige,  wie  oft  bemerkt  man  nicht,  dasz  über  der 
anstrengung,  eine  lateinische  form  zu  entziffern  oder  bei  der  Über- 
setzung aus  dem  deutschen  eine  solche  nach  dieser  oder  jener  regel 
zu  bilden,  der  Zusammenhang  der  Satzteile,  der  gedanke  verloren 
gebt,  worauf  dann  der  schüler  anfängt,  ganz  äuszerlich  weiter  zu 
tappen  und  den  lehrer  mit  einer  confusion  über  die  andere  zur  Ver- 
zweiflung zu  bringen.  —  Endlich  hat  Lattmann  bemerkt,  dasz  die 
gelernten  französischen  sätzchen,  gleich  von  dem  M  on  jour,  monsieur' 
an,  von  den  schülern  zu  hause  oder  unter  einander  angebracht  wur- 
den und  dann  eine  freudige  teilnähme  der  angehörigen  erregten, 
teils  weil  diese  fremde  spräche  häufiger  verstanden  wird,  teils  weil 
sich  auch  der  gedanke  damit  verbindet,  dasz  das  söhnchen  da  etwas 
lernt,  was  er  einmal  im  leben  gebrauchen  kann,  während  die  sauere 
stille  bucbarbeit  am  latein  oft  genug  bedauert  wird,  das  wirkt  natür- 
lich sehr  in  entsprechenden  richtungen  auf  das  interesse  am  Unter- 
richt. —  Eine  spräche  lernen,  heiszt  zunächbt  sprechen  lernen; 
und  dasz  darauf  das  französische  hinzielt  und  gleich  vom  ersten 
schritte  an  auf  dieses  ziel  handgreiflich  sich  richten  kann,  während 
das  lateinische  sogleich  merken  läszt,  dasz  es  nur  zum  lesen  zu 
bringen  ist,  darin  liegt  ein  vorsprung  des  Unterrichts  in  einer  neueren 
spräche,  der  von  der  ersten  stunde  an  packend  ist.  —  Im  ganzen  ge- 
nommen war  bei  der  beobachtung  dieses  französischen  Unterrichts 
(im  vergleich  zu  dem  lateinischen)  weit  mehr  ein  andauerndes 


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26  Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts. 

spontanes  interesse  zu  bemerken,  und  die  leistungen  waren 
gleichmäsziger  fortgeschritten. 

Der  schlusz  aus  alle  dem  ist,  dasz  ich  jetzt  dem  satze 
Ostendorfs:  «der  fremdsprachliche  Unterricht  ist  mit 
dem  französischen  zu  beginnen»,  entschieden  zustimme: 
dasz  das  früher  nicht  geschehen  ist,  hinderten  nicht  nur  die  oben 
angeführten  gründe,  sondern  namentlich  auch  der  umstand,  dasz  da- 
mals der  streit  vorflochten  war  mit  dem  heftig  tobenden  kämpfe  der 
realschule  gegen  das  gymnasium  und  mit  all  den  äuszerliehen  ten- 
denzen  dieser  rivalität.  betrachtet  man  dagegen  die  sache  nach  den 
neuesten  ruhigeren  darlegungen,  so  merkt  man,  dasz  die  frage  jetzt 
eine  rein  pädagogische  geworden  ist.  möchten  die  neusprachler 
dieselbe  nur  immer  streng  von  diesem  Standpunkte  aus  betreiben ; 
es  stehen  ihnen  in  dieser  beziehung  so  gute,  sachlich 
wahre  gründe  zur  seite,  dasz  sie  ohne  zweifei  ihr  ziel 
erreichen  werden,  wahrscheinlich  bald.' 

Schon  in  dem  programm  von  1871  hat  Lattmann  den  beginn 
des  latein  in  quinta  empfohlen,  um  bei  den  knaben  das  verlangen 
nach  realien  zu  befriedigen  und  weil  er  das  lange  hinziehen  des 
lateinischen  elementarunterrichts  durch  drei  classen  für  ein  groszes 
pädagogisches  übel  hielt.  rman  denke  sich',  sagte  er  schon  da- 
mals, rdie  kenntnisse  des  lateinischen,  welche  ein  guter  sextaner  ge- 
wonnen hat,  in  dem  köpfe  eines  1 1—12 jährigen  knaben;  würde  der 
nicht  sehr  wohl  den  Cornelius  Nepos  lesen  können  ?  denn  mit  den 
notwendigen  syntaktischen  regeln  wird  man  ihn  neben  der  lectüre 
ausreichend  bekannt  machen  können.'  —  Wegen  der  herabsetzung 
der  lateinischen  stunden  beruft  er  sich  auf  den  lehrplan  von  1816, 
der  in  VI  und  V  nur  6,  in  allen  übrigen  classen  8  stunden  ansetzte, 
wenn  man  damit  habe  auskommen  können  zu  einer  zeit,  wo  der  ge- 
brauch der  lateinischen  spräche  von  allen  studierenden  gefordert 
wurde,  so  werde  man  es  auch  wohl  jetzt  können,  zumal  nach  ab- 
schaffung  des  latein.  aufsatzes.  er  räumt  auch  cm ,  dasz  das  latein, 
an  und  für  sich  genommen,  wohl  auch  auf  dem  gymnasium  erst  in 
quarta  begonnen  werden  könne,  doch  die  rücksicht  auf  das  in  tertia 
beginnende  griechische  bestimme  ihn  für  den  anfang  in  quinta. 

Die  zuletzt  (1889)  veröffentlichte  schrift  Lattmanns  ist  eine 
ergänzung  der  besprochenen  programm abhandlung.  in  der  dar- 
gebotenen form  eines  lehrbuchs  soll  gezeigt  werden,  dasz  sich  das 
pensum  der  beiden  unteren  classen  in  dem  einen  jähre  der  quinta 
wirklich  bewältigen  lasse,  auch  erschien  es  notwendig,  einige  er- 
läuterungen  und  begründungen  jenes  Vorschlags  und  eine  genauere 
Schilderung  des  neuen  methodischen  Verfahrens  diesem  lehrbuche 
voraufzuschicken,  der  in  dem  programm  gegen  das  herkömmliche 
verfahren  erhobene  Vorwurf,  dasz  es  eine 'gros ze  Zeitvergeu- 
dung' in  sich  schliesze,  wird  näher  nachgewiesen  durch  einen  über- 
blick des  üblichen  lehrgangs  nach  den  beiden  verbreitetsten  lehr- 
büchern  von  Spiess  und  Ostermann. 


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Zum  spateren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts. 


27 


Es  möge  hier  die  Zusammenstellung  aus  Ostermann  folgen : 


sexta. 

einzelsätze  latein  und  deutsch. 

MÜS 

erste  u.  zweite  declination .  1—7 
adjectiva  us,  a,  um.  .  .  .  7—9 
dritte  declination.  adjectiva  10 — 24 
vierte  u   fünfte  declination  24 — 28 

comparation  29—32 

esse  und  composita  ....  33—37 

Zahlwörter  48—50 

pronomina  51 — 56 


erste  conjagation   38—47 

zweite  conjugation  ....  57 — 66 
dritte   conjugation  regelm. 

nnd  unregelm   67 — 79 

vierte  conjagation   80 — 88 

deponentia   89 — 98 

.  .99-112 


quinta. 

einzelsätze,  kleine  zusammenhän- 
gende stücke  beigegeben. 

erste  u.  zweite  declination  . 


seit» 


fabeln,  erzählungen  . 
quinta. 


dritte  declination  5 — 9 

vierte  u.  fünfte  declination  10 — 12 

comparation   12—14 

numeralia   15 — 16 

pronomina   17 — 18 

adverbia,  präpositionen,  con- 
junctionen. 

erste  conjugation   29 — 32 

zweite  conjugation   ....  33 — 37 

dritte  conjugation  


verb.  mit  dopp.  nom. 

-  acc. 
acc.  ranm  und  zeit. 
Städtenamen. 

dat.  bei  esse. 

gen.  subj.  obj. 

-  part. 


(besondere  Übungen 
zum  ablativ  fehlen.) 


acc.  c.  inf. 
participia. 
abl.  abs. 


vierte  conjugation    ....  52 — 56 

verba  anomala  67 — 68 

gemischtes  und  zusammen- 
hängendes. 

quarta.  tertia. 

regeln  mit  latein.  musterbeispielen,  sonst  nur 
deutsche  einzelsätze  u.  zusammenhängende  stücke 


übereinst,  subj.  präd. 
apposition. 
übereinst,  des  pron. 
nominativ  doppelter, 
accusativ 
räum,  zeit,  alt. 
Städtenamen, 
dat.  esse  c.  dat. 
medeor,  esse  gereichen  zu. 
gen.  subj.  obj.  qual. 
part. 

begierig,  erinn.,  schätz., 
beschuld.,  esse  c.  gen. 

abl.  instar,  auct., 

bei  verben,  qual.  modi, 
tempor.,  bei  comparat. 


conj.  abhängig  von  conj. 
ut,  ne,  quo,  quin  usw. 


conj.  in  relativsätzen. 


acc.  c.  inf. 
participia. 
abl.  abs. 
gerund, 
supinum. 


übereinst,  d.  Satzteile. 


nominativ  doppelter, 
accusativ 


dativ. 


genitiv. 


tempora  indicativ. 
conj.  in  unabhängigen 

Sätzen, 
conj.     abhängig  von 

conj.    ut,    ne  usw. 

dazu    quasi,  dum- 

modo,  nedum. 
conj.  in  relativsätzen. 
conj.  in  abh.  fragen, 
imper.  infin.  ut  u.  quod. 
oratio  obliqua. 
participia. 

gerund.  u.  gerundiv. 
supinum. 


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28 


Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  unterrichte. 


Danach  werden  ateo  formenlehre  und  syntax  je  zweimal  hinter 
einander  das  jahrespensum  der  sexta  in  dem  ersten  halb  jähr  der 
quinta,  das  jahrespensum  der  quarta  im  laufe  der  zwei  jähre  der 
tertia  je  wiederum  in  der  nemlichen  reihenfolge  durch- 
gearbeitet; für  die  syntax  bietet  auszerdem  das  zweite  halbjahr  der 
quinta  einen  dritten  an  dieselbe  reihenfolge  sich  anschlieszenden 
auszugsweisen  lebrgang.  die  wiederholungsstufen  umfassen  aller- 
dings auch  erweiterungen ,  aber  doch  innerhalb  der  durchgehenden 
Wiederholung  des  nemlichen  Stoffes.  f  ein  solcher  ganz  äuszerlich  den 
Paragraphen  der  grammatik  wiederholt  nachgehender  gang  kann 
nicht  —  meint  Lattmann  —  als  eine  methodische  anläge  des  lehr- 
plans  gelten.'  die  Verfasser  derartiger  lehrbücher  pflegen  das  auf- 
steigen vom  leichteren  zum  schwereren  als  ihre  'methode'  zu  be- 
zeichnen, was  dadurch  erzielt  werde,  dasz  in  den  Übungssätzen 
anwendungen  des  früher  gelernten  fortwährend  so  häufig  als  mög- 
lich angebracht  werden,  aber  abgesehen  von  der  lästigen  Übertrei- 
bung dieses  princips  kommen  wunderbare  Verwicklungen  heraus,  wie 
8.  5  ff.  ausführlich  gezeigt  wird. 

Weiter  spricht  L.  die  hoffnung  aus,  dasz  durch  einen  späteren 
beginn  des  lateinischen  in  Verbindung  mit  einer  wirklich  metho- 
dischen gestaltung  de9  Unterrichts  eine  beschleunigung  und 
Zeitersparnis  erzielt  werden  könne,  dieser  grundsatz  ist  seit 
1882  schon  anerkannt,  indem  man  sich  damit  tröstet,  dasz,  'was  an 
zeit  genommen  ist,  durch  methode  ersetzt  werden  musz'.  'aber  was 
ist  denn  —  fragt  er  —  seit  dieser  zeit  als  besserung  der  methode 
zum  Vorschein  gekommen?'  doch  nur  das  bestreben,  den  'unnötigen 
ballast  aus  den  grammatiken  über  bord  zu  werfen.'  das  ist  aber 
kein  methodisches  princip,  sondern  zielt  auf  eine  Verminderung  des 
lebrstoffes  ab.  gleichwohl  ist  eine  Vereinfachung  des  lernstoffes  im 
elementarunterricht  dankbarst  anzunehmen,  'es  musz  aber  auf- 
fallen, dasz  trotzdem  noch  niemand  ausgesprochen  hat, 
dasz  dem  zufolge  gerade  in  den  unteren  classen  eine 
zeiteinschränkung  zulässig  sei.'  —  'eine  Verkürzung  des 
lateinischen  unterrichte,  welche  den  so  dringenden  und  begründeten 
forderangen  der  modernen  bildung  einen  erheblichen  räum  abtreten 
kann,  wird  also  nur  dadurch  möglich  werden,  dasz  man  das  bis- 
herige methodenlose  verfahren  in  ein  methodisches  umzu- 
wandeln sucht.' 

Ich  füge  hinzu,  dasz  eine  solche  Verkürzung  keine  beeinträch- 
tigung  ist,  weil  sie  diesen  Unterricht  in  dem  richtigen  alter  beginnen 
läszt,  nachdem  die  knaben  durch  einen  ausgibigeren  Unterricht  in 
der  muttersprache  und  durch  die  vorangehende  moderne  fremd- 
sprache  zu  dem  latein  'zubereitet'  worden  (wie  Herder  sagte), 
dasz  die  lehrer  dann  gezwungen  wären,  ihren  lehrgang  planmäsziger, 
methodischer  zu  gestalten,  grammatischen  'ballast'  über  bord  zu 
werfen;  und  ich  behaupte  mit  hinweis  auf  jene  Zusammenstellung 
aus  Ostermann,  dasz  nicht  nur  das  pensum  der  sexta  und  quinta 


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Zum  späteren  beginn  dea  lateinischen  Unterrichts. 


29 


einerseits,  sondern  auch  das  syntaktische  der  quarta  und  Untertertia 
anderseits  in  je  einem  jähre  sehr  gut  bewältigt  werden ,  dasz  also 
volle  zwei  jähre  ohne  Schwierigkeit,  ja  zum  vorteil  des  lateinischen 
Unterrichts  selbst  gespart  werden  können,  gerade  mit  dem  allzu 
langen  hinschleppen  des  lateinischen  Unterrichts  stehen  die  verhältnis- 
mäszig  geringen  leistungen  im  engsten  Zusammenhang,  es  ist  eine 
bekannte  psychologische  thatsache,  dasz  eine  intensivere  arbeit  in 
kürzerer  zeit  innerhalb  eines  gewissen  maszes  mehr  erreicht  als  wenn 
dieselbe  kraft  allzu  lange  und  über  dieses  masz  hinaus  angespannt 
wird.  —  Mehr  als  sechs  stunden  am  tage  dürfen  unsere  Soldaten 
nicht  exercieren,  weil  sonst  ihre  kräfte  mehr  geschwächt  als  gestärkt 
werden.  — 

Es  würde  mich  zu  weit  von  meinem  vorhaben  abführen ,  wenn 
ich  die  nun  folgenden  trefflichen  methodischen  ausführungen  Latt- 
manns behandeln  wollte,  sie  reihen  sich  würdig  an  seine  bekannten 
methodischen  Schriften  von  1866,  1871,  1882,  1885  an  und  gehören 
wie  diese  zu  dem  eisernen  bestand  der  Schriften,  mit  denen  jeder 
junge  philologische  lehrer  sich  bekannt  machen  musz.  erwähnen 
will  ich  nur  noch,  dasz  er  s.  10  bei  erörterung  der  fapperception' 
hervorhebt,  dasz  für  die  erlernung  der  lateinischen  vocabeln  eine 
voraufgehende  neuere  spräche  eine  reiche  ausbeute  geben  werde. 

In  einem  'nachtrug'  erklärt  Lattmann:  er  wolle  die  frage  offen 
halten,  ob  nicht  das  englische  als  erste  fremdsprache  wenigstens  für 
das  nördliche  Deutschland  zweckmäsziger  sei.  er  meint,  die  englische 
litteratur  sei  für  die  pädagogischen  zwecke  deutscher  schulen  ge- 
eigneter, auch  habe  Vieweger  nachgewiesen,  dasz  die  Schwierigkeit 
des  zu  .früh  begonnenen  und  an  erste  stelle  gesetzten  lateinischen . 
Unterrichts  daraus  entspringe,  dasz  der  schüler  mit  einer  überreichen 
complicierten  formenbildung  überschüttet  werde,  ehe  er  noch  die 
begriffliche  grundlage  allen  Sprachunterrichts,  die  bedeutung  der 
kategorien  genügend  aufgenommen  habe,  dasz  dagegen  das  englische 
gerade  wegen  seiner  auszerordentlichen  formeneinfachheit  vor  allen 
andern  sprachen  geeignet  sei,  diese  begrifflichen  grundlagen  als 
solche  zur  klaren  anschauung  zu  bringen,  die  lexikalische  Verwandt- 
schaft des  englischen  mit  dem  deutschen  und  seine  einfache  formen- 
lehre  ermögliche  weit  früher  und  in  umfangreicherem  masze  eine 
zusammenhängende  lectüre.  —  In  meinem  aufsatze :  'werden  die 
grammatischen  grundbegriff e  besser  an  der  lateini- 
schen oder  an  der  französischen  spräche  erkannt?'  (neue 
jabrbücher  1889)  habe  ich  mit  bezug  auf  Vi e  wegers  bekannte  schrift 
zn  zeigen  versucht,  dasz  das  französische  zwar  nicht  so  gut  als  das 
englische  geeignet  ist,  die  grammatischen  kategorien  erkennen  zu 
lehren,  jedoch  weit  mehr  als  das  lateinische  mit  seinen  'volleren, 
plastischen*  formen,  für  die  priori tät  des  französischen  fällt 
schwer  in  die  wagschale,  dasz  es  diejenige  fremdsprache  ist,  welche 
allen  höheren  schulen  gemeinsam  ist,  dasz  es  also  den  grün d stock 
bildet  für  einen  gemeinsamen  unterbau  des  gesamten  höheren  schul- 


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30 


Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts. 


wesens ,  welcher  sicher  gelegt  werden  wird ,  weil  er  gelegt  werden 
musz. 

Das  französische  bat  sich  als  erste  fremdsprache  zur  vollen  Zu- 
friedenheit der  aufsichtsbehörden  bewährt  vor  allen  schon  seit  zehn 
jähren  in  Altona,  dann  in  Güstrow  und  Magdeburg,  das  englische 
in  Geestemünde. 

Zum  schlusz  versichert  Lattmann ,  er  veröffentliche  seine  Vor- 
schläge ohne  das  drückende  gefühl,  nur  notgedrungene  concessionen 
machen  zu  müssen ,  vielmehr  im  bewustsein ,  als  altphilologe  durch 
pädagogische  gründe  geleitet  zu  sein,  welche  zunächst  auf  eine 
innere  belebung  des  altsprachlichen  Unterrichts  und  eine  zeitgemäsze 
werterhöhung  desselben  abzielen. 

Der  treffliche  philologe  war  stets  in  erster  linie  pädagoge,  als 
leiter  eines  gymnasiums  einer  kleinen  stadt,  in  welcher  auszer 
diesem  keine  höhere  schule  vorhanden  ist,  hat  er  die  not,  das 
elend  des  lateinzwanges  von  sexta  an  zu  erkennen  reichliche  ge- 
legenheit  gehabt,  der  begeisterte  humanist  hat  sich  aus  eigner  Er- 
fahrung zu  der  Überzeugung  durchgerungen ,  dasz  auch  auf  dem  ge- 
biete des  staatlich  geleiteten  höheren  Schulwesens  nur  auf  dem  wege 
des  compromieses  befriedigende  zustände  zu  erreichen  sind. 


Von  den  mir  bekannten  viernndzwanzig  besprechungen  meiner 
erwähnten  schrift  ist  die  von  0.  Weissenfeis  (Zeitschrift  f.  gymnasial  - 
wesen  1888  s.  693—614)  die  ausführlichste  und  gründlichste,  ob- 
gleich sie  freilich  die  darin  enthaltenen  didaktischen  erörterungen 
und  die  von  den  grundsätzen  der  psychologie  hergeleiteten  metho- 
dischen principien  wenig  berührt,  ich  bin  dem  herrn  collegen  sehr 
dankbar  für  die  wohlwollende,  sachgemäsze,  objective  art  der  be- 
handlung  des  gegenständes,  welche  trotz  seiner  grundsätzlich  ab- 
lehnenden Stellung  zu  der  frage  einen  weiteren  meinungsaustausch 
wohl  ermöglicht  hätte,  eine  erwiderung  auf  einige  punkte  der 
kritik  in  derselben  Zeitschrift  wurde  mir  jedoch  durch  die  scbrift- 
leitung  unmöglich  gemacht  mit  der  er  klarung,  dasz  für  sie  die 
erörterung  des  gegenständes  abgeschlossen  sei.  daher  gestatte  ich 
mir,  an  diesem  orte  jene  absieht  auszuführen,  nicht  etwa  aus  irgend 
welchen  persönlichen  gründen ,  sondern  rein  um  der  hochwichtigen 
frage  willen,  welche,  wie  der  verstorbene  Bonitz  mir  in  seinem 
letzten  lebensjahre  schrieb,  'nicht  wieder  von  der  tagesord- 
nung  der  pädagogischen  erörterungen  verschwinden 
darf.  —  Weissenfeis  sagt: 

1)  Das  latein  stehe  in  einer  glücklichen  mitte  zwischen  der 
verwirrenden  Überfülle  der  älteren  sprachen  mit  ihren  zahlreichen 
endungen  zur  bezeichnung  von  allerlei  nebensächlichem  und  der 
formenarmut  der  modernen  sprachen,  die  einen  ausgedehnten  ge- 
brauch des  artikels,  der  fürwörter  und  eine  streng  logische  Wort- 
stellung brauchen,  um  sich  verständlich  zu  machen,  im  ganzen  seien 


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Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts.  31 

es  nur  wesentliche  unterschiede,  die  durch  den  formenreichtum  des 
lateinischen  ausgedrückt  werden. 

Von  einer  verwirrenden  überfülle  und  zahlreichen  endungen 
zur  bezeichnung  von  allerlei  nebensächlichem  hat  das  latein  nach 
meiner  meinung  sich  nicht  frei  gemacht,  schon  wiederholt  habe  ich 
darauf  hingewiesen,  dasz  es  häufig  für  eine  deutsche  form  verschie- 
dene formen  bietet,  von  denen  manche  recht  gut  au3  der  grammatik 
weggenommen  werden  könnten  ohne  einbusze  an  klarheit.  die 
geistige  besitznahme  der  denkformen  einer  einzigen  declination 
würde  z.  b.  für  die  unterste  stufe  genügen,  das  latein  mutet  da- 
gegen den  sextanern  die  erlernung  von  fünf  declinationen  zu.  für 
den  anfang  kommt  es  darauf  an  ,  dasz  der  scbtiler  erkenne ,  welche 
mittel  die  fremde  spräche  zum  ausdruck  der  verschiedenen  gramma- 
tischen beziehungen  anwendet;  die  menge  der  formen  kann  nur  ver- 
wirren, sie  verhindert  das  scharfe  erfassen  der  begrifflichen  grund- 
lage,  dessen  der  grammatische  Unterricht  bedarf,  erschwerend 
wirkt  auch  die  mehrdeutigkeit  der  lateinischen  endungen :  ein  Sub- 
stantiv auf  us  kann  sein  nom.  sing,  der  zweiten,  nom.  und  acc.  sing, 
der  neutra  der  dritten,  nom.  und  gen.  sing,  und  nom.  und  acc.  plur. 
der  vierten  declination.  ähnlich  verhält  es  sich  mit  den  endungen 
a,  e,  i,  o,  um,  em,  deren  keine  nur  auf  eine  form  anwendbar  ist.  fast 
alle  lateinischen  endungen  passen  auf  verschiedene  casus,  numeri 
und  declinationen.  sehr  richtig  hat  Vieweger  gesagt,  der  grund- 
irrtum ,  dasz  die  lateinischen  endungen  besonders  'plastisch'  seien 
und  dasz  deshalb  nur  das  latein  die  begriffliche  grundlage  bilden 
könne,  beruhe  auf  der  Verwechslung  von  logischen  und  gramma- 
tischen beziehungen  (näheres  s.  in  meinem  aufsatz:  'werden  die 
grammatischen  grundbegriffe  besser  an  der  lateinischen  oder  an  der 
französischen  spräche  erkannt?').  —  Wenn  der  weg  vom  leichteren 
zum  schwereren  der  weg  aller  erkenntnis  ist,  so  musz  auch  die  erste 
fremde  spräche  von  den  für  den  zweck  der  erkenntnis  nutzlosen 
Schwierigkeiten  möglichst  frei  sein,  zu  diesen  Schwierigkeiten 
rechnet  auch  Maurer1  die  flexionsformen ,  soweit  sie  nicht  in  be- 
grifflicher Unterscheidung,  Bondern  nur  in  dem  zufall  der  Stammes  - 
verschiedenheit  ihren  mehrheitsgrund  haben,  dadurch  dasz  das 
französische  die  Casusbeziehungen  präpositional ,  also  auf  die  denk- 
bar einfachste  weise  ausdrückt,  bat  es  einen  groszen  vorzug  vor  dem 
lateinischen,  das  mit  seinen  verschiedenartigen  declinationen  einen 
aufwand  an  zeit  und  kraft  erfordert,  welche  damit  dem  eigentlichen 
zweck  entzogen  werden,  derselbe  Maurer  weist  in  ähnlicher  weise 
wie  ich  die  ansieht  zurück,  dasz  die  'volleren'  formen  des  lateini- 
schen ganz  besonders  geeignet  seien ,  das  Verständnis  der  gramma- 
tischen beziehungsbegriffe  zu  vermitteln,  er  sagt  darüber  a.o.  s.  17  : 


1  in  seiner  inhaltschweren  schritt:  'die  lateinfrage  oder  in  welcher 
richtnng  musz  die  reform  des  gymnaaiums  sich  bewegen?'  beilage  zum 
Programm  der  St.  Gallischen  kantonsschule  1889. 


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32 


Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts. 


'aber  wo  sind  denn  diese  vollen  formen,  welche  deutlicher  sprechen 
sollen  als  die  anderen?  sagt  denn  die  endung  -is  von  patris  mehr 
als  das  -s  des  deutschen  genitivs  vaters  oder  als  die  präposition  in 
du  pere?  um  den  beziehungswert  in  domus  patris  zu  verstehen,  gibt 
es  schlechterdings  kein  anderes  mittel  als  das,  welches  auch  beim 
entsprechenden  deutschen  oder  irgend  einem  fremdsprachlichen  aus- 
drucke zum  ziele  führt:  eine  reflexion  über  das  sachliche  Verhältnis 
von  haus  und  vater,  eine  reflexion,  welche  lehrt,  dasz  das  eine  besitz 
des  andern  sei,  welche  also  auf  den  begriff  des  besitzverhältnisses, 
eine  species  des  angehörigkeitsverhältnisses  führt,  oder  läszt  sich 
etwa  aus  veniat  der  conjunctivbegriff  leichter  gewinnen  als  aus 
'komme*  oder  vienne?  nur  eine  reflexion  über  die  Situation,  d.  h. 
hier  über  das  Verhältnis  des  sprechenden  (sofern  die  aussage  eine 
selbständige  ist)  zu  dem  satzsubjecte  lehrt,  was  der  conjunctiv  meine 
i'wille,  erlaubnis,  wünsch),  musz  man  wirklich  bei  den  alten  an- 
klopfen, um  zu  ersehen,  was  das  perfect  bedeute,  als  ob  «ich  habe 
gethan»  oder  j'ai  fait  nicht  sogar  eine  deutlichere  spräche  redete  als 
feci?  man  sollte  glauben,  dasz  die  formen  der  alten  spräche  die 
begriffe  nur  ablesen  lieszen,  und  doch  ist  augenscheinlich,  wie  wenig 
dies  der  fall  ist:  von  den  beziehungscomponenten  aus- 
gehende besinnung  über  das  sachliche  Verhältnis  ist 
dort  der  erkenntnisweg  wie  anderswo,  vermutlich  denkt 
man  bei  einer  behauptung,  wie  die  oben  angeführte  ist,  an  die  per- 
sonalendungen  des  verbums,  aber  wenn  es  gilt,  das  finite  verbum 
als  ein  compositum  aus  verbalstamm  und  Personalpronomen  zu  ver- 
stehen, so  wird,  wenn  doch  einmal  eine  fremde  spräche  zu  dieser 
erkenntnis  verhelfen  soll,  das  französische  nicht  schlechtere  dienste 
leisten  als  das  lateinische.'  .  .  .  'man  identificiert  mit  ver- 
hängnisvollem irrtum  das  begriffliche  Verständnis  der 
sprachformen  mit  der  erkenntnis  der  ursprünglichen 
wort  formen,  bzw.  mit  dem  wissen  von  den  lautlichen  Wand- 
lungen derselben,  aber  die  geschichte  der  grammatischen  formen 
kommt  in  der  regel  nicht  über  blosze  laute  hinaus;  es  bleibt  nicht 
nur  die  auch  in  den  modernen  ausläufern  noch  gegebene  möglich- 
keit  verschiedene  bestandteile  zu  unterscheiden,  ohne  dasz  die  bil- 
dungssilbe  mit  Sicherheit  sich  identificieren  liesze  mit  einer  be- 
grifflichbestimmten lautgruppe,  von  der  das  licht  der  erkennt- 
nis auf  jene,  bzw.  die  damit  gebildete  form  zurückfiele,  und  was  auf 
diesem  wege  sich  etwa  als  ursprüngliche  begriffsau ffassung  gewinnen 
läszt,  ist  wiederum  weit  davon  entfernt,  die  bedeutung  der  ausgebil- 
deten spräche  zu  bieten,  der  sanskritische  genitivausgang  -asya  ist 
so  stumm  wie  das  -i  des  lateinischen;  seine  kenntnis  vermittelt  wohl 
die  verschiedenen  genitivbildungen  der  griechischen  o-stämme,  ist 
aber  für  die  erkenntnis  des  genitivbegriffs  schlechthin  wertlos.'  * 


*  sehr  richtig  bezeichnet  Maurer  die  ansieht,  man  müsse  die  alten 
sprachen  schou  darum  studieren,  weil  man  mit  ihrer  bilfe  die  fremd- 


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Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts 


33 


2)  In  den  alten  sprachen  überwiege,  raeint  Weissenfeis,  im 
allgemeinen  die  tendenz  zum  concreten  ausdruck,  während  in  den 
modernen  der  bang  zum  abstracten  lebe. 

Aber  jenes  concreto  des  ausdrucks  ist  fUr  schüler  doch  ein  ab- 
stractea,  weil  in  der  modernen  Umgebung  die  anschaulichen  gegen- 
bilder  davon  fehlen,  wie  Weissenfeis  selbst  andeutet,  viel  mehr  ent- 
scheidend ist  doch  die  Verteilung  der  in  der  spräche  zum  ausdruck 
gebrachten  begriffe  Überhaupt,  die  starke  ab  weichung  der  begriff- 
lieben Ordnung  des  lateinischen  von  der  des  deutschen,  die  von  den 
zu  lernenden  worten  vertretenen  begriffe  müssen  dem  knaben  ge- 
läufig sein,  also  womöglich  keine  abstracta  sein,  vielmehr  benennun- 
gen  der  ihn  umgebenden  sinnlichen  gegenstände,  da  dies  jedoch  bei 
dem  groszen  unterschied  der  antiken  und  modernen  realien  sich  von 
selbst  verbietet,  so  musz  der  lateinische  Unterricht  sich  mit  vocabeln 
und  sätzen  alsbald  auf  das  gebiet  der  abstraction  begeben,  und  hier 
beginnt  bei  den  starken  und  häufigen  ab  weich  ungen  der  begrifflichen 
Ordnung  des  lateinischen  von  der  des  deutschen  für  den  sextaner  eine 
arbeit,  die  viel  intensiver  ist  als  die  mit  den  syntaktischen  regeln, 
bei  keinem  lateinischen  worte  ist  er  sicher,  dasz  sich  nicht  in  dem 
Zusammenhang,  in  welchem  es  sich  gerade  befindet,  hinter  ihm  eine 
Vorstellung  verbirgt,  deren  Vertreter  erst  durch  eine  mühevolle  arbeit 
gefunden  werden  kann.3  gewis  ist  dieses  suchen  nach  der  richtigen 
vocabel  die  beste  geistige  gymnastik,  welche  der  lateinische  Unter- 
richt bietet,  eine  bessere  als  die  beschäftigung  mit  den  syntaktischen 
regeln,  aber  eine  solche  Verfolgung  der  differenzier ung  der  begriffe, 
wie  sie  der  lateinische  Unterricht  von  anfang  an  verfolgt,  sollte  man 
dem  jugendlichen  geiste  nur  dann  auferlegen ,  wenn  er  durch  einen 
ausgibigeren  gebrauch  der  muttersprache  und  durch  die  Vermittlung 
einer  modernen  fremdsprache  auf  dem  gebiete  des  abstracten  einiger- 
raaszen  heimisch  geworden  ist. 

Das  f  concreto'  für  die  erkenntnis  der  sprachlichen  formen  ist 
der  satz,  das  inhaltliche  Verständnis  des  satzes.  je  klarer  sein  inhalt, 
desto  besser  werden  die  grammatischen  beziehungen  erkannt,  der 
knabe  denkt,  wie  der  erwachsene,  in  der  muttersprache,  und  kann 
nur  in  ihr  denken,  will  man  nun  durch  die  fremde  spräche  den  be- 
griffst eh  atz  der  muttersprache  bewust  machen,  so  ist  diejenige 
spräche  geeignet,  die  zur  Vertiefung  und  er  Weiterung  der  erkennt- 


wörter  besser  verstehe,  als  eine  durchaus  irrtümliche,  ein  wort  ver- 
stehen heiszt  seinen  begriff  kennen,  was  sachliches  wissen  voraussetzt, 
die  etymologie  eines  Wortes  hilft  nicht  zu  dem  verstehen  eines  begriffes, 
sie  führt  sogar  häufig  irre,  auch  erfordert  ihre  erkenntnis  doppelte  arbeit, 
weil  der  etymologische  sinn  nnd  der  moderne  begriff  sich  nicht  decken, 
kein  wortwissen  kann  die  kenntnis  der  den  begriff  bildenden  sache  er- 
setzen, weshalb  leute  ohne  kenntnis  der  alten  sprachen  sehr  oft  mit 
den  fremdwürtern  in  einem  vertrauteren  Verhältnis  stehen  als  diejenigen, 
welche  sich  classischer  bildung  rühmen. 

•  man  vergleiche  die  trefflichen  ausführuugen  von  Lichtenheld  in 
seinem  bekannten  werke. 

N.  jührb.  f.  phil.  u.  pid.  IL  abU  1891  hfl.  I.  3 


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34 


Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  unterrichte. 


nis  beiträgt  und  das  lautliche  abbild  von  zuständen  ist ,  welche  den 
eignen  zwar  nicht  ganz  gleich  sind,  aber  das  wesen  der  vorgeschrit- 
teneren zeit  ausdrücken;  weniger  ist  geeignet  die  spräche,  welche 
der  ausdruck  eines  ärmeren  und  einseitigeren  lebens  ist.  der  schüler 
musz  in  dem  alter,  in  dem  er  die  fremde  spräche  beginnt,  seiner 
eignen  zeit  sich  bewust  werden,  was  durch  bekanntschaft  mit  der 
stofflichen  seite  der  ersten  fremdsprache  geschieht,  erkennt  er  die 
begriffiBspaltungen  des  französischen,  so  blickt  er  in  seine  Umgebung, 
in  seine  zeit ,  was  bei  dem  beginn  des  lateinischen  Unterrichts  nicht 
möglich  ist.  —  Die  gröszere  manigfaltigkeit  der  Wortbedeutungen 
der  alten  sprachen  und  die  gröszere  Sinnlichkeit  ihrer  auffassungs- 
weise verlangen  gröszere  reife  des  geistes.  ist  die  in  der  fremden 
spräche  niedergelegte  begriffliche  Ordnung  eine  vollständig  ver- 
schieden geartete,  materiell  abweichende  und  unvollkommenere,  so 
ist  eine  Übersetzung  überhaupt  nur  teilweise  möglich,  in  der  latei- 
nischen spräche  ,  welche  eine  stofflich  anders  geartete  und  ärmere 
begriffsbildung  aufweist,  können  viele  unserer  modernen  begriffe 
nicht  ausgedrückt  werden. 4 

Also:  die  erste  fremdsprache  musz  —  für  den  sextaner 
—  der  muttersprach e  gleichartig  und  an  reichtum  der 
begriffsspaltungen  mindestens  gewachsen  sein. 

Dies  dürfte  sich  noch  deutlicher  ergeben  durch  eine  betrach- 
tung  der  arbeit  des  Übersetzens :  bei  dem  hinübersetzen  findet  statt 
eine  Übertragung  der  begriffe  der  muttersprache.  diese  Übertragung 
ist  eine  be wustmachung,  eine  aneignung  von  wissen  in  der 
muttersprache.  bei  dem  hertibersetzen  findet  statt  eine  einkleidung 
der  schwierigeren  fremdsprachlichen  begriffe  in  das  gewand  der 
muttersprache.  diese  arbeit  erfordert  den  besitz  des  Wissens, 
weil  sie  zu  seiner  anwendung  zwingt,  die  aneignung  des  Wissens 
geht  aber  auch  hier,  wie  überall,  seiner  anwendung  voraus,  die  erste 
arbeit  geschieht  im  bereiche  des  muttersprachlichen  denkens,  die 
zweite  fordert  ein  denken  in  der  fremden  spräche,  sie  verlangt,  dasz 
aus  der  fremden  spräche  heraus  in  der  muttersprache  gestaltet  werde, 
die  zweite  arbeit  erfordert  also  eine  gröszere  geistige  reife,  daraus 
folgt,  dasz  die  erste  fremdsprache  eine  solche  sein  musz, 
deren  wortbegriffe  gröszere  bestimmtheit  aufweisen, 
um  die  aneignung  des  begrifflichen  wissens  zu  ermög- 
lichen ..  .  sie  musz  daher  eine  moderne  fremdsprache  sein,  an 
ihr  erringt  der  schüler  klarheit  der  begriffe  und  —  da  sein  denken 
in  der  muttersprache  sich  vollzieht  —  Sicherheit  in  der  anwen- 
dung der  muttersprache.  dann  erst  ist  der  geist  erstarkt  für 
das  latein,  welches  anwendung  des  bewust  gemachten 
wissens  verlangt,  wir  beginnen  das  latein  früher  als  jene  be- 
wustmachung,  jene  aneignung  des  wissens,  das  heimischwerden  auf 


4  man  vergleiche  auch  hierüber  die  vortrefflichen  erörterungen 
Maurers  a.  o. 


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Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  unterrichte.  35 

dem  gebiete  des  abstracten  erfolgen  kann,  und  darum  tritt  das  latein 
zu  unvermittelt  an  die  schOler  heran.  —  Es  ist  ganz  natürlich,  dasz 
darunter  die  Sicherheit  im  gebrauch  der  muttersprache  leidet,  da  ja 
das  denken  an  sich  und  der  ausdruck  in  der  muttersprache  in  not- 
wendiger Wechselwirkung  stehen  und  das  um  so  mehr,  je  jünger  der 
mensch  ist. 

Herder  sagt  in  seinem  livländischen  schulplane:  'die  spräche 
(die  französische)  ist  einförmig,  philosophisch  an  sich  schon,  ver- 
nünftig: ungleich  leichter  als  die  deutsche  und  lateinische,  also 
schon  sehr  bearbeitet,  zudem  hats  auch  den  Vorzug,  wenn  man  an 
ihr  philosophische  grammatik  recht  anfangt,  dasz  ihr  genie  zwi- 
schen der  lateinischen  und  unserer  steht:  von  dieser 
wird  also  ausgegangen  und  zu  jener  zubereitet.' 

3)  Weissenfeis  meint:  soll  seine  (des  werdenden  menschen)  bil- 
dung  tiefere  wurzeln  treiben,  so  ist  es  wichtig,  dasz  frühzeitig,  ehe 
noch  ein  zweites  modernes  sich  an  seine  moderne  seele  drängt,  die 
keime  einer  fremden  cultur  in  ihm  gepflegt  werden  ...  es  musz 
eine  verjüngende  kraft  in  die  höher  strebende  seele  gepflanzt  wer- 
den, ehe  im  angestrengten  verkehr  mit  einer  zweiten  modernen  ge- 
dankenform jene  jugendlichkeit  des  sinnes  eine  neue  Schwächung 
erfahrt  ...  die  seele  des  knaben  ist  dem  latein  verwandt  ...  so 
setzen  wir  der  modernen  ältlichkeit  mit  dem  latein  den  typus  einer 
jugendlichen  geistesform  gegenüber,  den  wir  allerdings  viel  reicher 
und  reiner  im  Homer  entwickelt  sehen. 

Mit  nicbten!   soll  des  werdenden  menschen  bildung  tiefere 
wurzeln  treiben,  so  musz  er  im  kleinen  den  geistigen  entwicklungs- 
gang  durchmachen,  den  die  menschheit  im  groszen  durchgemacht 
hat.  wie  diese  aus  der  naiven  anschauung  heraus  durch  zusammen- 
fassen des  angeschauten  sich  begriffe  gebildet  hat,  so  musz  sich  auch 
das  kind  möglichst  lange  durch  die  anschauung  zum  begriffe  durch- 
arbeiten, wobei  freilich  selbstverständlich  ist,  dasz  infolge  des  von 
den  eitern  ererbten  geistigen  besitzes  der  weg  unendlich  viel  kürzer 
ist.  daher  der  bekannte  grundsatz  Pestalozzis  und  Diesterwegs:  es 
darf  nichts  von  auszen  an  das  kind  gebracht  werden, 
alles  musz  von  innen  heraus  entwickelt  werden  und 
einem  bedürfnis  des  kindes  entsprechen,  wohl  läszt  sich 
bezweifeln,  dasz  dieser  satz  in  seiner  ganzen  unmittelbarkeit  auf  die 
schule  anwendung  finden  kann,  denn  wie  sollte  z.  b.  deutschen  kna- 
ben jemals  das  bedürfnis,  das  sehnen  nach  den  alten  sprachen  kom- 
men? aber  Weissenfeis  scheint  dies  zu  meinen:  er  sagt,  die  seele 
des  knaben  sei  dem  latein  verwandt,  die  neigung  der  knabenseele  zu 
dem  alten  will  er  schleunigst  befriedigen,  ehe  das  böse  moderne  sich 
zum  zweiten  mal  an  die  moderne  seele  des  knaben  herandrängt.  — 
Das  erste  üble  moderne  ist  also  unsere  geliebte  muttersprache. 
(auffallend  ist,  dasz  die  seele,  die  er  als  modern  bezeichnet,  doch 
dem  antiken  verwandt  ist.)  —  Ich  dächte,  ehe  die  seele  sich  zu  dem 
latein  begibt,  seien  erst  moderne  culturkeime  in  noch  viel  vollerem 

3* 


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36 


Zum  spateren  beginn  des  lateinischen  unterrichte 


masze  ihr  einzupflanzen,  damit  sie  zu  dem  latein  'zubereitet' 
werde,  wie  Herder  sagte,  unseren  kleinen  jungen  musz  das  alter- 
tum  vermittelt  werden,  ehe  sie  interesse  für  dasselbe  fassen  können, 
müssen  sie  über  ihre  nächste  Umgebung  wenigstens  im  wesentlichen 
aufgeklärt  sein,  sie  müssen  ihre  engste  heimat  kennen  lernen,  dann 
die  weitere,  dann  das  Vaterland,  endlich  die  Verhältnisse  eines  frem- 
den landes  und  volkes  der  gegenwart.  dann  erst  sind  sie  vorbereitet 
für  die  bekanntschaft  mit  den  alten  Völkern,  zur  Vorbereitung  für 
die  alten  sprachen  musz  das  gefühl  für  die  muttersprache 
geweckt  werden  und  dann  die  Vermittlung  durch  eine  moderne 
spräche  bewirkt  werden.5  so  würde  alles,  was  in  den  geist  der 
schüler  eindringt,  sich  an  verstandenes  anschlieszen  und  somit  würde 
jenem  von  Pestalozzi  aufgestellten  satze  in  etwa9  rechnung  getragen 
werden,  so  würde  auch  die  bildung  des  werdenden  menschen  (der 
kleinen  jungen,  die  noch  nicht  einmal  in  der  muttersprache  einiger- 
maszen  sichern  boden  gewonnen  haben)  tiefere  und  bessere  wurzeln 
treiben. 

Was  nun  die  'jugendliche  geistesform',  die  'verjün- 
gende kraft'  des  latein  anlangt,  so  dachte  Herder,  den  Weissen- 
fels  als  pädagogen  hochschätzt6,  ganz  anders,  in  seinem  noch  viel 
zu  wenig  beachteten  reisejournal  sagt  er :  'man  lobt  das  kunststück, 
eine  grammatik  als  grammatik,  als  logik  und  Charakteristik  des 
menschlichen  geistes  zu  lernen;  schön!  sie  ists,  und  die  lateinische, 
so  sehr  ausgebildete  grammatik  ist  dazu  die  beste,  aber  für  kinder? 
die  frage  wird  stupide!  welcher  quintaner  kann  ein  kunststück  von 
casibus,  declinationen ,  conjugationen  und  syntaxis  philosophisch 
übersehen?  er  sieht  nichts  als  das  tote  gebäude,  das  ihm 
qual  macht,  ohne  materiellen  nutzen  zu  haben,  ohne  eine  spräche 
zu  lernen,  so  quält  er  sich  hinauf  und  hat  nichts  gelernt,  man  sage 
nicht,  die  toten  gedächtniseindrticke,  die  er  hier  von  der  philosophi- 
schen form  einer  spräche  bekommt,  bleiben  in  ihm  und  werden  sich 
zeitig  genug  einmal  entwickeln,  nicht  wahr!  kein  mensch  hat  mehr 
anläge  zur  philosophie  der  spräche  als  ich,  und  was  hat  sich  aus 
meinem  Donat  je  in  mir  entwickelt.'  —  Ebenda  sagt  Herder:  'man 
verliert  seine  jugend ,  wenn  man  die  sinne  nicht  gebraucht,  eine 
von  Sensationen  verlassene  seele  ist  in  der  wüstesten  einöde  und  im 
schmerzlichsten  zustand  der  Vernichtung  .  .  .  man  gewöhnt  die  seele 
des  kindes,  um  nicht  in  diesen  zustand  zu  kommen,  wenn  man  sie 
in  eine  läge  von  abstractionen ,  ohne  lebendige  weit,  von  lernen 
ohne  sachen ,  von  Worten  ohne  gedanken  hineinquält,  für  die  seele 
des  kindes  ist  keine  grössere  qual  als  diese:  denn  begriffe  zu  er- 


5  ich  erlaube  mir  den  hinweis  auf  meinen  aufsatz:  rin  welcher  weise 
würde  die  prioritUt  des  französischen  auf  den  deutschen  elementarunter- 
richt  einwirken'  (neue  jahrbücher  1888>. 

6  er  sagte  einmal  in  der  Zeitschrift  für  gymnasialwesen  sehr  treffend: 
Herder  habe  die  deutsche  natur  aus  den  banden  eines  engherzigen  classi- 
cismus  erlösen  wollen. 


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Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts.  37 

weitem  wird  nie  eine  qual  sein,  aber  was  als  begriffe  einzubilden, 
was  nicht  begriff  ist,  ein  schatten  von  gedanken,  ohne  Sachen;  eine 
lehre  ohne  vorbild,  ein  abstracter  satz,  spräche  ohne  sinn  —  das  ist 
qual,  das  ältert  die  seele.' 

4)  f  Je  flacher  der  sinn  ist  —  sagt  W.  —  um  so  leichter  findet 
er  sich  ohne  stutzen  und  staunen  in  dem  modernen  zurecht,  und  je 
tiefer  er  ist,  um  so  gröszer  ist  sein  dunkles  verlangen,  in  der  ferne 
ein  correctiv  und  eine  ergänzung  des  gegenwärtigen  zu  suchen.' 

Es  bandelt  sich  doch  nicht  um  erwachsene,  sondern  um  unsere 
neunjährigen  knaben.  ihr  interesse  ist  vor  allem  auf  die  sie  um- 
gebende weit  gerichtet,  nach  meinen  beobachtungen  ist  es  der  natur- 
wissenschaftliche Unterricht ,  dem  sie  ein  wirklich  reges  —  sagen 
wir  spontanes  —  interesse  entgegenbringen,  das  latein  ganz  gewis 
nicht,  des  Stutzens  und  Staunens  bietet  ihnen  das  letztere  allerdings 
genug,  aber  nicht  etwa  ein  solches,  bei  welchem  ihr  dunkles  ver- 
langen ,  in  der  ferne  ein  correctiv  und  eine  ergänzung  des  gegen- 
wärtigen zu  suchen ,  befriedigung  fände. 

5)  'Es  läszt  sich  nicht  das  harmloseste  auf  französisch  sagen, 
ohne  dasz  sich  gleich  das  moderne  grau  Uber  den  gedanken  breitet, 
für  den  sextaner  ist  sie  (die  französische  spräche),  auch  wenn  sie  ein- 
faches behandelt,  stets  zu  keck  und  altklug,  selbst  vornehme  ge- 
danken klingen  naiv ,  wenn  sie  den  alten  sprachen  gemäsz  ausge- 
drückt werden,  wogegen  die  modernen  sprachen,  selbst  wenn  sie  sich 
zu  den  kindern  herablassen ,  die  gröste  mühe  haben,  ihre  ältlichkeit 
zu  verbergen.' 

Weissenfeis  hat  mit  diesen  Sätzen  einen  gegenständ  berührt,  zu 
dessen  gründlicher  erörterung  sehr  weit  ausgeholt  werden  müste. 
das  'moderne  grau'  ist  eins  der  worte,  die  für  einen  etwas  nebel- 
haften begriff  zu  rechter  zeit  sich  einstellen.  Weissenfeis  scheint  zu 
meinen  ,  dasz  das  französische  als  moderne  spräche  allzu  sehr  von 
des  gedanken*  blässe  angekränkelt  sei,  vielleicht  meint  er  auch,  dasz 
es  ganz  hervorragend  vor  den  andern  lebenden  spra- 
chen eine  reflectierende  spräche  sei.  in  gewissem  sinne  könnte 
man  das  letztere  wohl  zugeben,  'ce  qui  n'est  pas  clair  n'est  pas 
francais'  ist  ein  stolzes  wort,  aber  ein  nicht  unberechtigtes,  indes 
schlägt  die  logik  dieser  spräche  bei  manchen  meistern  derselben 
leicht  um  in  eine  raffinierte  und  pointierte  Sprechweise,  wer  kennt 
nicht  die  witzworte  Voltaires,  in  denen  die  spräche  die  gedanken- 
funken fast  ebenso  hervorzulocken  als  trägerin  derselben  zu  sein 
scheint,  frau  von  Stael  sagt  in  ihrem  prächtigen  werke  über  Deutsch- 
land, da  das  französische  mehr  als  irgend  ein  anderer  dialekt  Europas 
gesprochen  werde,  so  sei  es  zugleich  abgeschliffener  durch  den  ge- 
brauch und  zugespitzter  für  die  berechnung,  keine  spräche  sei  klarer, 
schneller,  deute  leichter  an,  was  man  sagen  wolle,  man  höre  selten 
unter  den  Deutschen  sogenannte  bon  mots,  sie  seien  stark  in  den 
gedanken  selbst,  nicht  in  dem  cclat,  den  man  ihnen  gebe,  aber  die 
geistvolle  beobachterin  war  doch  weit  entfernt,  diese  seite  der 


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38  Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts. 

spräche  als  ihre  wichtigste  und  stärkste  anzusehen,  und  in  der 
that  hat  das  hochbegabte  volk  die  besten  schätze  seiner  reichen  litte- 
ratur  doch  nicht  blosz  auf  dem  gebiete  des  esprit  und  der  satire 
aufzuweisen,  so  sehr  auch  der  alte  esprit  gaulois  und  railleur  in 
allen  Jahrhunderten  seine  Vertreter  gefunden  hat.  aber  der  von 
f  rau  von  Stael  angedeutete  gegensatz  ist  es,  der  uns 
D  eutschen  in  die  äugen  sticht,  uns  die  übrigen  Vorzüge  der 
spräche  leicht  übersehen  läszt  und  glauben  macht,  die  ätzende  lauge 
des  spottes,  der  6clat  des  esprit  habe  alle  blüten  des  gemüts  er- 
stickt. V.  Hugos  spräche  ist  bei  uns  bekannt  als  grotesk,  manieriert, 
raffiniert;  aber  wie  viele  kennen  die  harmlose,  tiefinnige,  gemüt- 
volle spräche  der  kinderlieder ,  die  er  seinen  enkeln  gedichtet  bat? 
gewis  ist  das  französische  keine  eigentlich  poetische  spräche,  aber 
des  harmlos  gemütvollen ,  der  frischen  lebensvollen  blüten  bietet  es 
für  unsere  jugend  genug,  und  selbst  wenn  dem  nicht  so  wäre,  würde 
wirklich  das  in  französischem  gewand  gebotene  einfache  unseren 
sextanern  zu  'keck  und  altklug'  erscheinen?  nein,  noch  viel  weni- 
ger als  etwa  unsere  tertianer  beim  beginn  des  griechischen  diese 
spräche  als  eine  jugendfrische  und  harmlose  empfinden  und  schätzen, 
das  Verständnis  für  die  ästhetische  seite  der  spräche  beginnt  bei 
unserer  jugend  ziemlich  spät,  im  allgemeinen  wohl  kaum  vor  dem 
sechzehnten  jähre.  —  Keck  und  altklug  wären  die  sextaner,  welche 
das  französische  keck  und  altklug  fänden. 

Wie  steht  es  denn  aber  mit  der  harmlosigkeit  und  jugend- 
frische des  lateinischen?  ich  behaupte:  es  ist  durchaus  verkehrt, 
die  lateinische  spräche  in  ihren  formen  wie  in  ihren  syntaktischen 
Verbindungen  als  naiv  zu  bezeichnen,  und  was  die  römische  litteratur 
anlangt:  gibt  es  —  um  von  der  prosa  ganz  zu  schweigen  —  einen 
römischen  dichter,  in  dem  nicht  die  reflexion  herscht?  beides,  spräche 
und  litteratur,  sind  rhetorisch  zugespitzt,  so  urteilte  Goethe,  über 
eine  lateinische  Ubersetzung  von  Hermann  und  Dorothea  äuszerte 
er:  es  falle  ihm  auf,  dasz  die  römische  spräche  nach  dem  begriff 
strebe,  dasz,  was  im  deutschen  sich  unschuldig  verschleiere,  zu 
einer  art  von  sentenz  werde.  —  Weissenfeis  behauptet,  die  modernen 
sprachen  haben  mühe,  ihre  ältlichkeit  zu  verbergen,  selbst  wenn  sie 
sich  zu  den  kindern  herablassen,  ich  frage:  hat  dies  einer  von  den 
alten  gethan?  sie  schrieben  nicht  für  die  jugend,  sondern  für  männer, 
Staatsbürger,  politiker.7  das  that  Cornelius  Nepos,  mit  dem  wir  in- 
folge dessen  unsere  Staatsbürger  und  politiker  schon  im  elften  lebens- 
jahre  bekannt  machen,  dasselbe  gilt  von  Caesar.  'da  Caesar  ur- 
sprünglich nicht  für  unsere  tertianer ,  sondern  für  seine  landsleute 
(männer) ,  die  gleich  von  kindheit  an  latein  sprechen  konnten ,  ge- 
schrieben bat,  so  sind  die  Schwierigkeiten  des  textes,  sprachliche  wie 

7  es  wird  immer  wieder  übersehen,  dasz  es  für  uns  sehr  schwer  ist, 
das  ältliche  an  den  alten  zu  erkennen,  weil  sie  für  uns  in  die  anreole 
unserer  jugenderinnerungen  getaucht  sind,  während  wir  die  modernen 
erst  im  spätem  alter,  bei  vorwiegender  reflexion  kennen  gelernt  haben. 


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Zum  späteren  beginn  de»  lateinischen  Unterrichts.  39 

sachliche,  oft  so  grosz,  dasz  der  arme  schuler  beim  redlichsten  be- 
mühen dieselben  ohne  einige  hilfsmittel  nicht  Uberwinden  kann; 
brauchen  doch  selbst  wir,  seine  lehrer,  auch  solche  bilfstruppen  bei 
unserer  präparation'  (bericht  der  Posener  directorenversammlung 
1888,  W.  8.  63).  —  Herbart  war  der  ansieht,  es  gebe  keinen  ein- 
zigen lateinischen  Schriftsteller,  der  auch  nur  erträglich  tauge,  um 
ins  altertum  einzuführen,  und  weil  es  an  einer  geeigneten  lateini- 
schen leetüre  für  knaben  fehle ,  so  sei  es  unmöglich ,  für  den  latei- 
nischen Unterricht  interesse  zu  wecken,  daher  wollte  er  mit  dem 
griechischen  und  zwar  mit  der  Odyssee  beginnen.  —  Erst  seit  dem 
Christentum  hat  man  sich  zur  jugend  herabgelassen,  erst  christliche 
erzieher  haben  eine  wirkliche,  echte,  segensreiche  jugendlitteratur 
geschaffen,  ganz  besonders  hat  England  hierzu  fruchtbare  anregung 
gegeben,  wo  die  berühmtesten  Schriftsteller  es  nicht  verschmäht 
haben,  für  die  jugend  und  die  familie  zu  schreiben,  und  wenn  man 
die  in  französischen  schulen  gebrauchten  lesebücher  durchsieht,  so 
wird  man  finden,  dasz  auch  Frankreich  eine  treffliche  jugendlitteratur 
besitzt,  da  sind  die  das  kindergemüt  ansprechenden  fabeln  aus  der 
Sammlung  le  petit  monde  von  Cb.  Marelle,  Volksmärchen,  reizende 
kindergedichte ,  kleine  erzählungen  und  vor  allen  die  in  Frankreich 
so  sehr  beliebten,  von  den  Unterrichtsbehörden  stets  aufs  neue 
empfohlenen  lecons  de  choses  (stoffe  für  den  anschauungsunter- 
richt).  sehr  erfreulich  ist,  dasz  die  in  den  letzten  jähren  bei  uns 
entstandenen  französischen  lehrbücher  diese  stoffe  aufgenommen 
haben,  so  namentlich  das  vortreffliche  lebrbuch  von  Kühn,  welches 
ausdrücklich  an  einigen  stellen  bezug  nimmt  auf  die  bekannten  an- 
schauungabilder  von  Uölzel.  da  haben  wir  einen  lesestoff,  wie  ihn 
der  lateinische  Unterricht  niemals  unsern  sextanern  und  quintanern 
bieten  kann,  einen  solchen,  der  Sprachunterricht  und  sachunterricht 
ermöglicht,  da  die  lebende  spräche  für  alle  gegenstände  und  thätig- 
keiten,  welche  dem  knaben  in  seiner  muttersprache  bekannt  gewor- 
den sind,  entsprechende  ausdrücke  hat,  so  kann  ein  elementarunter- 
richt  in  ihr  auf  ganz  naturgemäsze  weise  verfahren,  um  an  bekanntes 
anzuknüpfen  und  zunächst  klarheit  der  Vorstellungen  und  Sicherheit 
des  Wissens  hervorzubringen,  wird  er  zweckmäßiger  weise  zunächst 
das  alltägliche  leben  in  der  familie  und  schule  und  die  uns  umgeben 
den  naturerscheinungen  in  seinen  kreis  ziehen,  bald  auch  auf  acker- 
bau,  ge  werbe  und  handel  sich  erstrecken,  nachdem  so  ein  guter 
grund  gelegt  ist,  ist  es  leicht,  aus  der  reichen  fülle  der  litteratur, 
welche  jeder  modernen  cultursprache  eignet,  abschnitte  auszuwählen, 
welche  geist  und  gemüt  in  manigfaltiger  weise  anregen,  beim  weitern 
fortschritt  kann  man  die  geschichte  zum  hauptgegenstand  der  leetüre 
machen ,  und  da  eine  fast  zu  reiche  aus  wähl  von  werken  zur  Ver- 
fügung steht,  stets  diejenigen  teile  der  geschichte  wählen,  welche 
schon  in  deutscher  spräche  sich  der  phantasie  und  dem  gedächtnis 
der  schüler  eingeprägt  haben. 


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40  Zum  spateren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts. 

In  diesem  Zusammenhang  gestatte  ich  mir  eine  durchaus  irrtüm- 
liche darstellung  meiner  reform  Vorschläge  als  solche  zu  kennzeich- 
nen, in  den  Jahresberichten  von  Rethwisch  III  s.  118  berichtet 
H.  Löschhorn  u. a. :  'in  der  pädagogischen  litteratur  ungemein  belesen, 
weisz  der  Verfasser  die  formal  bildende  kraft  des  französischen  gegen 
die  des  lateinischen  fein  abzuwägen ;  er  weist  nach,  dasz  den  moder- 
nen sprachen  dieselbe  formal  bildende  kraft  innewohnt  wie  dem 
latein  und  zieht  nun  die  folgerung:  dann  entferne  man  das  lateinische 
aus  unseren  schulen ,  da  doch  der  inhalt  der  schriftsteiler  die  mühe 
der  Spracherlernung  nicht  aufwiegt.'  es  ist  mir  niemals  eingefallen, 
die  entfernung  des  latein  aus  den  gymnasien  und  realgjmnasien  vor- 
zuschlagen, ganz  im  gegenteil  möchte  ich  seine  Stellung  stützen  und 
stärken,  da  ich  tiberzeugt  bin,  dasz  dieser  Unterricht,  zu  richtiger 
zeit  begonnen  und  über  längere  zeit  sich  ausdehnend,  ganz  von  selbst 
ein  lebendigerer,  strafferer  und  für  schüler  und  lehrer  lohnenderer 
sein  würde,  wie  denn  in  der  that  den  schülern  des  Altonaer  real- 
gymnasiums  der  lateinische  Unterricht  der  liebste  fremdsprachliche 
Unterricht  ist.  —  Jene  von  Löschhorn  angeführte  stelle  findet  sich 
8.  59  meiner  schritt,  sie  ist  aber  hypothetisch  zu  verstehen,  ihr  geht 
voraus  der  satz:  'wenn  wirklich  die  modernen  sprachen  dieselbe  for- 
mal bildende  kraft  besitzen  wie  das  lateinische,  weshalb  dann  noch 
der  ganze  streit,  ob  dem  lateinischen  oder  dem  französischen  die 
Priorität  gebühre.'  darauf  folgt:  'dann  entferne  man'  usw.  vorher 
habe  ich  s.  40  —  69  die  urteile  hervorragender  pädagogen  über  die 
formal  bildende  kraft  der  neueren  sprachen  und  das  latein  angeführt 
und  verglichen,  darauf  sämtliche  äuszerungen  Herbarts  und  Benekes 
über  denselben  gegenständ  gegen  einander  abgewogen,  daraus  ergab 
sich,  dasz  Beneke  der  erlernung  der  spräche  an  sich,  dem  studium 
der  grammatik  im  gegensatz  zu  Herbart  eine  grosze  pädagogische 
bedeutung  beimiszt,  dasz  der  erstere  zwar  eine  allgemein  for- 
male bildung  leugnet,  dagegen  eine 'relativ  allgemeine'  bil- 
dung  gelten  läszt ,  da  jede  von  einer  entwicklung  zurückbleibende 
spur  (jeder  erwerb  von  kenntnissen,  Vorstellungen  usw.)  zugleich 
kraft  sei,  wobei  es  dann  nur  darauf  ankomme,  die  spuren  so  zu  be- 
gründen, dasz  sie  nicht  träge  und  unfruchtbare  kräfte,  sondern 
lebendig  regsame,  aufstrebende  und  vielseitig  weit  reichende  seien, 
während  Herbart  eine  weiter  greifende  formale  bildung  überhaupt 
in  viel  beschränkterem  sinne  annimmt,  darauf  fahre  ich  fort:  fira 
sinne  und  in  der  spräche  Benekes  könnte  man  etwa  sagen:  die 
lateinische  spräche  weckt  dieselben  kräfte  wie  die  neueren  spra- 
chen, aber  sie  vermag  die  geweckten  kräfte  in  ganz  besonders  in- 
tensiver weise  zu  lebendig  regsamen,  aufstrebenden  und 
weit  reichenden  zu  machen,  zu  dieser  auffassung  bekenne  ich 
mich  rückhaltlos,  indem  ich  meine:  die  antike  bat  ihren  beruf, 
die  modernen  Völker  durch  ihren  litterarischen  gehalt  und  die  form 
der  darstellung  zu  erziehen,  für  uns  erfüllt;  um  so  mehr  aber 
hat  für  uns  geltung  als  intellectuelles  erziehungsmittel  das  Studium 


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Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  unterrichte.  41 

der  lateinischen  spräche  selbst  and  die  methode  dieses  Sprach- 
studiums.' 

Die  daran  sich  anschlieszenden  Sätze  sind  doch  wohl  deutlich 
genug!  'zur  beachtung  für  andersdenkende  will  ich  aber  noch  fol- 
genden gesichtspunkt  hervorheben :  nehmen  wir  einmal  an,  dasz  die 
bildenden  kräfte  des  neusprachlichen  und  des  lateinischen  Unter- 
richts etwa  gleich  seien,  so  ist  doch  jedenfalls  einzuräumen,  dasz  die 
Verwertung  derselben  im  lateinischen  viel  häufiger  stattfindet,  weil 
bei  dem  gröszeren  abstand  des  lateinischen  von  der  muttersprache 
und  der  infolge  dessen  viel  gröszeren  begrifflichen  differenz  der 
schüler  bei  dem  Obersetzen  fortwährend  auf  abstracto  stöszt,  zu 
wählen  und  zu  sichten  hat,  mit  dem  so  sehr  abweichenden  Satz- 
gefüge ringen,  das  einzelne  scharf  erfassen  und  sich  bewust  machen 
musz.  wenn  man  nun  meint,  man  könne  alle  diese  kraft  entwickeln- 
den momente  bei  dem  neusprachlichen  Unterricht  nicht  minder  frucht- 
bar machen,  so  wäre  doch  zu  erwidern,  dasz  nichts  dienecessitas 
urgens  zu  ersetzen  vermag,  es  würden  da  anforderungen  an  den 
lehrerund  den  schüler  gestellt,  die  nur  selten  erfüllt  werden  könnten; 
die  menschen  sind  zu  nehmen ,  wie  sie  sind,  nicht  wie  man  sie  gern 
haben  möchte.'   


Schliesziich  wende  ich  mich  noch  zu  einigen  stellen  aus  0.  Jägers 
sebrift:  'das  humanistische  gymnasium  und  die  petition  um  durch- 
greifende Schulreform.' 

Es  heiszt  dort  8.29:  'die  frage  nach  der  möglicherweise  besten 
methode  scheint  uns  auf  der  untersten  stufe,  von  sexta  bis  quarta, 
nicht  von  so  einschneidender  Wichtigkeit;  es  handelt  sich  gar  nicht, 
was  der  grundirrtum  der  Perthesianer  ist,  um  leichteres  oder  schnel- 
leres beibringen  von  latein,  sondern  darum,  die  kinder  arbeiten,  in 
ihrer  weise  wissenschaftlich  arbeiten  zu  lehren,  den  grundsatz  durch- 
zuführen, dasz  alles  erarbeitet  sein  musz.  ...  die  sogenannte  'alte 
methode',  welche  den  knaben  die  regel  als  dogma  sagt,  an  bei- 
spielen  erläutert,  durch  Ubersetzung  lateinischer  Ubungssätzchen  be- 
stätigen, durch  Übersetzung  deutscher  Übungsbeispiele,  also  auf  dem 
wege  elementarer  induetion  aufbauen  läszt,  thut  den  zu  leistenden 
dienst,  und  stützt  sich  dabei  auf  das  natürliche  interesse,  welches 
bei  jedem  normalen  menschen  durch  die  arbeit  an  der  arbeit  ent- 
steht.' 

Dagegen  möchte  ich  doch  darauf  hinweisen,  wie  die  aufmerk- 
same betrachtung  der  geschiente  des  lateinischen  elementarunter- 
richts  der  letzten  jahrzehnte  uns  zeigt,  dasz  an  ihm  manches  krank 
ist.  die  klagen  —  nicht  etwa  der  eitern ,  sondern  der  lehrer ,  direc- 
torenconferenzen ,  behörden  —  sind  über  die  schlechten  erfolge  ge- 
rade des  lateinischen  Unterrichts  der  unteren  classen  mit  stets  wach- 
sender beharrlichkeit  und  eindringlichkeit  laut  geworden,  obgleich 
das  latein  schon  in  sexta  mit  einer  groszen  Stundenzahl  auftritt  und 
fast  die  ganze  häusliche  arbeitszeit  für  sich  beansprucht,  die  behörden 


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42  Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterricht«. 

haben  wiederholt  sich  veranlaszt  gesehen,  durch  besondere  Verfügun- 
gen die  methodik  des  lateinischen  elementarunterrichts  zu  verbessern, 
und  noch  die  erläuterungen  zu  den  neuen  lehrplänen  geben  für  kein 
gebiet  so  eindringliche  mahnungen  als  für  dieses,  es  wird  dort  sehr 
scharf  die  gefahr  gekennzeichnet,  'dasz  dieser  Unterricht  zu 
einer  drückenden  bürde  für  den  schüler  werden  kann'. 

Seitdem  das  latein  seinen  realen  halt  im  leben  verloren,  könne 
dieser  Unterricht,  meint  Lattmann,  heftige  angriffe  und  eigne  depra- 
vationen  nicht  mehr  ertragen;  seine  Stellung  sei  daher  eine  gefähr- 
dete, und  man  habe  alle  Ursache,  auf  die  methode  sorgfältig  zu 
achten,  woraus  die  zahlreichen  versuche  von  reformern  zu  erklären 
seien,  'denn  dasz  das  bestehende  verfahren  im  altsprachlichen  Unter- 
richt seine  mftngel  hat,  wird  vielfach  anerkannt  und  selbst  von  sol- 
chen, welche  es  nicht  eingestehen  wollen,  doch  gefühlt,  warum  sonst 
die  immer  wiederkehrenden  Verteidigungen  der  hohen  bedeutung  der 
alten  sprachen ,  namentlich  des  latein  ?  von  zweifellosen  freunden 
derselben ,  ja  von  den  vorgesetzten  behörden  sind  mehrfach  mängel 
der  unterrichtsweise  gerügt  und  besserungsversuche  anerkannt,  so 
dasz  man  nicht  berechtigt  ist,  so  ohne  weiteres  sich  auf  die  ralte, 
bewährte  methode'  zu  berufen.'  *  —  Der  erste  methodiker  auf  diesem 
gebieto  denkt  also  ganz  anders  als  0.  Jäger. 

Um  von  den  Perthesianern  abzusehen,  so  hatte  doch  Perthes 
selbst  ein  viel  tiefer  gehendes  pädagogisches  bestreben  als  das  'leich- 
tere oder  schnellere  beibringen',  mit  heiszem  bemühen  suchte  er  den 
lateinischen  elementarunterricht  auf  psychologisch  richtiger  grund- 
lage  aufzubauen,  seine  methodischen  grundsätze  herzuleiten  von  der 
beobachtung  der  kinderseele,  von  einer  unbefangenen  Würdigung  der 
geisteskräfte  des  jugendlichen  alters.  —  Aber  darin  stimme  ich  Jäger 
vollständig  bei,  dasz  nach  den  von  Perthes  aufgestellten  grundsätzen 
der  lateinische  Unterricht  unmöglich  in  sexta  und  quinta  sich  ge- 
stalten kann,  wohl  aber  kann  es  nach  meiner  meinung  der  neusprach- 
liche, ich  habe  in  meiner  (bon  gre  mal  gre)  schon  mehrfach  erwähn- 
ten schrift  s.  98  ff.  gezeigt,  wie  diejenigen  schulen,  welche  nach  den 
Perthesschen  Vorschriften  und  mit  benutzung  seiner  lehrbücher  das 
latein  lehren,  sich  genötigt  sehen ,  in  der  praxis  von  seinen  wichtig- 
sten methodischen  grundsätzen  abzuweichen,  um  nicht  die  nötige 
Sicherheit  und  gründlicbkeit  der  grammatischen  kenntnisse  preiszu- 
geben. —  So  wurde  noch  unlängst  von  der  unter  dem  vorsitz  des 
provinzial-scbulrats  Labmeyer  abgehaltenen  conferenz  der  latein- 
lehret der  Frankfurter  gymnasien  und  realgymnasien  (an  welchen 
die  Perthesschen  bücher  eingeführt  sind)  beschlossen:  1)  eine  grosze 
zahl  sätze  und  stücke  sei  als  zu  schwierig  zu  entfernen;  2)  für  VI 
und  V  seien  Übungsbücher  für  das  hinübersetzen  zu  schaffen ;  3)  der 
grundsatz,  nur  die  primitiva  einzuprägen,  sei  aufzugeben.  —  Wenn 
fast  sämtliche  lateinlehrer  trotz  dieser  psychologisch  so  wohl  be- 


8  Lattmaun,  combination  der  methodischen  prinetpien  usw.  s.  3. 


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Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts. 


43 


gründeten  reform  Vorschläge  bei  der  alten  Übersetzungsmethode  be- 
harren, so  thun  sie  das  in  der  erkenntnis  des  Charakters  der  lateini- 
schen spräche,  der  natürlichen  Schwierigkeiten  ihrer  erlernung,  welche 
scharfes  erfassen  der  einzelnen  worte  und  formen,  fortwährende  ver- 
gleichung  der  lateinischen  begriffsbildung  mit  der  des  schülere,  be- 
wustmachung  der  unterschiede  erheischt. 

Auch  darin  stimme  ich  Jäger  bei,  dasz  von  der  mit  so  beredten 
worten  empfohlenen  induction  im  lateinischen  Unterricht  neun-  und 
zehnjähriger  knaben  nicht  die  rede  sein  kann,  ich  habe  a.  a.  o.  ge- 
zeigt, dasz  sie  in  bescheidenen  grenzen  —  die  selbst  der  naturwissen- 
schaftliche Unterricht  einhalten  musz  —  viel  eher  im  französischen 
Unterricht  geübt  werden  kann ,  dasz  die  versuche  der  Herbartianer 
in  Göttingen  und  Hannover,  im  Zi lierschen  seminar  u.  a.  alle  ge- 
scheitert sind  an  der  Starrheit  der  alten  spräche,  ihrem  fremdartigen 
für  scbüler  dieses  alters.  —  Etwas  deutlicher  hat  Jäger  sich  darüber 
ausgesprochen  bei  den  Verhandlungen  der  letzten  rheinischen  direc- 
toren  Versammlung,  wo  er  (W.  s.  388)  äuszerte:  'durch  das  hinüber- 
setzen wird  der  scbüler  zur  selbstschaffenden  thätigkeit  angeregt, 
es  ist  verwerflich,  dasz  Perthes  das  sachliche  interesse 
betont  hat,  weil  es  zerstreut  und  das  wissenschaftliche  erken- 
nen nicht  fördert,  dazu  ist  nötig  der  kategorische  imperativ :  das 
kannst  und  sollst  du  lernen,  in  dem  binübersetzen  liegt  das,  was 
für  den  sextaner  von  induction  übrig  bleibt,  weil  er  hier  findet  und 
schafft.9  —  Ich  reihe  diesen  Sätzen  das  von  mir  a.  a.  o.  angeführte 
bekenntnis  unserer  strammen  lateinlehrer  an:  'der  scbüler  wird 
durch  eine  interessante  erzählung  geradezu  zur  Zer- 
streutheit und  ungenau igkeit  gewöhnt.' 

Also:  der  inhalt  des  gelesenen  ist  nicht  nur  gleich- 
giltig,  sondern  der  zweck  des  la  teinischen  Unterrichts 
der  unteren  classen  wird  durch  einen  langweiligen 
stoff  gefördert,  durch  einen  interessanten  gehemmt.' 

Diese  ehrlichen  bekenntnisse  beruhen  auf  einer  durchaus  sach- 
lich und  logisch  richtigen  grundlage,  aber  sie  kennzeichnen  aufs  deut- 
lichste, dasz  es  eine  pädagogische  unnatur  ist,  das  latein  mit  sex- 
tanern  zu  beginnen,  ich  musz  bestreiten,  dasz  sie  an  dem  latein  'in 
ihrer  weise  wissenschaftlich  arbeiten'  lernen,  dasz  sich  dabei  ein 
'natürliches  interesse'  einstellt,  die  Sprachgesetze  können  auf  diesem 
unnatürlichen  wege  in  ihnen  nicht  zu  psychischen  kräften  werden,  sie 
lernen  nicht  wissenschaftlich  arbeiten,  sondern  sie  werden  zu  mecha- 
nischer arbeit,  zur  passivität,  zum  verbalismus  erzogen. 

S.  20  sagt  Jäger:  'im  einzelnen  hat  jetzt  Hermann  Planck  in 
einer  sehr  fleiszigen  und  sehr  einsichtigen  programmarbeit  ('das  recht 
des  lateinischen  als  wissenschaftliches  bildungsmittel')  des  Stutt- 
garter realgymnasiums  (1888)  dargethan,  weshalb  das  latein  als 
sprachliches,  d.  h.  wissenschaftliches  bildungsmittel  sein  erstge- 
burtsrecht dem  französischen  und  englischen  gegen- 
überbehaupten musz,  und  wer  Uberhaupt  wissenschaftlich  denkt, 


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44 


Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterricht«. 


den  musz  diese  darlegung  eines  gründlichen  kenners  beider  sprachen, 
der  dabei  für  die  moderne,  die  französische,  offenbar  Vorliebe  hegt, 
unbedingt  überzeugen/ 

Aber  derselbe  Planck  sagt  in  derselben  schrift  s,  24  wörtlich : 
'vielen  erscheinen  die  Schwierigkeiten  des  lateinischen,  besonders 
der  formen  lehre,  für  neunjährige  knaben  zu  grosz.  auf  diese  Über- 
zeugung gründet  sich  die  bekannte  these  von  Ostendorf:  der  fremd- 
sprachliche Unterricht  ist  mit  dem  französischen  zu  be- 
ginnen, der  Vorschlag  ist  neuerdings  wieder  auf  die  tagesordnung 
gebracht  und  sehr  warm  empfohlen  worden  vonVölcker:  die  reform 
des  höheren  Schulwesens,  Berlin  1887.  dasz  sich  eine  reihe  von 
gründen  für  die  priorität  des  französischen  geltend 
machen  läszt,  ist  unleugbar,  und  der  Vorschlag  nicht 
ohne  weiteres  abzuweisen,  neuestens  hat  sich  auch  Lattmann,, 
früher  ein  eifriger  gegner  Ostendorfs,  zu  dieser  reform  bekannt, 
ebenso  verdient  beachtung,  dasz  Völckers  befürwortung  dieser  reform 
sich  stützen  kann  auf  eine  zehnjährige  erfahrung,  welche  das  Altonaer 
realgymnasium  liefert.' 

An  derselben  stelle  sagt  Jäger:  'die  lateinische  rede  hat  sich 
auf  dem  forum  und  im  senat  —  wo  es  galt,  durch  den  klarsten 
und  wirksamsten  ausdruck  zu  tiberzeugen  —  dem  gesetz,  also  den 
staatlichen  Willensmeinungen  die  klarste  und  nachdrücklichste  form 
zu  geben  —  ausgebildet,  und  dieses  volk  wurde  überhaupt  durch 
seine  ganze  entwicklung  zu  höchster  schärfe  und  klarheit  sprach- 
licher filierung  menschlicher  beziehungen  und  Verhältnisse  gedrängt/ 

Was  die  viel  gerühmte  schärfe  und  bestimmtheit  des  lateini- 
schen anlangt,  so  habe  ich  bereits  oben  angedeutet,  dasz  es  als  arme 
spräche  hierin  entschieden  hinter  dem  deutschen  und  noch  viel  mehr 
hinter  dem  französischen  zurücksteht,  der  lateinische  ausdruck  er- 
möglicht sehr  oft  nicht  die  scharfe,  bestimmte  auffassung,  sondern 
erst  die  erkenntnis  des  Zusammenhangs  (der  Situation)  thut  dies,  und 
weil  die  lateinische  lectüre  zu  diesem  veratändnis  zwingt,  ist  sie  eine 
so  vortreffliche  logische  Übung,  eine  gründlichere  und  vielseitigere 
als  die  neusprachliche  lectüre.  —  Daher  ist  die  anfertigung  eines 
guten  lateinischen  exercitiums  leichter  zu  erzielen,  als  die  Sicherheit 
einer  guten  Übersetzung  ins  deutsche,  ich  bin  darum  ganz  mit  Latt- 
mann darin  einverstanden,  dasz  man  auch  in  der  prima  des  gymna- 
siums  auf  schriftliche  Ubersetzungen  aus  dem  lateinischen  ins  deutsche 
das  bauptgewicht  legen  sollte.  —  Wohl  besitzt  das  lateinische  als 
ältere  spräche  ausgedehnte  etymologische  Wortfamilien,  zu  deren  Ver- 
ständnis die  grundbedeutung  des  Stammworts  den  Schlüssel  gibt, 
aber  dieses  für  den  Unterricht  sehr  förderliche  moment  kann  doch 
erst  in  den  höheren  classen  verwertet  werden.  —  Sehr  häufig  be- 
zeichnen die  lateinischen  Wörter  einen  begriff  nicht  vollständig  oder 
sie  bezeichnen  nicht  immer  nur  einen  begriff,  so  dasz  Unklarheiten 
und  Verwechslungen  für  den  lernenden  unausbleiblich  sind.  Jäger 
beruft  sich  auf  die  manigfache  Übersetzung  des  Wortes  sklave  (man- 


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Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  unterrichte.  45 


cipium,  servus,  famulus,  verna,  puer,  minister)  und  sucht  darzuthun, 
dasz  das  latein  ohne  weiteres  zur  scharfen  Unterscheidung  der  begriffe 
zwinge;  aber  dieses  beispiel  steht  mit  einigen  andern  (z.b.  exercitus, 
agmen,  acies  für  beer)  vereinzelt  da  und  ist  in  den  culturverbält- 
nissen  begründet,  gerade  darum  ist  es  erst  für  ältere  schüler  ver- 
wertbar, dasz  diese  beispiele  ausnahmen  bilden,  ergibt  sich  schon 
aus  der  bekannten  armut  der  lateinischen  spräche  an  Substantiven, 
viele  worte  dienen  zum  ausdruck  verschiedener,  kaum  mit  einander 
verwandter  begriffe,  z.  b.  res,  fides,  consilium,  religio,  weite  und 
Unbestimmtheit  des  begriffs  finden  sich  auch  bei  den  adjectiven7 
namentlich  bei  den  von  personennamen  abgeleiteten  (hostilis  heiazt 
z.  b.  feindlich,  feindselig,  aber  metus  hostilis  furcht  vor  dem  feinde). 
—  In  seiner  trefflichen  abhandlung:  'der  Unterricht  in  der  lateini- 
schen spräche  und  die  formale  bildung'  (päd.archiv  1888  s.  145— 60) 
sagt  Schlee  mit  recht,  der  lateinische  ausdruck  sei  sehr  oft  weiter, 
umfassender,  meist  kürzer,  um  so  viel  aber  auch  unbestimmter, 
logisch  ungenauer  trotz  aller  lobreden  auf  die  kürze,  prägnanz  und 
kraft  desselben.  —  Schlee  entwickelt,  dasz  die  wähl  eines  mit  dem 
begriff  sich  nicht  deckenden  ausdrucks  nicht  immer  aus  notbehelf 
geschehe ,  dasz  die  lateinische  spräche  sie  übe  aus  einem  gewissen 
künstlerischen  spiel  um  der  abwechslung  willen,  die  römische  poesie 
bediene  sich  in  sehr  starkem  masze  der  paronomasie  und  metonymie, 
in  der  prosa  führe  diese  neigung  zu  einer  gewissen  fahrlässigkeit  des 
ausdrucks,  wie  denn  z.  b.  Caesar  und  Tacitus  natio  und  gens  will- 
kürlich einmal  für  den  weiteren,  ein  andermal  für  den  engeren  be- 
griff gebrauchen,  an  der  ungenauigkeit  der  lateinischen  bezeichnung 
liege  es,  dasz  die  lateinischen  beschreibungen  von  Schlachtfeldern 
so  dunkel  sind ,  dasz  die  erklärung  von  Caesars  brücke  noch  immer 
nicht  fest  stehe,  das  veränderungslustige  spiel  mit  dem  worte  setze 
die  constmction  in  Widerspruch  mit  der  etymologie,  so  dasz  z.  b. 
defendere  aliquid  heisze :  'etwas  verteidigen'  und  'gegen  etwas  ver- 
teidigen*, wenn  die  neueren  sprachen  statt  der  bloszen  casus  sich 
der  präpositional Verbindungen  bedienen,  so  geschehe  dies  gewis  nicht 
aus  umständlicher  Schwerfälligkeit,  sondern  um  der  bestiramtheit 
des  ausdrucks  willen.9  Unbestimmtheit  entstehe  auch  infolge  der 
bezeichnung  der  verschiedenartigsten,  teilweise  ganz  entgegengesetz- 
ten Verhältnisse  durch  dieselbe  Casusverbindung,  z.  b.  des  ablativs 
und  namentlich  des  genitivs.  keine  andere  spräche  auszer  der  latei- 
nischen setze  die  abhängige  frage  nach  der  thatsache  und  die  that- 

"  feminae  kann  bedeuten:  de  la  femme,  d'une  femme,  h  la  femme, 
k  une  femme,  les  femmes,  des  femme«  (partitiv),  o  femmes.  von  solcher 
Unbestimmtheit,  welche  ein  höhn  auf  den  reiehtum  an  declinationsfor- 
men  ist,  sagt  Maurer  a.  a.  o.:  sie  kennzeichne  sprechend  die  noch  in 
den  Zufälligkeiten  einer  unfreien  historischen  entwicklung  gebunden 
liegende  spräche,  die  noch  nicht  dazu  gelangt  sei,  den  luxus  der  zahl- 
reichen flexionsbildungen  auch  nnr  zu  unzweideutigem  begrirTsausdruck 
zu  benutzen.  —  Man  vergleiche  dazu  Viewegers  schritt:  'das  einheits- 
gymnasium.' 


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46 


Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterricht*. 


sachliche  folge  in  den  conjunctiv,  in  der  bezeichnung  der  logischen 
beziehnngen  der  sätze  stehe  das  latein  hinter  den  andern  sprachen 
zurück  wegen  seines  mangels  an  partikeln,  und  was  es  durch  die 
participialconstructionen  an  kürze  gewinne,  gehe  an  bestimmtheit 
verloren,  da  z.  b.  hostibus  victis  causale,  temporale,  condicionale  und 
concessive  bedeutung  haben  könne.  Scblee  bietet  noch  weiter  sehr 
beachtenswerte  erwägungen,  welche  mich  in  meiner  meinung  bestärkt 
haben,  dasz  es  ein  irpÜJTOV  ujcuboc  ist,  dasz  am  latein  an 
sich  die  vollkommenste  spräche  der  logik  erlernt  werde, 
wohl  aber  musz  behauptet  werden,  dasz  vermöge  der  groszen  Ver- 
schiedenheit desselben  vom  deutschen  in  dem  lateinischen  Unter- 
richt eine  fortwährende  nötigung  zu  scharfem  erfassen,  vergleichen, 
schlieszen,  bewustmachen  des  wissens  an  die  schüler  herantritt,  die 
eine  vortreffliche  geistige  zucht  bildet,  aber  diese  scharfe,  ange- 
strengte geistige  zucht  kann  nicht  fruchtbringend  wirken  auf  schüler 
der  untersten  classen,  ja  sie  kann  als  solche  dort  Uberhaupt  nicht 
geübt  werden,  sie  wird  zum  mechanischen  'einstampfen*  (Lattmann). 

Die  fremde  spräche,  welche  zur  grammatischen  erkenntnis  dienen 
soll,  musz  nicht  nur  in  ihren  formen  einfach  und  klar  sein ,  sondern 
sie  darf  auch  syntaktisch  nicht  unbestimmter  und  schwieriger 
sein ,  als  die  eigne  selbst  noch  erst  zum  Verständnis  zu  bringende 
spräche,  soll  sie  die  muttersprache  begrifflich  erläutern,  so  darf  sie 
nicht  undeutlicher  sein  als  diese  und  ihre  auffassungen  dürfen  von 
denen  des  logischen  denkens  nicht  weiter  abliegen  als  die  der  mutter- 
sprache. die  französische  spräche  ist  viel  logisch  correcter  und  be- 
stimmter als  die  lateinische  und  eben  darum  für  den  anfang  leichter, 
denn  die  unbestimmten  und  unlogischen  begriffe  des  lateinischen 
nötigen,  erst  das  Verständnis  des  deutschen  beizubringen  und  dann 
erst,  so  gut  es  geht,  die  fremde  erscheinung  zu  verdeutlichen. 

Also  weil  die  begriffe  der  einzelnen  Wörter  bei  den 
Römern  vielfach  einen  viel  weiteren  umfang  haben,  als 
bei  den  modernen  und  weil  diese  begriffe  sich  in  einer 
für  uns  fremdartigen  weise  entwickelt  haben,  ist  der 
beginn  des  latein  bei  den  bestehenden  Verhältnissen  zu 
schwierig,  das  zeigen  auch  die  special  Wörterbücher,  welche  trotz 
alles  eifern»  dagegen  stets  sich  vermehrt  haben,  um  von  den  viel- 
deutigen Substantiven  abzusehen,  so  ist  es  nicht  möglich,  dasz  sex- 
:  aner,  qu  in  tan  er.  quartaner  den  Stammbaum  der  bedeutungen  von 
ago,  gero,  peto,  capio,  mitto  usw.  oder  die  entwicklung  der  bedeu- 
tungen von  zusammengesetzten  Zeitwörtern  verfolgen  können.  — 
Indes  weisz  philologische  pädagogik  sich  auch  über  diesen  Ubelstand 
zu  trösten,  so  sagt  der  berichterstatter  der  Posener  directorenver- 
sammlung  1888  (W.s.63) :  'denjenigen  herren  collegen  aber,  welche 
meinen,  das  gymnasium  erziehe  seine  schüler  nicht  zur  rechten 
wissenschaftlichkeit,  wenn  dieselben  nicht  schon  in  IV  und  III  dicke 
lexika  wälzen  lernen,  möchte  ich  entgegnen:  darin  sollen  sie  ja  noch 
später  in  II  und  I  tüchtig  geübt  werden,  wo  niemand  Speciallexika 


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Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts.  47 

(auszer  für  Homer)  empfiehlt  noch  gebraucht;  an  den  vorher  schon 
abgehenden  schulern  aber  hat  das  gymnasium  nur  sehr  unvollkom- 
men und  unvollständig  sein  werk  gethan ;  warum  also  nicht  auch  in 
bezug  auf  das  wälzen  umfangreicher  Wörterbücher.'  —  Ebendaselbst 
(W.  s.  68)  werden  die  neuesten  nebenproducte  des  altsprachlichen 
Unterrichts,  die  gedruckten  präparationen  empfohlen,  nicht  minder 
auch  die  commentierten  ausgaben,  von  den  ersteren  heiszt  es :  man 
käme  mit  ihnen  doch  entschieden  schneller  vorwärts,  und  es  dürfte 
sich  doch  fragen,  ob  nicht  das  mehr  an  lectüre  voll  und  reichlich  die 
der  methode  etwa  anhaftenden  mängel  aufwiege. 

Also  so  weit  sind  wir  mit  unserem  lateinischen  Unterricht  ge- 
kommen, dasz  in  einer  solchen  Versammlung  die  gedruckte  präpa- 
ration ,  der  papierne  lehrer  als  retter  in  der  not  gepriesen  wird.  — 
diese  art,  die  schüler  am  latein  wissenschaftlich  arbeiten  zu  lassen, 
wird  Jäger  gewis  nicht  gefallen. 

Ist  man  also  mit  Jäger  der  ansiebt,  dasz  die  erste  fremdsprache 
höchste  schärfe  und  klarheit  sprachlicher  fizierung  menschlicher  be- 
ziehungen  und  Verhältnisse  aufweise,  so  ist  die  französische  zu  neh- 
men, nicht  die  lateinische,  der  fortschritt  der  cultur  bringt  es  durch 
die  abschwäcbung  der  voll  tönenden  formen  der  spräche  von  selbst 
mit  sich,  dasz  die  gedanken  unverhüllter  hervortreten,  (daher  schätzte 
J.  Grimm  die  englische  spräche  so  hoch.)  jeder  logische  fehler,  jede 
ungenauigkeit  im  ausdruck  wird  viel  leichter  in  der  neuen  spräche 
bemerkt.  Ostendorf  sagte:  'man  übersetze  Livius  ins  französische 
und  man  wird,  um  ein  erträgliches  französisch  zu  erhalten,  oft  un- 
bestimmte ausdrücke  in  bestimmte  verwandeln,  schiefe  beziehungen 
richtig  stellen  müssen.'  er  konnte  so  urteilen  auf  grund  reicher  er- 
fahrung,  da  unter  seiner  leitung  fortwährend  solche  Übungen  in  den 
oberen  classen  angestellt  wurden. 

Zu  der  klarheit  des  ausdrucks  kommt  für  das  französische  noch 
hinzu  die  streng  logische,  dem  denken  natürlich  sich  anschmiegende 
wort»tellung,  das  einfachste  und  wirksamste  mittel  der  analytischen 
sprachen,  die  an  der  muttersprache  erworbenen  kategorien  unter 
den  fremden  worten  wiedererkennen  zu  lassen,  es  liegt  darin  eine 
nicht  zu  schwierige  Übung  im  richtigen,  klaren  denken  für  den  sex- 
taner,  der  bei  den  lateinischen  Sätzen  erst  combinieren,  den  inhalt 
zu  erfassen  suchen  musz,  um  subject  und  object  zu  erkennen. 

S.  30  a.  a.  o.  sagt  Jäger:  'wenn  demnach  Vinet  in  der  vorrede 
zum  ersten  band  seiner  französischen  Chrestomathie  die  französische 
prosa  —  ich  denke  mit  recht  —  la  plus  parfaite  des  pro^es  und  zu- 
gleich —  ebenso  mit  recht  —  das  lateinische  la  raison,  die  vernunft- 
gmndlage  des  französischen  nennt,  so  sollte  das,  denkeich,  aus- 
reichen, um  die  seichte  rednerei  von  der  Selbstgenügsamkeit  der 
modernen  culturelemente  abzuweisen.' 

Vinet  war  ein  bedeutender  theologe,  ein  tiefer  philosoph,  ein 
gründlicher  und  vorurteilsloser  kenner  der  französischen  litteratur, 
aber  die  ergebnisse  der  neuen  romanischen  Sprachforschung  waren 


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48 


Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  unterrichta. 


ihm  nicht  bekannt,  was  sich  allein  aus  verschiedenen  äuszerungen 
der  vorrede  des  zweiten  bandes  seiner  Chrestomathie  ergibt,  er 
leitete  das  französische  her  von  der  classi&chen  lateinischen  Schrift- 
sprache (f  le  latin  contient  les  racines  et  par  consequent  la  raison  du 
francais'),  die  maszgebende  Weiterentwicklung  der  schon  zu  Ciceros 
zeit  neben  dieser  bestehenden ,  von  den  römischen  legionen  in  Gal- 
lien gesprochenen  Volkssprache  zog  er  nicht  in  betracht  und  darum 
schlug  er  —  wie  noch  heute  vielfach  geschieht  —  das,  was  die 
schüler  durch  das  latein  für  die  erlernung  des  französischen  gewin- 
nen, viel  zu  hoch  an.  für  die  aneignung  der  französischen  Orthogra- 
phie ist  das  latein  ohne  zweifei  förderlich,  für  die  erlernung  der 
französischen  Wörter  nutzt  es  dagegen  nur  wenig,  denn  ein  plan- 
volles zurückführen  der  französischen  wortformen  auf  die  lateinischen 
setzt  ein  Verständnis  voraus,  welches  den  schülern  der  unteren  classen 
picht  eignet,  will  man  aber  die  Wirkung  des  latein  auf  das  franzö- 
sische im  wesentlichen  dem  zufall  überlassen,  so  scheiden  sich,  wie 
Bratuscheck  seiner  zeit  richtig  bemerkt  hat,  die  französischen  Wörter 
in  dem  köpfe  des  schülers  allmählich  in  zwei  unbestimmt  begrenzte 
massen.  die  einen  stimmen  mit  dem  lateinischen  merklich  Uberein, 
die  andern  erinnern  an  kein  lateinisches  wort,  jene  erleichtern  ihm 
das  übersetzen  aus  dem  französischen  auf  kosten  der  gründlichkeit, 
da  er  den  sinn  ganzer  sätze  mit  hilfe  der  anklingenden  lateinischen 
Wörter  und  des  Zusammenhangs  errät,  von  der  grundbedeutung  der 
französischen  Wörter,  welche  mit  der  des  lateinischen  etymon  so 
häufig  nicht  übereinstimmt,  erhält  er  so  eine  ganz  falsche  Vorstel- 
lung, und  die  scharfe  Unterscheidung  der  formen,  welche  das  latein 
herbeiführen  soll,  wird  gerade  durch  seinen  einflusz  verhindert,  die 
vielen  Wörter  aber,  welche  er  nicht  auf  seinen  Ursprung  zurückführen 
kann ,  stehen  entweder  ganz  unvermittelt  neben  den  andern ,  oder, 
falls  er  auf  ihre  etymologie  aufmerksam  gemacht  wird ,  erscheinen 
ihm  ihre  formen  als  ganz  regellos  und  willkürlich,  was  doch  das 
gegenteil  der  wissenschaftlichen  einsieht  ist.  der  nutzen  also,  wel- 
chen der  voraufgehende  lateinische  Unterricht  für  das  verstehen  und 
erlernen  der  französischen  wortformen  hat,  ist  ein  ziemlich  geringer 
und  wird  durch  den  nachteil,  welcher  daraus  entspringt,  mehr  als 
blosz  aufgewogen. 

Nach  dem  gesagten  brauche  ich  kaum  zu  versichern ,  dasz  ich 
der  folgenden  äuszerung  des  berichterstatters  der  schlesischen  direc- 
torenversammlung  von  1888  (W.s.  13)  nicht  zustimme:  'das  latein 
ist  als  das  leichtere  und  thatsächlich  frühere,  wenigstens  dem  fran- 
zösischen gegenüber,  dessen  erlernung  obenein  durch  kenntnis  des 
latein  gefördert  wird  und  als  das  wichtigere  an  den  anfang  zu  stellen.* 

Seine  volle  beleuchtung  erhält  dieser  satz  in  dem  lichte  des  fol- 
genden, den  derselbe  Verfasser  ebendaselbst  aufgestellt  hat:  rdie 
pflege  des  auges  und  die  Übung  der  sinnlichen  Wahrnehmung  kann 
besonders  bei  dem  sprachlichen  Unterricht  stattfinden.'  (sie!) 


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Zum  späteren  beginn  des  lateinischen  Unterrichts.  49 

Aber  wie  werden  bei  einem  späteren  beginn  der  beiden  alten 
sprachen  die  leistungen  am  ende  sich  gestalten?  ich  verweise  auf 
die  erfolge  des  Altonaer  realgymnasiums,  dessen  einrichtung  von 
vorbildlicher  bedeutung  ist  trotz  der  anzweifelungen  Ziemers  (in 
band  III  der  Jahresberichte  von  Rethwisch  b.  6ö — 68),  der  zugleich 
die  auch  von  herrn  von  Gossler  hoch  geschätzte  schrift  Viewegers 
(man  vergleiche  seine  am  6  märz  1889  im  abgeordnetenhause  gehal- 
tene rede)  über  den  beginn  des  englischen  in  sexta  tändelnd  behan- 
delt, indem  er  sich  die  Wiederholung  der  anmutigen  bemerkung 
Hellwiga  gestattet:  in  consequenz  dieses  Standpunktes  komme  man 
wohl  8chlieszlich  noch  zur  einfuhrung  des  volapük  in  sexta.  —  Von 
meinen  eignen  beobachtungen  des  lateinischen  Unterrichts  der  Alto- 
naer schule  will  ich  hier  schweigen,  wohl  aber  wiederholen,  dasz  die 
aufsichtsbehörde  nach  immer  wieder  angestellten  prüfungen  ausge- 
sprochen hat,  dasz  die  dortigen  leistungen  in  dem  mit  III b  begon- 
nenen lateinischen  Unterricht  in  ihrem  endziel  vollständig  denen  der 
andern  realgymnasien  gleichkommen,  hinzufügen  will  ich,  dasz 
director  Sehlee  der  festen  Uberzeugung  ist,  das  was  dort  geleistet 
werde,  könne  unter  normalen  Verhältnissen  überall  geleistet  werden, 
die  erfolge  in  Güstrow  und  Magdeburg  haben  diese  Überzeugung 
durchaus  gerechtfertigt. 

Was  das  griechische  anlangt,  so  wird  in  nicht  ferner  zeit  an 
einer  schule  der  versuch  gemacht  werden,  dasselbe  in  secunda  zu 
beginnen,  ich  bin  überzeugt,  dasz  man  dort  Homer  und  Sophokles 
mit  nicht  geringerem  Verständnis  lesen  wird,  diese  ansieht  wird  be- 
reits von  vielen  gymnasiallehrern  geteilt,  die  nur  noch  nicht  in  der- 
selben weise  öffentlich  Stellung  zu  dieser  frage  genommen  haben  wie 
gymnasialdirector  Eitner  in  Görlitz  es  gethan  hat  in  einer  festrede 
znr  feier  des  fünfzigjährigen  bestehens  der  Görlitzer  realschule  (man 
vergleiche  päd.  archiv  1889  s.  113  —  119). 

Von  denselben  grundsätzen  ausgehend  wie  ich  im  jähre  1887, 
entwickelt  er,  dasz  jeder  systematische  Unterricht,  auf  der  sinnlichen 
anschauung  beruhend,  sich  in  concentrischen  kreisen  fortbewegen  und 
erweitern  müsse,  aus  der  kenntnis  der  geschichtlichen  ereignisse 
der  hemmt ,  des  Vaterlandes  sei  in  dem  schüler  der  boden  zu  ebnen 
für  das  interesse  an  den  Schicksalen  eines  fremden  Volkes  und  hierauf 
erst  der  Völker  des  altertums.  das  gefühl  für  die  muttersprache 
müsse  hinreichend  geweckt  sein,  ehe  eine  lebendige  teilnähme  für 
die  modernen  oder  alten  sprachen  vorausgesetzt  werden  dürfe,  nichts 
dürfe  in  den  ideenkreis  des  Schülers  eindringen ,  was  sich  nicht  in 
steter  aufeinanderfolge  an  bekanntes  und  verstandenes  anschlieszt. 
die  erlernung  einer  fremden  spräche,  zumal  einer  alten,  verlange  von 
dem  neunjährigen  schüler  ein  zu  hohes  masz  abstracter  denkopera- 
tionen,  für  die  er  nicht  genügend  vorbereitet  sei;  es  häufe  sich  regel 
aufreget,  deren  grund  und  Zusammenhang  ihm  unverständlich  bleibe, 
die  er  nur  mechanisch  lerne  und  mit  denen  er  nur  mechanisch  ope- 
riere, das  mechanisch  erlernte  könne  aber  kein  dauerndes  interesse 

N.jihxb.  f.  phii.u.  pid.  11.  abt.  1891  hfl.l.  4 


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50 


Über  gymnastische,  musikalische 


erregen,  'würde  daher  die  erlemung  des  lateinischen  bis  ins  zwölfte, 
die  des  griechischen  bis  ins  vierzehnte  lebensjahr  verschoben ,  dann 
würde  ein  groszer  teil  der  gegenwärtig  vorhandenen  und  unleug- 
baren Übelstande  verschwinden,  die  schüler  würden  geistig  mehr 
vorbereitet  an  die  erlernung  dieser  sprachen  herantreten ,  der  ledig- 
lich mechanisch  grammatische  betrieb  derselben  würde  beseitigt 
werden,  da  nun  die  sprachlichen  regeln  und  gesetze  auf  die  erkennt- 
nis  ihrer  logischen  notwendigkeit  begründet  werden  könnten:  und 
damit  würde,  wie  ich  fest  überzeugt  bin,  auch  die  leidige  tiberbür- 
dungsfrage  . . .  mit  einem  schlage  verschwinden.  —  Aber  wo  bleiben 
die  resultate?  wird  man  mir  einwenden;  nun,  ich  habe  den  mut,  zu 
behaupten,  die  resultate  würden  auf  diesem  wege  sicherlich  nicht 
geringer,  wahrscheinlich  sogar  gediegener  und,  weil  mit  gröszerem 
Verständnis  erworben ,  auch  erfreulicher  sein ;  ich  könnte  zahlreiche 
beispiele  aus  meiner  eignen  erfahrung  anführen,  wie  junge  leute  von 
mittelmäsziger  begabung,  die  sich  zur  reifeprüf ung  vorbereiteten, 
in  einem  bis  zwei  jähren  latein  und  griechisch  sich  so  weit  ange- 
eignet hatten,  dasz  sie  ohne  Schwierigkeit  den  anforderungen  der 
prüfung  zu  gentigen  vermochten.' 

Schönebeck  a.  E.  6.  Völcker. 


4. 

ÜBER  GYMNASTISCHE,  MUSIKALISCHE 
UND  DECLAMATORISCHE  SCHULFEIERLICHKEITEN. 


Kaum  eine  frage  ist  für  das  leben  der  schule  von  solcher  prak- 
tischen bedeutung  als  die  Herstellung  eines  richtigen  Verhältnisses 
zwischen  schule  und  haus,  je  mehr  die  schule  eine  institution  des 
Staates  geworden  ist,  desto  freier  hat  sie  sich  von  den  subjectiven 
einflüssen  des  hauses  gemacht,  anderseits  ist  dabei  gerade  in  neuerer 
zeit  viel  geschehen ,  um  einen  regen  Zusammenhang  zwischen  schule 
und  haus  herzustellen  trotz  der  gröszer  gewordenen  Schwierigkeiten, 
welche  der  häufigere  Wechsel  des  schülerpersonals  und  der  jetzt  so 
vielgestaltige  gesichtskreis  der  so  verschiedenen  elternhäuser  bietet, 
nur  ein  geräuschvollerer  masseneinblick  in  das  leben  der  schule,  wie 
er  früher  fast  an  allen  anstalten  in  den  sogenannten  öffentlichen 
Prüfungen  stattfand,  ist  mehr  und  mehr  im  schwinden,  gerade  hier- 
über ist  in  letzter  zeit  viel  geschrieben  und  gesprochen  worden,  und 
es  werden  bei  dieser  gelegenheit  stimmen  laut,  welche  überhaupt 
jedes  Öffentliche  hervortreten  von  schülern  für  wenig  segensreich 
halten. 

Deshalb  scheint  mir  die  frage  wohl  der  anregung  und  weiteren 
besprechung  wert:  darf  die  schule  mit  irgend  welchen  leistungen 
an  die  Öffentlichkeit  treten?  bei  welcher  gelegenheit  und  in  welcher 
weise  soll  sie  es  thun? 


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und  declamatoriache  eehulfeierlicbkeiten. 


51 


Die  erste  frage  vor  den  beiden  folgenden  zu  beantworten  wäre 
ein  theoretisches,  formelles  philosophieren  um  eine  sache,  deren 
wesen  noch  gar  nicht  festgestellt  ist.  eine  thatsache  ist  es ,  dasz  an 
allen  anstalten  im  ein  Verständnis  mit  den  wünschen  der  vorgesetzten 
behorden  gewisse  Schulfeierlichkeiten  stattfinden,  zu  denen  weniger 
oder  mehr  die  ungehörigen  der  sehnler,  sowie  behörden  und  freunde 
der  jugend  eingeladen  werden,  am  wenigsten  angefochten  sind  wohl 
die  öffentlichen  schulacte,  durch  welche  dem  hause  ein  einblick  in  die 
körperliche  erziehung  gegeben  wird,  hier  ist  die  forderung  auch  am 
berechtigtsten,  selbst  zu  sehen,  wie  die  notwendigsten  güter  des  lebens, 
die  gesundheit  und  körperliche  kraft  und  gewandtheit,  von  der  schule 
gepflegt  werden,  auch  ein  allgemeineres  Verständnis  ist  bei  dem 
grösten  teile  des  publicums  für  solche  körperlichen  leistungen  vor- 
auszusetzen, während  bei  geistigen  leistungen  oft  nur  die  angehö- 
rigen  einen  verständnisvollen  einblick  in  das  schulleben  gewinnen, 
welche  selbst  einen  ähnlichen  bildungsgang  durchgemacht  haben, 
vor  allem  aber  ist  es  gerade  in  unseren  tagen  eine  pflicht  der  schule, 
hierin  dem  hause  von  zeit  zu  zeit  durch  öffentliche  schulacte  einen 
einblick  zu  gewähren,  weil  dadurch  am  besten  die  zur  mode  gewor- 
denen ausfälle  Ober  schlechte  körperliche  ausbildung  unserer  schüler 
bekämpft  werden,  einseitig  beschränkte  und  die  lehrerweit  durch 
Verbreitung  falscher  thatsachen  beleidigende  Schriften  würden  nicht 
das  aufsehen  haben  erregen  können,  wenn  das  publicum  selbst 
überall  einen  besseren  einblick  in  die  körperliche  erziehung  der 
jugend  hätte. 

Wie  sollen  nun  solche  turnfeste  —  denn  so  sollen  zunächst 
einmal  alle  diese  öffentlichen  schulacte  genannt  werden  —  veran- 
staltet werden?  der  turnunter  rieht  hat  seit  der  mitte  unseres 
jahrbunderts  manche  Wandlungen  durchgemacht,  bis  er  mit  den 
wissenschaftlichen  lehrfachern  eine  möglichst  gleichbedeutende  Stel- 
lung hinsichtlich  seiner  einreihung  in  den  Stundenplan  erhalten  hat. 
ähnlich  haben  auch  die  turnfeste  der  schulen  hie  und  da  ihren  Cha- 
rakter geändert  von  geräuschvollen,  wenig  methodisch  geordneten 
Volksfesten  hin  zu  der  Vorführung  bestimmter,  übersichtlich  auf 
einander  folgender  lectionen  auf  dem  schulplatze  oder  gar  in  der 
turnballe. 

Die  letztgenannte  art  eines  Schauturnens  ist  zwar  nicht  schlech- 
terdings zu  verwerfen,  denn  sie  kann  durch  das  fehlen  gewisser  Vor- 
aussetzungen eines  frischeren  Schauturnens  in  einzelnen  fällen  ge- 
boten sein;  sie  ist  aber  nicht  das  ideal  eines  turnfestes,  das  dem 
publicum  den  einblick  in  einen  frischen,  anregenden  turnunterriebt 
gibt  und  zugleich  dem  schüler  zu  weiterem  streben  von  bleibender 
erinnerung  ist.  das  Schauturnen,  welches  die  volkstümlichen 
güter  der  Jugenderziehung:  kraft  und  mut,  gewandtheit  und  festen 
willen  zeigt,  wird  am  besten  an  einem  patriotischen  gedenk- 
tage,  der  jahreszeit  nach  am  geeignetsten  am  Sedantage  gefeiert 
werden,  da  sonst  eine  geräuschvollere  bürgerliche  feier  dieses  tagea 

4* 

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52 


Über  gymnastische,  musikalische 


berechtigter  weise  mehr  und  mehr  schwindet,  so  ist  es  um  so  passen- 
der, wenn  im  engeren  rahmen  der  schüler  und  ihrer  angehörigen  an 
passendem  orte  während  einiger  nachmittagsstunden  ein  volkstüm- 
liches turntest  veranstaltet  wird,  um  so  die  jugend  auch  in  frischer, 
froher  weise  an  die  groszthaten  der  väter  zu  erinnern,  welche  ihr  an 
den  vier  gedenktagen  der  beiden  hochseligen  kaiser  Wilhelm  und 
Friedrich  in  ernster  rede  in  der  aula  vom  lehrer  vorgeführt  werden. 

Feiert  eine  Stadt  in  geeigneter  jahreszeit  einen  besonderen  histo- 
rischen gedenktag,  so  ist  auch  ein  solcher  für  ein  schauturnen  ein 
würdiger  tag.  so  wird  z.  b.  in  Colberg  der  2  juli,  der  tag  der  be- 
freiung  der  festung  von  der  belagerung  der  Franzosen  durch  die 
schulen  in  der  vorgeschlagenen  weise  festlich  begangen. 

Eingehender  hier  über  den  verlauf  eines  solchen  turnfestes  zu 
handeln,  würde  zu  weit  führen;  immerhin  mag  es  aber  für  diesen 
und  jenen  anregend  sein,  ein  kurzes  programm  vorgeschlagen 
zu  sehen: 

Etwa  um  2  oder  3  uhr  nachmittags  findet  ein  ausmarsch  von 
dem  schulgebäude  nach  einem  passenden  festplatze  statt,  womöglich 
mit  musik.  in  diesem  festzuge  nehmen  die  Vorturner  eine  ehren- 
volle Stellung  dadurch  ein,  dasz  sie  an  der  seite  ihre  in  zwei  oder 
mehreren  gliedern  marschierende  riege  führen  und  bei  dem  zuge 
durch  gutes  beispiel  und,  wenn  es  sein  musz,  durch  ein  mahnendes 
wort  für  richtigen  tritt  sorgen,  drei  kräftige  turner  werden  durch 
das  amt  des  fahnenträgers  und  der  fahnenjunker  ausgezeichnet;  be- 
sondere abzeichen  sind  bei  höheren  leh  ran  st  alten  für  diese  Chargen 
so  wie  für  die  Vorturner  nicht  durchaus  nötig,  dagegen  ist  es  wohl 
als  eine  gute  sitte  anzusehen,  dasz,  wo  bei  turnfesten  eichenkränze 
mit  bedruckten  schleifen  den  besten  turnern  als  preise  verteilt  wer- 
den, die  erinnerungsschleifen  früherer  preise  bei  dem  auezuge  zum 
neuen  turntest e  an  brüst  oder  schul ter  geheftet  werden,  es  ist  dies 
keine  äuszerlicbe  prahlerei,  sondern  eine  hochschätzung  der  ehren, 
welche  die  schule  verleiht. 

Als  fest  platz  eignet  sich  am  besten  ein  in  der  nähe  der  staut 
gelegenes  Wäldchen,  wie  z.  b.  in  Colberg  die  gewis  vielen  bekannte 
Maikuhle,  wo  es  hieran  fehlt,  da  läszt  sich  das  schauturnen  auch  in 
einem  vor  der  Stadt  gelegenen  gröszeren  Vergnügungsgarten  feiern, 
selbst  ein  ebenes ,  mit  einigen  bäumen  umgebenes  exercierfeld  ge- 
nügt; ich  selbst  habe  in  meiner  Vaterstadt  Stargard  in  Pommern 
manch  fröhliches  schauturnen  als  schüler  mitgemacht  auf  einem  weit 
vor  der  stadt  gelegenen  platze,  der  auch  nicht  viel  anderes  vorstellte 
als  ein  militärisches  Ubungsfeld. 

Ist  man  auf  dem  festplatze  angelangt,  so  wird  unter  musik  an 
dem  vorher  bestimmten  platze  die  fabne  aufgepflanzt;  alsdann  löst 
sich  die  bisherige  aufstellung  in  einen  marsch  in  stirnreihe  auf,  und 
es  wird  hierdurch  der  zunächst  fUr  reigen  und  freiübungen  zu  be- 
nutzende räum  vor  dem  betreten  des  publicums  abgeschritten,  hier- 
mit ist  der  erste  und  ernstere  teil  des  turnfestes  eröffnet. 


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und  declomatorische  gchulfeierliebkeiten. 


53 


da  in  den  meisten  fallen  transportable  turngeräte  nach  dem  fest- 
platze geschafft  werden  müssen ,  so  werden ,  wie  dies  auch  in  der 
schule  selbst  nicht  möglich  ist,  bei  weitem  nicht  alle  schüler  zugleich 
an  geräten  turnen  können,  es  empfiehlt  sich  daher  eine  dreitei- 
lung  der  schüler  in  die  obere,  mittlere  und  untere  abteilung.  dann 
wird  sich  für  das  nun  folgende  turnen  der  plan  ergeben,  dasz  immer 
eine  abteilung  auf  dem  abgeschrittenen  platze  in  freiübungen  turnt , 
wahrend  eine  zweite  das  spalier  bildet,  die  dritte  aber  für  die  dann 
folgenden  gerätübungen  etwaige  zurüstungen  trifft,  den  schlusz 
dieses  turnens  in  freiübungen  und  an  den  geräten  bildet  ein  reigen, 
welchen  wohl  auch  zwei  abteilungen  vereinigt  aufführen  können. 

An  das  riegenturnen  und  die  freiübungen  schlieszt  sich  als 
glanzpunkt  des  ganzen  festes  das  kürturnen  der  besseren  turner 
an  mehreren  geräten.  für  das  gerätspringen  ist  es  hier  praktisch 
und  besonders  wirkungsvoll,  mehrere  geräte,  etwa  bock,  kästen, 
pferd  in  bestimmten  Zwischenräumen  hinter  einander  aufzustellen, 
so  dasz  der  zum  sprung  antretende  gleich  an  drei  geräten  drei  ver- 
schiedene Übungen  ausführt 

Hiermit  ist  der  erste  und  offiziellste  teil  des  festes  vorüber, 
and  die  schüler  verteilen  sich  nach  einer  pause  an  verschiedenen 
stellen  des  festplatzes  zu  tu rn sp  ielen  und  volkstümlichen  Übungen 
(steinstoszen!).  ist  der  platz  dazu  geräumig  genug,  so  können  auch 
Wettspiele  um  preise  stattfinden,  hierzu  eignen  sich  für  die  oberen 
classen  besonders  eine  erneuerung  des  fünfkampfes  (prof.  Fedde, 
Strauch -Leipzig)  und  als  parteispiel  das  englische  fussball-  und 
thorbalispiel.  für  die  unteren  und  mittleren  classen  ist  die  auswahl 
solcher  spiele  ja  eine  äuszerst  grosze.  besonders  scherzhaft  wirkt  bei 
den  kleineren  schülern  auf  das  publicum  immer  das  alte  bekannte 
sacklaufen,  das  topfschlagen  und  klettern,  als  schlusz  dieses  zweiten 
teiles  des  schauturnens  empfiehlt  sich  ein  wettlauf  der  schüler,  der 
besonders  in  breiter  frontreihe  bei  den  erwachseneren  jünglingen 
einen  imposanten  anblick  darbietet. 

Nach  diesem  wettlaufe  wird  das  signal  zum  sammeln  gegeben, 
und  nachdem  der  director  oder  ein  turnlehrer  die  festrede  gehalten 
hat,  erfolgt  die  Verteilung  der  preise,  diese  bestehen  für  gutes 
turnen  in  eichenkränzen  mit  schleifen,  auf  welche  der  name  der 
anstalt  und  das  datum  des  festes  zur  erinnerung  gedruckt  ist;  für 
wettlauf  und  Wettspiele  empfehlen  sich  auch  wohl  geschenke  von 
bestimmtem  werte. 

Als  schlusz  eines  turnfestes  liesze  sich  ein  Vorschlag  machen, 
welcher  vielleicht  hie  und  da  auf  Widerspruch  stoszen  wird;  ich 
meine  einen  harmlosen  tanz  im  freien  mit  den  dazu  geladenen 
Schülerinnen  der  höheren  mädchenschule.  dieser  Vorschlag  hat  be- 
sonders für  kleinere  und  mittlere  städte  seine  bedeutung.  hier  sind 
die  familien  der  schüler  und  Schülerinnen  mehr  oder  weniger  be- 
kannt, die  meisten  eitern  nehmen  an  dem  feste  teil,  und  gerade 
durch  eine  derartige  harmlose  auffassung  des  Verkehrs  zwischen 


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Über  gymnastische,  musikalieche 


schillern  und  Schülerinnen  wird  mancher  tadelnswerte,  heimliche  Um- 
gang eher  vermindert  als  hervorgerufen. 

Noch  auf  einen  punkt  mag  hier  zur  erhöhung  der  heiteren  Stim- 
mung bei  dem  turnfeste  aufmerksam  gemacht  werden,  es  ist  dies 
die  einlage  irgend  einer  scherzhaften  turnerischen  Vorführung 
während  des  zweiten  teiles  des  festes,  so  führten  am  Sedantage 
1887  die  sextaner,  quintaner  und  quartaner  des  Schwetzer  progym- 
nasiums  mit  gesang  und  trommelschlag,  halb  und  halb  uniformiert, 
die  Überführung  Napoleons  von  Sedan  nach  Wilhelmshöhe  auf. 

'Napoleon*  sasz  trübselig  mit  seinem  adjutanten  in  einem  Hand- 
wagen ,  ihm  folgten  die  escortierenden  preuszischen  Soldaten  aller 
möglichen  truppenteile  und  einige  gefangene  Franzosen,  die  unifor- 
men waren  in  einfachster  weise,  zum  teil  recht  komisch  wirkend 
hergestellt;  selbst  gefangene  Turkos  und  Zuaven  und  preuszische 
ulanen  und  husaren,  auf  den  schultern  kräftiger  mitschüler  reitend, 
fehlten  nicht ;  ein  vierschrötiger  'landwehrmann'  mit  pfeife  im  munde 
und  hosen  im  Stiefelschafte  trug  eine  stange  mit  der  inschrift:  cWif 
Lampenröhrl'  vor  dem  publicum  wurde  front  gemacht,  präsentiert 
und  ein  passendes  lied  gesungen. 

Auch  die  schüler  der  mittleren  und  oberen  classen  können  bei 
einem  feste,  welches  den  beweis  für  körperliche  ausbildung  ablegen 
soll,  neben  den  vorher  genannten  ernsteren  leistungen  sich  und  den 
ihrigen  gelegentlich  etwas  heiteres  oder  künstlerisches  bieten,  be- 
sonders die  freiübungen  oder  der  reigen  geben  gelegenheit  zu  schönen 
schluszgruppen.  da  empfehlen  sich  pyramiden  mit  canonischem  ge- 
sange,  zu  der  die  turner  aus  jeder  Stellung  leicht  Ubergehen  können ; 
da  bieten  sich  bei  den  gemeinübungen  mit  eisenstäben  schöne  scblusz- 
gruppen,  wie  sie  z.  b.  die  deutsche  turnzeitung  (1888  nr.  27.  28  ff.) 
entwickelt  und  abbildet;  da  ist  die  darstellung  gewisser  gruppen 
aus  der  griechischen  heeresstellung  (Wassmannsdorf :  die  Ordnungs- 
übungen, anhangt  die  griechisch  -  makedonische  elementartaktik) 
und  plastischer  gruppen  der  antiken  künstler  gewis  eines  gymna- 
siums  würdig. 

Ernstes  streben  und  die  pflege  eines  gesunden  humors  und  ge- 
meinsinns  widersprechen  sich  niemals;  beides  macht  erst  den  wahr- 
haft humanistisch  gebildeten  menschen  aus,  der  es  versteht,  mit 
seinen  mitmenschen  zu  leben ! 

Den  schlusz  des  turnfestes  bildet  noch  vor  beginn  der  dunkel- 
heit  der  marsch  in  die  stadt.  die  bekränzten  eröffnen  den  zugt  und 
unter  den  klängen  der  musik  geht  es  zur  anstalt  zurück. 

Sicherlich  wird  dies  programm  eines  gymnasialen  turnfestes, 
so  einfach  es  ist,  bei  einigermaszen  geschickter  leitung  anregend  auf 
ferneres  streben  wirken  und  für  schule  und  haus  eine  bleibende 
erinnerung  sein. 

In  den  rahmen  der  gymnastischen  feste  gehören  auch  die 
schwimm-  und  eis  feste,  gerade  in  den  letzten  jähren  ist  mehr- 
fach anregung  dafür  gegeben  worden,  dasz  das  schwimmen  und  eis- 


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und  declauiatorische  schulfeierlichkeiten. 


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laufen  von  der  schule  begünstigt  werde,  nicht  überall  sind  hier  die 
bedingungen  gleich  günstig,  doch  scheint  mir  besonders  für  das 
schwimmen  an  städtischen  anstalten  mehr  gethan  zu  werden  als  an 
königlichen,  ein  schwimmfest  kann  ganz  gut  an  einem  schulfreien 
n  ach  mittag  e  oder  am  Sonntage  abgebalten  werden,  an  stoff  hierfür 
kann  es  einem  des  schwimmens  kundigen  lehrer  nicht  fehlen. 

Da  wird  eine  kurze  entwicklung  des  Schwimmunterrichts  vor- 
geführt: die  stösze  als  freiübungen  auszer  dem  wasser,  darauf  die- 
selben an  der  angel  und  dann  das  schwimmen  an  angel,  leine  und 
ohne  leine,  hiernach  treten  die  besseren  Schwimmer  zu  Sprüngen 
und  zum  tauchen  nach  der  gummipuppe  an  und  vereinigen  sich  als- 
dann zu  einem  reigenschwimmen.  den  schlusz  des  festes  bildet  ein 
Wettschwimmen,  wobei  die  schüler  natürlich  ebenso  wie  beim  wett- 
lauf der  grösze  nach  in  mehrere  teile  geteilt  werden,  auch  beim 
schwimm  feste  ist  ebenso  wie  beim  Schauturnen  eine  heitere  einlage 
angebracht,  so  sah  ich  einmal  unter  groszer  heiterkeit  aller  Zuschauer 
Schillers  Taucher  dramatisch  bei  einem  schwimmfeste  dargestellt, 
ehrenpreise  sind  hier  ebenso  angebracht  wie  beim  schauturnen. 

Was  den  eislauf  anbetrifft,  so  ist  neuerdings  mehrfach  darauf 
hingewiesen,  dasz  die  schule  zu  demselben  nicht  nur  ermuntern 
sollte,  sondern  bei  besonders  guter  bahn  und  schönem  wetter  schul- 
freie zeit  dazu  gewähren  sollte,  auch  von  medicinischer  seite  hebt 
das  von  provincialschulcollegien  empfohlene  büchlein  des  oberamts- 
arztes  Engelhorn  (scbulgesundheitspflege,  Stuttgart,  bei  Krabbe)  dies 
hervor,  ein  gemeinsames  eisfest  zu  empfehlen,  liegt  mir  hier  jedoch 
durchaus  fern,  denn  die  schule  ist  selbstredend  kein  vergnü- 
gungsinstitut.  dagegen  könnten  wohl  einzelne  classen  mit  dem 
turnlehrer  oder  auch  mit  einem  andern  lehrer,  welcher  besonderes 
Verständnis  für  die  kunst  des  scblittschuhlaufens  hat,  bei  schönem 
wetter  statt  in  der  leider  oft  staubigen  und  hie  und  da  auch  wohl 
dunstigen  turnballe  zu  turnen,  auf  die  eisbahn  zu  gemeinsamen 
Übungen  ziehen,  wenn  hierbei  eine  wissenschaftliche  stunde  oder 
ein  teil  derselben  einigemal  am  winternachmittage  freigegeben  würde, 
so  wäre  dies  vielleicht  ein  wieder  einzubringender  augenblicklicher 
schaden,  welcher  gute  zinsen  trägt,  im  sommer  werden  wohl  ein 
oder  früher  zwei  ganze  tage  für  Wanderungen  freigegeben;  wie  viel 
mehr  ist  dies  doch  im  winter  nötig,  wo  mehrere  monate  bald  nach 
dem  schul8chlusz  die  dunkelheit  eintritt,  wo  das  wetter  oft  wenig 
verlockend  ist,  wo  kurzum  viel  mehr  in  der  stube  gehockt  wird  als 
im  sommer. 

Den  stoff  für  die  gemeinsamen  Übungen  auf  dem  eise  bietet 
dem  leitenden  lehrer  wieder  der  turnunterricht.  fast  alle  reigen 
lassen  sich,  und  zwar  oft  in  gefälligerer  form,  auf  dem  eise  auffüh- 
ren, von  dem  einfachen  laufen  in  zweier-,  vierer-,  achterreihen  bis  zu 
verwickeiteren  kreuz-  (moulinet!)  und  kettenfiguren  (grand  chene!). 
ein  frisches  lied  in  klarer  winterluft  wird  die  lust  beim  eislaufe  noch 
erhöhen,   auch  eine  weitere  excursion  zu  einem  benachbarten  orte 


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Über  gymnastische,  musikalische 


ist  bei  genügend  sicherer  eisfläcbe  mindestens  ebenso  die  gesundheit 
fördernd  als  die  turnfahrt  im  sommer.  nur  darf  hierbei,  wie  über- 
haupt beim  eislaufen,  die  einem  lehrer  unterstellte  anzahl  von  schülern 
wegen  der  gröszeren  Verantwortlichkeit  keine  zu  grosze  sein,  aus 
diesem  gründe  schon  ist  ein  gemeinsames  schulfest  auf  dem  eise  ein 
verfehlter  gedanke. 

Ist  so  das  hinaustreten  der  schule  in  die  Öffentlichkeit  mit 
körperlichen  leistungen  nach  einfachen»  mehr  oder  weniger  wieder- 
kehrenden Ordnungen  leicht  zu  regeln ,  so  hat  dies  um  so  gröszere 
manigfaltigkeiten  und  Schwierigkeiten  bei  der  Vorführung  von  mehr 
geistigen  leistungen  musikalischer,  declamatorischer  und 
dramatischer  art. 

Hier  ist  einmal  der  stoff  ein  viel  reichhaltigerer,  und  es  handelt 
sich  daher  zuerst  um  eine  glückliche  auswahl  des  für  das  augenblick- 
liche schülerpersonal  und  für  die  betreffende  feier  passenden,  ferner 
setzt  auch  die  einübung  ein  weit  gröszeres  geschick  der  leitenden 
lehrer  voraus,  denn  in  vielen  punkten,  besonders  bei  declamatori- 
schen  und  dramatischen  aufführungen,  ist  ein  guter  erfolg  durchaus 
an  das  persönliche  beispiel,  d.  h.  an  das  f vormachen*  des  lehrers 
geknüpft,  hierzu  kommt  noch  als  gröste  Schwierigkeit,  dasz  gegen- 
über dem  schauturnen  bei  solchen  declamatori sehen  und  dramatischen 
aufführungen  in  den  meisten  fällen  nicht  die  Schulstunden  zur  ein- 
übung ausreichen,  bei  den  musikalischen  aufführungen  müsten  aller- 
dings, ähnlich  wie  beim  schauturnen,  bei  rechtzeitigem  beginnen  der 
Übungen  die  lehrplanmäszigen  stunden  im  wesentlichen  genügen, 
denn  hier  decken  sich  diese  Übungen  weit  mehr  mit  dem  fortlaufen- 
den lehrstoffe  als  bei  den  declamatorischen  und  dramatischen  leistun- 
gen. allein  eine  rein  musikalische  aufführung  kann  aus  den  ver- 
schiedensten gründen  kaum  in  einer  schule  für  statthaft  gehalten 
werden,  da  ein  nicht  unbeträchtlicher  teil  der  schüler  unmusikalisch 
ist  und  da  die  schule  doch  möglichst  das  interesse  aller  ihr  anver- 
trauten schüler  im  auge  haben  soll,  dann  wird  auch  in  mittleren 
und  kleinen  anstalten  der  sängerchor  leicht  zu  schwach  sein,  um 
allein  eine  Vorstellung  auszufüllen;  die  Unterstützung  durch  fremde 
kräfte  aber  sollte  möglichst  vermieden  werden,  damit  die  schule 
nicht  womöglich  die  nebensache  und  die  Vorstellung  an  sich  die 
Hauptsache  wird,  füllen  die  musikalischen  leistungen  nur  einen  teil 
des  programmes  aus ,  so  wird  es  dem  gesanglehrer  leicht  sein ,  die 
nötige  auswahl  des  Stoffes  zu  treffen  und  das  ausgewählte  auch  in 
den  gesangstunden  einzuüben;  sollen  dagegen  die  musikalischen 
leistungen  aus  bestimmten  gründen  in  den  Vordergrund  treten ,  so 
hat  auch  der  gesanglehrer  seine  Schwierigkeiten  in  der  auswahl  und 
einübung.  daher  mag  es  angebracht  sein,  hier  einige  bewährte  arten 
musikalischer  scbüleraufführungen  kurz  zu  besprechen  und  aus  eigner 
erfahrung  und  erkundigungen  bei  fachmännern  verschiedener  an- 
stalten die  titel  einiger  für  schülerchor  geeigneter  compositionen  zu 
nennen. 


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und  declamatorißche  Schulfeierlichkeiten. 


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Von  gröszeren  musikalischen  aufführungen,  die  eine  Schulfeier 
oder  einen  teil  derselben  ausfüllen  können,  stellen  wohl  die  gering- 
sten anforderungen  an  die  gesangkräfte  die  melodramen.  dieselben 
sind,  wie  z.  b.  die  melodramatischen  behandlungen  der  roärchen, 
meist  für  Schüleraufführungen  geschrieben  und  vermeiden  schon  aus 
diesem  gründe  Schwierigkeiten,  besonders  die  progymnasien,  sowie 
kleinere  vollanstalten  werden  daher  mit  erfolg  derartige  auffuhrun- 
gen wählen,  das  gröszere  publicum  ist  denselben  gegenüber  mit 
seinem  beifall  oft  bereiter  als  bei  gröszeren  Oratorien  und  drama- 
tischen compositionen ,  da  der  text  und  die  musik  der  melodramen 
leicht  verständlich  sind,  oft  kommt  auch  hinzu,  dasz  die  musik  eine 
gewisse  äuszerliche  tonmalerei  verfolgt,  die  womöglich  noch  durch 
diesen  und  jenen  überraschenden  effect,  wie  plötzliches  einfallen  einer 
harmoniumbegleitung  oder  nachahmung  der  dumpfen  schlage  einer 
turmuhr  (z.  b.  das  glöcklein  von  Innisfär)  u.  a.  unterstützt  wird, 
derartige  mittel  wirken  immer  befriedigend  auf  die  grosze  masse  der 
aufmerksamen  zuhörer,  und  sie  sind  auch  dem  jugendlichen  alter  der 
Schüler  durchaus  entsprechend,  was  die  declamation  anbetrifft,  so 
mosz  der  inhalt  entscheiden,  ob  dieselbe  von  einem  schüler  oder 
von  mehreren  vorgetragen  wird,  wenn  es  dem  inhalte  nach  möglich 
ist,  so  ist  es  selbstredend  besser  die  declamation  unter  mehrere 
schüler  zu  verteilen,  über  die  Vorbereitungen  zur  declamation  wird 
später  gehandelt  werden;  hier  sei  nur  daran  erinnert,  dasz  dieselbe 
zunächst  nicht  sache  des  gesanglehrers  ist,  sondern  dasz  dieser  nur 
die  letzte  hand  ans  werk  legt,  d.  h.  das  richtige  ineinandergreifen 
von  text  und  melodie  einübt. 

Eine  zweite,  schwierigere  art  musikalischer  aufführungen  sind 
die  Oratorien  und  cantaten ,  da  dieselben  auszer  dem  geübteren  chor 
auch  bessere  Solostimmen  voraussetzen,  an  letzteren  musz  es  aus 
natürlichen  gründen  selbst  in  gröszeren  anstalten  mangeln,  da  die 
männlicbe  stimme  erst  nach  dem  zwanzigsten  lebensjahre  den  nötigen 
grad  der  Vollendung  erreicht,  der  zum  öffentlichen  Sologesänge  be- 
rechtigt ,  und  da  ferner  die  theoretische  musikalische  fähigkeit  und 
der  Vortrag  bei  schülern  selten  so  entwickelt  ist,  dasz  sie  den  solo- 
stellen bekannterer  Oratorien,  welche  selbst  gesangvereine  durch 
kfinstler  zu  besetzen  pflegen,  gewachsen  ist. 

Darum  sind  neuerdings  auch  wohl  Oratorien  eigens  für  schüler- 
chor  componiert  worden  und  andere,  um  hier  die  treffendere  deutsche 
bezeichnung  zu  w&hlen,  mit  benutzung  gröszerer  bekannter  Orato- 
rien zusammengestellt  worden,  so  bin  ich  von  musikalisch  masz- 
gebender  seite  auf  mehrere  Oratorien  artige  Zusammenstellungen  auf- 
merksam gemacht  worden,  welche  mit  vielem  erfolge  in  den  letzten 
jähren  in  rheinischen  gymnasien  aufgeführt  worden  sind,  vor  mir 
liegt  das  programm  einer  solchen  aufführung  des  gymnasiums  zu 
M. -Gladbach:  der  freiheitskampf  der  Griechen  gegen  die  Perser, 
eantate  für  chor,  soli  und  declamation,  frei  bearbeitet  nach  dem  vor- 
gange des  realgymnasiums  zu  Cöln.    die  eantate  zerfallt  in  vier 


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Über  gymnastische,  musikalische 


scenen.  die  erste  spielt  bei  den  olympischen  spielen  492  v.  Chr.  zur 
zeit  des  ersten  zuges  des  Mardonius,  die  zweite  in  der  Volksversamm- 
lung auf  dem  marktplatze  zu  Athen  490  v.  Chr.  zur  zeit  der  scblacht 
bei  Marathon,  die  dritte  scene  spielt  während  der  scblacht  bei  Sala- 
mis auf  Salamis  480  v.Chr.,  die  vierte  bei  der  befreinngsfeier  (Eleu- 
therien)  in  Platää  478  v.  Chr.  declamation,  chor-  und  Sologesang 
wechseln  in  wdrdiger  art :  herolde  und  boten  treten  in  dramatischer, 
rhapsoden  in  lyrisch -epischer  declamation  auf;  der  sängerchor  der 
schule  bildet  den  chor  des  Volkes  und  der  priester  und  geschickt  und 
kunstvoll  sind  eine  reihe  von  arien  und  recitativstellen  aus  berühm- 
ten opern  für  Sologesang  eines  priesters,  eines  greises,  eines  kriegers 
oder  eines  boten  in  den  text  gewoben,  ohne  dasz  das  gefühl  der  Zu- 
sammengehörigkeit gestört  wird,  so  singt  in  der  zweiten  scene  nach 
der  arie  aus  Elias :  fherr  gott  Abrahams'  der  priester  des  Zeus:  fhör' 
mein  flehen  an ,  herr  des  Hellenenvolkes !  lasz  heut  kund  werden, 
dasz  du  gott  bist  und  wir  dein  volk!  Zeus  von  Olympia!'  so  wird 
an  anderer  stelle  die  arie  aus  Paulus :  f  ich  danke  dir,  herr,  mein  gott!' 
geschickt  benutzt  zum  dankliede  für  den  sieg  bei  Platää:  'ich  danke 
dir,  höchster  Zeus!'  hier  und  da  werden  text  und  melodie  auch  fast 
genau  aus  einem  Oratorium  übernommen,  so  ist  am  Schlüsse  der 
dritten  scene  der  lobgesang  aus  Händeis  Judas  Makkabäus  auf  den 
siegreich  heimkehrenden  Themistokles  angewandt:  'seht,  er  kommt 
mit  preis  gekrönt!'  der  text  der  declamation  ist  eigens  zu  dem 
zwecke  gedichtet;  an  einer  stelle,  wo  ein  rhapsode  in  der  vierten 
scene  die  schlacht  von  Platää  besingt,  ist  die  declamation  sogar  eigne 
arbeit  des  schülers,  eines  primaners.  es  ist  hier  etwas  eingebend  auf 
eine  derartig  zusammengestellte  cantate aufmerksam  gemacht  worden, 
weil  mir  eine  solche  auffuhrung  sehr  wohl  dem  geiste  und  den  fähig- 
keiten  einer  höheren  schule  zu  entsprechen  und  der  weiteren  Ver- 
breitung und  nacheiferung  wert  scheint,  eine  andere,  in  derselben 
weise  zusammengestellte  cantate  für  soli,  chor  und  declamation  unter 
dem  titel :  'Widukind,  des  Sachsenherzogs  bekehrung  zum  Christen- 
tum' wurde  gleichfalls  von  dem  gymnasium  zu  Gladbach  aufgeführt, 
von  geeigneten  melodramen,  Oratorien,  gröszeren  und  kleineren  can- 
taten  seien  hier  nach  eigner  erfahrung  und  nach  empfehlung  durch 
sachverständige  collegen  verschiedener  anstalten  genannt: 
Anacker:  bergmannsgrusz,  mit  decl.  Hofmeister,  Leipzig. 
Abt:  Aschenbrödel,  cyclus  von  neun,  durch  declamation  verb.  ge- 

sängen  für  sopran  und  alt.  Offenbach,  bei  J.  Andre. 
Abt:  die  sieben  raben,  mit  decl.  sopran,  alt.  ders.  verlag. 
Abt:  reisebekanntschaften,  volkstümliches  Singspiel,  sopran,  mezzo- 

sopran,  alt,  tenor,  bariton,  basz.  ders.  verlag. 
Abt:  Rotkäppchen,  mit  decl.  sopran,  alt.  ders.  verlag. 
Abt:  Rübezahl,  märchendichtung  mit  decl.  sopran,  alt.  ders.  verlag. 
Abt:  Sneewittchen,  mit  decl.  sopran,  alt.  ders.  verlag. 

Vorgenannte  märchen  kosten  im  clavierauszuge  durchschnitt- 
lich 6  mk. 


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und  declamatorische  schulfeierlichkeiten. 


59 


Abt:  hurrah  Germania!  patriot.  festspiel.  dreistimmiger  jugendchor 

mit  verb.  decl.  ders.  vorlag. 
Abt:  siegesgesang  der  Deutschen  nach  der  Hermannsschlacht,  für 

gemischten  chor  bearbeitet  von  Urban,  vorlag  von  Siegel,  Leipzig. 
Becker:  Columbus,  mit  decl.  Hofmeister,  Leipzig. 
Bellermann:  Ajax  und  die  Hermannsschlacht. 
Börnicke:  Columbus.  Max  Hesse,  Leipzig. 
Bruch:  Normannenzug  (mit  baritonsolo). 
Dratb :  die  monate,  mit  decl.  Merseburger,  Leipzig, 
v.  Haydn  :  die  Schöpfung  und  die  vier  Jahreszeiten. 
Kipper:  Sedan.  Max  Hesse,  Leipzig. 
Kipper:  das  lied  vom  braven  mann.  ders.  vorlag. 
Knauer:  der  gesang,  ein  begleiter  durchs  leben,  mit  decl.  Appun, 

Bunzlau. 

Löwe:  auferweckung  des  Lazarus.  Heinrichshofen,  Magdeburg. 
Löwe:  Johann  Huss. 

Mayer:  das  glöcklein  von  Innisfär  oder  ein  Weihnachtsabend  in 
Schottland,  mit  decl.  G.  Schmid,  Schwabisch-Gmtind. 

Reinecke,  prof.  des  Leipziger  conservatoriums :  mehrere  empfehlens- 
werte compositionen  für  drei  stimmen  mit  verbindender  decla- 
mation. 

M.  Ring:  chöre  aus  der  braut  von  Messina. 
Romberg:  die  glocke.  Peters,  Leipzig. 

J.  Springer:  lustiger  schülerchor.    Siegel  und  Schimmel,  Berlin, 

K  einigst  r.  41c. 
J.  Springer:  der  zwölfjährige  Jesus  im  tempel. 

Von  weniger  umfangreichen  gesängen ,  wie  motetten ,  kleinere 
cantaten,  kirchliche,  patriotische  gesänge,  einzelchöre  und  arien  aus 
Oratorien  und  opern  seien  nach  empfehlung  von  fachmännern  ver- 
schiedener anstalten  und  nach  vergleichung  von  Programmen  noch 
folgende  genannt:  zunächst  einige  Sammelwerke  für  kirchliche 
gesänge:  Krauss  und  Weeber,  kirchliche  chorgesänge.  Kuntze 
op.  122.  leicht  ausführbare  dreistimmige  motetten,  verlag  von  Fr. 
Brandstetter,  Leipzig.  Klein:  14  fest  motetten,  für  gemischten  chor 
bearbeitet  von  Palm6,  verlag  von  Bahn,  Berlin,  vierzig  Choräle  von 
Bach,  für  gemischten  chor  zusammengestellt  von  Nöbring,  verlag 
von  ßreitkopf  und  Härtel,  Leipzig,  für  classischen  chorge- 
sang:  classisches  choralbum  von  Rieh.  Müller  und  Rob.  Schaab, 
clavierauszug  mit  text,  verlag  von  Peters,  Leipzig.  Sammlung  be- 
rühmter arien,  verlag  von  Peters,  Leipzig,  für  allgemeinen  ge- 
sang: Erk  und  Greef,  sängerhain.  Sering,  auswahl  von  gesängen 
für  gymnasien.  7  hefte,  verlag  von  Schauenburg,  Lahr.  Noak  und 
Günther,  liederschatz.  Zanger,  deutscher  liederschatz  für  männer- 
chor,  verlag  von  Hauser,  Neuwied  und  Leipzig,  liederborn  von 
R.  Franz,  verlag  von  Hientzsch,  Breslau,  liederschatz  von  Ballieu, 
Berlin,  Selbstverlag.  Odenwald,  60  Volkslieder ,  für  drei  stimmen 
arrangiert. 


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60    Über  gymnastische,  zuusikal.  und  declamator.  schulfeierlichkeiten. 

Im  einzelnen  sei  noch  von  kirchlichen  gesängen  aufmerk- 
sam gemacht  auf:  Bortniomski:  adoramus.  Bortniomski:  die 
grosze  doxologie,  cbor  und  soloquartett.  Gofctwald:  op.  3,  'gott 
sei  mir  gnädig',  cantate  für  gemischten  chor ,  Orchester  und  orgel. 
vorlag  von  Leuckart,  Breslau.  Grell:  motetten  für  gemischten  chor, 
z.  b.  fherr,  deine  güte  reicht  so  weit1,  op.  13.  Händel:  aus  dem 
Messias :  'ich  weisz,dasz  mein  erlöser  lebt'  unisono  von  er.  12  sopran- 
stimmen, hallelujab,  vierstimmig  mit  begleitung.  classisches  Chor- 
al Im  m  von  Müller  und  Schaab.  H  ay  d  n : f te  deum.'  gemischter  chor. 
Homilius:  die  liebe  gottes,  motette  zu  Weihnachten.  Jomelli 
(1714 — 74):  bitte  um  ein  seliges  ende  (requiem!).  cbor  und  solo- 
quartett, aus  Erauss  und  Weeber  heft  3  nr.  14.  Klinkmüller: 
psalm  100.  Mendelssohn:  ave  Maria,  aus  der  unvollendeten  oper 
Loreley.  knabenchor  mit  sopransolo  (op.  98  nr.  2).  Mendels- 
sohn: die  psaimcompositionen ,  besonders  für  schüler  psalm  100. 
Mendelssohn:  hoflfnung  auf  gott  Krauss  und  Weeber.  Mendels- 
sohn: aus  dem  Elias,  chor  der  engel,  dreistimmiger  chor.  Simrock, 
Berlin.  Mendelssohn  und  Feska:  sechs  verschiedene  chöre,  mit 
berücksichtigung  des  Stimmumfanges  des  gemischten  chors  an 
höheren  schulen  herausgegeben  von  Palme.  op.44heftl.  vertag* 
von  Max  Hesse,  Leipzig.  Mozart:  de  profundis.  Peter  Rogers 
(1620):  'o  hilf  uns  herr.'  Krauss  und  Weeber  heft  2.  von  compo- 
sitionen  mit  patriotischem  inhalte  seien  genannt:  Kothe:  das 
k aiser  1  and.  vorlag  von  Kothe,  Leobschütz.  Kremser:  altnieder- 
ländische Volkslieder.  Lachner:  Makte,  Senex  Imperator,  mit  vier- 
händiger  clavierbegleitung  oder  Orchester.  Löwe:  salvura  fac  regem. 
Mendelssohn:  der  freie  Rhein,  aus  Noak  und  Günther,  liederschatz 
teil  III.  Protze:  ältere  deutsche  märsche  (Torgauer,  Hohenfried- 
berger).  Protze,  Leipzig.  Rietz:  altdeutscher  schlachtgesang,  ein- 
stimmiger männerchor  mit  begleitung.  Ring(?):  Gotenzug,  ein- 
stimmiger männerchor.  Schlichteisen:  Choräle  zur  gedächtnisfeier 
der  kaiser  Wilhelm  I  und  Friedrich  III.  8  ering:  der  trompeter  an 
der  Katzbach,  vierstimmiger  männerchor.  Urban :  gedenkbtichlein. 
sechzehn  geistliche  lieder  für  die  erinnerungstage  der  kaiser  Wilhelm  I 
und  Friedrich  III.  Berlin,  bei Raabe  und  Plothow.  Volkmar:  zum 
Rhein,  vierstimmig,  aus  Zanger,  liederkranz. 

Auf  umfangreichere  lieder  allgemeinen  inhalts  hinzuweisen, 
würde  zu  weit  führen,  doch  sei  hier  auch  für  die  schule  auf  die  be- 
kannten compositionen  für  gesangvereine  von  Abt,  Franz,  Beschnitt, 
Schumann  usw.  hingewiesen,  die  immer  noch  eine  reiche  und  gute 
aus  wähl  bieten. 

(schlusz  folgt.) 

Berent  in  Westpreuszen.  Stoewer. 


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Kaemmel:  deutsche  geschichte. 


61 


5. 

DBÜT8CHE  Geschichte,  von  prof.  dr.  Kaemmel.  Dresden  1889. 
Höckner.  VI  u.  1266  8. 

Ein  jeder  fühlt,  dasz  es  die  würdigste  und  liebste  aufgäbe  des 
gescbichtscbreibers  sein  müsse,  die  geschiebte  des  eignen  Vaterlandes 
zu  schreiben,  dasz  es  aber  die  schwerste  und  undankbarste  aufgäbe 
des  deutschen  geschieb tschreibers  sei,  hat  bisher  noch  jeder  er- 
fahren, der  nicht  nur  zeit  und  fleisz,  sondern  auch  köpf  und  herz 
daran  gewagt,  der  deutsche  leser,  der  eine  geschichte  seines  Vater- 
landes zur  hand  nimmt,  will  sie  mit  doppelt  warmer  empfindung  aus 
der  hand  legen,  allein,  wer  erinnerte  sich  nicht  aus  der  schönsten 
jünglingszeit  jener  häßlichsten  und  schmerzlichsten  erfahrung,  wenn 
er  mit  wärmster  und  reinster  Sehnsucht,  etwa  in  Boettigers  zwei- 
bändiger geschichte  der  Deutschen,  kenntnis  und  Verständnis  seines 
Vaterlandes  suchte  und  immer  wieder  zu  der  Uberzeugung  zurück- 
kehrte: die  geschichte  meines  Vaterlandes  ist  geisttötend  langweilig, 
ein  kummer,  wie  verschmähter  liebe,  presste  das  herz,  langweilig 
aber  ist  nur,  was  der  Vorstellung  kein  vollkommenes  bild  und  dem 
geiste  keinen  faden  zeigt,  der  den  anfang  mit  dem  ende  verbindet. 
Gustav  Freytag  hat  in  künstlerischer  weise  aus  der  deutschen  Ver- 
gangenheit eine  lange  kette  von  so  reizvollen  und  fesselnden  bildern 
gegeben,  dasz  es  seitdem  feststeht,  auch  der  gewissenhafteste  er- 
forseber  der  deutschen  geschiebte  —  denn  das  ist  Freytag  auch  — 
habe  nicht  unbedingt  nötig  langweilig  zu  sein.  Kaemmel  bat  sehr 
wohl  gethan,  sich  ihn  zum  muster  zu  nehmen,  die  zweite  aufgäbe 
ist  dem  Verfasser  der  deutschen  geschichte  durch  die  ereignisse  der 
letzten  zwanzig  jähre  erleichtert,  zum  teil  erst  ermöglicht,  und 
Kaemmel  ist  der  erste,  der  mit  dem  vollen  rüstzeug  einer  auszer- 
ord  entlichen  gelehrsamkeit,  eines  ungewöhnlichen  historischen  tief- 
blicks  und  einer  edlen  begeisterung  es  unternommen  bat,  das  einst 
und  das  jetzt  zu  verbinden ,  das  gewordene  vor  unsern  äugen  und 
unserm  gemüt  werden  zu  lassen,  wenn  auch  der  oberflächlich  ge- 
bildete bedauern  wird,  dasz  der  verf.  grundsätzlich  alles  anekdotische 
verwirft,  ja  bisweilen  absichtlich  auf  die  reize  einer  spannenden  er- 
zählung  verzichtet,  so  wird  der  sinnige  vaterlandsfreund  mit  höch- 
stem interesse  der  darstellung  folgen ,  wie  die  germanischen ,  slavi- 
schen  und  römischen  bildungselemente  jabrhunderte  lang  die  ge- 
staltung  eines  wahrhaft  deutschen  Staates  und  reiches  verhinderten 
und  doch  zugleich  das  fundament  bereiteten,  auf  dem  das  neue  reich 
in  seiner  gegenwärtigen  grösze  erbaut  werden  konnte,  zum  ersten 
male  werden  hier  die  wirtschaftlichen  und  rechtlichen  grundlagen 
nach  den  vortrefflichen  arbeiten  des  verstorbenen  K.  W.  Nitzsch 
stärker  betont,  zum  ersten  male  das  gesamte  deutsche  leben  in  kunst 
und  Wissenschaft  mit  in  den  bereich  der  darstellung  gezogen,  allein 
als  das  eigentliche  ziel,  auf  dessen  erreichung  das  auge  des  Verfassers 
immer  gerichtet  bleibt,  erscheint  doch  die  gründung  eines  starken 


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62 


Kaemmel :  deutsche  geschiente. 


auch  nach  auszen  bin  ehr  furcht  gebietenden  reiches,  obwohl  er  für 
die  eigentümlichkeiten  der  einzelnen  stamme,  wie  für  die  eonder- 
interessen  ihrer  fürsten  ein  gerechteres  Verständnis  an  den  tag  legt, 
als  Treitschke.  auf  jenes  weist  schon  die  vollkommen  neue  und  eigen- 
artige einteilung  hin.  Kaemmel  unterscheidet  nach  dem  aufhören 
des  kampfes  mit  dem  römischen  reiche  (476  nach  Ch.)  nur  zwei 
grosze  Zeiträume,  den  der  reicbsbildungen  auf  germanisch- römischer 
grundlage  (476  oder  481  bis  1273)  und  den  der  auflösung  des 
römisch- deutschen  kaisertums  und  der  entstehung  des  deutschen 
bundesreiches  (1273 — 1871);  den  erstem  behandelt  er  auf  375,  den 
zweiten  auf  819  Seiten,  es  ist  für  die  bedeutung  des  herlichen  Werkes 
von  geringem  belang,  wenn  mancher  leser  bedauern  möchte,  als 
höchstes  ideal  eines  römisch-deutschen  reiches,  das  alle  Vorzüge  des 
deutschen  und  römischen  wesens  in  sich  vereinigte ,  nicht  die  her- 
schaft Karls  des  groszen  dargestellt  zu  sehen,  sondern  die  Friedrichs  I, 
der  doch  schon  zwei  undeutsche  und  unrömische  dinge  lernte:  dasz 
man  durch  knien  bisweilen  mehr  erreiche,  als  durch  kämpfen,  und 
dasz  die  lorbeeren  im  Orient  billiger  seien,  als  in  der  deutschen 
heimat.  der  Verfasser  führt  selbst  aus  (s.  446),  dasz  die  volkssage 
sich  mit  ihrem  schmerz  und  ihrem  hoffen  nicht  an  Barbarossa  an- 
klammerte ,  trotz  seiner  wahrhaft  blendenden  erscheinung ,  sondern 
vielmehr  an  Friedrich  II,  der  beiden  abhold  war,  obwohl  er  die 
deutsche  reiebsgewalt  durch  Zersplitterung  noch  tiefer  erniedrigte, 
als  der  groszvater.  wie  schwer  es  ist,  in  dem  bunten  durcheinander 
von  auflösenden  und  aufbauenden  elementen,  das  man  deutsche  ge- 
schiente nennt,  eine  marke  zu  entdecken,  die  das  neue  vom  alten 
scheide ,  das  zeigt  recht  klar  des  feinsinnigen  und  vaterlandslieben- 
den J.  Möser  Vorschlag  zu  einem  neuen  plan  der  deutschen  reichs- 
geschichte\   er  will  'nach  art  der  epischen  dichter'  die  gänzliche 
Zertrümmerung  der  monarchie  Karls  des  groszen  bis  zum  ausgange 
des  mittelalters  in  eine  einzige  darst eilung  verwandelt  sehen,  die 
gewissermaszen  nur  ein  einleitungscapitel  bilden  solle  zum  Land- 
frieden Maximilians  (1495).  'zu  diesem  verbinden  sich  einige  fürsten 
und  stände,  laden  andere  zu  und  so  kommen  endlich  alle  zu  einem 
gemeinsamen  reichsgericht  und  bundesrecht  mit  vorgeschriebenen 
formen  der  executive.   seitdem  erst  hat  jede  landesobrigkeit  ruhe 
und  zeit  polizei-  und  Verteidigungsanstalten  zu  bessern,  endlich  an- 
dere gute  einrichtungen  folgen  zu  lassen.'  die  ganze  folgende  ge- 
schiente sollte  nur  als  'Verbesserung  oder  Verschlimmerung  des  neuen 
Systems  gelten',  wie  geringen  erfolg  die  vielgerühmten ,  dem  weit 
tiberschätzten  kaiser  Maximilian  mühsam  abgerungenen  reformen 
gehabt  haben,  zeigt  auf  grund  der  besten  forschungen  unser  ge- 
Schichtschreiber  in  überzeugender  weise  (s.  565  f.).  erst  die  voll- 
kommene Zertrümmerung  des  alten  reichsgebäudes  im  dreiszigjähri- 
gen  kriege  konnte  —  nach  unserer  unmaszgeblichen  Überzeugung 
und  eigentlich  auch  nach  K.s  darstellung  —  räum  und  mittel 
schaffen  zum  neubau  auf  dem  gründe  des  rein  'weltlichen  fürsten- 


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Kaemmel :  deutsche  geschieht*. 


63 


tums  und  der  Glaubensfreiheit',  seit  dem  westfälischen  frieden  war 
die  ausschlieszung  des  hauses  Österreich,  das  krampfhaft  an  dem 
römiach-by  zantinischen  gedanken  des  glaubenszwanges  festhielt,  aus 
dem  deutschen  reichsverbande  nur  eine  frage  der  zeit  und  der  macht, 
uoen  nie  ist  es  in  einer  deutschen  geschiente  so  wahr,  so  warm  und 
ao  schön  dargestellt  (s.  787  ff.),  dasz  Friedrich  Wilhelm  von  Branden- 
burg der  erste  deutsche  fürst  war,  der  nicht  nur  eine  mustergiltige 
Ordnung  im  eignen  lande  schuf,  sondern  auch  in  seiner  gesamten 
politik,  wie  er  selbst  1661  sagte,  nicht  kaiserlich,  nicht  spanisch, 
nicht  französisch,  nicht  schwedisch,  vielmehr  einzig  'gut  reichisch' 
gesinnt  war.  von  diesem  Zeitpunkt  an  gewinnt  die  darstellung 
Kaemmels  natur-  und  saebgemäsz  an  einheit  und  kraft,  er  zeigt, 
wie  aueb  die  edlen  bestrebungen  der  kaiserin  Maria  Theresia  und 
Josefs  II,  ja  mancher  andern  deutschen  fürsten,  nach  preuszisebem 
muster  im  eignen  lande  zu  reformieren,  die  erstarrte  reichsverfas- 
sung  unberührt  lieszen  und  die  ohnmacht  des  kaisertums  nur  sicht- 
barer machten  (s.  949).  wohl  hat  er  für  die  Verlassenheit  und  Ver- 
legenheit der  Rheinbundfürsten  gerechte  und  milde  (s.  1033),  für 
den  niedergang  Österreichs  seit  1810  (s.  1068)  tiefbeklagende  und 
doch  nur  allzu  wahre  worte,  aber  zu  ergreifender  Schönheit  schwingt 
sich  die  Schilderung  der  reform  in  Preuszen  (s.  1053)  sowie  der 
freiheitskriege  auf  und  ermattet  auch  nicht  in  der  darstellung  der 
tiefen  erniedrigung  des  gesamten  deutschen  Volkstums  in  der  zeit 
von  1815—1858.  dasz  die  erzählung  dergroszen  thaten  und  Schick- 
sale von  1864 — 1871  unter  dem  dränge,  einen  abschlusz  zu  ge- 
winnen, gar  zu  kurz  fortgekommen  ist,  wird  jeder  vaterlandsfreund 
bedauern;  um  so  mehr,  als  die  60  Seiten  stellen  genug  enthalten, 
welche  den  lebhaftesten  wünsch  erzeugen ,  dasz  gerade  dieser  gott- 
begnadete Verfasser  auch  Deutschlands  neugestaltung  —  etwa  in 
doppelter  oder  dreifacher  Ausführlichkeit  —  der  pbantasie  und  dem 
herzen  der  nachgeborenen  einzuprägen  vor  andern  berufen  ist.  ge- 
wis  wird  die  nächste  aufläge  auch  diesen  wünsch  erfüllen,  ohne  da- 
durch den  sonst  so  bequemen  umfang  des  buches  zu  vergröszern. 
wenn  wir  auch  heute  nicht  mehr  der  ansieht  Mösers  huldigen,  dasz 
alles,  was  vor  1495  das  deutsche  volk  gethan  und  gelitten,  nur  als 
einleitung  zu  behandeln  sei,  wenn  wir  auch  keineswegs  die  ge- 
schieht« des  römischen  kaisertraumes  zu  sehr  verkürzt  sehen  möchten, 
so  glauben  wir  doch,  dasz  sich  der  platz  gewinnen  liesze.  einer  der 
gprösten  Vorzüge  von  K.s  deutscher  geschichte  besteht  darin ,  dasz 
fast  jeder  deutsche  stamm,  ja  manche  deutsche  Stadt,  manche  deutsche 
familie  ihre  thaten  und  Schicksale  darin  wiederfindet,  nur  ein  so 
eingeweihter  und  gelehrter  forscher  konnte  sich  solche  riesenaufgabe 
stellen,  trotzdem  wird  ein  groszer  teil  der  leser  hier  gern  über- 
schlagen und ,  da  gerade  zum  überschlagen  kenntnis  und  Übung  ge- 
hört, wohl  gar  das  ganze  buch  zuschlagen,  auch  agrarische  und 
rechtliche  Verhältnisse  sowie  Schlachtenschilderungen  haben  für  die 
Vorstellungskraft  und  den  verstand  einen  geringen  reiz,  wenn  nicht 


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64 


Personalnotizen. 


fortwährende  vergleiche  einen  bequemen  maszstab  an  die  hand 
geben,  was  das  in  seiner  art  einzige  werk  durch  solche  beschrän- 
kungen  an  wissenschaftlichem  werte  verlöre,  würde  es  an  künst- 
lerischem gewinnen,  um  so  heller  würden  dann  jene  wunderbaren, 
eines  Ranke  nicht  unwürdigen,  geistesblitze  leuchten  (s.  16.  100. 
137.  260.  871  usw.),  mit  welchen  Eaemmel  den  beschwerlichen  weg 
erhellt,  den  das  deutsche  volk  hat  wandeln  müssen,  um  zu  seiner 
heutigen  macht  emporzuklimmen,  wir  verzichten  gern  auf  eine  be- 
sprechung  einzelner  stellen  und  danken  dem  Verfasser,  dasz  er  dem 
deutschen  volke  von  1890  eine  seiner  und  der  zeit  würdige  darstel- 
lung  der  deutschen  geschichte  geboten  hat,  die  in  keiner  schüler-, 
ja  in  keiner  familienbibliothek  fehlen  sollte. 

Dresden.  Diestel. 


Ernennungen,  befttrderungen,  Verteilungen,  amzelchnnnge». 

Albert,  dr.,  privatdoc.  in  der  philo»,  facultät  der  univ.  Halle,  zum 


Birch-Hirschfe  1  d ,  A.,  dr.,  prof.  an  der  univ.  Gieszen,  als  ord.  prof. 

der  romanischen  sprachen  an  die  univ.  Leipzig  berufen. 
Braun,  M.,  dr.,  prof.  an  der  univ.  Rostock,  als  ord.  prof.  der  Zoologie 

an  die  univ.  Königsberg  berufen. 
Keil,  Br.,  dr.,  ord.  Iehrer  am  Sophien-gymn.  in  Berlin,  als  aord.  prof. 

der  class.  philologie  an  die  univ.  Straszburg  berufen. 
Klein,  B.,  dr.,  privatdoc.  in  der  pbilos.  facultät  der  univ.  Marburg, 

zum  aord.  prof.  ernannt. 
Koken,  £.,  dr.,  privatdoc.  in  der  philos.  facultät  der  univ.  Berlin,  ala 
ord.  prof.  der  mineralogie  und  geologie  nach  Königsberg  berufen. 
Schmidt,  C,  dr.,  ord.  Iehrer  am  gymn.  in  Elberfeld,  als  rector  des 
progymn.  in  Sobernheim  berufen. 


am  18  dec.  prof.  dr.  Schnelle,  rector  der  fürstenschule  zu  Grimma, 
am  26  dec.  dr.  Heinrich  Schliemann,  der  bekannte  altertumsforsch  er, 

zu  Neapel  im  69n  lebensjahre. 
am  20  jan.  geh.  ministerialrat  dr.  Otto  Gilbert  zu  Dresden,  um  die 

entwicklung  des  sächsischen  Schulwesens  vielverdient. 


6. 

PERSONALNOTIZEN. 


Gettoi-beni 


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ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜR  GYMNASIAIPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT  AUSSCHLUSS   DER  CLA88I8CHKN  PHILOLOOIK 

HERAUSOEGEBEN  VON  PROF.  DR.  HERMANN  MA8IUS. 


7. 

DAS  DAKTYLO  -  EPITRITISCHE  VER8MASZ  BEI  PIN  DAR 
UND  DIE  NEUERE  RHYTHMOLOGISCHE  THEORIE. 


Die  daktylo-epitri tischen  atrophen  bei  Pindar  bestehen  aus  zwei 
dementen,  die  gewöhnliche  grundform  des  einen  dementes  ist  eine 
wenigstens  anscheinende  daktylische  tripodie,  deren  letzter  fusz  ein 
spondee  ist:  xv«  a— ,  während  das  epitritische  versmasz  teils 
in  einzelnen  sich  an  dieses  Schema  am  ende  oder  am  anfange  an- 
schlieszenden  füszen,  teils  in  selbständigen  stichischen  dipodien  oder 
tripodien  aufzutreten  pflegt,  es  entsteht  hieraus  ein  schöner,  ein- 
facher und  kraftvoller  rbythmus ,  dessen  genauere  herstellung  aber 
wohl  nicht  allein  nach  den  anschauungen  und  grundsätzen  der  neue- 
ren rhytbmologiscben  schule  erfolgen  dürfte,  man  hat  diese  grund- 
sätze  wohl  vielfach  überschätzt  und  es  sind  bereits  spuren  einer 
reaction  des  rein  metrischen  oder  eigentlich  sprachwissenschaftlichen 
Standpunktes  in  dieser  frage  hervorgetreten,  es  ist  freilich  wahr, 
dasz  das  antike  versmasz  im  allgemeinen  immer  von  dem  rhythmus 
der  musik  begleitet  gewesen  ist;  aber  sowohl  die  alten  als  auch  die 
neueren  rbythmologen  scheinen  doch  die  ganz  besondere  eigenart 
und  den  scharf  ausgeprägten  Charakter  der  antiken  metrischen  form 
übersehen  und  in  manigfacher  weise  verkannt  oder  verunstaltet  zu 
haben,  man  lasse  sich  hierbei  nicht  imponieren  durch  die  autorität 
der  zum  teil  in  falschen  oder  doch  schiefen  Aristotelischen  Vorstel- 
lungen befangenen  antiken  theoretiker  selbst,  wir  stehen  den  metri- 
schen kunst werken  oder  Schöpfungen  des  altertums  doch  zuletzt 
immer  in  einer  ganz  ähnlichen  weise  gegenüber  als  dieses  im  Ver- 
hältnis zu  den  werken  seiner  sichtbaren  kunst  der  fall  ist.  hier  fragt 
der  archöolog  doch  immer  nur  darnach ,  was  das  an  der  sache  ihrer 
selbst  wegen  schöne,  richtige  oder  angezeigte  sei.  die  Schönheit  des 
antiken  versmaszes  aber  verstehen  auch  wir  aus  ihm  selbst  und 

N.  j»hrb.  f.  phil.  u.  päd.  IL  «bt.  1891  hfl.  2.  5 


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66  Das  daktylo-epitritiache  versmasz  bei  Pindar 


seinen  eignen  Verhältnissen  heraus  zu  würdigen,  während  der  musi- 
kalische rhythmus  doch  immer  nur  etwas  äuszerliches  und  accesso- 
risch  zu  ihm  hinzutretendes  gewesen  ist.  alles  versmasz  aber  ist 
zuerst  und  vor  allem  eine  erscheinung  oder  inhärenz  auf  der  einen 
seite  an  der  spräche  und  auf  der  anderen  am  wesen  oder  gehalt  der 
poesie  und  es  wird  dasselbe  darum  nur  von  hier  aus  in  seiner  wahren 
natur  erkannt  oder  begriffen  werden  können. 

Jene  daktylische  tripodie  glauben  wir  vielmehr  als  eine  tetra- 
podie  auffassen  zu  müssen,  deren  letzte  beide  thesen  vom  sprach- 
lichen silbenstoff  unausgefüllt  geblieben  sind :  ±ww.l~~j.axa. 
hierauf  scheint  schon  die  doppelte  lange  silbe  am  ende  derselben 
hinzuweisen,  überhaupt  möchten  wir  das  ganze  schema  einer  dak- 
tylischen tripodie  eigentlich  für  eine  Unmöglichkeit  oder  ein  künst- 
lerisches unding  erklären,  man  läszt  neuerlich  auch  gern  den  hexa- 
meter  aus  der  Vereinigung  einer  doppelten  solchen  tripodie  entstehen, 
alle  diese  einfachen  versmasze  aber  sind  zuerst  doch  wohl  immer  nur 
in  einer  geraden  zahl  von  füszen  als  tetrapodien  und  dipodien  zu 
versen  vereinigt  worden,  auch  der  hexameter  ist  wohl  wie  alle  an- 
dern ähnlichen  langverse  aus  der  Vereinigung  zweier  kürzerer  stro- 
phischer verse,  einer  tetrapodie  und  einer  dipodie  entstanden,  die 
älteste  oder  natürliche  cäsur  ist  deswegen  auch  gewis  die  am  ende 
des  vierten  fuszes  gewesen,  an  das  gegebene  motiv  und  vorbild  des 
sechsfüszigen  daktylischen  versmaszes  schlieszt  sich  wohl  auch  die 
hier  vorliegende  tetrapodie  an.  alle  diese  einzelnen  versmasze  sind 
jedenfalls  naturgemäsz  und  in  organischer  weise  das  eine  aus  dem 
andern  entstanden,  das  letzte  dritteil  des  hexameters  trägt  auch  jetzt 
immer  noch  einen  besonderen  und  in  beschleunigter  folge  dem  ab- 
schlusz  zueilenden  Charakter,  in  dem  daktylo-epitritischen  langvers 
aber,  mit  dem  sogleich  die  dritte  olympische  ode  bei  Pindar  eröffnet, 
ist  an  der  steile  dieses  dritteiles  der  in  seiner  länge  damit  einstim- 
mige epitritische  fusz  eingeschoben  worden:  -iww  iA:*|iwi», 
zu  einleitender  Vorbereitung  auf  diesen  ungewöhnlichen  ausgang 
aber  sind  die  beiden  letzten  sprachlichen  thesen  der  tetrapodie  aus- 
gefallen oder  eliminiert  worden,  ein  solcher  ausfall  des  sprachlichen 
silbenstoffes  aber  im  unveränderten  fortgang  des  rhythmus  geschieht 
niemals  ohne  irgend  einen  grund,  sondern  hat  überall  einen  ganz 
bestimmten  künstlerischen  zweck  oder  effect.  es  wird  durch  den- 
selben immer  eine  bestimmte  erwartungsvolle  Spannung  oder  gestei- 
gerte intensität  des  poetischen  empfindens  hervorgerufen,  es  darf 
also  mit  dieser  ganzen  erscheinung  keineswegs  blosz  in  einer  äuszer- 
lich  gleichgültigen  oder  mechanischen  weise  operiert  und  umgegangen 
werden,  es  werden  z.  b.  wohl  auch  die  sogenannten  Ionici  a  minori 
— ü  richtiger  als  anapästische  verse  unter  ausfall  der  zweiten  sprach- 
lichen these  der  dipodie  anzusehen  sein :  aber  der  effect  oder 
das  ethos  dieser  verse  ist  immer  ein  ganz  anderes  als  das  der  reinen 
oder  vollständigen  anapästen ;  z.  b.  Aesch.  Pers.  TT€7T^paK€V  Jli^V  6 
TTepdnToXic  fjbr|  usw.,  wobei  auch  zugleich  eine  bestimmte,  angstvoll 


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und  die  neuere  rhythmologische  theorie.  67 

gespannte  seelenstimmung  zum  ausdruck  gelangt,  überhaupt  gehen 
Vier  aus  immer  die  manigfachsten  mittel  und  modificationen  in  der 
rhythmischen  ausmalung  des  poetischen  empfindens  hervor,  die  dak- 
tylische tetrapodie  aber  wird  in  diesen  Strophen  gelegentlich  wohl 
auch  einmal  vollständig  vom  sprachlichen  silbenstofif  ausgefüllt,  sie 
bildet  überall  das  eine  wesentliche  haupt-  oder  grundmotiv  der- 
selben ,  wenn  auch  ihre  äuszere  form  oder  stilistische  durchführung 
gewissen  weiteren  Variationen  unterliegt. 

Das  andere  element  ist  das  epi  tri  tische,  welches  sich  an  sich 
oder  seiner  entstehung  nach  an  den  trochäischen  rbytbmus  an- 
schlieszt.  das  Schema  der  epitriten  ist  anscheinend  dasselbe  als  das 
einer  trochäischen  dipodie  mit  verlängerter  zweiter  thesis.  die  zahl 
der  sprachlichen  moren  ist  für  beide  formen  die  gleiche,  7,  während 
die  reine  oder  zeitliche  länge  der  trochäischen  dipodie  notwendig 
auf  8  moren  zu  veranschlagen  ist  wir  halten  es  nemlich  für  ein 
unbedingtes  erfordernis,  dasz  auch  im  zweisilbigen  oder  trochäisch- 
iambischen  versmasz  die  reine  oder  zeitliche  länge  der  thesis  not- 
wendig oder  doch  bei  jedem  genauen  und  richtigen  Vortrag  die 
gleiche ,  d.  i.  die  von  zwei  moren ,  sein  müsse ,  als  die  der  arsis.  es 
würde  auszerdem  durchaus  unmöglich  und  unerträglich  sein,  dasz 
zuweilen  und  an  gewissen  stellen  die  thesis  durch  Verlängerung  dieses 
masz  erreichen  könnte,  bei  einem  jeden  aufmerksamen  und  correc- 
ten  Vortrag  macht  sich  ganz  von  selbst  das  bedürfnis  geltend,  durch 
hinzufügung  einer  zweiten  leeren,  blinden  oder  gleichsam  in  der  luft 
schwebenden  mora  der  thesis  des  fuszes  das  gleiche  gewicht  oder  die 
gleiche  zeitliche  länge  zu  geben  als  der  arsis.  das  richtige  Schema 
der  trochäischen  und  der  iambischen  dipodie  ist  daher  allein  dieses : 
iwA^,^iAvi.  die  zeitliche  länge  der  füsze  dieses  versmaszes 
ist  daher  überhaupt  vollkommen  dieselbe  als  bei  dem  dreisilbigen 
oder  daktylisch-anapästischen  versmasz,  nur  dasz  bei  dem  letzteren 
die  thesis  überall  vollständig  durch  den  sprachlichen  silbenstofif  aus- 
gefüllt wird,  es  sind  daher  z.  b.  auch  der  iambische  trimeter  und 
der  daktylische  hexameter  zwei  verse  von  der  gleichen  reinen  oder 
zeitlichen  länge,  d.  i.  von  24  moren,  während  die  zahl  der  sprach- 
lichen moren  bei  dem  ersteren  18  —  21,  bei  dem  letzteren  23  —  24 
beträgt,  das  antike  versmasz  hat  überhaupt  sein  ganz  eignes  rhyth- 
misches oder  zeitliches  gesetz  für  sich,  welches  vollkommen  unab- 
hängig ist  von  der  künstlichen  rhythmischen  begleitung  durch  die 
musik.  man  musz  hierüber  das  auge  aufmachen,  um  sich  zu  befreien 
von  den  unheilvollen  und  verkehrten  einflössen  der  neueren  rhyth- 
mologischen  theorie.  die  ganze  natur  und  der  begriff  des  metrischen 
fuszes  ist  durch  diese  vollständig  verkannt  und  verunstaltet  worden, 
das  antike  versmasz  hat  überhaupt  eine  ganz  eigne  und  selbständige 
theorie  oder  wissenschaftliche  kunstlehre  für  sich,  welche  den  neue- 
ren rhythmologischen  bestrebungen  gegenüber  in  ihrer  reinheit  auf- 
recht erhalten  und  hergestellt  werden  musz. 

Die  antike  rhythmologische  theorie  schlosz  sich  bei  ihrer  auffas- 

5* 


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68 


Das  daktylo-epitritische  versmasz  bei  Pindar 


sung  der  einheit  des  fuszes  allein  an  das  Verhältnis  der  äuszerlichen 
länge  oder  der  sprachlichen  morenzahl  der  arsis  und  thesis  an.  da  der 
langen  zweizeitigen  arsis  im  ganzen  nur  entweder  im  trocbäisch-iambi- 
schen  versmasz  eine  einfache  oder  im  daktylisch-anapästischen  eine 
zweifache  oder  endlich  im  päonischen  eine  dreifache  kurze  einzeitige 
silbe  in  der  thesis  zur  seile  gestellt  werden  kann,  so  ergab  sich  hieraus 
die  lehre,  dasz  nur  in  der  dreifachen  Zahlenproportion  2:1,  2:2,  2:3 
oder  in  den  Verhältnissen  des  doppelten  zum  einfachen,  des  gleichen 
zum  gleichen  und  des  einfachen  zum  anderthalbfachen  der  künst- 
lerische Charakter  oder  die  entscheidende  eigentümlich keit  der  drei 
rhythmengeschlechter  oder  stilgattungen ,  des  sogenannten  yivoc 
biTrXdciov,  T-  fcov  und  T-  rmiöXiov  enthalten  sein  könne,  diese 
theorie  gründete  sich  jedenfalls  zunächst  auf  eine  analogie  und  Uber- 
tragung  der  schon  von  den  Pythagoreern  gemachten  beobachtung 
über  die  arithmetischen  oder  meszbaren  Verhältnisse  der  töne  in  der 
musik.  man  glaubte  also  hierin  gleichsam  eine  sichere  oder  ezacte 
basis  für  die  auffassung  der  Verhältnisse  des  versmaszes  zu  besitzen, 
es  kam  ferner  hinzu  die  falsche  anwendung  der  beiden  begriffe  des 
puOuoc  und  des  puGjji£oue  vo  v,  von  denen  jener  im  sinne  des  Aristo- 
teles das  reine  oder  allgemeine  formprincip,  dieser  aber  den  speciel- 
len  empirischen  stoff  oder  das  material  alles  zeitlich  schönen,  also 
einmal  den  ton  der  musik,  dann  das  versmasz  oder  die  spräche, 
XÖic,  endlich  das  orchestische  element  in  marsch  oder  tanz  in  sich 
vertrat  oder  umfaszte.  das  musikalische  tonelement  aber  schien  als 
der  reine  ausdruck  des  rhythmischen  formprincipes  an  sich  zu  gelten 
und  es  wurde  dasselbe  in  einer  ungeschickten,  pedantischen  und 
täppischen  weise  auf  den  hiervon  völlig  verschiedenen  Charakter  des 
versmaszes  übertragen,  beide,  musik  und  versmasz,  grenzen  an  ein- 
ander und  werden  von  einander  begleitet,  sind  aber  doch  immer 
ihrem  wesen  und  ihrer  structur  nach  unbedingt  verschieden,  die 
töne  der  musik  differieren  von  einander  wesentlich  immer  nur  nach 
der  höhe  und  tiefe  ihrer  läge,  während  das  versmasz  sich  immer  nur 
aus  der  doppelten  differenz  der  sogenannten  quantität  oder  zeitlichen 
länge  und  der  stärke  des  tones  oder  dem  accente  der  einzelnen  silben 
der  spräche  erbaut,  alle  ausdehnung  oder  dimension  des  tones  kann 
an  sich  immer  nur  diese  dreifache  der  höhe,  der  länge  und  der  stärke 
desselben  sein,  die  erste  von  ihnen  aber  ist  der  musik  specifisch 
eigentümlich,  während  sie  sich  mit  der  spräche  an  und  für  sich  nicht 
regelmäszig,  sondern  nur  im  gesange  zu  verbinden  pflegt,  alles  auf- 
und  nieder  wogen  des  tones  in  der  dimension  der  höhe  ist  an  sich  der 
natürliche  und  specifische  ausdruck  einer  inneren  subjectiven  em- 
pfindungsbewegung  der  seele,  welcher  der  spräche  als  dem  ausdruck 
des  denkens  eigentlich  fremd  ist  und  sich  nur  als  eine  gelegentliche 
unterstützende  coloratur  oder  in  einzelnen  füllen ,  wie  bei  der  er- 
höhung  des  tones  in  der  frage,  mit  ihr  verbindet,  alles  zusammen- 
werfen des  sprachlichen  oder  metrischen  aecentes  mit  der  musika- 
lischen tonhöhe  ist  vollkommen  falsch  und  verwerflich,  sondern  es 


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und  die  neuere  rbythmologiache  theorie. 


69 


ißt  der  metrische  accent  oder  ictus  seiner  physischen  beschaffenheit 
nach  vollkommen  derselbe  als  der  gewöhnliche  oder  prosaische  wort- 
accent  selbst,  nur  dasz  seine  Stellung  im  versmasz  allein  durch  den 
unterschied  der  quantität  oder  der  länge  der  silben  bestimmt  wird, 
die  regel  des  antiken  versmaszes  ist  überall  blosz  die,  dasz  der  accent 
seine  sonstige  Stellung  in  der  silbengruppe  des  Wortes  verläszt  und 
zu  einem  bloszen  unterscheidungscharakter  der  langen  und  der  kurzen 
silben  der  spräche  wird,  das  antike  versmasz  kennt  deswegen  an 
sich  nur  den  unterschied  der  beiden  classen  der  betonten  langen  und 
der  unbetonten  kurzen  silben  der  spräche,  wenn  auch  gelegentlich 
wohl  das  kurze  silbenelement  in  der  arsis  für  das  lange  und  umge- 
kehrt das  lange  in  der  thesis  für  das  kurze  functioniert.  eben  hieraus 
aber  geht  die  volle  und  sinnlich  schöne  plastische  abrundung  des« 
selben  im  unterschied  von  dem  immer  an  den  gewöhnlichen  wort- 
accent  gebundenen  neueren  versmasz  hervor,  alles  versmasz  ist  eine 
baukunst  aus  den  beschaffenheiten  oder  bestandteilen  der  spräche 
und  wird  hierdurch  zu  einer  wohnstätte  für  den  empfindungsgehalt 
des  denkens  der  poesie,  während  die  musik  nur  an  dem  reinen  inne- 
ren oder  subjectiven  empfindungsieben  der  seele  haftet. 

Es  ist  schlechthin  unmöglich  oder  unfaszbar,  dasz  dasspecifische 
der  einzelnen  versmasze  in  den  bloszen  äuszerlichen  Verhältnissen 
der  sprachlichen  morenzahlen  der  arsis  und  thesis  enthalten  sein 
könne,  es  kommen  hierbei  überall  noch  alle  andern  eigenschaften 
oder  bestandteile  des  fuszes  in  betracht.  wir  glauben  auch  für  den 
viersilbigen  oder  päonischen  rhythmus  das  gleiche  gesetz  oder  die 
gleiche  naturgemäsze  forderung  in  anspruch  nehmen  zu  müssen,  dasz 
die  reine  oder  zeitliche  länge  beider  hälften  des  fuszes  immer  nur 
dieselbe ,  d.  i.  die  von  zwei  moren  sein  könne,  die  wirkliche  länge 
einer  jeden  der  drei  kurzen  tbctischen  silben  kann  hier  nur  auf  den 
betrag  einer  halben  zeitlichen  mora  veranschlagt  werden  und  es  tritt 
dann  zur  ergänzung  noch  eine  vierte  halbe  leere  oder  blinde  mora 
hinzu,  das  bedürfnis  einer  solchen  engeren  zusammenziehung  des 
thetischen  silbenstoffes  macht  sich  hier  überall  ganz  von  selbst  gel- 
tend und  es  wird  dann  wohl  auch  gelegentlich  einmal  der  vierte 
halbe  leere  zeitteil  mit  vom  sprachlichen  silbenstoff  ausgefüllt,  wir 
sehen  z.  b.  den  vers  Pindar  Pyth.  II  3 

ßa8U7TOX^|iOU  x^uevoc  vAp€OC  övbpujv 
als  eine  reihe  von  vier  mit  der  thesis  anfangenden  päonischen  füszen 
unter  zunehmend  fortschreitender  Verkürzung  des  sprachstoffes  an: 

w  ^  ^  w  1.    Awww«    \   \  v/  v  -  /\  A  A  A  « 

Nicht  weniger  aber  macht  sich  auch  immer  das  naturgemäsze 
bedürfnis  einer  zunehmenden  Verstärkung  des  arsischen  accentes  im 
Verhältnis  zu  der  anzahl  der  kurzen  thetischen  silben  geltend ,  was 
z.  b.  deutlich  in  den  gemischten  versen : 
rex  Olympie  caelicola 

und 

pinifer  Olympus  et  Ossa 


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70 


Das  daktylo-epitritische  veremasz  bei  Pindar 


hervortritt,  das  richtige  Schema  aller  dieser  einfachen  von  der  arsis 
und  von  der  thesis  anfangenden  füsze  ist  daher  überhaupt  dieses: 

*  »         //  090  A 

A  ß    —  vx       ^    —  w  \*  sx  A 

A  t  **  A 

A  — .  |    w  w  —  |    A  w  w   

Was  wir  in  der  einheit  des  fuszes  mit  einander  vergleichen,  sind 
überall  nur  die  allgemeinen  gesamtbeschaffenheiten  seiner  beiden 
hälften,  der  arsis  und  thesis.  es  musz  zwischen  diesen  beiden  hälften 
notwendig  immer  eine  bestimmte  gegensätzliche  Verschiedenheit  und 
ebenso  auch  ein  bestimmtes  gleichge wicht  stattfinden,  weder  ein 
Verhältnis  der  einfachen  Verschiedenheit  noch  ein  solches  der  voll- 
kommenen gleichheit  wird  jemals  künstlerisch  schön  oder  wohlge- 
fällig genannt  werden  können,  arsis  und  thesis  sind  einander  ihrer 
zeitlichen  länge  nach  in  allen  drei  versmaszen  gleich ,  während  die 
stärke  des  arsischen  accentes  und  die  zahl  der  thetischen  silben  immer 
in  einem  bestimmten  proportionierten  Verhältnis  stehen,  es  ist  dieses 
das  Verhältnis  eines  ästhetischen  major  und  minor  oder  einer  an  sich 
stärkeren  und  einer  schwächeren  half te  eines  ganzen,  von  denen  aber 
doch  die  letztere  immer  wieder  der  ersteren  in  gewisser  weise  als 
gleichgewichtig  oder  gleichwertig  an  die  seite  tritt,  der  unterschied 
der  drei  arten  des  versmaszes  ist  wesentlich  nur  der,  dasz  der  con- 
trast  oder  die  gegensätzliche  Spannung  beider  hälften  des  fuszes  auf 
der  grundlage  ihres  allgemeinen  gleichgewichtes  zunehmend  eine 
höhere  oder  schärfere  ist.  hierauf  gründet  sich  auch  der  besondere 
Charakter  oder  das  ethos  und  die  verschiedene  Verwendbarkeit  der- 
selben zu  den  zwecken  der  poesie.  es  sind  dieses  gleichsam  drei 
wellen  von  verschiedener  höhe,  welche  der  rhythmus  der  spräche  im 
dienste  der  poesie  schlägt  und  durch  die  sich  die  innere  Eigentüm- 
lichkeit und  die  gebrauchsanwendung  derselben  bestimmt. 

Durch  das  vorantreten  des  kurzen  thetischen  silbenelementes 
wird  das  gewicht  oder  die  bedeutung  desselben  immer  um  ein  be- 
stimmtes erhöht  und  es  haben  infolge  hiervon  alle  von  der  thesis 
anfangenden  versmasze  einen  lebhafteren  oder  erregteren  Charakter 
als  die  von  der  arsis  anfangenden,  hierbei  aber  ist  die  meinung 
durchaus  zu  verwerfen ,  als  ob  die  erste  einleitende  thesis  oder  ana- 
krusis  überhaupt  nicht  mit  zum  eigentlichen  rhythmus  des  vers- 
maszes gehöre  oder  dieses  an  sich  notwendig  nur  mit  der  arsis  an- 
fangen könne,  es  sind  aber  aus  diesen  einfachen  versmaszen  zuerst 
alle  weiteren  rhythmen  durch  modification  oder  eliminierung  ein- 
zelner elemente  entstanden,  das  griechische  versmasz  ist  hierdurch 
ungemein  reichhaltig  an  formen  für  die  ausmalung  besonders  gestei- 
gerter oder  exceptioneller  effecte  des  poetischen  empfindens. 

Nicht  weniger  als  der  begriff  des  fuszes  ist  auch  der  des  verses 
von  der  antiken  rhythmischen  theorie  vollkommen  verkannt  und 
falsch  aufgefaszt  worden,  man  sah  in  ihm  wesentlich  nur  einen  ver- 
gröszerten  fusz  und  nicht  eine  andere  und  selbständige  metrische 
einheit  für  sich,   weil  der  vers  im  allgemeinen  durch  die  cäsur  in 


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und  die  neuere  rhythmologiache  theorie. 


71 


zwei  hiilften  geteilt  wird,  30  glaubte  man  dieses  Verhältnis  nach  der 
analogie  der  beiden  teile  des  faszes ,  der  arsis  und  thesis ,  auffassen 
zu  müssen,  die  erste  hälfte  des  verses  sollte  demnach  auch  die  höher 
oder  stärker  betonte  sein  als  die  zweite,  dieses  ist  vollkommen  irrig, 
ebenso  wie  auch  die  ansieht,  dasz  nur  die  erste  arsis  des  verses  einen 
höheren  oder  stärkeren  ton  habe  als  die  folgenden,  ein  vers  besteht 
vielmehr  an  sich  oder  seinem  reinen  Charakter  nach  nur  aus  einer 
bestimmten  anzahl  oder  reihe  einzelner  gleichartiger  metrischer 
füsze,  zwischen  welche  nur  des  notwendigen  wechseis  wegen  gewisse 
ähnliche  prosodische  ftisze  eingeschoben  zu  werden  pflegen,  die  ganze 
einheit  des  verses  ist  deswegen  eigentlich  nur  dazu  da,  das  einfache 
vorstellungsbild  oder  silbenschema  eines  bestimmten  metrischen 
fuszes  durch  dessen  mehrmalige  Wiederholung  für  uns  zu  einer  nach- 
drücklichen und  wirksamen  künstlerischen  geltung  zu  bringen,  der 
einzelne  fusz  für  sich  allein  hat  noch  keinen  künstlerischen  wert  oder 
charakter,  weil  er  als  solcher  nur  der  gewöhnlichen  oder  prosaischen 
rede  angehört,  die  einheit  des  verses  ist  insofern  an  und  für  sich 
nichts  als  ein  umschlieszender  rahmen  für  das  in  ihm  erscheinende 
bild  der  einheit  des  fuszes.  er  hat  auszerdem  allerdings  ebenso  wie 
ein  solcher  rahmen  auch  einen  bestimmten  kunstcharakter  für  sich, 
indem  er  namentlich  durch  die  cäsur  der  regel  nach  in  zwei  einander 
proportionierte  hälften  geteilt  wird,  dieses  ist  mindestens  bei  dem 
längeren  und  selbständigen  auszerstrophischen  verse  der  fall,  dieser 
vers  ist  im  ganzen  in  der  echten  und  classischen  poesie  der  Griechen 
ein  vierfacher,  und  zwar  einmal  der  sechsfüszige  iambische  und  dak- 
tylische und  anderseits  der  achtfüszige  trochäische  und  anapästische 
vers.  hierin  aber  zeigt  sich  ein  bestimmtes  gesetz  oder  eine  charak- 
teristische erscheinung  für  den  wahren  und  echten  künstlerischen 
sinn  der  Griechen,  das  von  der  thesis  anfangende  oder  ansteigende 
zweisilbige  iambische  und  das  von  der  arsis  anfangende  oder  abstei- 
gende dreisilbige  daktylische  versmasz  haben  als  die  strenge  oder 
sollenne  form  ihres  auftretens  die  kürzere  form  des  trimeter  oder 
hexameter,  umgekehrt  aber  das  von  der  arsis  anfangende  absteigende 
trochäische  und  das  von  der  thesis  anfangende  ansteigende  anapä- 
stische versmasz  die  längere  form  des  tetrameters  für  sich  verlangt, 
die  entgegengesetzten  Verbindungsformen  aber  sind  von  den  Griechen 
im  allgemeinen  nicht  gebilligt  worden  oder  doch  nicht  in  den  regel- 
mäßigen und  stehenden  gebrauch  der  poesie  übergegangen,  gelegent- 
lich und  in  zeiten  der  entartung  ist  allerdings  fast  alles  nur  mög- 
liche versucht  worden ,  während  der  strenge  und  classische  stil  der 
kunst  immer  das  eigentlich  schöne  von  dem  falschen  und  erkünstelten 
unterscheidet,  trochäische  und  anapästische  trimeter  sind  als  regel- 
mäszige  formen  misfällig  gewesen  und  höchstens  ausnahmsweise  zu 
gewissen  zwecken  gebildet  worden ,  wie  denn  überhaupt  auch  das 
an  sich  nicht  oder  doch  weniger  schöne  zuweilen  an  gewissen  stellen 
in  der  kunst  seine  Verwendung  findet,  die  vierfüszige  daktylische 
zeile  kommt  als  ein  strophisches  element  vor;  aber  auch  der  acht- 


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72 


Das  daktylo-epitritische  versmasz  bei  Pindar 


füszige  daktylische  vers  ist  im  ganzen  verschmäht  worden,  ein  iam- 
bischer  tetrameter  aber  ist  z.b.  dieser: 

cl  jioi  t^voito  iräpöevoc  KCtArj  t€  Kai  T^peiva, 

welcher  vers  aber  doch  immer  ein  ganz  besonders  und  ezceptionell 
aufgeregtes  ethos  besitzt  (in  quo  versu  magna  hilaritas  est.  G.  Her- 
mann), es  ist  also  überhaupt  keineswegs  gleichgiltig,  in  welcher 
stichischen  form  ein  bestimmtes  rhythmisches  element  zur  erschei- 
nung  gelangt,  ebenso  wie  auch  die  grösze  und  form  eines  künst- 
lerischen r  ah  mens  immer  zu  dem  in  ihm  erscheinenden  bilde  in 
einem  bestimmten  Verhältnisse  stehen  musz.  jenes  gesetz  zu  con- 
statieren  aber  erscheint  uns  zunächst  wichtiger  als  dasselbe  in  seiner 
inneren  Vernunft  und  notwendigkeit  zu  begründen,  dieser  grund 
aber  dürfte  wohl  nur  darin  zu  suchen  sein,  dasz  die  allgemeine  har- 
monie  oder  das  ästhetische  gleichgewicht  des  arsischen  und  des 
thetischen  elementes  im  iambischen  und  im  daktylischen  versmasz 
eine  reinere  und  vollkommene  ist  als  im  trochäischen  und  im  ana- 
pästischen, da  bei  dem  ersteren  von  diesen  das  arsische  und  bei  dem 
letzteren  das  thetische  element  in  zu  einseitigem  und  gesteigertem 
grade  überwiegt,  jene  beiden  ersteren  versmasze  scheinen  eben  des- 
wegen mehr  die  einfachere,  leichtere  und  gefälligere  form  des  sechs- 
füszigen,  diese  letzteren  beiden  aber  mehr  die  strengere  oder  schwerere 
pathetische  form  des  achtfüszigen  verses  als  die  geeignete  für  sich 
zu  verlangen,  der  trochäische  und  anapästische  tetrameter  sind  des- 
wegen auch  zwei  verse,  die  wegen  ihres  erhabenen  und  mehr  auf 
eine  bestimmte  einseitige  spitze  gestellten  Charakters  immer  nur  in 
kürzerer  folge  zur  anwendung  kommen  können,  ein  in  specifischem 
sinne  vollkommener  vers  aber  ist  tiberall  nur  derjenige,  der  bei  auch 
noch  so  andauernder  Wiederholung  doch  niemals  ein  gefUhl  der  ab- 
spannung  oder  ermüdung  in  uns  hervorruft,  dieses  gilt  aber  allein 
vom  iambischen  trimeter  und  daktylischen  hexameter,  sowie  überhaupt 
das  reine,  mittlere  oder  gemäszigte  schöne  überall  dasjenige  ist,  zu 
dem  wir  fortwährend  ohne  jede  durch  einseitigen  reiz  hervorgerufene 
Übersättigung  zurückkehren  können,  der  daktylische  hexameter  aber 
ist  an  sich  überhaupt  der  vollkommenste  und  schönste  aller  verse, 
während  der  iambische  trimeter  doch  immer  ein  wenigstens  für  den 
gebrauch  des  neueren  dramas  viel  zu  steifer,  feierlicher  oder  pathe- 
tischer vers  ist.  aus  ihm  ist  zuerst  der  pedantische  und  geschnör- 
kelte  Alexandriner  und  dann  unser  neuerer  fünffüsziger  iambischer 
vers  entstanden,  dieser  ist  an  sich  ein  ungemein  kunstloser  und  der 
gewöhnlichen  prosaischen  rede  nahe  stehender  vers.  ich  habe  in 
meinem  drama:  die  deutschen  Studenten  (M.  Schäfer,  1878)  dem- 
selben eine  höhere  Vollkommenheit  teils  durch  einbaltung  einer  deut- 
lich wahrnehmbaren  cäsur,  am  besten  am  ende  des  zweiten  oder  in 
der  mitte  des  dritten  fuszes ,  teils  durch  einen  wenigstens  für  ge- 
wöhnlich beobachteten  Wechsel  des  stumpfen  und  klingenden  aus- 
ganges  der  einzelnen  verse,  teils  endlich  durch  eine  möglichste  be- 


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und  die  neuere  rhythmologiache  theorie. 


73 


autzung  der  allitterierenden  und  sonstigen  anklänge  des  lautelementes 
va.  geben  versucht. 

Eine  andere  kunsteinrichtung  des  längeren  auszerstropbiscben 
und  auch  sonst  mancher  kürzeren  strophischen  verse  ist  diejenige 
der  katalexis  oder  der  sprachlichen  Verkürzung  des  letzten  schlieszen- 
den  gliedes  einer  reihe,  von  ihr  ist  unter  jenen  vier  versen  nur  der 
jambische  trimeter  ausgenommen,  während  der  daktylische  hexa- 
meter  im  letzten  fusze  eigentlich  auf  einen  trochäen  ausgebt,  für  den 
nur  subsidiarisch  auch  der  spondee  eintritt,  die  beiden  tetrameter 
aber  immer  um  den  letzten  halben  fusz  verkürzt  werden,  da  bei 
diesen  beiden  versen  die  cäsur  in  die  strenge  mitte  hineinfallt ,  so 
wird  allein  hierdurch  die  auszerdem  unerträgliche  vollkommene 
gleicbheit  beider  hftlften  derselben  vermieden,  auszerdem  tritt  da- 
durch ,  dasz  ein  jeder  vers  mit  demselben  arsischen  oder  thetischen 
demente  des  sprachstoffes  schlieszt,  mit  welchem  er  angefangen  hat, 
zwischen  den  einzelnen  verszeilen  immer  eine  bestimmte  rhythmische 
pause  ein,  infolge  deren  sich  eine  jede  derselben  mehr  als  eine  selb- 
ständige einheit  aus  der  reihe  hervorhebt  als  dieses  bei  jenen  kürze- 
ren versen  der  fall  ist.  da  aber  bei  diesen  die  cäsur  in  der  regel 
kurz  vor  die  mitte  derselben  fällt,  so  geht  schon  hierdurch  ein  ge- 
wisser unterschied  zwischen  der  kürzeren  ersten  und  der  längeren 
zweiten  hälfte  hervor ,  der  dann  vielleicht  wieder  durch  ein  etwas 
rascheres  tempo  der  letzteren  auf  die  gleiche  länge  des  reinen  zeit- 
maszes  zurückgeführt  werden  kann,  vollkommene  Symmetrie  oder 
strenger  parallelismus  beider  hälften  des  verses  aber  musz  immer 
als  künstlerisch  falsch  oder  an  und  für  sich  unschön  erscheinen. 

Die  drei  haupteinheiten  alles  versmaszes  sind  der  fusz,  der  vers 
und  die  Strophe,  das  Verhältnis  derselben  schlieszt  sich  an  die  reihe 
der  drei  grammatischen  einheiten,  des  Wortes,  des  einfachen  satzes 
und  des  zusammengesetzten  satzes  oder  der  periode  an ,  ohne  dasz 
deswegen  die  grenzen  dieser  einheiten  überall  mit  einander  zusam- 
menfallen dürften,  die  kunst  der  Griechen  aber  hat  auszerdem  noch 
eine  weitere  reihe  von  metrischen  einheiten  durch  Verdoppelung  oder 
engere  paarung  derselben  erschaffen,  diese  sind  einmal  die  dipodie, 
dann  das  distichon  und  endlich  das  aus  strophe,  gegenstrophe  und 
epode  bestehende  strophische  System,  die  dipodische  Vereinigung 
zweier  gleichartiger  füsze  des  verses  gibt  dem  auftreten  desselben 
einen  strengeren,  ernsteren  und  geschlosseneren  Charakter,  von 
dieser  regel  ist  unter  den  einfachen  versmaszen  nur  das  daktylische 
ausgenommen,  da  dieses  in  seinen  einzelnen  füszen  an  sich  schon  die 
reinste  und  vollkommenste  harmonie  besitzt,  das  distichon  aber  ist 
eine  kunstform,  welche  zwischen  der  einfachen  oder  fortlaufend 
stichischen  und  der  strophischen  poesie  in  der  mitte  steht  und  welche 
durch  die  hieraus  hervorgehende  zerreiszung  der  rede  in  kleinere 
abschnitte  vorzugsweise  dem  bedürfnis  der  satire,  des  epigramms 
usw.  adäquat  ist.  in  dem  vorzugsweise  sogenannten  daktyliscb- 
lieiametrischen  distichon  bildet  der  zweite  vers,  der  fälschlich  so 


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74 


Daa  daktylo-epitritische  versmasz  bei  Pindar 


bezeichnete  pen tarne ter  eine  durch  katalektische  Verstümmelung  des 
dritten  und  sechsten  fuszes  abgeleitete  ergänzende  nebenform  oder 
ein  gegenbild  des  vorangehenden  regelmäßigen  hauptverses.  das 
strophische  System  aber  ist  im  allgemeinen  die  form  für  die  höhere 
und  freie  selbständige  metrisch-rhythmische  composition,  indem  das 
neu  erfundene  schema  der  ersten  strophe  dann  in  der  zweiten  strophe 
noch  einmal  in  vollständiger  gleichheit  wiederholt  wird  und  zuletzt 
in  der  epode  demselben  ein  zwar  ähnliches,  aber  doch  immer  abge- 
wandeltes und  umgekehrtes  gegenbild  an  die  Seite  tritt. 

Das  für  die  einfachen  oder  nur  aus  langer  arsis  und  kurzer 
thesis  bestehenden  versmasze  geltende  gesetz  von  der  zeitlichen 
gleichheit  dieser  beiden  demente  wird  bei  den  abgeleiteten  oder 
durch  modification  hieraus  entstandenen  versmaszen  aufgehoben  oder 
durchbrochen,  weil  es  sich  bei  diesen  überall  nur  um  die  erzielung 
eines  ganz  besonderen  und  einseitig  gesteigerten  künstlerischen 
effectes  handelt,  dieses  gilt  hier  namentlich  von  dem  siebenzeiligen 
schema  des  epitriten  im  Verhältnis  zu  dem  achtteiligen  der  trochäi- 
schen dipodie.  wie  verschieden  diese  beiden  versmasze  sind,  geht 
insbesondere  auch  aus  der  vollkommen  anderen  und  abweichenden 
art  ihrer  stichischen  behandlung  oder  ihres  auftretens  in  der  form 
des  verses  hervor,  denn  während  für  die  trochäische  dipodie  ±  ~  a  ±  c=. 
der  tetrameter  oder  die  tetrapodie,  so  bildet  dagegen  für  den  epi- 
triten die  tripodie  die  höchste  oder  vollkommenste  sollenne 
form  ihres  auftretens  in  der  poesie.  es  würde  offenbar  ebenso  falsch 
und  künstlerisch  unmöglich  sein,  etwa  den  vers : 

di  ßotGuEiuvüJV  dvacca  TTepcibwv  uTrepTäTr) 

nach  epitritischem,  als  den : 

Awpiiu  qpuuvctv  £vapuö£cti  TreMXin 

nach  trochäischem  rhythmus  zu  lesen  oder  zu  scandieren.  diese  epi- 
tritische  tripodie  ist  überall  ein  mit  so  gewaltiger  und  nachdrück- 
licher wucht  einhertretender  vers,  dasz  auch  nicht  zwei  dieser  verse 
unmittelbar  nach  einander  vorkommen  können,  während  dagegen 
das  trochäische  versmasz  den  gebrauch  der  tripodie  als  einen  für 
sich  ungeeigneten  verwirft. 

Das  schema  der  dritten  olympischen  ode  ist  nach  unserer  auf- 
fassung  dieses : 

hauptstrophe: 

2.  iwwiwwiAiA|iwA_ 

3.  i«wi«wiAi  A|ivi_ 

4.  iwwiww.!.A.».A|.Lwi_ 

6. 

7.  iwwJ.wwJ.Ai  |iwiA 

8.  iwi_|iwi»|iwi_ 


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und  die  neuere  rhythniologische  theorie. 


75 


epode:  * 

8.  J.vwiw^iAiA|iwi_ 

4.  £wX«*wJ.^w.!.-_  |  i  y  i.  . 

5.  Xww-lwwiAiA|iwJ.A 

6.  lv»/J.wwJLAIA|iwi_ 

7.  iv/viwviA;A|t-T_ 

8.  iwi_|iwi_|l«i- 

Es  ordnen  sich  alle  bestandteile  dieser  Strophen  leicht  und  ein- 
fach in  den  daktylo-epitritischen  rhythmus  ein,  wenn  man  sich  nur 
von  dem  Vorurteile  befreit,  dasz  die  worte  am  ende  der  verse  nicht 
abgebrochen  werden  und  dasz  auch  innerhalb  der  einzelnen  worte 
keine  sprachlichen  lücken  oder  leere  rhythmische  stellen  eintreten 
können,  gegen  keine  von  diesen  beiden  annahmen  aber  liegt  irgend 
ein  berechtigtes  bedenken  vor.  innerhalb  des  strophischen  Verbandes 
ist  sogar  das  abbrechen  der  worte  am  ende  der  verse  gewissermaszen 
angezeigt  und  natürlich  gerechtfertigt,  weif  hierdurch  das  ganze  der 
rede  mehr  zu  einer  flieszenden  und  leicht  fortlaufenden  folge  ver- 
bunden wird,  ebenso  wenig  wird  auch  durch  die  trennung  der  silben 
eines  Wortes  das  Verständnis  der  rede  oder  der  harmonische  eindruck 
des  rhythmus  irgendwie  abgeschwächt  oder  verdunkelt,  man  ist  aber 
hierbei  keineswegs  etwa  genötigt ,  zu  dem  gewis  oft  falsch  verstan- 
denen und  Übel  angewandten  mittel  der  sogenannten  Tovrj  oder  der 
übermäszigen  und  unnatürlichen  ausdehnung  einer  langen  silbe  der 
spräche  zu  greifen,   auch  dieses  scheint  zu  den  unwahren  und  er- 
künstelten erfindungen  der  rhythmischen  theorie  zu  gehören,  es  ist 
überhaupt  kaum  möglich  oder  würde  doch  immer  im  äuszersten 
grade  störend  und  unschön  erscheinen  müssen,  auf  einer  silbe  über 
das  natürliche  masz  ihrer  länge  hinaus  ohne  irgend  eine  singende 
modulation  der  stimme  zu  verweilen,   in  der  neueren  musik  wird 
allerdings  sehr  häufig  eine  einzelne  silbe  mit  einer  ganzen  längeren 
reihenfolge  von  tonschwingungen  belastet  und  insofern  weit  über 
ihr  natürliches  masz  hinaus  ausgedehnt,   das  antike  versmasz  aber 
kann  im  allgemeinen  oder  doch  in  seinen  einfacheren  bildungen  nicht 
sowohl  gesungen  als  vielmehr  nur  recitiert  oder  scandiert  worden 
sein,  nur  der  begleitende  rhythmus  hat  hier  überall  die  verbindende 
brücke  zwischen  dem  einen  teile  des  Wortes  und  dem  anderen  ge- 
bildet,  das  versmasz  selbst  schwimmt  gleichsam  nur  wie  ein  boot 
auf  dem  in  gleichmäsziger  folge  fortgehenden  rhythmus  der  musik 
und  läszt  diese  seine  tragende  basis  in  einzelnen  stellen  aus  sich  hin- 
durchschimmern, in  der  composition  dieser  ode  aber  ist  im  allge- 
meinen der  daktylo  -  epitritische  langvers  die  vorhersehende  form, 
eine  einziehung  oder  Verkürzung  des  sprachstoffes  aber  ist  insbeson- 
dere teils  am  ende  der  zweiten,  teils  an  dem  der  vorletzten  verszeile 
zu  bemerken,   der  am  ende  ausgefallene  epitrit  wird  dann  wohl 
immer  rhythmisch  ersetzt  oder  vertreten  worden  sein,  in  der  epode 


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76    Das  daktylo-epitrit.masz  bei  Pindar  u.  die  neuere  rhythmol.  theorie. 

ist  die  daktylische  tetrapodie  auch  zweimal  um  die  letzte  ihrer  vier 
arsen  verkürzt  worden ,  indem  Uberhaupt  der  rhythmus  der  epode 
oft  gröszere  freiheiten  und  unregelmäszigkeiten  zeigt,  als  der  der 
hauptstrophe.  wir  möchten  hier  auch  die  bemerkung  einfügen,  dasz 
nicht  wohl  in  einer  solchen  strophe  unmittelbar  nach  einander  mehr 
als  drei  verse  von  vollkommen  gleicher  metrischer  und  rhythmischer 
beschaffen heit  vorkommen  können,  und  zwar  darum,  weil  mit  der 
vierzahl  derselben  schon  der  umfang  der  kürzesten  einfachen  oder 
regelmäszigen  strophe  erreicht  sein  würde,  in  den  fünf  ersten  vers- 
zeilen  der  hauptstrophe  ist  daher  die  gleichförmigkeit  jenes  verses 
schon  durch  den  metrischen  ausfall  des  epitriten  in  der  zweiten  zeile 
unterbrochen  worden,  so  kommen  auch  in  einer  späteren  strophe 
einmal  drei  epitritische  dipodien,  aber  nicht  mehrere  unmittelbar 
nach  einander  vor.  die  epitritische  tripodie  aber  darf,  wie  erwähnt, 
auch  nicht  zweimal  unmittelbar  nach  einander  vorkommen,  dieselbe 
bildet  in  der  sechsten  olympischen  ode  das  bestimmende  hauptmotiv, 
indem  sie  in  der  hauptstrophe  viermal,  aber  immer  durch  andere 
verse  getrennt,  vorkommt,  zuerst  in  der  form  (vers  1) : 

Es  scheint  überhaupt  von  der  annähme  einzeln  stehender  ein- 
leitender silben  auszerhalb  des  strengen  und  eigentlichen  rhythmus 
abgesehen  und  dieselben  immer  als  die  Vertreter  vollständiger  füsze 
oder  regelmäsziger  metrischer  glieder  aufgefaszt  werden  zu  müssen, 
in  der  ersten  verszeile  der  siebenten  olympischen  ode  ist  ferner  von 
der  daktylischen  tetrapodie  der  ganze  einleitende  choriambe  sprach- 
lich unterdrückt  worden : 

sowie  auch  umgekehrt  ein  choriambe  zuweilen  den  ganzen  übrigen 
rest  der  tetrapodie  anzeigt  oder  vertritt,  und  man  wird  finden,  dasz 
sich  in  allen  diesen  Strophen  durch  derartige  sich  natürlich  dar- 
bietende annahmen  der  echte  und  reine  charakter  des  daktylo-epitri- 
tischen  versmaszes  sich  ohne  jede  weitere  rhythmische  künstelei  her- 
stellen läszt.  wir  glauben  es  endlich  auch  als  ein  natürliches  gesetz 
oder  bedürfnis  ansehen  zu  müssen ,  dasz  die  beiden  hauptstrophen 
und  die  epode  eines  jeden  Systems  ihrer  reinen  oder  zeitlichen  länge 
nach  einander  gleich  sein  müssen,  ist  der  sprachstoff  oder  ist  die 
anzahl  der  verse  der  epode  anscheinend  eine  gröszere  als  die  der 
hauptstrophe,  so  kann,  da  der  verlauf  des  tempos  in  jener  leicht  ein 
rascherer  ist,  wohl  auch  eine  zusammenschiebung  zweier  metrischer 
verse  auf  eine  einzige  rhythmische  zeile  angenommen  werden ,  wäh- 
rend im  entgegengesetzten  falle  vielleicht  auch  einzelne  leere  oder 
vom  sprachstoff  unausgefüllte  rhythmische  zeilen  anzunehmen  sein 
werden,  unter  allen  umständen  aber  ist  der  versuch  berechtigt,  das 
antike  versmasz  auch  aus  sich  und  aus  seinen  eignen  natürlichen 
bedingungen  heraus  zu  begreifen ,  wozu  hier  ein  bestimmter  beitrag 
gegeben  werden  sollte. 

Leipzig.  Conrad  Hermann. 


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Über  gymnastische,  niusikal.  und  declamator.  schulfeierlichkeiten.  77 


(4.) 

ÜBER  GYMNASTISCHE,  MUSIKALISCHE 

UND  DECLAMATORISCHE  SCHULFEIERLICHKEITEN. 

(schlusz.) 


Die  höchsten  an  forder  ungen  von  allen  musikal  isch-declamatori- 
schen  werken  stellt  die  dramatische  aufführung  der  tragödien  der 
griechischen  meister.  zwei  tragödien  besonders  sind  in  dem  letzten 
decenninm  von  vielen  gröszeren  und  mittleren  gymnasien  aufgeführt 
worden:  die  Antigone  des  Sophokles ,  übersetzt  von  Donner  und 
componiert  von  Mendelssohn,  und  die  Perser  des  Aeschylos,  ver- 
deutscht und  ergänzt  von  Köchly,  herausgegeben  von  K.  Bartsch 
(Heidelberg,  C.  Winter,  Universitätsbuchhandlung),  componiert  von 
E.  B.  (verlag  von  Bote  u.  Bock ,  Berlin). 

Da  diese  compositionen  einen  männerchor  voraussetzen ,  wel- 
cher sich  verschiedentlich  noch  in  chor  und  gegenchor  teilt ,  so  ist 
die  aufführung  schon  aus  diesen  gründen  nur  in  anstalten  möglich, 
deren  obere  classen  einen  starken  sangerchor  haben,  auch  die  dra- 
matische declamation  stellt  bei  einem  antiken  drama  höhere  anfor- 
derungen  als  bei  einem  modernen,  haben  doch  selbst  die  grösten 
deutschen  bühnen  bei  der  Wiederbelebung  antiker  tragödien,  wie  sie 
etwa  Adolf  Wilbrand  in  Wien  versuchte,  grosze  Schwierigkeiten, 
schon  die  erinnerung  daran,  dasz  bei  dem  antiken  drama  alle  rollen 
nur  unter  drei  Schauspieler  verteilt  wurden,  zeigt,  wie  wenig  ein 
dramatischer  effeot  in  unserem  sinne  bezweckt  war.  spielte  in  der 
Antigone  derselbe  Schauspieler  die  Antigone,  den  Teiresias  und  den 
boten  der  katastrophe;  ein  zweiter  die  Ismene,  den  Wächter,  den 
Hämon,  einen  diener  und  vielleicht  noch  die  Eurydike;  der  dritte 
den  Kreon,  so  konnte  wenigstens  mit  ausnähme  der  rollen  des 
Kreon  und  teilweise  der  Antigone  nur  ein  gemütvoller  Vortrag ,  ein 
sprechen  mit  verteilten  rollen  erzielt  werden,  höheres  wird  nun 
aber  bei  den  modernen  aufführungen  der  antiken  dramen  verlangt 
und  auch  versucht,  jede  rolle  hat  ihren  dramatischen  darsteller; 
aber  für  eine  gute  dramatische  darstellung  wird  der  Schauspieler 
nicht  durch  die  mittel  des  modernen  dramas  unterstützt,  weder  die 
scenerie  noch  ein  schnelles  ineinandergreifen  des  dialogs  erleichtert 
den  dramatischen  Vortrag,  über  den  dialog  hinaus  aber  erhebt  sich 
das  antike  drama  überhaupt  nicht;  denn  greift  hier  und  da  die  dritte 
person  ins  gespräch  ein,  so  tritt  die  zweite  vielleicht  mit  einer  be- 
merkung  des  chors  zurück,  die  haupteflfecte  liegen  in  den  für  dra- 
matischen Vortrag  so  überaus  schwierigen  monologen,  in  den  pathos- 
scenen  und  botenscenen.  selten  nur  wird  ein  schüler  einem  solchen 
dramatischen  monologe  recht  gewachsen  sein ,  zumal  das  moderne 
publicum  für  solch  langes  ausströmen  der  inneren  empfindungen 
nicht  so  dankbar  ist  als  das  Hellenenvolk,  welches  durch  den  natio- 


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78 


über  gymnastische,  musikalische 


nalen  inhalt  ganz  anders  berührt  wurde,  dort  saszen  die  krieger, 
welche  in  den  Perserkriegen  selbst  mit  ge  fochten  hatten,  als  Zu- 
schauer im  theater,  dort  der  fischer,  welcher  noch  gestern  die  fluten 
des  saronischen  meerbusens  durchfahren  hatte;  hier  aber  bei  uns 
der  schüler ,  welcher  oft  mühsam  seine  griechische  geschiente  und 
mythologie  gelernt  hat,  oder  die  eitern  und  freunde,  welche  ge- 
wohnt sind  auf  der  modernen  bühne  alles  für  auge  und  ohr  leicht 
faszlich  dargestellt  zu  finden,  auch  der  chorgesang,  so  groszartig  er 
in  den  compositionen  Mendelssohns  und  der  den  griechischen  chor- 
gesang vielleicht  noch  treffender  wiedergebenden  composition  der 
Perser  auf  den  zuhÖrer  wirkt,  erhöht  die  Schwierigkeiten  einer  dra- 
matischen darstellung  für  den  Schauspieler;  denn  eine  würdige  dra- 
matische ausfüllung  der  pausen  ist  für  den  gereiften  Schauspieler 
eine  schwere  aufgäbe ,  wie  viel  mehr  für  einen  schüler.  dazu  kom- 
men die  phonetischen  Schwierigkeiten  bei  dem  vortrage  mancher  für 
die  moderne  anschauung  ermüdender  Wiederholungen  des  ausdrucks 
innerer  erregungen.  eine  wie  schwierige  aufgäbe  ist  es  die  klagen 
des  Kreon  und  besonders  die  vielfachen  weherufe  des  königs  Xerxes 
in  an-  und  absch wellungen  wiederzugeben  1 

Allein  alle  solche  Schwierigkeiten  dürfen  im  gymnasium  mit 
einer  starken  prima  nicht  von  der  aufführung  einer  griechischen 
tragödie  abschrecken ;  sie  enthalten  vielmehr  die  mahnung  für  die 
schüler  und  die  leitenden  lehrer  alle  kräfte  dem  würdigen  zwecke 
entsprechend  auszubilden,  einmal  musz  es  mit  der  einübung  der 
dramatischen  declamation  ernster  genommen  werden  als  es  gewöhn- 
lich geschieht,  es  ist  nicht  genug,  dasz  der  text  genügend  beh erseht 
wird  und  dasz  die  betonung  nach  den  grundsätzen  des  satzbaues 
und  der  logik  die  richtige  ist.  das  ist  eine  selbstverständliche  for- 
derung  des  geringsten  Vortrages  der  Volksschule,  der  dramatische 
Vortrag  eines  primaners  oder  secundaners  aber  soll,  zumal  bei  einer 
antiken  tragödie,  unter  kundiger  leitung  des  lehrers  alle  stimm- 
mittel  des  vortragenden  dem  inhalte  entsprechend  zur  geltung 
bringen ;  er  soll  ferner  die  den  Vortrag  veranschaulichenden  gesten 
und  Stellungen  des  Schauspielers  mit  peinlicher  genauigkeit  ein- 
üben, eine  antike  tragödie  mit  ihren  einfachen  handlungen  läszt 
gerade  in  diesem  letzten  punkte  selten  ein  schwanken  zwischen  ver- 
schiedenen auffassungen  zu ;  um  so  unangenehmer  wirken  deshalb 
aber  auch  die  fehler,  welche  bei  mangelhafter  einübung  in  diesem 
punkte  gemacht  werden. 

Noch  eine  frage  kommt  bei  dramatischen  auffuhrungen  über- 
haupt, bei  den  antiken  tragödien  aber  ganz  besonders  in  betracht: 
wie  weit  soll  den  antiken  formen  in  bezug  auf  scenerie  und  costüme 
rechnung  getragen  werden?  gerade  hier  sind  die  ansichten  durch- 
aus schwankend,  so  konnte  ich  in  den  letzten  jähren  drei  auffüh- 
rungen  der  Perser  und  der  Antigone  beiwohnen,  welche  in  diesen 
äuszerlichen  punkten  recht  verschieden  waren,  das  gymnasium  zu 
Stargard  in  Pommern  führte  im  jähre  1882  die  Perser  ohne  ge- 


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und  declamatorische  schulf'eierlichkeiten. 


79 


Agende  antike  scenerie  und  ohne  costüme  des  chors  auf.  nur  die 
Ecnauspieler  hatten  costüme ;  die  sänger  des  chors  standen  im  fracke 
in  etwas  gedrängter  Stellung  links  und  rechts  vor  der  vorcoulisse 
nahe  an  dem  rande  der  bühne.  im  jähre  1883  konnte  ich  selbst 
mitwirken  bei  einer  aufführung  der  Perser  durch  das  gymnasium 
zu  Colberg.  der  ort  besitzt  ein  eignes  Schauspielhaus  mit  geräumiger 
bühne  und  den  nötigsten  requisiten,  und  deshalb  war  hier  etwas 
mehr  für  die  antike  scenerie  gethan.  da  die  mittel  geschafft  waren, 
so  hatten  sowohl  die  Schauspieler  als  auch  der  chor  costüme.  aber 
für  Stellung  und  bewegung  der  Schauspieler  und  des  chors  war  auch 
hier  nicht  das  nötige  gethan.  der  chor  stand  rechts  und  links  auf 
der  bühne  selbst,  so  dasz  der  gesang,  besonders  aber  der  text  etwas 
hinter  den  coulissen  verhallte  und  durch  die  im  Zuschauerraum  be- 
findliche orchestermusik  übertönt  wurde;  die  Schauspieler  aber  waren 
auf  einer  geringen  erböhung  zu  sehr  in  den  hintergrund  gedrängt, 
am  vollendetsten  war  in  diesen  äuszeren  punkten  eine  aufführung 
der  Anügone,  welche  ich  im  jähre  1887  von  den  schülern  des  gymna- 
siums  zu  Culm  a.  W.  sah.  die  aufführung  wurde  nicht  durch  die 
gröszere  bühne  eines  stadttheaters  unterstützt ,  sondern  die  scenerie 
war  möglichst  den  antiken  formen  entsprechend  in  der  geräumigen 
turnballe  hergestellt,  im  hintergrunde  die  drei  thüren  der  antiken 
scene,  rechts  und  links  in  den  Zuschauerraum  vorspringend  ein  ge- 
räumiges podium  für  den  chor,  dazwischen,  also  in  der  mitte  der 
sänger,  die  begleitende  orchestermusik.  Stellungen  und  bewegungen 
des  chors  und  der  Schauspieler  waren  gut  eingeübt  und  das  rechte 
Verständnis  der  handlung  wurde  wesentlich  hierdurch  unterstützt, 
eine  benutzung  der  turnhalle  zu  diesem  oder  ähnlichem  zwecke  scheint 
mir  wegen  des  passenden  raumes  (gröszere  länge,  geringere  breite) 
überhaupt  empfehlenswert,  dasz  die  turnhallen  gewöhnlich  nur  einen 
eingang  haben,  ist  kein  hindernis,  denn  der  weg  zur  bühne  kann 
durch  das  fenster  hergestellt  werden. 

Da  zum  schlusz  von  den  declamatorischen  und  besonders  von 
dramatischen  schüleraufführungen  die  rede  sein  soll ,  so  ist  es  wohl 
angebracht,  hier  einige  worte  über  die  bühnenfrage  nach  praktischen 
erfahrungen  zu  sagen. 

Könnte  bei  einer  antiken  tragödie  allenfalls  von  einer  bühne 
ganz  abgesehen  werden,  so  ist  dies  bei  modernen  dramen  weit 
schwerer  möglich,  die  benutzung  einer  öffentlichen  bühne  hat  ein- 
mal oft  Schwierigkeiten,  ist  ferner  meist  mit  nicht  unerheblichen 
kosten  verbunden  und  schlieszlich  besonders  wegen  der  damit  ver- 
bundenen proben  überhaupt  nicht  im  sinne  einer  schule,  deshalb 
ist  die  frage  wohl  berechtigt,  wie  in  der  aula  des  gymnasiums  oder 
in  der  turnhalle  ohne  gröszere  kosten  und  Schwierigkeiten  eine  bühne 
hergestellt  werden  kann. 

Ein  erhöhter  räum  pflegt  für  den  sängerchor  und  für  decla- 
mationen  in  jeder  aula  vor  dem  katheder  angebracht  zu  sein,  dieser 
läszt  sich  leicht  durch  benutzung  gewisser  turngeräte  zu  einer  bühne 


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80 


Über  gymnastische,  musikalische 


umwandeln,  die  leiterböcke,  welche  als  stützen  der  wagerechten 
Leitern  in  der  turnballe  dienen,  und  die  freisprungs tänder  werden 
als  gerügte  für  die  coulissen  aufgestellt  und  durch  darangebundene 
gerstangen  nach  belieben  verlängert,  der  schule  gegenüber  wird 
der  besitzer  einer  bühne  oder  in  gröszeren  orten  die  direction  des 
Schauspielhauses  meist  das  entgegenkommen  zeigen,  auf  einige  stun- 
den einige  sei ten coulissen  zu  leihen,  sollte  sich  die  einrichtung  be- 
währen, so  werden  solche  coulissen  auch  bei  gelegenheit  angeschafft 
werden  können,  der  vordere  abschlusz  nach  oben  und  nach  den 
seiten  ist  leicht  durch  draperien  herzustellen,  zu  denen  die  fenster- 
vorhänge der  durch  die  bühne  verdeckten  aulafenster  benutzt  wer- 
den können,  an  den  seiten  können  auch  passende  bettschirme  oder 
fenstervorhänge  benutzt  werden ,  welche  wieder  durch  freispringel 
einen  festeren  halt  bekommen,  die  bühne  wird  alsdann  von  vorn 
den  anblick  eines  zeltes  darbieten,  ist  ein  Vorhang  unbedingt  nötig, 
so  kann  derselbe  von  der  decke  herabgelassen  werden  und  zugleich 
den  btihnenhimmel  bilden. 

Durch  eine  bühne,  ist  dieselbe  auch  noch  so  einfach,  wird  die 
lußt  und  liebe  zum  dramatischen  spiele  entschieden  gesteigert  und 
ein  besseres  gelingen  besonders  der  dramatischen  Handlungen  und 
Stellungen  gesichert 

Weniger  notwendig  sind  bei  aufführung  eines  dramas 
costüme.  dieselben  sind  für  unsere  classischen  stücke  in 
beschaffenheit  meist  nicht  ohne  erhebliche  kosten  zu  beschaffen,  und 
mancher  jugendliche  schüler,  der  vielleicht  im  vortrage  und  spiel 
gutes  leistet,  passt  auch  noch  recht  mangelhaft  in  das  costüm  eines 
beiden  eines  classischen  dramas  hinein. 

So  viel  von  der  äuszeren  technik  des  dramas.  sie  unterstützt 
das  gelingen  einer  aufführung,  aber  sie  ist  nicht  die  hauptsache; 
denn  der  eigentliche  wert  einer  dramatischen  Schüleraufführung  liegt 
doch  in  der  innerlichen  Vertiefung  in  den  inhalt  und  die  spräche  des 
dramas,  und  diese  wird  bei  unsern  classischen  dramen  in  erster  linie 
durch  einen  seelenvollen,  würdigen  Vortrag  zum  ausdruck  ge- 
bracht. 

Dasz  dieser  Vortrag  erreicht  wird,  das  kann  nicht  durch  die 
Übungen  zu  dieser  oder  jener  einzelnen  aufführung  von  einem  ein- 
zelnen lehrer  erzielt  werden ;  es  soll  vielmehr  ein  ziel  des  gesamten 
gymnasialen  Unterrichts,  besonders  aber  des  deutschen  und  hier 
wieder  des  declamatorischen  Unterrichts  sein,  von  der  Vorschule 
an  musz  streng  auf  eine  phonetisch  klare ,  die  modulationsfähigkeit 
der  Stimmwerkzeuge  voll  ausnutzende  Vortragsart  auch  bei  kleineren 
gedichten  gehalten  werden,  auch  der  dramatische  Vortrag,  der  den 
oberen  classen  vorbehalten  ist,  findet  in  den  kleinsten  epischen  und 
lyrischen  gedichten  schon  seine  Vorübungen,  fast  jedes  epische  ge- 
dieht, besonders  aber  die  lyrik  und  epik  vereinenden  baliaden,  welche 
in  den  mittleren  classen  gelernt  werden,  fordern  bei  fragen  und  ant- 
worten hohe  ausbildung  im  dramatischen  vortrage,  man  denke  z.  b. 


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und  declamatoriache  Bchulfeierlichkeiten 


81 


an  Goethes  Erlkönig,  Schillers  Bürgschaft,  Unlands  Blinden  könig, 
Arnds  Leipziger  Schlacht  u.  a.  in  den  unteren  classen  sind  von  ganz 
besonders  vorbereitendem  werte  für  ein  tieferes  nachdenken  beim 
vortrage  und  für  eine  höhere  ausbildung  der  stimmmittel  die  refrain- 
lieder ,  wie  Goethes  Heideröslein  oder  Bückerts  Bestrafte  u n genüg - 
samkeit.  eine  gute  natürliche  beanlagung  in  den  Stimmmitteln  und 
eine  gewisse  musikalische  befähigung  erleichtert  den  Vortrag  hier 
allerdings  wesentlich,  aber  der  lehrer,  welcher  durch  jahrelange 
Übung  und  benutzung  aller  mittel  sich  selbst  in  diesem  punkte  zu 
fördern  sucht  und  bestimmte,  klare  ziele  einer  phonetisch  richtigen 
declamation  verfolgt,  wird  auch  bei  geringerer  beanlagung  der 
schüler  durch  das  eigne  vorsprechen  einen  brauchbaren  Vortrag  er- 
reichen. 

Leider  kann  hier  nicht  verschwiegen  werden,  dasz  diesem  die 
edelsten  güter  der  erziehung  verfolgenden  streben  von  vielen  lehrern 
nicht  der  genügende  wert  beigelegt  wird,  das  altertum  und  das 
mittelalter  hatte  hierin  vielleicht  eine  bessere  erkenntnis  als  unser 
jahrhundert.  bei  den  Griechen,  bei  den  Deutschen  des  Tacitus  und 
bei  unsern  ahnen  zur  zeit  des  minnesanges  genügte  nicht  die  lectüre 
mit  den  äugen  allein,  auch  nicht  ein  vorlesen  der  dichtungen  in 
unserem  gewöhnlichen  sinne;  nein,  der  vortragende,  meist  der  dichter 
selbst ,  war  ganz  mit  der  seele  dabei ,  und  wes  das  herz  voll  war, 
des  gieng  der  mund  über  nicht  in  der  gewöhnlichen  spräche  des 
täglichen  Umganges,  sondern  aus  voller  brüst  im  gesange,  welchen 
das  Saiteninstrument  begleitete,  wie  nahe  aber  ein  edler  Vortrag 
und  eine  edle  natürliche  composition  sich  berühren,  dafür  ist  ein 
beweis  die  neuere  classische  richtung  der  dramatischen  composition, 
besonders  K.  Wagner,  auch  die  modernen  recitatoren  greifen  bei 
manchen  gedicbten  zu  einer  art  singendem  vortrage,  so  z.  b.  Palleske 
und  seine  schüler  bei  der  wiedergäbe  der  geisterstimmen  im  Erl- 
könige. 

Nicht  jeder  lehrer  wird  neben  seiner  stimmlichen  beanlagung 
und  seiner  poetischen  auffassungsgabe  noch  die  fahigkeit  haben  die 
declamationsübungen  in  dem  verlangten  sinne  in  den  mittleren  und 
oberen  classen  zu  leiten,  aber  viele,  welche  diese  Fähigkeit  besitzen, 
haben  dieselbe  nicht  ausgebildet  aus  irgend  einer  Voreingenommen- 
heit, welche  sie  häufig  genug  von  der  Universität  her  mit  ins  prak- 
tische leben  bringen,  ich  selbst  habe  mehr  als  einmal  von  jungen 
Germanisten,  die  eben  die  hochschule  verlassen  hatten,  die  ansieht 
vortragen  hören,  so  ein  Schauspieler  —  es  war  von  den  grösten 
bühnen  die  rede!  —  könne  doch  gar  nicht  so  in  das  wesen  der  dich- 
tung  eindringen  wie  'unsereiner' !  es  sei  alles  gewisse  angelernte 
technik  und  effeeth ascherei !  bei  solcher  geringen  auffassung  von 
dem  letzten  ziele  dramatischer  dichtung  kann  auch  bei  Schülern  nicht 
ein  würdiger  Vortrag  erreicht  werden. 

Dem  entspricht  es  auch ,  dasz  es  zwar  eine  grosze  reihe  com- 
mentare  für  die  inhaltliche  erklärung  der  auf  der  schule  gelesenen 

I».  jnhrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1891  hfl.  2.  6 


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82 


Über  gymnastische,  musikalische 


dichtungen  gibt,  aber  nur  sehr  wenige  über  den  Vortrag,  erst  die 
letzten  jähre  haben  hier  den  anfang  gemacht,  und  es  sei  hier  auf- 
merksam gemacht  auf  das  buch  von  Humpendink  über  den  Vortrag 
epischer  und  lyrischer  dichtungen  mit  zahlreichen  commentierten 
musterstücken  für  monologischen  und  dialogischen  Vortrag  wie  auch 
für  chorische  aufführungen  (bei  Du  Mont-Schauberg ,  Köln,  preis 
3,20  mk.'j.  auch  das  buch  von  Pasow:  der  Vortrag  von  gedienten 
als  bildungsmittel  und  seine  bedeutung  für  den  deutschen  Unter- 
richt (R.  Gärtner,  Berlin)  wurde  in  der  Zeitschrift  ftlr  gymnasial  - 
wesen  (juli-august  1887)  angezeigt,  auch  Palleske  hat  durch  seine 
'kunst  des  Vortrages'  viel  gutes  gewirkt,  aber  für  den  lehrer,  wel- 
cher nicht  schon  seit  jähren  sich  bemüht  hat  tüchtige  recitatoren 
und  Schauspieler  mit  neidloser  anerkennung  ihres  könnens  zu  hören 
und  seinen  eignen  Vortrag  mit  der  für  die  schule  nötigen  mäszigung 
daran  zu  bilden,  ist  dieses  buch  noch  zu  allgemein,  eine  lohnende 
aufgäbe  wäre  es ,  im  einzelnen  gedichte  aus  dem  kanon  sowohl  der 
unteren  als  auch  der  oberen  classen  nach  dem  phonetisch  richtigen 
vortrage  zu  besprechen,  hier  kann  bei  einer  so  allgemeinen  abhand- 
lung  selbstredend  kein  lehrbuch  eines  phonetisch  richtigen  und 
schön  modulierten  Vertrages  gegeben  werden ;  es  würde  dies  über- 
haupt eine  viel  schwierigere  aufgäbe  sein  als  bestimmte  dichtungen 
nach  den  allgemeiner  anerkannten  Vortragsgesetzen  zu  besprechen; 
immerhin  mag  aber  doch  auf  einige  häufiger  vorkommende 
mängel  hingewiesen  werden. 

So  fällt  es  oft  unangenehm  auf,  dasz  das  löbliche  streben  nach 
deutlicher  ausspräche  in  Volksschulen  und  in  der  Vorschule  und  den 
unteren  classen  des  gymnasiums  zu  der  pedanterie  ausartet,  dasz 
auch  die  flexionssilben  mit  gleichem ,  ja  infolge  eines  widernatür- 
lichen zwanges,  welchen  sich  der  schüler  anthun  musz,  noch  mit 
stärkerem  ton  gesprochen  werden  als  die  Stammsilben,  vielleicht 
soll  durch  solche  Übungen  die  grammatik  gewinnen,  sicherlich  ist 
aber  der  schaden,  den  das  gefühl  für  die  Schönheit  der  spräche  hierbei 
hat,  ein  gröszerer  als  der  nutzen,  umgekehrt  dürfen  allerdings  auch 
die  Stammsilben  nicht  verstümmelt  oder  verschluckt  werden,  beson- 
ders nicht  in  den  fallen,  wo  stamm  und  endung  verschmelzen,  so 
dasz  man  etwa  fvates'  statt  'vaters'  spricht 

Andere  punkte,  welche  auch  schon  auf  der  Unterstufe  nicht 
häufig  genug  betont  werden  können,  damit  von  klein  auf  eintönig- 
keit  in  der  spräche  vermieden  und  die  modulationsfähigkeit 
der  sprachorgane  geübt  wird ,  sind  das  zurücktreten  der  reimworte 
und  das  anschwellen  der  stimme  bei  der  aufeinanderfolge  gleich- 
artiger begriffe,  es  mag  vielen  überflüssig  erscheinen,  dasz  auf  eine 
so  selbstverständliche  vortragsregel  wie  die  forderung  des  zurück- 
tretens  der  reimworte  noch  hingewiesen  wird,  und  doch  wird  selbst 
von  guten  recitatoren ,  welche  viel  gröszere  Schwierigkeiten  über- 
winden, oft  diese  kleine  regel  nicht  genug  beachtet,  ich  möchte  auf 
ein  ganz  einfaches  lyrisches  gedieht,  welches  in  das  pensum  der 


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und  declamatorische  schulfeierlicbkeiten.  83 


sexta  und  quinta  gehört,  als  beispiel  hinweisen,  indem  ich  die  pausen 
der  ersten  Strophe  durch  senkrechte  striche  markiere:  M.  Claudius, 
abendlied : 

Der  mond  |  ist  aufgegangen,  | 

die  goldnen  sternlein  |  prangen  =■ 

am  bimmel  |  bell  und  klar.  | 

der  wald  steht  schwarz  |  und  schweiget,  | 

und  aus  den  wiesen  |  steiget  = 

der  weisze  nebel  |  wunderbar! 

gewis  sind  hier  die  pausen  einfach  und  bestreitbar,  und  doch  achte 
man  darauf,  wie  oft  dagegen  gesündigt  wird. 

Ein  leichtes  beispiel  für  anschwellen  oder  Steigerung  in  der 
höhe  und  kraft  des  stimmtones  bietet  das  Kernerscbe  gedieht  'der 
reichste  fürst',  wenn  es  zum  schlusz  heiszt:  'und  es  rief  der  herr 

von  Sachsen,  der  von  Baiern,  der  vom  Rhein:  graf  im  bart'  .  .  . 
(die  letzten  drei  worte  wieder  tiefer  und  mit  voller  wucht !). 

Auch  in  ganzen  Strophen  kann  der  ton  der  stimme  anschwellen 
und  abschwellen,  so  verlangt  Körners  'Harras'  eine  solche  Steige- 
rung im  vortrage  bis  zum  anfange  der  zweiten  strophe,  weil  bis  da- 
hin das  herandämmern  des  morgens  und  das  herannahen  der  reiter- 
schar geschildert  wird,  einige  vereinzelte  worte  müssen  noch  beson- 
ders mit  heller,  accentuierter  stimme  gesprochen  werden,  so  wie 
auch  schon  aus  der  ferne  beim  herannahen  einer  schar  bewaffneter 
reiter  ein  scharfer  hufschlag  oder  waffengerassel  zum  ohre  dringt, 
ehe  vielleicht  der  zug  um  die  waldecka  sprengt  und  dem  auge  sicht- 
bar wird.  z.  b.  strophe  1  'klingt',  'waffengeklirr',  'hufschlag',  die 
höchste  kraft  im  stimmtone  erreicht  der  Vortrag  dann  bei  den  worten : 
'vorbei  mit  wildem  ruf,  worauf  die  stimme  allmählich  abschwillt 
bis  zum  schlusz  der  zweiten  strophe. 

Dann  musz  auf  das  sinken  der  stimme  zum  schlusz  des  satzes 
und  besonders  des  ganzen  gedichtes  noch  mehr  aufmerksam  gemacht 
werden,  ein  passendes  beispiel  ist  der  schlusz  des  Geibelschen 
Wanderliedes:  'wie  bist  du  doch  so  schön,  o  du  weite,  weite 
weit.'  auch  bei  gegensätzen  kann  zuweilen  die  modulationsfUhig- 
keit  der  stimme  geübt  werden,  so  müssen  z.  b.  in  demselben  Geibel- 
schen liede  strophe  3  die  worte:  'wohl  Uber  die  berge'  leicht  und 
mit  einem  in  der  höhe  sich  steigernden  stimmtone  gesprochen  wer- 
den, während  die  darauffolgenden  worte:  'wohl  durch  das  tiefe  thal' 
in  dumpferem  abschwellenden  tone  zu  sprechen  sind,  ganz  beson- 
ders sind  derartige  Verschiedenheiten  in  der  höhe  und  tiefe  (kopf- 
stimme,  bruststimme  1)  in  gemäszigter  weise  bei  einem  plötzlichen 
Wechsel  der  sprechenden  personen  innerhalb  eines  gedichtes  zu  üben, 
ein  gutes  beispiel  bietet  Chamissos  Riesenspielzeug  str.  6  und  7 : 

'ei,  vater,  lieber  vater,  ein  spielding  wunderschön! 
eo  allerliebstes  sah  ich  noch  nie  auf  unsern  höhn.» 

diese  verse  sind  mit  hellem,  leichten  tone  der  köpf  stimme  zu  spre- 
chen, und  gleich  darauf  sind  mit  wuchtiger,  tieferer  bruststimme 

6* 


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84 


Über  gymnastische,  musikalische 


die  worte  zu  sprechen,  welche  so  schon  durch  die  häufung  des  vollen 
a-lautes  wirken: 

'der  alte  sasz  am  tische  und  trank  den  kühlen  wein.» 

Wie  der  reim,  so  ist  auch  der  rhythmus  nicht  zu  stark  her- 
vorzukehren, wenn  der  Vortrag  nicht  monoton,  leierig  wirken  soll, 
und  doch  kann  schon  in  den  unteren  classen  darauf  aufmerksam  ge- 
macht werden,  wie  anderseits  an  vereinzelten  stellen  ein  rhythmi- 
sches sprechen  gerade  ein  wirkungsvolles  kunstmittel  des  Vortrags 
ist.  um  bei  denselben  gedichten  zu  bleiben,  so  kann  wieder  aus 
dem  Geibelschen  liede  ein  beispiel  genannt  werden,  bei  den  Worten : 
rim  winde  die  linde,  die  rauscht  mich  ein  gemach'  wird  ein  hervor- 
kehren des  rhythmus  die  wiegende,  einschläfernde  Stimmung  her- 
vorbringen, zahlreiche  beispiele  würden  sich  gerade  hierfür  aus  den 
gedichten  Goethes  und  Unlands  anführen  lassen ;  haben  doch  schon 
die  alten  in  ihrer  metrik  z.  b.  in  der  hervorkehrung  des  spondeus, 
bzw.  anderseits  des  dactylus  dieses  princip  anerkannt,  zuweilen 
kann  ein  rhythmischer  Vortrag  auch  das  zusammensprechen  mehrerer 
personen  des  gedieh tes,  eine  art  chorsprechen,  von  den  übrigen 
teilen  des  gedientes  abhebend,  wiedergeben,  so  in  Unlands  Blindem 
könig,  str.  7  und  8. 

rder  räuber  ist  gefallen,  er  hat  den  blut'gen  lohn, 
heil  dir,  da  held  vor  allen,  du  starker  königssohn!' 

zur  Übung  könnten  derartige  stellen  gelegentlich  überhaupt  im  chore 
gesprochen  werden;  es  wird  hierdurch  das  Verständnis  der  form  und 
des  inhalts  des  gedientes  oft  wesentlich  gehoben,  und  die  schüler 
zeigen  stets  ein  besonderes  interesse  für  eine  derartige  'dramati- 
sierung'  eines  epischen  gedientes,  überhaupt  sollte  das  chorsprechen 
schon  von  früh  auf  geübt  werden,  da  gerade  auf  der  Unterstufe  hier- 
durch oft  die  probe  gemacht  werden  kann,  ob  gewisse  einfache  regein 
des  Vortrages  allgemein  verstanden  worden  sind.  Palleske  spricht 
in  seiner  kunst  des  Vortrages  eingehend  von  der  Wirkung  eines  guten 
chorischen  Vortrages  und  gibt  die  nötigsten  anleitungen  zu  dem- 
selben. 

Auch  die  klangvollere  ausspräche  der  volleren  vocale  a,  o  und 
u  gegenüber  den  schärfer  klingenden  vocalen  e  und  i  kann  leicht 
schon  früh  geübt  werden,  worte  wie  sang,  klang,  gold,  dorn 
u.  a.  bieten  hierfür  ein  beispiel. 

'von  dem  hohen  dorn  zu  Speier  hört  man  dumpf  die  plocken  schallen.' 

dieser  vers  ist  ein  beispiel  für  vollen  vocalismus  und  rhythmisches 
sprechen. 

Ebenso  kann  auf  gewisse  consonantische  effecte  bei  vielen 
gedichten  aufmerksam  gemacht  werden.  Körners  Harras,  Chamissos 
Riesenspielzeug  und  besonders  Bürgers  gediente  bieten  hierfür  leichte 
beispiele:  'die  Schwerter  entfliegen  der  scheide',  'die  Schwerter 
klirren',  'es  schäumt  in  den  zügel\  fer  spornt's,  dasz  die  fersen 


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and  declamatorische  schulfeierlichkeiten. 


85 


bluten',  res  kriecht  das  kleine  wesen',  'es  glitzert  in  der  sonne  der 
pflog  so  blank  und  klar'  u.  a. 

Nach  solchen  allgemeinen  erwägungen ,  welche  sich  meist  auf 
die  einübung  eines  schön  modulierten  Vortrages  beziehen ,  sei  noch 
kurz  auf  einige  landläufige  mängel  des  phonetisch  richtigen  Spre- 
chens hingewiesen,  am  meisten  wird  bekanntlich  gegen  eine  rich- 
tige ausspräche  des  g  und  r  gesündigt,  abgesehen  davon ,  dasz  von 
lehrern  und  schillern  besonders  in  den  nordöstlichen  deutschen  Pro- 
vinzen das  g  am  anfange  besonders  vor  dem  vocale  e  wie  j  gespro- 
chen wird  ('jejeben'),  sind  durchaus  unklare  ansichten  über  die 
ausspräche  des  g  im  auslaute  vorhanden,  man  hört  hier  oft  den 
umgekehrten  fehler  bei  Sängern  und  declamatoren ,  nemlich  ein  zu 
scharf  gesprochenes  g  nach  kurzen  vocalen  im  auslaute,  z.  b.  der 
tak  (di-es).  wohl  hat  man  nach  langem  vocale  tage,  selige,  weg  (via) 
hart ,  der  griechischen  media  entsprechend  (aber  nie  explosiv,  d.  h. 
'wekMj  zu  sagen,  aber  im  kurz  gesprochenen  auslaute  (gegen  Notkers 
gesetz!)  mehr  aspiriert,  als  eine  art  reibungslaut,  etwa:  täch,  seilen, 
wech  (=  fort),  ebenso  wird  nach  dem  nasalen  n  das  g  fast  durch- 
gehend falsch  wie  der  explosivlaut  k  gesprochen,  d.  h.  gesank, 
klank,  drank,  enk,  während  es  auch  im  auslaute  durativ  ebenso 
wie  in  fiexionssilben,  d.h.  wie  im  da  Li  v  gesang(e),  klang(e),  drang(e), 
eng(e)  nach  den  regeln  des  Wohlklanges  gesprochen  werden  musz. 

Was  den  reibungslaut  r  anbetrifft,  so  gibt  es  drei  möglichkeiten 
denselben  hervorzubringen,  nemlich  das  zungen-r,  das  gaumen-r  und 
das  kehlkopf-r,  welches  letztere  etwa  der  Mecklenburger  in  dem 
wort  Ko(a)rl  (Karl)  spricht,  das  rhetorisch  wohlklingendste  und 
den  sprachorganismus  am  meisten  schonende  zungen-r  wird  meist 
nur  durch  frühzeitige  Übung  flieszend  erlernt;  aber  nach  gewissen 
lauten,  bei  denen  die  Stellung  der  mundhöhle  und  der  sprechorgane 
schon  eine  ähnliche  ist  wie  beim  zungen-r,  z.  b.  nach  den  dentalen, 
kann  auch  meist  noch  in  späterem  alter  das  zungen-r  erlernt  werden.  * 

Als  ein  passendes  Übungsbeispiel  für  sanger  und  declamatoren 
zu  den  eben  besprochenen  phonetischen  regeln  über  das  g,  ng  und 
das  zungen-r  in  Verbindung  mit  dentalen  sei  der  an  fang  des  be- 
kannten Heineschen  liedes  angeführt: 

'Auf  flügeln  des  gesanges, 
herz  Iii.- bchen  ,  trag  ich  dich  fort, 
fort  nach  den  Auren  des  Ganges, 
dort  weis»  ich  den  schönsten  ort; 
da  liegt  ein  rotblühender  gurten 
im  stillen  mondenschein , 
die  lotosblumen  erwarten 
ihr  trautes  achwesterlein.» 

Diese  wenigen,  aus  der  praxis  herausgegriffenen  winke  über 
einen  phonetisch  richtigen,  klangvollen  Vortrag  müssen  hier  ge- 


*  siehe  hierüber,  was  Palleske  im  anfange  seiner  knnst  des  Vor- 
trages über  die  erlernnng  des  zungen-r  mit  hilfe  des  dentalen  d  sagt. 


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86    Über  gymnastische,  musikal.  and  declamator.  schulfeierlichkeiten. 

nügen.  wer  eingehendere  Studien  hierüber  machen  will,  möge  die 
lautpby biologischen  lehrbücher  durcharbeiten,  wie  Brücke:  grund- 
züge  der  physiologie  und  Systematik  der  sprachlaute  (Wien,  bei  Karl 
Gerolds  söhn),  ferner  Sievers:  grundzüge  der  phonetik  zur  ein - 
fuhrung  in  das  Studium  der  laut.lehre  der  indogermanischen  sprachen 
(Leipzig ,  bei  Breitkopf  und  Härtel),  ferner  auch  Palleske:  die 
kunst  des  Vortrages  u.  a.  in  kurzer,  faszlicher  form  gibt  die  grund- 
züge der  phonetik  in  einer  programmabhandlung  des  realgymna- 
siums  zu  Stralsund  ostern  1888  Oberlehrer  Badke:  die  anfangs- 
gründe  im  französischen  auf  phonetischer  grundlage. 

Zum  scblusz  sei  auch  hier  auf  einige  für  Schüleraufführungen 
geeignete  gröszere  dramatische  und  epische  dichtungen  hingewiesen. 

Von  den  dramen  der  alten  ist  bereits  vorher  eingehend  gespro- 
chen worden;  von  den  dramatischen  meisterwerken  unserer  classi- 
schen  dichter  lassen  sich  die  meisten  wenigstens  in  bearbeitung  oder 
in  auszügen,  d.  h.  besonders  nach  Streichung  oder  kürzung  der 
frauenrollen  und  liebesscenen  verwenden,  von  Schillers  dramen 
eignen  sich  am  meisten  für  Schüleraufführungen  scenen  aus  der 
Wallenstein-trilogie,  besonders  ohne  Streichung  Wallensteins  lager; 
ferner  die  volkstümlichen  scenen  aus  Teil,  z.  b.  die  apfelschuszscene 
und  die  Rütliscene.  von  Goethes  dramen  sind  geeignet  die  volks- 
scenen  aus  Egmont,  welche  auch  an  sich  einen  gewissen  Zusammen- 
hang bieten,  dann,  wenn  auch  mit  manchen  Schwierigkeiten  ver- 
knüpft, einige  scenen  aus  dem  ersten  teile  des  Faust,  auch  von 
Shakespeares  dramen  sind  einige  scenen  zu  empfehlen,  so  aus  den 
königsdramen  z.  b.  aus  Heinrich  IV  und  ganz  besonders  aus  dem 
Sommernachtstraum  die  handwerkerkomödie  'Pyramus  und  Thisbe'. 
letztere  kann  auch  in  der  dramatischen  bearbeitung  von  Gryphius : 
Peter  Squenz  aufgeführt  werden,  unter  den  modernen  meistern  sei 
hingewiesen  auf  Gutzkow:  Zopf  und  schwort,  zusammengezogen  und 
in  den  damenrollen  stark  gekürzt  Paul  Heise:  Oolberg.  die  volks- 
scenen.  eigens  für  schülerauffUhrungen  geschrieben  sind  jüngst  von 
dr.  Hans  Meyer,  lehrer  am  Berliner  gymnasium  zum  grauen  kloster, 
drei  patriotische  Schauspiele:  Roszbach  (am  meisten  zu  empfehlen !), 
die  Lützower,  Weihnachten  vor  Paris,  ferner  sei  genannt  Rackwitz: 
Vor  Paris.  Rackwitz:  im  neuen  reiche,  für  sextaner  und  quintaner 
ist  sehr  geeignet :  Schneewittchen ,  eine  märchenscene  von  Theodor 
Storm. 

Von  epischen  patriotischen  dichtungen  eignen  sich  zum  vor- 
trage von  mehreren  schülern  einige  gesönge  aus  Wildenbruchs  epos : 
Sedan.  auch  der  Verfasser  dieser  abhandlung  hat  einen  liedercyclus 
für  die  Sedanfeier  der  schule  unter  dem  titel  «von  Ems  nach  Sedan' 
veröffentlicht,  ferner  sei  hingewiesen  auf  Dahns  Harald  und  Theano 
und  Baumbachs  Horand  und  Hilde. 

Für  die  auswahl  kleinerer  Vorträge  bieten  die  verschiedenen 
lesebücher  und  die  Sammlungen  patriotischer  gediente  (Scherer: 
Germania ,  Meyer :  poetisches  vaterlandsbuch ,  Ruthardt  und  Föhr : 


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C/Varrentrapp :  J. Schulze  u.d.  höh.  preusz. unterrichtawes. seinerzeit.  87 

patriotisches  gedenkbuch  (Stuttgart,  bei  Levy  und  Müller)  genügen- 
den stoff. 

Es  ist  hiermit  wenig  erschöpfendes  in  der  aufzählung  des  ge- 
eigneten declamationsstoffes  geboten ;  denn  eine  weitere  aufzählung 
auf  grund  von  erfahrungen  anderer  collegen  oder  vergleichung  von 
Programmen  würde  an  dieser  stelle  zu  weit  führen,  der  zweck  dieser 
seilen  aber  ist  erfüllt,  wenn  dies  wenige,  zumal  die  allgemeinen  aus- 
fübrungen  für  einen  zu  beachtenden  teil  der  Jugenderziehung  auch 
nur  in  engem  kreise  fordernd  oder  anregend  wirken. 

BERENT  IN  WESTPREU8ZEN.  Stoewer. 


8. 

Johannes  Schulze  und  das  höhere  preuszische  Unterrichts- 

WESEN  IN  8EINER  ZEIT  VON  DR.  C.   VaRRENTRAPP.  Leipzig, 

druck  und  verlag  von  B.  G.  Teubner.  1889. 

Über  die  geschichtliche  entwicklung  des  preuszischen  unter- 
richtswesen8  sind  wir  verhältnismäszig  sehr  gut  unterrichtet,  in 
den  sächsischen  landen  hatten  sich  namentlich  die  humanistischen 
anstalten  schon  früher  als  in  Preuszen  einer  besondern  pflege  zu  er- 
freuen, das  stand  offenbar  damit  im  zusammenbange,  dasz  von  dem 
kurfürstentume  Sachsen  die  reformatorische  bewegung  ausgegangen 
und  alle  bestrebungen  unt  erstützt  worden  waren,  welche  die  hebung  der 
niederen  und  höheren  schulen,  die  bildung  der  menschen  überhaupt 
zum  zwecke  hatten,  in  Leipzig  und  in  Wittenberg,  wo  vor  allen  an- 
dern Philipp  Melanchthon ,  der  praeceptor  Germaniae ,  eine  tief  ein- 
greifende pädagogische  Wirksamkeit  entfaltete,  waren  die  classischen 
Studien  eifrig  betrieben,  besonders  in  ihrer  bedeutung  für  die  evan- 
gelische kirche  gewürdigt  worden,  in  Leipzig  hatten  später  iniinner 
wie  Christ,  Morus  Beck,  Joh.  Aug.  Ernesti,  zuletzt  Gottfr.  Hermann, 
Ad.  Becker,  B.  Klotz,  M.  Haupt,  0.  Jahn,  Fr.  Bitsehl,  Georg  Curtius 
u.  a.  zu  der  blüte  der  philologischen  Studien  wesentlich  beigetragen, 
so  war  es  natürlich,  dasz  die  sächsischen  gymnasien,  in  erster  linie 
die  drei  fürstenschulen  Meiszen,  Grimma,  Pforta  sich  eines 
besonders  guten  rufes  erfreuten,  auch  in  Preuszen  war  durch  die 
umsichtige  pflege,  welche  Friedrich  der  grosze  der  Volksbildung  zu 
teil  werden  liesz,  für  die  Verbesserung  der  schul  Verhältnisse  vieles 
geschehen,  was  überall  anerkonnung  fand,  vor  allem  hatte  der 
minister  des  groszen  königs  freiherr  von  Zedlitz  mit  bewunderns- 
würdiger energie  die  hebung  des  Unterrichts  auf  schulen  und  Uni- 
versitäten sich  eifrig  angelegen  sein  lassen,  diesen  verdienstvollen 
Staatsmann  darf  man  mit  recht  als  einen  würdigen  Vorläufer  von 
Wilh.  v.  Humboldt,  Süvern,  v.  Altenstein  und  Schulz  betrachten. 
Zedlitz  war  es,  welcher  die  von  Joh.  Matthias  Gesner,  von  Joh.  Aug. 


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88  C.  Varrentrapp :  J.  Schulre  u.  d.  höh.  preusz.  uuterricbtaweB.  seiner  zeit. 

Ernesti  und  von  den  schillern  dieser  männer  für  die  erklärung  clas- 
sischer  Schriftsteller  aufgestellten  grundsätze  ergriff  und  für  die 
durchfuhrung  derselben  sich  eifrig  bemühte.  Zedlitz  war  es,  wel- 
cher den  damaligen  rector  des  gymnasiums  von  Osterode  Fr.  A. 
Wolf  als  professor  der  philologie  an  die  Universität  Halle  zog  und 
dadurch  einen  nachhaltigen  Umschwung  in  der  art  der  betreibung 
classischer  Studien  herbeiführte,  die  von  diesem  genialen  manne  ange- 
regten jünglinge  Aug.  Böckh,  J.  Bekker,  Heindorf,  Passow,  Cioettling 
u.  a.  trugen  die  bessere  metbode  der  bebandlung  der  classiker  in 
immer  weitere  kreise  und  wurden  die  veranlassung,  dasz  die  Staats- 
regierungen  in  einer  den  neuen  errungenschaften  entsprechenden 
weise  anordnungen  trafen,  so  erwarb  sich  der  Staats-  und  justiz- 
minister freiherr  C.  Abr.  v.  Zedlitz,  welcher  am  18  jan.  1771  an  die 
spitze  des  geistlichen  departements  in  lutherischen  kirchen-  und 
schulsachen  trat,  unvergänglichen  rahm,  auf  seine  anregung  hin  er- 
richtete könig  Friedrich  Wilhelm  II  durch  cabinetsordre  vom  24  jan. 

1787  das  ober8chulcollegium  zum  zweck  einer  'allgemeinen  Ober- 
aufsicht, welche  über  das  ganze  des  gesamten  Schulwesens  Unserer 
länder  sich  erstrecken  und  dabei  nach  einerlei  geprüften  grund- 
sätzen  verfahren  soll*,  das  oberschulcollegium  soll  sich  nach  der 
Instruction  vom  22  febr.  1787  angelegen  sein  lassen,  'das  gesamte 
Schulwesen  in  Unserem  lande  aufs  zweckmäszigste  einzurichten  und 
nach  den  umständen  derzeit  und  der  beschaf fenheit 
der  schulen  immer  zu  verbessern,  es  musz  darauf  acht 
haben,  dasz  nach  Verschiedenheit  der  schulen  in  jeder  der  nützliche 
und  notwendige  Unterricht  erteilt  werde;  es  musz  mit  nachdruck 
darauf  halten,  dasz  überall  zweckmäszige  Schulbücher  gebraucht  und 
eingeführt,  und  wo  solche  mangeln,  durch  tüchtige  männer  herge- 
stellt werden',  das  aufsichtsrecht  des  oberschulcol  legi  ums  wurde 
freilich  thatsächlich  nicht  auf  sämtliche  höhere  schulen  der  mon- 
archie  ausgedehnt,  der  chef  der  neuen  behörde  wurde  der  minister 
v.  Zedlitz,  präsident  der  geh.  oberfinanzrat  Wöllner,  mitglieder:  der 
kanzler  der  Universität  Halle  v.  Hoffmann,  consistorialrat  prof.  Stein- 
bart zu  Frankfurt  a.  0.  und  die  gy mnasialdirectoren  J.  H.  Meierotto 
und  Gedike  in  Berlin,  welche  letztere  auch  mit  revisionsreisen  in 
die  provinz  beauftragt  wurden,  dieser  Instruction  folgte  am  23  dec. 

1788  die  circularverfügung,  durch  welche  die  abiturientenprüfung 
eingeführt  wurde,  am  3  juli  1788  ernannte  der  könig  den  geh.  rat 
Wöllner  zum  staatsminister  und  zum  chef  des  geistlichen  departe- 
ments. als  solcher  wurde  er  auch  chef  des  oberschulcollegiums  und 
blieb  es  bis  zum  27  dec.  1797.  durch  das  vielbesprochene  religions- 
edict  vom  25  juli  1788  wurde  natürlich  auch  die  schule,  die  höhere 
und  niedere,  in  mitleidenschaft  gezogen  und  das,  was  durch  die  um- 
sichtige Verwaltung  und  fürsorge  auf  dem  gebiete  des  Unterrichts 
geordnet  war,  wieder  mehr  oder  weniger  in  frage  gestellt,  man  darf 
wohl  sagen ,  dasz,  wenn  auch  die  absichten  des  edicts  ganz  gute  ge- 
wesen sein  mögen,  die  folgen  desselben  durchaus  als  ungünstige  zu 


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CVarrentrapp:  J.  Schulze  u.  d.  höh.  preusz.  unterrichtswes.  seiner  zeit.  89 


bezeichnen  sind,  man  kann  eben  Frömmigkeit  nicht  befehlen.*  der 
\tön\g  Friedrich  Wilhelm  III  ernannte  an  der  stelle  Wöllners  den 
justizmmister  v.  Massow  zum  chef  des  unterrichtswesens,  präsident 
des  oberschulcollegiums  war  1797  —  1800  C.  Fr.  v.  Irwing  und  nach 
ihm  Ad.  Fr.  v.  Scheve.  durch  die  im  jähre  1808  erfolgte  neu- 
gestaltung  der  Staatsbehörden  wurde  das  oberschulcollegium  auf- 
gehoben und  die  Unterrichts  Verwaltung  dem  ministerium  des  innern 
zugeteilt,  welches  die  gesamte  innere  landesverwaltung,  mitausnahme 
der  jubtiz-,  finanz-  und  militärangelegenheiten  umfassen  sollte  und 
in  sechs  sectionen  geteilt  wurde ,  deren  dritte  section  die  für  den 
cnltus  und  für  den  öffentlichen  Unterricht  bildete,  zum  minister  des 
innern  ernannte  der  könig  durch  die  cabinetsordre  vom  13  dec.  1808 
den  kammerpräsidenten  grafen  zu  Dohna,  die  dritte  section  wurde 
unter  die  unmittelbare  leitung  des  geh.  Staatsrats  Wilh.  v.  Humboldt 
gestellt,  der  vom  17  dec.  1808  bis  zum  23  juli  1810  die  unterrichts- 
angelegenheiten  leitete  und  eine  neue  epoche  für  die  bildungs Verhält- 
nisse Preuszens  heraufführte,  als  technische  räte  traten  in  die  section 
zwei  ausgezeichnet«  für  kunst  und  Wissenschaft  und  deren  pflege 
ebenso  wie  der  chef  derselben  begeisterte  männer  ein:  G.  H.  Nico- 
lovius  und  J.  W.  Süvern.  in  unvergleichlicher  weise  haben  sich 
diese  drei  geistvollen  beamten  um  das  vaterländische  bildungswesen 
hoch  verdient  gemacht  und  eine  blüte  der  Universitäten  und  gymna- 
sien  herbeigeführt ,  wie  sie  bis  zu  dieser  zeit  noch  nicht  dagewesen 
war.  die  aufrichtung  der  Berliner  hochschule,  in  einer  zeit,  wo  die 
vaterländischen  interessen  durch  die  französische  fremd  herschaft 
einen  so  schweren  schlag  erlitten  hatten ,  legt  glänzendes  zeugnis 
ab  von  dem  werte,  den  der  könig  Friedrich  Wilhelm  III  und  seine 
berater  auf  die  hebung  des  geistigen  lebens  des  deutschen  volkes 
legten,  nach  dem  ausscheiden  des  grafen  Dohna  aus  seinem  amte, 
den  17  nov.  1810,  übernahm  der  staatskanzler  fürst  v.  Hardenberg 
die  leitung  des  ministeriums  des  innern ,  an  die  spitze  der  dritten 
section  trat  geh.  Staatsrat  v.  Schuckmann  und  für  die  unterrichts- 
angelegenheiten  wurde  Staatsrat  Nicolovius  zum  director  ernannt 
(cabinetsordre  vom  20  nov.  1810).  als  der  staatskanzler  fürst 
v.  Hardenberg  von  der  leitung  des  ministeriums  des  innern  zurück- 
trat, wurde  geh.  Staatsrat  v.  Schuckmann  (cabinetsordre  vom  3  juni 
1814)  minister  des  innern;  cultus  und  Unterricht  blieben  in  seinem 
ressort,  bis  endlich  durch  die  wichtige  cabinetsordre  vom  3  nov. 
1817  ein  selbständiges  ministerium  für  geistliche  und  unterrichts- 
angelegenheiten  ins  leben  gerufen  wurde.  ' die  würde  und  Wichtigkeit 
der  geistlichen,  der  erziehungs-  und  schulsachen  macht  es  rätlich, 
diese  einem  eignen  ministerium  anzuvertrauen.'  bei  der  ausdehnung, 
welche  der  preuszische  Staat  gewonnen  und  bei  den  gewaltigen  auf- 
gaben, welche  das  Unterrichtsministerium  zu  lösen  hat,  wird  es  sich 


•  beil.  zur  Vossischen  ztg.  juli  1888,  D.  Paul.  Cassel  Friedrich 
Wilhelm  II,  Gotha  1886,  a.  143  ff. 


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90  C.  Varrentrapp :  J.  Schulze  u.  d.  höh.  preuaz.  unterrichtswes.  seiner  zeit. 

bald  als  eine  notwendigkeit  herausstellen,  dasz  eine  abermalige 
teilung  der  arbeit  eintreten  musz.  die  Unterrichtsangelegenheiten, 
die  sorge  für  kirchliche  dinge  und  die  pflege  der  medicinalangelegen- 
heiten  gewinnen  einen  immer  gröszern  umfang,  verlangen  eine  immer 
eingehendere  berücksichtigung,  so  dasz  in  gar  nicht  ferner  zeit  die 
eben  ausgesprochene  notwendigkeit  eintreten  wird,  zu  wünschen 
ist  ja,  dasz  die  sorge  für  diese  wichtigen  zweige  der  Staatsverwal- 
tung männern  von  fach  übertragen  wird,  der  erste  minister  der 
geistlichen  usw.  angelegenheiten  wurde  der  freiherr  von  Alten  - 
stein,  der  sich  in  den  verschiedenen  staatsämtern,  in  denen  er 
thätig  gewesen,  als  einen  höchst  tüchtigen  beamten  bewährt  und 
namentlich  in  Verbindung  mit  Wilh.  v.  Humboldt  im  jähre  1815 
das  reclamationsgescbäft  gegen  Frankreich,  das  wegen  erfolglosig- 
keit  im  jähre  1814  fast  aufgegeben  war,  mit  gutem  erfolge  betrieben 
hatte,  in  seiner  von  1817  bis  1840  dauernden  Verwaltung  des 
ministeriums  der  geistlichen  usw.  angelegenheiten  hat  er  sich,  unter- 
stützt von  einsichtigen  räten,  die  grösten  Verdienste  um  gymnasien 
und  Universitäten  erworben,  hat  wesentlich  dazu  beigetragen,  dasz 
unter  seiner  amtsführung  das  preuszische  unterrichtswesen  für  an- 
dere Staaten  vorbildlich  und  maszgebend  wurde,  als  ein  bleibender 
rühm  musz  ihm  die  wesentliche  förderung  der  gründung  der  rheini- 
schen hochschule  Bonn  angerechnet  werden,  unter  dem  minister 
v.  Altenstein  fahrte  vom  21  mai  1824  bis  zum  9  febr.  1832  der  be- 
kannte director  des  polizeiministeriums  v.  Kamptz  den  vorsitz  bei 
den  beratungen  über  Unterrichtsangelegenheiten,  nachdem  der 
minister  v.  Altenstein  gestorben  war,  übernahm  dr.  Eichhorn  bis 
zum  18  märz  1848  das  ministerium  der  geistlichen  usw.  angelegen- 
heiten, ihm  folgten  vom  28  märz  bis  26  juni  1848  der  graf  Schwerin, 
vom  25  juni  bis  zum  3  juli  1848  Rodbertus,  dann  vom  8  nov.  bis 
zum  19  dec.  1850  v.  Ladenberg,  nach  ihm  trat  Carl  Otto  v.  Baumer 
bis  zum  8  nov.  1858  an  die  spitze  der  geistlichen  usw.  angelegen- 
heiten, welchen  bis  zum  10  märz  1862  dr.  v.  Bethmann-Hollweg 
ablöste,  durch  den  einflusz  des  zum  Präsidenten  des  staatsministe- 
riums  ernannten  prinzen  Adolf  von  Hohenlohe -Ingelfingen  wurde 
H.  v.  Mühler,  den  gleich  nach  seinen  ersten  arbeiten  in  dem  ministe- 
rium des  cultus  im  nov.  1840  der  minister  Eichhorn  für  geeigneter 
und  fähiger  hielt  als  alle  seine  andern  räte,  minister  der  geistlichen 
usw.  angelegenheiten,  am  18  märz  1862.  unter  schwierigen  Ver- 
hältnissen verwaltete  er  bis  zum  17  jan.  1872  sein  verantwortungs- 
volles amt.  nach  ihm  wurde  dr.  Falk  an  die  spitze  des  geistlichen 
ministeriums  gestellt,  nach  welchem  hr.  v.  Gossler  cultusminister 
wurde,  wir  besitzen  über  die  grundsätze,  nach  welchen  die  ver- 
schiedenen minister  ihr  amt  verwalteten,  vortreffliche  Schriften,  in 
welchem  sinne  W.  v.  Humboldt  in  verein  mit  Süvern  und  Nicolovius 
die  Unterrichtsangelegenheiten  verwaltete,  ist  uns  durch  eingehende 
darstellungen  des  lebensganges  dieses  ausgezeichneten  Staatsmannes 
und  groszen  gelehrten,  den  wir  als  Schöpfer  der  neuern  sprach- 


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C.Yanentrapp:  J.Schulze  u.d.  höh.  preuez.unterrichtswes.  seiner  zeit.  91 


Wissenschaft  betrachten  müssen,  genau  bekannt,  er,  der  freund 
Goethes,  Schillers,  Herders,  Fr.  A.  Wolfs,  des  groszen  philologen, 
legte  den  grösten  wert  auf  die  betreibung  der  alten  litteratur  auf 
den  gymnasien  und  war  bemüht,  die  interessen  der  hochschulen  des 
preuszischen  Staates  nach  allen  Seiten  hin  zu  fördern  und  die  Wissen- 
schaft im  weitesten  umfange  zu  pflegen,  in  der  erinnerung  an 
W.  v.  Humboldt  von  6.  Schlesier  (Stuttgart  1854),  der  ausgezeich- 
neten biographie  W.  v.  Humboldts  von  R.  Haym  (Berlin  1856)  und 
dem  gründlichen  werke  über  Fr.  Aug.  Wolf  in  seinem  Verhältnis 
zum  Schulwesen  und  zur  pädagogik  von  dr.  Arnold  (Braunschweig 
1861  und  1862)  findet  man  über  die  Wirksamkeit  dieses  trefflichen 
mannes  den  besten  aufschlusz.  die  Wirksamkeit  des  ministers  v.  Alten- 
stein wird  uns  in  dem  schönen  werke  von  prof.  Varrentrapp  Uber 
Joh.  Schulze  in  anziehender  weise  geschildert,  die  art,  wie  der  nach- 
folger  des  freiherrn  v.  Altenstein,  dr.  Eichhorn,  seines  amtes  waltete, 
ist  von  Eilers  in  seiner  schritt :  zur  beurteilung  des  ministeri ums 
Eichhorn  (Berlin  1849)  und  in  seinen  Wanderungen  (Leipzig  1850) 
dargestellt  worden,  über  den  staatsminister  C.  0.  v.  Raumer  ist 
Berlin  1860  von  dem  geh.  rat  Bindewald  eine  sehr  orientierende 
schrift  erschienen.  Uber  die  amtsführung  des  hrn.  v.  Mühler  und 
des  hrn.  dr.  Falk  findet  man  in  den  trefflichen  lebenserinnerungen 
des  geh.  rats  D.  Wiese  wertvolle  aufschlüsse.  man  ist  unter  solchen 
Verhältnissen  in  der  läge,  über  die  geschiente  des  preuszischen  unter- 
zieh tswesens  sich  aufklarungen  aller  art  zu  verschaffen,  vor  allen 
dingen  ist  von  der  grösten  Wichtigkeit  die  bereits  in  zweiter  auf- 
läge erschienene  schrift:  'der  Staats  min  ister  freiherr  v.  Zedlitz  und 
Preuszens  höheres  Schulwesen*  von  dr.  Conr.  Rethwisch,  dieser  aus- 
gezeichneten schrift  reiht  sich  das  von  prof.  dr.  Varrentrapp  neuer- 
dings veröffentlichte  werk  über  Johannes  Schulze  und  das  höhere 
preuszische  unterrichtswesen  in  seiner  zeit  würdig  an.  Varrentrapp 
hat  es  verstanden ,  aus  dem  ihm  in  reicher  fülle  vorliegenden  mate- 
rial  uns  ein  bild  von  dem  lebensgange  des  bedeutenden  mannes,  der 
vom  1  aug.  1818  bis  zum  30  dec.  1858  einen  maszgebenden  ein- 
fiusz  auf  schul-  und  Universitätsangelegenheiten  ausgeübt  hat,  zu- 
sammenzustellen und  uns  über  die  manigfaltigen  bestrebungen  der 
verschiedenen  minister  für  die  ausgestaltung  des  preuszischen  unter- 
richtswesens ,  das  ja  immer  auch  auf  die  andern  deutschen  Staaten 
von  einflusz  gewesen  ist,  einen  allen  gebildeten  sehr  erwünschten 
überblick  zu  geben,  von  Seiten  der  regierung  sind  dem  geschichts- 
forseber  die  arebive  zur  benutzung  überlassen  und  seinem  unter- 
nehmen überhaupt  jede  förderung  zu  teil  geworden,  so  ist  es  ge- 
schehen ,  dasz  wir  ein  auf  actenmäsziger  forschung  beruhendes  bild 
einer  auf  dem  gebiete  des  Unterrichts  so  wichtigen,  für  die  ent  Wick- 
lung unserer  vaterländischen  Verhältnisse  so  bedeutungsvollen  zeit 
dem  Verfasser  des  vorliegenden  buches  zu  danken  haben,  die  schrift 
ist  gerade  in  unsern  tagen  um  so  wichtiger,  als  sie  uns  von  der  be- 
deutung  der  pflege  der  classischen  Studien,  auf  grund  deren  sich 


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92  C.  Varrentrapp :  J.  Schübe  u.  d.  höh.  preusz.  unterrichtuwes.  seiner  zeit, 

unsere  deutsche  Wissenschaft  so  herlich  entwickelt  hat,  ein  beredtes 
zeugnis  ablegt  und  den  beweis  liefert ,  wie  diese  beschäftigung  mit 
den  alten  Schriftstellern  für  die  gründliche  geistesbildung  der  jugend 
fruchtbar  gemacht  werden  kann,  war  doch  Joh.  8chulze  so  von  dem 
werte  der  classischen  bildung  durchdrangen ,  dasz  er  fort  und  fort 
mit  dem  alter  tum  in  beziehung  blieb,  die  alten  immer  wieder  las, 
sich  an  ihnen  auferbaute  und  in  seiner  wichtigen  Stellung  dafür 
sorgte,  dasz  auf  schulen  und  Universitäten  der  deutschen  jugend  die 
besten  grundlagen  dargereicht  wurden,  auf  denen  sie  eine  weitere 
gründliche  wissenschaftliche  bildung  auf  der  Universität  sich  an- 
eignen konnte,  er  selbst  hatte  es  immer  mit  seiner  wissenschaft- 
lichen durchbildung  auf  der  schule  und  Universität  sehr  ernst  ge- 
nommen, hatte  für  die  schwierigen  ämter,  in  die  er  berufen  wurde, 
sich  gewissenhaft  vorbereitet,  um  ganz  und  voll  den  an f orderungen, 
welche  an  seine  thätigkeit  gemacht  wurden ,  zu  genügen,  das  vor- 
liegende werk  öffnet  uns  einen  blick  in  die  umfangreiche  Wirksam- 
keit dieses  hoch  beanlagten  mannes,  der  von  einem  enthusiasmus  für 
alles  hohe  und  schöne  beseelt  war,  der  in  unserer  zeit  immer  seltener 
wird ,  der  den  leser  äuszerst  angenehm  berührt.  Sch.  hat  den  geist, 
wie  er  zu  sagen  pflegte,  nicht  gedämpft,  hat  der  forschenden  und 
fortschreitenden  Wissenschaft  kein  halt  zugerufen;  er  hielt  fest  an 
dem  geiste,  den  das  Christentum  in  die  weit  gebracht  und  die 
menschheit  in  neue  bahnen  gelenkt  hat;  überall  hatte  er  nur  die 
sache  im  auge,  auf  dank  verzichtete  er.  'tbust  du  was  gutes,  so 
wirfs  ins  meer;  sieht  es  kein  fisch,  so  sieht  es  doch  gott  der  herr\ 
dieser  orientalische  sprach  entsprach  der  Weltanschauung  des  treff- 
lichen mannes.  bei  der  lebhaftigkeit  seiner  natur  wurde  er  ab  und 
zu  zu  äuszerungen  fortgerissen ,  die  ihm  bald ,  da  er  von  natur  gut- 
mütig war ,  sehr  leid  thaten ;  er  suchte  dann  wieder  gut  zu  machen, 
was  er  verfehlt  hatte;  er  konnte  aufbrausen,  wenn  nach  seiner  auf- 
fassung  etwas  mislungen  war.  so  erzählte  mir  ein  verwandter,  der 
in  Weimar  sein  Schüler  gewesen,  einer  von  seinen  classengenossen 
hätte  in  einer  Schulze  durchaus  nicht  entsprechenden  weise  ein 
Schillersches  gedieht  vorgetragen,  Sch.  habe  sich  während  der  recita- 
tion  auf  dem  katheder  hin  und  her  gewunden ,  das  schnupftuch  bei- 
nahe zerrissen;  nach  beendigung  der  declamation  habe  er  ausge- 
rufen :  'mensch,  Sie  sind  nicht  menschlich  gezeugt',  und  dem  schüler 
das  buch  vor  die  füsze  geworfen,  einmal  revidierte  er  das  stifts- 
gymnasium  in  Zeitz,  der  lehrer  las  mit  den  schülern  Vergils  Aeneis, 
die  lection  mochte  dem  revisor  nicht  eben  zusagen,  er  bat  sich  das 
buch  von  dem  lehrer  aus ,  um  ihm  zu  zeigen,  wie  man  einen  dichter 
erklären  müsse,  und  bemerkt,  dasz  der  lehrer  in  seinem  exemplare 
sich  bemerkungen  für  die  interpretation  eingetragen  hatte,  da  fährt 
er  auf  und  spricht:  'was,  Sie  beschreiben  Ihr  eignes  exemplar  und 
verlangen  doch  von  den  schülern ,  dasz  sie  unbeschriebene  texte  zur 
stelle  bringen?'  natürlich  war  der  betreffende  lehrer  durch  diese 
behandlung  in  gegenwart  der  schüler  tief  verletzt,   übrigens  war 


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C.Varrentrapp :  J.Schulze u.d.höh.preusz.unterricht8we8. seinerzeit.  93 

4er  eonrector,  dem  dies  passierte,  ein  tüchtiger  philolog,  der  später 
als  gymnasialdirector  und  professor  der  philologie  an  einer  hessi- 
schen Universität  eine  anerkannte  Wirksamkeit  gefunden  hat.  so 
lieszen  sich  gewis  noch  manche  misgriffe  anführen,  misgriffe,  welche 
aus  begeisterung  für  die  sacbe,  die  er  zu  vertreten  hatte,  hervor- 
giengen. 

Die  vorliegende  biographie  hat  ihre  Schicksale  gehabt,  nach- 
dem Joh.  Schulze  am  20  febr.  1869  84  jähre  alt  heimgegangen  war, 
wurden  die  von  ihm  gemachten  aufzeichnungen  über  sein  inhalts- 
reiches leben  von  dem  Stiefsohne  Schulzes,  dem  stadtgerichtsrat  Max 
Schulze-Rössler,  dem  prof.  dr.  Ludw.  Köpke  übergeben,  um  auf  grund 
dieser  materialien  eine  biographie  auszuarbeiten.  Köpke  stand  der 
familie  Sch.  sehr  nahe  ,  war  auch  durch  seine  früheren  arbeiten  auf 
dem  gebiete  der  geschiente,  durch  seine  litterarischen  Veröffent- 
lichungen über  Tieck  und  die  Stiftung  der  Universität  Berlin  zur 
lösung  dieser  aufgäbe  wohl  ausgerüstet,  aber  durch  den  tod  des 
trefflichen  gelehrten  wurde  die  fertigstellung  des  lebensbildes  ver- 
eitelt. Max  Schulze ,  dem  sehr  viel  daran  lag ,  dasz  geeignete  bände 
die  arbeit  übernähmen ,  hatte  sich ,  nachdem  ein  zweiter  gelehrter 
gewonnen,  dann  aber  wegen  anderer  arbeiten  ablehnte,  mit  geh. 
rat  v.  Sybel  über  die  wähl  eines  gelehrten  in  Verbindung  gesetzt, 
dieser  hatte  hierauf  mit  M.  8chulze  in  gemeinschaft  sich  an  prof. 
Varrentrapp  in  Marburg,  der  ja  auch  den  nachlasz  F.  Chr.  Dahl- 
manns 1886  herausgegeben  hatte,  gewandt  und  dieser  hat  nun  in 
mustergültiger  weise  die  schöne  für  die  geschiente  des  preuszischen 
unterrichte wesens  so  wichtige  aufgäbe  gelöst,  durch  die  teilnähme, 
welche  hr.  v.  Sybel,  der  director  der  preuszischen  Staatsarchive,  dem 
Zustandekommen  der  biographie  schenkte,  wurde  es  dem  Verfasser 
ermöglicht,  zutritt  zu  den  acten  des  cultusministeriums  zu  erhalten, 
um  das  ihm  zugestellte  material  wesentlich  zu  ergänzen  und  zu  ver- 
vollständigen, so  liegt  uns  ein  wichtiger  beitrag  zur  Charakteristik 
des  für  die  entwickhing  der  preuszischen  Universitäten  und  gymna- 
sien  bedeutungsvollen  ministen  ums  Altenstein  vor,  in  welchem 
Joh.  Sch.  eine  besonders  einfluszreiche  Stellung  eingenommen  hat. 
betrachten  wir  uns  den  lebensgang  des  geistvollen  referenten  für  die 
Unterrichtsangelegenheiten  etwas  genauer. 

Sch.  wurde  am  25  jan.  1786  zuBrüel  in  Mecklenburg-Schwerin 
geboren,  sein  vater  war  herzoglicher  erbzollverwalter  in  Dömitz, 
nach  dessen  frühem  tode  wurde  der  lebendige  knabe  der  domschule 
zu  Schwerin  zugeführt,  damals  standen  die  gymnasien  Mecklenburgs 
auf  einer  niedrigem  stufe  als  heute ,  wo  sie  den  preuszischen  höhern 
schulen  völlig  gleich  sind,  daher  kam  es,  dasz  Sch.  nach  2 72  jahri- 
gem aufenthalte  aus  der  selecta,  von  welcher  die  jungen  leute  auf  die 
Universität  abzugehen  pflegten ,  im  gefühl  seiner  doch  noch  nicht  zu 
vollem  abschlusz  gelangten  Vorbildung  sich  entschlosz,  die  berühmte 
schule  zu  kloster  Berge  bei  Magdeburg,  auf  welcher  auch  Wieland 
die  grundlagen  seiner  bildung  gewonnen  hatte,  zu  besuchen,  um  in 


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94  C. Varrentrapp :  J. Schulze u. d.höh. preusz. unterriehtswes. seinerzeit. 

gründlicher  weise  sich  für  akademische  Studien  vorzubereiten,  in 
der  schule  zu  Berge  hatten  insbesondere  durch  den  gelehrten  päda- 
gogisch tüchtig  geschulten  Joh.  Gurlitt,  der  freilich  im  jähre  1802 
die  leitung  des  Jobanneums  zu  Hamburg  Ubernahm,  die  classischen 
Studien  einen  neuen  aufschwung  genommen,  der  nachfolger  Gurlitts, 
Fr.  Strass,  ein  ebenfalls  sehr  gründlich  gebildeter  gelehrter,  von 
einem  tüchtigen  lehrercollegium  unterstützt,  erwarb  sich  um  die 
schule  die  grösten  Verdienste,  nach  Schuhes  urteil  ersetzte  Strass 
den  durch  gründliche  und  umfassende  classische  gelebrsamkeit  im 
griechischen  und  lateinischen  ausgezeichneten  Gurlitt  zwar  nicht, 
übte  aber  durch  seine  würdige  haltung,  durch  sein  strenges  Pflicht- 
gefühl und  seine  frischen  Vorträge  namentlich  auch  über  preuszische 
geschiente  einen  wohlthätigen  einflusz  aus.  noch  als  greis  gedachte 
Sch.  dankbar  der  glücklichen  tage,  die  er  in  dem  anmutig  gelegenen 
Mindenumgebenen'  kloster  verlebt,  der  anregungen  und  freuden,  die 
er  hier  genossen  hatte,  in  den  amtlichen  berichten,  welche  über  die 
schüler  erstattet  wurden ,  hob  man  die  sehr  glücklichen  fähigkeiten 
Schulzes ,  seinen  vorzüglichen  fleisz,  seine  gebildeten  sitten  hervor, 
nach  2 V2  jährigem  aufenthalt  in  Berge  bezog  er  im  frühling  1805, 
mit  einem  vorzüglichen  abgangszeugnisse  ausgestattet,  die  Univer- 
sität Halle,  um  diese  zeit  war  die  Hallesche  hochschule  vielleicht 
die  bedeutendste,  für  die  entwicklung  des  wissenschaftlichen  lebens  in 
Deutschland  wichtigste;  sie  wurde  das  vorbild  der  Georgia  Augusta 
in  Göttingen;  sie  war,  wie  E.  Rössler  sagt,  ein  kind  jenes  geistes  der 
neuerung,  welcher  von  Halle  über  Deutschland  ausgieng.  die  träger 
einer  neuen  zukunftreichen  wissenschaftlichen  entwicklung  waren 
damals  in  Halle  vereinigt,  gaben  der  Universität  einen  neuen  glänz, 
vor  allen  andern  war  es  Fr.  Aug.  Wolf,  welcher  von  1783  an  bis  zu 
der  durch  Napoleon  1805  erfolgten  aufhebung  der  Universität  von 
hier  weitgehende  anregungen  für  wissenschaftliche  forschungen  aus- 
gehen liesz.  die  prolegomena  zu  Homer,  das  me  ister  werk  eines  mehr 
als  Lessingschen  Scharfsinns  nach  dem  ausdrucke  Fr.  Schlegels ,  die 
er  im  jähre  1795  veröffentlichte,  hatten,  wie  Dahlmann  sagt,  den 
deutschen  köpfen  einen  anstosz  gegeben,  dessen  Schwingungen  weit 
über  das  gebiet  der  philologie  hinausgiengen,  die  mit  den  forschun- 
gen N  iebu  hrs  auf  dem  felde  römischer  geschiebte,  die  kritische 
forschung  begründeten,  neben  diesem  ausgezeichneten  akademi- 
schen 1  ehrer  übten  auf  die  studierenden  aller  facultäten  besonders 
Steffens  und  Schleiermacher  einen  segensreichen  einflusz  aus. 
in  jenen  tagen,  wo  Joh.  Sch.  in  Halle  seine  akademischen  Studien  be- 
gann, befanden  sich  unter  den  Zuhörern  des  groszen  philologen  Wolf 
zwei  jünglinge,  mit  denen  Sch.  gar  bald  in  nähere  Verbindung  trat, 
Aug.  Böckhundlm.  Bekker,  beide  nur  wenige  monate  älter  als 
Sch.  geistig  angeregte  jünglinge  empfanden  deutlich,  was  sie  an 
dem  groszen  docenten  und  hervorragenden  gelehrten  hatten,  daher 
war  es  natürlich,  dasz  Sch.  auszer  dem  seminar  alle  collegien  Wolfs 
fleiszig  hörte,  insbesondere  war  eine  der  wichtigsten  Vorlesungen 


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CV  artentrÄpp :  J.  Schulze  u.  d.  höh.  preusz.  unterrichtfewee.  seiner  zeit.  95 

die  über  encyclopädie  der  philologie.  auszer  Wolf  war  für  Schulzes 
entwicklung  Schleiermacher  von  groszer  bedeutung.  man  möge  die 
interessante  Schilderung  der  not,  welche  über  die  Hallesche  hoch- 
schule  in  französischer  zeit  dahinzog  und  endlich  die  auflösung  der 
Universität  herbeiführte,  nachlesen,  zur  fortsetzung  seiner  Studien 
bezog  Sch.,  nachdem  er  nach  der  schlieszung  der  Universität  Halle 
in  seiner  heimat  sich  längere  zeit  aufgehalten  hatte,  die  Universität 
Leipzig,  hier  hörte  er  die  Vorlesungen  G.  Hermanns,  Chr.  D.  Becks, 
G.  H.  Schäfers  u.  a.  im  Frühjahr  1808  verliesz  er  Leipzig,  gieng  nach 
Dresden,  um  dort  die  herlichen  kunstschätze  zu  studieren  und  die 
Dresdener  Sallusthandschriften  zu  vergleichen,  später  hat  er  diese 
collationen  dem  berühmten  herausgeber  des  Sallust  prof.  dr.  Kritz 
in  Erfurt  pro  insigni  humanitate  zur  disposition  gestellt,  nach  mehr- 
monatlichem aufenthalt  in  Dresden  wurde  er  von  der  gräfin  v.  Stoscb 
eingeladen,  ihren  söhn  zu  unterrichten,  er  reiste  über  Breslau  nach 
Löwen,  in  dem  gräflichen  hause,  in  welchem  das  einschmeichelnde 
wesen  der  Franzosen,  die  Schlesien  besetzt  hielten,  anerkennung  fand, 
hatte  der  patriotische  mann  harte  kämpfe  zu  bestehen,  so  dasz  er 
froh  war,  als  er  im  mai  1808  durch  die  bemübungen  seines  freundes 
und  landsmannes  Franz  Passow  an  das  gymnasium  in  Weimar  als 
professor  berufen  wurde,  hier,  in  einer  stadt,  in  welcher  vor  allem 
durch  Wieland,  Musaeus,  Goethe,  Herder,  Schiller,  Boettiger  u.  a. 
geistiges  leben ,  sinn  für  alles  edle  und  schöne  gepflegt  wurde,  hier, 
wo  der  herzog  Carl  August  und  mit  ihm  seine  unvergeszliche  mutter 
culturelle  und  patriotische  Interessen  unterstützten ,  hatte  sich  ins- 
besondere auch  bei  der  sorge  für  die  thüringische  hochschule  Jena, 
an  der  am  Schlüsse  des  vorigen  jahrhunderts  sich  die  vornehmsten 
gelehrten  und  begabtesten  männer  eingefunden  hatten,  ein  reiches 
geistiges  leben  entwickelt,  ja,  Passow  schrieb  an  seine  mutter,  er 
habe  Weimar  'immer  als  einen  heiligen  ort,  als  den  tempel  der 
deutschen  poesie  angesehen*,  bis  zum  jähre  1804  war  K.  A.  Boettiger 
director  des  gymnasiums  gewesen  und  hatte  in  gemeinschaft  mit 
seinen  collegen  Schwabe  und  Kästner  nach  allen  Seiten  hin  die 
zwecke  der  ausbildung  der  gymnasiasten  gefördert,  ganz  besonders 
unter  dem  einflusse  Herders,  welcher  auf  dem  gymnasium  dadurch, 
dasz  er  ephorus  der  schule  war,  den  betrieb  des  Unterrichts  anregen- 
der gestaltete  als  dies  an  andern  anstalten  der  fall  war.  Boettiger 
hatte,  wie  man  dies  aus  dem  leben  des  naturforschers  Gotth. 
v.  Schubert  ersieht,  der  in  Weimar  sein  schüler  war,  groszes  päda- 
pogisches  geschick.  auch  der  Vorgänger  Boettigers,  Job.  Mich. 
Heinze,  war  für  die  damalige  zeit  ein  ausgezeichneter  schulmann. 
nach  dem  weggange  Boettigers  (1804)  war  Chr.  Ludw.  Lenz,  damals 
director  des  gymnasiums  in  Nordhausen,  nach  Weimar  berufen,  auch 
Lenz  hatte  seine  Verdienste  namentlich  um  den  Unterricht  im  latei- 
nischen. H.  Voss,  der  freilich  nur  kurze  zeit  besonders  für  die 
bebung  des  griechischen  Unterrichts  ersprieszlich  gewirkt  hatte,  war 
ein  tüchtiger  lehrer  der  anstalt.  im  jähre  1807  trat  der  von  G.  Her- 


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96  C.  Varrentrapp :  J.  Schulze  u.  d.  höh.  preusz.  unterrichtswes.  seiner  zeit. 

mann  in  Leipzig  empfohlene  Franz  Passow  in  das  lehrercollegium 
«in.  Passow  hatte  etwas  ausserordentlich  anregendes.  Mor.  Haupt 
hat  vielleicht  recht,  wenn  er  in  seiner  gedächtnisrede  auf  Aug. 
Meineke  sagt,  dasz  Meineke  durch  den  Umgang  mit  dem  später 
wissenschaftlich  wohl  überschätzten ,  aber  geistvollen  und  anregen- 
den Passow  gefördert  worden  sei.  'Passow  beantragte  mit  einer 
schönen  motivierung  (s.  70)  die  einrichtung  einer  selecta  und  her- 
beiziehung eines  jungen,  mit  frischen  kräften  ausgrüsteten ,  für  die 
Wissenschaft  begeisterten  manne«,  dem  minister  v.  Voigt  wurde 
Schulze  durch  Passow  empfohlen  und  so  geschah  es,  dasz  er  am  5  sept. 
1808  seine  antrittsrede  als  professor  am  gymnasium  in  Weimar  halten 
konnte,  es  ist  eine  wahre  freu  de  s.  71  zu  lesen,  in  welchem  geiste 
der  22  jährige  professor  sein  erzieheramt  in  einer  zeit  zu  führen  ge- 
denkt, in  der  unser  geliebtes  Vaterland  unter  dem  joche  Napoleons 
seufzte,  im  vereine  mit  freund  Passow  übte  er  durch  die  lebhafte, 
geistweckende  art  des  Unterrichts  einen  auszerordentlichen  einflusz 
auf  die  schüler  aus.  C.  W.  Goettling,  W.  E.  Weber  u.  a.  wüsten 
von  der  art,  wie  diese  männer  die  alten  erklärten,  viel  zu  rühmen, 
wollte  doch  Sch.,  wie  er  es  in  seiner  abschiedsrede  (s.  80)  ausspricht, 
seine  schüler  nicht  für  dieses  oder  jenes  bestimmte  geschäft  vor- 
bereiten, noch  weniger  sie  zu  einer  Vorratskammer  von  manigfaltigen 
nützlichen  kenntnissen  machen,  welche  zum  fortkommen  in  der  so- 
genannten weit  ersprieszliche  dienste  leisten  und  ihrem  eigner  brot 
und  ansehen  sichern ,  er  wollte  sie  allmählich  zur  klaren  erkenntnis 
der  menschheit  an  sich  erheben,  zum  hellen  bewustsein  ihrer  selbst 
und  der  eigentümlichen  weise,  wie  in  jedem  einzelnen  der  gedanke 
der  menschheit  sich  geoffenbart;  ihre  ganze  ungeteilte  natur  und 
alle  ihre  kräfte  in  ansprucb  nehmend,  wollte  er  sie  zu  ganzen,  das 
ist  zu  frommen  menschen  bilden.'  eine  pädagogik,  welche  nicht  den 
ganzen  menschen  zu  ergreifen,  für  das  höchste  und  tiefste  die  seelen 
zu  stimmen  sich  bemüht,  hat  wenig  wert,  nicht  blosz  als  lehrer 
suchte  Sch.  die  herzen  der  jugend  zu  gewinnen,  sondern  auch  von 
der  kanzel  herab,  auf  welcher  Herder  gestanden  und  das  wort  gottes 
den  seelen  seiner  zubörer  nahe  gebracht  hatte,  wollte  er  für  die 
höchsten  güter  der  menschheit  liebe  und  begeisterung  wecken,  es 
wurde  noch  lange,  nachdem  Sch.  Weimar  verlassen  hatte,  von  dem 
eindrucke  gesprochen,  welchen  der  Unterricht  und  die  predigten 
des  geistvollen  mannes  gemacht  hatten,  in  seinen  reden,  sagt 
R.  Köpke,  wie  in  seinem  ganzen  leben,  war  es  Schulzes  bestre- 
ben, stets  aus  dem  ganzen,  aus  der  umfassenden  idee  heraus- 
zuarbeiten; Wissenschaft  und  religion,  kunst  und  Vaterland  ver- 
banden sich  bei  ihm  in  einem  brennpunkte.  dasz  ein  ästhetisch  so 
geschulter  mann  wie  Schulze  auch  an  den  damals  gerade  durch  den 
einflusz  Goethes  auf  der  höhe  stehenden  leistungen  des  hoftheaters 
in  Weimar  inniges  interesse  nahm,  versteht  sich  von  selbst,  von 
dem  dichterfttrsten  hielt  er  sich  in  angemessener  entfernung,  weil 
er  sah,  wie  viele  sich  an  den  vielbewunderten  mann  herandrängten. 


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C.Varrentrapp :  J. Schulze  u. d. höh. preusz.  unterrichtswes. seiner  zeit.  97 

Goethe  hat  in  seiner  herlichen  schritt  rWinckelmann  und  sein  Jahr- 
hundert' (Tübingen  1805)  ausgesprochen  (s.  470) :  sollte  nicht  end- 
lich der  wünsch  einer  vollständigen  Sammlung  der  schritten  Winckel- 
manns  unter  dem  volke  rege  werden«  das  ihm  so  vielen  nationalruhm 
bei  den  ausländem  verdankt?  diesen  wünsch  hat  Sch.  unter  oft 
schwierigen  Verhältnissen  erfüllt,  er  hat  in  Verbindung  mit  Heinr. 
Meyer,  dem  bekannten  Kunst-Meyer,  eine  treffliche  ausgäbe  der 
werke  Winckelmanns  (1809  bis  1817)  zu  stände  gebracht  und  sich 
dadurch  grosze  Verdienste  erworben,  es  waren  vier  glückliche  jähre, 
die  er  hochgeehrt  von  dem  Herzog  Carl  August  und  seiner  gemahlin 
und  hochgeschätzt  in  den  thüringischen  fürstlichen  familien  als  ideal 
gerichteter  hochangesehener  lehrer  der  jugend  verlebte,  viel  liebe 
und  viel  dankbarkeit  hat  ihm  seine  Wirksamkeit  in  Weimar  einge- 
bracht, auch  er  hat  die  zeit  seiner  weimarischen  Wirksamkeit  als 
eine  gesegnete  ihm  selbst  viel  anregung  spendende  betrachtet  und 
freute  sich  immer,  wenn  ein  Weimaraner  ihn  besuchte,  wenn  er  gerade 
einem  Weimaraner  in  irgend  einer  weise  dienstbar  sein  konnte,  es 
war  natürlich,  dasz  ein  so  geistvoller,  nach  allen  richtungen  hin  tief 
gebildeter,  immer  anregender  mann  die  aufmerksamkeit  maszgeben- 
der  Persönlichkeiten  auf  sich  zog.  so  kam  es,  dasz  der  freiherr  v.  Dal- 
berg, groszherzog  von  Frankfurt,  einst  kurmainzischer  Statthalter  in 
Erfurt,  den  weimarischen  kreisen  wohl  bekannt,  ein  mann  von  hoher 
wissenschaftlicher  bildung,  der  mit  W.v.  Humboldt,  Wieland,  Goethe, 
Schiller,  Herder  und  andern  bedeutenden  persönlichkeiten  in  nahen 
beziehungen  stand,  Sch.  1812  als  professor  der  alten  litteratur,  dann 
als  director  des  gymnasiums  und  oberschul-  und  studienrat  nach 
Hanau  berief,  im  herbst  1810  hatte  Franz  Passow  Weimar  ver- 
lassen, da  er  als  mitdirector  des  Conradin  um  nach  Danzig  berufen 
worden  war.  mit  dem  nacbfolger Passows,  Ferd. Hand,  einem  tüch- 
tigen schüler  G.  Hermanns,  der  nach  Schutzes  anschauung  den  wert 
der  Sprachkenntnisse  zu  sehr  betonte,  den  er  aber  wegen  seiner 
auszerordentlich  gründlichen  gulehrsamkeit,  wegen  seiner  groszen 
bescheidenheit  hochschätzte,  blieb  er  bis  zu  seinem  im  jähre  1851 
erfolgten  tode  in  freundlichen  beziehungen.  in  einer  von  vaterlän- 
discher gesinnung  erfüllten  rede  nahm  er  abschied  von  seinen  schülern 
und  collegen.  die  anspräche  war  so  patriotisch ,  dasz  der  polizei- 
minister seines  neuen  landesherrn  die  ganze  druckauflage  einziehen 
besz.  auch  der  herzog  Carl  August  hatte  ihm  früher  schon  vertrau- 
lich geäuszert,  dasz  er  ihn  wegen  seines  energischen  Patriotismus 
nicht  werde*  schützen  können.  Dalberg  nahm  sich  zunächst  persön- 
lich des  wackeren  mannes  an  und  1813  trat  ja  für  unser  Vaterland 
die  ersehnte  Wendung  der  geschicke  ein.  seine  damals  erscheinenden 
Bchulreden,  seine  reden  an  die  wiedergeborenen  Hessen,  manches  ge- 
dieht in  den  Zeitungen  bezeugen  die  innige  teilnähme  an  dem  gange 
der  vaterländischen  ereignisse.  im  jähre  1815  begründete  Sch.  durch 
Verheiratung  mit  der  verwitweten  frau  Caroline  Boehm,  geb.  Rössler 
seinen  hausstand.  die  gebildete  frau  brachte  ihm  einen  söhn  mit  in 

N.jthrb.  f.  pt.il. u.  pid.  II.  AbU  1891  hfl. 2.  7 


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98  C.Varrentrapp :  J.  Schulze  u.  d.  höh. preusz.  unterrichtawee.  geiner  zeit. 

die  ehe,  an  dessen  entwicklung  er  seine  innige  freude  hatte,  mit  dem 
er  innig  verbunden  war.  schon  mit  beginn  des  jahres  1816  wurde  Sch. 
kurfürstlicher  oberschulrat,  aber  bald  (am  14  märz  1816)  erhielt  er 
die  ernennung  zum  schulrat  bei  dem  consistorium  und  schulcollegium 
in  Coblenz.  manner,  welche  Schnlzes  wissenschaftliche  Nichtigkeit, 
sein  lehrgeschick ,  seine  organisatorische  thätigkeit,  seinen  patrio- 
tischen eifer  zu  schätzen  wüsten ,  sahen  den  hochverdienten  Schul- 
mann ,  der  unter  oft  hemmenden  einflössen  doch  segensreich  für  die 
bildung  des  volkes  gewirkt  hatte,  sehr  ungern  scheiden.  Sch.  selbst 
war  es  eine  freude  in  ein  Staatswesen  einzutreten,  dem,  wie  jedem 
einleuchtete,  der  aufmerksam  die  entwicklung  der  dinge  verfolgt 
hatte,  die  zukunft  gehörte,  geh.  rat  Süvern,  der  mit  groszer  umsieht 
die  Unterrichtsangelegenheiten  besorgte,  war  für  die  berufung  Schulzes, 
den  er  persönlich  kennen  gelernt  hatte,  besonders  tbfttig  gewesen 
und  hatte  auch  durch  diese  wähl  gezeigt,  dasz  er  in  der  person  nicht 
fehlgegriffen  hatte,  in  Coblenz  trat  Sch.  in  einen  kreis  von  männern 
ein,  welche  alle  die  grosze  aufgäbe,  an  dem  Wiederaufbau  des  von 
den  Franzosen  zerschlagenen  Vaterlandes  mitzuarbeiten,  mit  energie 
ergriffen,  mit  geschick  und  treue  durchführten,  dort  in  Coblenz 
waren  in  jenen  tagen  männer  versammelt,  welche  für  die  geschiente 
unseres  Vaterlandes  eine  grosze  bedeutung  gewonnen,  sich  um  das- 
selbe unsterbliche  Verdienste  erworben  haben,  vor  allen  andern 
machte  Gneise  nau,  der  ja  gern  mit  'civil i 8 ten*  verkehrte,  einen 
nachhaltigen  eindruck  auf  den  neuen  schulrat.  mit  Sch.  liesz  sich 
Gneisenau  in  ein  gespräch  über  Alexander  M.  ein,  da  er  dessen  Über- 
setzung des  Arrian  kannte,  und  meinte  sehr  zutreffend,  dasz  Alexan- 
der eine  poetische  natur  gewesen  sei.  auszer  Gneisenau  fand  er  dort 
den  geistvollen  Clausewitz,  den  chef  des  generalstabes ,  Carl 
v.  Gröben,  der  neben  Clausewitz  dem  trefflichen  Gneisenau  zur 
seite  stand,  unter  den  civilisten  imponierte  ihm  der  durch  seine 
groszartigen  litterarischen  Sammlungen  später  so  bedeutend  gewor- 
dene C.  v.  Meusebach,  welcher  1816  als  präsident  des  für  die  rhein- 
lande errichteten  provisorischen  revisionshofes  nach  Coblenz  versetzt 
war.  sehr  freundschaftlich  verkehrte  Sch.  auch  mit  Max  v.  Schenken- 
dorf, man  kann  sich  denken,  dasz  der  geistig  so  bewegliche  scbulrat 
in  dieser  atmospbäre  sich  sehr  wohl  fühlte,  dasz  ihm  ein  neues,  die 
entfaltung  seiner  kraft  weckendes  leben  aufgieng.  doch  nicht  lange 
sollte  Sch.  in  dem  ihm  so  zusagenden  kreise  verweilen,  bereits  im 
juni  1818  wurde  er  als  vortragender  rat  in  das  cultusministerium 
berufen,  durch  die  cabinetsordre  vom  3november  1817  gelangte  der 
schon  von  W.  v.  Humboldt  angeregte  gedanke  einer  loslösung  des 
departements  für  den  cultus  und  öffentlichen  Unterricht  vom  mini- 
sterium  des  innern  zur  ausfuhrung  und  an  die  spitze  des  neuen  mini- 
steriums  wurde  freiherr  v.  Altenstein  gestellt,  auf  s.275  finden  wir 
eine  treffende  Charakteristik  dieses  ausgezeichneten ,  für  alle  idealen 
güter  des  lebens  empfänglichen  Staatsmannes,  der  es  sich  ernstlich 
angelegen  sein  liesz,  schulen  und  Universitäten  nach  allen  richtungen 


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CV arrentrapp :  J.  Schulze  u.  d.  höh.  preusz.  unterrichtswes.  seiner  zeit.  99 

bin  zu  pflegen,  für  die  bebung  des  geistigen  und  sittlichen  lebens 
auf  diesen  anstalten  alles  einzusetzen,   einen  treuen,  in  seine  ideen 
eingehenden,  von  vaterländischen  und  wissenschaftlichen  interessen 
mächtig  ergriffenen  raitarbeiter  an  dieser  groszen  aufgäbe  fand  der 
minister  in  Joh.  Schulze,   es  war  wieder  einer  von  den  glücklichen 
griffen,  durch  welche  es  der  preuszischen  staatsregierung  oft  ge- 
lungen ist,  die  rechten  manner  an  die  rechte  stelle  zu  setzen  und 
die  Wohlfahrt  des  landes  zu  fördern,  eine  besonders  rühmenswerte 
thätigkeit  entwickelte  das  ministerium  bei  der  in  aussieht  genom- 
menen grtindung  der  rheinischen  hochschule.  galt  es  doch  für  alle 
facultÄten  tüchtige  männer  zu  gewinnen,  welche  den  rühm  der  neuen 
Universität  begründen  sollten,   es  ist  von  groszem  interesse,  die 
gründungsgeschichte  der  hochschule  zu  lesen  (s.  285  ff.),  die  ja  für 
das  ganze  geistige  leben  der  nation,  nicht  blosz  für  die  Rheinprovinz 
von  bedeutung  geworden  ist.  männer,  wie  die  philologen  Heinrich, 
Näke,  F.  G.  Welcker,  Fr.  Ritsehl,  Otto  Jahn,  Wilh.  v.  Schlegel, 
Arndt,  Niebubr,  Dahlmann,  Jac.  Bernays,  die  Juristen  Walter, 
K.  Welcker,  die  mediciner  Mayer,  Nasse,  Stein,  Walther,  die  theo- 
logen  Lücke,  Sack,  Augusti,  Gieseler  u.  a.  waren  zierden  der  Uni- 
versität; auch  für  die  katholisch -theologische  facultät  wurden  ent- 
sprechende tüchtige  kräfte  gewonnen,  gar  bald  wurden  die  deutschen 
Universitäten  durch  eine  denkschrift  des  jungen  Walachen  Stourdza, 
welche  eine  revolution  in  Deutschland  in  nahe  aussieht  stellte  und 
durch  den  einflusz,  welchen  Metternichs  System  überall  in  unserem 
vaterlande  übte,  als  herde  revolutionären  treibens  verdächtigt  und 
namentlich  waren  die  durch  Jahns  thätigkeit  ins  leben  gerufenen 
turnanstalten  auf  schulen  und  Universitäten  ein  gegenständ  der  be- 
sorgnis,  von  ihnen  werde  der  geist  der  empörung,  der  Widerspruch 
gegen  regierungsmaszregeln  genährt  und  groszgezogen.  der  könig 
Friedrich  Wilhelm  III  war  über  die  entartungen  der  zeit  sehr  erregt, 
er  hatte  eben  für  die  sich  kundgebenden  regungen  einer  neuen  zeit 
kein  ausreichendes  Verständnis,  da  er  unter  andern  Strömungen  poli- 
tischer und  geistiger  richtungen  grosz  geworden  war.  in  den  folgen- 
den abschnitten  des  trefflichen  buches  werden  wichtige  beiträge  zum 
Verständnis  der  Zeitgeschichte  geliefert,  die  ja  durch  neuere  Ver- 
öffentlichungen uns  überhaupt  in  einem  etwas  andern  lichte  erscheint, 
als  dies  früher  der  fall  war.   die  thätigkeit  der  regierungsbevoll- 
mächtigten an  den  Universitäten  wird  ausführlich  geschildert  und 
die  gegenströmungen,  die  gegen  das  ministerium  Altenstein  hervor- 
traten, insbesondere  wurde  (s.  325)  der  regierungsbevollmächtigte 
der  Berliner  Universität,  geh.  rat  Schultz,  der  mit  Goethe,  mit  Savigny, 
Schleiermacber  und  andern  wissenschaftlich  bedeutenden  männern 
in  freundschaftlichen  beziehungen  stand  und  von  dem  der  minister' 
v.  Altenstein  förderung  und  pflege  der  geistigen  interessen  auf  den 
Universitäten  erhofft  hatte ,  ein  heftiger  gegner  der  Universitätspro- 
fessoren, er  hatte  erklärt,  dasz  gerade  die  professoren,  mit  denen  er 
verkehrt  hatte,  in  amtlicher  beziehung  am  wenigsten  sein  vertrauen 

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100  C.  Varrentrapp :  J.  Schulze  u.  d.  höh.  preusz.  uuterrichtswes.  seiner  zeit 

erhalten  dürften,  bereits  1808  (s.  325)  hatte  dieser  regierungsbe- 
vollmächtigte bei  der  beurteilung  des  publicandums  über  die  ver- 
änderte Verfassung  der  obersten  Staatsbehörden  den  glauben,  dasz 
durch  eine  fein  erdachte  Constitution  ein  staat  an  und  für  sich  zum 
heil  gelangen  könne,  für  einen  gefährlichen  irrtum  der  neuesten 
afterphilosophischen  zeit  erklärt;  jede  mitwitkung  des  Volkes  bei  der 
fortentwicklung  des  staatlichen  lebens  hielt  er  für  ungehörig  und 
verderblich,  die  erfabrungen  der  gährenden  zeit  nach  den  befreiungs- 
kriegen  bestärkten  ihn  in  seinem  mistrauen  gegen  alle  populären 
agitationen.  nach  den  Carlsbader  beschlttssen  zum  regierungsbevoll- 
mächtigten ernannt,  glaubte  er  vor  allem  zu  ihrer  rücksichtslosen 
durchfuhrung ,  zur  aufspürung  und  Verfolgung  aller  verdächtigen 
verpflichtet  zu  sein,  fürst  Wittgenstein  wüste  den  eifer  des  leiden- 
schaftlich gegen  den  neu  sich  regenden  Zeitgeist  erregten  Schultz 
anzustacheln  und  namentlich  den  könig  gegen  die  intentionen  des 
minister  8  Altenstein  einzunehmen,  so  kam  es,  dasz  Wittgenstein, 
Beckedorff  und  Schultz  gemeinsam  dahin  arbeiteten,  das  Unterrichts- 
system,  was  seit  1809  durch  den  einflusz  Fichtes,  Schleiermachers, 
Fr.  A.Wolfs,  W.  v.  Humboldts  und  anderer  hervorragenden  männer 
festen  boden  in  Preuszen  gewonnen  hatte,  zu  verdächtigen,  es  als 
grund  des  immer  weiter  um  sich  greifenden  moralischen  verderbeng 
hinzustellen  und  auf  eine  durchgreifende  Umgestaltung  desselben 
hinzudrängen,  als  hauptpunkte  wurden  hingestellt:  Unterordnung 
der  schulen  unter  die  kirche,  bevormundung  der  eine  selbständige 
gesetzgebung  und  Verwaltung  sich  anmaszenden  Universitäten ,  auf 
welchen  die  theologische  facultät  vor  allem  wieder  einen  uner- 
schütterlichen mittelpunkt der  lehre  erhalten,  die  philosophische 
dagegen  nur  als  vorbereitend  gelten  und  unter  die  der  übrigen  in 
eignen  Unterabteilungen  zerfallen,  und  endlich  eine  ganz  andere  ein- 
richtung  der  geistlichen  angelegenheiten  eintreten  müsse,  bei  sol- 
chen und  andern  in  aussieht  genommenen  Umwandlungen  der  bis- 
herigen maszregeln  richteten  die  Vertreter  reactionärer  anschauungen 
ihr  augenmerk  besonders  auf  die  beseitigung  der  räte  des  ministers 
v.  Altenstein ,  der  minister  selbst  stand  auch  bei  dem  könig  in  so 
hohem  ansehen,  dasz  man  an  dessen  entfernung  nicht  zu  denken 
wagte,  der  treffliche  Nicolovius,  Süvern,  Schulze  und  Frick  sollten 
aus  ihren  Stellungen  ausscheiden  (s.  329  ff.).  Frick,  justitiar  des 
ministeriums,  wurde  von  Schultz  als  ein  freund  der  bur  seh  ensehaft 
tödlich  gehaszt.  Joh.  Schulze  rühmt  diesen  beamten  als  einen  ge- 
wandten, geduldigen  und  mutigen  Vorkämpfer  für  Wahrheit  und 
recht,  es  waren  bewegte  zeiten,  in  denen  sich  die  reaction  gegen 
die  unter  dem  ministerium  Altenstein  auf  dem  gebiete  des  höheren 
Schulwesens  und  der  aniversitätsangelegenheiten  gemachten  errun- 
genschaften  richtete  und  dem  könig,  der  ohnebin  mit  dem  auf  den 
hochschulen  sich  kundgebenden  geiste  nicht  zufrieden  war,  diejenigen 
männer  zu  verdächtigen  suchte,  welche  für  die  entbindnng  der  unter- 
drückten und  schlummernden  geistigen  kräfte  des  volkes  mit  ihrer 


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C.Yaxrentrapp :  J.  Schulze  u.d.  höh.  preuaz.  unterrichtswes.  seiner  zeit.  101 

ganzen  persönlichkeit  eingetreten  waren,  das  ansehen  des  ministers 
v.  AAtenstein  stand  zu  fest,  die  angriffe  richteten  sich  besonders  gegen 
¥rick  und  Joh.  Schulze,  es  ist  ein  schöner  zug  des  trefflichen  Alten- 
stein, dasz  er  seiner  räte  sich  nachdrücklich  annahm,  von  Sch.  sagte 
er:  ernst  religiös,  sittlich  rein  und  unbescholten  und  dabei  heiter, 
habe  auch  dieser  nie  in  heimlichen  Verbindungswesen  gestanden 
(wie  Frick  auch  nicht),  wenn  vielleicht  früher  äuszerungen  beiner 
lebhaften  natur  und  alte  beziehungen  anlasz  zu  besorgnis  gegeben, 
so  seien  solche  seiner  amtlichen  thStigkeit  gegenüber  nicht  ge- 
rechtfertigt, vielmehr  sei  auch  er  für  diese  in  seltener  weise  ge- 
schickt, er  besitze  bei  einer  groszen  allgemeinen  wissenschaftlichen 
bildung  in  mehreren  fächern  gründliche  gelebrsamkeit  und  dadurch 
die  nötige  autorität  bei  den  gelehrten ,  mit  denen  er  zu  verkehren 
habe;  seine  pädagogische  fähigkeit,  die  er  bei  der  glücklichen  leitung 
höherer  lehranstalten  bewährt,  setze  ihn  in  den  stand  in  den  Unterricht 
einzugreifen  und  selbst  ein  muster  zu  werden;  seine  gewandt  hei  t 
und  gefälligen  formen  förderten  wesentlich  die  geschäfte.  die  Ver- 
setzung in  eine  andere  stelle  würde  der  natur  der  sache  nach  für  ihn 
eine  kränkung  enthalten;  noch  viel  schwerer  als  für  Frick  würde  es 
sein  für  ihn  einen  ersatzmann  zu  finden  (s.  336).   rdie  maszvolle 
darlegung  des  ministers  verfehlte  des  eindrucks  nicht  auf  den  ge- 
wissenhaften könig,  es  wurde  wirklich  erreicht,  dasz  die  verhängnis- 
volle ordre  vom  10  april  1822  nicht  zur  ausführung  kam.'  nichts- 
destoweniger dauerte  die  traurige  Verfolgung  freierer  regungen  auf 
politischem  und  wissenschaftlichem  gebiete  fort,  schwer  hat,  sagt 
Varrentrap  mit  recht  (s.  339),  Friedrich  Wilhelm  III  seinen  und  seines 
Staates  ruf  durch  die  maszregeln  geschädigt,  zu  denen  er  sich  gegen 
den  rat  seiner  sachkundigen  beamten  durch  die  Vorstellungen  Met- 
ternichs und  seiner  preuszischen  helfershelfer  bestimmen  liesz ;  noch 
weniger  aber  als  einst  in  Wöllners  tagen  war  jetzt  durch  solche 
mittel  der  fortschritt  des  deutschen  geisteslebens  zu  hindern,  dessen 
verständnisvolle  förderung  das  preuszische  Unterrichtsministerium  in 
allen  wirren  mit  eifer  und  erfolg  betrieb. 

Schulze  war  immer  bemüht  fühlung  zu  behalten  mit  dem  gange 
der  geistigen  entwicklung  unseres  Vaterlandes,  als  im  jähre  1818 
Hegel  nach  Berlin  berufen  worden  war,  wüste  der  ministerialrat 
Sch.  mitten  unter  den  acten  und  dringenden  geschäften  des  tages 
zwei  jähre  hindurch  sich  so  viel  zeit  abzugewinnen,  dasz  er  die  phi- 
losophischen Vorlesungen  des  damals  so  gefeierten  philosopben  hörte, 
mit  ihm  nach  dem  collegium  das  vernommene  durchsprach  und  so 
in  das  system  Hegels  in  gründlichster  weise  eingeführt  wurde, 
später  beteiligte  er  sich  ebenso  wie  bei  der  herausgäbe  der  werke 
Joachim  Winckelmanns  auch  an  der  herausgäbe  der  Hegeischen 
scbriften.  überhaupt  war  er  für  sein  verantwortungsvolles  amt  als 
referent  in  Unterrichtsangelegenheiten  gründlich  vorbereitet,  er 
kannte  nicht  blosz  die  bedürfnisse  der  gymnasien,  war  mit  ihrer  ge- 
schiente vertraut,  sondern  er  hatte  auch,  um  den  anforderungen,  die 


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102  C.  Varrentrapp :  J.  Schulze  u.  d.  höh.  preusz.  unterrichtswea.  seiner  zeit. 

man  an  einen  referenten  in  Universitätsangelegenheiten  zu  stellen 
berechtigt  ist,  eingehende  Studien  Uber  universitäts Verhältnisse  ge- 
macht und  war  bei  der  empfänglichkeit  seines  geistes  für  alles  grosze 
und  schöne,  bei  seiner  nicht  gewöhnlichen  beanlagung,  bei  der  ge- 
schäftlichen gewandtheit,  die  er  besasz,  wohl  geeignet  den  pflichten 
seines  hohen  amtes  zu  genügen,  dazu  kam,  dasz  er  mit  den  bedeu- 
tendsten männern  der  Wissenschaft  in  vertraulichem  verkehr  stand, 
sich  bei  ihnen  rat  holen  konnte.  Fr. Ritsehl,  Goettling,  Hand,  Böckh, 
Hegel,  Passow  und  viele  andere  gelehrte  standen  Sch.  persönlich 
nahe,  unstreitig  darf  man  die  zeit  der  Verwaltung  des  ministers 
Altenstein  eine  zeit  des  geistigen  aufschwunges  nennen :  eine  Univer- 
sität, 13  gymnasien  wurden  errichtet,  wissenschaftliche  in  st  i  tute  und 
gebäude  für  verschiedene  Universitäten  neu  begründet  oder  erweitert, 
bibliotheken  besser  ausgestattet,  die  examina  der  schulamtscandi- 
daten  reguliert,  die  lehrsteilen  verbessert  und  vermehrt,  die  lehr- 
pläne  und  das  programmwesen  umgestaltet,  das  museum  wurde 
gegründet  und  durch  ankäufe  aller  art  ausgestattet,  die  Jahrbücher 
für  wissenschaftliche  kritik ,  an  welchen  Joh.  Sch.  durch  beiträge 
sich  beteiligte,  wurden  ins  leben  gerufen,  kurz. die  geistigen  kräfte 
der  nation  waren  in  eine  angemessene  bewegung  gebracht  und  hatten 
schöne  früchte  gezeitigt,  früchte,  welche  die  aufmerksamkeit  des  aus- 
ländes auf  sich  gezogen  und  bewirkt  hatten,  dasz  man  Preuszen  den 
Staat  der  intelligenz  nannte,  dasz  fremde  nationen  männer  aus- 
sandten, um  das  bildungswesen  in  Preuszen  kennen  zu  lernen  und 
die  dort  gemachten  erfahrungen  für  ihre  eignen  länder  nutzbar  zu 
machen,  vor  allem  aber  war  es  für  unser  Vaterland  von  bedeutung, 
dasz  die  andern  Staaten,  welche  den  aufschwung  in  Preuszen  bewun- 
derten, angereizt  wurden,  ein  gleiches  zu  thun,  hinter  dem  groszstaat 
Preuszen  nicht  zurückzubleiben,  so  hat  um  die  hebung  des  geistigen 
lebens  unseres  ganzen  volkes  der  minister  Altenstein  und  sein  treuer 
und  geschickter  ratgeber  Joh.  Schulze  sich  die  grösten  unvergeß- 
lichen Verdienste  erworben,  auch  für  Job.  Schulze  kamen  bald  trau- 
rige zeiten.  im  jähre  1831  starb  sein  freund  Hegel  und  9  jähre  später 
schied  der  von  ihm  so  hoch  verehrte  minister  Altenstein  aus  dem  leben 
(im  mai  1840);  auch  der  tod  (7  juni  1840)  des  königs  Friedrich 
Wilhelm  III  erfolgte  und  es  trat  nun  mit  der  regierung  könig 
Friedr.  Wilhelms  IV  ein  Systemwechsel  ein,  der  auch  für  Sch.  folgen 
hatte,  es  wurde  an  die  stelle  Altensteins  zum  cultusminister  Eich- 
horn ernannt,  wir  können  nun  nicht  ganz  dem  beistimmen,  was 
Mejer  in  der  allg.  deutschen  biogr-  V  739  sagt,  fdasz  die  Alten- 
steinsche  Verwaltung  gegen  ihr  ende  sowohl  auf  katholischem  wie 
auf  evangelischem  kirchengebiete  Schiffbruch  gelitten  und  nicht  blosz 
verwirrte  zustände,  sondern  zugleich  ein  mit  ihnen  verflochtenes, 
schwer  brauchbares  dienstpersonal  überliefert  habe.'  man  mag  zu- 
geben, dasz  unter  dem  ministerium  misgriffe  mancher  art  gemacht 
worden  sind,  aber  unter  welchem  ministerium  werden  sie  bei  dem 
besten  willen  nicht  gemacht?  Sch.  muste  es  erleben,  dasz  unter  den 


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C.Varrentrapp :  J. Schulze  u. d. höh. preu»z.  Unterrichts w es. seinerzeit  103 

äugen  des  ininisters  die  gehässigsten  anklagen  auf  irreleitung  des 
Tolkes  gegen  den  Vorgänger  im  amte  verbreitet  wurden,  so  war  es 
natürlich ,  dasz  dem  bewährten  arbeiter  im  ministerium  ein  referat 
nach  dem  andern  entzogen,  seine  geistige  kraft  lahm  gelegt  wurde, 
die  wichtigsten  dinge  wurden  jungen  assessoren  zur  bearbeitung 
übertragen ;  die  räte  des  königs  Friedrich  Wilhelms  III  wurden  so 
rücksichtslos  behandelt,  dasz  der  prinz  von  Preuszen  seine  misbil- 
ligung  darüber  offen  aussprach,  zu  den  amtlichen  Widerwärtigkeiten 
traten  häusliche  leiden,  seinen  ältesten  söhn  sah  er  langsam  hin- 
siechen, von  mehreren  kindern  blieb  ihm  sein  jüngster  söhn  Max, 
an  dessen  beruf sar bei ten  und  interessen  er  lebhaften  anteil  nahm 
und  sein  Stiefsohn  prof.  L.  Böhm,  dem  er  von  ganzer  seele  zugethan 
war.  sehr  tief  ergriff  ihn  die  lange  krankheit  und  der  tod  der  treuen 
lebensgefährtin  (1846).  im  herbst  1848  übernahm  nach  den  kurzen 
sommerministerien  v. Ladenberg  das  cultusministerium,  Schulze  wurde 
1849  zum  dirigenten  der  Unterrichtsabteilung  ernannt  und  als  1850 
dem  herrn  v.  Ladenberg  der  staatsminister  C.  0.  v.  Raumer  folgte, 
blieb  Joh.  Schulze  in  schul-  und  Universitätsangelegenheiten,  wo 
nicht  kirchlichedingein  frage  kamen,  der  erprobte  ratgeber  des 
ministers.  so  wurde  dem  sachkundigen  geistvollen  rate  die  ihm  von 
dem  minister  Eichhorn  versagte  anerkennung  durch  herrn  v.  Raumer 
zu  teil,  ein  geistreiches  mitglied  des  cultusministeriums ,  geh.  rat 
Bindewald,  erzählte  oft,  was  für  angenehme  gänge  er  mit  seinem 
collegen  Joh.  Sch.  gemacht,  es  sei  eine  freude  gewesen,  ihn  über 
seine  in  langen  jähren  an  menschen  und  Verhältnissen  gemachten 
erfohrungen  reden  zu  hören.  Joh.  Sch.  bezeugte,  dasz  er  nächst 
Altenstein  keinen  chef  gehabt  habe ,  mit  dem  er  lieber  gearbeitet 
hätte,  immer  hat  es  Sch.  als  ein  groszes  verdienst  Raumers  hervor- 
gehoben, dasz  er  alle  Schwierigkeiten,  welche  sich  der  durch  Sch. 
besonders  betriebenen  beruf ung  dreier  ganz  ausgezeichneten  gelehr- 
ten Tb.  ütlommsen,  M.  Haupt  und  0.  Jahn,  welche  in  Leipzig 
wegen  ihrer  politischen  gesinnung  aus  ihrer  reich  gesegneten  Wirk- 
samkeit entfernt  worden  waren,  entgegenstellten,  beseitigte  und  es 
durchgesetzt  habe,  dasz  diese  hervorragenden  männer  an  preusziscben 
Universitäten  angestellt  wurden,  im  sommer  1858  feierte  der  ver- 
dienstvolle rat  des  cultusministeriums  sein  50jäbriges  dienstjubi- 
l&um,  von  allen  Seiten  wurden  ihm  zeichen  der  grösten  anerkennung 
zu  teil ;  er  erkannte,  wie  viele  treue  Verehrer  er  hatte ;  auch  der  stern 
zum  roten  adlerorden  II  classe  mit  brillanten  wurde  ihm  verliehen, 
bald  darauf  begann  die  neue  ära.  unter  dem  ministerium  des  fürsten 
von  Hohenzollern  übernahm  herr  v.  Bethmann-  Hollweg  das  cultus- 
ministerium. Joh.  Sch.  begrüszte  im  namen  der  beamten  den  neu 
eintretenden  minister  in  eindrucksvoller  rede,  sein  alter  —  er  war 
73  jähre  —  legte  ihm  den  gedanken  nahe,  seinen  abschied  zu  er- 
bitten, der  ihm  dann  auch  in  der  ehrenvollsten  weise  gewährt  wurde, 
bia  zum  jähre  1864  behielt  er  seine  Stellung  in  der  uiilitärstudien- 
commission  und  als  mitglied  der  kriegsakaderaie  bei.    in  vollem 


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104  C.Varrentrapp :  J.  Schulze  u.  d.  höh.  preuBz,  unterrichtswes.  seiner  zeit. 

masze  genosz  er  sein  otium  cum  dignitate.  durch  gescbäfte  nicht 
gestört,  las  er  im  zusammenhange  Sophokles,  Piaton,  Demosthenes 
und  Thukydides  und  nahm  an  den  neueren  forschungen,  die  auf  dem 
gebiete  der  classischen  philologie  gemacht  wurden,  den  lebendigsten 
anteil.  neben  den  philologischen  Studien  beschäftigten  ihn  fort- 
laufend philosophische,  insbesondere  waren  Kant  und  Hegel  seine 
lieblinge.  die  ausgezeichnete  bibliothek,  welche  bis  auf  20000  bände 
angewachsen  war,  wurde  eifrig  benutzt,  mit  hervorragenden  ge- 
lehrten stand  er  in  innigen  beziehungen,  mit  L.  v.  Ranke,  den  er, 
wie  er  sich  rühmte,  entdeckt  hatte  (R.  war  gymnasial lehrer  in  Frank- 
furt a.O.),  mitBöckh,  Lachmann,  Passow,  Goettling,  Hand,  Ritsehl, 
M.  Haupt  u.  a.  auf  38  foliobogen  schilderte  er  auszerdem  in  chro- 
nologischer Ordnung  seine  lehr-  und  wanderjahre  bis  zu  seinem  ein- 
tritt in  das  ministerium.  so,  eigentlich  wenig  gedrückt  von  den  be- 
schwerden  des  alters,  war  Sch.  rastlos  thätig,  bis  er  kurz  nachdem 
er  im  kreise  der  seinigen  seinen  84n  geburtstag  gefeiert  hatte ,  am 
morgen  des  20  februars  1869  zum  ewigen  frieden  eingieng.  ein 
rastlos  thätiges,  an  erfolgen  reiches  leben  war  abgeschlossen,  ein 
geistvoller,  patriotischer,  von  idealen  interessen  tief  bewegter  mann 
schied  aus  der  reihe  der  lebenden,  viele  kämpfe  hatte  der  tapfere 
mann  insbesondere  auch  in  seiner  ministeriellen  Stellung  zu  bestehen 
gehabt,  es  war  ihm  nicht  leicht  geworden  in  dem  Wechsel  der  Zeiten 
die  fahne  freier  wissenschaftlicher  forschung  hoch  zu  halten ,  viele 
hemmnisse  musten  tiberwunden,  vielen  anders  gerichteten  männern 
muste  entgegengetreten  werden,  aber  unvergessen  wird  bleiben,  was 
Job.  Schulze  für  gymnasien  und  Universitäten  gewirkt 

Dem  Verfasser  des  vorliegenden,  aus  den  besten  quellen  ge- 
schöpften Werkes  gebührt  für  die  inhaltreiche  darstellung  des  lebens- 
ganges eines  mannes,  der  für  die  entwicklung  des  geistigen  lebens 
unseres  Volkes  von  groszer  bedeutung  geworden  ist,  der  innigste 
dank  aller  derer,  welche  namentlich  für  unsere  gymnasien  und  Uni- 
versitäten lebendiges  interesse  haben,  es  ist  insbesondere  jetzt  eine 
zeitgemäsze  gäbe,  wo  man  die  bewährten  grundlagen  der  ehrwür- 
digen, für  unsere  cultur  so  wichtig  gewordenen  gymnasien  anzu- 
greifen sich  eifrig  bemüht.  Job.  Sch.  bat  die  classische  bildung 
immer  hoch  geschätzt  und  alles  gethan ,  um  die  leistungen  in  den- 
selben zu  steigern,  ebenso  hat  er  den  Universitäten  stets  eine  liebe- 
volle sorge  zugewendet,  das  Varrentrappsche  werk  ergänzt  nach  ge- 
wissen seiten  hin  die  trefflichen  historischen  arbeiten  v.Treitscbkes, 
v.  Sybels  u.  a.  die  ausstattung  des  so  wichtigen  buches  ist  eine  der 
um  die  Wissenschaft  verdienten  Teubnerschen  buchhandlung  würdige. 

Halle  a.  S.  G.  Lothholz. 


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Gedankengang  des  ersten  Johannea-briefes.  105 

9. 

GEDANKENGANG  DES  ERSTEN  JOHANNES-BRIEFES. 

§1. 

Kurze  Übersicht. 

Die  Veranlassung  zu  dem  ersten  briete  des  apostels  Jobannes 
war  das  auftreten  gewisser  irrlehrer  in  den  kleinasiatischen  gemein- 
den, welche  behaupteten  im  besitze  besonderer  religiöser  erkenntnis 
(Tvwcic)  zu  sein,  namentlich  aber,  wie  es  scheint,  die  messianität 
Christi  anfochten,  ihnen  gegenüber  legt  der  apostel  als  (letzter?) 
authentischer  zeuge  in  eindringlichster  weise  noch  einmal  Zeugnis 
ab  von  dem  messianischen  wesen  und  wirken  des  herrn.  im  an- 
schlusz  daran  entwirft  der  apostel  in  groszen  zügen  ein  bild  des 
wahren  Christentums,  dessen  wesen  sich  in  zwei  hauptsätzen  zu- 
sammenfassen läszt. 

1.  Das  theoretische  oder  dogmatische  princip: 
Mrjcoöc  ö  XpiCTÖC.  Jesus  ist  der  im  alten  testament  verheiszene 

messias  und  der  erlöser  des  menschengeschlechtes. 

2.  Das  praktische  princip: 

'AbeXmoi,  äYCtTTÜJUCV  dXXnXouc.  'brüder,  wir  wollen  einander 
lieb  haben.'  das  Christentum  gleicht  einer  insel,  die  von  der  gott- 
feindlichen menschheit  (xocpoc)  umbrandet  ist.  zwischen  den  An- 
hängern beider  gibt  es  keinerlei  gemeinschaft,  die  einen  sind  kinder 
gottes  und  stehen  durch  Christus  in  lebensgemeinschaft  mit  gott. 
ihr  ideal  ist  der  sich  für  seine  brüder  selbst  opfernde  erlöser,  ihr 
lebenselement  die  bruderliebe.  die  andern  sind  kinder  des  teufels, 
ihr  vorbild  ist  Kain,  der  brudermörder,  ihre  herschenden  leiden- 
schaften  sind  basz  und  neid. 

Diese  darstellung  hat  der  apostel  mit  vielfachen  ermahnungen 
durchflochten ,  treu  festzuhalten  an  der  einmal  erkannten  Wahrheit, 
aus  dem  vaterlichen  tone  (rCKVia,  naibia)  darf  man  schlieszen,  dasz  * 
der  brief  im  höchsten  alter  verfaszt  ist. 

§2. 

Einleitung  (c.  1,  1—4). 

In  der  einleitung  gibt  der  apostel  den  inbalt  und  den  zweck 
seines  Schreibens  an.  als  inhalt  bezeichnet  er  die  künde  von  Christus, 
als  dem  menscbgewordenen  gottessohn,  als  zweck  die  durch  Christus 
vermittelte  glückseligkeit,  iva  f)  xapä  uuuiv  f\  TreTrXrjpuj^vTi. 

§  3.  I.  hauptteil  (c.  1,  5—2,  11). 
Das  Christenleben  ein  lichtwandel. 

An  die  spitze  seines  briefes  stellt  der  apostel  den  satz :  fgott 
ist  licht'  d.  h.  Wahrhaftigkeit  und  heüigkeit  (ö  9€OC  <pu>c  knv),  und 


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106 


Gedankengang  des  ersten  Johannes-briefea. 


finsternis  (ckotoc,  CKOTia)  d.  h.  sünde  und  lüge,  ist  nicht  in  ihm. 
daraus  ergeben  sieb  zwei  unmittelbare  schluuzfolgerungen: 

1.  wenn  wir  in  finsternis  wandeln  (so»  haben  wir  keine  lebens- 
gemeinschaft mit  ihm),  und  behaupten  wir  trotzdem,  wir  hätten 
lebensgemeinschaft  mit  ihm,  so  lügen  wir  (irrlehrer!); 

2.  wenn  wir  dagegen  im  licht  wandeln,  so  haben  wir  lebens- 
gemeinschaft (mit  gott  und  dadurch  auch)  mit  einander. 

Zu  diesem  zweiten  scblusz  macht  der  apostel  noch  den  zusatz, 
dasz  wir  alsdann  gewis  sein  dürfen,  dasz  der  opfertod  des  er- 
löse« uns  von  (aller  schuld  und  herschaft)  der  Sünde  reinigt.  TÖ 
alfia  Irjcoö  Xpiaroö  toö  imoü  auTOÖ  KaOaptfei  fiuäc  dird  Tiäcr]c 
äyapiiac.  dies  setzt  voraus,  dasz  wir  noch  nicht  völlig  frei  von 
Sünde  sind,  und  uns  dieser  Sündhaftigkeit  bewust  sind,  denen  gegen- 
über, die  dies  leugnen,  bemerkt  der  apostel  folgendes: 

1.  wenn  wir  sagen,  wir  hätten  keine  sünde,  so  betrügen  wir  uns 
selbst  (&XUTOÜC  TrXavwji€v)  und  machen  ihn  zum  lügner  (ipeuCTrrv 
TroioOuev  CtUTÖv). 

2.  wenn  wir  dagegen  unsere  Sünden  reumütig  bekennen  (tüv 
6hoAoyu)U€V  Tdc  duapTiac  rjnüjv) ,  so  ist  er  treu  und  gerecht ,  dasz 
er  uns  die  sünden  vergibt  (wa  depr)  fmTv  xäc  duapTiac).  denn 
Christus  ist  unser  fürsprecher  (TrapdKXrjTOc)  beim  vater  und  bringt 
uns  Versöhnung  (iXacjUÖc)  für  unsere  Sünden. 

Worin  zeigt  sich  im  praktischen  leben  der  christ- 
liche lichtwandel  und  die  lebensgemeinschaft  mit  gott? 

Vermittelt  wird  der  eintritt  ins  Christentum  und  in  die  christ- 
liche lebensgemeinschaft  durch  die  wahre  erkenntnis  gottes  (yvüjcic). 
den  irrlehrern  gegenüber,  welche  wahrscheinlich  behaupteten  im 
besitz  einer  neuen  und  besonderen  erkenntnis  von  gott  und  von 
der  erlösung  des  menschengeschlechtes  zu  sein,  setzt  der  apostel 
das  wahre  wesen  christlicher  erkenntnis  in  folgenden  sätzen  aus- 
einander : 

1.  keine  erkenntnis  gottes  ohne  erfüilung  der  geböte,  hieraus 
*  ergibt  sich  unmittelbar  der  schlusz :  wer  behauptet,  er  habe  gott  er- 
kannt und  seine  geböte  nicht  hält,  der  ist  ein  lügner  (irrlehrer). 

2.  keine  erfüilung  der  geböte  ohne  nachfolge  Christi.  6  Xctujv 
Iv  ctÜTip  n^veiv  öq>€i\€i,  Ka9wc  diceivoc  TrepieTrdTTicev,  kcu  autöc 
oötu)  Trepnraxeiv. 

3.  keine  nachfolge  Christi  ohne  gottes-  und  nächstenliebe,  welche 
der  tiefste  quell  wahrer  gesetzeserftlllung  ist. 

Demnach  bethätigt  sich  der  lichtwandel  und  die  wahre  erkennt- 
nis gottes  in  nichts  anderem,  als  in  der  aus  Übung  der  brüderliche; 
wer  diese  nicht  hat,  der  hat  auch  nicht  die  wahre  erkenntnis  und 
ist  noch  immer  mit  blindheit  geschlagen  (fj  CKOTia  tTucpXujce  touc 
6q>6aXuouc  auTOÜ).  irrlehrer !  seinen  gemeinden  stellt  der  apostel 
das  schöne  Zeugnis  aus ,  dasz  in  ihnen  der  geist  der  bru  de  Hiebe  zur 
Wirklichkeit  geworden  ist  (6  £cnv  dXnOfcc  dv  auxip  xai  UfiTv). 
für  sie  ist  das  gebot  der  nächstenliebe  nichts  neues,  sondern  die  alte 


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Gedankengang  des  ersten  Johannes-briefes.  107 


lehre,  die  sie  von  anbeginn  der  bekehrung  gebort  haben,  mit  pro- 
phetischem bück  setzt  der  apostel  hinzu:  die  finsternis  ziehet  vor- 
über und  das  wahre  licht  leuchtet  schon  (fj  CKOTia  TrapdyeTai  xal 
TÖ#<pd»c  tö  dXr|8ivöv  fjbrj  q>cuv€i). 

§  4.  H.  hauptteil  (c.  2,  12—28). 
Der  kosmos  und  seine  Sendboten. 

Die  worte:  Ypdrouj  üfiiv  .  .  .  unterbrechen  den  gedankengang 
und  fuhren  zu  einer  neuen  gedankenreihe  über,  nachdem  der  apostel 
in  diesen  Worten  wiederholt  und  mit  nachdruck  betont  hat,  dasz  er 
als  leser  seines  briefes  wahre  Christen  voraussetzt  (und  daraus ,  aus 
diesem  Christentum,  für  sich  das  recht  hergeleitet  hat,  sie  zu  warnen 
und  zu  belehren),  entwirft  er  in  groszen  zügen  ein  bild  des  kosmos, 
dessen  kinder  und  Sendboten  die  irrlehrer  sind,  wie  diese  das  gegen- 
stück  zu  den  aposteln  bilden,  so  ist  der  kosmos  das  gerade  gegenteil 
des  Christentums;  die  liebe  zum  kosmos  ist  unvereinbar  mit  der  liebe 
zu  gott  (ddv  Tic  drand  tov  köcjhov,  ouk  Ictiv  fj  drami  tou  irarpdc 
€v  auTÜ)).  das  wesen  des  kosmos  ist  die  sinnenlust  (f|  dmeupia  ttjc 
capKÖc)  und  die  conventionelle  lüge  (f|  dXaZoveia  toö  ßfou).  ihr 
vorbild  (typus)  ist  Kain,  der  brudermörder.  dieselben  kräfte,  die 
diesen  zum  morde  trieben  (hasz  und  neid),  sind  noch  immer  im  kos- 
mos tbätig.  das  ideal  der  Christenheit  ist  Christus,  der  freiwillig 
sein  leben  für  seine  brüder  hingab,  wenn  wir  also  Christo  nach- 
folgen wollen,  so  müssen  wir  auch  im  sinne  dieser  aufopfernden 
bruderliebe  thätig  sein,  vor  dem  höchsten  opfer  nicht  zurückscheuen, 
aber  auch  in  den  kleinen  Verlegenheiten  des  lebens  unserm  nächsten 
hilfreich  zur  seite  stehen. 

Zwei  merkmale  gibt  der  apostel  als  besondere  kennzeichen 
der  lügenpropheten  (lueubOTrpomfjTai ,  dvTiXpicroi)  an: 

1.  Sie  sind  aus  dem  schosze  der  christlichen  gemeinde  hervor- 
gegangen ,  sie  haben  den  namen  Christi  getragen  und  äuszerlich 
seinem  reiche  angehört  (Schein-,  Namenchristen),  aber  niemals  an 
dem  geiste  Christi  und  des  Christentums  anteil  gehabt  (t£  fjjuujv 
etfjXOov ,  dXX'  ouk  t]cüv  i£  fjuüjv).  denn  sonst  wären  sie  nicht  ab- 
trünnig geworden,  es  ist  gut,  dasz  sie  den  leitern  der  gemeinde 
offen  gegenübergetreten  sind  und  dadurch  t hat  sächlich  aus  der  ge- 
meinde ausgeschieden  sind. 

2.  Sie  leugnen  die  messianität  Christi ,  dessen  stelle  sie  gern 
selbst  einnehmen  möchten  (Tic  dcTIV  ö  ujcucttjc,  ei  nn  ö  dpvoti- 
uevoc,  öti  'ItJCoGc  OUK  £ctiv  ö  XpiCTÖc;).  sie  leugnen  den  söhn 
gottes  in  Christo,  sie  verleugnen  damit  auch  den  vater  (udc  ö  dpvou- 
uevoc  töv  uiöv  oube  töv  iraTepct  fyei). 

Der  apostel  schlieszt  diesen  abschnitt  mit  einer  herzlichen  er- 
mahnung  (c.  2,24 — 28)  an  seine  gemeinden,  treu  festzuhalten  an  der 
botschaft,  die  ihnen  der  herr  gebracht,  und  sich  nicht  durch  die  Vor- 
spiegelungen einer  angeblich  neuen  Wahrheit  blenden  zu  lassen  (kgu 


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108 


Gedankengang  des  ersten  Johannes-briefes. 


vöv,  TEKVia,  u^vctc  iv  auiw).  dann  werden  sie  in  gemeinschaft 
mit  Christo  bleiben  und  dem  tage  seiner  Wiederkunft  (napoucia), 
welcher  ja  nahe  bevorsteht  (v.  18  Traibia,  dcxArrj  ÜJpa  dcriv),  ohne 
furcht  entgegensehen  (i'va,  läv  <pav€pu)6rj,  rcappriaav  tyuJMCv). 

§  5.  III.  hauptteil  (c.  2,  29— c.  3  ende). 
Die  biKGtiocuvr)  im  lichte  des  Christentums. 

Die  haupttugend  des  alten  testamentes  ist  die  gerechtigkeit. 
gerecht  ist,  wer  das  gesetz  erfüllt,  da  Christus  gekommen  ist,  das 
gesetz  und  die  propheten  nicht  aufzulösen ,  sondern  zu  erfüllen ,  da 
also  das  Christentum  nur  die  weitere  ausbildung  und  vollkommenere 
entwicklung  des  Judentums  ist,  so  bleibt  auch  nach  christlicher  lehre 
die  forderung  der  gerechtigkeit  bestehen  (c.  2,  29). 

Welches  ist  aber  nach  christlicher  auffassung  das  wesen  der 
gerechtigkeit?  zwei  extreme  (diametrale  gegensätze)  gilt  es  zu  be- 
kämpfen: 

1.  Die  umsturzlehren  der  irrlehrer,  welche,  wie  es 
scheint,  das  gesetz  verwarfen  und  an  dessen  stelle  die  eigne  willkür 
setzten,  denen  gegenüber  weist  der  apostel  auf  das  vorbild  Christi 
hin ,  dessen  lehren  und  verheiszungen  für  uns  ein  immerwährender 
antrieb  zu  rechter  gesetzeserftillung  sind,  und  erklärt:  'keine  ge- 
rechtigkeit ohne  gesetzeserfüllung,  (c.  3,  7  6  ttoiüjv  Tf|V  biKaiocüvrjv, 
biicaiöc  £ctiv,  xaGibc  dKcivoc  öikcuöc  £ctiv). 

2.  Die  buch s tabengerechtigk ei t  der  Pharisäer,  welche 
den  kern  des  gesetzes  (sittengesetz)  durch  einen  wust  äuszerlicher 
gebrauche  (ceremonialgesetz)  verschütteten,  das  Christentum  sieht 
im  ceremonialgesetz,  welches  die  Pharisäer  zur  hauptsache  machten, 
etwas  unwesentliches,  das  nur  für  bestimmte  Völker  und  bestimmte 
zeiten  eine  berechtigung  hatte  (das  gleichnis  von  den  Schläuchen), 
um  so  höhere  anforderungen  stellt  das  Christentum  an  das  sittliche 
leben,  jeder,  der  gegen  die  stimme  seines  gewissens,  gegen  pflicht 
und  ehre  (die  vöuoi  drpcupoi  der  griechischen  denker  und  dichter) 
handelt ,  verstöszt  auch  gegen  das  gesetz  (ttöc  ö  ttoiwv  Tf|v  d|uap- 
Tiav  Kai  if|v  dvojiriav  iroiei). 

Wenn  somit  das  gesetz  des  alten  testamentes  zwar  auch  für  den 
Christen  seine  gültigkeit  behält,  das  ceremonialgesetz  aber  unwesent- 
lich ist,  so  bleibt  als  kern  des  gesetzes  übrig  die  forderung:  'du 
sollst  gott  lieben  und  deinen  nächsten  wie  dich  selbst.'  gegenüber 
den  anfechtungen  der  weit,  welche  freilich  die  uneigennützige 
nächstenliebe  als  eine  thorheit  verspottet,  musz  sich  der  Christ  mit 
dem  bewustsein  trösten,  dasz  er  aus  dem  tode  ins  ewige  leben  durch- 
gedrungen ist  (c.  3,  1 7  f\\xe\c  otbauev ,  Öri  ucTaßcßruccuaev  £k  toO 
OaväTOU  €tc  Tf|V  Zwriv).  indem  der  apostel  dann  das  wesen  der 
nächstenliebe  erklärt  (c.  3,10—12)  und  in  der  opferwilligkeit  findet, 
ermahnt  er  seine  gemeinden,  nicht  blosz  mit  dem  wort  und  mit  der 
zunge,  sondern  in  der  that  und  in  der  Wahrheit  die  nächstenliebe  'zu 


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Gedankengang  des  ersten  Johannea-briefes. 


109 


üben,  mit  dem  geist  der  wabren  bruderliebe  (rrveOua  tt[C  dXr)0€iac 
Kai  Tfjc  dTdirrjc)  wird  auch  frieden  in  unsere  seelen  einziehen  (Trap- 
pnciav  ^XOM^V  irpöc  töv  6€Öv).  die  anklagende  stimme  unseres  ge- 
wissens  wird  im  verkehr  mit  gott  verstummen,  weil  gottes  gnädige 
stimme  machtiger  ist  (ixe\Lu>v  law  ö  Ö€Öc  xf|c  Kapbiac  fjjiüjv 
c.  3,  20).  gott  der  allwissende  ist  nachsichtiger  als  irdische  richter 
(yivujckci  tt  dt  via) ,  er  kennt  alles  (tout  comprendre,  c'est  tout  par- 
donner), auch  wird  unser  gebet  an  wärme  und  innigkeit  gewinnen, 
wenn  wir  die  gewisheit  haben,  dasz  gott  uns  erhören  wird. 

§  6.  IV.  hauptteil  (c.  4,  1—6). 
Die  Schwarmgeister. 

Mit  der  Wendung:  'dasz  wir  aus  gott  sind,  erkennen  wir  an  dem 
geist,  den  er  uns  gegeben  hat',  geht  der  apostel  zu  einem  neuen  ab- 
schnitt über ,  in  welchem  er  das  gegenteil  dieses  geist  es,  den  lügen - 
geist  und  seine  kinder,  die  lügenpropheten  schildert,  in  kurz  aus- 
geprägten Sätzen  entwirft  der  apostel  ein  bild  von  ihnen,  zwei 
merkmale  sind  für  sie  besonders  kennzeichnend,  ein  inneres  und  ein 
äuszeres.  das  innere,  ihrer  lehre  entnommen,  liegt  in  der  behaup- 
ttmg,  dasz  Jesus  nicht  der  im  alten  testament  verheiszene  messias 
ist:  näv  irvcöua,  ö  ur)  öhoXoycT  töv  'Irjcouv  dv  capici  £Xr|Xu8ÖTa  Ik 
toö  Oeoö  ouk  £cnv.  nicht  minder  bezeichnend  für  die  kinder  des 
lügengei&tes  (itveöua  Tfjc  irXdvr)c)  sind  die  äuszeren  erfolge,  die  sie 
erringen.  Verständnis  und  beifail  finden  sie  nemlich  nur  bei  den 
kindern  der  weit,  weil  sie  im  sinne  und  geiste  der  weit  reden  (Ik 
toö  KÖqiou  XaXoöciv),  während  die  mit  gottes  geist  erfüllten  ihren 
Verführungen  widerstehen  (v€ViKr|KaTe  ctUTOik).  die  apostel  sind 
gottes  geistes:  wer  aus  gott  ist,  hört  auf  sie;  wer  gott  nicht  er- 
kennet, hört  nicht  auf  sie.  (dieser  hauptteil  ist  die  weitere  aus- 
ftlhrung  des  zweiten  hauptteils.) 

§  7.  V.  hauptteil  (c.  4,  7—5,  5). 
Das  praktische  princip  des  Christentums. 

Mit  den  worten:  Ik  toutou  Yivuuocouev  tö  Trveö^ia  tt^c  dXti- 
öetac  Kai  tö  irveöva  Tfjc  irXdvr|C,  deutet  der  apostel  an,  dasz  er  eine 
gedankenreihe  abschlieszt,  und  geht  mit  einer  neuen  anrede  (dra- 
irnroi,  äYa7TaijLi€V  dXXr|Xouc)  scheinbar  ohne  jede  Vermittlung  zu 
einer  neuen  gedankenentwicklung  über,  welche  das  wesen  des 
Christentums  nach  verschiedenen  Seiten  beleuchtet,  der  innere  Zu- 
sammenhang zwischen  beiden  capiteln  liegt  darin,  dasz  der  geist  der 
Wahrheit,  von  dem  vorhin  die  rede  war,  sich  im  praktischen  leben 
als  der  geist  der  nächstenliebe  erweist.  Wahrheit  und  liebe  sind  also 
nur  die  beiden  seiten  eines  und  desselben  wesens  (vgl.  den  schlusz 
dieses  hauptteils). 

Ursprung  der  liebe  (v.  7—13).  die  liebe  ist  aus  gott,  wir 


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1 10  Gedankengang  des  ersten  Johannes-briefes. 

haben  die  liebe  kennen  gelernt  an  den  wohlthaten,  die  uns  gott  er- 
wiesen bat;  vornehmlich  durch  die  Sendung  seines  sobnes.  hat  uns 
aber  gott  so  geliebt,  so  müssen  auch  wir  ihn  wieder  lieben;  nun 
können  wir  aber  gott  weder  gutes  noch  böses  erweisen  (8eöv  oubclc 
7Tüjttot€  T68&XTCU),  praktisch  können  wir  also  die  liebe  zu  gott  nur  er- 
weisen an  gottes  k  in  dem,  unsern  brtidern.  so  ergibt  sich  die  folgerung : 
keine  gottesliebe  |ohne  näcbstenliebe  (dctv  draTrüJjLiev  dXXr|Xouc,  6 
8eöc  iv  fmiv  M^vei  xa\  fj  dTdim,  auroö  T€TeX€iuundvr|  dcrlv  dv  fiuTv). 

(v.  14—16.)  Die  folgenden  gedanken,  in  denen  der  apostel 
die  messianität  Christi  und  die  unmittelbarkeit  seines  Zeugnisses  von 
dieser  messianität  eindringlichst  hervorhebt,  fuhren  das  vorher  an- 
geschlagene thema  nicht  in  gerader  linie  weiter,  sondern  berühren 
das,  was  den  Untergrund  dieses  themas  bildet  und  im  folgenden  noch 
weiter  ausgeführt  wird,  der  glaube  an  Christus  als  den  verbeiszenen 
Messias  ist  die  einzige  ]> forte,  die  zum  Christentum  führt,  nur  wer 
an  den  freiwilligen  tod  Christi,  an  die  uneigennützige  opferwilligkeit 
seiner  liebe  zu  den  menschen  glauben  kann ,  gewinnt  eine  richtige 
Vorstellung  von  dem  geist  wahrer  christlicher  liebe,  daher  betont 
der  apostel  immer  und  immer  wieder,  dasz  er  den  herrn  noch  von 
angesicht  zu  angesicht  gesehen  und  zeuge  seines  lebens  und  leidens 
gewesen  sei.  mit  den  worten:  kgu  f)M€ic  dtvujKauev  Kai  tt€ttict€U- 
xauev  Tf|v  dYdTnrv,  n,v  Ixei  6  8€Öc  dv  fjpfv,  kehrt  der  apostel  zu 
dem  unterbrochenen  thema  zurück. 

Das  wesen  der  liebe,  die  wahre  gottesliebe  gibt  Seelen- 
frieden und  freudige  Zuversicht  am  tage  des  gerichts;  sie  schlieszt 
die  (knechtische)  furcht,  die  angst  aus  (&w  ßdXXei  töv  (pößov). 
denn  die  furcht  entspringt  aus  der  Vorstellung  von  strafe  (ö  opößoc 
KÖXacw  £x*0-  Christus  aber  hat  uns  gott  nicht  blosz  als  den  strengen 
richter,  sondern  auch  als  gütigen  vater  der  menschheit  erkennen  ge- 
lehrt, wer  sich  noch  fürchtet  vor  gott,  ist  nicht  vollkommen  in 
der  liebe. 

Wie  können  wir  unsere  liebe  zu  gott  bethätigen?  nur  durch 
liebe  gegen  unsere  mitmenschen,  denn  wer  seinen  bruder  nicht 
liebt,  den  er  sieht,  wie  kann  der  gott  lieben,  den  er  nicht  siebt? 
( ö  Tdp  un.  orfctTTÜJV  töv  dbeXmöv ,  öv  dwpaKev ,  töv  8cöv ,  öv  oux 
dujpaicev,  ttüjc  biJvaTai  äTairäv;) 

Der  tibergang  zum  letzten  hauptteil  (c.  5,  1 — 5)  behandelt  das 
Verhältnis  von  liebe  und  glaube  (entsprechend  dem  im  ersten  haupt- 
teil über  das  Verhältnis  von  yvüjcic  und  dydTTTj  v.  2,  4.  5  gesagten), 
die  liebe  ist  ein  kind  des  glaubens  und  zwar  des  glaubens  an  die 
messianität  Christi,  diesen  satz  begründet  der  apostel  durch  folgende 
schluszfolgerung:  wer  glaubt,  dasz  Jesus  der  Christ  ist,  ist  ein  kind 
gottes.  [ist  er  ein  kind  gottes ,  so  wird  er  gott  als  seinen  vater  lieb 
haben.]  hat  er  den  vater  lieb,  so  wird  er  auch  dessen  kinder,  seine 
brüder,  d.  h.  seine  Mitchristen  lieb  haben,  folglich:  wer  glaubt,  hat 
auch  liebe,  ndc  ö  ttict6vjujv,  ö'ti  'Iricouc  dcTiv  ö  XpiCTÖc  . . .  dYcniä 
xal  töv  T€T€wr)M^vov  il  auroö  (sc.  ix  toö  8eo0). 


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Gedankengang  des  ersten  Johannes-briefes. 


111 


Wenn  somit  das  princip  des  christlichen  handelns  und  lebens, 
nemlich  die  ausübung  der  bruderliebe,  nur  aus  dem  glauben  an 
Christus,  als  den  erlöser  des  menscbengescblechtes ,  herflieszt,  so  ist 
dersatz:  'Irjcoöc  6  XpiCTÖC  der  ausgangs-  und  angelpunkt  alles 
Christentums,  diesen  satz  als  den  wichtigsten  bebandelt  daher 
der  apostel  im  letzten  hauptteil,  nachdem  er  noch  kurz  auf  die  er- 
folge des  glaubens ,  nemlich  auf  seine  weltüberwindende  kraft  hin- 
gewiesen hat.   (TIC  dCTIV  6  VIKÜJV  TOV  KOCJLiOV  €1  Jlf)  Ö  7TICT€ÜUJV,  ÖTl 

'It]coöc  dcnv  ö  uiöc  toO  eeoö;) 

§  8.  VI.  hauptteil  (c.  5,  6—17). 
Das  dogmatische  princip  des  Christentums. 

Das  Christentum  steht  und  fällt  mit  dem  satze:  3lt]coüc  6 
XpicTÖc.  daher  führt  der  apostel  im  letzten  teil  alle  beweise  auf, 
die  für  die  Wahrheit  dieses  satzes  sprechen,  er  unterscheidet  ob- 
jeetive  (äuszere)  und  subjective  (innere)  Zeugnisse,  die  objectiven 
Zeugnisse  sind  zweifacher  art: 

1.  himmlische:  vater,  wort  (Xöyoc)  und  geist.  (Ver- 
gangenheit, gegenwart  und  zukunft  des  gottesreiches  von  Christi 
Zeitalter  gerechnet.) 

2.  irdische:  wasser,  blut  und  heiliger  geist. 

Diesen  äuszeren  Zeugnissen  schlieszt  der  apostel  als  subjectiv 
stärkstes  zeugnis  ein  inneres  an  (v.  lOTfjv  ^apTUpiav  tv  dauTqj): 
die  erfahrung,  die  jeder  tiberzeugungstreue  Christ  an  sich  selbst 
macht,  nemlich  die  gewisheit  von  der  beseligenden  kraft  des 
glaubens.  wer  weisz,  dasz  er  aus  dem  tode  ins  ewige  leben  hin- 
durchgedrungen ist,  für  den  persönlich  ist  diese  erfahrung  der 
stärkste  beweis  von  der  richtigkeit  des  glaubens. 

Nunmehr  (v.  13—17)  bestimmt  der  apostel  den  zweck  seines 
Schreibens  genauer  dahin,  eben  dieses  bewustsein,  dasz  die  gläubigen 
Christen,  für  welche  er  schreibt,  durch  den  glauben  an  Christus  das 
ewige  leben  bereits  gewonnen  haben,  zu  erwecken  und  zu  stärken 
(Iva  eibn,T€,  öti  lwt\v  ^X^tc  cuujviov).  durch  diese  erkenntnis  wird 
dann  auch  das  rechte  Verhältnis  zu  gott  wiederhergestellt :  der  ver- 
kehr mit  gott  im  gebet  wird  an  innigkeit  und  aufrichtigkeit  ge- 
winnen, da  die  Christen  die  Überzeugung  haben  dürfen,  dasz  gott 
ihre  bitten,  sofern  sie  vernünftig  sind  (kcttci  TO  G^XrjjLia  ai/roö),  er- 
hört, besonders  empfiehlt  der  apostel  noch  diejenige  bitte,  welche 
dem  christlichen  leben  eigentümlich  ist,  die  fürbitte.  wenn 
jemand  einen  seiner  brüder  sündigen  sieht,  von  dem  er  glaubt, 
dasz  er  noch  auf  den  rechten  weg  zurückgeführt  werden  kann 
und  noch  nicht  vollständig  für  alles  gute  verloren  ist  (duapTctvOVTa 
äuapTiav  pf)  Trpöc  Gdvarov),  so  soll  er  ihn  in  sein  gebet  ein- 
8chlie8zen  und  nach  kräften  bemüht  sein ,  ihn  für  das  ewige  leben 
wiederzugewinnen. 


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112 


Personalnotizen. 


§9- 
Schlusz. 

Zum  schlusz  faszt  der  apostel  die  bauptgedanken  seines  Schrei- 
bens in  drei  durch  die  anapher  kraftvoll  gehobenen  Sätzen  zusammen, 
die  im  letzten  satze  (oibauev  bk)  gipfeln: 

1.  wir  wißsen,  dasz  die  kinder  gottes  nicht  sündigen,  weil  der 
böse  ihnen  nichts  anhaben  kann  (oux  aVreTCti  ctuxujv). 

2.  wir  wissen,  dasz  wir  kinder  gottes  sind,  während  die  ganze 
weit  in  der  macht  des  bösen  liegt  (dv  tüj  7rovr]puJ  KCirai). 

3.  wir  wissen  endlich  (bfc),  dasz  der  söhn  gottes  in  die  weit  ge- 
kommen ist  und  uns  in  die  kindschaft  gottes  eingeführt  hat;  ohne 
ihn  kein  ewiges  leben. 

Die  schluszfolgerung  des  apostels  in  den  drei  Sätzen  ist  folgende : 

1.  als  Christen  können  wir  nicht  mehr  sündigen,  haben  also  das 
ewige  leben  erreicht  und  zwar 

2.  weil  wir  gottes  kinder  sind ;  gottes  kinder  sind  wir 

3.  durch  den  söhn  gottes,  Jesus  Christus  geworden,  folglich 
verdanken  wir  nur  Christus  das  ewige  leben. 

Daher  schlieszt  der  apostel  mit  der  warnung  vor  den  falschen 
lehren,  welche  Christus  anfechten.  T€KVia,  <puXd£aT€  £auiouc 
dtnd  tüjv  elbwXujv. 

Hirschberg  in  Schlesien.  P.  Regell. 


(6.) 

PERSONALNOTIZEN. 


erhielten  den  k.  pr.  roten 
adlerorden  IV  cl. 


mutigen ,  befördern 

Anem  aller,  dr.,  ord.  lehrer  am  gymn.  in  Detmold,  zum  bibliothekar 
der  dortigen  landesbibliothek  ernannt. 

Beruhardi,  drM  rector  des  gymti.  in  Schneeberg,  zum  rector  des  landes- 
nnd  fürstenschule  in  Grimma  ernannt. 

Buchenau,  dr.,  director  des  k.  gymn.  zu 
Marburg  (Hessen), 

Ellendt,  dr.,  prof.  am  Friedrichs-collegiura 
zu  Königsberg  i.  Pr., 

Fuss,  dr.,  director  des  gymn.  bei  St.  Stephan 
in  Straszburg  i.  E., 

Goldbeck,   dr.,   director  der  Charlotten- 
schule in  Berlin, 

Gestorben: 

Oesterley,  Hermann,  dr.  prof.,  Universitätsbibliothekarin  Breslau, 

anfang  fcbruar  zu  Boppard,  57  jähr  alt. 
Pestalozzi,  Karl,  prof.  der  ingenieurwissenschaften  am  polytechnicum 

in  Zürich,  am  14  januar,  66  jähr  alt  (enkel  J.  H.  Pestalozzis':. 
Petzhold t,  Julius,  dr.  geh.  hofrat,  vordem  bibliothekar  sr.  maj.  des 

königs  von  Sachsen,  am  17  januar  in  Dresden,  79  jähr  alt. 


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ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜR  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT   AUSSCHLUSS  DIR  CLA88I8CHKN  PHILOLOGIE 

HERAU8GEOEBEN  VON  PROF.  DR.  HERMANN  MASIUS. 


10. 

BEITRÄGE  ZUR  GESCHICHTE  DES  HÖHEREN  SCHUL 
WESENS  IN  DER  OBERLAUSITZ. 


L 

Die  schulen  der  Sechsstädte  von  ihren  anfangen  bis  zur 

reformation  (1520—30).' 

Nach  den  capitula  de  presbyteris  admonendis  Karls  des  groszen 
waren  die  pfarrer  verpflichtet ,  in  ihren  pfarreien  schüler  zu  halten 
und  sie  mit  den  gottesdienstlichen  Verrichtungen  so  bekannt  zu 
machen,  dasz  sie  nötigenfalls  für  ihren  herrn  eintreten  konnten; 
lesen,  singen  und  etwas  latein  waren  die  Unterrichtsfächer,  trotz 
der  gleicbgtlltigkeit  der  nachfolgenden  herscher  gegen  diese  schulen 
blieben  sie  doch  bestehen,  schon  deshalb,  'weil  der  kirchliche  dienst 
es  erforderte,  dasz  der  pfarrer  gehilfen  um  sich  habe,  die  bei  der 
messe  dienen  und  singen',  und  Specht  gibt  in  der  geschichte  des 
Unterrichts wesens  s.  38  f.  einige  belege  aus  dem  1  In,  12n  und  13n 
Jahrhundert  dafür,  dasz  bischöfe  die  pfarrer  an  ihre  Verpflichtung 
erinnerten. 

Dasz  auch  an  den  kirchen  in  der  Oberlausitz,  womöglich  schon 
von  ihrer  gründung  an,  pfarrschulen  bestanden  haben,  ist  nach  alle- 

1  ein  teil  der  folgenden  ausführungen  sind  in  anderer  form  schon 
einmal  im  programm  des  gymnasiums  zu  Zittau  1889  gedruckt  gewesen, 
dieser  wiederholte  abdruck  war  jedoch  dem  verf.  deshalb  wünschens- 
wert, weil  infolge  einer  sehr  liebenswürdigen  brieflichen  beurteilung 
des  programms  durch  hrn.  pro  f.  Knothe  in  Dresden  mehrere  Ände- 
rungen sich  nötig  machten,  und  weil  der  verf.  bei  einer  Veröffentlichung 
derjenigen  betrachtungen,  welche  er  wegen  raummangels  in  das  pro- 
gramm nicht  mit  aufnehmen  konnte,  diese  von  den  ersten  nicht  trennen 
wollte,  hrn.  prof.  Knothe  zollt  der  verf.  hier  nochmals  für  seine  mit- 
teilnngen  den  verbindlichsten  dank. 

W.  frhrb  f.  pbil.  a.  pld.  II.  «bt.  1891  hft.  3.  8 


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1 14    Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

dem  sehr  wahrscheinlich,  als  sicher  kann  es  aber  hingestellt  werden 
für  die  zeit  nach  der  erhebung  der  hauptorte  zu  Städten ,  welche  bei 
Bautzen  vor  1002,  bei  Görlitz,  Zittau,  Lauban,  Lübau  und  Kamenz 
am  ende  des  12n  und  in  der  ersten  hälfte  des  13n  jahrhunderts  er- 
folgt ist.  bei  dem  mangel  jeglicher  nachrieht  läszt  sich  jedoch  über 
diese  sechs  oberlausitzischen  pfarrschulen  weiter  nichts  sagen ;  das 
glauben  wir  aber  im  folgenden  ausführen  zu  können,  dasz  sie  die 
anfange  des  höheren  Schulwesens  in  der  Oberlausitz  darstellen,  dasz 
aus  ihnen  die  lateinschulen  des  14n,  15n  und  16n  jahrhunderts,  und 
somit  auch  die  gymnasien  hervorgiengen,  wovon  die  eevangelische 
schule'  zu  Bautzen,  welche  im  jähre  1527  bzw.  1542  von  der  stifts- 
schule  sich  abzweigte ,  nicht  ausgenommen  zu  werden  braucht. 

Zunächst  wollen  wir  die  ersten  erwfthnungen  der  schulen  der 
genannten  städte,  welche  im  jähre  1346  zu  dem  oberlausitzischen 
Sechsstädtebunde  sich  vereinigten,  angeben  und,  da  diese  ersten  an- 
führungen  geradezu  dazu  einladen,  einiges  über  das  Verhältnis  der 
schulen  zur  kirche  und  zum  rate  sagen. 

Des  Bautzener  Schulwesens  wird  zum  ersten  male  gedacht  im 
jähre  1218:  unter  den  kanonikern  des  1210  gegründeten  collegiat- 
stiftes*  finden  wir  auch  einen  'scolasticus*.  das  zweite  und  dritte 
mal  erscheint  die  schule  in  Urkunden,  von  denen  die  eine  aus  dem 
jähre  1331,  im  Bautzener  domarchive,  einen  Petrus,  rector  scolarum 
in  Budissin,  die  andere  aus  dem  jähre  1333,  im  hauptstaatsarchive 
zu  Dresden,  origin.  nr.  2634,  einen  Heinricus,  rector  scolarum  in 
Budissin,  nennt,  während  wir  aus  der  ersten  anführung  nur  auf 
das  dasein  einer  stiftsschule  schlieszen ,  mit  den  beiden  andern  aber 
weiter  nichts  anfangen  können ,  erhalten  wir  gröszere  klarheit  aus 
der  Concordia  Carolina  (1364)*,  durch  welche  wir  erfahren,  dasz 


*  nach  Vitzk,  chronicon  venerandi  capituli  et  collegiatae  eccles. 
Budissin.  im  Inusitzischen  magazin  bd.  33  1857  s.  186  ff.,  s.  a.  1210. 
die  domkirche  wurde  erst  1221  geweiht. 

8  Knauthe  hat  sie,  soweit  sie  sich  auf  die  schule  bezieht,  in  der 
nachlese  oberlaus,  nachrichten  1771  s.  93  abdrucken  lassen:  Carolus  IV. 
divina  favente  dementia  Romanorum  Imperator  Semper  Augustus  & 
Hohemiae  rex.  Notum  faeimus  tenore  presentium  universis,  qvod  du- 
dum  inter  honorabiles  Praepositum,  Decanum  &  Capitulum  ecclesiae 
Budissinensis  ex  uua,  &  dilectos  nobis  Judices,  Juratos  &  Com ra Imi- 
tate m  ejusdem  civitatis  Budissin  parte  ab  alia  supra  infra  scriptis  arti  - 
culis  seu  capitibus  suborta  materia  questionis,  nos  ad  petitionem  utrius- 
que  partis  eandem  quaestionem  seu  causam  venerabilibus,  Joanni  Olo- 
mucensi  Episcopo,  J.  Burkardo,  ßurgrgravio  Magdeburgensi  &  Praeposito 
Wischerad:  Keirni  nostri  Bohemiae  supremo  Uancellario,  Principibus, 
Consiliariis  &  deuotis  nostris  dilectis,  commisimus  audiendam  &  cora- 
positione  amicabili  aut  jure  debito  decidendam,  qui  Joannes  &  Burkar- 
dus,  cognitis  dictae  causae  seu  quaestionis  meritis  &  informatione 
sufficienti  ac  deliberatione  diligenti  &  maturo  sapientuin  consilio  prae- 
habitis  ordinauerunt  &  diffinierunt  inter  partes  praedictas  prout  sequi- 
tnr,  in  hunc  modum:  Inprimis  dixerunt,  ordinauerunt  &  diffinierunt, 
quod  electio  Rectoris  scholae  spectet  &  pertineat,  spectare  &  pertinere 
debeat  ad  Praepositum,  Decanum  &  Capitulum  ecclesiae  Budissinensis 


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Beiträge  zur  geschichte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.     1 15 


während  der  ersten  hälfte  des  14n  jahrhunderts  oder  noch  früher 
(^dudum)  Streitigkeiten  zwischen  dem  rate  und  dem  capitel  bestanden, 
weil  jener  einflusz  auf  die  schule  verlangte,  und  dasz  nach  einer  von 
kaiser  Karl  IV  angeordneten  Untersuchung  im  jähre  1364  bestimmt 
wurde,  dasz  die  wähl  des  rectors  der  schule  dem  domcapitel  zukäme, 
eine  entscheidung,  mit  welcher  eine  zweite  aus  dem  jähre  1388  im 
Zusammenhang  steht,  durch  welche  fdie  vom  kaiser  Karl  vertragene 
Sache,  insonderheit  von  des  Schulmeisters  Annehm-  oder  erwehlung 
auch  desselben  Verenderung  und  dasz  die  Erkenntnis  bei  den  Dom- 
herren und  nicht  bei  den  Bürgern  sein  solle',  von  bischof  Nicolaus 
bestätigt  wurde. 

Mit  welchem  rechte,  so  fragen  wir,  stellte  der  rat  jene  forde- 
rung?  die  an t, wort  scheint  leicht  zu  sein,  denn  wenn  der  rat  das 
recht  für  sich  beanspruchte,  den  rector  zu  wählen,  so  konnte  die 
schule  nur  die  des  rates  sein,  es  wären  dann  die  Verhältnisse  in 
Bautzen  dieselben  gewesen  wie  in  andern  städten  Deutschlands ,  wo 
ein  capitel  war  und  der  domscholaster  das  recht  sich  wahrte,  die 
schule ,  vom  rate  gegründet  und  unterhalten ,  mit  einem  rector  zu 
versehen ,  während  der  rat  das  recht  der  kirche  zu  bezweifeln  an- 
neng und  im  interesse  der  städtischen  Selbstregierung  auch  in  den 
Schulangelegenheiten  allmählich  neue  zustände  herbeizuführen  strebte 
(Specht  s.  187  f.  und  s.  262). 

Die  annähme  einer  städtischen  schule  ist  aber  irrig,  denn  wenn 
damals  wirklich  eine  solche  bestanden  und,  woran  niemand  zweifeln 
würde,  bis  zur  reformation  fortgeblttht  hätte,  würden  ganz  bestimmte 
nachrichten  aus  der  ersten  hälfte  des  16n  jahrhunderts  geradezu  un- 
erklärlich sein,  in  einem  'nachtrag  des  in  der  Ferdinandischen  de- 
cision  (1544)  ermangelnden  (capituli  gravamina  contra  senatum 


&  quod  praedicti  Praepositus,  Decanus  &  Capitulum  debeant  &  teneantur 
virum  idoneum  ad  dictum  regimen  quotiescunque  vacare  contigerit, 
assaniere,  qui  dicto  regimini  praeesse  valeat  &  sit  utilis  tarn  ecclesiae 
quam  pueris  seu  scholaribus  &  eos  possit  utiliter  in  scientia  &  iu  mori- 
bus  informare,  &  quod  dicti  pueri  seu  scholares  teneantur  omnibus  & 
singulis  festiuis  diebus  Missis  &  vesperis  duntaxat  in  dicta  ecclesia 
interesse.  —  —  Datum  Bndi9sinae  etc.  —  Dem  fügen  wir  zur  Vervoll- 
ständigung au»  dem  verz.  oberlaus.  Urkunden,  Görlitz  1799  ff.  nr.  395, 
folgende  inhaltsangabe  hinzu:  Karolus  imp.  diffinitionem  Joannis  ep.  et 
Joannis  Burcardi  burggr.  inter  capitulum  ecclesie  Budissinensis  et  iudices 
iuratos  et  coramunitatem  ciuitatis  Budissin  obseruandam  preeipit  et  pro- 
mulgat:  quod  electio  rectoris  schole  spectet  ad  prepositum,  decanum  et 
capitulam;  consules  et  ciues  Budissinenses  vitricum  seu  procuratorem 
ecclesie  cum  consensu  capituli  eligere  teneantur;  oblaciones  in  altari 
bospitalis  ad  capitulum,  oblatn  in  et  super  crucem  ad  prouisorem  siue 
inhrmos  pertineant;  ad  capitulum  spectet  sepultura  mortuorura,  potestas 
•  pulsandi  campanas,  excepta  magna  campana,  de  enius  emolumento  vitricus 
raciones  reddet;  in  causis  contra  ciues  forum  rei  sit  sequendum.  d.  Bu- 
dissin, Mccclxiiij.  xiij.  kal.  July.  —  Die  bestätigung  von  1388  siehe  bei 
Weinart,  rechte  und  gewohnheiten  der  beiden  markgraftümer  Ober-  und 
Niederlausitz,  Leipzig  1793,  I  s.  220  und  daraus  in  dem  verz.  oberlaus. 
Urkunden,  Görlitz  1799  nr.  620. 


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1 16    Beiträge  zur  geschichte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

Budissillensem),4  lesen  wir  folgendes:  fUeberdiesz  nette  Ein  Rath 
auch  ietzunder  etliche  jähr  hero  eine  Gemein  Schul  aufgerichtet, 
alda  die  Stadt  von  Alters  keine,  Sondern  Sie  vom  Stifft 
die  Schule  gehabt,  Und  ob  wohl  Sie  bey  der  Stadt  etwan  in 
eines  Bürgers  i laus/  auch  einen  sonderlichen  geschickten  Mann  ge- 
habt, etlich  der  gewegnigsten  Kinder  daselbsten,  Insonderheit  zu 
lernen,  Nachdem  wehre  daszelbig  des  Stiffts  Schule  nicht  nachtheilig 
gewest,  aber  ietzunder  weis  tu  Ein  Rath  nicht  allein  fast  alle  ihre 
Kinder  in  der  Stadt  von  des  Stiffts  Schule,  Sondern  auch  verwehrten 
den  Landkindern,  in  des  Stiffts  Schul  zu  kommen.'  die  in  den  ein- 
gangsworten  erwähnte  aufrichtung  einer  'Gemein  Schul'  erfolgte 
aber  um  1530  (oder  ein  bis  zwei  jähre  früher),  als  das  capitel  unter 
dem  decan  Küchler  nach  vorausgegangener  begünstigung  der  refor- 
mation  ganz  plötzlich  zum  katholicismus  zurückgekehrt,  der  rat  aber 
mit  der  bürgerschaft  der  Lutherischen  lehre  treu  geblieben  war  und 
fortan  für  die  kirche  und  schule  sorgen  muste.  damals  also  hatte 
der  rat  noch  keine  schule,  wohl  aber  unterhielt  er  einen  privat- 
lehrer,  und  diesem  vertraute  er  nun  die  leitung  der  neuen  anstatt 
an  und  suchte  dieselbe  durch  Zuwendung  alter  Stiftungen  zu  stützen 
(vgl.  Vitzk  s.  a.  1529  und  1540). 

Die  schule  in  den  entscheidungen  von  1364  und  1388  kann 
daher  nur  eine  stiftsschule  gewesen  sein ,  dieselbe ,  welche  in  der  so 
eben  angeführten  stelle  (nach trag  usw.)  genannt  ist.  wunderbar  ist 
es  dabei  allerdings,  dasz  der  rat  auf  dieselbe  einflusz  haben  wollte, 
auf  eine  schule ,  welche  dem  capitel  gehörte. 

Auch  hierfür  glauben  wir  eine  erklärung  geben  zu  können, 
nach  der  Widerlegung  seitens  des  rates  auf  die  1544  erhobenen  gra- 
vamina  (Weinart  s.  222  f.)  lagen  anfänglich  und  lang  zuvor,  d.  h. 
vor  der  gründung  des  capitels,  die  häuser  der  geistlichen  in  stadt- 
rechten; daraus  gehe  hervor,  dasz  die  kirche  zu  Bautzen  eine  städtische 
war.  1221  wurde  sodann  diese  von  der  Stadt  gebaute  und  unter 
städtischem  patronate  stehende  kirche  zur  collegiatkirche  erhoben, 
womit  natürlich  zusammenhieng,  dasz  der  rat  das  patronatsrecht 
auf  die  stadtpfarre  aufgab;  aber  nicht  nur  dieses  gab  er  aus  der 
hand,  sondern  auch  zugleich,  da  wir  bei  der  kirche  eine  pfarrschule 
annehmen  müssen ,  das  recht  auf  diese  schule ,  freilich  ohne  bei  der 
Sachlage  zu  jener  zeit  voraussehen  zu  können,  welche  Schlüsse  künftig 
daraus  gezogen  werden  könnten.5  es  musz  auch  zwischen  rat  und 
capitel  sehr  bald  zum  streite  gekommen  sein,  da  sich  schon  1303 
ersterer  veranlaszt  sah,  die  bestimmung  mehrerer  Stiftungen  an  den 


4  in  Weinart s  rechten  und  gewohnheiten  I  s.  218,  wo  die  bemerkung 
hinzugefügt  ist:  raus  einer  guten  handschrifV.  die  erwähnte  stelle  steht 
auf  s.  219.  Edelmann,  das  Franciscanerkloster  in  Bautzen,  laus.  mag. 
bd.  49.  1872  s.  30,  scheint  die  Handschrift  selbst  benutzt  zu  haben. 

5  vgl.  zu  den  vom  rat  erhobenen  ansprüchen  Neumann,  geschichte 
der  geistlichen  administratur  des  bistums  Meiszen  in  der  Oberlausitz, 
laus.  mag.  bd.  36  1860  s.  192.  199  f.  227  f. 


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Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  117 

kirchen  St.  Peter  und  St.  Maria  extra  muros  urkundlich  festzustellen, 
um  dadurch  eine  mögliche  misbräuchliche  Verwendung  zu  verhindern.6 
und  aus  der  erwähnten  Widerlegung  ersehen  wir ,  dasz  der  rat  noch 
in  der  mitte  des  16n  jahrhunderts  daran  festhielt,  dasz  die  collegiat- 
kirebe  ursprünglich  eigentum  der  Stadt  gewesen  sei. 

Wie  sehr  aber  der  rat  auch  bestrebt  war ,  den  stand  der  dinge 
vor  der  gründung  des  capitels  bezüglich  des  patronats  wenigstens 
annähernd  wieder  herzustellen,  können  wir  eben  aus  dem  streite  er- 
kennen, der  durch  die  Concordia  Carolina  1364  und  durch  die  be- 
stätigung  derselben  durch  bischof  Nicolaus  im  jähre  1388  beendigt 
wurde,  zwei  entscheidungen,  welche  für  unsere  behauptung,  zugleich 
mit  der  städtischen  kirche  sei  auch  die  damit  verbundene  schule  an 
das  capitel  übergegangen,  von  gröster  Wichtigkeit  sind,  wir  finden 
besonders  in  der  Concordia  Carolina  nicht  blosz  der  schule  gedacht, 
sondern  so  ziemlich  alles  dessen,  was  überhaupt  hinsichtlich  des 
patronats  in  kirchen-  und  schulsachen  eine  weltliche  behörde  von 
einem  domcapitel  verlangen  konnte,  alle  forderungen  waren  jedoch 
vergebens,  des  rates  schule  war  ganz  und  gar  zur  stiftsschule  ge- 
worden (selbstredend  eine  sogenannte  äuszere  schule,  schola  externa, 
für  die  bürgerkinder,  neben  welcher  noch  eine  innere  oder  chor- 
schule, schola  interna,  bestand);  während  er  vor  1210  den  rector 
wählen  durfte,  so  muste  er  dies  nachher  und  besonders  infolge  dieses 
kaiserlichen  Schiedsspruches  dem  capitel  überlassen,  welchem  nur 
zur  p flicht  gemacht  wurde,  bei  der  wähl  mit  aller  Sorgfalt  zu  ver- 
fahren, aber  auch  in  bezug  auf  die  kirche  gewährte  die  Concordia 
Carolina  fast  nichts :  es  durfte  zwar  ein  weltlicher  kirchenvorsteher 
vom  rate  gewählt  werden,  aber  nur  einer,  welcher  dem  capitel  ge- 
nehm war ;  dieser  Vertreter  des  rates  hatte  zwar  die  Verwaltung  der 
Kirchhöfe  der  stifts-  und  Marienkirche  u.  a.  m.,  aber  seine  Verfügun- 
gen wurden  erst  rechtskräftig  durch  die  Zustimmung  des  capitels; 
der  glöckner  und  der  totengräber  standen  unter  der  obersten  auf- 
sieht des  capitels.  das  einzige  recht,  welches  dem  rate  zuerkannt 
wurde,  war,  dasz  die  geistlichen  in  civilsachen  sich  dem  ausspruche 
des  Stadtgerichtes  zu  fügen  und  dessen  competenz  anzuerkennen 
hätten. 

Wenn  wir  demnach  auszuführen  versucht  haben,  dasz  von 
frühester  zeit  an  bei  der  Bautzener  pfarrkirche  auch  eine  schule 
war,  welche  mit  jener  unter  städtischem  patronat  stand,  dasz  kirche 
und  schule  bei  der  gründung  des  capitels  an  dieses  übergi engen  und 
dasz  etwa  bis  1530  neben  der  stiftsschule  eine  besondere  städtische 
schule  nicht  vorhanden  war,  so  sind  wir  damit  zu  anderen  ergeb- 
nissen  gelangt  als  Job.  Müller  in  einer  abhandlung  über  die  anfange 
des  sächsischen  Schulwesens  im  n.  archiv  f.  sächs.  gesch.  von  Ermisch 
bd.  VIII  s.  23  ff.  und  s.  258  ff.  eine  kurze  Widerlegung  möge  hier 
platz  finden. 


6  die  Urkunde  bei  Köhler,  cod.  dipl.  Lusatiae  sup.  bd.  I  s.  172. 


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118    Beiträge  zur  geschichte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz 

Müller  nimmt  neinlich  am  domstift  nur  eine  chorschule  an, 
welche  der  in  Meiszen  (über  sie  a.  o.  s.  11  ff.)  nachgebildet  gewesen 
sei;  in  älterer  zeit  sei  sie  von  dem  scholasticus,  später  (etwa  von 
1350  an)  von  einem  cantor  geleitet  worden,  mit  dem  unterrichte 
der  städtischen  jugend  Bautzens  hatten  nach  ihm  diese  stiftsscbule 
und  die  pfründe  des  scholasticus  und  das  amt  des  cantors  anfangs 
gewis  nichts  zu  thun,  eine  ansieht,  welche  auch  Knothe,  archiv  V 
s.  113  (zur  ältesten  geschichte  der  Stadt  Bautzen)  ausspricht,  die 
Stadt  habe  vielmehr  eine  eigne  schule  besessen,  welche  sich  bei  der 
pfarrkirebe  entwickelte,  für  die  existenz  dieser  schule  und  gegen 
die  existenz  einer  äuszeren  Stiftsschule  werden  folgende  gründe 
vorgebracht:  erstens  wird  in  den  Konradinischen  stifts Statuten 
vom  jähre  1372  zwar  von  schülern,  nie  aber  von  einem  schul- 
rector  gesprochen,  die  schüler  sind  dem  stiftscantor  und  seinen 
provisores  unmittelbar  unterstellt;  zweitens  wird  eine  sogenannte 
äuszere  schule  beim  stift  nie  erwähnt  und  drittens  stellt  sich  die 
Bautzener  schule  in  der  (von  uns  späterhin  noch  genauer  zu  be- 
handelnden) Schulordnung  vom  jähre  1418  als  eine  städtische  dar; 
auch  in  diesem  letzten  punkte  stimmt  Müller  und  Knothe  a.  o.  s.  114 
tiberein. 

Von  diesen  behauptungen  geben  wir,  wie  sich  oben  zeigte,  die 
erste  zu:  beim  capitel  mag  eine  chorschule  bestanden  haben,  von 
welcher  wir  freilich  nicht  viel  wissen,  die  zweite  leidet  aber  an  einer 
groszen  unwahrscheinlichkeit.  denn  wir  erfahren  aus  zahlreichen 
beispielen,  dasz  sich  das  domstift  bzw.  der  domscholaster  Uberall 
und  während  des  ganzen  mittelalters  gegen  die  gründung  neuer 
schulen  auf«  entschiedenste  aussprach  oder,  wenn  eine  schule  doch 
gegründet  wurde,  den  patronat  beanspruchte  und  denselben  auch 
erhielt,  beispielsweise  sei  hier  nur  auf  die  Streitigkeiten  in  Ham- 
burg ,  in  Lübeck  und  ganz  besonders  in  Braunschweig  hingewiesen, 
anzunehmen  dasz  es  in  Bautzen  anders  war,  liegt  kein  grund  vor. 
was  nun  den  umstand  anlangt,  dasz  in  den  Statuten  von  1372  eines 
vom  capitel  abhängigen  schulrectors  nicht  gedacht  wird,  so  gibt 
Müller  selbst  zu ,  dasz  dies  in  bezug  auf  die  von  ihm  angenommene 
städtische  anstalt  befremde ,  welche  ja  acht  jähre  vorher  durch  die 
Concor  diu  Carolina  ausdrücklich  unter  die  Oberaufsicht  des  capitels 
gestellt  worden  war.  seine  erklärung  aber,  die  Stadtschule  wäre  dem 
einflusse  des  stiftscapitels  bald  weniger  unterstellt  gewesen,  so  dasz 
also  1372  (nur  acht  jähre  später!)  in  den  Statuten  der  rector  fehlen 
durfte,  entspricht  sicherlich  bei  der  groszen  Zähigkeit,  mit  der  die 
domscholaster  ihr  ziel  verfolgten  und  an  dem  erreichten  festhielten, 
auch  den  Bautzener  Verhältnissen  durchaus  nicht,  die  richtige  erklä- 
rung ist  vielmehr  die,  dasz  der  schulrector  in  den  Konradiniscben 
stiftsstatuten  von  1372  fehlt,  weil  überhaupt  keine  veranlassung 
vorlag,  ihn  zu  erwähnen,  leider  konnte  ich  die  Statuten  nicht  er- 
langen, weshalb  ich  mich  mit  dem  begnügen  musz,  was  Müller 
daraus  anführt;  ich  nehme  dabei  an,  dasz  er  alle  für  unsern  gegen- 


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Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  119 

stand  wichtigen  stellen  ausgezogen  hat.7  danach  ist  §  17  derjenige, 
in  welchem  von  schtilern  gesprochen  und  in  welchem  also  auch  die 
erwäbnung  des  rectors  erwartet  wird ;  an  dessen  statt  erscheint  aber 
nur  der  cantor,  und  zwar,  wie  ich  meine,  mit  vollem  rechte,  denn 
da  alle  dort  geforderten  Verrichtungen  rein  kirchliche  sind  (cin  choro* 
ist  fünfmal  ausdrücklich  hinzugesetzt)  und  da  infolge  dessen  Müller 
mit  recht  behauptet,  die  §  17  genannten  pueri  seien  die  schüler  der 
inneren  schule,  in  welcher  nur  knaben  zu  gottesdienstlichen  zwecken 
unterrichtet  wurden,  was  er  für  Meiszen  a.  o.  8.  11  f.  nachgewiesen 
hat,  so  war  eben  nur  die  erwähnung  des  cantors  nötig,  desjenigen 
kanonikers,  welchem  die  leitung  des  chorgesanges  und  der  Unter- 
richt in  demselben  oblag,  und  der  schulrector  hätte  erst  erwähnt 
werden  müssen,  sobald  in  den  Statuten  auch  über  den  Unterricht 
gesprochen  wurde,  der  nicht  blosz  die  abrichtung  der  knaben  für 
den  gottesdienst  zum  ziele  hatte,  daraus  folgt  also,  dasz  Müllers 
erster  grund  nichts  beweist  und  dasz  er  weder  von  ihm,  um  die 
existenz  der  schola  externa  zu  leugnen,  noch  von  uns  im  entgegen- 
gesetzten sinne  verwendet  werden  kann. 

Der  zweite  grund  Müllers,  man  höre  nie  etwas  von  der  äuszeren 
stiftsschule ,  verliert  schon  an  beweiskraft,  wenn  wir  auf  die  vielen 
lücken  in  der  geschichtlichen  Überlieferung  während  des  mittelalters 
überhaupt  hinweisen;  überdies  wird  des  stiftes  schule  in  der  hand- 
schrift  bei  Weinart,  wenn  auch  erst  im  16n  Jahrhundert,  wirklich 
erwähnt,  der  schwächste  grund  dürfte  aber  der  sein ,  welchen 
Müller  und  Knothe  aus  der  Schulordnung  vom  jähre  1418  für  das 
Vorhandensein  einer  städtischen  schule  entnehmen,  wir  unsererseits 
vermögen  nicht  einzusehen,  warum  wir  zu  einer  solchen  annähme 
gezwungen  sein  sollten,  denn  mit  weglassung  alles  dessen,  was 
etwa  einen  schlusz  auf  das  patronatsrecht  oder  ähnliches  zuliesze, 
bestimmt  diese  Schulordnung  ausschlieszlich ,  welche  abgaben  die 
schüler  bei  den  verschiedensten  gelegenheiten  an  die  lehrer  zu  ent- 
richten haben,  und  derartiges  war  doch  nicht  blosz  an  Stadtschulen 
gebräuchlich,  auch  die  Überschrift,  welche  sie  in  einer  handschrift 
des  Bautzener  archivs  (rep.  IV  sect.  III  Aa  nr.  1)  trägt :  f  Alte  Schul- 
ordnung und  Gewonheit  Anno  1418  bei  Heren  Niclas  Königsberg, 
hern  Niclas  Brügern  und  Meister  Frentzen',  bietet  uns  keine  hand 
habe  zur  bestimmung  der  art  der  schule,  für  welche  sie  verfaszt  war. 
denn  die  genannten  männer  sind  die  lehrer,  unter  oder  von  denen 


7  die  von  Müller  angeführten  stellen  sind  diese:  rcantor  cum  pro- 
vi6oribus  stabit  iuxta  pueros  in  choro;  surjrent  cantor  et  provisores 
et  stabunt  circa  pueros  in  choro;  tunc  duo  pueri  cum  thuribulis  venient 
et  thurificabunt  ambo,  cantorem  primo  et  tunc  qailibet  i Horum  puero- 
nun  tharificabit  unum  ex  provisoribas,  et  illa  thuriticatione  facta  cantor 
stabit  in  medio  chori  ante  pulpituro,  et  provisores  stabunt  iuxta  pueros, 
qailibet  in  uno  choro,  quoasque  dicetur  Gloria  patri,  tunc  etiam  cantor 
ibit  et  stabit  iuxta  pueros,  quousque  compleatur  antiphona;  et  in  choro 
habeat  cantor  correctoreui  puerornm.' 


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120     Beiträge  zur  geschichte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

das,  was  schon  längst  an  der  stiftsschule  brauch  war,  aufgeschrieben 
wurde  (vgl.  unten). 

Wenn  wir  nun  gezeigt  zu  haben  glauben,  dasz  die  gründe, 
welche  Müller  gegen  das  Vorhandensein  einer  äuszeren  stiftsschule 
vorbringt,  nicht  stichhaltig  sind,  beziehentlich  sich  ebenso  gut  gegen 
seine  städtische  schule  gebrauchen  lassen ,  wollen  wir  zum  schlusz 
noch  auf  das  unzutreffende  seiner  Vermutung,  die  städtische  schule 
habe  sich  bei  der  pfarrkirche  entwickelt,  aufmerksam  machen,  das 
ist  schon  deshalb  unwahrscheinlich,  weil  diese  1293  geweihte  kirche 
zu  St.  Maria  als  des  rates  pfarrkirche  keineswegs  gelten  darf,  denn 
wie  aus  der  gründungsurkunde  hervorgeht  (cod.  dipl.  Lus.  sup.  I 
s.  137),  war  sie  'nicht  eigentlich  eine  pfarr-,  sondern  nur  eine  filial- 
kirche  von  der  Stiftskirche;  der  pfarrer  war  angestellt  vom  capitel 
und  lediglich  im  dienste  desselben';  seine  parochianen  waren  nicht 
die  Bautzener  der  stadt,  sondern  die  der  Vorstädte  und  dörfer;  er 
durfte  nicht  predigen  auszer  am  kircb weihfeste,  sondern  muste  die 
gemeinde  auffordern  zur  predigt ,  ad  ecclesiam  conventualem  (d.  h. 
zur  Stiftskirche)  convolare,  geradezu  unmöglich  ist  es  also,  an  einer 
solchen  kirche  eine  städtische  schule  zu  suchen. 

Die  ansichten  Knauthes,  von  denen  Schulbüchern,  welche  in 
denen  oberlausitzischen  schulen  vor  der  reformation  Lutheri  ge- 
braucht worden,  Görlitz  1759,  s.  4  ff.,  Kliens,  kurze  nachricht  über 
die  begründung  des  Budissiner  gymnasiums,  1846,  8. 5,  und  Hesslers, 
die  milden  Stiftungen  der  stadt  Bautzen,  1850,  III  s.  4,  bedürfen 
einer  besondern  Widerlegung  oder  berichtigung  nicht. 

Die  schule  in  Görlitz  wird  im  14n  Jahrhundert  erwähnt:  in 
der  mitte  desselben  wirkten  an  ihr  ein  meister  mit  seinen  baccalaurei 
und  einem  signator,  und  in  den  ältesten  ratsrechnungen ,  aus  den 
jähren  1376  und  1377,  kommt  der  'magister  schote',  mit  namen 
Peter,  und  das  scbulgebäude  selbst  ziemlich  häufig  vor ;  z.  b.  wird  im 
jähre  1376  'ebirhard  cum  magistro  schole  versus  Sittavia'  geschickt, 
rmagist.  schole  versus  Budissin',  'peter  rothe  magister  peter 
cum  Notario  versus  Budissin  et  Kothbus'  usw. ,  naehrichten ,  denen 
wir  in  den  rechnungen  deshalb  begegnen,  weil  die  den  betreffenden 
boten  gezahlten  diäten  verzeichnet  werden  musten ;  und  über  das 
schulgebäude  finden  wir  aus  dem  jähre  1376  die  nachricht :  'Domi- 
nica ante  rogacionib  das  man  die  schule  Bedelit  hat 

und  gebessirt  vor  Bret  nagil  et  cymmyr.  Xj  szo.'  damit  sind  die 
stellen  zu  vergleichen,  welche  Crudelius,  notizen  zur  geschichte  von 
Görlitz  (handschrift  im  besitze  der  oberlaus,  gesellsch.  d.  wissensch.) 
bd.  II  bl.  55  b  über  das  schulgebäude  aus  den  ratsrechnungen  aus- 
gezogen hat,  vollständig  abgedruckt  in  des  verf.  osterprogramm 
Zittau  1889  anm.  26. 

Von  mag.  Peter  erfahren  wir  endlich  aus  den  stadtbüchern, 
dasz  er  1377  in  den  rat  gewählt  worden,  1383  stadtschreiber  und 
1398  bürgermeister  geworden  ist. 

Nach  allen  diesen  anführungen  stellt  sich  die  Görlitzer  schule 


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Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  121 

als  eine  städtische  dar,  deren  gründungsjahr  wir  nicht  kennen,  aus 
bestimmten  thatsachen  aber  unter  dem  hinweis  auf  das  oben  gesagte 
vielleicht  annähernd  angeben  können. 

Es  ist  sehr  wahrscheinlich  und  Knauthe  hat  es  in  seiner  schrift 
cdas  gymnasium  Augustum  zu  Görlitz*  (1765)  8.  2  £  weiter  aus- 
geführt, dasz  Görlitz  schon  im  lln  jahrhundert  eine  parochialkirche 
and  somit  auch  eine  pfarrschule  hatte,  die  läge  beider  war  auszer- 
halb  der  stadt,  was  bezüglich  der  kirche  unter  anderen  Joh.  Hass 
(f  1544)  in  dem  3n  bände  der  Görlitzer  ratsannalen  (bd.  IV  der 
scriptt.  rer.  Lus.  s.  244  f.)  bezeugt,  der  kirch-  und  schulweg  mochte 
recht  unbequem  sein  (man  hatte  in  der  stadt  ja  nur  die  Capelle 
St  Petri  und  von  1245  an  die  Franciscanerkirche) ,  und  so  kam  es, 
dasz  der  rat  im  anfang  des  I4n  jahrhundert s  um  die  erlaubnis  bat, 
innerhalb  der  stadt  eine  kirche  errichten  zu  dürfen.  1317  wurde 
diese  erlaubnis  vom  papst  Johannes  XXII  erteilt,  und  sehr  bald  ist 
man  jedenfalls  daran  gegangen,  die  Petricapelle  zu  der  neuen  stadt- 
kirche  umzubauen,  wenn  sich  auch  die  Vollendung  dieser  kirche 
wegen  der  unruhigen  zeiten  lange  hinzog ,  so  darf  mit  Knauthe  an- 
genommen werden ,  dasz  man  mit  der  gründung  der  schule  inner- 
halb der  stadt  nicht  gezögert  bat,  so  dasz  sie  noch  in  dem  zweiten 
oder  in  dem  dritten  jahrzehnt  des  1  -In  jahrhunderts  eröffnet  wurde, 
vielleicht  kann  diese  annähme  noch  durch  folgendes  gestützt  werden. 
1376  finden  wir  in  den  erwähnten  ratsrechnungen  die  schule  in  dem 
am  Peterskirchenplan  gelegenen  Sidelhof  (Herrenhof)  untergebracht, 
welcher  ursprünglich  als  waidniederlage  gedient  hatte  (im  stadt- 
buche vom  jähre  1305  8.  a.  1330)  und  nach  1330  vom  rate  gekauft 
worden  war  —  eine  thatsache ,  welche  zu  folgenden  Vermutungen 
anlasz  gibt:  entweder  wollte  der  rat  seiner  neu  zu  gründenden  schule 
genügende  räume  schaffen  oder  der  bereits  gegründeten  eine  bessere 
behausung  gewähren,  als  es  bei  der  gründung  möglich  gewesen  war. 
dasz  aber  Görlitz  in  jener  zeit  seiner  ganzen  entwicklung  gemäsz 
danach  streben  muste,  eine  eigne  schule  zu  haben,  kann  durch  nichts 
besser  bezeugt  werden  als  durch  die  kurze  Charakteristik  Knothes 
in  der  geschiente  des  oberlaus,  adels  (Leipzig  1879)  s.  610:  'seit 
der  teilung  der  Oberlausitz  im  jähre  1268,  durch  welche  Görlitz  die 
hauptstadt  der  östlichen  landeshälfte  wurde,  übte  es,  mit  zahlreichen 
Privilegien  ausgestattet,  zumal  mit  dem  von  1303,  wodurch  die 
gesamte  obergerichtsbarkeit  im  Weichbild,  auch  die  über  den  adel, 
lediglich  dem  städtischen  gerichte  zu  Görlitz  zugewiesen  ward,  durch 
handel  und  gewerbe  wohlhabend  und  selbstbewust,  im  besitze  vieler 
und  bedeutender  stadtdörfer,  von  einem  thatkräftigen  magistrat  ge- 
leitet, einen  in  jeder  hinsieht  maszgebenden  einflusz  auf  die  geschicke 
der  gesamten  Oberlausitz. ' 

In  welchem  Verhältnis  stand  aber  diese  neue  schule  zur  alten? 
haben  wir  sie  als  parallelanstalt  der  pfarrschule  zu  betrachten  oder 
anzunehmen,  dasz  mit  der  gründung  der  neuen  die  alte  ganz  und 
gar  aufhörte  zu  bestehen?  wir  möchten  der  zweiten  möglichkeit  zu- 


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122    Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

neigen,  denn  da  die  neue  schule  mit  der  parochialkirche  St.  Nicolai 
so  lange  in  Verbindung  stand ,  als  diese  parochialkirche  blieb,  d.  h. 
bis  in  das  16e  Jahrhundert  —  vgl.  weiter  unten  die  Streitigkeiten, 
welche  im  15n  jahrhundert  zwischen  dem  pfarrer  und  den  lehrern 
deshalb  entstanden ,  weil  jener  diesen  den  freien  tisch  nicht  mehr 
gewähren  wollte  —  so  hätte  es  bis  dahin  zwei  schulen  gegeben,  wo- 
für das  bedtirfnis  gewis  nicht  vorlag;  es  müste  denn  sein,  dasz  die 
pfarrschule  nötig  war  zur  heranbildung  von  schülern  für  den  gottes- 
dienst,  eine  bestimmung,  welcher,  besonders  so  lange  die  Peterskirche 
noch  nicht  vollendet  war,  auch  die  neue  schule  ganz  leicht  gerecht 
werden  konnte. 

Höchst  wahrscheinlich  also  hat  der  rat  in  der  ersten  hälfte  des 
14n  Jahrhunderts  die  von  der  kirche  gegründete  schule  durch  irgend 
einen  vertrag  in  seine  obhut  genommen,  freilich  hat  er  in  dieser 
ersten  zeit  wenig  genug  für  sie  gethan:  das  einzige  war,  dasz  er  ihr 
ein  haus  anwies  und  es  in  gutem  stände  erhielt  (s.  oben),  denn 
daran,  dasz  der  Schulmeister  mit  seinen  gesellen  vom  rate  einen 
gehalt  bezog,  dürfen  wir  in  Görlitz  ebenso  wenig  wie  anderwärts 
denken,  da  dem  rate  nur  geringe  mittel  zur  Verfügung  standen  und 
da  er  überdies,  allerdings  nur  hierin,  der  meinung  war,  dasz  die 
schule  zur  kirche  gehöre. 

So  schreibt  Hass  in  dem  bericht  'von  den  priestirzinsen,  predi- 
gern,  schulmeistern,  baccalarien,  capellann,  bospitalien  etc.,  moniebe' 
(1536)  über  des  'Schulmeisters  alt  einkornen* :  'Der  schulmeistir  mit 
seinen  viern  baccalaureen  vnd  cantorj  haben  sich  alle  der  schule  past 
(einkommen,  von  denen  einige  aufgezählt  werden)  .  .  .  erhalden 
müssen.  Vnd  ist  jnen  allen ,  vom  rothause  nichts  gegebenn.'  a.  o. 
bd.  III  8.  303.  und  wenn  wir  behaupten,  dasz  auch  anderwärts  dem 
Schulmeister  ein  bestimmter  gehalt  vom  rate  nicht  gezahlt  wurde, 
so  stehen  dem  ganz  vereinzelte  fälle  als  ausnahmen  entgegen, 
der  früheste  beleg  für  den  schulmeistergehalt  dürfte  der  in  der 
Schulordnung  für  Goch  1419  sein,  dem  sich  der  in  der  Nördlinger 
Schulordnung  1443  anschlieszt,  bei  Joh.  Müller,  vor-  und  frührefor- 
raatorische  Schulordnungen  8.  40  und  50.  an  andern  orten,  wie  in 
Hannover,  kam  es  ja  sogar  vor,  dasz  der  rat  von  dem  Schulmeister 
eine  jährliche  abgäbe  verlangte,  man  vergleiche  die  von  Ahrens  im 
Programm  1869  gesammelten  Urkunden  zur  geschiente  des  lyceums 
zu  Hannover  s.  1 3  ff*. 

Die  hauptsacbe  war  also,  dasz  nun  der  Görlitzer  rat  allein  den 
Schulmeister  berief  und  anstellte,  und  zwar  wie  an  andern  orten  auf 
ein  jähr,  weil  er  auch  nur  auf  ein  jähr  gewählt  war;  eine  Verlänge- 
rung des  Vertrages  konnte  ja  leicht  vorgenommen  werden,  auch  das 
beiderseitige  recht  der  kündigung  —  gewöhnlich  ein  Vierteljahr  — 
liesz  man  nicht  auszer  acht;  dabei  war  aber  der  fall  nicht  ausge- 
schlossen, dasz  ein  lehrer,  wenn  er  sich  gegen  die  Ordnung  und  gute 
sitte  arg  vergangen  hatte,  sofort  weggeschickt  werden  konnte,  um 
die  gehilfen,  welche  der  Schulmeister  etwa  noch  brauchte,  hatte  sieb 


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Beiträge  zur  geschichte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  123 


der  rat  gar  nicht  zu  kümmern;  diese  nahm  der  meister  je  nach  dem 
bedflrfnis  an  und  sorgte  für  deren  unterhalt,  für  sich  und  seine  ge- 
sellen erkannte  er  aber  ausdrücklich  den  magistrat  als  seine  Obrig- 
keit an  und  gelobte  feierlich,  bei  demselben  allein  sein  recht  suchen 
zu  wollen/  jedweder  einflusz  des  pfarrers  auf  die  wähl  des  rectors 
war  ausgeschlossen,  selbst  der  Meiszener  bischof  oder  der  Bautzener 
domscholaster,  welchem  nach  dem  strengen  kirchenrecht  die  Ober- 
aufsicht über  die  schulen  der  Oberlausitz  zustand,  haben,  so  viel  wir 
wissen,  weder  in  Görlitz  noch  in  den  andern  oberlausitzischen  Städten 
(Bautzen  ausgenommen)  irgendwie  in  dieser  richtung  auf  die  schul- 
angelegenheiten  eingewirkt. 

Wie  sich  aber  auch  bei  geringfügigen  anlassen  der  rat  mit 
groszer  entschiedenheit  den  versuchen  des  Stadtpfarrers ,  auf  die 
schule  bestimmend  einzuwirken,  widersetzte,  erfahren  wir  aus  dem 
groszen  streite,  der  1489  und  in  den  folgenden  jähren  zwischen  dem 
pfarrer  und  dem  rate  geführt  wurde.9  einer  der  vielen  klagepunkte 
war,  'der  Rath  hatte  dem  Schulemeister  vorbieten  lassen,  keynen 


*  worte  Ruhkopfs,  geschichte  des  schul-  und  erziehungswesens  in 
Deutschland  s.  102,  welche  Tzschoppe,  versuch  einer  geschichte  des 
schul-  und  erziehungswesens  in  Görlitz  8.  11  anführt  und  welche  Schutt, 
zur  geschichte  des  gymnasiums  in  Görlitz,  programm  1866,  s.  8  für  eine 
bemerk ung  zu  halten  scheint,  die  hus  einer  Görlitzer  quelle  stammt; 
gleichwohl  entspricht  sie  voll  und  ganz  den  dortigen  Verhältnissen, 
vgl.  Müller,  vor-  und  frhhreformatorische  Schulordnungen  s.  14.  22.  34. 

9  ursprünglich  (1474)  war  es  nur  ein  streit  über  die  berechtigung, 
auf  dem  pfarrhofe  fremdes  hier  für  gehl  zu  verschenken;  nach  und  nach 
kamen  aber  so  viel  klagen  hinzu,  dasz  es  1489,  als  die  Verhandlung 
vor  dem  bischof  Johannes  von  Meiszen  in  Stolpen  geführt  wurde, 
17  punkte  waren.  Hass  hat  uns  in  seinen  ratsannalen  sowohl  diese 
anklagen  als  auch  die  Verteidigung  des  rates  ('antwort  der  von  Görlitz') 
und  die  entscheidung  des  bischofs  überliefert,  Script,  rer.  Lus.  II  (rats- 
annalen bd.  I)  s.  215  ff.  vgl.  die  erläuternngen  des  herausgebers,  pastor 
Haupt,  s.  434  ff.  falsch  stellt  diese  Sachlage  Joh.  Müller,  vor-  und  früh- 
reformatorische  Schulordnungen  s.  327  anm.  dar.  —  Bei  der  folgenden 
angäbe  Müllers,  am  tage  St.  Thomae  (21/12)  desselbigen  jahres  sei  der 
pfarrer  'zu  den  eldisten  hern  vor  das  gestuel  in  der  kirchen  komen 
vnd  gebeten,  sie  wulden  den  schulemeister  den  hymnum,  den  man  am 
cristaband  zu  singen  pfleget,  in  mensur  singen  lassen',  ist  die  jahres- 
angabe  1492  unrichtig,  denn  Hass  (a.  o.  s.  225),  welcher  uns  diesen 
auftritt  mit  denselben  Worten  erzählt,  hat  vorher  davon  gesprochen, 
dasz  rvor  dreyen  jaren  an  sandt  peterss  oband  vnder  der  messen  siehe 
zum  irsten  begeben  hat,  das  vnser  pfarher  zu  dem  Burgermeister  vor 
das  gestuel  jn  der  kirchen  komen  ist  und  begert,  her  wulde  zur  vesper 
vnd  frühe  zur  messen  vff  der  orgel  singen  lassen'  usw.  da  nun  der 
pfarrer  nach  einer  langen  abwesenheit  erst  seit  dem  anfang  des  jahres 
1489  wieder  in  Görlitz  war,  da  ferner  die  erwähnte  orgelangelegenheit 
(sie  hatte  sich  fzum  irsten'  begeben)  auch  zu  den  anklagepnukten  bei 
der  Verhandlung  in  Stolpen  (märz  1489)  gehörte  und  da  endlich  aus 
Hass  s.  225  und  226  deutlich  hervorgeht,  dasz  der  streit  um  das  orgel- 
spiel am  tage  St.  Petri  (22/2)  und  um  das  singen  am  tage  St.  Thomae 
(21  12)  in  dasselbe  jähr  fällt,  so  ist  ohne  zweifei  das  jähr  1489  ge- 
meint. 1492  ist  vielmehr  das  jähr,  in  welchem  der  bericht  nieder- 
geschrieben wurde. 


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124    Beiträge  zur  geschiente  des  höh,  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

lobegesang  als  hymnos  magnificat  ec.  in  mensuris  zu  syngen'.  bei 
der  Verhandlung  vor  dem  bischof  Johannes  von  Meiszen  im  jähre 
1489  vertrat  der  stadtschreiber  M.  Conrad  Nyssmann  die  sache  des 
rates;  seine  antwort  auf  die  erwähnte  beschwerde  lassen  wir  hier 
vollständig  folgen ,  wie  sie  uns  Hass  überliefert  hat: 

(Czum  irsten ,  des  syngens  halben  in  mensuris  ist  geantwort, 
Der  Rath  habe  dorvmbe  den  Schulemeister  als  hymnos  magnificat 
etc.,  in  mensuris  zu  singyn  vorbotben,  das  die  Schüller,  eher  sie  dy 
mensur  gelernthen ,  suste  an  irem  studiren  vorse wmet  vnnd  besehe- 
diget  wurden,  Vnnd  das  die  leuthe  meber  durch  dieselben  zu  jnnyg- 
keit  vnnd  andacht  getzogen  wurden,  so  man  sie  singet,  wie  sie  von 
den  heyligen  vetern  awssgesatzt  sein,  danne  so  man  houereyen 
(künsteleien)  dorawss  machte,  Auch  dorvmbe  das  man  eine  tzeit 
vor  die  ander  irkennen  muge,  wulde  aber  der  Schulemeister  be- 
weylen  an  hohen  festen  pro  offertorio  eyn  Carmen  singen,  wulde 
jm  der  Rath  gerne  gönnen ,  hofften  der  Rath  bette  nichts  vnbil- 
lichs  doran  begunst,  Danne  die  weile  der  Rath  den  Schule- 
meister zusetzen  vnnd  zu  bestetigen  hette,  vnnd  nicht 
der  pfarher,  mochte  der  Rath  dem  Schulemeister  wol 
gebieten,  vnnd  bedorfft  den  pfarher  dorvmbe  nicht  ir- 
su  chen.' 

Das  war  prächtig  gesprochen !  —  Die  entscheidung  des  bischofs 
lautete,  'das  man  die  lobgesenge,  jn  mossen  die  von  den  heyligen 
vetern  awssgesatzt  sein,  singen  sal,  Sunder  wenne  grosse  fest  komen 
mag  man  pro  offertorio  ein  Carmen  singen  lassen'. 

(forteetzung  folgt.) 
Dresden.  H.  Heyden. 


11. 

EINE  STÜNDE  CHRONOLOGIE  IM  GYMNASIUM. 

(nach  einem  Vortrag  in  der  Versammlung  der  lehrer  der  höheren  schulen 

Elsasz  -  Lothringens.) 


Eine  sprichwörtliche  redensart  lautet:  'dem  glücklichen  schlägt 
keine  stunde.'  so  pflegen  wir  im  gewöhnlichen  leben  zu  sagen,  um 
anzudeuten,  wie  lästig  es  ist  bei  beglückenden  ereignissen  eine 
strenge  beobachtung  der  Zeitabschnitte  obwalten  zu  lassen,  ein  ähn- 
liches gefühl  beschleicht  uns  meist  auch  bei  edleren  geistigen  ge- 
nüssen  und  freuden.  wir  empfinden  es  als  eine  fessel ,  wenn  sie  mit 
dem  glockenschlag  endigen,  an  eine  enge  zeitgrenze  gebunden  sind, 
deren  berechtigung  weder  unsere  Stimmung  noch  unser  interesse 
anerkennen  kann. 

Eine  derartige  gesinnung  ist  wohl  auch  der  Wissenschaft  ge- 
fährlich geworden,  welche  hier  in  betracht  kommt:  der  chrono- 


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Eine  stunde  Chronologie  im  gymnasium. 


125 


logie.  die  Schönheiten  einer  antiken  statue,  die  anmut  eines  ge- 
dicktes zu  empfinden  und  zu  genieszen,  scheint  uns  auch  ohne 
chronologische  einzelheiten  über  die  zeit  ihres  entstehens  möglich ; 
ja  ein  kritisches  erforschen  der  näheren  Zeitumstände  stört  entschie- 
den den  ästhetischen  genusz. 

Nichtsdestoweniger  wird  die  Erforschung  der  Chronologie  die 
grundlage  alter  Historie  bleiben  und  in  der  historischen  Wissenschaft 
nur  derjenige  die  rechte  befriedigung  finden,  welcher  die  'lumina 
historiae'  nicht  gering  achtet. 

Scaliger,  der  gröste  philolog  des  siebzehnten  jahrhun- 
derts,  ist  hier  ein  leuchtendes  muster.  sein  werk  de  emendatione 
temporum  hat  den  philologisch-historischen  Studien  ganz  neue  bahnen 
eröffnet,  bis  auf  Scaliger  waren  textkritik  und  interpretati on 
der  alten  classiker  die  einzigen  eigentlichen  bauptaufgaben  der  alter- 
tnmswis8enschaften  gewesen,  durch  die  feste  chronologische  grund- 
lage ,  welche  Scaligers  werk  allen  einzelangaben  geschichtlicher  art 
gab ,  gelang  es  erst ,  diese  geordnet  zu  sammeln,  unter  Scaligers 
bänden  verwandelte  sich  aber,  wie  Bernays  in  seiner  biographie 
Scaligers  treffend  hervorhebt,  Mie  Chronologie  aus  einem  rubricie- 
rungsmittel  der  vorhandenen  geschichte  zu  einem  entdeckungsmittel 
der  verlorenen'. 

Keineswegs  soll  hier  jedoch  eine  oratio  pro  domo  gehalten  wer- 
den in  dem  sinne ,  als  sollte  die  bedeutung  der  Zeitmessung  über- 
haupt, speciell  der  antiken  Chronologie  betont  und  indirect  dadurch 
der  wert  neuerer  arbeiten,  speciell  über  römische  Chronologie1 
in  den  himmel  gehoben  werden. 

Nein,  nur  zur  abwehr,  einem  spöttischen  ewas  interessiert  uns 
diese  Wissenschaft',  'wie  hängt  dieses  wissen  mit  der  schule  zusam- 
men' soll  hier  begegnet  werden. 

Es  wird  sich  zeigen,  dasz  die  Wissenschaft  der  antiken,  insbe- 
sondere der  römischen  Chronologie  in  manigfacher,  sogar  in  höchst 
enger  beziehung  zu  den  gegenständen  steht,  welche  im  gy mnasium 
zu  treiben  und  zu  lehren  des  gymnasiallehrers  pflicht  ist. 

Das  thema  dieses  aufsatzes  ist  kurz  zusammengefaszt  worden 
indemsatz:  'eine  stunde  Chronologie  im  gymnasium.' 

Es  war  dabei  nicht  an  eine  einzelne  gymnasialstunde  gedacht, 
vielmehr  war  unter  stunde  verstanden  das,  was  in  dem  Zeit- 
raum von  einer  stunde  an  Chronologie  bei  den  verschieden- 
sten gymnasial  fächern  abgehandelt  werden  könnte,  es  schien 
erwünscht,  nachzuweisen,  wie  vielseitig  die  belehrung  sei,  welche  auch 
nur  während  des  Zeitraums  einer  einzigen  stunde  ganz  ungezwun- 
gen von  der  Chronologie  für  die  einzelnen  gymnasialfächer  verwertet 
werden  könne. 


1  vgl.  des  verf.  Schriften:  prolegomena  zu  einer  römischen  Chrono- 
logie (Berlin  1886),  die  römischen  amtsjahre  (Freiburg  1888),  römische 
Chronologie  (Freiburg  1889). 


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126 


Eine  stunde  Chronologie  im  gymnasium. 


Treten  wir  also  einmal  einen  kurzen  nindgang  durch  unsere 
gymnasialstunden  an. 

Es  ist  geograph  i  es  tun  de.  in  der  physikalischen  geographie 
wird  die  länge  des  sonnenjahres  erwähnt,  der  schüler  wirft  unwill- 
kürlich die  frage  auf  'wie  erkennt  man  die  länge  des  sonnenjahres* 
und  'seit  wann  besitzt  die  menschheit  diese  erkenntnis  ?'  die  Chro- 
nologie gibt  hierüber  den  erwünschten  aufschlusz. 

Schon  Hesiod*  hat  in  seinen  £pra  Kai  fjue'pai  ein  einfaches 
sonnenjahr  und  zwar  das  tropische  sonnenjahr  geboten,  von  winter- 
wende zu  winterwende  laufend,  dessen  Unterabschnitte  aber  meist 
durch  fixsternaufgänge ,  d.  h.  nach  teilen  des  8  i  dorischen  jahres 
bestimmt,  von  da,  das  ist  neuerdings  festgestellt,  ist  die  künde  dieses 
sonnenjahres  schon  zu  beginn  der  römischen  republik  auch  in  Italien 
verbreitet  worden,  in  den  kleinen  Latinerstädten  Tusculum,  Aricia, 
Alba  finden  sich  monatsabschnitte  von  36,  39,  22,  32,  16  tagen, 
welche  den  Hesiodischen  Unterabteilungen  des  sonnenjahres  entspre- 
chen und  us  steht  jetzt  gleichfalls  fest,  dasz  die  Römer  an  das  hohe 
alter  desselben,  so  wie  es  in  Rom  recipiert  war,  geglaubt  haben, 
indem  sie  ein  so  construiertes  jähr  dasjahrdesRomuius  nannten 
(Plutarch  Numa  18). 8 

Aber  nicht  nur  die  ungefähre  künde  des  sonnenjahres  war  bei 
den  Römern  lange  vor  Julius  Caesar  weit  verbreitet,  sondern  es 
folgt,  wie  mir  das  der  astronom  herr  professor  Becker  in  Straszburg 
zugestanden  hat,  aus  der  mehrhundertjährigen  anwendung  eines 
Hesiodisch - Romulischen  sonnenjahres,  dessen  abschnitte  durch  die 
wenden  und  die  wichtigsten  fixsternaufgänge  bestimmt  wurden,  dasz 
den  Römern  selbst  die  präcession  der  nachtgleichen  wenigstens  em- 
pirisch bekannt  gewesen  sein  musz. 

Beispielsweise  betrug  die  differenz  zwischen  der  winterwende 
und  dem  anfang  des  römischen  sonnenjahres  am  1  märz  (d.  h.  nach 
Arcturs  spätaufgang)  zur  zeit  des  decemvirats  59  tage ,  zu  Caesars 
zeit  66  tage.  , 

Weiterhin  könnten  noch  manche  capitel  der  Chronologie  in  der 
geographiestunde  einer  secunda  Verwendung  finden,  es  könnte  er- 
örtert werden,  was  frühaufgang,  was  spätaufgang,  frühuntergang, 
spätuntergang  eines  gestirnes  sei,  welches  die  dem  altertum  be- 
kanntesten fixsterne  waren ,  oder  wie  die  einzelnen  fixsternphasen 
unter  demselben  breitengrade  auf  der  erde  zur  selben  zeit  beobachtet 
werden  können,  dagegen  für  verschiedene  breiten  notwendig  ver- 
schieden sein  müsten.  es  könnte  auch  in  der  geographie  daraufhin- 
gewiesen werden,  dasz  die  fixsterne  auch  die  weit  verbreitetsten  und 
bekanntesten  Zeitmesser  bei  den  Schriftstellern  des  altertums  waren, 
die  zeit  von  Hannibals  alpenübergang  fixierten  Polybius  und  Livius 


*  über  das  Hesiodische  und  Romulische  sonnenjahr  s.  in  Soltau  pro- 
legomena  zu  einer  römischen  Chronologie,  abschn.  X. 

*  vgl.  Soltau  röm.  Chronologie,  abschn.  IV  §  5.  6. 


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Eine  stunde  Chronologie  im  gymnaeiuni. 


127 


durch  den  Plejaden Untergang,  der  Sommersanfang,  zeitweise  die 
antrittszeit  der  achäischen  Strategen,  wird  durch  den  Plejadenauf- 
gang  (mitte  Mai)  präcisiert.  doch  damit  ist  bereits  der  Übergang  zu 
einem  andern  Unterrichtsgegenstand  gemacht,  treten  wir  ein  in  die 
Li  viusstunde. 

Von  Livius  werden  vorzugsweise  die  ersten  bticher  und  der  an- 
fang  des  zweiten  punischen  krieges  gelesen,  schlagen  wir  das  erste 
buch  auf.  wir  lesen  dort  die  geschieht«  der  könige  von  Alba,  des 
Romulus  wunderbare  geburt  und  himmelfahrt  (am  7  juli),  die  regie- 
rungszahlen  der  römischen  könige  mit  einer  Sicherheit  angegeben, 
als  ob  es  die  preuszische  königsreihe  sei. 

Der  schüler,  der  wohl  schon  einmal  gehört  bat,  dasz  nach  Momm- 
sens  forsebungen  hiervon  wenig  historisch  sei,  wirft  fragende  blicke 
nach  dem  lehrer  und  wünscht  sichere  auskunft,  wie  weit  hier  ge- 
schiente, wie  weit  hier  sage  gehe. 

Weder  der  schtiler  noch  der  lehrer  darf  sich  hier  zufrieden  geben 
mit  der  auskunft,  dasz  vielleicht  sieben  könige  gelebt  hätten,  dasz 
aber  ihre  Schicksale  mehr  oder  weniger  erdichtet  seien. 

Hier  ist  den  schülern  doch  wenigstens  so  viel  mitzuteilen,  dasz 
noch  um  200  vor  Ch.  sich  die  gelehrtesten  leute  in  Rom  hinsicht- 
lich der  gründungszeit  Roms  nicht  nur  um  jähre ,  sondern  um  jahr- 
hunderte  stritten.4  von  vieren  der  bekanntesten  schriftsteiler  jener 
zeit  ist  dies  überliefert.  Ennius  sang  um  180  vor  Ch. : 

Septingenti  sunt  paulo  plus  aut  minus  anni 
Augusto  augurio  postquam  incluta  condita  Roma  est, 

nahm  also  ca.  880  vor  Ch.  als  gründungsjahr  an.  von  seinen  Zeit- 
genossen setzte  Cincius  Roms  grtindung  729,  Fabius  Pictor  747, 
wieder  anders  Cato.  erstVarro  fixierte  753  vorCh. ;  noch  181  vor  Ch., 
als  die  särge  mit  Numas  Schriften,  rectius  mit  Pythagoräi scher  Weis- 
heit gefunden  wurden,  glaubte  man,  dasz  Numa  ein  schüler  des  erst 
529  vor  Ch.  nach  Italien  gekommenen  Pythagoras  gewesen  sei. 

Oewis  wäre  es  auch  erwünscht,  dasz  hier  schon  dem  schtiler 
klar  gemacht  würde,  wie  dabei  eine  rechnung  nach  geschlech- 
te rn  von  33  V3  jähren,  3  auf  ein  saeculum,  zu  gründe  liege. 

Auch  die  delphischen  priester  berechneten  ähnlich  die  regierungs- 
zeiten  mythischer  herscher  'nach  generationen ,  und  zwar  entweder 
30  oder  33V3  jähre  auf  jeden  regenten.  in  der  that  sind  die  auf  die 
sieben  könige  gerechneten  ca.  240  jähre  nur  wenig  mehr  als  233 '/«, 
jähre,  ja  die  bei  Cicero  de  republica  (nach  Polybius)  gebotenen 
zahlen  geben 

für  Numa  39  jähre, 

-  Ancus  23  - 

-  Tarquinius  38  - 

  100  jähre, 

4  Soltau  röm.  Chronologie,  abechn.  XI  8.  271  f. 


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128  Eine  stunde  Chronologie  im  gymnasium. 


für  Tullus  Hostilius        32  jähre, 

-  Servius  Tullius  44 

-  Tarquinius  Superbus  25 

1Ö1  jähre, 

setzen  also  den  beginn  der  republik  in  das  201e  jähr  nach  Romulus 
(Soltau  röm.  chron.  abschn.  XXI). 

Gehen  wir  über  zu  Livius  dritter  dekade,  etwa  zum 
21n  buch,  welches  das  erste  jähr  des  Hannibalischen  krieges  be- 
schreibt, hier  finden  sich  neben  den  selteneren  römischen  daten 
mehrfach  natürliche  Zeitangaben,  so  wird,  wie  bemerkt,  erzählt, 
dasz  Hannibal  auf  dem  gipfel  der  Alpen  angekommen  sei,  als  schon 
die  Plejaden  dem  Untergang  nahe  gewesen  seien. 

Weshalb  diese  sonderbare  datierung?  weshalb  nicht  römische 
monate? 

Es  ist  hier,  wenigstens  kurz,  die  frage  zu  erörtern,  in  wie  weit 
die  römischen  daten  den  natürlichen  Zeitangaben  entsprachen;  woher 
es  kam,  dasz,  wenn  auch  wohl  noch  nicht  zu  anfang  des  zweiten 
punischen  krieges,  so  doch  sicher  von  200  bis  160  vor  Ch.  eine  sehr 
bedeutende  differenz  zwischen  den  römischen  und  unseren  monaten 
stattgefunden  hat5,  so  grosz ,  dasz  z.  b.  die  Sonnenfinsternis  vom 
14  märz  190  vor  Ch.  von  den  Römern  nicht  im  Martius,  sondern  in 
dem  vier  monate  weiteren  Quinctilis  angesetzt  wurde. 

Ähnliche  erörterungen  sind  übrigens  selbst  in  tertia  bei  der 
Caes  a r interpretation  nicht  zu  umgehen,  die  Helvetier  brachen 
a.  d.  V  kalendas  Apriles  auf.  es  ist  zu  zeigen ,  dasz  dieser  termin 
höchstens  drei  bis  vier  monate  vor  der  ernte  in  Südfrankreich,  d.h. 
also  um  die  frühlingsgleiche  falle,  und  wie  es  anderseits  möglich 
war,  dasz  die  später  erwähnten  daten  aus  Caesars  leben  eine  von  der 
alten  röchnung  abweichende  Umrechnung  erfahren  müssen,  die 
schlacht  bei  Pharsalus,  deren  jahrestag  später  am  9  Sextiiis  oder 
August  gefeiert  wurde,  ist  in  Wirklichkeit  anfang  juni  geschlagen, 
noch  vor  der  reife  des  getreides  in  Thessalien.  Caes.  de  bell,  civili 
3,  81,  3  sagt  wenigstens  von  sich  idoneum  locum  in  agris  nactus 
plenis  frumentorum,  quae  prope  iam  matura  erant,  ibi  adventum 
exspectare  Pompei  .  .  constituit. 

Kurz,  es  sind  schon  die  schüler  der  III  und  II  zu  belehren  hin- 
sichtlich der  hauptfragen  des  römischen  kalenders  und  der  merk- 
würdigen Verschiebungen  desselben ,  welche  dann  Julius  Caesar  zur 
einmaligen  einfügung  eines  jahres  von  445  tagen ,  dann  zur  einfuh- 
rung seines  festen  sonnenjahres  gebracht  haben. 

Nur  bei  einer  derartigen  künde  finden  auch  die  verschiedensten 
stellen,  welche  bei  der  interpretation  von  Ciceronischen  reden, 
z.  b.  bei  den  Catilinarien,  besprochen  werden  müssen,  richtige  er- 
klarung. 


5  Soltau  röm.  Chronologie,  abschn.  VII. 


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Eine  stunde  Chronologie  im  gymnasium. 


129 


Die  erste  Catilinarische  rede  ist  bekanntlich  im  jähre  63  vorCh. 
am  8  november  römischer  datierung  gehalten  worden,  ist  dieser 
Zeitpunkt  etwa,  wie  das  fälschlich  in  den  sonst  sorgfältigen  römischen 
gescbichtstabellen  von  Fischer  angegeben  ist,  am  12  januar  unserer 
Zählung  gehalten  worden,  oder,  wie  von  anderer  seit«  vermutet 
wurde,  im  September?  mit  beiden  Vermutungen  streitet  schon  der 
wortlaut  der  tags  darauf  gehaltenen  zweiten  Catil inarischen  rede  : 
num  suas  secum  mulierculas  sunt  in  castra  ducturi?  quemadmodum 
autem  illis  carere  poterunt  bis  iam  noctibus?  quo  autem  pacto 
Uli  Apenninum  atque  illas  prninas  ac  nives  perferent?  bis  iam  noc- 
tibus ist  nur  für  Wintersanfang  passend  im  jul.  november! 

Geben  wir  von  einer  Cicerostunde  zu  einer  Vergil  stunde  über. 

Hier,  so  wird  man  denken,  könnte  man  wohl  die  lästige  zahlen 
Weisheit  der  Chronologie  entbehren,   und  in  der  that  kommen  bei 
Vergil  weder  die  regierungsjahre  mythischer  fürsten  noch  kalenda- 
rische fragen  in  betracht. 

Nichtsdestoweniger  ist  auch  hier  die  Chronologie  eine  wichtige 
hiifs  Wissenschaft. 

Die  Aeneis  ist  gedichtet  worden  vorzugsweise,  um  die  ahnherrn 
des  Julischen  geschlechts  und  damit  dieses  selbst,  die  providentielle 
mission  des  Aeneas  und  der  Juiier  zu  verherlichen. 

Ist  es  da  nicht  von  der  grösten  Wichtigkeit,  auch  schon  den 
schülern  vor  die  äugen  zu  führen,  wie  dieses  bestreben  des  Augustus, 
vergöttert  zu  werden  und  sich  vergöttern  zu  lassen,  nur  ein  glied  in 
einer  langen  kette  von  regierungsmaszregeln  gewesen  ist? 

Augustus  hat  noch  einmal  wieder  den  festen  julianischen  kalender 
in  Unordnung  gebracht,  er  hat  36  jähre  lang  schon  nach  je  3  jähren 
schalten  lassen,  um  hernach  eine  handhabe  zu  haben,  Caesars  kalen- 
derreform  wenigstens  zeitweise  umzustoszen  und  zu  modificieren.  er 
hat  im  jähre  8  vor  Cb.  dem  Sextiiis  seinen  namen  Augustus  gegeben 
und  20  gedenk-  und  ehrentage  des  Julischen  hauses  als  allgemeine 
kirchliche  reichsfesttage  einführen  und  im  kalender  verzeichnen 
lassen.  * 

Ja,  viele  stellen  der  dichter,  des  Vergil  wie  Horaz,  finden  nament- 
lich auch  in  diesem  streben  des  Augustus,  seine  höhere  herkunft  zu 
verherlichen,  ihre  erklärung. 

Zwar  auch  ohne  Chronologie  zu  treiben  versteht  jeder  in  Vergils 
'tuus  iam  regnat  Apollo'  den  binweis  auf  den  Apoll,  dessen  söhn 
zu  sein  Augustus  vorgab :  habitu  ac  statu  Apollinis  hatte  sich  Augustus 
ein  Standbild  in  der  palatinischen  bibliothek  aufstellen  lassen. 

Aber  nur,  wenn  man  weisz,  wann,  unter  welcher  consteilation 
Augustus  und  Horaz  geboren,  nur  wenn  man  weisz,  welche  Verbrei- 
tung die  astrologischen  berechnungen  zu  Augustus  zeit  hatten,  kann 
man  verstehen,  wie  Vergil  in  seiner  anrede  an  Augustus  zu  anfang 
seiner  Georgica  (1,  32)  sagt:  'willst  du  nicht  dich  unter  die  steine, 


6  Soltau  röm.  Chronologie,  abschn.VI  s  177. 
N. jthrb.  f.  phil.  u.  päd.  Ii.  abt.  1891  hfl.  S.  9 


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130 


Eine  stunde  Chronologie  im  gymnasium 


welche  die  monate  regieren ,  versetzen  lassen,  zwischen  Jungfrau 
und  Scorpion',  d.  h.  in  die  Wage.7  das  versteht  nur,  wer  weisz, 
dasz  Augubtus  überall  das  thema  variieren  liesz :  felix  aequato  genitus 
sub  pondere  librae  (Manilius). 

Und  schon  etwas  weiter  musz  jemand  in  die  mystik  der  astro- 
logie  eingedrungen  sein,  wenn  er  das  Horazische  (ode  2,  17)  ver- 
stehen will: 

seu  Libra  seu  mo  Bcorpius  adspieit 
formidoloaus,  pars  violentior 
natalis  horae,  seu  tyrannus 
Hesperiae  Capricormus  undae. 

man  musz  dazu  nicht  nur  die  theorie  kennen  über  das  gegenseitige 
erblicken  und  vernehmen  der  gestirne  (wie  sie  Manilius  und  Cen- 
sorin  entwickeln),  sondern  auch  wissen,  weshalb  hier  das  zeichen 
des  Steinbocks  zum  tyrannus  Hesperiae,  zum  herscher  Italiens,  ge- 
macht wird.  Augustus,  unter  dem  zeichen  der  Wage  geboren,  unter 
dem  zeichen  des  Steinbocks  concipiert,  liesz  später  münzen  mit  dem 
zeichen  des  Steinbocks  schlagen  und  legte  das  gröste  gewicht  auf 
diese  seine  beziehung  zu  den  gestirnen  (vgl.  Philologus  45,  439). 

Es  wäre  mir  hier  leicht,  von  einer  Horazstunde  einen  Über- 
gang zu  einer  deutschen  stunde,  in  der  Wallenstein  interpretiert 
wird,  zu  machen,  es  wird  jedem  bekannt  sein,  dasz  ohne  eine  ge- 
nauere erörterung  über  astrologie  zahlreiche  beziebungen  im  Wallen- 
stein nicht  verstanden  werden  können,  auch  allgemein  historisch 
betrachtet  ist  es  interessant,  zu  beachten,  wie  einige  der  bedeutend- 
sten männer  der  Weltgeschichte  von  Augustus  und  Tiberius  ab  bis 
auf  Wallen  stein  und  Kepler  in  dieser  himmlischen  schwarzkunst  ihre 
befriedigung  gefunden  haben.8 

Wir  betreten  jetzt  eine  geschichtstunde  in  secunda. 

Dasz  hier  seitens  des  lehrers  keine  hinreichende  grundlage  ge- 
legt werden  könne  ohne  die  leuchte  der  geschiente,  ohne  eine  künde 
der  Chronologie,  ist  klar,  anderseits  aber  ist  nicht  minder  klar,  dasz 
dem  schüler  hier  mehr  das  gegebene ,  das  feststehende  geboten  wer- 
den musz,  controverse  einzelheiten,  namentlich  auch  chronologischer 
art,  übergangen  werden  müssen. 

Danach  lnüste  also  ein  guter  lehrer  selbst  eine  gründliche  chro- 
nologische Vorarbeit  durchgemacht  haben ,  ohne  aber  im  einzelnen 
viel  davon  merken  zu  lassen.  —  In  praxi  stellt  sich  die  sache  jedoch 
etwas  anders. 

Es  gibt  auch  hier  des  wissenswerten  genug,  welches  schon  dem 
schüler  nicht  vorenthalten  werden  darf,  ja  dessen  künde  direct  ihm 
das  lernen  erleichtert  und  das  zu  erlernende  wirklich  verstehen  lehrt, 
von  den  wichtigsten  griechischen  nationalspielen  wurden  bekannt- 

7  anne  novum  tardis  sidus  te  mensibus  addas 

qua  locus  Erigonen  inter  Chelasque  sequentes  panditur. 

8  Häbler,  programm,  Zwickau  1879. 


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Eine  stände  Chronologie  im  gymnasium. 


131 


lieh  die  pythischen  alle  acht  jähre  gefeiert,  und  nach  Censorin.  18,  6 
wurden  noch  viele  andere  culte  in  fristen  von  acht  jähren  wieder- 
holt, andere  spiele  wurden  alle  zwei  jähre,  die  olympischen  alle  vier 
jähre  gefeiert,  woher  gerade  diese  fristen  ? 

Alle  diese  festspiele  suchten  die  in  jedem  Staat  verschiedenen 
kalender  von  mondjahren  in  Übereinstimmung  zu  bringen,  der  am 
frühesten  bekannte  und  einfachste  ausweg,  das  griechische  reine 
mondjahr  von  zwölf  mondumläufen  und  ein  sonnenjahr  auszuglei- 
chen, war  die  oktaeteris,  d.  h.  die  gleichung  von  acht  sonnenjahren 
mit  99  mondmonaten.  diese  drei  mondmonate,  welche  auf  8x12 
mondmonate  eingeschaltet  werden  musten,  sollten  natürlich  mög- 
lichst gleichmäszig  eingelegt  werden,  die  fixierung  der  einzelnen 
nationalspiele  alle  zwei,  vier  oder  acht  jähre  in  einem  der  speciellen 
kalender  muste  damit  auch  die  stelle  bestimmen,  wo  geschaltet  wer- 
den muste.  die  olympischen  spiele  wurden  z.  b.  bald  nach  49,  bald 
nach  50  mondumläufen  gefeiert,  damit  war  also  gegeben ,  dasz  in 
den  ersten  vier  jähren  nur  ein  schaltmonat  eingelegt  wurde,  in  den 
folgenden  stets  zwei. 

Weiterhin  ist  es  auch  für  die  leetüre  der  alten  historiker  wie 
für  die  geschieh tsdarstellung  unumgänglich,  dasz  der  schüler 
Über  die  im  altertum  herschenden  verschiedenen  jahresanfänge 
eine  gewisse  Übersicht  gewinnt. 

Dasz  das  attische  strategenjahr  gleich  nach  der  Sonnenwende, 
die  olympiadenjahre  mit  dem  zweiten  Vollmonde  danach  beginnen, 
ist  wichtig,  schon  für  die  kenntnis  der  zeit  der  hauptschlachten 
(Aigospotamoi  um  die  wende  des  strategenjahres ,  Salamis  um  die 
zeit  der  damals  um  einen  monat  verspäteten  olympischen  spiele). 

Es  ist  auch  für  die  römische  geschichte  von  wert,  wenn  der 
schüler  weisz,  dasz  erst  seit  153  vor  Ch.  die  consuln  kalendis  Janua- 
riis antraten,  vorher  längere  zeit  an  den  Iden  des  märz,  und  dasz 
noch  früher  ein  häufig  wechselnder  antrittstermin  für  die  consuln 
bestanden  habe. 

Diese  erörtern ngen  führen  weiter  zu  instruetiven  belehrungen 
über  das  Verhältnis  von  consulats-  und  kalenderjabren ,  welche  nur 
gedankenlosigkeit  gleichstellen  oder  vertauschen  kann.9 

Es  musz  auch  schon  dem  schüler  der  höheren  classen  klar  ge- 
macht werden,  dasz  die  consulatsjahre  nicht  selten  durch  vorzeitigen 
rücktritt  der  consuln  Verkürzungen  erlitten  haben ,  so  dasz  die  zahl 
der  consulatsjahre  eine  etwas  gröszere  als  die  der  inzwischen  ver- 
strichenen kalenderjahre  gewesen  ist. 

Es  musz  wenigstens  bei  einer  der  hauptepochen  dieses  Verhält- 
nis zur  spräche  gebracht  und  hervorgehoben  werden,  dasz  z.  b.  die 
3908ten  consuln  vor  Christi  geburt,  d.  h.  die  Zerstörung  Roms  durch 
die  Gallier,  gleichzeitig  waren  mit  dem  frieden  des  Antalkidas  387 
vor  Ch.  und  mit  der  einnähme  Rhegions  durch  Dionys  den  älteren. 


vgl.  Soltau  römische  atntsjahre,  s.  62. 

9» 


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132  Eine  stunde  Chronologie  im  gymnasium. 

Es  möge  dahin  gestellt  bleiben,  ob  der  lehrer  weiter  die  wich- 
tigen folgerungen,  die  hieraus  gezogen  werden  müssen,  hinsichtlich 
der  correctur ,0,  der  die  consulatsliste  zu  unterziehen  gewesen  war, 
ehe  sie  zur  jabreszählung  brauchbar  wurde,  mit  dem  schüler  aus- 
führlicher besprechen  wird,  jedenfalls  sind  sie  nicht  zu  umgehen, 
wenn  bücher  aus  Livius'  erster  dekade  gelesen  werden,  kurz  musz 
doch  wenigstens  angedeutet  werden,  dasz  hierdurch  die  differenz 
klar  wird  zwischen  Livius,  der  nur  506  republikanische  jähre  zählt, 
und  derVarronischen  datäerung,  welche  509  als  anfang  der  republik 
ansetzt. 

Es  wurde  gezeigt,  dasz  es  kaum  einen  Unterrichtsgegenstand  in 
den  höheren  classen  des  gymnasiums  gebe,  der  nicht  durch  eine  gute 
kenntnis  der  Chronologie  inhaltreicher  und  anschaulicher  werden  und 
an  gründlichkeit  gewinnen  könnte. 

Gewis  wäre  es  mir  lieb,  wenn  in  einigen  der  leser  ein  etwas 
regeres  streben,  in  die  probleme  der  Chronologie  einzudringen,  wach- 
gerufen würde,  aber  einen  solchen  zweck  suchten  diese  erörterungen 
doch  nur  beiläufig  zu  erreichen. 

Denn  es  ist  nur  natürlich,  dasz  die  mehrzahl  andere  special- 
interessen  hat  und  schwerlich  lieb  gewordene  Studien  aufgeben  wird, 
nachdem  sie  einiges  zum  lobe  der  chronologischen  Studien  vernom- 
men haben,  mein  zweck  war  ein  allgemeinerer. 

Nicht  jeder  kann  sich  mit  chronologischen  einzelheiten  abgeben; 
der  eine  wird  mehr  interesse  an  den  staatlichen  oder  sacralen  ein- 
richtungen  des  altertums  haben ,  der  andere  mehr  sinn  für  archäo- 
logie,  ein  dritter  für  antike  poesie,  philosophie  oder  culturgescbichte. 

Aber,  was  hier  von  einer  scheinbar  etwas  entlegeneren  disciplin 
gezeigt  ward,  das  gilt  auch  für  die  übrigen  disciplinen  alle,  die 
specialstudien  in  denselben,  weit  entfernt  der  schule  feindlich  zu 
sein,  sind  insgesamt  im  stände  den  Unterricht  jedes  lehrers  zu  be- 
fruchten und  zu  vertiefen. 

Dabei  bin  ich  weit  entfernt  davon ,  zu  behaupten ,  dasz  dieses 
notwendigerweise  oder  gar  immer  geschehe,  gewis  wird  ein 
jeder  schon  die  enttäuschung  erlebt  haben,  dasz  er  in  absieht  dieses 
oder  jenes  ihn  besonders  interessierende  aus  seinen  special  Studien 
vorzubringen,  weniger  glück  damit  hatte,  sei  es  weil  seine  schüler 
gerade  weniger  aufgelegt  waren,  tiefer  einzudringen,  sei  es  dasz  er 
es  nicht  recht  verstanden  hat,  ihnen  den  stoff  mundgerecht  zu  machen. 

Es  werden  eben  an  den ,  welcher  in  die  tiefen  der  Wissenschaft 
herabsteigt,  auch  gröszere  anforderungen  gestellt,  als  an  denjenigen, 
welcher  nur  den  schon  in  lehrbüchern  präparierten  stoff  vorträgt, 
abusus  non  tollit  usum  und  wem  viel  gegeben  ist ,  von  dem  wird 
auch  viel  gefordert  werden. 

Von  manchen  Seiten  wird,  wie  das  vor  ein  paar  jähren  in  einem 
aufsatz  der  Zeitschrift  für  das  höhere  Schulwesen  geschehen  ist,  bei 


durch  die  sogenannten  dictatorenjahre. 


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Antwort  auf  'einige  iragen  zur  reform  des  gymnaeialunterrichts*.  133 


dem  gymnasiallehrer  das  specialstudium  und  das  weiterstudieren  als 
Überflüssiger  luxus  angesehen,  dem  gegenüber  musz  es  zunächst 
das  bestreben  des  höheren  lehrstandes  sein ,  dahin  zu  wirken ,  jenen 
angriffen  keinen  anhält  zu  geben  durch  tüchtige  pädagogische  Durch- 
arbeitung des  erarbeiteten  lehrstoffes.  dann  darf  aber  auch  um  so 
mehr  fest  daran  gehalten  werden,  dasz  das  tiefere  eindringen  in  ein 
specialstudium,  richtig  betrieben,  nicht  von  dem  hauptberuf  hin  weg- 
fuhrt, sondern  ihm  immer  wieder  neue  lebenselemente  zuführt,  hier 
sind  die  starken  wurzeln  unserer  kraft,  welche  den  lehrer 
jung  erhalten  und  vor  pedanterie  und  verknöcherung  bewahren 
können  und  bewahren  werden. 

Zabern  im  Elsas/.  W.  Soltaü. 


12. 

EINE  ANTWORT  AUF  'EINIGE  FRAGEN  ZUR  REFORM 
DES  GYMNASIALUNTERRICHTS  \ 


Herr  Oberlehrer  Paul  Dörwald  in  Ohlau  stellt  in  dem  laufen- 
den jahrgange  dieser  Zeitschrift  s.  8  ff.  nicht  nur  einige  fragen  zur 
reform  des  gymnasial  Unterrichts ,  sondern  spricht  auch  einige  all- 
gemeine urteile  aus,  zu  deren  beweis  er  eine  reihe  von  beispielen 
anführt. 

S.  15  heiszt  es:  'eine  nach  irgend  welchen  bedeutsamen  didak- 
tischen gesichtspunkten  angelegte  auswahl  der  lectüre  vermögen  wir 
wenigstens  aus  den  schulprogrammen  nicht  zu  erkennen,  wir  wollen 
beispielsweise  auf  einen  jahrgang  programme  der  monarchie  für  ein 
fach  einen  blick  werfen  und  wählen  dazu  den  griechischen  Unter- 
richt in  secunda  für  das  jähr  1885/86,  d.  h.  einen  jahrgang,  in 
welchem  die  lehrpläne  von  1882  schon  vier  jähre  lang  in  kraft 
waren,  es  mögen  des  allgemeinen  interesses  halber,  welches  die 
sache  finden  dürfte,  nähere  angaben  hergesetzt  werden  .  .  .  bei  com- 
binierter  secunda  musz  die  lectüre  von  Memor.  I.  II  (Rogasen), 
welche  sieb  das  ganze  jähr  hindurchzieht,  auffallen.'  ^es  folgen  an- 
dere beispiele  von  Hadersleben,  Meldorf,  Moers,  Meppen,  Sagan.) 

S.  16  sagt  herr  Oberlehrer  Dörwald  im  anschlusz  an  die  Be- 
sprechung der  v.  Oppenschen  schrift  über  die  wähl  der  lectüre:  'viel 
höher  als  diese  gewis  beachtenswerten  formellen  gesichtspunkte 
stehen  doch  erwägungen  über  den  didaktischen  wert  der  einzelnen 
Schriftwerke,  dasz  dieselben  vielfach  gänzlich  auszer  acht  gelassen 
werden,  weisen  unsere  programme  nach,  sollte  wirklich,  um  noch 
einige  beispiele  anzuführen,  die  durch  ein  ganzes  schuljahr  für  den 
Unterricht  in  obersecunda  zu  gründe  gelegte  behandlung  des  vierten 
buches  der  Memorabilien  (Gütersloh)  oder  Herodot  I  (Minden)  oder 
Cyropaedie  I.  II  (Warburg)  oder  Memor.  I.  II  (Rogasen)  .  .  .  dem 


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134    Antwort  auf  'einige  fragen  zur  reform  des  gymnaaialunterrichts'. 

schüler  tiefere  einblicke  in  die  griechische  litteratur  ermöglichen? 
.  .  .  man  liest  eben,  wohl  unter  dem  motto  «beati  possidentes»,  nach 
willkür  und  belieben  die  alten.' 

Es  bietet  wohl  wenig  oder  gar  kein  allgemeines  interesse ,  ob 
einmal  in  der  combinierten  secunda  bzw.  obersecunda  irgend  einer 
kleinen  anstalt  die  Memorabilien  oder  eine  andere  schrift  gelesen 
wurden,  ob  man  daran  ein  oder  zwei  semester  gewendet  habe,  wenn 
aber  diese  wähl  und  diese  ausdehnung  der  lectüre  ein  misgriff  sein, 
wenn  dieser  misgriff  nicht  nur  einmal,  sondern  wohl  gar  öfters  oder 
immer  vorkommen  und  nicht  an  einer,  sondern  an  vielen  anstalten 
sich  wiederholen,  kurz  wenn  man  'die  alten  nach  willkür  und  be- 
lieben lesen'  sollte,  dann  mögen  'des  allgemeinen  interesses  halber 
nähere  angaben'  gemacht  werden,  derartige  angaben  müssen  jedoch 
auf  der  gründlichsten  beobachtung  und  prüfung  der  thatsachen  be- 
ruhen ,  damit  dieselben  nicht  zu  falschen  schluszfolgerungen  führen 
und  nicht  zugleich  durch  nennung  von  namen  der  ruf  mancher  an- 
stalten unverdientermaszen  geschädigt  werde,  zuerst  musz  das  ver- 
fahren der  einzelnen  anstalten  nicht  nach  einem,  sondern  nach  einer 
reihe  von  Jahrgängen  geprüft  werden  und  danach  erst  wird  es  sich 
ergeben ,  ob  man  allgemeine  sätze ,  die  so  schwerwiegende  anklagen 
enthalten,  aussprechen  bzw.  zu  den  vermeintlich  schon  erwiesenen 
Sätzen  diese  oder  jene  anstalt  als  erläuterndes  beispiel  namentlich 
anführen  darf.  —  Ich  wünsche  nur  zu  erweisen,  dasz  die  beiden  von 
Rogasen  angeführten  beispiele  nicht  dazu  geeignet  sind,  zur  begrün- 
dung  der  allgemeinen  anklagen  des  herrn  Oberlehrers  Dörwald  irgend 
etwas  beizutragen. 

Sind  denn  diese  beispiele  überhaupt  so  glücklich  oder  geschickt 
gewählt,  dasz  man  daraus  auch  nur  annähernd  schlieszen  könnte,  in 
welcher  weise  man  die  griechischen  Schriften  in  der  combinierten 
secunda  bzw.  der  obersecunda  zu  Rogasen  auszuwählen  oder  zu  lesen 
pflege?  zuerst  sei  bemerkt,  dasz  die  angaben  des  herrn  Oberlehrers 
Dörwald  s.  15,  die  Memor.  I.  II  seien  1885/86  das  ganze  jähr  hin- 
durch in  der  combinierten  secunda,  und  s.  16,  die  Memor.  I.  II  seien 
durch  ein  ganzes  Schuljahr  in  obersecunda  gelesen  worden ,  zu  dem 
irrtum  verführen  könnten,  als  liegen  zwei  fälle  vor.  thatsächlich 
sind  die  Memor.  I.  II  seit  erhebung  der  Rogasen  er  anstalt  zu  einem 
gymnasium  michaelis  1873  nur  einmal  (85/86)  durch  ein  ganzes 
jähr  gelesen  worden,  und  zwar  in  der  combinierten  secunda. 

Wer  sich  die  mühe  gibt,  die  programme  des  Bogasener  Gymna- 
siums seit  michaelis  1873  einer  durchsieht  zu  unterziehen,  wird  ein 
ganz  anderes  bild  von  der  in  II  bzw.  in  ober-  und  untersecunda 
betriebenen  lectüre  gewinnen,  nemlich  folgendes: 

1.  Seit  michaelis  1873  ist  in  der  combinierten  secunda  und  seit 
der  ostern  1878  erfolgten  teilung  der  classe  in  der  obersecunda  bis 
zu  der  abermaligen  zusammenziehung  der  classen  ostern  1885,  also 
während  lV/2  Schuljahren  jedesmal  im  Sommerhalbjahr  Herodot 
(VI  bzw.  ff.)  gelesen  worden. 


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Antwort  auf  'einige  fragen  zur  reform  des  gymnasialunterrichts'.  135 

2.  Seit  der  trenn img  der  secunda  ostern  1878  hat  die  lectüre 
der  untersecunda  und  seit  der  zusammenziehung  der  classen  ostern 
1885  bis  zur  gegen  wart  in  der  combinierten  secunda,  also  wäh- 
rend der  letzten  13  Schuljahre  mit  ausnähme  des  ersten  jahres  der 
combination  (1885/86)  jedes  Sommerhalbjahr  sich  auf  die  Anabasis 
erstreckt. 

3.  Seit  michaelis  1873  bis  zur  gegenwart,  also  während  1772 
Schuljahren  sind  in  der  combinierten  secunda  (michaelis  1873  bis 
ostern  1878)  bzw.  obersecunda  (ostern  1878  bis  ostern  1885)  bzw. 
combinierten  secunda  (ostern  1885  bis  1891)  jedes  jähr  mit  aus- 
nähme des  jahres  1885/86  zwei  prosaische  Schriften  bzw.  Schrift- 
steller gelesen  worden. 

Wollte  man  aus  den  zuletzt  angeführten  thatsachen  eine  allge- 
meine regel  abstrahieren,  so  würde  dieselbe  lauten:  rin  der  com- 
binierten secunda  und  in  obersecunda  des  Rogasener  gymnasiums 
werden  seit  seinem  bestehen  jedes  jähr  zwei  griechische  prosaische 
Schriften  bzw.  Schriftsteller  gelesen.'  die  ausnähme  aber  würde 
lauten:  'nur  in  einem  jahrgange  (1885/86)  begnügte  sich  der 
lehrer  des  griechischen  in  der  combinierten  secunda  aus  besonderen 
gründen  mit  einem  prosaiker.' 

Herr  Oberlehrer  Dörwald  hat  sich  zur  hilfe  für  seine  beweis- 
führung  nicht  der  regel,  sondern  der  ausnähme  bedient. 

Ebenso  ist  es  eine  ausnähme,  wenn  im  Sommerhalbjahr  1885/86 
gerade  die  Memorabilien  gelesen  wurden,  während  sonst  23  mal  die 
lectüre  der  secunda  bzw.  ober-  und  untersecunda  mit  Herodot  oder 
der  Anabasis  und  niemals  während  der  ganzen  jähre  mit  einer  an- 
dern schrift  begann,  aber  auch  für  diesen  einen  ausnahmefall  kann 
es  nicht  zugegeben  werden ,  dasz  die  erwägungen  über  den  didakti- 
schen wert  der  gelesenen  schrift  auszer  acht  gelassen  seien,  dasz 
man  unter  dem  motto  'beati  possidentes'  die  alten  nach  will  kür  und 
belieben  gelesen  habe,  denn  von  einem  behagen  in  ungestörtem 
besitze  kann  keine  rede  sein,  wenn  der  lehrer  nach  dem  beginn  der 
Herodotlectüre  in  obersecunda  während  der  ersten  schulwoche  er- 
fährt, dasz  die  secunden  sofort  zu  combinieren  seien  und  er  aus  rück- 
sicht  auf  die  hinzutretenden  untersecun daner  den  Herodot  aufgeben 
müsse,  als  dieser  fall  ostern  1885  eintrat,  da  lag  es  ja  nahe,  in  der 
combinierten  classe  mit  der  lectüre  Herodots  zu  beginnen ,  welcher 
seit  ostern  1874  regelmäszig  elf  sommer  hinter  einander  in  der  com- 
binierten secunda  bzw.  in  obersecunda  gelesen  war,  oder  mit  der 
Anabasis,  welche  seit  1878  regelmäszig  in  untersecunda  behandelt 
wurde,  aber  wie  trotz  des  didaktischen  wertes  der  Herodotischen 
musen  von  ihrer  lectüre  aus  rücksicht  für  die  untersecundaner  ab- 
stand genommen  werden  muste,  so  konnte  aus  rücksicht  für  die 
obersecundaner  die  lectüre  der  Anabasis,  welche  sie  im  vorhergehen- 
den jähre  abgeschlossen  hatten,  nicht  nochmals  vorgenommen  wer- 
den, demnach  muste,  da  Plato,  Isokrates,  Lysias  erst  recht  nicht 
in  betracht  kommen  konnten,  die  wähl  auf  eine  andere  Xenophon- 


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136    Antwort  auf  'einige  fragen  zur  reform  des  gymnasialunterricht*'. 

tische  scbrift  fallen,  die  Hellenika  wurden  deswegen  ausgeschlossen, 
weil  die  obersecundaner  dieselben  bereits  im  vorhergehenden  jähre 
kennen  gelernt  hatten,  es  blieben  somit  nur  die  Memorabilien  und 
die  Cyropaedie  übrig,  dasz  der  lehrer  des  griechischen  bei  der  wähl 
zwischen  dem  griechischen  weisen  und  dem  alten  Perserkönige  sich 
für  den  ersteren  entschied ,  dürfte  doch  wohl  eher  ein  beweis  von 
sachlichen  erwägungen  im  interesse  der  schüler  als  von  willkür  und 
belieben  sein. 

Aber  auch  aus  der  thatsache,  dasz  der  lehrer  nach  ablauf  des 
sommersemesters  die  lectüre  derselben  schrift  fortsetzen  zu  lassen 
wünschte  und  dieser  wünsch  genehmigung  fand,  ist  demselben  kein 
Vorwurf  zu  machen,  salus  iuventutis  summa  lex.  der  lehrer  hatte 
die  seit  sieben  jähren  getrennten  classen  zum  ersten  male  wieder 
zusammen  zu  unterrichten  ;  da  galt  es ,  dasz  lehrer  und  schüler  sich 
in  die  neuen  Verhältnisse  bineingewöhnten,  dasz  die  schüler  vor- 
sichtig, aber  entschieden  zu  gleichmäszigem  arbeiten  herangebildet 
wurden  und  ihr  interesse  zunächst  auf  eine  geringere  zahl  von  gegen- 
ständen concentrierten.  wenn  man  ferner  die  bedeutenden  hemmun- 
gen  erwägt,  welche  der  Unterricht  der  anstalt  in  dem  betreffenden 
sommer  nach  ausweis  der  chronik  im  programm  von  1885/86  erlitt, 
dann  wird  jeder  besonnene  beurteiler  die  mäszigung  des  lehrers  hin- 
sichtlich des  umfangs  der  betriebenen  lectüre  nur  billigen,  übrigens 
musz  es  unter  den  angegebenen  auszergewöhnlichen  umständen  als 
ein  genügend  reicher  gewinn  des  griechischen  unterrichte  der  secunda 
bezeichnet  werden,  wenn  unter-  wie  obersecundaner  in  die  weit  der 
Odyssee  und  in  die  gedankenweit  eines  Sokrates,  wie  Xenophon  sie 
auffaszte,  mit  gründlichkeit  eindringen. 

Herr  Oberlehrer  Dörwald  sagt,  er  wähle  für  seine  beispiele 
einen  jahrgang,  in  welchem  die  lebrpläne  von  1882  schon  vier  jähre 
in  kraft  waren,  dieser  umstand  soll  offenbar  erschwerend  gegen  die 
namentlich  aufgeführten  gymnasien  in  das  gewicht  fallen,  indessen 
wird  Rogasen  auch  von  diesem  argument  nicht  betroffen,  denn  nicht 
trotz,  sondern  gerade  infolge  der  lehrpläne  von  1882  muste 
es  ostern  1885  von  der  elf  jähre  geübten  sitte  abgehen,  die  lectüre 
in  der  combinierten  secunda  mit  Herodot  zu  beginnen ,  und  muste 
nach  einem  notwendigen  Übergangsstadium  von  einem  jähre 
(1885/86)  dazu  übergehen,  nunmehr  die  lectüre  der  in  der  Ober- 
tertia begonnenen  Anabasis  fortzusetzen. 

Wer  am  Organismus  unseres  gymnasiums  gewisse  wunde  stellen 
entdeckt  zu  haben  glaubt,  von  deren  heilung  das  leben  desselben 
abhängt,  der  musz  zuerst  eine  richtige  diagnose  stellen. 

RüGA8EN.  SlLVIUS  DOLEGA. 


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K.  Hartfelder:  Philipp  Melanchthon  als  praeceptor  Germaniae.  137 

18. 

Philipp  Melanchthon  als  praeceptor  germaniae.  von  dr.  Karl 
Hartfelder,  Professor  am  Gymnasium  in  Heidelberg.  Berlin, 
A.  Hofmann  &  comp.  1889.  XXVIII  u.  687  s.  8. 

Rüstig  schreitet  das  von  dr.  Karl  Kehrbach  begonnene  unter- 
nehmen einer  ausgäbe  der  monumenta  Germaniae  paedagogica  weiter; 
das  vorliegende  werk,  das  den  siebenten  band  jener  Sammlung  bildet, 
ist  ein  zeugnis  dafür,  dasz  dr.  Kehrbach  mit  seinem  unternehmen 
einen  glücklichen  wurf  getban ,  besonders  da  er  für  die  darstellung 
der  pädagogischen  Wirksamkeit  Melanchthons  einen  bewährten  for- 
scher gewonnen  hat,  der  wie  kein  anderer  für  diese  arbeit  geeignet 
erschien,  man  konnte  zwar  in  zweifei  sein,  ob  bei  der  reichen  litte- 
ratur,  die  über  Melanchthons  bedeutung  für  die  pädagogik  seit  einer 
reihe  von  jähren  sich  angesammelt  hat  und  namentlich  durch  die 
erinnerungsfeier  seines  todestages  im  jähre  1860  ansehnlich  vermehrt 
worden  ist,  eine  neue  darstellung  seines  pädagogischen  wirkens  als 
ein  unabweisbares  bedürfnis  sich  herausgestellt  habe ;  allein  dieses 
bedenken  wird  gehoben,  wenn  man  das  vorliegende  buch  mit  den 
arbeiten  von  Planck ,  Schlottmann  u.  a.  vergleicht,  denn  so  ver- 
dienstlich diese  auch  sind ,  so  leiden  sie  doch ,  wie  Hartfelder  selbst 
in  der  vorrede  s.  VIII  sagt,  fast  ausnahmlos  an  dem  fehler,  dasz  sie 
Melanchthon  zu  sehr  lostrennen  von  der  älteren  generation,  von  der 
er  gelernt  hat,  und  von  den  mitstrebenden  Zeitgenossen,  denen  er 
gegeben  und  von  denen  er  empfangen  bat,  mit  andern  worten,  dasz 
sie  das  wirken  Melanchthons  als  des  gepriesenen  lehrers  Deutsch- 
lands nicht  vom  Standpunkte  der  historischen  entwicklung  aus  be- 
trachtet haben,  gerade  darin  liegt  das  grosze  verdienst,  das  sich 
prof.  Hartfelder  erworben  hat,  dasz  er  Melanchthon  als  praeceptor 
Germaniae  historisch ,  d.  i.  im  zusammenhange  mit  seiner  zeit  ge- 
würdigt- hat.  dabei  kamen  ihm  seine  eignen  seit  jähren  mit  Vorliebe 
gepflegten  und  durch  vielfache  Veröffentlichungen  bewährten  Studien 
auf  dem  gebiete  des  humanismus  zu  statten,  auf  welchem  er  sich  zu 
einer  autorität  ersten  ranges  emporgearbeitet  hat.  daneben  geht  die 
förderung,  welche  die  culturgescbichte  des  15n  und  16njahrhunderts 
durch  die  in  den  letzten  jahrzehnten  hervorgetretenen  geschicht- 
lichen darstellungen  der  Universitäten  Heidelberg  und  Tübingen, 
welche  der  junge  Melanchthon  besucht  hat,  ehe  seine  Wittenberger 
Wirksamkeit  begann,  sowie  derjenigen  schulen,  die  von  Melanchthon 
selbst  eingerichtet  sind  oder  an  deren  einrichtung  er  einen  groszen 
anteil  gehabt  hat,  erfahren  hat.  aber  auch  für  Melanchthon  selbst 
hatte  hr.  H.  schon  seit  jähren  vorbereitende  Studien  gemacht:  er 
gab  einen  nachtrag  zum  corpus  reformatorum ,  behandelte  Melanch- 
thons spätere  beziehungen  zu  seiner  pfälzischen  heimat,  sowie  seine 
beruf ung  nach  Heidelberg  im  jähre  1546,  und  war  auch  durch  den 
mit  Horawitz  herausgegebenen  briefwechsel  des  Beatus  Rhenanus 
mehrfach  auf  Melanchthon  geführt  worden,  so  dürfen  wir  uns  denn 


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138    K.  Hartfelder :  Philipp  Melanchthon  als  praeceptor  Germaniae. 

eines  werkes  erfreuen,  das  deutschem  fleisze,  deutscher  gelehrsam  - 
keit  und  Wissenschaft  zu  hober  ehre  gereicht,  überall  erkennt  man 
den  sorgfaltigen  und  gewissenhaften  forscher,  der  die  entlegensten 
quellen  aufsucht  und  neues  bisher  unbekanntes  material  an  das  licht 
zieht  und  zu  benutzen  versteht,  ohne  zweifei  waren  die  hervorragen- 
den Verdienste,  die  sich  der  verf.  zuletzt  durch  das  vorliegende  werk 
um  die  geschiente  der  pädagogik  im  Zeitalter  der  reformation  er- 
worben hat,  der  anlasz  für  die  theologische  facultät  der  Universität 
Heidelberg,  ihn  zum  doctor  der  theologie  zu  ernennen. 

Um  die  hohe  bedeutung  des  Hartfeiderschen  werkes  zu  wür- 
digen, erscheint  es  zweckmäszig,  eine  kurze  Übersicht  über  den 
reichen  inhalt  zu  geben,  in  der  vorrede  führt  der  verf.  die  gründe 
auf,  die  ihn  veranlaszten  den  vielgebrauchten  titel  'praeceptor  Ger- 
maniae' beizubehalten,  wir  erfahren  dabei,  dasz  der  einflusz  Melanch- 
thons  sich  atch  auf  katholische  gebiete  Deutschlands  erstreckt  haben 
musz,  da  von  hrn.  H.  mehrfach  Schriften  Melanchthons  benutzt  sind, 
die,  wie  die  eintragungen  auf  den  titelblättern  und  einbanddecken 
beweisen,  im  besitze  süddeutscher  klöster  gewesen  sind  (s.  s.  258 
anm.  2,  272  anm.  3).  s.  XIII— XXVIII  enthält  das  Verzeichnis  der 
von  H.  benutzten  sebriften  und  aufsätze.  es  sind  hier  alle  für  die 
ge8cbichte  des  humanismus  und  die  reformation  wichtigen  Schriften 
auszer  den  Melanchthon  speciell  betreffenden,  in  einem  besonderen 
abschnitte  (XIII  c)  verzeichneten  aufgeführt,  das  Verzeichnis  ist  für 
solche,  die  ihre  studien  auf  die  genannten  Zeitabschnitte  richten  oder 
dieselben  auf  diesem  gebiete  vertiefen  wollen,  sehr  lehrreich,  und  es 
scheint  jetzt  gewohnheit  der  Schriftsteller  zu  werden ,  ihren  werken 
solche  Verzeichnisse  voranzustellen;  aber  dann  wird  man  damit  die 
absieht  verbinden  wollen,  die  anmerkungen  von  den  vollständigen 
büchercitaten  zu  entlasten,  indem  man  nur  den  namen  des  Verfassers 
nebst  den  anfangsworten  des  titels  und  der  Seitenzahl  des  betreffen- 
den werkes  angibt,  nicht  aber  noch  einmal  den  ort  und  das  jähr  des 
druckes  oder  wenn  es  die  abhandlung  einer  Zeitschrift  ist,  diese 
letztere  wieder  mit  vollständigem  titel  aufführt,  in  dieser  beziehung 
scheint  mir  hr.  H.  nicht  das  rechte  masz  eingebalten  zu  haben ;  man 
vergleiche  nur  beispielsweise  die  citate  der  vielen  arbeiten  des  früh 
verstorbenen  Horawitz  und  seiner  eignen  in  den  anmerkungen  z.  b. 
zu  s.  7.  120.  122.  123.  285  usw.  niemand  wird  es  ungern  sehen, 
dasz  hierin  eine  möglichst  grosze  Vollständigkeit  erzielt  worden  ist 
und  eine  wesentliche  erleichterung  des  Studiums  herbeigeführt  wird, 
aber  ich  glaube,  dasz  der  umfang  des  sonst  ausgezeichneten  werkes 
bei  knapperer  einrichtung  der  anmerkungen  nach  der  angeregten 
seite  hin  sich  um  ein  beträchtliches  vermindert  haben  würde. 

Das  werk  zerfällt  in  16  abschnitte;  davon  bilden  die  5  letzten 
gewissermaszen  einen  litterarischen  anhang;  die  übrigen  11  ver- 
teilen sich  so,  dasz  abschnitt  1 — 3  den  werdenden  akademiker,  4 — 6 
Melanchthon  als  gelehrten,  7 — 10  Melanchthon  als  pädagogen  cha- 
rakterisiert, worauf  in  abschnitt  11  eine  schluszbetrachtung  folgt. 


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K.  Hartfelder:  Philipp  Meianchthon  als  praeceptor  Germaniae.  139 

es  dürfen  also  abschnitt  1  —  6  als  die  Vorbereitung  auf  die  haupt- 
abschnitte  7 — 10  bezeichnet  werden. 

Von  hervorragender  bedeutung  ist  abschnitt  1,  der  Melanch- 
thons  bildungsgang  und  geistige  entwicklung  behandelt,  hier  zeigt 
sich  des  verf.s  meisterschaft  in  der  ausnutzung  des  tiberlieferten 
Stoffes,  seine  Vertrautheit  mit  den  litterarischen  und  gesellschaft- 
lichen zuständen  derjenigen  bildungsstätten,  die  der  junge  Meianch- 
thon aufsuchte,  was  in  andern  biographischen  darstellungen  in 
wenigen  zeilen  gegeben  ist,  wird  uns  hier  in  reicher  ausfahrung  ge- 
boten, man  vergleiche  die  einzelnen  capitel  des  ersten  abschnittes: 

1.  Bretten  (1497—1507)  und  Pforzheim  (1507  —  1509)  s.  1  — 11. 

2.  Heidelberg  (1509  — 1512),  a.  wissenschaftliches  leben  an  der 
hochschule,  erinnerungen  Melanchthons  daran,  seine  lehrer.  b.  seine 
freunde,  erwerbung  des  baccalaureats,  seine  sonstigen  Studien,  c.  seine 
ersten  litterarischen  arbeiten,  zusammenfassendes  ergebnis  seines 
bisherigen  bildungsganges  (s.  12 — 34).  wir  besitzen  von  hrn.  H.  in 
der  Zeitschrift  für  allgemeine  geschiente  1885  s.  177  — 195  eine 
populäre  Schilderung  des  Heidelberger  humanismus,  welche  ihm  für 
die  eben  genannten  abschnitte  seines  neuen  Werkes  unstreitig  von 
groszem  nutzen  gewesen  ist.  so  erfahren  wir  von  Peter  Luder, 
Matthias  von  Kemnat,  Jobann  von  Dalburg,  Rudolf  Agricola,  Conrad 
Celtis,  Pallas  Spangel  (die  über  ihn  gemachten  interessanten  angaben 
sind  ganz  neu),  Peter  Günther,  Johann  Sorbillo.  von  freunden  Me- 
lanchthons aus  der  Heidelberger  zeit  lernen  wir  Peter  Sturm ,  den 
bruder  des  berühmten  stettemeisters  von  Straszburg  Jacob  Sturm, 
Diebold  Gerlach  genannt  Billicamus  *  (sind  die  s.  25  und  28  genannten 
verschiedene  dieses  namens?  s.  auch  den  index  s.  654),  Johann 
Brenz,  Martin  Butzer,  während  uns  aus  der  Tübinger  zeit  als  lehrer 
Heinrich  Bebel,  Georg  Simler,  Johann  Hiltebrant,  Johannes  Stöffler, 
Franciscus  Stadianus,  als  schüler  Franciscus  Irenicus,  Caspar  Kurrer, 
Bernardus  Maurus  und  als  freunde  Paul  Geräander,  Ambrosius 
Blarer,  Johannes  Oekolampadius ,  Jobannes  Secerius  und  Johannes 
Knoder  entgegentreten,  in  Tübingen  legt  Meianchthon  die  wissen- 
schaftliche grundlage,  die  für  sein  ganzes  leben  bestimmend  werden 
sollte,  dasz  sich  um  die  griechische  professur  in  Wittenberg  Petrus 
Mosellanus  in  Leipzig  beworben  und  an  Luther  und  Spalatin  fttr- 
sprecher  gefunden  hat,  wird  aus  dem  im  Weimarer  archiv  befind- 
lichen berichte  Spalatins  an  den  kurfürsten  vom  mittwoch  nach 
S.  Bonifacii  1518  nachgewiesen,  aber  Keuch  lins  empfehlung  siegte 
und  bald  stellte  sich  neben  den  ersten  reformator  Luther  der  zweite, 
der  Humanist  Meianchthon,  der  schöpfer  des  evangelischen  mittel- 
schul wesens ,  der  die  aufgäbe  seines  lebens  in  die  Vereinigung  des 

•  Theobalde  Billicamns,  nicht  Billicantis,  wird  er  in  den  Heidel- 
berger Urkunden  genannt,  denn  er  stammte  aus  Billigheim,  am  15  sept 
1520  wurde  er  mit  Joh.  Brenz  und  drei  andere  theologen  mit  der  Her- 
stellung einer  neuen  Übersetzung  des  Aristoteles  beauftragt  (Winkel- 
mann, urknndenbuch  der  Universität  Heidelberg  I  213  nr.  160). 


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140    K.  Hartfelder:  Philipp  Melanchthon  als  praeceptor  Germaniae. 

classischen  humanismus  mit  der  durch  die  reformation  erneuerten 
kirche  gesetzt  hat  (s.  230). 

Der  zweite  abschnitt  (s.  77  — 102)  zeichnet  uns  Melanchthon 
als  akademischen  lehrer.  wir  werden  über  die  ankündigungs  weisen 
seiner  Vorlesungen,  seine  gehaltsverhältnisse ,  die  zahl  der  zuhörer 
unterrichtet  und  erfahren,  in  welchem  ansehen  er  bei  seinen  akade- 
mischen collegen  und  bei  seinen  schülern  stand. 

überaus  grosz  ist  der  humanistische  freundeskreis,  mit  welchem 
Melanchthon  in  Verbindung  stand,  wie  wir  aus  dem  dritten  abschnitt 
erfahren  (s.  103  — 152).  der  überaus  reiche  briefwechsel ,  den  Me- 
lanchthon mit  fast  allen  gelehrten  Zeitgenossen  Deutschlands  unter- 
hielt, brachte  ihn  in  die  innigsten  freundschaftsbeziebungen  zu  män- 
nern  wie  Reuchlin,  Erasmus,  Michael  Hummelberg,  Beatus  Bhenanus, 
Ulrich  Zasius,  Nicolaus  Gerbel,  Wilhelm  Nesen,  Wilibald  Pirck- 
heimer,  Christoph  Scheurl,  Johannes  Turmayer  (Aventinus),  Ulrich 
von  Hutten ,  Johannes  Sturm  u.  a.  der  verf.  hat  es  verstanden  uns 
unter  benutzung  jenes  briefwechsels  ein  ansprechendes  bild  von  dem 
freundschaftlichen  verkehr  Melanchthons  mit  den  bedeutendsten  Ver- 
tretern des  humanismus  zu  liefern,  nicht  minder  wertvoll  ist  der 
vierte  abschnitt,  in  welchem  Melanchthons  ansieht  von  dem  wesen 
der  einzelnen  Wissenschaften  auseinandergesetzt  wird  (s.  163 — 207). 
auch  hier  zeigt  sich  überall  das  sorgfältigste  Studium  der  zahlreichen 
Melanchthonschen  Schriften,  es  ergibt  sich,  dasz  Melanchthons  urteil 
über  die  bisherigen  wissenschaftlichen  zustände,  besonders  über  die 
Scholastik  ein  einseitiges  ist,  dasz  er  ferner  alle  Wissenschaften  da- 
nach abschätzt,  inwiefern  sie  der  tbeologie  der  neuen  kirche  dienen, 
dasz  er  der  griechischen  spräche  einen  hohen  wert  beilegt,  weil  sie 
die  spräche  des  neuen  testaments  ist,  dasz  ihm  die  Verzichtleistung 
auf  die  erlernung  der  lateinischen  spräche  gleichbedeutend  ist  mit 
einem  verzieht  auf  das  Universitätsstudium  usw.  im  fünften  ab- 
schnitt behandelt  Hartfelder  Melanchthons  leistungen  als  gelehrter 
(s.209 — 310).  auf  dem  gebiete  der  philosopbie  war  er  kein  schöpfe- 
rischer denker,  sondern  ein  gelehrter,  aber  auf  dem  der  philologie 
entwickelte  er  eine  umfassende  thätigkeit,  vor  allem  durch  die  heraus- 
gäbe einer  griechischen  grammatik,  die  besonders  wegen  ihrer  ge- 
schickten und  methodischen  form  zu  groszem  ansehen  gelangte  und 
für  lange  zeit  das  brauchbarste  Schulbuch  für  den  griechischen  ele- 
mentarunterricht  war.  zwar  beschränkt  sie  sich  auf  die  formenlehre, 
aber  Melanchthon  hat  auch  eine  syntax  unter  dem  titel  rrepi  '6AXT]- 
viküjv  ibiUJ)LidTUJV  verfaszt,  die  er  handschriftlich  an  den  grafen 
Hermann  von  Neuenaar  in  Köln  sandte,  die  aber  bis  jetzt  noch  nicht 
aufgefunden  worden  ist  auszerdem  verfaszte  er  eine  griechische 
Chrestomathie  (institutio  puerilis  litterarum  Graecarum),  die  1525 
mit  einer  hebräischen  grammatik  des  Matth.  Aurigallus  erschien  und 
wahrscheinlich  für  die  Zöglinge  der  schola  private  bestimmt  war, 
wie  dies  mit  der  unter  dem  titel  Enchiridion  elementorum  pueriliuw 
1524  erschienenen  lateinischen  Chrestomathie  der  fall  war.  dagegen 


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K.  Hartfelder :  Philipp  Melanchthon  als  praeceptor  Germaniae.  141 

umfaszte  die  Melanchthon  sehe  lateinische  grammatik  formenlebre 
and  syntax.  ihr  weist  Hartfelder  die  rechte  Stellung  an ,  wenn  er 
s.  271  sagt:  'sie  ist  keine  grosze  wissenschaftliche  leistung,  welche 
<Jie  streitigen  probleme  der  lateinischen  grammatik  gefördert  hat, 
sondern  sie  ist  ein  geschicktes  Schulbuch,  das  kürze  und  Verständ- 
lichkeit in  solch  harmonischer  Verbindung  vereinte,  dasz  bald  sein 
sieg  über  ähnliche  arbeiten  entschieden  war.'  bedeutungsvoll  war 
ferner  die  auf  die  herausgäbe  der  texte  classischer  Schriftsteller  ge- 
richtete thätigkeit  Melanchthons:  die  griechischen  texte  wurden  mit 
lateinischer  Übersetzung  versehen  und  in  dieser  beziehung  hat  Me- 
lanchthon noch  bis  in  das  18e  jahrhundert  gewirkt,  indem  die  grie- 
chischen classikerausgaben  mit  den  Übersetzungen  seiner  schüler 
Camerarius,  Micyllus  u.  a.  benutzt  wurden.  —  Von  den  Wissen- 
schaften zog  er  in  den  kreis  seiner  betrachtung  die  geschiente ,  die 
geographie  und  die  mathematik ,  aber  immer  nur  insoweit  das  clas- 
sische  altertum  ihre  kenntnis  vermittelte,  mit  ausnähme  der  ge- 
schieh te,  indem  er  auch  das  mittelalter  und  quellenschriftsteller  des 
mittelalters,  sowie  seine  eigne  zeit  zu  einem  gegenstände  sorgfältiger 
forschung  machte,  die  mathematischen  Wissenschaften  hat  er  mate- 
riell nicht  gefördert,  aber  als  humanist  die  leistungen  der  alten  auf 
diesem  gebiete  erneuert  und  den  Zeitgenossen  zugänglich  gemacht. 

Im  sechsten  abschnitt  charakterisiert  Hartfelder  treffend  Me- 
lanchthons leistungen  als  Stilist  und  dichter  (s.  311 — 323).  mit  dem 
siebenten  abschnitt  beginnt  die  darstellung  der  bedeutung  Melanch- 
thons als  pädagog.  zuerst  werden  seine  pädagogischen  grundbegriffe 
entwickelt  (s.  326 — 397).  sehr  passend  wird  diesem  abschnitt  das 
Goethesche  wort  'und  so  heb*  ich  alte  schätze'  vorangestellt,  denn 
wir  werden  nun  zu  den  eigentlichen  Werkstätten  geführt,  in  denen 
das  grosze  pädagogische  System  Melanchthons  sich  herausgebildet 
hat.  freilich  ist  dieses  System  oder  sagen  wir  das  gebäude  der  Me- 
lanchthonschen  pädagogik  nicht  in  einem  einzigen  gröszeren  werke 
in  die  erscheinung  getreten,  sondern  es  setzt  sich  aus  verschiedenen 
Schriften  zusammen ,  in  denen  pädagogische  grundsätze  besprochen 
werden,  nur  einmal  hat  er  einen  anlauf  zu  einer  systematischen 
darstellung  gemacht,  indem  er  1522  eine  ratio  discendi  schrieb,  in 
der  sich  eine  Übereinstimmung  mit  dem  Erasmischen  commentariolus 
de  ratione  discendi  in  allen  wesentlichen  punkten  zeigt,  um  so  gröszer 
ist  das  verdienst  Hartfelders ,  dasz  er  aus  den  zahlreichen  Schriften 
Melanchthons  das  raaterial  für  eine  umfassende  darstellung  seiner 
pädagogischen  grundsätze  gezogen  hat.  er  beginnt  dieselbe  mit  der 
entwicklung  der  eloquentia,  eruditio,  imitatio,  lectio,  exercitio  stili 
und  der  declamatio,  und  führt  dann  Melanchthons  urteile  Uber  die 
classischen  Schriftsteller  an,  unter  denen  Homer  die  erste  stelle  ein- 
nimmt, es  ist  merkwürdig,  dasz  sich  Melanchthons  ansichten  über 
die  helden  Homers  mit  gedanken  Lessings,  wie  er  sie  im  Laokoon 
ausspricht,  berühren,  fast  über  alle  classischen  schriftsteiler  bat 
Melanchthon  Vorlesungen  gehalten,  mit  Vorliebe  behandelte  er  Cicero 


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142    K.  Hartfelder:  Philipp  Melanchthon  als  praeceptor  Germaniae. 

und  Quintilian.  er  veranstaltete  mehrfach  ausgaben  von  scbulsehrift- 
stellern  oder  Ubersetzungen  griechischer  Schriftsteller  ins  lateinische, 
die  einzelnen  nachweise  sind  von  Hartfelder  mit  groszer  Sorgfalt  ge- 
geben, von  Übersetzungen  nennen  wir  nur  die  18  tragödien  des 
Euripides,  deren  Veröffentlichung  Xylander  besorgte,  die  Leokratea 
des  Lykurg,  worin  Melanchthon  ein  Vorläufer  von  Fr.  Aug.  Wolf 
wurde;  aus  Xenophons  Hellenika  die  rede  des  Kritias  gegen  Thera- 
menes,  aus  dessen  Memorabilien  die  erzähl ung  des  Prodikos  von 
Herakles  am  Scheidewege,  seine  argumente  und  Scholien  zu  Cicero* 
schrift  de  officiis  wurden  in  vielen  auflagen  wiederholt  und  auch 
noch  nach  seinem  tode  gedruckt;  auch  die  Germania  des  Tacitus  hat 
er  zweimal  mit  erklärungen  herausgegeben  und  als  1 9 jähriger  docent 
sandte  er  seine  Terenzausgabe  in  die  weit. 

Der  achte  abschnitt  behandelt  Melanchthons  principielle  an- 
schauungen  über  schule  und  lehrerberuf,  sowie  seine  beurteilung 
der  hochschulen  des  ausgehenden  mittelalters  (s.399— 416),  worauf 
im  neunten  abschnitt  der  Organismus  der  schulen  ausfuhrlich  be- 
sprochen wird  (s.  417  —  488).   diese  schulen  sind  dreierlei  art:  die 
dreiclassige  lateinschule  (trivialschule),  die  höhere  humanistenschule, 
die  hochschule  (Universität),   der  plan  für  die  erstere  ist  als  letztes 
capitel  dem  'unterricht  der  visitatoren  an  die  pfarrherrn  im  kur- 
fürstentum  Sachsen* (Wittenberg  1528)  angehängt  und  oft  gedruckt; 
für  die  höhere  humanistenschule  war  die  wahrscheinlich  von  Me- 
lanchthon herrührende  ratio  scholae  Norembergae  nuper  institutae 
(1526)  maszgebend.   was  Uber  die  hochschule,  ihren  Organismus, 
über  die  übliche  disputatio  und  declamatio,  über  die  akademischen 
grade  gesagt  wird,  gilt  zwar  im  wesentlichen  hauptsächlich  von 
Wittenberg,  der  akademischen  Wirkungsstätte  Melanchthons,  be- 
leuchtet aber  auch  die  akademischen  zustände  des  ausgehenden  mittel- 
alters und  des  reformationszeitalters  überhaupt,  so  dasz  dieser  ab- 
schnitt einen  wichtigen  beitrag  zur  geschichte  der  Universitäten  liefert, 
dazu  kommt  noch  eine  ratio  studii,  die  für  Juristen,  eine  institutio, 
die  für  den  herzog  Jobann  Friedrich  von  Pommern  von  Melanchthon 
entworfen  ist,  und  eine  ratio  discendae  theologiae  vom  jähre  1530. 
endlich  werden  aus  den  Schriften  Melanchthons  auch  seine  ansichten 
und  ausspräche  Uber  die  disciplin  der  lehrer  und  Studenten ,  über 
alumnate  mitgeteilt,   im  zehnten  abschnitt  wird  Melanchthon  als 
Organisator  und  reorganisator  verschiedener  schulen  geschildert  (s.489 
bis  538);  es  wird  gezeigt,  wie  er  seine  theorie  in  die  praxis  um- 
setzte, und  zwar  zunächst  an  der  von  ihm  bald  nach  seiner  Verheira- 
tung 1521  angelegten  schola  privata,  die  er  aber  wegen  der  Ungunst 
der  zeit  und  wegen  der  last  der  amtsgeschäfte  1529  aufgeben  muste. 
zu  der  von  L.Koch  über  diese  schola  privata  verfaszten  schrift  (Gotha 
1859)  gibt  Hartfelder  mehrere  beachtenswerte  ergänzungen.  in  be- 
treff der  aufführungen  der  komödien  des  Plautus  und  Terenz  seitens 
der  Zöglinge  der  schola  privata  bin  ich  der  ansieht,  dasz  sich  diese 
nicht  auf  die  letzteren  beschränkt  haben,  sondern  dasz  auch  die  stu- 


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K.  Hartfelder:  Philipp  Melanchtbon  als  praeceptor  Germaniae.  143 

denten  sich  an  den  dramatischen  aufführungen  beteiligt  haben,  ich 
habe  hierüber  in  meiner  schritt,  'die  reformation  im  spiegelbilde  der 
dramatischen  litteratur  des  16n  jahrhunderts*  (Halle  1886)  s.  26  ff. 
gehandelt,  die  daselbst  s.28  anm.  1  angeführte  Sammlung  der  pro- 
logi  aliquot  scenicis  actionibus  praemissi  exhibitis  in  academia  Vite- 
bergensi  (Viteb.  mense  Septembri  1564)  scheint  den  herausgebern 
des  corpus  reformatorum  unbekannt  geblieben  zu  sein,  da  sie  sich 
nur  auf  Hilbrand  Grathusens  epigrammata  Melanchthonis  (Viteb. 
1.S60)  berufen.  —  Auch  die  yisitationsreisen  Melanchthons  bilden 
eine  seite  der  praktisch  -  pädagogischen  thätigkeit  desselben,  be- 
sonders aber  tritt  diese  bei  der  neuerrichtung  zahlreicher  latein- 
und  trivialschulen  hervor,  es  gehören  dahin  die  schulen  zu  Eibleben, 
Magdeburg,  Zwickau,  Soest  u.  a.  der  gründung  der  'oberen  schule' 
Nürnbergs  widmet  Hartfelder  ein  besonderes  capitel  (s.  501  —  506). 
den  grösten  einflusz  aber  übte  Melanchtbon  mit  seinem  organisato- 
rischen talent  auf  die  Umgestaltung  oder  neugestaltung  der  Univer- 
sitäten Wittenberg,  Tübingen,  Prankfurt  a.  0.,  Leipzig,  Rostock, 
Heidelberg,  Marburg,  Königsberg,  Jena,  wir  sehen,  wie  das  gelehrte 
unterrichtswesen  des  ganzen  protestantischen  Deutschland  von  Me- 
lanchthons schaffendem  geiste  belebt  und  getragen  wird  und  dasz  er 
in  Wahrheit  der  lehrer  Deutschlands  genannt  zu  werden  verdient, 
der  die  Universitäten  betreffende  titel  des  zehnten  abschnitts  stützt 
sich  nicht  ausschlieszlich  auf  die  vorhandenen  monographischen  dar- 
stelltmgen  der  geschiente  jener  Universitäten,  sondern  es  ist  auch 
vielfach  das  Urkunden-  und  actenmaterial  derselben  benutzt  worden, 
für  Heidelberg  hatte  Hartfelder  selbst  schon  durch  seine  in  den  Stu- 
dien der  evangelisch  -  protestantischen  geistlichen  des  groszh  erzog - 
tum8  Baden  VIII 111  —  129  und  in  der  Zeitschrift  für  die  geschiente 
des  Oberrheins  n.  f.  III  112 — 119  erschienenen  abhandlungen  über 
Melanchthons  spätere  beziehungen  zu  seiner  pfälzischen  heimat  und 
über  seine  berufung  nach  Heidelberg  eigne  forsch  ungen  gemacht, 
die  im  elften  abschnitt  angestellte  schluszbetrachtung  (s.539 — 552) 
enthält  eine  kurze  Charakteristik  der  Stellung,  die  Melanchtbon  zum 
Humanismus  und  zur  religiösen  bewegung  seiner  zeit  eingenommen 
hat.  damit  schlieszt  die  zusammenhängende  darstellung.  was  weiter 
folgt,  ist  al  s  eine  art  anhang  zu  betrachten,  aber  darum  nicht  minder 
wertvoll,   im  zwölften  abschnitt  wird  nemlich  ein  Verzeichnis  der 
Vorlesungen  Melanchthons  (s.  553 — 566),  im  dreizehnten  die  biblio- 
graphie  gegeben,  und  zwar  a)  ausgaben  der  werke  Melanchthons  und 
ergänzungen  dazu,  b)  chronologisches  Verzeichnis  der  arbeiten  Me- 
lanchthons, c)  Verzeichnis  der  arbeiten  über  Melanchthon  (s.  567  bis 
647).  wie  reichhaltig  diese  Verzeichnisse  sind,  zeigen  die  nummern 
zu  b  und  c,  nemlich  709  und  440.  zuletzt  werden  noch  einige  jugend- 
gedichte  Melanchthons  abgedruckt,  die  im  corp.  reform,  fehlen,  dann 
folgen  nachtrftge  und  berichtigungen,  endlich  ein  namen-  und  Sach- 
register (s.  651—684),  das  mit  ebenso  groszer  Sorgfalt  angelegt  ist 
als  das  zum  briefwechsel  des  Beatus  Rhenanus,  wir  vermissen  jedoch 


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144    K.  Hartfelder:  Philipp  Melanchthon  als  praeceptor  Germatriae. 

in  diesem  register  die  aufnähme  von  intimatio  =  anschlag  am 
schwarzen  brett,  welche  erklärung  s.  462  gegeben  ist;  ferner  ein 
wort  über  Gallus  Rubeaquensis,  über  den  im  briefwechsel  des  Beat. 
Rhenanus  so  viel  steht;  der  vorname  des  Pfad  ist  Andreas;  Sera- 
phicus  ist  der  ehrende  beiname  des  Scholastikers  Bonaventura,  Che- 
rubicus  der  des  Scholastikers  Wilhelm  von  Occam.  auch  zuGnapheus 
(8.  536)  erwarten  wir  ein  wort :  er  ist  der  Schöpfer  des  Acolastus, 
des  ersten  lateinischen  dramas  vom  verlorenen  söhn,  das  für  das 
ganze  16e  jahrhundert  muster  geblieben  ist.  unter  Herwagen  ist 
550  zu  entfernen  und  bei  H.  Holstein  308  zu  streichen,  da  dort  vom 
lande  die  rede  ist. 

So  sind  wir  mit  unserer  Wanderung  zu  ende  gekommen,  und  was 
Hartfelder  s.  307  von  zwei  Melanchthonschen  Schriften ,  dem  Enco- 
mium  Sueviae  und  dem  Encomium  Franciae,  rühmt,  dasz  sie  nicht 
in  einer  trockenen  und  farblosen  Zusammenstellung  von  namen,  son- 
dern in  einer  lebensvollen  darstellung  besteben,  die  keine  seite  der 
erscheinungen  vernachlässigt,  das  gilt  auch  von  seinem  werke,  das 
alle  vorhandenen  Schriften  über  Melanchthons  pädagogik  an  Voll- 
ständigkeit und  genauigkeit  übertrifft,  aber  Hartfelder  wird  sich 
mit  dieser  darstellung  nicht  begnügen,  denn  an  verschiedenen  stellen 
seines  bucbes  deutet  er  an ,  dasz  er  noch  weitere  pläne  auszuführen 
gedenkt,  so  verspricht  er  den  einflusz  Melanchthons  auf  die  jüngere 
generation  der  humanisten  zu  schildern  (s.151),  er  will  nachweisen, 
wie  die  schüler  des  groszen  meisters  auf  den  verschiedensten  ge- 
bieten den  ganzen  kreis  des  wissens  für  die  bedürfnisse  der  evange- 
lischen kirche  und  des  evangelischen  Staates  bearbeitet  haben  (s.  204), 
er  will  die  von  Melanchthon  gegründete  schule  von  historikern  schil- 
dern (s.  306)  und  ausführlich  zeigen,  dasz  einerseits  Melanchthons 
gedanken  und  leistungen  in  fast  zu  überschwänglicher  weise  ge- 
priesen werden  (s.  541)  und  dasz  anderseits  die  nachwirkung  der 
thätigkeit  des  groszen  praeceptor  Gerroaniae  eine  Uberaus  nachhal- 
tige gewesen  ist  (s.  552).  es  ist  das  erscheinen  eines  neuen  werkes, 
einer  art  von  urkundenbuch  über  die  pädagogische  und  philologische 
thätigkeit  Melanchthons ,  unter  dem  titel  cMelanchthonia  paedago- 
gica,  ergänzung  zur  ausgäbe  von  Melanchthons  werken  im  Corpus 
Reformatorum'  aus  der  feder  Hartfelders  bereits  in  aussieht  gestellt 
(vgl.  mitteilungen  der  Verlagsbuchhandlung  B.  G.  Teubner  in  Leipzig, 
1890,  nr.  3  s.  56).  auszerdem  aber  beabsichtigt  Hartfelder,  wie  wir 
aus  unserem  buche  erfahren ,  die  pädagogischen  tendenzen  des  Mo- 
sellanus  zu  besprechen  (s.  142),  Rudolf  Agricolas  commendatio  elo- 
quentiae  zu  veröffentlichen  (s.  329)  und  das  erste  jahrhundert  der 
Universität  Wittenberg  monographisch  zu  schildern  (s.  506).  viel- 
leicht erhalten  wir  von  ihm  auch  eine  buchdruckergeschichte  von 
Wittenberg  und  Hagenau,  die  er  schmerzlich  vermiszt  (s.  220  anm.  4). 
man  darf  dem  strebsamen  gelehrten  forscher  von  ganzem  herzen 
glück  zur  ausführung  seiner  vielen  pläne  wünschen. 

Es  war  natürlich ,  dasz  der  verf.  Melanchthons  werke,  nament- 


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K.  Hartfelder:  Philipp  Melanchthon  als  praeceptor  Germaniae.  145 

lieb  aber  das  Corpus  Reformatorum  zum  gegenstände  besonderen 
und  eingebenden  Studiums  machte;  dasz  er  dabei  viele  sinnentstel- 
lende fehler  im  texte  fand ,  auch  manche  kleinere  schritt ,  manchen 
wichtigen  brief  vermiszte,  davon  zeugen  zahlreiche  anmerkungen 
seines  buches.  so  ist  Corp.  Ref.  III  668  TTaXXdc  zu  lesen  (s.  109 
anm.  4),  Viil  62  indicat  (s.  376  anm.  6),  X  19  beruht  die  angäbe 
des  Winshemius  über  Peter  Sturm  auf  einem  irrtum  (s.  25  anm.  2), 
83.  89  ist  der  text  zu  ändern  (s.  372  anm.  1),  90  r|ÖiKu  zu  lesen 
(s.  365  anm.  6),  259  ist  Hiltebrant  fälschlich  als  lehrer  Melanch- 
thons  im  griechischen  genannt  (s.  8  anm.  1) ,  463  ist  Volfius  statt 
des  unsinnigen  Voisius  zu  lesen  (s.  322  anm.  4),  470:  das  Carmen 
rhitmicale  Schleuraffs  ist  keine  arbeit  Melanchthons  (s.  58  anm.  2), 
482  nr.  13:  textesänderung  in  der  poetischen  einladung  zur  Vor- 
lesung über  Hesiod  (s.  81  anm.  3),  1004  ist  amplectente  zu  lesen 
(s.  466  anm.  5),  XI 124  ist  cum  zu  lesen  (s.  408  anm.  1),  zu  XIII 493 
findet  sich  eine  vortreffliche  emendation:  Plauto  etiam  nihil  facetius 
est  für  das  unsinnige  facilius  est  (s.  390  anm.  3),  XXIV  280  ist  die 
jahreszahl  in  1503  zu  ändern  (s.  17  anm.  2),  XXVIII  im  index  s.  v. 
auditoribus  sind  manche  irrtümer  zu  beseitigen  (s.82  anm.  1).  man 
vergleiche  ferner  nur  s.  382  anm.  1,  449  anm.  4,  468  anm.  4,  wo 
Sachen  angeführt  werden,  die  Bretschneider  entgangen  sind;  ebenso 
hat  Bindseil  entweder  irrtümliche  angaben  gemacht  oder  es  ist  ihm 
manches  unbekannt  geblieben  (vgl.  s.  49  anm.  2,  273  anm.  4,  363 
anm.  3,  459  anm.  1).  mehrere  im  Corp.  Ref.  fehlende  briefe  werden 
nachgewiesen:  s.  15  anm.  3  —  wiederholt  8.  24  anm.  2  —  ein  brief 
Melanchthons  vom  1  jan.  1560,  s.  134  anm.l  ein  brief  Pirckheimers 
an  Melanchthon,  s.  303  anm.  1  ein  brief  an  Aventin;  ebenso  werden 
gedichte  nachgewiesen:  8.  82  anm.  2,  109  anm.  2.  in  welchem 
grade  Hartfelder  die  über  Melanchthon  erschienene  litteratur  be- 
herseht,  beweisen  die  vielen  berichtig ungen  irrtümlicher  angaben 
anderer  forscher,  die  sich  in  den  anmerkungen  finden ;  man  vgl.  8. 5. 
36.  37.  117.  118.  132.  133.  143.  169.  204.  259.  309.  318.  431. 
482.  518.  529,  wo  Nisard,  Pflüger,  Manlius,  Förstemann,  Schmidt, 
Elix,  Oberländer,  Eckstein,  Bernhardt,  Planck,  Lorenz  Stein,  Kius, 
Paulsen,  Hautz,  gewis  eine  stattliche  reihe  von  forschem,  berich- 
tigungen  erfahren,  dasz  sich  der  verf.  öfter  Wiederholungen  erlaubt 
hat,  darf  bei  dem  groszen  umfange  seines  buches  nicht  auffallen ; 
ich  mache  auf  folgendes  aufmerksam :  s.  46  und  295  (Lambert  von 
Hersfeld  und  Kaspar  Kurrer),  s.  279  und  283  anm.  3  (die  etymologia 
latinae  grammaticae),  s.  277  anm.  2  und  321  anm.  5  (die  lateinischen 
tisebgebete),  s.  297  und  349  (die  declamationes),  s.  321  anm.  7  und 
494  anm.  1  (Kochs  schola  privata).  daher  mag  auch  die  an  einigen 
stellen  hervortretende  inconsequenz  der  Schreibweise  sich  erklären, 
wie  wenn  wir  literae  und  litterae,  überschwenglich  und  überschwäng- 
lich  (s.  100.  108),  bischen  und  biszchen  (s.  115.  492),  ohnedem 
und  ohnedies  (letzteres  erst  von  s.  341  an)  lesen,  einige  ausdrücke 
möchte  ich  beanstanden:  geschwänzte  collegia  (s.27),  ankehren  statt 

K.  jahxb.  f.  pbil.a.  päd.  II.  Abt.  1891  hfl.  3.  10 


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146 


A.  Scheindler:  lateinische  schulgrammatik. 


vorsprechen  (s.  136.  141),  der  eintrag  in  die  matrikel  (s.  12),  die 
süsze  rede  (s.  369.  371  u.ö.),  es  scheint  ihm  keiner  vorzuziehen  (ein 
latinismus :  nemo  videtur  ei  praeferendus  esse^  s.  378),  er  redet  sich 
fast  zu  tot  (wohl  zu  tode,  s.407),  leichterdings  (s.515).  von  druck- 
fehlem  will  ich  nur  die  bedeutenderen  angeben :  es  ist  zu  lesen  s.  183 
rhetorik,  219  Boöthio,  242  Eberus,  344  cepit  me  dolor,  367  loov 
TÖtp  f\  'Pöboc,  396  Ulixes,  407  von  vorn,  426  Paedologia  Mosellani, 
436  anm.4  1536  und  authentisches  document,  451  TTpaÖT€pöv  ttujc, 
484  neugründung  der  Universität  Wittenberg,  496  bei  der  reorga- 
nisation  und  der  neuerrichtung,  654  batrachom jomachie ;  einige 
andere  mag  der  aufmerksame  leser  selbst  entfernen. 

Wilhelmshaven.  H.  Holstein. 

14. 

1)  LATEINISCHE  SCHULGRAMMATIK,  HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  DR. 

Aug.  Scheindler  in  Wien.  Leipzig,  verlag  von  G.  Freytag. 
1889.  XI  u.  212  b.  gr.  8. 

2)  LATEINISCHES  LESE-  UND  ÜBUNGSBUCH.  IM  AN8CHLU88E  AN  DIE 
LATEINISCHE  GRAMMATIK  VON  DR.  ÄUG.  SCHEINDLER  HERAUS- 
GEGEBEN von  Josef  Steiner  und  dr.  Aug.  Scheindler. 
i.  teil  (für  die  sexta).  mit  einer  wortkunde.  Leipzig,  verlag 
von  G.  Frey  tag.   1889.  VIII  u.  72  u.  84  s.  gr.  8. 

1. 

In  der  vorliegenden  grammatik,  die  im  ersten  teile  auf  86  Seiten 
die  formenlehre,  im  zweiten  auf  104  Seiten  die  syntax  und  in  einem 
anhange  die  lateinische  Verslehre  und  kurze  erlSuterungen  und  tafeln 
zum  römischen  kalender,  zu  den  abkürzungen  der  römischen  eigen- 
naraen  und  über  die  münzen  und  masze  enthält,  darf  man  nach  des 
Verfassers  auseinandersetzung  in  dem  ziemlich  ausführlichen  Vor- 
worte etwas  ziemlich  neues  und  eigenartiges  erwarten. 

Die  grammatik  ist  danach  rauf  sorgfältiger  statistischer  grund- 
lage  aufgebaut  und  berücksichtigt  zugleich  die  heutigen  forderungen 
einer  verständigen  methodik'.  deshalb  ist  unter  benutzung  der  vielen 
arbeiten  über  lateinische  formenlehre  und  syntax  sowie  über  den 
Sprachgebrauch  der  Schriftsteller  in  aufblitzen,  grammatiken  und 
lexicis  das  material  zunächst  auf  die  epoche  der  lateinischen  spräche 
beschränkt,  die  durch  die  wichtigsten  scbulclassiker  repräsentiert 
wird';  und  der  Verfasser  glaubt  dabei  'resultate  erzielt  zu  haben, 
über  die  viele  facbgenossen  staunen  werden*  und  infolge  deren  viele 
sprachliche  einzelheiten  getilgt  oder  doch  als  untergeordnet  und 
nebensächlich  angesetzt  werden  konnten. 

Leider  läszt  sich  nicht  so  leicht  controllieren,  wie  weit  die  gram- 
matik selbst  dem  versprechen  der  beschränkung  auf  die  schulclassiker 
entspricht,  da  sie  eines  Stellennachweises,  wie  er  z.  b.  am  Schlüsse 
der  Stegmannschen  grammatik  so  dankenswert  ist,  entbehrt  und  man 
unmöglich  für  alle  beispiele  das  Ursprungszeugnis  im  gedächtnis 


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A.  Scheindler:  lateinische  schulgrammatik.  147 

haben  kann,  gegen  die  richtigkeit  des  statistischen  Unterbaues,  den 
der  verf.  allerdings  später  klar  legen  will,  müssen  sich  jedenfalls 
hier  und  da  bedenken  regen,  man  wird  mistrauisch,  wenn  für  Nepos 
kein  beispiel  eines  inf.  fut.  pass.  zugegeben  wird,  da  visum  iri  Attic. 
13,  6  ausgeschlossen  sei;  etwa  weil  es  im  deutschen  activisch  über- 
setzt wird?  noch  schlimmer  wirkt  es,  wenn  s.  154  tan  tum  absum 
ut  —  ut  als  das  regelmäszige  an  die  spitze  gestellt  und  mit  einem 
gewis  nicht  vollwichtigen  beispiele  aus  dem  bell.  Alexandrinum  (!) 
belegt  und  die  durch  genaue  Statistik  aus  den  classikern  als 
allein  üblich  nachweisbare  construction  also  angefügt  wird: 
'auch  findet  sich  tantum  abest  ohne  persönliches  subject.'  —  Dieser 
mangel  einer  wegweisenden  Unterscheidung  zwischen  mehreren  con- 
structionsmöglichkeiten,  dem  wir  wiederholt  begegnen  werden,  sollte 
doch  auf  grund  statistischen  materials  auch  leicht  abstellbar  sein, 
an  dem  genügenden  umfange  der  Statistik  oder  doch  an  der  rechten 
ausnützung  des  von  ihr  gebotenen  materials  musz  man  auch  zweifeln, 
wenn  s.  169  für  den  Wechsel  zwischen  conjunctiv  und  indicativ  im 
ersten  zweier  durch  cum  —  tum  verbundener  sätze  die  Gleichzeitig- 
keit oder  ungleichzeitigkeit  der  beiden  sätze  als  entscheidend  ange- 
geben wird;  allein  Laelius  VTI  23  und  noch  mehr  Cic.  ad  fam.VI  14 
und  15,  9  genügen,  um  solche  aufstellungen  als  haltlos  erscheinen 
zu  lassen. 

Unter  den  bestaunenswerten  neuerungen  in  seiner  darstellung 
hebt  Scheindler  selbst  drei  dinge  hervor:  die  Streichung  der 
supina  und  des  infinitivus  fut.  pass.  aus  den  conjuga- 
tions tafeln  und  die  ansetzung  der  s ubstantiva  der  drit- 
ten declination  auf  o  schlechthin  als  feminina.  weil  er 
nemlich  in  allen  schulautoren  zusammen  nur  von  70  verben  supina 
auf  um  und  von  27  solche  auf  u,  sowie  nur  von  11  den  inf.  fut.  pass. 
verzeichnet  hat,  überdies  die  ableitung  des  participium  perf.  pass. 
vom  doch  activen  supinum  fdem  gesunden  verstände  unbegreiflich 
sein  müsse',  hat  er  auszer  dem  imperativus  pass.  nach  Harres  vor- 
gange auch  noch  diese  drei  formen  aus  der  formenlehre  ganz  aus- 
geschlossen, es  wird  nichts  einzuwenden  sein,  wenn  das  supinum 
auf  u,  vielleicht  auch  nicht,  wenn  der  inf.  fut.  pass.  in  ihr  nicht  er- 
scheint, aber  das  supinum  auf  um,  das  nach  Scheindlers  Zählung 
selbst  bei  Nepos  und  Caesar  Uber  ein  dutzend  male  vorkommt,  wird 
man  nicht  missen  wollen,  wenn  man  auch  schon  auf  seine  ansetzung 
als  Stammform  zu  verzichten  geneigt  sein  mag.  ebenso  wenig  wird 
man  es  billigen  können,  dasz  s.  56  ein  eigner  passivstamm  allein  für 
das  partic.  perf.  angesetzt  wird,  denn  der  (oft  geschwächte)  durch  t, 
bzw.  s  erweiterte  stamm  ist  dem  partic.  perf.  mit  vielen  formen  ge- 
meinsam, die  activisch  sind,  nemlich  mit  dem  part.  fut.  auf -urus 
und  dem  nomen  agentis,  mit  den  supinis  und  mit  den  verbis  frequent. 
und  intensivis,  die  Scheindler  94,  2  und  3  selber  also  ansetzt: 
cant-are,  puls-are,  es-urire.  oder  wie  rechtfertigt  sich  die  kür- 
zung  des  stamm  i  in  initium,  wenn  er  §  92,  4  ansetzt  ini-tium?  ich 

10* 


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148 


A.  Scheindler:  lateinische  schulgrammatik. 


kann  es  wenigstens  ebenso  wenig  verständig  finden,  jene  activischen 
formen  vom  passivstamme  abzuleiten;  Scheindler  freilich,  der  das 
umgekehrte  Verhältnis  für  den  gesunden  verstand  unbegreiflich  fand, 
findet  dies  in  Ordnung  und  sagt  §  214  'die  supina  werden  vom  passiv- 
stem me  der  verba  gebildet;  sie  sind  Verbalsubstantive  mit  activer 
bedeutung'.  die  sache  ist  doch  wohl  die,  dasz  das  genus  verbi  über- 
haupt nicht  durch  den  stamm,  sondern  lediglich  durch  die  endungen 
zum  ausdruck  gebracht  wird ;  vielmehr  gibt  es  von  den  verben  auszer 
den  präsens-  und  perfectstämmen  noch  einen  dritten  durch  t,  bzw.  s 
erweiterten  und  (wie  im  deutschen)  oft  geschwächten  stamm ,  von 
dem  durch  die  endung  us,  a,  um  eine  passive,  durch  die  endungen 
or,  urus,  us,  üs  und  are,  ere,  ere,  ire  active  formen  weitergebildet 
werden. 

Lassen  sich  so  gegen  Scheindlers  neuerungen  in  der  conjuga- 
tion  bedenken  nicht  zurückhalten,  so  wird  man  es  dagegen  rückhalt- 
los gutheiszen,  wenn  alle  Wörter  auf  o  der  dritten  declination  als 
feminina  angesetzt  werden  mit  nur  drei  ausnahmen  bis  Untertertia 
(,  ordo,  sermo;  leo),  wo  sich  dann  an  das  concretum  leo  aus  Caesar 
noch  einige  dieser  art  anreihen  lassen,  überhaupt  sind  die  de  - 
clinationen  überaus  klar,  lichtvoll  und  vereinfacht 
dargestellt;  die  gereimten  geschlechtsregeln  sind  aus  allen  decli- 
nationen  verschwunden  und  mit  ihnen  viele  überflüssige  ausnahmen; 
die  erlernung  der  wenigen  ausnahmen  aber,  die  gelernt  werden 
müssen,  ist  durch  ihren  abdruck  in  geeigneten  Verbindungen,  wie 
'humus  arida',  'Aegyptus  est  fructuosa'  erleichtert,  auch  ist  es  nur 
zu  loben,  dasz  in  den  declinationstafeln  nominativund  vocativ 
nur  einmal  gedruckt  sind  und  dasz  bei  personalnamen ,  also 
auch  bei  den  personalpronominibus  a  und  cum  vor  den  ablativus  ge- 
setzt sind ;  nur  sollte  es  in  der  diesbezüglichen  erkiärung  auf  s.  1 2 
heiszen  'bei  Wörtern,  welche  lebende  wesen  bezeichnen',  ein  wie 
guter  griff  es  ferner  war,  dasz  der  verf.  die  ergebnisse  der  wissen- 
schaftlichen forschung  zur  erkenntnis  der  Spracherscheinungen  heran- 
zog, zeigt  sich  ganz  besonders  an  der  darstellung  der  dritten  declina- 
tion, welche  durch  die  berücksichtigung  der  stamm theorie 
überaus  gewonnen  hat.  lauten  doch  nun  die  hauptgesetze  einfach: 
consonantische  stämme  ohne  s-bildung  im  nom.  sind  masc.  oder 
neutr. ,  mit  s-bildung  im  nom.  femin.,  i- stämme  mit  s-  bildung  im 
nom.  sind  femin.  —  Desgleichen  sind  unter  den  Substantiven,  die 
ium  im  gen.  plur.  erfordern,  sowie  unter  den  adjectiven,  die  e,  bzw. 
um  oder  a  verlangen,  vielfach  gerechtfertigte  ausmerzungen  erfolgt, 
gern  hätte  man  unter  den  masc.  auf  is  noch  das  hauptsächlich  poe- 
tische amnisgemiszt,  sowie  zwei  bemerkungen,  zu  denen  das  bestreben 
wissenschaftlicher  erkiärung  und  genauigkeit  geführt  haben  dürfte, 
die  aber  in  einer  schulgrammatik  zu  viel  des  guten  sind;  ich  meine 
26 ,  4  die  über  den  gen.  sing,  auf  l  in  der  vierten  declination  und 
§  32,  1,  7  das  über  den  ablat.  auf  d  und  über  den  instrumentalcasus 
der  Ursprache  gesagte  (trotz  modö!). 


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A.  Scheindler:  lateinische  scbulgranimatik. 


Im  übrigen  hat  Scheindler  recht,  wenn  er  sich  rühmt,  durch 
das  dben  gekennzeichnete  verfahren  wie  durch  die  ausscbeidung  aller 
rein  stilistischen  bemerkungen  den  lehrstoff  um  hunderte  von  einzel- 
heiten  verringert  und  trotz  Vermehrung  der  beispiele  den  äuszeren 
umfang  der  grammatik  vermindert  zu  haben,  also  dasz  auf  die  formen- 
lehre  40  Seiten  fast  nur  tabellen  für  die  erste  und  46  für  die  zweite 
stufe  und  auf  die  syntax  etwa  36  seiten  lehr-  und  60  Seiten  nach- 
schlagestoff  kommen,  der  stoff  für  die  erste  stufe  und  der  syntak- 
tische lehrstoff  sind  gröszer,  der  für  die  zweite  und  der  nachschlage- 
stoff  kleiner  gedruckt,  diesen  nachschlagestoff  denkt  sich  der 
verf.  nur  gelegentlich  behandelt  und  mit  hilfe  des  —  einer  Stichprobe 
nach  zu  urteilen  rühmlichst  sorgfältigen  —  Wortregisters  vom  schüler 
selbst  bei  der  präparation  herangezogen. 

Mit  recht  ist  es  dem  verf.  nicht  zweifelhaft  gewesen ,  dasz  die 
sicheren  ergebnisse  der  wissenschaftlichen  forschung,  soweit  sie  ge- 
eignet sind  die  erkenntnis  der  sprachlichen  erscheinungen  richtiger 
nnd  tiefer  zu  gestalten,  der  schulgrammatik  nicht  vorenthalten  wer- 
den dürfen,  und  wir  konnten  schon  erwähnen,  welchen  nutzen  daraus 
z.  b.  Scheindlers  darstellung  der  dritten  declination  gezogen  hat. 
auch  der  syntax  merkt  man  an,  dasz  der  verf.  die  vielen  neuen  arbeiten, 
die  über  grosze  capitel  und  über  einzelheiten  derselben  licht  ver- 
breitet haben,  gekannt  und  verwendet  hat,  wenn  auch  nicht  immer 
mit  vollem  erfolge,  wie  manche  später  zu  machenden  ausstellungen 
zeigen  werden. 

Wenn  er  ferner  von  derselben  rühmt,  in  der  Satzlehre  'zum 
ersten  male  den  weg  ihrer  behandlung  nach  satzkategorien  conse- 
quent  eingehalten  zu  haben*,  so  bat  er  wohl  ein  gewisses  mehr  auch 
gegenüber  Stegmann,  indem  er  sämtliche  nebensätze  unter  die  drei 
arten  1)  vollständig  abhängiger,  2)  correlativer,  und  3)  solcher,  von 
bald  geringerer,  bald  gröszerer  abhängigkeit  und  dabei  unter  b)  z.  b. 
den  sonst  gewöhnlich  unter  der  Überschrift  pronomen  erläuterten 
gebrauch  von  atque  nach  begriffen  der  gleichheit  u.  ä.,  die  veftre- 
tungsformen  für  quo  —  eo  mit  comparat.  u.  a.  m.  unterbringt,  aber 
von  consequenz  kann  noch  lange  keine  rede  sein,  wenn  vom  einfachen 
satz  überhaupt  nichts  zu  lesen  ist  und  im  übrigen  congruenz,  casus- 
lehre, pronomina,  präpositionen  und  nominalformen  des  verbs  noch 
ebenso  behandelt  sind  wie  irgend  anderswo;  ja  Scheindlers  behand- 
lung der  modi  im  unabhängigen  satze  ist  ein  rückschritt  gegen  die 
von  Stegmann,  bei  dem  die  Unterscheidung  von  aussage-  und  begeh- 
rungssätzen  dann  auch  wirklich  zum  einteilungs-  und  darstellungs- 
grunde  gemacht  ist. 

Scheindler  betont  ferner,  dasz  er  die  lateinischen  erscheinungen 
immer  möglichst  an  die  entsprechenden  deutschen  angeknüpft  habe ; 
nur  nimmt  es  wunder,  dasz  er  trotzdem  den  deutschen  gleiche  latei- 
nische erscheinungen  —  ich  denke  z.  b.  an  das  lange  capitel  über 
die  tempora  —  durch  endlose  reihen  von  beispielen  erläutert,  anstatt, 
wie  es  neuerdings  wiederholt  gefordert  und  von  ihm  z  b.  175  über 


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150 


A.  Scheindler:  lateinische  schulgrammatik. 


den  indicativ  auch  gehalten  worden  ist,  einfach  die  gleicbartigkeit 
festzustellen,  dagegen  liegt  eine  wirkliche  lobenswerte  annäherung 
an  eine  parallelgrammatik  in  Hornemanns  sinne  darin,  dasz  für  dem 
lateinischen  mit  dem  griechischen  gemeinsame  erscheinungen  mit 
genehmigung  prof.  Härtels  die  regeln  in  demselben  Wortlaute  ge- 
geben werden,  wie  in  der  neubearbeitung ,  die  Curtius'  griechische 
grammatik  durch  jenen  verdienten  Wiener  gelehrten  gefunden  hat, 
gewis  ein  groszer  vorteil  für  anstalten ,  wo  die  besagte  neubearbei- 
tung eingeführt  ist.  die  in  anerkennenswerter  weise  zum  groszen 
teil  aus  der  schullectüre ,  besonders  Caesar,  gewählten  beispiele  zu 
den  regeln  werden  übrigens  wie  bisher  noch  meist,  'um  den  scbüler 
nicht  zu  voreiligen  Schlüssen  zu  verleiten',  von  dem  verf.  absichtlich 
am  fusze  derselben  angeführt. 

Dankenswert  ist  es  endlich -  dasz  druck  und  anordnung  wirk* 
lieh  überall  deutlich,  klar  und  übersichtlich  sind  und  dasz  besonders 
in  der  formenlehre  reichlichst  die  tabellarische  darstellungs  weise  ge- 
wühlt wurde;  dankenswert  ist  auch  das  streben,  r  aus  wüchse  des 
schuljargons  durch  bessere  stilistische  darstell ung  fernzuhalten',  vor 
allem  aber  verdient  noch  anerkennung  die  peinlich  genaue  und  con- 
sequente  bezeichnung  allerlang  auszusprechenden  vo- 
cale;  und  man  wird  Scheindler  nur  recht  geben  können,  wenn  er 
den  bequemen  anhängern  des  alten  Schlendrians  gegenüber  immer 
wieder  den  grundsatz  betont,  dasz  den  schülern  daraus  keine  Schwie- 
rigkeit entsteht,  da  sie  —  von  anfang  an!  —  das  richtige  gleich 
leicht  lernen,  als  das  falsche,  worauf  aber  fuszt  er  hier,  wenn  er 
nicht  etwa  nur  die  durch  zusammenziehung  entstandenen  formen, 
für  die  es  ja  ausgemacht  ist,  sondern  ausnahmslos  alle  perfeetformen 
auf  isti  und  istis  in  den  conjugationstafeln  wie  bei  späterem  vor- 
kommen mit  langem  \  vor  st  ansetzt? 

Ich  verzeichne  nun  noch,  nach  der  reihenfolge  der  para- 
graphen,  was  ich  im  einzelnen  an  der  fassung  der  regeln  und 
erklärungen  auszusetzen  gefunden  habe: 

§  42,  2  ist  die  fassung  fbei  der  Verbindung  der  zehner  mit  den 
einem  von  21 — 99  ist  der  lateinische  gebrauch  dem  deutschen 
gleich;  entweder  unus  et  viginti  einundzwanzig  oder  viginti  unus 
zwanzig  einer'  falsch,  da  das  gute  deutsch  die  letzte  ausdrucksweise 
nicht  beliebt.  —  §  47,  bem.  1  ist  die  Verdeutschung  'viele  aus  uns' 
für  multi  nostrum  zu  tilgen;  undeutsch  ist  auch  unter  56,  2  b  der 
ausdruck  des  perfects  passiv!  —  §  63  ist  die  regel  über  die  conju- 
gation  der  verben  auf  io  der  dritten  conjugation  falsch  also  ange- 
geben :  Mio  verben  auf  io  nach  der  dritten  conjugation  lassen  in  den 
vom  präsensstamme  gebildeten  zeiten  die  endungen  ohne  die  binde- 
vocale  i  und  e  an  den  stamm  treten ;  das  kurze  i  des  Stammes  bleibt 
in  allen  formen;  nur  vor  r  und  im  auslaut  wird  es  zu  e' ;  denn  sie 
erklärt  z.  b.  die  bildung  des  part.  praes.,  gerundiums  und  indic.  im- 
perf.  nicht,  deren  e  Scheindler,  wie  69, 2 e  beweist,  ja  auch  als  binde- 
vocal  auffaszt.   aus  demselben  gründe  ist  natürlich  auch  die  regel 


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A.  Scheindler:  lateinische  schulgrammatik. 


151 


über  die  bildung  der  formen  von  ferre  §  83  nicht  treffend.  —  §  91 
ist  es  nicht  zu  billigen,  dasz  in  der  allgemeinen  Vorbemerkung  zur 
'Wortbildung  durch  ableitung',  die  doch  dann  für  subst.,  adj.,  verb. 
und  ad  verb.  besprochen  wird,  ausschlieszlich  von  nominibus  verbal, 
und  denominat.,  also  von  der  bildung  von  nominibus  gebandelt  und 
darauf  allein  auch  exemplificiert  wird,  anstatt  von  primitivis  und 
derivatis  (seil,  vocabulis).  desgleichen  dürfte  sich  die  besehränkung 

der  worte  mit  der  endung  (^)ura  auf  nomina  rei  actae  kaum  halten 

lassen;  das  angeführte  censura  ist  ebenso  oft  nomen  actionis.  auch 
ist  hier  initium  —  ganz  abgesehen  von  der  oben  schon  angezweifel- 
ten richtigkeit  seiner  Zerlegung  in  ini-tium  —  ein  schlechtes  beispiel 
für  die  bildung  von  bezeichnungen  der  eigenschaft  auf  (t)ium. 

Zahlreichere  ausstellungen  als  an  der  formenlehre  sind 
an  der  syntax  zu  machen: 

§  98,  3  sollten  durchaus  die  lateinischen  verba,  welche  die 
dort  aufgeführten  bedeutungen  haben,  aufgezählt  sein.  —  Beson- 
ders die  casus  lehre  hat  neben  manchem  eigenartigen  und  guten, 
wozu  ich  z.b.  den  verzieht  auf  rhythmische  Zusammenstellungen  von 
verben  gleicher  construetion ,  die  Zusammenstellung  des  accusativs 
des  ausrufs  mit  dem  accusativ  bei  den  verbis  affectuum ,  die  erste 
erwähnung  der  verba  des  kaufens  gleich  beim  genetiv.  pretii,  die 
erklärung  mancher  construetionen  aus  der  etymologie  rechne,  auch 
reichlich  verkehrtes,  im  einzelnen  also  dürfte  106  anm.  weg- 
weisender etwa  also  zu  fassen  sein :  bei  ulcisci  steht  sowohl  die  person 
oder  sache,  die  man  rächt,  als  auch  die  person,  an  der  man  sich  rächt, 
und  die  sache,  für  die  man  sich  rächt,  als  accusativobject;  nur  beim 
zusammentreffen  von  person  und  sache  ist  letztere  von  pro  abhängig 
zu  machen.  —  109  zus.  3  vom  indir.  medium  ist  —  im  nachschlage- 
stoffe !  —  für  schüler  unverständlich ,  da  der  ausdruck  vorher  nicht 
vorgekommen,  überhaupt  nirgends  erklärt  ist;  ein  verfahren,  das 
z.b.  auch  159,2  und  174  zus.  2  zu  rügen  ist.  —  Auch  ist  zu  tadeln, 
dasz  wiederholt  die  fassung  der  regeln  einfach  eine  aufzählung  der 
verschiedenen  möglichen  construetionen  ist,  was  schon  oben  gestreift 
wurde:  111  b  und  anm.  2  klingt  geradezu  irreleitend,  ähnlich  ist  es 
121,  wo  jeder  hinweis  auf  den  hauptunterschied  zwischen  personen- 
und  sachnamen  fehlt,  139  anm.,  wo  man  jede  andeutung  über  die 
fülle  vermiszt,  in  denen  der  blosze  ablativ  von  truppenbezeichnungen 
unmöglich  ist,  oder  196,  wo  man  vergeblich  eine  bemerkung  über 
das  überwiegen  des  indic.  perf.  nach  priusquam  bei  verneintem  haupt- 
satze  und  über  das  vorwalten  des  conjunetivs  bei  demselben  binde- 
wort  sonst  in  der  erzählung  sucht,  man  vergleiche  auch  noch  120,  2 
anm.,  140,  2  anm.,  152  anm.  3  und  153  anm.  3. 

122  wird  der  genet.  bei  den  verben  der  gerichtlichen 
bandlung  als  genet.  causae  bezeichnet,  bei  des  verf.  sonstigem 
streben,  die  construetionen  ursächlich  zu  erklären,  um  so  merkwür- 
diger; es  ist  ein  explicativus  zu  den  abl.  crimine,  nomine  u.  ä.;  eine 


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152  A.  Scheindler:  lateinische  schulgrammatik, 


redensart  von  hoc  crimine  accusatus  hätte  überdies  wenigstens  er- 
wähnt sein  müssen.  —  Geradezu  falsch  ist  auch  124  die  erklärung- 
des  gen  et.  bei  inte  r  est  als  eines  gen.  possessoris,  also  dasz  inter- 
est  patris  wäre:  'es  ist,  gehört  unter  die  dinge  des  vaters*  und  dasz 
er  mea,  tua,  sua,  nostra,  vestra  bei  interesse  als  acc.  neutr.  plur.  ab- 
hängig von  inter  erklärt,  wie  ist  denn  dann  aber  z.  b.  nihil  interest 
zu  erklären?  hiervon  ist  aber  auszugehen:  (nihil)  interest  bedeutet: 
es  ist  (k)ein  unterschied,  macht  (k)einen  unterschied,  und  der  gene- 
tivus  gibt,  wie  man  längst  erkannt  hat,  an,  von  wessen  wegen  (causa) 
es  (k)einen  unterschied  macht,  gleichgiltig  oder  nicht  ^leichgiltig  ist ! 

Von  anfang  bis  zu  ende  ist  die  dar  Stellung  des  da- 
tivus  verfehlt,  schon  in  der  Vorbemerkung  ist  der  ausdruck  'mit 
dem  dativ  ist  der  finale  locativ  verschmolzen ,  daher  bezeichnet  er 
auch  den  erreichten  ort  und  zweck'  unklar,  es  gibt  schlechthin  nur 
einen  locativus,  und  dann  bezeichnet  der  dativus  z.b.  in  auxiliocur- 
rere,  mittere  u.  a.  durchaus  nicht  den  'erreichten'  zweck;  wie  er 
vollends  den  'erreichten'  ort  bezeichnen  soll,  ist  mir  gar  unerfindlich 
trotz  urbi  appropinquare  oder  urbi  muros  circumdare.  —  Scheindler 
unterscheidet  dann  zunächst  1)  einen  dativ  der  beteiligten  person, 
zu  dem  er  den  dativ  des  indir.  obj.  bei  verb.  trans.  (dies  gewis  ebenso 
richtig  als  eigenartig!),  den  dativ  bei  verb.  intrans.  und  den  dativ 
bei  adj.  wie  nützlich,  nötig  u.  ä.  rechnet,  und  2)  einen  dativ  des 
interesses,  'in  dem  die  person  oder  sache  steht,  ftlr  welche  —  in 
deren  interesse  —  etwas  geschieht'  und  unter  den  er  den  dativus 
commodi  und  incommodi,  den  bei  esse  und  den  beim  gerundivum 
unterordnet,  ich  glaube  kaum ,  dasz  es  vielen  verliehen  sein  sollte, 
einen  unterschied  zwischen  diesen  beiden  arten  zu  erkennen;  und 
wie  man  gar  in  moderari  irae,  parcere  templis  eine  beteiligte  person 
ausfindig  machen  kann ,  ist  mir  rätselhaft,  den  dativ  des  Zweckes 
bei  den  verben  'geben,  wählen,  schicken,  kommen'  u.  ä.  setzt  er  dann 
als  besondere  n.  3  an  und  gar  ungeheuerlich  lautet  §  131 :  4)  'der 
dativ  steht  als  prädicat  bei  den  verben:  sum  gereiche,  do,  duco, 
tribuo  rechne  an,  lege  aus;  mit  ihnen  verbinden  sich  da  her  oft  zwei 
dative.'  im  einzelnen  ist  noch  zu  bemerken,  dasz  der  vers  durate 
et  vosmet  rebus  servate  secundis,  den  er  als  beispiel  für  den  dativ 
der  beteiligten  person  im  indir.  obj.  ansetzt,  vielmehr  unter  den 
dativus  commodi  ähnlich  vitae  discere  gehört,  und  126  anm.  sollte 
per su ädere  in  der  bedeutung  'überzeugen'  nicht  mit  'sich  raten', 
sondern  etwa  'sich  einreden'  verdolmetscht  werden. 

Auch  unter  dem  ablativ  ist  nicht  alles  in  Ordnung, 
so  ist  gegen  die  Vorbemerkung  zu  erinnern ,  dasz  der  abl.  nicht  in- 
folge seiner  eigenschaft  als  adverbialer  casus  die  functionen  des  ver- 
lorenen Instrumentalis  und  locativus  mit  übernommen  hat,  sondern 
dasz  er  vielmehr  durch  das  formale  zusammenfallen  der  drei  casus 
in  dem  einen  zum  adverbialen  casus  geworden  ist.  auch  ist  zu  be- 
dauern ,  d asz  Scheindler  auf  eine  strenge  gruppierung  der  arten  des 
abl.  verzichtet,  indem  er  die  gruppen  höchstens  durch  die  fragen: 


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A.  Scheindler:  lateinische  schulgrammatik. 


153 


L  woher?,  II.  wodurch?  wie?,  III.  wo?  wann?  andeutet,  noch  sind 
139  letzte  anm.a.  e.  fidere,  fretus,  confidus,  bei  denen  überdies  auch 
die  verbindnng  mit  dem  dativus  der  person  unbedingt  erwähnt  sein 
mtiste,  fälschlich  unter  dem  abl.  instrum.  statt  causae  aufgeführt; 
und  140,  2  ist  die  erklärung  von  opus  est  mit  abl.«  op(i)s  est  ganz 
willkürlich ;  hätte  nicht  gerade  der  Süddeutsche  mit  seinem  'was 
schaffen^?'  -»  'was  wünschen  Sie,  was  bedürfen  Sie?*  leichter  er- 
kennen sollen,  dasz  auch  zwischen  dem  eigentlichen  opus  'dem  ge- 
schaffenen' und  dem  benötigten,  dem,  womit  uns  etwas  geschafft, 
gedient  ist,  eine  beziehung  bestehen  kann? 

§  159  hätte  vor  allem  bemerkt  werden  sollen,  dasz  dem  intran- 
sitivum  derjenigen  deutschen  verben,  welche  die  active  form  zugleich 
transitiv  und  intransitiv  gebrauchen,  das  lateinische  passivum  ent- 
spricht, wie  terreor,  vehor,  lavor  u.  v.  a.  —  163  anm.  1  schmeckt 
der  ansdrnck  von  der  'einmomentigen  auffassung  einer  lange  dauern- 
den handlung'  so  sehr  nach  'undeutschem  schuljargon',  dasz  er  auch 
einea  ersatzes  durch  eine  verständige  deutsche  erläuterung  bedarf. 
—  §  169  zus.  2  erscheint  mir  die  regel  von  der  tempus folge 
nach  praes.  hist  in  der  fassung :  'nebentempora hauptsächlich  in 
Sätzen,  die  aus  dem  sinne  des  berichter statters  gegeben  sind,  haupt- 
tempora  in  solchen ,  die  aus  dem  sinne  des  subjects  im  übergeord- 
neten satze  gesprochen  sind',  kaum  haltbar;  jedenfalls  ist  das  eine 
beispiel  aus  Caes.  b.  6.  I  5  post  eius  mortem  e.  q.  s.  nicht  glücklich 
gewählt,  da  gerade  zwei  conjunctivische  sätze  das  umgekehrte  Ver- 
hältnis zeigen:  combürunt,  ut  domum  reditionis  spe  sublata  para- 
tiores  ad  omnia  pericula  subeunda  essent  und  persuadent  Eauricis, 
uti . .  una  cum  eis  proficiscantnr.  —  172  sollte  angegeben  sein,  dasz 
es  hauptsächlich  nur  die  indirecten  fragen,  also  auch  die  quin-sätze 
sind,  die  die  Umschreibung  des  conjunct.  fut.  act.  durch  die  conjug. 
periphrast.  benötigen,  und  dasz  umgekehrt  die  sätze  nach  verbis 
limendi,  wo  sich  erfahrungsgemäsz  die  schüler  am  häufigsten  zu  dieser 
Umschreibung  versucht  fühlen,  sie  nie  haben  dürfen. 

Aus  dem  capitel  über  die  modi  in  abhängigen  Sätzen 
möchte  icb  zuerst  den  unglücklichen  ausdnick  'substantivsatz',  der 
zuerst  181  und  dann  oft  erscheint,  getilgt  sehen;  noch  dazu  heiszt 
es  von  ihnen  205,  2:  'die  deutschen  substantivsätze  sind  subject- 
oder  object8ätze ,  als  ob  der  verf.  weiter  keine  Satzarten  darunter 
verstände,  und  doch  bezeichnet  er  z.b.  193*  auch  causalsätze  ebenso 
und  nicht  minder  ebenda  c  sätze  mit  'was  anbetrifft  dasz' !  —  Dann 
ist  §  183  vor  182  zu  stellen,  da  sich  die  ut-sätze  nach  verbis  timendi 
als  ebenfalls  objectsätze  wohl  an  die  objectsätze  in  181 ,  nicht  aber 
an  die  §  182  behandelten  adverbialen  ut-sätze  anschlieszen.  185  darf 
in  dem  für  alle  folgenden  Verwendungen  von  quin  geltenden  köpfe 
dieses  nicht  allgemein  als  fragewort  bezeichnet  werden,  sondern  als 
interrogatives  und  relatives  adverb. 

Mehreres  ist  auch,  abgesehen  von  dem  schon  erwähnten,  wieder 
gegen  die  paragraphen  von  den  temporalsätzen  zu  erinnern. 


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154 


A.  Scheindler:  lateinische  schulgrammatik. 


195  wird  für  die  zeitlichen  bindewörter  postquam,  ut(-),  ubi(-),  cum 
(primum),  simulac  nur  ihre  Verbindung  mit  dem  indic.  perf.  in  der 
erzählung  und  mit  den  bauptzeiten  in  fällen  der  Wiederholung  an- 
geführt; und  doch  haben  einige  selbst  in  der  erzählung  in  fallen  der 
Wiederholung  imperf.  und  plusquamperf.  bei  sich ,  wie  gleich  das  in 
der  anm.  freilich  von  Scheindler  fälschlich  für  eine  ganz  andere  sache 
beigebrachte  beispiel  ausNep.  Ale.  1 4:  simulac  se  remiserat  neque 
causa  suberat  quare  animi  laborem  perferret,  luxuriosus  reperie- 
batur,  man  vgl.  auch  Cic.Verr.  IV  3,  5;  Caes.  b.  G.  IV  26,  2;  Sali, 
conj.  Cat.  IX;  und  umgekehrt  stehen  auch  die  haupttempora  dabei, 
ohne  dasz  von  einer  Wiederholung  die  rede  ist;  vgl.  Cic:  ubi  semel 
quis  peieraverit,  ei  credi  postea  non  oportet,  auch  die  anmerkung  1 
zu  195  ist  falsch ,  von  dem  oben  schon  erwähnten  vierten  beispiel 
ganz  abgesehen,  denn  in  den  ersten  drei  beispielen  für  postquam 
mit  plusquamperf.  bzw.  imperf.,  in  deren  erstem  es  bei  Nepos  (Ale. 
6,  2)  übrigens  potuerant  heiszt,  stehen  diese  zeiten  vielmehr,  um 
einen  seitdem  bis  zum  eintritt  der  handlung  des  übergeordneten 
satzes  andauernden  zustand,  das  imperf.  schlechthin,  das  plusquam- 
perf. mit  rücksicht  auf  seinen  eintritt,  seinen  beginn  zu  be- 
zeichnen, und  postquam  ist  dann  gewöhnlich  und  so  auch  hier  mit 
'seitdem*  zu  übersetzen,  endlich  ist  197  anm.  2  und  3  die  ausein- 
anderziehung  der  fälle  von  cum  temporale  mit  indicativ  in  solche, 
wo  der  cum-satz  vorangeht,  und  in  solche,  wo  er  nachfolgt,  kaum 
gerechtfertigt. 

Zu  einer  merkwürdigen  consequenzmacherei  hat  sich  der 
verf.  in  dem  capitel  über  den  acc.  cum  in  f.,  an  dem  besonders 
die  angäbe  der  manigfachsten  Übersetzungen  für  denselben  lob  ver- 
dient, zumal  in  §  206  verleiten  lassen,  als  ob  nemlich  allen  accusa- 
tivis  cum  inf.  ausnahmslos  in  Unabhängigkeit  aussagesätze  entspre- 
chen müsten  und  man  nicht  vielmehr  über  die  Verbindung  mancher 
verben  und  Wendungen  mit  dieser  construetion  betroffen  wäre,  legem 
brevem  esse  oportet  (205)  soll  es  heiszen,  weil  es  dem  unabhängigen 
lex  brevis  est,  me  ipsum  ames  oportet  dagegen,  weil  dies  dem  unab- 
hängigen me  ipsum  ama  entspräche,  desgleichen  consuetudo  populi 
R.  non  patitur,  ut  Caesar  socios  deserat  soll  gesagt  sein,  weil  das 
unabhängig  laute:  Caesar  socios  deserat!!  oder  garvolo  ne  id  faftias 
wird  richtig  aus  dem  unabhängigen  ne  id  facias,  die  ebenfalls  mög- 
liche Verbindung  volo  rem  tibi  bene  evenire  aber  daraus  erklärt, 
dasz  sie  einem  satze  'res  tibi  bene  evenit'  entspräche!!  diese  ver- 
kehrte auffassung  spukt  auch  in  der  anmerkung  insofern,  als  in  volo 
ut  mihi  respondeas  der  ut-satz  als  nötig  für  den  abhängigen  befehls- 
satz  und  in  'volunt  me  hoc  dicere'  diese  construetion  wieder  als 
nötig  für  den  objectsatz  bezeichnet  wird,  doppelt  schief,  da  auch  ein 
abhängiger  befehlssatz  ein  objectsatz  ist  und  da  beide  male  beide 
construetionen  möglich  sind. 

Das  partieipium  wird  215  ff.  als  attributives,  appositives,  ab- 
solutes und  prädicatives  behandelt,  eine  vierteilung,  die  mehr  be- 


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J.  Steiner  u.  A.  Scheindler :  lateinisches  lese-  und  Übungsbuch.  155 

stechend  als  richtig  ist,  da  das  appositive,  d.  h.  das,  welches  einen 
conjunctionalen  nebensatz  vertritt,  mit  seinem  Substantiv  durchaus 
nicht  anders  oder  in  anderem  sinne  verbunden  ist,  als  das  'absolute' 
im  ablat.  absol.  mit  seinem  ablativus.  endlich  dürfte  in  der  Vers- 
lehre in  §  229  die  angäbe  über  die  kurz  und  lang  zu  sprechenden 
silben  überflüssig,  die  jetzt  vermiszte  auseinandersetzung  über  posi- 
tionslänge  in  demselben  worte  aber  unbedingt  nachzutragen  sein ; 
es  macht  fast  den  eindruck,  als  hätten  §  5  und  §  229,  1  irrtümlich 
ihre  plätze  getauscht. 

Aus  dem  vorstehenden  ist  ersichtlich ,  dasz  die  Scheindlersche 
grammatik  dem  selbstbewustsein,  mit  dem  sie  ihr  verf.  infolge  seines 
rühmlichen  strebens,  möglichst  alle  forderungen  der  neueren  metho- 
dik  und  alle  ergebnisse  der  wissenschaftlichen  forschung  gleich mäsz ig 
zur  geltung  kommen  zu  lassen,  in  die  weit  geschickt  hat,  in  der  aus- 
führung  des  einzelnen  noch  nicht  ganz  entspricht,  doch  wird  es 
zweifelsohne  keiner  allzu  groszen  arbeit  mehr  bedürfen ,  um  das  in 
seinen  erläuterungen  vielfach  gediegene  und  in  seiner  darstellungs- 
art  meist  geschickte  buch  bei  einer  neuen  aufläge  auf  die  höhe  zu 
bringen,  welche  ihm  zu  wünschen  ist,  damit  es  die  Verbreitung  finden 
kann,  welche  es  ob  seiner  knappen  darstellung  des  obligatorischen 
lehrstoffes  und  ob  der  dem  darin  ratsuchenden  ausreichend  gebote- 
nen belehrung  verdient. 

2. 

Vollkommener  als  die  grammatik,  ja  ich  möchte  sagen,  ein 
geradezu  liebenswürdiges  buch  ist  der  erste  teil  des 
zugehörigen  lateinischen  lese-  und  Übungsbuches,  es 
bietet  nach  demgrundsatze,  dasz,  wie  jeder  fremdsprachliche, 
soanchder  lateinische  anfangsunterricht  den  inductiven 
oder  analytischen  weg  gehen  soll,  etwa  nur  ein  viertel  deut- 
schen übungsstof  fes  auf  dreiviertel  lateinischer  lese- 
stücke, die  letzteren  sind  mit  ausnähme  weniger,  meist espruch- 
satze'überschriebener abschnitte  durchweg  zusammenhängend, 
dabei  ist  wirkliche  geschichtsdarstellung,  die  auf  dieser  stufe  leicht 
gekünstelt  wird,  ja  es  wohl  mehr  oder  weniger  sein  musz,  die  über- 
diesjauch ebenso  häufig  veranlassung  wird,  fern  liegende  Wörter  und 
Wendungen  heranzuziehen,  als  sie  schuld  daran  trägt,  wenn  der 
grammatische  stoff  nicht  hinreichend  zur  anschauung  kommt,  fehler, 
an  denen  eben  deshalb  z.  b.  der  sonst  treffliche  Meurer  leidet,  mit 
richtigem  geftthle  im  ganzen  vermieden,  einzelsätze  mit  fremden, 
unvermittelten  namen  natürlich  erst  recht;  und  die  abschnitte  31 
(die  könige  der  alten  Römer),  XCVII  (vom  alten  Gallien)  und  CXVI 
(das  alte  Helvetien)  sind  vielleicht  die  einzigen,  die  man  eben  des- 
halb lieber  missen  würde,  im  übrigen  herscht  ganz  die  darstel- 
lungsart,  wie  sie  dem  gesichtskreise  9jähriger  sexta- 
ner  durchaus  entspricht,  gespräche,  geschichtliche 
auekdoten,  sagen  und  ganz  besonders   fabeln,  dieser 


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156    J.  Steiner  u.  A.  Scheindier:  lateinisches  lese-  und  Übungsbuch. 

musterstoff  für  die  kleinen  rekruten,  und  alles  in  mustergiltiger 
form1,  so  dasz  sie  wirklich,  wie  die  Verfasser  hoffen,  'einer  allmäh- 
lichen bildung  des  gefiibls  für  das  Verhältnis  von  inhalt  nnd  form 
dienen  können.'  das  gilt  selbst  von  den  der  sache  gemäsz  anfangs 
überwiegenden  stücken,  die  weder  sagen  oder  anekdoten,  noch  ge- 
spräche  oder  fabeln  sind,  sondern,  wie  die  verf.  sich  bescheiden  aus- 
drücken, nur  'inhaltlich  zusammengehörige  einzelsätze  Uber  einen 
durch  die  Überschrift  bezeichneten  gegenständ*. 

Wie  anmutendes  hierin  frühzeitig  geboten  wird, 
wird  am  besten  durch  abdruck  einiger  stücke  gezeigt,  so  lautet  schon 
XI  (zur  zweiten  declination) : 

Landaufenthalt. 

1.  quantopere  amo  vitam  rusticam!  2.  cum  negotiis  ac  curis 
liber  sum,  laeto  animo  rectä  vis  ad  villam  avunculi  propero.  3.  populi 
procerae  viam  ornant  umbramque  praebent  4.  en!  iam  avunculi 
villam  video  in  clivo  sitam  et  fagos  pulchras  villae  finitimas.  5.  in- 
terdiu  saepe  cum  avunculo  in  umbra  fagorum  latarum  sedeo;  ventus 
flat  per  fagos  umbrosas;  prope  rivus  murmurat.  6.  sub  vesperum 
quoque  sub  fago  altä  et  latä  sedemus,  cenamus,  cantamus.  7.  quam 
incunda  est  vita  rustica! 

Oder  XXIII  (zur  dritten  declination) : 

Dichter  und  bienen. 

1.  inter  poe'tas  et  apes  non  parva  est  similitudo.  2.  ut  apes 
natura  tantum  aguntur  ad  industriam  et  laborem ,  sie  poe*tae  natura 
valent  et  divinä  mente  incitantur.  3.  apium  sedularum  examina  per 
campos  volitant,  variis  ex  floribus  sueum  dulcem  sugunt  digerunt- 
que  per  favos.  4.  pofc'tae  quasi  per  nemora  Musarum  ambulant, 
flores  colligunt,  carmina  contexunt.  5.  carminibus  poe't arura  homines 
delectantur  ut  melle  dulci.  6.  recte  igitur  poe*tae  saepe  cum  apibus 
sedulis  comparantur. 

Endlich  später  XC1X  (ftfr  esse): 

Die  Unbeständigkeit  der  menschlichen  dinge. 

1.  en !  in  colle  illo  aprico  ante  tria  fere  saecula  arx  fuit  amplis- 
sima  ac  firmissima.  2.  nunc  illius  arcis  muri  tantum  exstant,  qni 
spatia  deserta  continent.  3.  domini  arcis  viri  fuerunt  fortissimi  ac 
nobiliseimi.  4.  nunc  nemo  ibi  habitat;  in  murorum  rimis  avium 
multarum  nidi  sunt  et  densi  frutices  muros  undique  cingunt.  5.  at- 
que  in  hac  planitie,  in  qua  nunc  arva  laeta,  agros  fecundos,  prata 
viridia  videmus,  antiquis  temporibus  urbs  fuit  celeberrima  atque  in- 
signis  commercio  et  studiis  artium  liberalium ;  ingens  fuit  multitndo 
domuum  pulchrarum  et  incolarum  industriorum.  6.  multa  et  insignia 

1  mir  ist  wenigstens  bei  flüchtigem  überlesen  ausser  der  unclas&i- 
schen  Verbindung  von  institnere  (richte  ab)  mit  infin.  in  CLIII  nichts 
aufgefallen. 


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J.  Steiner  u.  A.  Scheindler :  lateinisches  lese-  und  Übungsbuch.  157 

sunt  exempla  inconstantiae  rerum  humanarum.  7.  veteres  Romani 
öomini  fuerunt  totius  fere  Orbis  terrarum:  multae  gentes  eis  ob- 
noxiae  erant,  quae  antea  potentissimae  fuerant.  8.  sed  nimia  potentia 
Romanis  perniciei  fuit.  9.  avaritia  et  luxuria  causa  fuerunt  interitus 
<imperii*>  veterum  Romanorum.  10.  ceterum  tu  quoque,  quam  in- 
finnus  es  et  caducus!  11.  tu  hodie  non  es,  qui  heri  fuisti,  neque  cras 
erb,  qui  hodie  es. 

Man  wird  es  gewis  nur  billigen,  dasz  die  verf.,  um  solchen  stoff 
bieten  zu  können,  bereits  gleichzeitig  mit  der  nominal-  und 
pronominalflexion  den  indic.  praes.  act.  aller  vier  conjuga- 
tionen  lernen  lassen,  auch  der  deutsche  Übungsstoff  besteht  z.  b. 
aus  solchen  zusammenhängenden  stücken;  später,  wenn  die  scbüler 
bereits  einigermaszen  selbständig  mit  einem  Wörterverzeichnis  um- 
zugehen wissen,  auch  aus  erzählungen  mit  neuem  Wörtervorrat,  im 
allgemeinen  ist  jedoch  der  deutsche  Übungsstoff  nicht  so  streng  zu- 
sammenhängend,  und  das  hauptgewicht  ist  darauf  gelegt, 
dasz  darin  der  früher  dagewesene  lateinische  wort- und 
phrasenschatz  möglichst  reichlich  wiederholt  und  ge- 
übt wird  und  dasz  seine  Übersetzung  nach  beherschung  der  voraus* 
gegangenen  lateinischen  stücke  den  schülern  leicht,  ja  spielend  mög- 
lich ist.  hierdurch ,  wie  überhaupt  durch  schrittweises  weitergehen 
vom  leichten  zum  schwereren,  wird  dem  scbüler  die  Zumutung  er- 
spart, leisten  zu  sollen,  was  ihm  zu  schwer  oder  gar  unmöglich  ist, 
und  er  genieszt  so  jene  hebende  und  fördernde  freude  am  können, 
auszer  den  153  lateinischen  und  66  deutschen  lese-  und  Übungs- 
stücken enthält  das  buch  überdies  in  einem  anhange  zunächst  latei- 
nisch und  deutsch  65  Sprichwörter  bzw.  sprichwörtliche  redensarten 
und  dann  nur  lateinisch  als  gedächtnisverse  28  hexameter  und 
6  disticha. 

Das  grammatische  pensum,  dessen  einübung  das  buch 
dienen  will,  ist  die  ganze  wirklich  regelmäszige  formen* 
lehre,  und  zwar  in  dieser  folge:  erste  bis  fünfte  declination,  com- 
paration,  adverbia,  numeralia,  pronomina,  sum  und  composita,  erste 
bis  vierte  conjugation.  ausgeschlossen  sind:  unter  den  compo- 
sita von  esse:  possum,  die  verben  der  dritten  conjugation  auf  io,  alle 
deponentia  und  die  conjugat.  periphrastica ,  sowie  auch  unregel- 
mäßige satzconstructionen,  vor  allem  also  bindewörter  mit  dem  con- 
junctiv  vermieden  sind;  alles  in  allem  eine  beschränk ung ,  mit  der 
man  nur  einverstanden  sein  kann,  da  sie  es  leichter  ermöglicht,  in 
sexta  mit  einem  sicheren  können  einen  fUr  immer  haltenden  grund 
zulegen,  der  lernstoff  ist  dabei  dem  schüler  in  einer  jedem 
übernehmen,  jeder  Uberladung  vorbeugenden  weise  in  klei- 
nen portionen  zugeteilt,  ich  will  als  beispiel  nur  das  verfahren 
bei  der  dritten  declination  anführen:  erst  nach  fünf  lateinischen  und 
zwei  deutschen  stücken  über  die  consonan tischen  stämme  mit  asigmat. 


dies  wort  rate  ich  einzuschieben] 


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158    J.  Steiner  u.  A.  Scheindler:  lateinisches  lese-  und  Übungsbuch. 


nominativ  folgen  in  drei  abschnitten  die  consonantischen  stamme 
mit  sigmat.  nominativ,  dann  in  drei  lateinischen  und  einem  deutschen 
die  gleichsilbigen  feminina  und  in  ebenso  vielen  die  (eigentlich  ja 
auch  gleichsilbigen)  neutra  auf  e,  al,  ar  und  die  adjectiva,  hierauf  in 
zwei  abschnitten  die  Wörter  mit  der  durch  zwei  consonanten  im  stamm 
veranlaszten  genitivendung  ium  und  endlich  in  vielen  oft  durch  wie- 
derholungsstttcke  unterbrochenen  einzelabscbnitten  dives  und  pauper, 
vetus,  ver  und  iter,  ordo  und  sermo,  leo,  die  masculina  auf  is,  auf 
ns  und  x,  os,  cor,  caro,  bos,  Iuppiter,  nix,  senex,  endlich  vis.  schade 
ist  es  nur,  dasz  diese  erfreulich  einfachen  gerichte  nicht,  wie  man  es 
bei  einem  doch  so  unverkennbar  in  Perthes'  geiste  gearbeiteten 
buche  erwarten  sollte,  noch  durch  teilüberschriften  neben  den  groszen 
capitelschildem  I.,  II.  declination,  I(A).  conjugation  u.  ä.  gleich 
kenntlich  gemacht  sind,  denn  dasz  in  der  wortkunde  am  Schlüsse, 
später  am  köpfe  der  gleich  numerierten  abschnitte  die  zahlen  der 
zugehörigen  paragraphen  der  grammatik  angegeben  und  von  den 
hanptgeschlechtsregeln  abweichende  substantiva  stets  in  Verbindung 
mit  passenden  adjectiven  aufgeführt  sind,  kann,  so  willkommen 
beides  ist,  doch  nicht  vollen  ersatz  bieten. 

In  dieser  wortkunde,  die  auch  nach  ihrem  wünsche  aus  den 
bekannten  gründen  gesondert  gedruckt  werden  soll,  geben 
sich  die  Verfasser  ganz  und  gar  als  anhänger  Perthes', 
der  von  stunde  zu  stunde  zu  lernende  und  grosz  und  fett  gedruckte 
memorierstoff  ist  demgemäsz  auf  diejenigen  Wörter  je  nur  der  latei- 
nischen lesestücke  beschränkt,  die  zu  dem  grammatisch  schon  be- 
handelten oder  eben  zu  behandelnden  pensum  gehören,  und  alle  Ver- 
treter späterer  partien  der  grammatik  sind  nur  zur  beiläufigen 
kenntnisnahme  und  unbewusten  aneignung  darunter  in  kleinerem 
drucke  mitgeteilt,  die  Wörter  sind  aber  nach  redeteilen  angeordnet, 
innerhalb  derselben  wieder  nach  conjugationen  und  declinationen  und 
innerhalb  der  letzteren  wieder  nach  der  nominativbildung.  endlich 
ist  für  die  Wiederholung  des  Wortschatzes,  die  zu  seiner  von 
den  verf.  mit  recht  geforderten  festen  beherschung  durchaus  nötig 
istT  in  zweifacher  weise  gesorgt :  einmal  werden  von  den  in  vorher- 
gegangenen lesestücken  dagewesenen  Wörtern  alle,  welche  mit  einem 
neu  auftretenden  verwandt  sind,  unter  diesem  eingerückt  wieder 
abgedruckt,  und  auszerdem  sind  —  nicht  etwa  als  ob  dies  die  ein- 
zigen Zusammenstellungen  bleiben  sollten,  sondern  mehr  als  niuster, 
wonach  des  öfteren  verfahren  werden  soll  —  vor  den  capiteln  über 
die  vier  conjugationen  die  bis  dahin  dagewesenen  sämtlichen  v erben 
der  betreffenden  conjugation  zusammengestellt. 

Eine  hieran  geknüpfte  bemerkung  der  verf.  zeigt  übri- 
gens, wie  sie  sich  den  stoff  der  lesestücke  durch  die 
schüler  beherscht  denken,  die  Wiederholung  jener  verben  soll 
so  erfolgen,  dasz  sie  der  lehrer  der  reihe  nach  aus  der  wortkunde 
mit  der  dort  angegebenen  grundbedeutung  vorliest,  und  die  schüler 
sollen  nun  im  allgemeinen  imstande  sein,  aus  der  erinnerung  den 


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J.  Steiner  u.  A.  Scheindler:  lateinisches  lese-  und  Übungsbuch.  159 

Zusammenhang  anzugeben,  in  dem  sie  vorkamen,  sowie  die  speciellere 
bedeutung,  die  sie  dort  hatten,  nun,  der  stoff  ist  es  ja  wert,  dasz 
also  ernst  gemacht  wird  mit  dem  ausgehen  vom  satze  und  dasz  die 
knaben  ihn  also  einprägen,  und  wenn  es  gelingt,  das  ganze  buch  so 
zu  bewältigen,  wie  seine  verf.  es  wollen,  dasz  nemlich  die  schüler 
unter  anfangs  ganz  peinlicher  und  auf  jedes  wort  sich  erstrecken- 
der, später  mehr  und  mehr  zurücktretender  leitung  durch  den  lehrer 
je  in  einer  stunde  einen  solchen  abschnitt  nachlesen  und  nachüber- 
setzen, und  die  zugehörigen,  vom  lehrer  lateinisch  und  deutsch  aus 
der  wortkunde  vorgelesenen  Wörter  wiederholen,  dasz  sie  daheim 
die  fettgedruckten  Wörter  vollends  lernen  und  die  andern  durchlesen 
und  die  Übersetzung  sowie  die  in  der  schule  nach  Zusammenstellung 
der  musterbeispiele  bereits  geübte  flexion  wiederholen,  dasz  endlich 
in  der  folgenden  etnnde  die  Wörter  genau  Uberhört  und  das  letzte 
stück  noch  einmal  gelesen  und  übersetzt  wird ,  dann ,  ja  dann  steht 
allerdings  die  erreichung  des  von  den  verf.  gesteckten  Zieles,  die 
erreichung  eines  sicheren  könnens  und  die  beherschung 
eines  wertvollen  lesestoffes  und  seines  wort  - und  phra- 
senschatzes  am  ende  des  sextacursus  zu  erhoffen. 

Dasz  übrigens  unter  den  Stammformen  der  verben  auch  in  der 
wortkunde  an  dritter  stelle  das  partic.  perf.  angeführt  ist,  kann  nach 
dem  von  Scheindler  in  der  grammatik  vertretenen  Standpunkte  nicht 
wunder  nehmen,  mehr  wird  mancher  vielleicht  bedauern  und  es  als 
zu  weitgehende  bescbränkung  des  lehrstoffes  auffassen,  dasz  alle 
thätigkeits Wörter,  welche  nur  in  den  der  einübung  der  formen  vom 
prfisensstamme  dienenden  abschnitten  vorkommen,  auch  nur  in  dessen 
formen  angeführt  sind  und  gelernt  werden  sollen. 

Ganz  mit  recht  ist  dagegen  schon  am  Schlüsse  dieser  wortkunde 
für sexta eine  Zusammenstellung  und -erklärung  der  wich- 
tigsten synonjma  und  Wörter  ähnlicher  bedeutung  ge- 
geben; es  sind  immerhin  91  Wörter,  die  hier  in  34  gruppen  geordnet 
und  erläutert  sind,  endlich  sind  ebenfalls  ganz  im  einklang  mit  den 
forderungen,  die  Scheindler  in  solcher  beziehung  im  Vorworte  seiner 
grammatik  stellt,  auch  in  der  wortkunde  alle  lang  zu  sprechen- 
den vocale  in  lobenswerter  weise  ausnahmslos  und  gewissenhaft 
durch  einen  —  bezeichnet,  die  wenigen  verstösze,  die  mir  in 
dieser  beziehung  beim  durchblättern  auffielen  und  hier  angegebeil 
werden  sollen,  sind  folgende,  es  ist  zu  drucken:  XII  erüca  statt 
erüca  und  pirus  und  pirum  statt  pirus  und  p  Trum,  XIII  apis  statt 

äpis,  XCIX  incönstantia  statt  incönstäntia,  CIV  2b  Agis  statt  Agis, 
CLI,  I  digitus  statt  dlgitus,  II  crucis  statt  crücis  und  dir-imo 
statt  dir-imo,  endlich  CLIII  quamdiü  statt  quamdiu. 

Mögen  uns  die  verf.  recht  schnell  eine  reihe  von  Jahrgängen  zu 
Scheindlers  grammatik  gehöriger  Übungsbücher  schenken,  die  wir 
ebenso  willkommen  heiszen  können,  wie  ihren  Vorläufer,  den  vor- 
liegenden ersten  teil  für  sexta ! 

Zittau.  Theodor  Matthias. 


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160       R.  Thiele:  vorlagen  zu  Übersetzungen  ins  lateinische. 


15. 

VORLAGEN  ZU  ÜBERSETZUNGEN  INS  LATEINISCHE  FÜR  DIE  PRIMA  DE8 
GYMNA8IUM8  ZUSAMMENGESTELLT  VON  DR.  BlCHARD  THIELE, 

GYMnasialdireotok.  Breslau,  Koebner.  1891.  III  u.  46  s.  8. 

Die  zahl  der  bücher,  die  bei  uns  geschrieben  sind,  um  die  kunst 
des  Übersetzens  aus  dem  deutschen  ins  lateinische  zu  fördern,  ist  sehr 
grosz,  und  es  wird  in  ihnen  den  manigfachsten  Standpunkten  und  be- 
dürfnissen  rechnung  getragen,  wozu  also  abermals  ein  solches  buch, 
zumal  in  einer  zeit,  die  daraufhinarbeitet,  dasz  der  betrieb  der  deutsch- 
lateinischen  Übungen  zu  gunsten  einer  vielleicht  erweiterten,  jeden- 
falls aber  vertieften  lectüre  eingeschränkt  werde?  aber  gerade  diesen 
umstand  hat  der  verf.  der  vorlagen  berücksichtigt,  wie  das  refor- 
mierte gymnasiuni  aussehen  wird,  kann  er  natürlich  so  wenig  wie 
andere  leute  wissen;  aber  er  geht  sicher  nicht  fehl  mit  der  annähme, 
dasz  man  auch  künftig  noch  an  den  primaner  die  forderung  stellt, 
einen  nicht  zu  schweren  und  zur  Übertragung  in  das  lateinische 
geeigneten  deutschen  text  in  das  lateinische  zu  Übersetzen,  so  passt 
er  sich  der  zukunft  an,  ohne  von  der  gegenwart  abzusehen;  das 
büchlein  wird  später  so  gut  zu  gebrauchen  sein  wie  es  jetzt  gut  zu 
verwerten  ist.  die  aufgaben,  welche  wirklich  deutsch  geschriebenen 
bücbern,  u.  a.  der  griechischen  litteraturgeschichte  von  F.  Bender, 
der  Duruyschen  geschichte  des  römischen  Kaiserreiches  in  der  Über- 
setzung von  Hertzberg,  der  Winckelmannschen  geschichte  der  kunst 
des  altertums  u.  a.  entnommen  sind,  sollen  je  nach  der  Schwierigkeit, 
die  sie  bieten,  für  classenarbeiten  (extemporalien) ,  für  häusliche 
arbeiten  (exercitien)  oder  für  die  sog.  classenexercitien  verwandt  wer- 
den, die  Übersetzungshilfen,  die  der  herausgeber  in  beschränktem, 
aber  doch  ausreichendem  masze  bietet,  sind  durchweg  passend  und 
gut  lateinisch,  womit  nicht  gesagt  ist,  dasz  man  nicht  manches  auch 
anders  wenden  könnte,  und  dem  schüler  wie  dem  lehrer  ist  eine  er- 
wünschte freiheit  der  bewegung  gelassen,  warum  sich  der  verf.  das 
büchlein  ausschlieszlich  in  den  händen  der  lehrer  denkt,  will  mir 
nicht  recht  einleuchten;  es  ist  handlich  und  billig,  und  es  steht 
nicht  zu  befürchten,  dasz  ein  misbrauch  damit  getrieben  werden 
könnte,  würden  die  schüler  ohne  alle  hilfe  gelassen,  so  möchten 
doch  manche  stücke  für  gymnasiasten  der  zukunft  zu  schwer  sein; 
ernste  denkarbeit  wird  auch  so  noch  von  ihnen  gefordert,  wo  es 
also  angeht,  führe  man  die  schrift  ein,  schon  um  der  Zeitersparnis 
willen ;  der  herausgeber  müste  dann  freilich,  wenn  alle  stücke  durch- 
gearbeitet sind,  rechtzeitig  dafür  sorgen,  dasz  aus  ähnlichen  vor- 
lagen, die  er  praktisch  in  seinem  Unterricht  erprobt  hat,  ein  neues 
heft  zusammengestellt  und  der  öffentlichkeit  übergeben  würde. 

Stettin.  Christian  Muff. 


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ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜB  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT  AUSSCHLUSS  DKK  CLA86IHCHKN  PHILOLOGIE 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  DR.  HERMANN  MASIUS. 


(10.) 

BEITRÄGE  ZÜE  GESCHICHTE  DES  HÖHEREN  SCHUL- 
WESENS IN  DER  OBERLAUSITZ, 
(fortsetzung.) 


Obwohl  also  die  schule  keineswegs  unter  kirchlicher  aufsieht 
stand,  war  sie  doch  auch  mit  der  kirche  verbunden,  denn  da  der 
rat,  wie  bereits  erwähnt  wurde,  keinen  gehalt  zahlte,  und  da  ferner 
das  Schulgeld  viel  zu  gering  war,  als  dasz  die  lehrer  dadurch  sich 
hätten  befriedigt  erklären  können,  waren  dieselben  ganz  von  selbst 
auf  die  kirche  und  deren  zahlreiche  einkUnfte  angewiesen,  diese  be- 
zieh ung  war  um  so  natürlicher,  als  einerseits  die  kirche  die  schüler 
notwendig  zum  gottesdienst  brauchte  und  anderseits  die  lehrer 
selbst  in  der  weitaus  größten  anzahl  kleriker  waren,  in  Neisse  waren 
der  rector  und  seine  gebilfen  an  der  pfarrschule  zu  St.  Jacob  unver- 
heiratete kleriker,  und  ihre  haupteinnahmen  hatten  sie  von  altären 
und  von  pf runden. 10  in  der  Breslauer  kirche  zu  St.  Elisabeth  gab 
es  47  altftre  mit  122  altaristen,  in  der  kirche  zu  St.  Magdalena  gar 
58  altäre  mit  124  altaristen,  unter  denen  Schulmeister  waren,  ja  es 
bestanden  geradezu  Stiftungen  für  den  rector  und  seine  gehilfen,  wie 
bei  St.  Maria  Magdalena  in  Breslau  aus  dem  jähre  1449 ,  wofür  sie 
die  frohnleichnamsprocession  durch  ihre  beteiligung  feierlicher  ge- 
stalten sollten. 

Solche  beziehungen  zwischen  kirche  und  schule  waren  auch  in 
Görlitz,   so  erfahren  wir  aus  dem  vergleich  (siehe  darüber  weiter 


10  Pedevritz  in  der  historia  ecclesiastica  ecclesiae  paroch.  s.  Jacobi 
Nissae  bei  Kastner,  programm  Neisse  1865  s.  1  f.  —  Besäglich  Breslaus 
Tgl.  Reiche,  gesch.  des  gymn.  zu  St.  Elisabeth  I  (progr.  1843)  s.  11  und 
Schönborn,  beitr.  zur  gesch.  der  schale  und  des  gymn.  zu  St.  Maria 
Magd,  (progr.  1843)  II  s.  18  f. 

N.jthrb.  f.phil.u.  päd.  U.»bt.  1891  hfl. 4.  11 

* 

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162    Beitrage  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

unten)11,  durch  welchen  1446  der  streit  zwischen  dem  pfarrer  und 
Schulmeister  wegen  der  beköstigung  beigelegt  wurde,  dasz  letzterer 
mit  zur  priesterschaft  gerechnet  wurde ,  und  bei  Hass  (III  s.  303) 
lesen  wir :  fItziger  Lutterischer  zeit  abir  hat  jsz  sich  gar  vmbgekart, 
das  der  Schulmeister  mit  seinen  gehulffen  baccalarien  vnd  cantorj 
alle  beweibet,  das  beyvnsernalden,  auch  noch  für  XV.  etc. 
jaren  ein  vngehort  ding  gewest,  die  mann  nhu  also  mit  jren 
weibern  vnd  kindern  weiter  vnd  grosser  vorsolden  musz  .  .  und 
weiterhin  (s.  307):  c.  .  .  der  Schulmeister  mit  den  baccalaureen  hat 
gehn  müssen  jn  Studenten  kappenn,  gleich  den  priestern..  .* 
bezüglich  der  ersten  behauptung  glaubte  allerdings  Schütt  a.  o. 
s.  10  auf  eine  ausnähme  aufmerksam  machen  zu  müssen :  in  Janke, 
Mem.  I  s.  a.  1400  stehe  neben  M.  Peters  namen  am  rande:  'Anna 
Lemanin,  vxor.  b.  vx.  Hedwig  filia  Petri  von  Salza.'  dieser  M.Peter 
ist  aber  sicher  der  frühere  Schulmeister,  der,  wie  oben  bemerkt, 
1383  stadtschreiber  und  1398  bürgermeister  wurde,  sein  schulamt 
also  niedergelegt  hatte,  für  die  mitwirkung  beim  gottesdienste  er- 
hielt der  Schulmeister  vom  pfarrer  die  beköstigung  (am  tische  des 
pfarrers  hatte  er  seinen  platz  neben  diesem,  siehe  anm.  11)  und  geld, 
die  gesellen  nur  geld";  das  war  seit  dem  anfange  des  15n  Jahrhun- 
derts, wenn  nicht  seit  noch  früherer  zeit  so  gewesen,  ja  der  pfarrer 
hatte  damals  geradezu  mit  dem  Schulmeister  einen  vertrag  abge- 
schlossen, in  welchem  die  gegenseitigen  Verpflichtungen  bestimmt 
worden  waren,  der  pfarrer  Peter  Kalde  freilich  sah  nicht  ein,  'wo- 
rumb  er  sulche  beschwerunge  sines  Tisches  von  einem  Schulmeister 
leiden  dorfiV,  und  verweigerte  um  1445  jenes  abkommen  seinerseits 
zu  halten,  wobei  er  übrigens  nicht  der  erste  war:  klagen  aus  dem 
jähre  1418  über  beeinträchtigungen  der  lehrer  seitens  des  pfarrers 
beziehentlich  dessen  vicars  sind  uns  überliefert."  ob  diese  klagen 


11  aus  Barth.  Scultetus  bei  Schütt  a.  o.  b.  9  f.;  bei  Knauthe  a.  o. 
s.  7  ff.  Joh.  Müller,  Schulordnungen  s.  282  ff.  nach  Knauthe  mit  den 
Varianten  Schutts  auf  8.  360.  die  angezogene  stelle  lautet  nach  Scul- 
tetus-Schütt :  f .  . . sulde  ein  Pfarrer  den  Schulmeister  gleich  andir  sinir 
Priesterschaft  mit  Speise  vnd  tranck  beaorgin  vnd  obir  einem  Tische 
znnehi8t  dem  Prediger  setz  in  .  .  .',  worte,  welche  sich  am  ende  des- 
selben Schriftstückes  wiederholen. 

"  nach  andern  nachrichten  —  vgl.  die  anm.  18  erwähnte  klage  vom 
jähre  1418  mit  einer  stelle  aus  Funckes  annalen  8.  502  f.  (Schütt  s.  8,  6) 
—  war  der  pfarrer  verpflichtet,  auch  den  gesellen,  allerdings  nur  wöchent- 
lich einmal,  ressen  und  trincken  zu  geben'. 

IÄ  sie  finden  sich  unter  dem  jähre  1418  in  Funckes  annalen  (Schütt 
8.  9,  11):  'Hoc  anno  zum  ersten,  dasz  des  Pfarrers  Schaffer  die  Capel- 
lane  die  ersten  vigilias  hatt  lasseu  singen:  welches  dem  Schulmeister 
von  rechte  hätte  gebühret  mit  zu  singen.  It.:  dasz  auch  jährlich  vier 
Bade,  dem  Schulmeister  und  seinen  Leuten  oder  Collegis  abgebrochen 
würden,  ohne  wasz  der  Schulen  sonst  ist  abgebrochen.  It.:  So  gehet 
auch  der  Schulen  ab,  dasz  des  Meisters  Gesellen  nicht  so  offte 
des  Jahres  zu  des  Pfarrers  Tische  als  zuvor  gehen.  It.:  So 
ist  auch  der  Meister  von  seiner  vorigen  Stadt,  niedriger  und  herab- 
gesetzt über  dem  Tische.   It.:  Hiermit  musz  der  Meister  die  erste  Messe 


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"Beitrage  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  163 

etwas  genützt  haben,  wissen  wir  nicht,  Peter  Kalde  muste  sich  aber 
dem  Schiedsspruch  einer  commission  von  sechs  männern  fügen,  die 
nach  genauer  Untersuchung  bestimmten,  dasz  alles  beim  alten  bleiben 
sollte  (vgl.  anm.  11):  der  Schulmeister  und  seine  nach  folger  sollen 
die  rirste  mesze,  die  ZU L MESSE  \  und  die  fvnser  liebin  frawen 
Messe'  taglich  'bestellin  vnd  vszrichten'  lassen,  doch  so,  dasz  die 
letztere  von  nun  an  ganz,  nicht  wie  früher  blosz  bis  zu  dem  Agnus 
Dei ,  gesungen  werde  (es  kam  also  das  f  Dona  nobis  pacem '  noch 
hinzu),  auch  hat  sich  der  Schulmeister  oder  seine  locaten  mit  den 
Schülern  an  den  processionen  der  andern  kirchen,  nicht  blosz  an 
denen  der  Peterskirche,  zu  beteiligen.  f  Ouch  sol  der  Schulmeister 
fürbasz  mehir  den  pfarrer  mit  den  obind  collationib.  vnd  baden  vn- 
bekommert  laszin :  sundir  sich  alleine  by  den  andern  aldin  vnd  guten 
gewonheitin  haldin,  vnd  ist  furder  an  heiligin  vnd  werktagin,  in 
Metten,  Messen  vnd  Vespern  zu  singen,  als  vor  alders  bestellin.' 
dafür  muste  der  pfarrer  sich  von  neuem  verpflichten,  den  Schul- 
meister vollständig  zu  beköstigen,  und  zwar  ihn  *  wider  obir  sinen 
Tisch  zu  setzen',  dem  signator  aber  und  seinen  heifern  für  die  Lieb- 
frauenmesse wöchentlich  zwei  groschen  und  für  die  Zollmesse  einen 
pfennig  zu  geben,  von  der  beköstigung  der  gesellen,  vgl.  anm.  12, 
ist  also  hier  nicht  die  rede,  aus  Hass'  erwähntem  bericht  über  die 
priesterzinsen  (III  s.  307)  erfahren  wir  aber,  dasz  die  'Collaterales' 
bei  den  bürgern  ihren  tisch  hatten. 

Die  erste  erwähnung  der  Zittau  er  schule  fallt  in  das  jähr 
1310,  wo  der  rat  durch  einen  tausch  mit  den  kreuzherren  (Johan- 
nitern) einen  platz  an  der  schule  erwarb;  vgl. Köhler,  cod.  dipl.Lus. 
sup.  I*  s.  195  f.  ohne  allen  zweifei  war  sie,  wie  in  Bautzen  und  in 
Görlitz,  ursprünglich  eine  pfarrschule,  welche  bei  der  hauptkirche 
zu  St.  Johannis  bestand,  der  patronat  über  diese  pfarrkirche  stand 
jedenfalls  dem  könige  von  Böhmen  zu ,  da  Zittau  auch  sonst  unmit- 
telbar unter  ihm  stand;  zudem  haben  wir  bei  Köhler  s.  133  f.  eine 
Urkunde,  durch  welche  Wenzel  II  im  jähre  1291  die  Schenkung  eines 
hauses  an  die  Zittauer  parochialkirche  genehmigt  und  dieselbe  von 
allen  steuern  befreit;  und  Wenzel  II  oder  dessen  Vormund  markgraf 
Otto  von  Brandenburg  ist  es  sicher  auch  gewesen,  der  vor  1291  den 
Johannitern  die  pfarrei  mit  allem  zubehör  übergab,  so  dasz  der 
jedesmalige  Vorsteher  der  Zittauer  Johanniterniederlassung,  der  com- 
mendator,  von  da  ab  stadtpfarrer  war."  nur  die  schule  gieng  nicht 
mit  an  die  neuen  besitzer  Uber,  sie  blieb  eigentum  des  rates.  für 
die  richtigkeit  dieser  ansieht  spricht  der  umstand,  dasz  die  schule 


umbsonst  mit  einem  Schüler  bestellen,  die  doch  zuvor  ein  Pfarrer  be- 
stellt hatte.' 

11  1291  nehmen  wir  mit  Knothe  (nachtrage  zur  presbyterologie  des 
Zittauer  weichbildes  vor  der  reform,  in  dem  laus.  Mag.  bd.  61  p.  138) 
als  terminus  ante  quem  deshalb  an,  weil  in  einer  Urkunde  (Köhler  a.  o. 
s.  133  f.)  vom  jähre  1291  der  plebanus  Fridericus  als  frater  d.  h.  des 
Johanniterordens  erscheint. 

11« 


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164     Beiträge  zur  geschieh te  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlansitz. 

unmittelbar  neben  dem  pfarrhofe,  dem  späteren  sitze  der  kreuz- 
herren,  lag,  und  dasz  diese  den  ganzen  häusercomplex  und  das  ganze 
areal  rings  herum  bei  der  Übertragung  der  pfarrei  erhielten ,  einzig 
und  allein  das  scbulgebäude  ausgenommen;  eben  infolgedessen  sah 
sich  der  rat  gezwungen,  als  er  den  platz  an  der  schule  gern  haben 
wollte,  mit  den  kreuzherren  den  erwähnten  tausch  einzugehen. 

Da  also  die  schule  dem  rate  gehörte,  nahm  dieser  natürlich  auch 
für  sich  das  recht  in  anspruch,  den  Schulmeister  zu  wählen  und  ein- 
zusetzen, allein  nach  und  nach  mochte  er  zu  der  einsieht  gelangt 
sein,  dasz  es  besser  sei ,  wenn  das  Schulwesen  in  der  band  der  geist- 
lichkeit  liege,  und  so  Ubertrug  er  das  recht  der  berufung  des  meisters 
dem  commendator  im  jähre  1352  durch  einen  vertrag  (Carpzov, 
Anal.  Fastor.  Zitt.  III  s.  96;  auch  bei  Joh.  Müller,  vor-  und  früh- 
reform.  Schulordnungen  8.  23  f.).  vielerlei,  was  auch  anderwärts 
bei  der  entwicklung  der  Stadtschulen  eine  rolle  spielte,  tritt  uns  in 
den  wenigen  Worten  dieses  Schriftstückes  entgegen,  mit  aller  be- 
stimmtheit  verkündet  der  rat  in  den  eingangsworten,  dasz  die  schule 
ihm  gehöre,  und  dasz  das  recht  der  Verleihung  ihm  zustehe,  trotz- 
dem tritt  er  die  bauptsorge  um  die  anstalt,  die  wähl  des  rectors,  ab, 
weil,  wie  er  sagt,  *der  comptor  sich  besser  verstehet,  welch  meiste r 
zu  der  Schule  tüchtig  sey',  in  Wahrheit  wohl  hauptsächlich  deshalb, 
um  dem  Schulmeister  ein  besseres  einkommen  zu  verschaffen,  denn 
wie  in  Görlitz  wird  sich  der  rat  nur  darauf  beschränkt  haben,  ihm 
die  wohnung  und  das  Schulgeld  zu  gewähren,  wozu  etwa  kleine  ein 
kttnfte  von  gottesdienstlichen  Verrichtungen  und  von  dienstleistungen 
beim  Stadtrate  kommen  konnten  (stadtschreiberdienste).  günstiger 
aber  wurde  die  läge  des  Schulmeisters ,  und  viel  mehr  gelegenheit 
bot  sich  ihm,  sein  einkommen  zu  erhöhen,  wenn  er  von  dem  com- 
mendator gewählt,  engeren  anschlusz  an  die  priesterschaft  hatte  als 
früher,  wie  an  andern  orten,  so  kommen  auch  in  Zittau  während 
der  zeit,  die  wir  hier  im  auge  haben,  sogar  beispiele  vor,  dasz  Schul- 
meister ganz  in  das  geistliche  amt  übertreten:  M.Joh.  de  Lieberosa, 
seit  1381  rector,  wurde  1403  caplan  in  Zittau,  und  M.  Michael 
Arnold,  rector  bis  1511,  starb  als  Zittauer  messpriester  im  jähre 
1537;  siehe  Pescheck,  handbuch  der  geschiente  von  Zittau  I  8.  542. 
als  untergebener  des  commendators  soll  der  meister  'furcht  vor  ihm 
haben,  dass  er  den  chor  und  auch  die  schule  halte  nach  ehren  und 
nach  weiszheit  und  auch  nach  rechte',  die  besorgung  des  chores 
wird  also  besonders  hervorgehoben,  ein  neuer  beleg  dafür,  dasz  die 
schule  eben  wegen  des  gottesdienstes  mit  der  kirche  in  beziehung 
stand  und  für  dieselbe  bedeutung  hatte,  das  lehren  uns  auch  einige 
Stiftungen,  aus  denen  der  Schulmeister  sein  einkommen  vermehrte: 
seit  1468  bezog  er  für  seine  beteiligung  an  den  donnerstagproces- 
sionen  zwei  groschen,  seit  1476  von  dem  singen  des  'Tenebrae'  zwei 
Schillinge,  wovon  den  locaten  ebenso  viel  zukam,  und  seit  1519  von 
dem  'Salve  Regina'  zwölf  groschen,  während  seine  gesellen  vierzehn 
groschen  erhielten,    mit  der  bemerkung,  der  rat  werde,  wenn  sich 


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Beitrage  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  165 


der  commendator  'krieglich  halten  wollte',  sein  recht  wieder  zurück- 
fordern, schlieszt  der  vertrag,  dieser  fall  könnte  1511  eingetreten 
sein,  da  in  diesem  jähre  nach  Dörings  annales  gymnasii  Zittaviensis 
der  rector  durch  den  rat  eingesetzt  wurde,  eine  erklärung,  welche 
uns  näher  zu  liegen  scheint,  als  die  Gärtners  (im  progr.  zum  jubil. 
des  gymn.  zu  Zittau  1886  'die  Zittauer  schule  bis  zur  grttndung  des 
gymnasiums'),  welcher  vermutet,  'der  rat  habe  sich  bei  der  wähl  des 
Schulmeisters  gewisse  rechte  vorbehalten.'  davon  steht  aber  in  dem 
erwähnten  vertrage  nichts ,  es  müste  also  weiter  vermutet  werden, 
dasz  ein  derartiges  abkommen  erst  später  getroffen  worden  sei.  — 
Im  ganzen  dürfte  sich  die  Zittauer  schule  einer  ruhigen  Entwicklung 
erfreut  haben,  eben  weil  das  recht  auf  die  schule  durch  jenen  ver- 
trag von  1352  60  überaus  klar  angegeben  war. 

Von  der  schule  in  Lauban,  deren  existenz  nach  unseren  frühe- 
ren ausfuhrungen  etwa  seit  der  mitte  des  13n  jahrhunderts  anzu- 
nehmen ist,  erhalten  wir  die  erste  künde  im  anfange  des  14n  jahr- 
hunderts: s.  a.  1317  wird  in  den  Chroniken  der  stadt  (im  archiv  des 
magistrates  zu  Lauban)  erzählt,  der  rat  sei  'mit  ihren  priestern  und 
Schülern'  dem  zuge  entgegengezogen,  der  von  Friedland  her  die 
leiche  des  in  Prag  verstorbenen  herzogs  Wenzeslaus  von  Schlesien 
durch  Lauban  geleitete,  auch  diese  schule  war  eine  städtische  und 
ohne  zweifei  aus  der  schule  bei  der  pfarrkirche  entstanden,  denn  in 
der  zeit,  in  welche  wir  die  allmähliche  entwicklung  der  schule  zu 
setzen  haben,  war  in  Lauban  niemand,  der  sich  um  das  Schulwesen 
kümmern  konnte,  auszer  dem  stadtpfarrer  und  nachher  dem  rate ; 
das  nonnenkloster  wurde  erst  1320  und  das  der  Franciscaner  1332 
gegründet,  und  unter  städtischem  patronat  ist  die  schule  geblieben, 
die  zeit  etwa  abgerechnet,  in  der  das  nonnenkloster  von  seiner  grün- 
dung  an  das  ius  patronatus  über  die  kirche  und  damit  vielleicht  auch 
über  die  schule  ausübte,  mag  das  so  gewesen  sein ,  oder  mag  man 
hier  Verhältnisse  annehmen,  die  den  Zittauischen  ähnlich  waren, 
jedenfalls  kam  das  ius  patronatus  über  die  kirche  im  jabre  1348 
wieder  an  die  stadt  '*,  und  ihr  verblieb  es  hinfort  trotz  vieler  ver- 
suche seitens  des  klosters,  es  ihr  streitig  zu  machen. 

Dasz  aber  zwischen  der  schule  und  dem  nonnenkloster  beziehun- 
gen,  wenngleich  nur  äuszerliche,  bestanden,  ist  deshalb  von  vorn 
herein  anzunehmen ,  weil  der  rat  von  Lauban  ebenso  wenig  wie  der 
anderer  Städte  um  den  unterhalt  der  von  ihm  berufenen  lehrer  sich 
gekümmert,  sondern  dies  der  kirebe  überlassen  hat. ,s  da  nun  das 
kloster  bei  seiner  gründung  das  ganze  kirchengut  von  Lauban  er- 
hielt, so  übernahm  es  auch  die  Verpflichtung,  für  den  unterhalt  der 

15  vgl.  Gründer,  chronik  von  Lauban  s.  61  ff.  nnd  Müller,  kirchen- 
geseb.  der  Stadt  Lanban  s.  426  ff.,  wo  eine  Urkunde  (1447)  abgedruckt 
ist,  in  welcher  der  magistrat  von  seinen  kirchen  und  Capellen  spricht. 

16  nach  den  Laubaner  Chroniken  (vgl.  die  Zusammenfassung  der- 
selben durch  Datke  im  archiv  zu  Lauban  bd.  I  s.  229)  hat  der  Schul- 
meister erst  ungefähr  seit  1535  eine  geringe  Unterstützung  vom  rate  be- 
zogen,   vgl.  noch  Datke  I  s.  242  f. 


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1 66     Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

1  tihrer  zu  sorgen,  oder  wenigstens  dazu  eine  beisteuer  zu  geben.17 
dies  erhellt  deutlich  aus  dem  1584  zwischen  dem  rate  und  dem  dorn- 
dechanten  Leisentritt  abgeschlossenen  vertrage  (abschrift  im  archiv 
zu  Lauban,  abgedruckt  bei  Müller,  kirch engeschichte  s.  211),  durch 
welchen  der  rat  sich  verpflichtete,  die  'kireben-  und  schuldiener' 
fernerhin  zu  beköstigen,  gleich  im  anfange  lesen  wir  folgendes: 
'.  .  .  demnach  der  würdige  convent  und  jungfrauenkloster  dieser 
stadt  Lauban  von  alters  her  den  caplanen  oder  diaconis  samt  dem 
kantor  unserer  schule  auf  dem  pfarrhofe  des  klosters  stets, 
vermöge  der  aufgerichteten  fundation  oder  Stiftung,  einen  freien 
tisch  zu  halten,  und  sie  mit  speise  und  trank  zu  versorgen  ist  schuldig 
gewesen  .  .  .',  und  weiterhin:  'dagegen  verwilligen  wir  (btirger- 
meister  und  rathmanne  der  stadt  Lauban)  und  sagen  zu  vor  uns  und 
unsere  nachkommen,  gemeldte  kirchen-und  schuldiener,  ohne  einiges 
des  klosters  zuthun,  nicht  allein  mit  speise  und  trank  zu  versorgen, 
sondern  .  .  .  .'  —  Ob  der  Schulmeister  und  seine  übrigen  gesellen, 
wenn  solche  vorhanden  waren,  auch  vom  kloster  beköstigt  wurden, 
erscheint  nach  dem  angeführten  sehr  zweifelhaft;  die  Verbindung 
der  worte  'die  kirchen-  und  schuldiener'  wenigstens  ist  nicht  dahin 
zu  erklären ,  sondern  vielmehr  als  ein  zusammenfassender  ausdruck 
für  die  oben  genannten  'capläne  oder  diaconis  samt  dem  cantor'  auf- 
zufassen, wie  es  aber  kam,  dasz  nur  des  cantors  gedacht  wird,  kann 
wegen  des  fehlens  jeglicher  nachricht  nicht  entschieden  werden,  sei 
es,  dasz  zur  zeit  der  grtindung  des  klosters  der  cantor  der  einzige 
lehrer  an  der  Stadtschule  war,  oder  dasz  eben  nur  der  cantor  wegen 
seines  zum  grösten  teile  kirchlichen  dienstes  diese  Vergünstigung 
genosz.  jedenfalls  wird  es  in  den  Chroniken  besonders  hervor- 
gehoben, wenn  auch  der  Schulmeister  den  freien  tisch  im  kloster 
hat,  wie  es  der  fall  war,  als  Jobannes  Froben,  der  vierte  Lutherische 
stadtpfarrer,  1538  gewählt,  auf  das  essen  im  kloster  verzichtete,  'da 
er  ihm  ja  nicht  wieder  dienen  könnte' ;  '  insofern  es  aber  von  alters 
her  recht  und  gerechtigkeit  war,  dasz  der  prediger  und  vier  capläne 
vom  kloster  beköstigt  werden  musten ,  und  man  dieses  recht  nicht 
so  stillschweigend  aufgeben  wollte ,  so  liesz  man  nun  unter  Zustim- 
mung der  priorin  dem  Schulmeister  oder  rector  dafür  auf  dem  pfarr- 
hofe den  freien  tisch  geben'  (Datke  I  s.  243) ;  dieses  ausnahmever- 
hältnis  dauerte  bis  1584. 

Wenn  somit  der  Schulmeister  beziehentlich  die  übrigen  lehrer 
im  kloster  von  jeher  ihre  beköstigung  nicht  erhielten,  so  geht  doch 


17  vgl.  Datke  I  s.  239,  wo  wir  bezüglich  der  geistlichen  folgendes 
lesen:  f.  .  .  Endlich  ob  nun  zwar  der  Rat  nach  gelegenheit  der  Zeit  zu 
erhaltung,  einigkeit  und  Friedens  gutwillig  die  Kapläne  und  Prediger  von 
ihrem  Kathause  besolden,  so  will  der  Rat  solches  nicht  ah  ein  Recht  und 
Pflicht  verbünden  und  verpflichtet  sein,  sondern  ...  da  das  Kloster 
der  Pfarr-Güter  und  Einkommen  innen  hat,  so  soll  das 
Kloster  die  Kapellane  nach  den  .  .  .  Verträgen  versorgen. 
Ist  beiderseits  unterschrieben  und  besiegelt  worden.» 


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Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlauaitz.  167 

aus  verschiedenen  quellen  hervor,  dasz  das  kloster  an  sie  gewisse 
geldbetrfige  für  dienste,  die  sie  mit  ihren  scbülern  beim  gottesdienste 
leisteten,  zu  zahlen  hatte,  denn  obwohl  die  klosterkirche  zugleich 
stadtkirche  war,  und  daher  die  nonnen  den  gesang  allein  hätten  be- 
besorgen können,  so  wurde  doch  die  hilfe  der  schüler  nicht  ver- 
schmäht, abgesehen  von  zwei  diesbezüglichen  nachrichten  aus  den 
Chroniken 15  befindet  sich  folgende  stelle  in  dem  vertrage  von  1488, 
den  der  rat  mit  dem  kloster  schlosz,  um  das  infolge  der  Hus- 
sitenunruhen  sehr  darniederliegende  kirchenwesen  wieder  zu  heben 
(Gründer  s.  57 ff.) : . .  So  pflegen  dy  schüler  metten  zcu  syngen  als  dytz 
vor  aldirs  noch  gutter  vndirrichtunge  alzo  gehalden  ist  wordin  . . .', 
und  nach  demselben  vertrage  sollen  dem  Schulmeister  14  gr.  gezahlt 
werden  aus  einer  Stiftung,  welche  'Erbar  namhafftige  gutte  frome 
Lewte'  gemacht  hatten,  nach  einer  Urkunde  vom  jähre  1487,  in  der 
dieselbe  Stiftung  der  ehrbaren  usw.  leute  erwähnt  wird  (bei  Müller 
8.  68),  erhielt  der  Schulmeister  mit  seinen  locaten  jene  summe, 
eine  andere,  jedenfalls  sehr  alte  Stiftung  war  das  Salve  Regina,  von 
welchem  in  den  Chroniken  1427  bei  gelegenheit  des  durch  die  Hus- 
siten  verübten  blutbades  die  rede  ist;  aus  den  kirchenrechnungen 
ergibt  sich,  dasz  das  capital  29  mark,  die  zinsen  1  mark  21  gr.  3  pf. 
betrugen,  wovon  der  geistliche,  der  Schulmeister  und  der  glöckner 
ihren  teil  erhielten,  selbst  auch  dafür  scheint  in  Lauban  ein  beispiel 
angeführt  werden  zu  können,  dasz  der  rector  zugleich  altarist  sein 
konnte  (vgl.  oben  s.  161  und  anm.  10).  die  art  und  weise  wenig- 
stens, wie  in  den  annalen  davon  gesprochen  wird,  läszt  eine  solche 
annähme  auf  alle  fülle  zu.  Wiesner  berichtet  s.  a.  1496,  der  land- 
vogt  Siegmund  von  Wartenberg  habe  an  den  rat  geschrieben:  'Es 
hätte  der  Rath  von  Liegnitz  an  ihn  geschrieben,  und  gebethen,  er 
wolle  Martin  Baiern,  Mitbürgern  und  Rathsgenossen  allhier  zum 
Lauban,  eine  Vorschrift  an  den  Rath  anhero  geben,  dasz  sie  M.  Mar- 
tino  Baiern,  seinem  Sohne,  so  allhier  Schulmeister  sey,  das  Lehen 
und  Altare,  so  ietzt  entledigt  sey,  in  S.  Georgencapellen,  verleihen 
und  geben  wollen.' 

Sehr  dürftig  sind  die  nachrichten  über  die  schule  zu  Löbau; 
denn  in  dem  uns  hier  beschäftigenden  Zeitraum  wird  ihrer  einmal 
urkundlich  und  je  einmal  in  Zittauer  und  Bautzener  annalen  gedacht, 
in  einem  vertrage  des  rates  zu  Löbau  mit  dem  stadtpfarrer  vom 
4  november  1359  (cod.  dipl.  Sax.  reg.  II,  VII  s.  XXXIX  u.  s.  233; 
Job.  Müller,  archiv  VIII  s.  264)  wird  unter  den  zeugen  Marcus 


19  Wiesner,  annalen  8.  a.  1182:  den  schülera,  welche  sich  während 
der  hohen  messe  am  pBngstmontage  auf  dem  schülcrchore  der  pfarr- 
kirche  befanden,  wurden  durch  einen  blit« strahl  r  die  haare  auf  den 
häuptern  entzündet';  und  aus  dem  memorabilienbuche  vom  kloster  zu 
Lauban  von  Arlet  erfahren  wir,  dasz  1542  die  klosterjungfrauen  'Von 
den  Schullchor  abgesondert1  wurden;  rdann  bisz  hero  hatten  die  Geist- 
liche Jungfrauen  das  Chor,  Psalmen,  Hymnos  etc.  wechselweisze  mit 
den  Scholl  Chor  gehalten',    vgl.  laus.  mag.  bd.  33  s.  58. 


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168    Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

nostrarum  scolarum  informando  gubernator  genannt,  sodann  wird 
nach  der  Vorbemerkung  der  jahrbücher  des  Zittauer  stadtschreibers 
Johannes  von  Guben  und  einiger  seiner  amtsnachfolger 19  Conrad us 
Wiszinbach,  natus  de  Esschenwege,  civitate  Hassie,  im  jähre  1395 
als  stadtschreiber  vom  rate  zu  Zittau  angenommen,  nachdem  er  vor- 
her elf  jähre  lang  'rector  scole  et  notarius  civitatis  Lobauie*  (also 
1384 — 1396)  gewesen  war.  die  dritte  erwähnung  endlich  sagt  uns, 
dasz  um  1430  ein  schulgebäude  vorhanden  war:  denn  es  heiszt  in 
den  Bautzener  annalen  des  bürgermeisters  Joh.  Günther  zu  dem 
Jahre  1430:  'combusta  est  civitas  Lobaw  per  brassatorem  unum 
prope  Scholaifr,  qui  coepit  pecuniam  ab  haereticis'  (von  den  Hus- 
siten) . .  .w  dasz  die  pfarrschule,  welche  in  Löbau  bestand,  vollständig 
zu  einer  von  der  kirche  unabhängigen  Stadtschule  wurde,  geht  un- 
trüglich aus  dem  titel,  den  der  Schulmeister  in  der  Urkunde  von 
1359  führte,  hervor  und  daraus,  dasz  er  dort  als  zeuge  der  Stadt  er- 
scheint, dasz  der  rector,  wie  an  anderen  orten,  z.b.  in  Iglau  und  in 
Plauen  i.  V.81,  als  notarius  dem  rate  diente  und  damit  sein  einkom- 
men  erhöhte,  erfahren  wir  aus  der  zweiten  stelle.  Wiszinbach  muste 
sich  als  stadtschreiber  ganz  besonders  bewährt  haben,  da  ihn  der 
Zittauer  rat  wieder  in  die  frühere  heimat  zurückrief  und  ausschließ- 
lich als  notarius  anstellte.  —  Über  beziehungen  zwischen  der  kirche 
und  der  schule  ist  nichts  überliefert,  doch  wird  man  kaum  irren, 
wenn  man  für  Löbau  ähnliche  Verhältnisse  annimmt,  wie  sie  für 
Görlitz  und  Lauban  festgestellt  wurden. 

Am  spätesten  von  den  sechsstädtischen  schulen  wird  die  zu 


19  im  ersten  bände  der  scriptores  rorum  Lusaticar.  (neue  folge) 
s.  1  ff.  unsere  stelle  findet  sich  s.  2:  fA.  D.  MCCCXCV  .  .  .  dimisit 
notariam  cinitatis  Johannes  Hertil,  qui  saccessit  in  officio  prescriptum 
Joh  annern  Gnbin,  pie  memorie:  et  loco  sui  (=  Hertelii)  aeeeptatus  fuit 
Conradas  Wiszinbach,  natns  de  Esschenwege,  ciaitate  Hitssie,  qui  prins 
tempore  rectoris  scole  huius,  magistri  Petn  Cz wickers  de  Wormpnijt, 
ciuitate  Pruszie,  .  .  .  fuit  locatus  et  succentor  tribus  annis;  dejnde  post- 
quam  magister  Petrus  intrauit  ordinem  (seil.  Celestinorum),  fuit  idem 
Conradus  rector  scole  et  notarius  cinitatis  Lobanie  vndeeim  annis; 
deinde  anno  et  die  prescripto  aeeeptauit  notariam  huius  cinitatis.'  die 
Zeitangabe  1395  für  den  amtsantritt  W.s  ist  vor  der  des  chron.  Kiess- 
ling  1393  bei  Gärtner  a.  o.  s.  5  vorzuziehen. 

t0  nach  Knothe,  vorbericht  zu  dem  urkundenbuch  der  städte  Kamenz 
und  Löbau  (cod.  dipl.  8ax.  reg.  II,  VII)  s.  XXXVI  anm.  51  sind  diese 
annalen  nicht  mehr  aufzufinden;  die  stelle  hat  Knautbe,  kurze  geschiente 
der  schule  in  Löbau,  Görlitz  1766,  s.  2  f.  überliefert,  die  jahresangabe 
1430  ist  aber  zu  ändern  in  1429  —  vgl.  Kloss,  historische  nachricht  von 
dem  Hussitenkriege  in  Oberlausiz,  vierte  probe;  provinzialblätter,  her- 
ausgegeben von  der  Oberlaus,  gesellschaft  der  Wissenschaften,  6s  stück, 
s.  157,  woraus  auch  Knothe,  vorbericht  s.  XXXV  schöpft;  Borott,  ge- 
schieh tc  des  Schulwesens  der  Lausitz,  insbesondere  der  Stadt  Löbau 
(88  Seiten),  Löbau  1857,  s.  28,  hat  den  zahlenfehler  aus  Knautbe  mit 
übernommen  und  die  nicht  belegte  angäbe  hinzugefügt,  'damals  sei  auch 
die  schule  abgebrannt'. 

fl  vgl.  H.  J.  Kämrael,  geschichte  des  deutschen  Schulwesens  p.  130. 
Joh.  Müller  im  archiv  bd.  VIII  s.  253. 


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Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  169 


Kamenz  genannt,  nemlich  im  jähre  1438,  obwohl  hier  schon  seit 
dem  anfang  des  13n  Jahrhunderts,  wo  Bernhard  I  von  Kamenz  das 
dorf  zur  Stadt  erhob,  sicher  aber  seit  1225,  wo  die  pfarrkirche  (nach 
einem  brande  von  Bernhard  II  wieder  erbaut)  von  neuem  geweiht 
wurde,  ein  geordnetes  kirchenwesen  bestand,  jene  erste  erwähnung 
der  schule  findet  sich  im  stadtbuch  und  beiszt:  .  .  da  itzund  der 
alte  Schulmeister  Rozinkranz  inne  wohnet'  (cod.  dipl.Sax.  reg.  II,  VII 
8.  XXIV).  wie  anderwärts,  so  waren  auch  in  Kamenz  die  lehr  er  und 
die  schüler  am  gottesdienste  beteiligt:  eine  reihe  von  Urkunden  aus 
den  jähren  1478,  1485,  1506,  1508,  1520  usw.  (cod.  dipl.Sax.  reg. 
II,  VII)  enthalten  darüber,  was  die  lebrer  mit  den  schülern  zu  leisten 
hatten,  genauere  bestimmungen,  genauer  und  zahlreicher  als  bei  den 
übrigen  Sechsstädten,  und  wie  bereits  angeführt  wurde,  flössen  dem 
Schulmeister  und  seinen  1  ocaten  aus  solchen  Verrichtungen  bestimmte 
be träge  zu,  welche  für  sie  eine  nicht  zu  verachtende  einnahmequelle 
bildeten. 

Obwohl  dem  kloster  Marienstern  der  patronat  über  die  pfarr- 
kirche nebst  allen  ihren  einktinften  zustand,  so  wird  doch  die  schule 
ganz  und  gar  der  stadt  gehört  haben,  ein  grund  für  die  richtigkeit 
dieser  annähme  darf  vielleicht  in  der  Urkunde  vom  9  august  1565 
erblickt  werden ,  durch  welche  von  dem  domdecbanten  Leisentritt 
das  Kamenzer  Franciscanerkloster  dem  rate  als  eine  .  in  reliqua 
parte  pro  juventute  Camencensi  ad  vere  christianam  pietatem  pro- 
movenda  bonisque  artibus  ad  debitam  disciplinam  erudienda  sedes 
scholae'  übergeben  wird." 

Es  ist  nun  noch  der  Franciscaner  zu  gedenken,  deren  Ver- 
hältnis zur  schule  bisher  ganz  auszer  acht  gelassen  worden  ist.  wir 
können  uns  dabei  um  so  kürzer  fassen,  als  sich  herausstellen  wird, 
dasz  dieser  mönchsorden  in  den  Sechsstädten  auf  die  vorhandenen 
schulen  gar  keinen  einflusz  hatte,  wir  gehen  die  einzelnen  städte 
schnell  durch,  für  Bautzen  findet  sich  in  den  Chroniken  nur  ein  ein- 
ziges mal  eine  nachricht  darüber,  dasz  die  Franciscaner  sich  mit 
unterrichten  beschäftigten,  unter  dem  jähre  1408  wird  nemlich  in 
der  Technischen  chronik  die  hinrichtung  eines  gewissen  Preusel- 
witz  erzählt,  der  bei  den  unruhen  in  Bautzen  in  jenem  jähre  ganz 
besonders  beteiligt  war;  fer  sei',  so  wird  hinzugefügt,  'des  lesens 


**  cod.  dipl.  Sax.  reg.  II,  VII  s.  219.  vgl.  Knothe,  die  Franciscaner 
in  Löban  und  Kamenz,  in  den  beiträten  zur  sächsischen  kirchengesch., 
herausgegeben  von  Dibelius  nnd  Lechler,  I,  1882,  s.  122.  vgl.  auch  be- 
züglich des  ins  patronntns  Richter,  das  alte  gymnasium  in  Jena  (oster- 
progr.  1887}  s.  3,  wo  wir  finden,  dasz  dem  dortigen  Cistercienserinnen- 
kloster  das  regimen  scholarinm  et  scbola  cum  officio  campanicie 
(glöckneramt)  omni  iure,  quod  dominus  Rudigerus  suique  antecessores 
plebani  parochie  sancti  Michaelis  ab  antiquo  in  dictis  officiis  habuerunt 
ausdrücklich  mit  tibergeben  wird,  über  die  abtretung  der  verschiedenen 
rechte  an  dns  Kamenzer  Cistercienserinnenkloster  und  Uber  deren  be- 
stätigung  sind  im  cod.  dipl.  Sax.  reg.  II,  VII  gleich  im  anfang  mehrere 
Urkunden  abgedruckt,  in  denen  die  schule  aber  nicht  erwähnt  wird. 


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170     Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausits. 

und  Schreibens  am  mächtigsten  gewesen,  weil  er  bei  den  mönchen 
in  die  schule  gegangen',  diese  nach  rieht,  welche  übrigens  Edelmann, 
das  Franciscanerkloster  in  Bautzen  (Laus.  mag.  bd.  49  s.  1  ff.)  nicht 
kennt,  sagt  uns,  was  wir  auch  ohne  sie  vermutet  haben  würden,  dasz 
nemlich  die  manche  eine  gewisse  anzahl  von  knaben  unterrichteten, 
vor  allem  im  lesen  und  singen,  um  deren  Unterstützung  beim  gottes- 
dienste  zu  haben,  das  wird  nicht  nur  in  Bautzen ,  sondern  auch  in 
den  andern  Sechsstädten  so  gewesen  sein,  dasz  aber  die  Bautzener 
manche  in  ihren  leistungen  in  der  schule  sich  noch  ein  wenig  über 
die  der  mönche  in  den  andern  Städten  erhoben,  dafür  liegt  kein 
Zeugnis  vor;  wir  könnten  es  aber  annehmen  bei  der  beständigen 
rivaiität,  welche  auch  sonst  zwischen  dem  capitel  und  dem  kloster 
bis  zur  reformation  herschte  (siehe  Edelmann  a.  o.),  wenn  dem 
nicht  wieder  die  thatsache  entgegenstände,  dasz  die  Minoriten  im 
allgemeinen  eine  grosze  abneigung  gegen  eine  derartige  beschäftigung 
gezeigt  haben,  schon  der  Zittauer  rector  Christian  Weise  sprach 
sich  in  der  oratio  saecularis  'de  ortu  et  progressu  scholarum  per 
Lusatiam  superiorem'  (Zitt.  1686  s.  5)  in  diesem  sinne  aus;  von 
neueren  vgl.  Wittenbach,  geschieh tsquellen  II*  s.321.  —  Auf  Kliens 
falsche  annähme  (kurze  nachricht  über  die  begrfindung  des  Budis- 
siner  gymnasiums  s.5):  'die  schule,  die  in  Bautzen  bis  zur  reforma- 
tion bestanden  habe,  sei  einzig  und  allein  die  der  Franciscaner  ge- 
wesen, und  zu  ihr  gehöre  auch  die  Schulordnung  von  1418',  sei  hier 
deshalb  nochmals  (vgl.  s.  119)  hingewiesen,  weil  H.  J.  Kämmel,  ge- 
schieht*' des  deutschen  Schulwesens  s.  43  derselben  folgt. 

(fortsetzung  folgt.) 
Dresden.  H.  Heyden. 


16. 

IST  MAN  BERECHTIGT,  DIE  PRIMANER  WÄHREND  DES 
LETZTEN  JAHRES  IHRER  SCHULZEIT  ALS  ÜBERBÜRDET 
ANZUSEHEN  UND  —  BEJAHENDENFALLS  —  WIE  KÖNNEN 
DIESELBEN  ENTLASTET  WERDEN?* 


Übel  berufen  ist  das  halten  von  pensionären  seitens  der  lehrer 
und  dirigenten,  zuweilen  wohl  nicht  ohne  grund.  doch  wenn  dies 
nicht  blosz  des  materiellen  gewinnes  wegen  geschieht,  sondern 
hierdurch  in  erster  linie  ein  ersatz  für  das  elternbaus  geschaffen 
wird,  so  dasz  deren  kinder  in  der  fremde  vor  den  verfuhrungen  des 
lebens  und  des  Zeitgeistes  durch  treue  bewachung  seitens  der  lehrer 
mehr  geschützt  werden,  als  dies  in  andern  pensionen  der  fall  ist,  und 
die  kinder  durch  sachkundige  leitung  bei  ihren  arbeiten  auch  in 

•  dieser  aufsatz  ist  uns  bereits  vor  Jahresfrist  übersandt  worden. 

die  redaction. 


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Überbürdung  der  primaner. 


171 


ihren  erfolgen  gefördert  werden ,  so  ist  das  halten  von  pensionären 
seitens  der  lehrer  ein  segen  nicht  blosz  für  die  betreffenden  schüler 
und  kinder,  sondern  auch  zum  teil  für  den  geist  der  anstatt  selbst. 

Auch  noch  einen  rein  pädagogischen  vorteil  hat  dies  halten  von 
pensionären  für  den  ehrenhaften,  treuen  und  gewissenhaften  lehrer. 

Es  bringt  ihn  nemlich  in  einen  innigeren  Zusammenhang  mit 
seinen  pensionären  und  hierdurch  mit  den  Schülern  Uberhaupt;  er 
lernt  ihre  sittlichen  und  geistigen  Vorzüge  kennen,  doch  auch  ihre 
schwächen  bleiben  ihm  nicht  verborgen ,  so  dasz  er  helfend  und 
stützend,  aber  auch  warnend  eintreten  kann. 

Vor  allem  aber  lernt  er  kennen,  wie  sie  arbeiten,  und  wird  hier- 
durch berechtigt,  ein  urteil  abzugeben ,  ob  und  wodurch  die  schüler 
überbürdet  sind. 

Ich  will  die  so  oft  behandelte  überbürdungsfrage  nicht  von  neuem 
theoretisch  behandeln,  sondern  meine  praktischen  erfahrungen  an- 
geben und  einfach  erklären,  dasz  hierüber  am  besten  urteilen  kann, 
wer  als  treuer ,  sachkundiger  pensionsvater  ruhige  objective  beob- 
achtungen  angestellt  hat.  das  eiternhaus  kann  dies  weniger,  weil 
es  nach  den  heutigen  Verhältnissen  schwerlich  die  zeit  und  lust  hat, 
dies  dauernd  und  sachlich  zu  prüfen;  von  der  fahigkeit  hierzu  will 
ich  ganz  absehen. 

Lange  ein  schroffer  gegncr  gegen  diese  einrichtung,  bin  ich 
durch  eine  eigentümliche  Verkettung  der  Verhältnisse  in  die  läge 
gebracht  worden,  einen  pensionär  in  meine  familie  aufzunehmen, 
dies  war  ein  Oberprimaner,  der  also  vor  dem  abiturientenexamen 
stand,  es  dauerte  dies  Verhältnis  allerdings  nur  ein  halbes  jähr, 
doch  war  es  für  mich  als  lehrer  sehr  wertvoll,  weil  ich  durch  die 
neuheit  der  sache  und  durch  die  inconsequenz  in  meiner  anschauung 
zum  sorgfältigen  beobachten  des  zum  teil  nicht  gerade  sittlich  ganz 
intacten  und  in  wissenschaftlicher  beziehung  nicht  allzu  hoch  stehen- 
den, obendrein  nur  mäszig  veranlagten  Oberprimaners  veranlaszt 
wurde,  und  mein  eignes  erfahrungsurteil  lautet:  ja,  dieser  Ober- 
primaner war  im  letzten  jähre  überbürdet;  und  diese  überbürdung 
wird  nach  Weihnachten  —  zu  dieser  zeit  trennten  wir  uns  infolge 
meiner  Versetzung  —  sich  voraussichtlich  noch  gesteigert  haben. 

Den  gründen  habe  ich  eifrig  nachgespürt,  natürlich  will  ich 
nicht  verallgemeinern,  wenn  ich  seinen  früheren  lebenslauf  in  kürze 
zu  schildern  suche;  ganz  vereinzelt  dürfte  er  gewis  nicht  dastehen. 

Es  war  eines  rittergutsbesitzers  söhn,  der  von  einem  braven 
dorfschullehrer  gründlich  vorbereitet,  die  unteren  classen  eines  gym- 
nasiums  mit  gutem  erfolge  durchlief,  plötzlich  trat  ein  stocken  ein. 
schlechte  gesellscbaft  und  die  gewöhnung  an  tabak  und  bier  waren 
die  gründe,  in  disciplinarer  beziehung  machte  sich  auch  manches 
bemerkbar,  was  ihn  schlieszlich  bei  seinen  lehrern  nicht  gerade  son- 
derlich empfahl,  anstatt  nun  die  schuld  in  sich  selbst  zu  suchen, 
schob  er  diese  seinen  lehrern  zu,  von  denen  er  schlieszlich  gehaszt  zu 
werden  glaubte,  er  verliesz  die  anstalt  und  kam  in  damenhände,  die 


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172 


Überbürdung  der  pnmaner. 


für  ihn  noch  unheilvoller  wurden,  wie  mir  der  eigne  vater  mitteilte, 
fand  er  ihn  einmal  in  einer  läge  vor,  die  das  ärgste  befürchten  liesz, 
und  zwar  war  er  in  diese  hineingebracht  durch  die  leidenschaftlich- 
keit  der  bereits  Oberreifen  jungfrauen.  natürlich  war  er  dort  völlig 
unbeaufsichtigt,  mit  einem  hausschlüssel  versehen,  und  wenn  er 
diesen  einmal  vergessen  hatte,  des  nachts  zuweilen  auszerhalb  seiner 
pension.  mit  den  leistungen  gieng  es  natürlich  nicht  vorwärts,  der 
besorgte  vater  brachte  die  grösten  opfer:  er  gab  ihn  zu  mir  in  pen- 
sion, der  ich  bisher  noch  keinen  pensionär  gehalten  hatte,  die  zucht 
wurde  eine  andere,  ab  und  zu  erwachte  zwar  die  Sehnsucht  nach 
gröszerer  freibeit,  doch  gewöbnung  und  mein  bei  spiel  brachten  ihn 
auf  den  weg  des  rechten,  nun  begann  die  arbeit,  und  das  streben, 
das  examen  zu  machen,  liesz  seine  kräfte,  die  infolge  eines  darm- 
leidens  und  der  hierdurch  bedingten  eigentümlichen  kost  nicht  be- 
sonders 6tark  waren,  nicht  mehr  recht  zur  ruhe  kommen. 

Die  lücken  waren  auszufüllen ,  das  neue  aufzunehmen  und  zu 
verarbeiten,  und  die  tiberbürdung  war  erwiesen. 

Nun  ist  ja  zwar  die  arbeitszeit  für  alle  classen  genau  festgesetzt, 
doch  steht  dies  oft  wohl  nur  auf  dem  papier  und  zwar  ohne  berück- 
sichtigung  früherer  lücken. 

Überbürdung  kann  nur  vermieden  werden,  wenn  der  lehrer 
sich  selbst  in  die  läge  der  schüler  zu  versetzen  vermag,  sich  auf 
alle  stunden  gründlich  vorbereitet  und  schliesslich  seine  kraft,  die 
Schwierigkeiten  zu  überwinden,  vergleicht  mit  der  des  schülers  und 
seiner  oft  groszen  unbeholfenheit. 

Das  masz  der  arbeitszeit  liesze  sich  also  nur  dann  annähernd 
richtig  bestimmen ,  wenn  man  mehrere  schüler  verschiedener  güte 
mittwoch  und  Sonnabend  unter  eigner  aufsiebt  ihre  arbeiten  machen 
liesze;  doch  dies  raubt  zeit  und  ist  für  den  lehrer  nicht  ganz  an- 
genehm. 

Die  lehrer  also,  welche  pensionäre  halten  und  selbst  häuslich 
sind,  können  am  besten  die  überbürdungsfrage  beurteilen. 

Meine  jetzigen  pensionäre,  die  obersecundaner  sind,  haben  recht 
viel  zu  thun,  und  die  vorschriftsmäszige  arbeitszeit  wird  sicher  über- 
schritten ;  von  dem  einen ,  weil  er  mäszig  beanlagt  ist  und  lücken 
hat,  von  dem  andern,  weil  er  sich  selbst  nicht  genug  zu  thun  glaubt. 

Primaner,  die  ich  unter  den  bänden  hatte,  waren  nicht  über- 
lastet, die  einen,  weil  sie  allzeit  treu  und  redlich  ihre  pflicht  erfüllt, 
die  andern,  weil  sie  sich  selbst  nicht  überlasteten,  sondern  die  sacbe 
von  der  leichtesten  seite  nahmen,  ob  sie  sitzen  blieben  und  später 
als  andere  zum  ziele  kamen,  war  ihnen  ja  nicht  gleicbgiltig ,  doch 
hieran  nur  die  lehrer  schuld,  die  zu  viel  verlangten,  nicht  sie,  die 
die  kraft  und  lust  zu  harter  arbeit  zum  teil  schon  verloren  hatten. 

Wird  trotz  verständiger  methode  seitens  der  lehrer  doch  noch 
über  die  überbürdung  geklagt,  so  dürften  die  gründe  anderswo  liegen 
als  im  Organismus  der  höheren  schulen  an  sich. 

Man  könnte  z.  b.  das  stundengeben  der  primaner  als  grund 


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Überbürdung  der  primaner. 


173 


hierfür  angeben,  es  ergäbe  sich  bei  der  statistischen  Zusammenstel- 
lung ein  erstaunlich  hoher  procentsatz  von  stundenerteilenden  pri- 
manern.  ob  diese  so  viel  dabei  lernen,  wie  man  gewöhnlich  annimmt, 
ist  für  mich  sehr  die  frage,  meist  ist  die  aussieht  auf  tascbengeld, 
zuweilen  auch  der  hunger  die  trieb feder  hierzu,  an  arbeitskraft  und 
-last  geht  ihnen  hierdurch  sicher  recht  viel  verloren,  und  die  den 
eignen  arbeiten  entzogene  zeit  musz  natürlich  überbürdungsklagen 
hervorrufen. 

Dasz  der  genusz  von  tabak  und  bier,  wozu  doch  die  Stunden- 
gelder recht  oft  verwandt  werden,  die  arbeitskraft  der  schüler  nicht 
hebt,  ist  klar. 

Hieraus  ergibt  sich  als  mittel  zur  entlastung  das  verbot  des 
stundengebens  seitens  der  primaner  während  des  letzten  Schuljahres. 

Dasz  auch  die  teilnähme  am  gesange  und  turnen  viel  zeit  der 
wissenschaftlichen  arbeit  der  primaner  raubt,  ist  nicht  zu  bestreiten, 
doch  bin  ich  der  ansieht,  dasz  die  durch  die  dispensation  hiervon 
gewonnene  zeit  nicht  von  allen  zum  arbeiten  würde  benutzt  werden. 

Sind  die  turnverhältnisse  gut,  der  turnsaal  im  winter  möglichst 
staubfrei,  so  ist  das  turnen  gerade  geeignet,  die  arbeitskraft  des 
geistes  zu  erhöhen. 

Auch  der  gesangsunterricht,  von  dem  sich  viele  primaner  aus 
mangel  an  zeit  und  befähigung  zu  drücken  suchen,  ist  kein  grund 
zur  überbürdung,  vermag  er  doch  gerade  dem  von  den  sorgen  um 
das  ezamen  erfüllten  gemüte  des  primaners  eine  andere,  wenn  auch 
nicht  lange  anhaltende  richtung  und  Stimmung  zu  geben  und  ihn 
zur  geistigen  arbeit  wieder  zu  beleben. 

Diese  beiden  schulföcher  lasse  ich  also  nicht  als  gründe  zur 
überbürdung  gelten. 

Dagegen  kann  das  musikmachen  im  hause  über  gebühr  betrieben 
allerdings  die  veranlassung  zu  überbürdungsklagen  geben. 

Sollte  die  besch&ftigung  hiermit  der  lohn  für  den  arbeitsreichen 
tag  sein ,  so  greift  der  schüler  der  erfahrung  nach  oft  zum  instru- 
ment,  ehe  er  noch  das  pflichtmäszige  gethan  hat.  was  vergnügen 
macht ,  wird  in  unverständiger  Zeiteinteilung  zuerst  vorgenommen, 
natürlich  ist  dann  oft  keine  lust  mehr  vorhanden,  das  von  der  schule 
geforderte  zu  thun,  zumal  die  lust  zur  arbeit  überhaupt  bei  den 
Schülern  nicht  sehr  bedeutend  ist.  der  wissenschaftliche  geist  der 
jugend  ist  nicht  mehr  so  rege  als  früher,  weil  die  schüler  von  der 
genuszsucht  der  zeit  als  noch  wenig  widerstandsfähige  subjecte  mehr 
als  billig  angekränkelt  sind. 

Kommt  noch  hinzu,  dasz  sie  in  der  zeitung  oder  sonstwo  lesen, 
zuweilen  auch  wohl  von  ihren  eitern  von  der  nutzlosigkeit  der  alten 
bprachen  reden  hören,  so  halten  sie  für  wahr,  was  sie  wünschen, 
die  unlust,  die  sich  hierdurch  einstellt,  lähmt  die  arbeitskraft,  wäh- 
rend doch  wie  das  leben  so  die  schule  diese  im  höchsten  masze 
verlangt. 

Das  kartenspielen  bildet  auch  einen  titel  im  haushält  der  zeit 


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Cberbürdung  der  primaner. 


unserer  primaner;  vom  besuch  der  concerte  und  des  theaters  und 
anderm  will  ich  schweigen. 

Ich  gönne  jedem  seine  erholung,  wenn  sie  der  lohn  ist  für  red- 
liche mühe ;  folgt  jedoch  die  arbeit  z.  b.  an  schulfreien  tagen  und 
halbtagen  dem  vergnügen,  so  ist  ein  misverhftltnis  in  der  Zeiteintei- 
lung zu  bestätigen. 

Man  läszt  sich  es  nun  noch  gefallen,  wenn  die  erholung  un- 
schuldiger art  ist  und  der  folgenden  arbeit  des  geistes  vorschab 
leistet,  wie  aber,  wenn  schlüpfrige,  die  sinne  kitzelnde  und  ge- 
schlechtlich aufregende  bücher  vor  der  arbeit  gelesen  werden  und 
diejenigen  bücher  ersetzen,  die  den  Charakter  zu  bilden  und  für  alles 
edlere  zu  begeistern  vermögen?  dasz  dies  bei  manchem  primaner 
aber  der  fall  ist,  kann  ich  durch  beweise  erhärten,  wie  soll  dann  die 
harte,  ernste  gedankenarbeit  rüstig  von  statten  gehen,  wenn  die 
seele  in  ihrer  ruhe  gestört,  lüsterne  wünsche  den  frieden  des  herzens 
vernichten?  verdrossen  und  mürrisch  wird  Uber  das  langweilige 
zeug  des  Unterrichtsstoffes  geklagt,  und  in  den  äugen  der  eitern  ist 
die  überbürdung  erwiesen,  besonders  wenn  die  ewige  lampe  des 
überbürdeten  primaners  stübchen  erhellt. 

Natürlich  ist  der  körper  am  nächsten  morgen  nicht  frisch ,  der 
geist  schläfrig,  der  Unterricht  nicht  im  stände,  solche  schüler  zur 
vollen  beteiligung  zu  erwecken,  elastischere  naturen  sind  wider- 
standsfähiger und  können  trotz  des  erwähnten  Übelstandes  sich  auf 
dem  laufenden  erhalten,  vielen  aber  glückt  es  nicht. 

Kommt  noch  hinzu,  dasz  ein  ziemlich  groszer  teil  unserer  pri- 
maner aus  familien  stammt ,  die  nicht  einmal  den  leib  ihrer  kinder 
gehörig  ernähren  können,  wohl  aber  keinen  gröszeren  wünsch  haben, 
als  dasz  ihre  söhne  in  die  höheren  stände  hinaufkommen,  mögen  sie 
auch  nicht  das  nötige  geistige  rüstzeug  dazu  haben,  so  ist  es  klar, 
dasz,  wo  das  gehirn  nicht  die  nötige  beschaffenheit  zur  geistigen 
arbeit  bat,  der  junge,  welcher  vielleicht  schon  in  den  mittleren  classen 
seine  beste  kraft  verbraucht  hat,  nur  auf  dem  wege  der  grösten,  oft 
fast  übermenschlichen  anstrengung  sich  allenfalls  durch  das  examen 
windet. 

Für  solche  ist  die  tiberbtirdung  erwiesen,  doch  sie  gehören  auch 
anderswohin  als  auf  das  gymnasium. 

Was  die  eitern  durch  ihren  falschen  ehrgeiz  verschulden,  trifft 
ihre  eignen  kinder ,  der  schule  aber  darf  dies  nicht  zur  last  gelegt 
werden;  sie  musz  viel  verlangen,  weil  das  spätere  amt  geschulte 
kräfte  verlangt,  doch  ihre  forderungen  sind  nicht  Ubertrieben,  weil 
nur  für  den  mittelschlag  bestimmt,  und  sind  tausendfach  erfüllt 
worden  ohne  besondere  klagen  über  überbürdung. 

Wo  sich  derartige  klagen  aber  bei  strebsamen  Schülern  erheben, 
da  ist  die  methode  und  der  lehrer  selbst  verantwortlich  zu  machen 
und  die  änderung  derselben  mit  allen  mittein  zu  erzwingen. 

Die  schule  mag  ja  noch  manch  überflüssiges  lernen  lassen, 
mancher  lehrer  noch  nicht  zur  klaren  erkenntnis  gekommen  sein, 


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Überbürdung  der  primaner, 


175 


wie  er  sein  facb  zu  betreiben  bat;  so  viel  steht  fest,  dasz  die  lebrer 
im  allgemeinen  sieb  bemühen,  den  hersebenden  pädagogischen  grund- 
gedanken  zu  folgen ;  und  wenn  erst  alle  sich  zur  objectiven  betrach- 
tung  der  zwecke  der  schule  hinaufgerungen  haben,  wenn  der  einzelne 
lehrer  auszer  seinem  fache  auch  die  andern  gebührend  berücksich- 
tigen wird,  so  dasz  er  von  dem  irrtum  abkommt,  sein  fach  sei  das 
allein  seligmachende,  so  wird  auch  die  methode  nicht  mehr  als  grund 
für  die  überbürdung  herbalten  können,  die  überbürdungsklagen  aber 
schwerlich  aus  der  weit  geschafft  werden. 

Wir  lehrer  haben  aber  an  uns  selbst  ebenso  zu  arbeiten  wie  an 
unseren  schülem ;  der  zeitströmung  mit  ihren  sittlichen  Schädigungen 
und  der  irrtümlichen  beurteilung  pädagogischer  fragen  seitens  des 
publicums  werden  wir  warnend  und  aufklärend  entgegentreten 
müssen,  doch  die  öffentliche  stimme  mundtot  zu  machen,  sind  wir 
nicht  im  stände,  die  presse  ist  mächtiger  fast  als  die  schulverwal- 
tong,  und  da  pädagogische  fragen  jetzt  mit  Vorliebe  in  den  Zeitungen 
and  Zeitschriften  behandelt  werden  und  die  eitern,  ja  selbst  ihre 
kinder  diese  mit  eifer  lesen,  so  ergeht  es  ihnen  wie  vielen  laien  bei 
der  leetüre  medicinischer  Schriften,  das  meiste  passt  auf  ihre  eignen 
kinder  und  Verhältnisse,  und  ihr  wünsch  ist  der:  erleichterung  der 
jagend  zu  verschaffen  und  trotz  Verringerung  der  arbeit  ihnen  zu 
einem  ziele  zu  verhelfen,  zu  dem  bisher  nur  treuer  fleisz  und  harte 
arbeit  geführt. 

Zum  glück  sitzen  aber  in  der  Unterrichtsverwaltung  leute  von 
jähren  und  er  fahrungen,  die  fürsorglich  prüfen  werden,  was  man  der 
zeitströmung  opfern  kann,  ohne  die  axt  an  die  altbewährte  huma- 
nistische Schulbildung  zu  legen. 

Vielleicht  kommt  es  mit  der  zeit  zur  heiszersehnten  mittel- 
schale, so  dasz  die  gymnasien  an  zahl  verringert  werden  und  dann 
wirklich  nur  die  Vorschule  zur  Universität  bilden  können,  ist  das 
berechtigungswesen  geordnet,  dann  werden  voraussichtlich  nur  gut 
veranlagte  schüler  das  gymnasium  besuchen,  die  das  zeug  dazu  haben, 
den  wenn  auch  hohen  anforderungen  zu  genügen,  und  dieses  wieder 
die  pflanzstätte  echter  humanistischer  bildung  werden  im  gegensatz 
zu  heute,  wo  die  gymnasien  meist  nur  zur  erlangung  des  einjährigen 
Zeugnisses  zu  dienen  scheinen. 

Habe  ich  so  die  frage,  ob  überbürdung  bei  den  primanern  im 
letzten  Schuljahre  vorhanden  ist,  vom  Standpunkte  der  schüler  aus 
im  allgemeinen  bejaht,  von  dem  der  schule  aus  gewissermaszen  ver- 
neint, so  werde  ich  nun  die  frage  zu  erörtern  haben,  wie  denn  die 
primaner  im  letzten  Schuljahre  entlastet  werden  können. 

Ein  höchst  einfaches  mittel,  die  primaner  zu  entlasten,  welches 
leider  schon  hier  und  dort  befürwortet  worden  ist,  wäre  die  besei- 
tigung  des  abiturientenexamens.  doch  wehe  dem  preuszischen  Staate, 
wehe  dem  vaterlande,  sollte  es  jemals  dazu  kommen,  dasz  die  pri- 
maner die  anstalt  verlassen,  ohne  die  gefahren  der  prüfung  bestanden 
zu  haben,    mit  ihr  gienge  ein  wichtiges  mittel  zur  bildung  des 


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Überbürdung  der  primaner. 


Charakters  für  die  jugend  verloren,  auch  vergessen  die  befürworter 
dieses  Vorschlages,  dasz  wir  lehrer  nur  menschen  und  nicht  Verkör- 
perungen der  sittlichen  Unfehlbarkeit  sind. 

Es  ist  ja  richtig,  dasz  die  lehrer  die  sittliche  und  wissenschaft- 
liche reife  der  abiturienten  besser  beurteilen  können  als  der  könig- 
liche commissarius,  der  sich  aus  den  ihm  übersandten  arbeiten  und 
der  doch  nur  kurze  zeit  dauernden  mündlichen  prüfung  kein  so 
sicheres  urteil  über  die  prÜflinge  bilden  kann,  als  es  die  lehrer  im 
verlauf  von  mehreren  jähren  gewonnen  haben,  aber  wie  das  mitleid 
schon  bei  der  erteilung  des  einjährigen  Zeugnisses  eine  grosze  rolle 
spielt,  so  würde  es  sich  nicht  minder  geltend  machen,  wenn  es  sich 
um  die  abiturienten  dreht,  man  liesze  sie  alle  durch,  würde  man 
sich  ja  selbst  das  zeugnis  einer  nicht  besonderen  gescbicklichkeit  im 
Unterricht  ausstellen,  falls  die  prÜflinge  nicht  für  reif  erklärt  würden, 
ganz  abgesehen  davon,  dasz  sich  durch  Zurückhaltung  schwächerer 
schüler  für  die  lehrer  die  arbeitslast  noch  mehren  würde. 

ünd  die  schüler  würden  bald  merken,  dasz  die  reife  auch 
schwächeren  genossen  erteilt  werde. 

Bis  jetzt  ist  meist  die  furcht  vor  dem  durchfallen  der  machtigste 
sporn  für  die  schüler  zur  arbeit,  und  wie  mächtig  diese  eindrücke 
sind,  wird  manch  gereifter  mann  noch  zuweilen  in  schreckhaften 
traumgebilden  an  sich  selbst  verspüren. 

Auszerdem  ist  die  thatsache  bewiesen,  dasz  musterschüler ,  die 
vom  mündlichen  examen  befreit  wurden ,  oft  später  als  andere  die 
übrigen  examina  abgelegt  haben,  ja  zuweilen  ganz  verkommen  sind, 
weil  sie  älter  geworden  sich  noch  mehr  vor  einem  examen  fürchteten, 
als  dies  vor  dem  abiturientenexamen  der  fall  gewesen,  also  für  be- 
seitigung  der  abgangsprüfung  stimme  ich  im  interesse  der  jugend 
nicht;  auch  für  die  lehrer  hat  die  beibehaltung  desselben  viel  gutes, 
können  sie  doch  hierbei  ihrem  vorgesetzten  beweisen,  wie  sie  an  den 
Schülern  ihre  aufgäbe  zu  erfüllen  gewust. 

Dagegen  würde  es  nach  meinem  ermessen  ein  segen  für  die 
primaner  sein ,  wenn  im  jähre  nur  einmal  die  abgangsprüfung  ab- 
gehalten würde,  der  Unterricht  würde  ruhiger  verlaufen,  als  wenn 
er  zweimal  im  jähr  abiturienten  zu  zeitigen  hätte,  wobei  eine  fast 
fieberhafte  aufregung  nicht  nur  die  schüler  beherscht,  sondern  auch 
die  lehrer,  besonders  wenn  die  prüfungstermine  früh  angesetzt  sind. 

Naturgemäsz  beschäftigen  sich  die  lehrer  vorzugsweise  mit  den 
abiturienten,  und  wenn  sie  dabei  die  lücken  der  schüler  ins  grelle 
licht  zu  setzen  sich  veranlaszt  fühlen,  da  wird  die  nacht  zum  tage 
gemacht,  so  dasz  dem  abiturienten  die  prüfungszeit  zum  ekel  wird, 
während  sie  doch  eigentlich  wie  der  milde  herbst  die  im  Sonnenschein 
des  schullebens  gezeitigten  früchte  reif  und  schmerzlos  vom  bäume 
fallen  lassen  sollte. 

Die  übrigen  primaner,  noch  weit  vom  ziele  entfernt,  ruhen  sich 
inzwischen  aus,  bis  auch  an  sie  die  zeit  des  paukens  kommt,  anstatt 
gleichmäszig  und  stetig  ihrem  ziele  zuzustreben. 


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Überbürdung  der  primaner. 


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Der  lehrer  selbst  wird  schneller  verbraucht;  rechte  freude  am 
Unterricht  hat  er  auch  nicht,  weil  er  vieles  beginnt  und  nur  weniges 
in  der  kurzen  zeit  bewältigen  kann. 

Da  positive  kenn  misse  nun  einmal  den  ausschlag  bei  der  münd- 
lichen wie  schriftlichen  prüfung  geben,  so  sieht  er  sich  immer  wieder 
genötigt,  repetitionen  zu  veranstalten,  zumal  sich  das  wirklich  be- 
fruchtende seiner  lehrmethode  im  allgemeinen  den  blicken  des  com- 
mis8arius  entzieht. 

Doch  der  tote  gedäehtniskram  wird  als  unverdauter  bailast  im 
späteren  leben  bald  verächtlich  bei  seite  geworfen,  während  die  in 
die  seelen  der  scbüler  gestreuten  befruchtenden  gedanken  stützende 
stäbe  für  deren  weitere  fahrt  werden,  ohne  dieselben  zu  belästigen. 

Solche  lehrer  haben  freilich  oft  weniger  gute  leistungen  bei  der 
prüfung  aufzuweisen  als  der,  welcher  es  sich  als  höchstes  ziel  ge- 
steckt, das  eingeführte  lehrbuch  bis  zum  letzten  worte  mechanisch 
seinen  Schülern  einzupauken,  sein  'gut'  dient  dann  womöglich  noch 
zur  compensation  der  leistungen  des  geistig  reiferen,  pädagogisch 
bei  weitem  tiefer  durchgebildeten  collegen. 

Also  ein  mittel  zur  entlastung  der  abiturienten  wäre  nach  meiner 
meinung  die  nur  einmal  im  jähre  abzuhaltende  prüfung;  der  Unter- 
richt würde  dadurch  einen  ruhigeren  verlauf  nehmen  und  extensiver 
wie  intensiver  sich  gestalten. 

Noch  belastender  wird  der  Unterricht,  falls  im  letzten  halben 
jähre  gar  noch  ein  Wechsel  in  den  mitgliedern  der  prttfungscommis- 
sion  erfolgt,  da  sich  der  abiturient  auszer  in  die  masse  des  Stoffes 
noch  in  die  gedankenrichtung  und  die  besonderen  anforderungen  des 
nenen  examinators  hineinleben  musz. 

Dieses  hasten  auf  beiden  Seiten  würde  beseitigt  durch  die  nur 
einmal  im  jähre  stattfindende  prüfung  ohne  Wechsel  in  der  prüfungs- 
commi8sion. 

Um  nun  zu  den  einzelnen  fächern  überzugehen,  so  geben  ja  die 
lehrpläne  vom  31  märz  1882  die  nötigen  allgemeinen  Vorschriften, 
die  jedoch  sehr  dehnbar  sind ,  je  nach  der  auffassung  des  einzelnen. 

Zunächst  dürfte  in  der  religion  im  letzten  Schuljahre  kein  neues 
kirchenlied  mehr  gelernt  werden,  was  auch  vermieden  würde,  sobald 
für  jede  anstalt  ein  fester  canon  der  für  das  evangelische  bekenntnis 
wichtigsten  lieder  aufgestellt  wäre,  diese  müsten  auf  den  unteren 
und  mittleren  stufen  bereits  zum  festen  besitz  der  scbüler  geworden 
sein,  denn  je  weiter  nach  oben,  desto  schwerer  wird  es  vielen,  diese 
lieder  zu  lernen,  dasselbe  möge  auch  für  die  Sprüche  gelten,  zur 
indirecten  Wiederholung  gibt  der  gesamte  religionsunterricht  ge- 
legenheit  in  menge. 

Überhaupt  bedarf  der  religionsunterricht  auf  manchen  anstalten 
einer  sorgfältiger  durchdachten  Stoffabgrenzung  für  die  einzelnen 
classen;  erst  in  neuerer  zeit  gewinnt  ja  dieser  Unterricht  die  ihm  ge- 
hührende  methodische  bearbeitung. 

Wenn  ferner,  *ie  es  in  meiner  Schulzeit  der  fall  war,  auch  heute 

H.  jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  IL  *bt.  1891  hfl.  4.  12 


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Überbürdung  der  primaner. 


noch  stücke  aus  dem  griechischen  testamente  znr  häuslichen  präpa- 
ration  in  der  prima  aufgegeben  werden  sollten,  so  ist  diese  belastung 
völlig  überflüssig,  denn  der  schüler  lernt  hierbei  nichts  fürs  grie- 
chische, noch  weniger  schöpft  er  daraus  Christentum. 

Der  religionsunterricht  darf  überhaupt  nicht  so  erteilt  werden, 
als  gälte  es  künftige  theologen  mit  dem  nötigen  rüstzeuge  für  ihre 
weiteren  Studien  zu  versehen. 

Wer  sich  also  wirklich  der  theologie  später  widmen  will,  musz 
so  viel  griechisch  gelernt  haben,  um  das  neue  testament  im  urtext 
lesen  zu  können,  ohne  dasz  er  sich  darauf  während  der  schulzeit  be- 
sonders vorbereitet  hätte. 

Auch  bedarf  die  kirchengeschichte  einer  das  gedächtnis  der 
abiturienten  entlastenden  beschränkung. 

Wie  manches  hört  man  bei  der  prüfung  fragen,  was  für  den 
theologen  ja  zu  wissen  recht  heilsam  sein  mag,  für  den  angehenden 
Christen  aber  im  ganzen  sehr  gleicbgiltig  ist 

Was  nützt  es  zum  beispiel ,  wenn  der  abiturient  das  leben  der 
alten  kirchenväter  womöglich  in  den  kleinsten  einzelheiten  genau 
kennt,  nicht  aber  den  inhalt  der  bergpredigt  oder  die  hauptsächlich- 
sten gleichnisse  des  herrn  anzugeben  und  zu  deuten  vermag? 

Also  das  wort  gottes  musz  als  hauptsache  beim  religionsunter- 
richte  in  das  herz  der  schüler  dringen ;  er  soll  mit  einer  religiösen 
Weltanschauung  ins  leben  treten,  die  für  ihn  die  grundlage  zu  seinem 
seelenheile  wird  und  die  ihn  führt  zur  wahren  gottesfurcbt,  zu 
warmer  Vaterlandsliebe,  zu  hilfsbereiter  n  liebsten  liebe,  das  sind  nach 
den  heutigen  Zeitverhältnissen  die  wichtigsten  forderungen,  die  die 
schule  an  der  jugend  zu  erfüllen  hat  zum  heile  des  Vaterlandes,  wel- 
ches schwer  krankt  durch  die  Zerklüftung  der  stände,  durch  den 
herschenden  materialismus  und  gefährdet  ist  durch  die  gegen  seine 
grundlagen  gerichteten  stürme  der  socialdemocratie. 

Die  kirchengeschichte  musz  auch  deshalb  alles  tote  beiwerk 
fahren  lassen  und  nur  das  verwerten,  was  das  urteil  sichert,  das  ge- 
schichtliche gesamtverständnis  fördert,  den  willen  kräftigt. 

Möge  also  die  mündliche  prüfung  nur  ermitteln,  ob  der  schüler 
den  hauptinhalt  und  den  Zusammenhang  der  heiligen  schrift  erfaszt, 
sich  besonders  mit  den  im  neuen  testamente  urkundlich  bezeugten 
heilsthatsachen  und  -Wahrheiten,  vor  allem  mit  den  aposteln  in  ge- 
nügender weise  bekannt  gemacht  und  sich  einen  allgemeinen  über- 
blick über  die  entwicklung  des  reiches  gottes  auf  erden  verschafft 
hat,  ob  er  schlieszlich  die  unterscbeidungsgrundlehren  und  die  wich- 
tigsten thatsachen  aus  der  deutsch- evangelischen  geschiente,  nament- 
lich aber  die  reformationsgeschichte  kennt,  wird  hierbei  besonderes 
gewicht  gelegt  auf  die  Vorbilder  bedeutender  glaubenszeugen ,  so 
wird  der  schüler  mit  den  nötigen  stützen  versehen,  um  in  den  wogen 
des  dem  glauben  feindlichen  lebens  eine  feste  Stellung  einzunehmen, 
mehr  Christentum,  weniger  theologie  auf  den  schulen,  das  ist  die 
forderung  der  zeit. 


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Überbürdung  der  primaner. 


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Obwohl  nun  die  hier  und  da  gewünschte  beseitigung  der  reli- 
gion  aus  der  mündlichen  prüfung  die  abiturienten  gewis  entlasten 
würde,  so  bin  ich  selbst  gegen  die  erfüllung  dieses  Wunsches,  da  auf 
den  oberen  stufen  die  religion  doch  nicht  blosz  sacbe  des  gefühls, 
sondern  auch  Wissenschaft  ist,  die  die  Urteilskraft  entwickelt  und 
kenntnisse  dazu  nötig  hat. 

Ob  im  deutschen  eine  überbürdung  der  primaner  im  letzten 
jähre  stattfindet,  kann  ich  aus  eigner  praktischer  erfahrung  nicht 
beurteilen,  was  ich  gelegentlich  gesehen  und  gehört  habe,  läszt 
darauf  nicht  schlieszen ;  allerdings  lag  der  Unterricht  in  den  bänden 
bewährter  directoren,  die  erfahren  im  fach  zwar  diesen  gegenständ 
hochhielten,  doch  nicht  auf  kosten  anderer  fächer  die  primaner  über- 
lasteten, ab  und  zu  dürfte  allerdings  ein  jüngerer  lehrer  in  seinen 
forderungen  über  das  masz  hinausgehen ,  so  dasz  es  dann  sache  des 
directors  ist,  hier  einspruch  zu  erheben,  wobei  wohl  in  erster  linie 
das  tote  litterarhistorische  wissen  eine  zweckmäszige  einschränkung 
erforderte. 

Dasz  die  ab  und  zu  veranstalteten  aufführungen  zu  woblthätigen 
zwecken  geeignet  sind,  die  primaner  zu  belasten,  läszt  sich  wohl  an- 
nehmen, da  eine  menge  zeit  zur  eintibung  verloren  geht,  die  natür- 
lich den  laufenden  arbeiten  entzogen  wird,  so  nährt  sich  bisweilen 
der  eine  gegenständ  auf  kosten  des  andern. 

Wie  stehts  nun  mit  dem  lateinischen  ? 

Nach  meinen  erfahrungen  ist  die  zahl  von  acht  bis  zehn  häus- 
lichen aufsätzen,  wie  sie  für  manche  und  zwar  gröszere  anstalten  vor- 
geschrieben ist,  überlastend  im  höchsten  masze,  besonders  wenn  das 
thema  so  gewählt  ist,  dasz  der  schüler  nicht  mit  allgemeinen  redens- 
arten  die  Seiten  füllen  kann,  sondern  gröszere  partien  der  lectüre  zu 
verarbeiten  hat. 

Überlastend  ist  diese  zahl  auch  deshalb,  weil  trotz  der  menge 
stunden,  die  diesem  gegenstände  gewidmet  werden,  den  meisten  pri- 
manern  die  fähigkeit  abgeht,  ihre  gedanken  in  leidlicher  form  ohne 
besondere  mühe  aufs  papier  zu  werfen. 

So  wertvoll  auch  der  lateinische  aufsatz  für  den  schüler  ist, 
sein  nutzen  steht  nicht  im  richtigen  Verhältnis  zur  darauf  ver- 
wandten zeit. 

Soll  also  der  primaner  im  letzten  jähre  entlastet  werden,  so 
mögen  die  häuslichen  aufsätze  auf  vier  beschränkt  werden,  die  an- 
dern aber  in  der  schule  selbst  nach  bedürfnis  geschrieben  werden. 

Eine  entlastung  träte  hierdurch  sicher  ein,  ohne  dasz  das  ge- 
steckte ziel  zu  sehr  geschädigt  würde. 

Ferner  könnten  die  abiturienten  im  letzten  Semester  von  der 
häuslichen  präparation  auf  die  lectüre  möglichst  befreit  werden. 

So  würden  sie  sich  mehr  ans  extemporieren  gewöhnen  und  bei 
der  mündlichen  prüfung  im  übersetzen  noch  mehr  leisten  als  jetzt, 
denn  wer  die  krücken  der  Übersetzungen  —  und  mit  diesen  arbeiten 
doch  bekanntlich  die  meisten  primaner  —  erst  zwei  wochen  vor  der 

12* 


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Überbürdung  der  primaner, 


mündlichen  prüfung  wegwirft,  kann  nicht  so  sicher  schreiten,  als 
wenn  er  längere  zeit  mit  unbefangenem  auge  die  textessteile  zu  be- 
trachten gelernt. 

Wer  aber  auf  die  häusliche  präparation  der  abiturienten  nicht 
verzichten  zu  können  glaubt,  der  möge  sie  auf  das  möglichste  be- 
schränken und  den  rest  jeder  stunde  zum  extemporieren  verwenden. 

Die  aufmerksamkeit  aber  würde  dadurch  erhöht  werden,  wenn 
beim  mündlichen  examen  auch  nur  stellen  der  prosaischen  Schrift- 
steller vorgelegt  würden,  welche  etwa  von  obersecunda  an  thatsäch- 
lich  in  der  Schulzeit  gelesen  worden  sind. 

Wenn  ich  nun  nach  den  von  mir  eingesehenen  programmen  ur- 
teilen darf,  so  ist  das  quantum  der  lectüre  an  vielen  anstalten  ein 
überaus  groszes;  doch  dürfte  nach  meinen  erfahrungen  der  schüler 
mehr  lernen,  wenn  das  masz  beschränkt,  dafür  aber  auch  gründlich 
durchgearbeitet  würde. 

Den  inhalt  des  gesamten  Schriftstellers  kann  man  sich  zwar,  so- 
bald der  wünsch  danach  vorhanden  ist,  durch  Übersetzungen  an- 
eignen, doch  ist  es  aufgäbe  des  gymnasialunterrichtes ,  den  schüler 
in  den  geist  der  fremden  spräche  einzuführen. 

Eine  entlastung  der  primaner  träte  auch  dann  ein ,  wenn  man 
nicht  erst  im  letzten  jähre  ihnen  eine  menge  synonymischer  kennt- 
nisse  einzupauken  suchte,  die  Synonymik  ist  nach  meiner  erfahrung 
ein  nicht  zu  unterschätzendes  mittel,  dem  schüler  das  Verständnis 
einer  fremden  spräche  zu  erschlieszen,  doch  wie  dieselbe  zu  betreiben 
sei,  darüber  weichen  die  ansichten  der  fachgenossen  von  einander  ab. 

Der  eine  verlangt,  Synonymik  sei  beim  Unterricht  selbst  zu 
lernen,  also  aus  der  vorliegenden  stelle  zu  schöpfen;  pädagogisch 
ist  dieser  weg  gewis  zu  billigen,  der  andere  verlangt,  dem  schüler 
schon  von  sexta  auf  ein  gewisses  pensum  aus  einem  eingeführten 
hilfsbuch  zur  systematischen  einprägung  zu  tiberweisen. 

Ich  habe  beide  wege  praktisch  erprobt  und  entscheide  mich  für 
letzteren,  besonders  eifrig  haben  meine  ehemaligen  obersecundaner 
die  Synonymik  von  Drenkhahn  durchgearbeitet,  so  dasz  sie  dann  in 
prima  nur  noch  wenig  neues  aufzunehmen  genötigt  waren,  wird  die 
Synonymik  schon  von  sexta  auf  betrieben,  so  würde  die  arbeit  oben 
gewis  erleichtert  und  das  Verständnis  der  lectüre  wesentlich  vertieft. 

Auch  auf  grammatischem  gebiete  werden  die  abiturienten  zu- 
weilen überlastet,  wenn  der  lehrer  zu  jeder  stunde  so  und  so  viele 
Seiten  zur  repetition  aufgibt,  erfahrenere  lehrer,  die  da  begriffen 
haben,  dasz  nur  zusammenhängende  vorstellungsreihen  sich  leicht 
festhalten  lassen,  können  ganz  auf  das  mechanische  repetieren  aus 
der  grammatik  verzichten,  ohne  deshalb  weniger  gute  resultate  zu 
erzielen. 

Also  auf  dem  gebiete  der  synonymik  wie  der  grammatik  ist 
eine  tiberbürdung  möglich  und  entlastung  in  diesem  falle  erfordert. 

Was  nun  den  Horaz  anlangt,  so  läszt  sich  auch  da  noch  manche 
erleichterung  schaffen,   tote  gerippe  sind  die  metrischen  Systeme, 


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Überbürdung  der  primaner. 


181 


wenn  sie  mechanisch  zu  lernen  sind ;  versteht  es  der  lehrer  dagegen, 
des  dichter»  metrik  aus  den  einfachsten  elementen  sich  organisch 
aufbauen  zu  lassen,  legt  er  groszes  gewicht  auf  das  kunstgemäsze 
lesen  des  dichters ,  so  macht  diese  seite  des  Unterrichts  dem  schuler 
frende  und  bleibt  nicht  unverdauter  gedächtniskram. 

Auch  zwinge  man  nicht  die  primaner  so  und  so  viele  oden  aus- 
wendig zu  lernen ,  wenn  sie  sich  innerlich  zu  den  betreffenden  nicht 
hingezogen  fühlen;  man  kann  ja  die  zahl  bestimmen,  doch  die  aus- 
wähl  der  eigenart  der  schÜler  selbst  überlassen,  sie  greifen  dann 
nicht  selten  zu  den  besten,  besonders  wenn  der  lehrer  sie  dazu  zu 
begeistern  vermochte. 

Trockener  Unterricht  führt  Uberall  zum  Widerwillen,  und  viel- 
leicht hat  dieser  die  abneigung  besonders  gegen  das  lateinische  er- 
zeugt und  das  geschrei  des  durch  eigne  böse  erfahrungen  gewitzigten 
publicums  veranlasst,  darum  müssen  die  lehrer  dem  schüler  ihre 
begeisterung  einflöszen  und  ihn  an  ihrem  feuer  erwärmen  lassen, 
mit  der  gesteigerten  lust  am  Unterricht  wird  auch  die  klage  wegen 
Überlastung  allmählich  verschwinden. 

An  harter  arbeit  fehlt's  gewis  nicht,  soll's  auch  nicht;  sie  bildet 
den  schützenden  dämm  gegen  den  in  die  jugend  hineingedrungenen 
hang,  sich  vor  der  zeit  an  den  genüssen  des  lebens  möglichst  activ 
zu  beteiligen,  wenn  wir  lehrer  aber  die  veredelnde  und  den  Charakter 
bildende  kraft  der  arbeit  an  uns  selbst  zeigen,  so  fühlt's  die  jugend 
und  fogt  uns  gern. 

Und  nun  zum  griechischen. 

In  diesem  fache  ist,  soviel  ich  weisz,  die  klage  über  überbür- 
dung am  wenigsten  laut  geworden,  wenn  man  von  der  oft  zu  aus- 
gedehnten privatlectüre  absieht,  es  gibt  allerdings  anstalten,  auf 
denen  der  ganze  Homer  als  gelesen  dargestellt  wird,  wohl  auch  noch 
die  lectüre  einer  Sophokleischen  tragödie  pro  jähr  den  jahresbericht 
ziert  natürlich  fragt  sich  der  strebsame,  auch  arbeitsfreudige  lehrer, 
wie  diese  masse  in  so  kurzer  zeit  zu  bewältigen  war. 

Sollte  die  lectüre  keine  veranlassung  geben ,  fragen  zu  stellen, 
deren  lösung  oft  eine  stunde  zeit  allein  beansprucht;  sollte  der  lehrer 
sich  nie  gedrungen  fühlen,  das  gelesene  unter  gewissen  gesichts- 
punkten  zusammenzufassen  und  seinen  Schülern  ein  bild  der  damali- 
gen socialen,  politischen,  religiösen  und  künstlerischen  Verhältnisse 
entweder  selbst  zu  entrollen  oder  besser  mit  hilfe  der  von  den  Schü- 
lern gesammelten  bausteine  aufzubauen  ?  das  ist  nicht  recht  mög- 
lich ,  wenn  so  viele  bücher  Homer  wirklich  in  der  classe  in  einem 
jähre  gelesen  werden,  vieles  lesen  in  hast  ist  unfruchtbare  arbeit, 
die  belastet,  ohne  zu  erquicken  und  geistig  zu  fördern. 

Man  beschränke  also  in  den  lebrplänen  das  masz  des  zu  lesen- 
den, bemühe  sich  aber  dem  schüler  ein  gründliches  bild  antiken 
lebens  zu  entrollen  durch  das  hinabsteigen  in  die  tiefe,  nicht  ein 
oberflächliches,  wie  es  eben  entstehen  musz,  wenn  die  summe  des 
gelesenen  den  ausschlag  geben  soll. 


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Überbürdung  der  primaner 


Weg  auch  mit  der  privatlectüre  in  den  alten  sprachen;  sie  hat 
nach  meiner  erfahrung  geringen  wert. 

Der  schüler  hat  vollauf  zu  thun,  will  er  den  regelmäszigen  tages- 
anforderungen  gentigen ,  und  wenn  er  mit  seinen  lehrern  fünf  bis 
sechs  stunden  am  tage  geistig  gearbeitet  und  für  seine  morgigen  auf- 
gaben gesorgt  hat,  dann  ist  es  sündhaft,  noch  von  ihm  privatlectüre 
zu  verlangen. 

Mag  er  seine  freie  zeit  zur  körperlichen  erholung  benutzen  oder 
auch  zu  den  schätzen  der  deutschen  classischen  litteratur  greifen, 
um  sich  zu  erwärmen  für  sein  volk  und  Vaterland,  was  aber  dem 
lehrer  der  alten  sprachen  zu  verlangen  erlaubt  ist,  könnte  auch  der 
lehrer  des  französischen  und  deutschen  bezüglich  der  privatlectüre 
beanspruchen. 

Jeder  verlangt  ja,  wie  er  glaubt,  nur  das  nötigste,  doch  die 
summe  am  ende  entscheidet  wie  im  leben  so  auch  im  Unterricht. 

Ich  halte  also  die  privatlectüre  für  unberechtigt,  überflüssig 
kann  sie  werden,  wenn  der  lehrer  in  den  stunden  tüchtig  arbeitet, 
und  wertlos  ist  sie,  wenn  der  lehrer,  wie  dies  oft  genug  geschieht, 
dieselbe  nicht  controliert. 

Wer  von  selbst  zur  philologie  hinneigt,  wird  auch  ohne  befehl 
weiter  streben,  und  die  andern  sind  nicht  blosz  schüler,  sondern  auch 
kinder  ihrer  eitern  wie  menschen  überhaupt. 

In  der  geschiente  ist  die  tiberbürdung  der  abiturienten,  als 
solche  sind  doch  die  primaner  im  letzten  Schuljahr  zu  betrachten, 
trotz  aller  beschränkung  des  gedächtnisstoffes  für  mich  so  gut  wie 
erwiesen. 

Hier  wird  besonders  vor  dem  examen  gepaukt,  und  der  schüler 
thut's  im  ganzen  gern,  denn  die  geschiente  ist,  soweit  meine  erfah- 
rung reicht,  ein  prüfungsgegenstand,  der  am  häufigsten  das  prädicat 
'gut*  aufweist. 

Leicht  ist  ja  dieses  zu  erreichen  für  den  lehrer,  denn  er  braucht 
keine  schriftlichen  arbeiten  aufzuweisen,  und  für  den  schüler,  weil 
er  durch  fleisziges  auswendiglernen  am  sichersten  dazu  kommt. 

Trotz  aller  positiven  kenntnisse  aber  haben  doch  nur  wenige 
abiturienten  den  geist  der  geschichte  gespürt. 

Der  gedächtniskram  wird,  weil  ihm  oft  die  verbindenden  ge- 
danken  und  die  befruchtenden  gesichtspunkte  fehlen,  schnell  genug 
vergessen. 

Ich  behaupte  durchaus  nicht,  dasz  der  geschichtsunterricht  meist 
unfruchtbar  bleibt  und  mechanisch  betrieben  wird,  doch  st  Um  per 
gibt's  auf  diesem  gebiete  wie  tiberall. 

Glücklich  die  schüler,  welche  einen  geschichtslehrer  haben,  der 
sie  in  das  Verständnis  des  entwicklungsprocesses  der  Völker  und  ihrer 
Staaten  einzuführen  vermag,  der  ihnen  in  anregender  weise  die  gründe 
ihrer  blüte  wie  ihres  Verfalles  und  die  fast  notwendigen  folgen  be- 
stimmter prämissen  klar  zu  machen  im  stände  ist.  ein  solcher  lehrer 
wird  recht  oft  hineingreifen  in  das  sociale,  religiöse,  künstlerische 


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Überbürdung  der  primaner. 


und  wissenschaftliche  leben  der  Völker,  um  dem  schtiler  zu  zeigen, 
dasz  die  geschiente  nicht  blosz  aus  kriegen  und  jahreszahlen  besteht, 
sich  nicht  blosz  aufbaut  auf  dem  erfolge  der  kämpfenden  heeres- 
inassen,  sondern  dasz  auch  die  geistigen  mächte  des  Volkes  einen 
nicht  zu  unterschätzenden  factor  in  der  geschiente  ausmachen,  dasz 
sie  es  sind,  die  oft  genug  den  fortschritt  der  geschieh  tu  veranlassen, 
und  dasz  schliesslich  die  Umgestaltung  der  politischen  geschichte 
ihre  lichter  und  schatten  auch  auf  die  gesamtlage  des  Volkes  in 
materieller  wie  geistiger  beziebung  wirft. 

So  betrieben  wird  der  geschichtsunterricht  zwar  nicht  das  posi- 
tive wissen  überflüssig  machen,  denn  dies  ist  gerade  hier  besonders 
nötig,  aber  die  befruchtenden  allgemeineren  gedanken  werden  erst 
das  bindern  Ittel  für  die  einzelnen  thatsachen  bilden  müssen,  um  die 
gegenwart  aus  der  Vergangenheit  verstehen  zu  lehren  und  die  Zu- 
kunft wenigstens  einigermaszen  ahnen  zu  lassen,  so  wird  der  Unter- 
richt den  Schülern  zeigen,  wie  die  gegenwart  sich  gebildet,  welche 
fehler  früher  gemacht  worden  sind,  wovor  man  sich  nach  den  er- 
fahrungssätzen  der  geschichte  in  zukunft  zu  hüten  habe ,  worauf  es 
ankommt,  will  man  an  der  entwicklung  des  menschengeschlechtes 
wie  des  Vaterlandes  im  besondern  thätig  mitwirken. 

Man  sollte  sich  deshalb  beim  abiturientenexamen  nur  an  das 
pensum  der  prima  halten  und  auf  dem  gebiete  der  alten  geschichte 
auf  das  beschränken,  was  für  die  neuere  zu  wissen  unumgänglich 
nötig  ist.  wie  dies  zu  machen  ist,  darüber  können  nur  fachleute  ur- 
teilen; ich  habe  nur  den  punkt  anzugeben,  wo  anzusetzen  ist,  um 
die  abiturienten  zu  entlasten,  die  Instructionen  sr.  majestät  des 
kaisers  für  die  cadettenhäuser  betonen  das  hierzu  gehörige. 

Neben  der  geschichte  ist  unbestreitbar  die  mathematik  zu  über- 
bürden im  stände,  wenn  dieser  gegenständ  in  den  bänden  eines 
pädagogisch  nicht  gehörig  durchgebildeten  lehrers  ruht,  in  ge- 
schickten bänden  überbürdet  sie  nicht,  besonders  wenn  der  lehrer 
auch  die  berechtigten  forderungen  der  andern  Unterrichtsgegenstände 
gebührend  zu  berücksichtigen  vermag,  besonders  in  der  mathematik 
ist  die  forderung  berechtigt,  die  ganze  classe  im  Unterricht  zu  be- 
schäftigen, rechnen  und  construieren  im  buch  anstatt  an  der  tafel 
halte  ich  für  verfehlt,  nicht  minder  das,  wenn  der  lehrer  nur  die  schüler 
an  die  tafel  ruft,  die  ein  besonderes  interesse  für  die  mathematik 
besitzen,  leicht  setzt  der  lehrer  dann  als  von  allen  verstanden  vor- 
aus, was  diese  wenigen  so  schön  begriffen,  und  stellt  häusliche  auf- 
gaben, welche  die  schüler  belasten  müssen,  die  dem  Unterricht  nicht 
haben  folgen  können,  der  grund  zur  überbürdung  in  diesem  fache 
liegt  nach  meiner  eignen  erfahrung  lediglich  an  der  methode  des 
lehrers;  und  welcher  mismut  den  schüler  gerade  in  der  mathematik 
befallt,  wenn  er  trotz  besten  willens  keine  erfolge  erzielt,  habe  ich 
als  schüler  an  mir  selbst  erfahren ,  als  lehrer  an  andern  reichlich  zu 
beobachten  gelegenheit  gehabt,  ob  thatsächliche  beschränkungen 
des  lebrstoffes  möglich  und  nötig  sind,  kann  ich  nicht  beurteilen, 


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184 


Überbürdung  der  primaner. 


doch  dasz  die  metbode  manches  verkehrt  ist ,  lehrt  auch  heute  noch 
die  er  fahr  ung. 

Doch  auch  die  scbüler  will  ich  von  schuld  nicht  freisprechen. 
80  mancher  fehlt  in  der  classe;  natürlich  bilden  sich  lücken,  die  be- 
sonders gefährlich  in  einem  fache  sind ,  wo  sieb  der  eine  grundsatz 
mit  logischer  notwendigkeit  auf  dem  andern  aufbaut. 

Ferner  werden  oft  schüler  in  die  höheren  classen  versetzt,  welche 
in  diesem  gegenstände  kein  volles  zur  Versetzung  berechtigendes  prä- 
dicat  erlangt  haben,  sind  nun  solche  schüler  auch  in  andern  fachern 
keine  helden,  so  sind  sie  nicht  im  stände,  die  klaffenden  lücken  in 
der  mathematik  bei  zeiten  auszufüllen. 

Da  aber  das  abiturientenreglement  drohend  vor  ihren  äugen 
steht ,  so  beginnt  ein  übermäsziges  pauken  im  letzten  Schuljahr. 

Soll  also  oben  keine  überbürdung  eintreten ,  so  müste  in  allen 
classen  nach  dem  grundsatze  versetzt  werden,  dasz  mindestens  das 
prftdicat  'ziemlich  befriedigend'  in  allen  fächern  erreicht  ist. 

Auch  müsten  tüchtige  pädagogen  den  mathematischen  Unter- 
richt auf  allen  stufen  erteilen,  läszt  aber  der  lehrer  auf  den  mittleren 
classen  —  und  das  ist  tbatsächüch  zuweilen  der  fall  —  abstractes 
zeug,  was  der  schüler  nicht  begriffen  hat,  mechanisch  auswendig 
lernen,  so  schwindet  bei  ihm  das  interesse  für  diesen  bildenden  gegen- 
ständ, das  oben  nur  schwer  wieder  zu  beleben  ist.  dasz  aber  selbst 
von  primanern  noch  viel  auswendig  gelernt  wird,  beweisen  die 
abiturientenexamina  zur  genüge. 

Ich  komme  schlieszlich  zu  dem  französischen,  hier  hört  man 
selten  klagen  seitens  der  schüler  wegen  Uberbürdung,  öfters  dagegen 
die  des  lehrers  über  mangelhaften  fleisz  der  schüler.  es  läszt  sich 
nicht  in  abrede  stellen,  dasz  das  französische  das  Stiefkind  des  gymna- 
siums  ist.  da  nun  der  text  im  französischen  am  leichtesten  von  den 
fremden  sprachen  zu  verstehen  ist,  so  ist  für  den  lehrer  dieses  faches 
die  grammatik  die  hauptsache,  und  in  dieser  beziehung  wird  im 
letzten  halben  jähre  nicht  blosz  im  lateinischen  und  griechischen, 
sondern  auch  hier  des  guten  zu  viel  gethan. 

Jedes  examen  soll  allerdings  eine  summe  positiver  kenntnisse 
zu  tage  fördern,  doch  dürfte  sich  dies  ebenso  erreichen  lassen,  wenn 
man,  anstatt  blosz  im  letzten  Vierteljahre ,  dauernd  Wiederholungen 
vornähme,  wird  in  jeder  stunde  wiederholt,  was  die  vorige  an  neuem 
geboten,  wenn  auch  nur  in  den  hauptpunkten;  wird  dann  noch 
monatlich  eine  gesamtrepetition  vorgenommen;  versteht  es  ferner 
der  lehrer,  das  zusammengehörige  in  gruppen  zusammenzufassen,  so 
wären  die  repetitionen  am  ende  der  Schulzeit  überflüssig  und  doch 
das  nötige  wissen  erreicht,  würden  schlieszlich  die  Versetzungen  aus 
obersecunda  nach  unterprima  und  von  da  nach  oberprima  mit  aller 
strenge  gehandhabt,  so  würde  der  abiturient  ohne  übermäszige  an- 
strengung  sein  ziel  erreichen. 

Wie  es  augenblicklich  steht,  ist  die  frage  des  themas  zu  be- 
jahen. 


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Zur  überbürdungsfrage. 


185 


Abänderung  der  bestehenden  zustände  ist  recht  wohl  möglich 
und  erreichbar,  sobald  die  heranschulung  der  candidaten  nach  wissen- 
schaftlichen principien  erfolgt  und  die  lehrer  zur  erkenntnis  kommen, 
dasz  ihr  fach  nur  ein  stein  ist  zum  bau  der  harmonischen  ausbildung 
der  schüler,  der  im  und  durch  das  abiturientenexamen  seine  kröne 
erhalten  soll. 

Kempen  in  Posen.    Paul  Mahn. 


17. 

ZUR  ÜBERBÜRDUNGSFRAGE. 


überbürdung  und  kein  ende!  so  kann  man  von  den  höheren 
Unterrichtsanstalten  sagen,  von  Luther,  welcher  die  armen,  geplagten 
klosterschüler  bedauerte,  bis  auf  die  neueste  zeit  mit  ihren  unver- 
kennbaren bemühungen  für  das  körperliche  wohl  der  jugend  als 
gegengewicht  gegen  ein  Übermasz  von  geistesthätigkeit,  immer  das- 
selbe lied,  nur  in  verschiedener  tonart  und  stärke!  und  diese  klagen 
werden  nie  verstummen,  so  lange  es  menschen  gibt,  mag  auch  noch 
so  viel  gebessert  werden  an  unsern  schulein  rieh  tun  gen.  und  das  liegt 
ja  in  der  natur  der  sache;  denn  träger  der  überbürdung  ist  nicht, 
wie  man  gewöhnlich  im  publicum  anzunehmen  beliebt,  ausschliesz- 
lich  die  schule,  die  nebenbei  auch  noch  in  den  fällen,  wo  sie  ihre 
schuld  erkennt,  wenigstens  den  guten  willen  zeigt  abhilfe  zu  schaffen; 
es  sind  nicht  allein  die  häuslichen  arbeiten ,  nicht  die  überfülle  des 
lern-  und  memorierstoffes,  nicht  der  mangel  an  ausreichender  körper- 
licher bewegung,  und  wie  die  bequemen  Schlagwörter  sonst  heiszen 
mögen ,  die  bei  der  überbürdungsfrage  in  rechnung  zu  ziehen  sind, 
sondern  auch  haus  und  pension  haben ,  wie  nicht  oft  genug  wieder- 
holt werden  kann ,  ihr  schuldconto  und  tragen  mittelbar  manchmal 
mehr  als  die  schule  zur  überbürdung  bei,  ohne  dasz  sie  dabei  immer 
auch  ihrerseits  bestrebt  wären  mitzuarbeiten  an  dem  wahren  wohl 
der  ihrigen,  mögen  sich  doch  einmal  väter  und  mütter  ordentlich 
zu  gemüte  führen,  dasz  der  zeitraubende  Privatunterricht,  die  ab- 
lenkenden liebhabereien  mancherlei  art,  die  vorwegnähme  studen- 
tischer genüsse  unter  stillschweigender  oder  ausdrücklicher  geneh- 
migung  des  hauses  oder  der  pension  unendlichen  schaden  stiften ; 
dasz  hygienische  übelstände,  denen  die  schule  gar  nicht  beizukom- 
men im  stände  ist,  in  vielen  pensionen  an  der  geistigen  frische 
unserer  jugend  zehren!  vielleicht  urteilen  sie  dann  etwas  milder 
über  die  von  der  schule  thatsäeblich  oder  gar  nur  angeblich  herbei- 
geführte überbürdung.  denn  das  ist  doch  klar,  dasz  da,  wo  die 
körperkraft  durch  naturwidrige  einfiüsse  geschwächt  ist,  jede  für 
für  einen  gesunden  Organismus  leicht  zu  bewältigende  geistige  an- 
strengung  zu  einer  quelle  der  überbürdung  wird. 

Bei  allen  klagen  Uber  überbürdung  im  publicum  und  in  der 


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186 


Zur  überbürdungsfrage. 


tagespresse  hört  man  merkwürdigerweise  selten  oder  gar  nicht  eine 
classe  von  Schülern  erwähnt ,  die  allem  anschein  nach  in  erster  linie 
bedauern  und  entlastung  verdienten;  das  sind  unsere  abiturienten. 
denn  sechs  stunden  in  der  schule  zu  sitzen  und  eifrig  dem  unterrichte 
zu  folgen,  dazu  zwei  bis  drei  stunden  der  häuslichen  Vorbereitung 
zu  schenken  und  dann  noch  obendrein  längere  oder  kürzere  zeit  hin- 
durch vielleicht  ebenso  viel  stunden  täglich  auf  die  arbeiten  für  die 
abgangsprüfung  zu  verwenden,  wie  es  bei  den  abiturienten  doch  ge- 
wöhnlich ist:  das  ist,  sollte  man  meinen,  etwas  zu  viel  verlangt  bei 
jungen,  in  der  entwicklung  begriffenen  personen.  die  arbeiter  for- 
dern heutzutage  einen  achtstündigen  normal arbeits tag,  und  man  hält 
ihre  forderung  vielfach  für  nicht  unberechtigt;  die  abiturienten  sollen 
zehn  stunden  und  noch  länger  am  tage  geistig  thätig  sein,  und 
man  hört  wenig  oder  gar  nichts  zu  ihren  gunsten  angeführt,  woher 
kommt  diese  eigentümliche,  dem  sonstigen  gebahren  des  publicuins 
im  punkte  der  schulüberbürdung  ganz  widersprechende  erschei- 
nung?  sie  ist  nicht  anders  zu  erklären,  als  dadurch,  dasz  man  im 
hinblick  auf  das  hohe  ziel,  welches  die  abiturientenprüfung  dar- 
stellt, den  zweck  einmal  das  mittel  heiligen  läszt,  gleichwie  mutter 
und  mnhme,  die  sonst  leicht  der  schule  gram  werden,  wenn  ihre 
lieblinge  einmal  zu  hause  ratlos  an  der  feder  kauen ,  oder  zu  spät 
zu  bette  gehen ,  kurz  vor  der  Versetzung  alle  anordnungen  seitens 
der  schule  mit  freuden  gutheiszen  und  zu  ihrer  durchführung  willig 
die  hand  bieten. 

Daher  wollen  wir  uns  einmal  jener  jungen  leute  annehmen  und 
unbeirrt  durch  selbstsüchtige  auffassungen  das  für  und  wieder  in  der 
frage  der  überbtirdung  derselben  unparteiisch  abwägen,  um,  falls  sich 
etwaige  Schäden  in  unsern  Schulgepflogenheiten  zeigen,  durch  wohl, 
wollende  Vorschläge  zur  abstellung  derselben  dem  geplagten  dasein 
jener  zu  hilfe  zu  kommen. 

Denken  wir  uns  einen  Oberprimaner  mit  der  Veranlagung  des 
durchschnittsmenschen,  der  sittlich  und  körperlich  gesund  ist  und 
in  gleichen  Verhältnissen  lebt,  kurz  bei  dem  alle  bedingungen  des 
lebens  normal  genannt  werden  können,  derselbe  soll  in  den  secun- 
den  und  im  ersten  jähre  der  prima  redlich  seine  Schuldigkeit  in  der 
schule  und  für  die  schule  gethan  haben,  auch  während  dieser  zeit 
das  glück  gehabt  haben  und  noch  haben,  von  erfahrenen  lehrern 
unterrichtet  worden  zu  sein  und  unterrichtet  zu  werden,  welche  ihre 
aufgäbe ,  auch  in  den  fächern ,  für  die  einzelkenntnisse  und  gröszere 
anforderungen  an  die  gedächtniskraft  notwendig  sind,  darin  sehen, 
durch  richtige  Verknüpfung  und  concentration  des  lernstoffes  ein 
langsames,  aber  stetig  fortschreitendes  reifen  zu  erzielen,  und  die 
dem  entsprechend  bei  der  beurteilung  ihrer  schüler  auf  die  allge- 
meine geistige  entwicklung  das  hanptgewicht  legen,  ein  solcher 
schüler  soll  ferner  in  den  ersten  stunden  der  oberprima  vom  director 
oder  vom  Ordinarius  noch  besonders  darauf  aufmerksam  gemacht 
werden,  dasz  das  am  Schlüsse  des  jabres  zu  bestehende  abgangs- 


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Zur  überbürdungafrage. 


187 


examen  nach  den  anordnungen  der  behörde  und  entsprechend  dem 
wünsche  der  schule  kein  furchterregendes  gespenst  sei ,  sondern  ein 
natürlicher  abschlusz  einer  vieljährigen  thätigkeit  und  gewisser- 
maszen  eine  notwendige  förmlich keit,  bei  der  frack  und  weisze  hand- 
schuhe  eine  hauptrolle  spielen;  dasz  es  ferner  bei  demselben  darauf 
ankomme  innerhalb  des  seit  jähren  in  der  schule  verarbeiteten  lern- 
stoffes  Überlegung,  klarheit  des  denkens  und  richtigkeit  des  Urteils 
zu  zeigen,  nicht  einzelkenntnisse  und  zusammenhangloses  wissen, 
dasz  daher  'wüstes  pauken'  ad  hoc  nicht  nur  nichts  nütze,  sondern 
sogar  schädlich  wirke,  auch  das  urteil  des  lehrercollegiums  über  reife 
oder  nicbtreife  das  ausschlaggebende  sei :  so  werden  wir  einen  sol- 
chen abiturienten  nun  und  nimmer  für  Uberbürdet  halten  können, 
ja,  es  soll  ihm  sogar  eine  auszerordentliche,  etwa  vier  wöchentliche 
thätigkeit  vorher  für  die  prüfung  selbst  nicht  erspart  werden,  son- 
dern er  mag  neben  seiner  gewöhnlichen  arbeit  für  die  schule  unter 
ein-  bis  zweistündiger  mehrbelastung  seiner  erholungszeit  oder  auch 
unter  Verzichtleistung  auf  das  eine  oder  andere  vergnügen  die  un- 
entbehrlichsten einzelkenntnisse,  die  ja  recht  schnell  vergessen  zu 
werden  pflegen ,  seinem  gedächtnisse  von  neuem  einprägen  und  für 
den  tag  der  prüfung  bereit  halten,  alles  das  wird  ihm,  zumal  er  bis 
dahin  seine  kräfte  zu  schonen  im  stände  gewesen ,  nichts  schaden, 
oder  das  geftibl  der  überbürdung  in  ihm  aufkommen  lassen,  im 
gegenteil ,  es  liegt  in  dieser  mehrleistung  ein  hoher  sittlicher  wert : 
ein  ziel,  das  so  bedeutungsvoll  für  die  zukunft  eines  jungen  mannes 
ist,  wie  die  abiturientenprüfung,  ist  noch  gröszerer  opfer  wert,  jede 
cultur  fordert  ihre  opfer,  und  grosze  zwecke  erheischen  auszerordent- 
liche mittel,  was  die  heutigen  Zeiten  recht  eindringlich  predigen, 
wenn  der  jüngling  mit  achtzehn  oder  neunzehn  jähren  dies  an  sich 
selbst  schon  frühzeitig  praktisch  erprobt,  so  werden  ihn  auszer- 
gewöhnlicbe  lebenslagen  in  späterer  zeit  nicht  ungeübt  finden. 

Von  einem  solchen  Oberprimaner,  dessen  thätigkeit  den  grösten 
teil  des  letzten  jahres  seiner  Schulzeit  eine  gleichmäszig  ruhige  ist 
und  seiner  weiteren  geistigen  und  körperlichen  entwicklnng  zu  gute 
kommt,  kann  man  sagen,  auch  wenn  die  tage  der  prüfung  sein  herz 
vor  bangigkeit  klopfen  lassen  und  seine  nerven  etwas  stärker  an- 
greifen, dasz  für  ihn  die  mündliche  abiturientenprüfung  rder  har- 
monisch nachklingende  schluszaccord  des  ganzen  schullcbens'  und 
rder  tag  derselben  ein  ehren-  und  freudentag'  sei,  dessen  erinnerung 
ihn  stets  mit  freude  und  stolz  erfüllen  wird. 

Ob  ein  solcher  normalabiturient  aber  auch  möglich  ist  ?  ohne 
zweifei,  wenn  anders  die  aufgestellten  Voraussetzungen,  so  zahlreich 
sie  auch  seien,  gott  lob!  doch  nicht  unmöglich  sind;  aber  häufig 
findet  er  sich  jedenfalls  nicht,  die  Wirklichkeit  in  der  mehrzahl  der 
fälle  zeigt  vielmehr  ein  ganz  anderes  bild  des  abiturienten.  gewisse 
ansichten  in  der  schule  vererben  sich  von  geschlecht  zu  geschlecbt, 
und  die  Überlieferung  hinsichtlich  der  abgangsprüfung  läuft  für  ge- 
wöhnlich darauf  hinaus,  dasz  die  gedächtnismäszige  Vorbereitung 


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Zur  überbürdungsfrage. 


nie  eingehend  und  umfangreich  genug  sein  könne,  dasz  sie  den  ein- 
zigen ansprueh  auf  richtigkeit  habe,  winke  und  ratschläge  des  lehrers 
nützen  dem  gegenüber  wenig  oder  gar  nichts. 

Das  erste  halbjahr  vergeht  gewöhnlich  noch  in  ruhiger  tbätig- 
keit;  die  vis  inertiae  und  die  lebensfrohe  Sorglosigkeit  sind  hier  die 
rettungsengel  unserer  schüler;  aber  hier  und  da  zeigt  sich  auch  schon 
unruhe,  hast  und  nervosität,  welche  die  allgemeinen  zwecke  der 
Schulbildung  in  den  hintergrund  treten  lassen,  mit  dem  zweiten 
halbjahr  beginnt  die  arbeit,  gewöhnlich  tritt  ein  compagniegeschäft 
zu  zweien  oder  dreien  zusammen,  und  nun  wird  die  zeit,  welche  nach 
acht-  bis  neunstündiger  tbätigkeit  für  die  schule  und  in  der  schule 
—  nnd  bei  der  verwerflichen  gewohnheit  vieler  lehrer,  die  abitu- 
rienten  während  des  letzten  halb-  oder  Vierteljahres  in  der  classe  be- 
sonders scharf  zu  leistungen  heranzuziehen,  tritt  an  und  für  sich  schon 
eine  mehrbelastung  ein  —  naturgemäsz  der  erholung  gewidmet  sein 
müste ,  dem  6inem  zwecke  geopfert,  sogar  die  pausen  während  der 
Unterrichtszeit  nnd  die  seltenen  Spaziergänge  werden  zum  gegen- 
seitigen abfragen  misbraucht.  ich  habe  abiturienten  gekannt,  und 
es  waren  nicht  die  schlechtesten,  die  monatelang  vor  der  schulprü- 
fung  nie  vor  mitternacht  zu  bette  giengen  und  dann ,  noch  dazu  im 
winter,  täglich  um  5  uhr  aufstanden:  man  bedenke,  was  das  sagen 
will,  falls  noch  misliche  hygienische  Verhältnisse  hinzukommen,  z.  b. 
wenn  die  zeit  im  tabaksdunsterfüllten  räume  bei  schlechter  beleuch- 
tung  und  noch  schlechterer  heizung  zugebracht  wird! 

Die  gegenstände,  welche  bei  diesen  Wiederholungen  besonders 
in  betracht  kommen,  sind  religion,  geschieht«  und  geographie, 
mathematik,  dann  auch  Horaz;  ängstliche  gemüter  schenken  auch 
der  grammatik  der  fremdsprachen  beachtung.  die  Uberlieferung  an 
manchen  anstalten  bringt  es  ferner  mit  sich,  dasz  sogar  für  das 
schriftliche  examen  in  unredlicher  absieht  Vorbereitungen  getroffen 
werden  durch  fabrication  von  zetteln,  falls  keine  ererbten  vorhanden 
sind,  auf  denen  allgemeine  aufsatzeinleitungen ,  dann  auch  bearbei- 
tungen  bekannter,  besonders  im  lateinischen  aufsatz*  zu  verwertender 
abschnitte  aus  der  griechischen  und  römischen  geschichte  und  mathe- 
matische form  ein  aus  der  trigonometrie  und  der  Stereometrie  stehen, 
die  meiste  zeit  wird  jedoch  auf  religion  und  geschichte  und  geo- 
graphie, die  unter  den  gegenständen  der  mündlichen  prüfung  für 
die  schlimmsten  gelten,  verwandt,  und  da  kann  man  oft  die  unge- 
heuerlichsten dinge  beobachten ,  wenn  man  gelegenheit  hat  hinter 
die  coulissen  zu  sehen,  da  die  classenwiederholungen  durch  eine  Ver- 
ordnung des  ministers  für  unstatthaft  erklärt  worden  sind  und  mit 
recht,  da  die  in  der  Prüfungsordnung  enthaltenen  forderungen  sie 
als  überflüssig  erscheinen  lassen,  der  schüler  also  ganz  auf  sich  und 
die  nicht  mehr  zutreffende  Überlieferung  angewiesen  ist,  so  kommt 


*  dieser  artikcl  war  uns  schon  vor  dem  zusammentritt  der  Berliner 
schulconferenE  zngegangen.  die  redaction. 


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Zur  überbürdungsfrage. 


189 


natürlich  unter  dem  verschlimmernden  einflusse  der  angst  nur  ver- 
kehrtes heraus,  alles  wird  kunterbunt  durcheinander  nicht  einmal, 
oder  zweimal,  sondern  zehn-,  funfzehnmal  'durchgepaukt',  dazu  noch 
die  unbedeutendsten  thatsachen  und  daten,  die  vielleicht  irgend  ein- 
mal im  Unterricht,  oder  von  einem  besonders  eifrigen  und  gewissen- 
haften kameraden  gehört  worden  sind,  oder  auch  nach  der  Überliefe- 
rung lieblingsfragen  gewisser  examinatoren  sind,  unter  Zuhilfenahme 
aller  erdenklichen  mnemotechnischen  mittel,  unter  quälen  und  sorgen 
wird  das  ins  gehirn  eingepfropft  und  in  bestimmte  schubfacher  des- 
selben hübsch  ordentlich  eingereiht  zum  schlagfertigen  gebrauche 
bereit  gehalten,  es  ist  fabelhaft,  was  so  ein  jugendliches  gehirn  alles 
aufnehmen  kann:  sämtliche  deutschen  kaiser  der  reihe  nach  mit 
Jahreszahlen  herzusagen  gilt  für  eine  kleinigkeit,  aber  auch  die 
ökumenischen  concile  werden  ebenso  erlernt  und  alle  möglichen  un- 
bekannten flüszchen  Asiens  und  Amerikas,  letzteres  natürlich  ohne 
atlas:  es  ist  ein  wahres  wunder,  dasz  der  eine  oder  andere  pfiffige 
köpf  noch  nicht  auf  die  Schweizer  cantone  oder  die  französischen 
departements  verfallen  ist. 

Natürlich  musz  unter  solchen  quälereien  die  Spannkraft  und  die 
frische  des  körpers  verloren  gehen  und  sogar  die  kraft  dieses  erheb- 
liche einbusze  leiden,  so  sehen  denn  die  in  die  prüfung  tretenden 
jüuglinge  häufig  wie  die  schatten  aus,  und  so  manche  woche  ver- 
geht unter  liebevoller  mütterlicher  pflege  nach  bestandenem  examen, 
ehe  die  frühere  kraft  wieder  eingeholt  wird,  mir  ist  ein  fall  bekannt, 
dasz  ein  abiturient  in  einem  Vierteljahr  vor  der  prüfung  von  zwei 
centnern,  die  er  wog,  28  pfund  abgenommen  hatte;  dabei  war  die 
ganze  mühe,  die  ihn  so  heruntergebracht  hatte,  umsonst  gewesen, 
da  er  nicht  zur  mündlichen  prüfung  zugelassen  wurde,  wenn  wäh- 
rend des  mündlichen  examens  nicht  die  hochgradige  aufregung  die 
nerven  der  prüflinge  in  Spannung  erhielte ,  wir  würden ,  glaube  ich, 
noch  mehr  als  es  für  gewöhnlich  schon  der  fall  ist  an  Verworrenheit 
und  Unklarheit  des  denkens  dabei  erleben  als  folgen  der  wüsten, 
trostlosen  *paukereien\ 

Mancher  wird  sagen,  das/  die  färben  dieses  eben  entworfenen 
bildes  zu  stark  aufgetragen  seien,  aber  doch  ist  es  nach  dem  leben 
gezeichnet,  wie  jeder  aufmerksamere  beobachter  zugeben  wird,  viel- 
leicht trifft  zum  glück  die  Wahrheit  desselben  nicht  in  der  mehrzahl 
der  falle  zu ,  aber  sicherlich  in  einer  genügend  groszen  anzahl ,  so 
dasz  die  schule  grund  genug  hat  damit  zu  rechnen,  kommen  nun 
dazu  noch  von  den  eingangs  erwähnten,  auszerhalb  der  schule  liegen- 
den überbürdungsfactoren  der  eine  oder  der  andere  verschärfend 
hinzu,  dann  haben  wir  für  den  abiturienten  in  dem  letzten  halbjabr 
überbürdung  in  des  wortes  verwegenster  bedeutung.  woran  liegt 
die  schuld?  was  hat  zu  jener  unsinnigen  und  unseligen  Überliefe- 
rung geführt? 

Betrachten  wir  zunächst  einmal  die  forderungen  der  Prüfungs- 
ordnung vom  jähre  1882  in  den  fächern,  bei  denen  hauptsächlich 


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190 


Zur  überbürdungfefrage. 


überbürdung  zu  befürchten  ist.  'in  der  christlichen  religion',  heiszt 
es ,  'soll  der  schüler  von  dem  inhalte  und  dem  zusammenhange  der 
h.  schrift,  von  den  grundlehren  der  christlichen  confession,  wel- 
cher er  angehört,  und  von  den  hauptepochender  kirchengeschichte 
eine  genügende  kenntnis  erlangt  haben';  in  der  geschiente  die 
epochemachenden  begebenheiten  der  Weltgeschichte,  namentlich 
der  griechischen,  römischen  und  deutschen,  sowie  auch  der  preuszi- 
schen  geschiente  im  zusammenhange  ihrer  Ursachen  und 
Wirkungen  kennen  usw.;  in  der  mathematik  sichere,  geordnete 
und  wissenschaftlich  begründete  kenntnisse  besitzen,  wir  sehen 
also,  es  wird  überall  mehr  übersichtliches,  der  allgemeinen  bildung, 
die  das  gymnasium  vermitteln  soll,  entsprechendes  Verständnis  ver- 
langt und  damit  mehr  die  fähigkeit  richtiger  beobaebtung  und  Ur- 
teilskraft, als  die  augenblickliche  kenntnis  einer  summe  von  er- 
fahrungsmäszig  bald  der  Vergessenheit  anheimfallenden  einzelheiten 
betont,  ja,  einzelkenntnisse  müssen,  da  nach  den  eignen  erläute- 
rungen  des  ministers  zu  seiner  Prüfungsordnung,  wonach  fin  sach- 
licher hinsieht  die  jetzt  geltenden  bestimmungen  im  wesentlichen 
mit  den  früheren  in  Übereinstimmung  stehen'  —  circ.-verord.  vom 
27  mai  1882  —  geradezu  als  unstatthaft  und  dem  geiste  der  Prüfungs- 
ordnung zuwiderlaufend  angesehen  werden,  wenn  wir  in  der  circ- 
verf.  vom  6  juli  1868  Über  geschiente  und  geographie  lesen:  'viele 
der  herren  examinatoren  beschränken  sich  darauf,  einzelne  gebiete 
der  griechischen ,  römischen ,  deutschen  und  preuszischen  geschichte 
auszuwählen,  und  verlangen  auf  diese  weise  eine  kenntnis  von  einzel- 
heiten, die  man  bei  den  abiturienten  nur  dann  vorauszusetzen  be- 
rechtigt ist,  wenn  sie  kurz  vor  der  prüfung  sich  mit  derselben  genauer 
beschäftigt  haben,  das  ist  aber  doch  etwas ,  was  das  prüfungsregle- 
ment  seinem  ganzen  geiste  nach  nicht  verlangt.'  in  demselben  sinne 
heiszt  es  in  dem  prüfungsreglement  vom  jähre  1834 :  'bei  der  schlusz- 
beratung  über  den  ausfall  der  prüfung  soll  nur  dasjenige  wissen  und 
können  und  diejenige  bildung  der  schüler  entscheidend  sein,  welche 
ein  wirkliches  eigentum  derselben  geworden  ist',  und  in  dem 
vom  jähre  1837  in  nicht  mbzu verstehender  weise :  'so  unmöglich  es 
ist,  dasz  ein  verständiger  lehrer  der  ersten  classe  von  seinen  schülern 
verlange ,  dasz  alles ,  was  ihnen  in  dem  zweijährigen  cursus  gelehrt 
und  vorgetragen  worden,  binnen  einigen  stunden  rechenschaft  ab- 
legen, und  so  wenig  es  ihm  einfallen  wird,  den  grad  ihrer  durch  die 
einzelnen  lehrgegenstände  errungenen  geistigen  bildung  nur  nach 
dem,  was  sie  auswendig  gelernt  und  behalten  haben,  zu 
messen,  ebenso  entfernt  ist  auch  das  regle ment  von  sol- 
chen verkehrten  forderungen,  und  wenn  sie  nichts  desto 
weniger  gemacht  werden  sollten,  so  ist  es  pflicht  der  kgl.  prüfungs- 
commission einem  solchen  un fug  mit nachdruck entgegenzutreten 
und  den  wesentlichen  inhalt  des  reglements  gegen  jede  misdeutung 
und  falsche  anwendung  seiner  einzelnen  bestimmungen  geltend  zu 
machen.'  ferner  auch  in  dem  vom  jähre  1856:  'je  mehr  die  schüler 


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Zur  überbürdungsfrage. 


191 


gewöhnt  werden,  ihr  interesse  am  unterrichte,  ihren  fleisz  und  ihre 
leistungen,  sowie  ihr  sittliches  verhalten  während  der  Schulzeit  als 
das  eigentlich  entscheidende  bei  dem  schlieszlichen  urteil  über  reife 
und  unreife  anzusehen,  desto  mehr  wird  das  abiturientenexamen  auf- 
hören, ein  gegenständ  der  furcht  zu  sein.*  endlich  in  dem  vom  jähre 
1858:  'es  ist  alles  dasjenige  zu  vermeiden,  was  dazu  dienen  kann, 
das  abiturientenexamen  ängstlichen  gemutern  zu  einem  gegenstände 
ratloser  furcht  zu  machen.'  dasz  dieser  fürsorge  für  die  prüflinge 
und  der  Verhütung  einer  Überlastung  derselben  durch  die  Vorberei- 
tungen zur  prüfung  auch  die  fast  in  allen  reglements  wiederkehrende 
bestimmung ,  'die  classen  leistungen  und  das  auf  längerer  kenntnis 
des  schülers  beruhende  urteil  der  lehrer  zu  einer  wesentlichen  Grund- 
lage der  entscheidung  über  reife  und  nichtreife  zu  machen',  ent- 
sprechend sind ,  wird  jedermann  von  selbst  erkennen,  aus  alledem 
folgt  klar  und  deutlich,  dasz  die  Prüfungsordnung  für  das  heutige 
überbürdungsleiden  der  Oberprimaner  nicht  verantwortlich  gemacht 
werden  darf,  denn  mag  auch  der  Wortlaut  der  bestimmungen,  wie 
es  bei  solchen  reglements  gewöhnlich  ist,  hier  und  da  etwas  zu  all- 
gemein und  dehnbar  sein,  so  ist  doch  der  sinn  und  der  geist  derselben 
über  jeden  zweifei  erhaben,  danach  bleibt  also  nur  übrig  die  prak- 
tische anwendung  derselben  in  der  prüfung  selbst  und  die  daraus 
für  die  schüler  hervorgegangene  Überlieferung  für  die  Ursache  des 
Übels  zu  erklären. 

Wie  steht  es  damit?  zunächst  möchte  ich  bezweifeln,  dasz  der 
Wortlaut  und  der  sinn  der  Prüfungsordnung  allen  examinatoren  be- 
kannt ist;  und  doch  ist  dies  selbstverständlich  von  der  höchsten 
Wichtigkeit,  ja,  ich  halte  es  sogar  für  notwendig,  dasz  auch  alle 
Oberprimaner  zu  anfang  des  letzten  jahres  oder  halbjahres  ihrer 
Schulzeit  durch  den  director  mit  den  wichtigsten  bestimmungen  und 
erlfiuterungen  eingehend  vertraut  gemacht  werden,  dadurch  würde 
allen  viele  überflüssige  arbeit  erspart,  nach  welchen  gesichtspunkten 
wird  denn  nun  aber  bei  ungenügender  berücksichtigung  der  amt- 
lichen Verordnungen  geprüft  ?  man  folgt  einfach  der  Überlieferung 
und  der  persönlichen  neigung  und  gewöhnung:  wie  der  junge  lehrer 
seine  collegen  jähr  aus  jähr  ein  prüfen  gesehen  und  gehört  hat,  wie 
er  in  der  classe  bei  gelegenheit  der  Wiederholung  eines  gröszeren  ab- 
schnitts  prüft,  so  macht  er  es  in  der  abiturientenprüfung.  das  ist 
aber  eben  das  falsche  und  wie  ich  schon  oben  gesagt  habe ,  eine  der 
wurzeln  des  Übels. 

Das  bild ,  welches  sich  bei  der  landläußgen  art  zu  prüfen  im 
allgemeinen  bei  unseren  abiturientenprüfungen  entrollt,  zeigt  nach 
meinen  langjährigen  beobachtungen  und  vielfachen  erkundigun- 
gen  eine  übertriebene,  zum  teil  sogar  ausschlieszliche  inanspruch- 
nahme  der  gedächtniskraft  und  was  damit  in  enger  Verbindung 
steht,  einen  Wechsel  der  gedankenkreise,  dasz  selbst  der  unbeteiligte 
zuhörer  verwirrt  werden  kann,  der  schüler,  welcher  bei  gutem  ge- 
däcbtnisse  ein  schlagfertiges  mundwerk  hat,  kommt  am  besten  weg; 


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Zur  überbürdungsfrage. 


derjenige,  welcher  klar,  aber  langsam  denkt  und  antwortet,  erhalt 
zu  wenig  gelegenheit  seinen  verstand  zu  zeigen  und  steht  nicht  selten 
jenem  bedeutend  nach,  freilich,  äuszerlich  betrachtet  macht  es  sich 
ja  auszerordentlich  nett,  wenn  auf  die  frage  des  lehrers  die  schnelle 
antwort  des  prüflings  erfolgt,  oder  wenn  dieser  auf  einem  gebiete, 
wo  er  besonders  gut  auswendig  gelernt  hat,  nach  herzenslust  sein 
röszlein  tummelt;  aber  der  gute  eindruck  musz  schwinden,  wenn 
man  an  die  mtthen  und  arbeiten  denkt,  durch  die  dieser  äuszerlich 
glatte  erfolg  erzielt  worden  ist,  und  an  die  armseligkeit  der  hand- 
habe für  die  beurteilung  der  reife,  die  auf  diesem  wege  nach  der 
güte  des  gedächtnisses ,  nicht  nach  der  klarheit  des  denkens  und 
nach  der  schärfe  der  Urteilskraft  bemessen  wird,  bei  den  abiturien- 
ten  selbst  erfreut  sich  diese  art  des  prüfens  infolge  der  gewöhnung 
von  der  classe  her  einer  unverhältnismäszig  groszen  beliebtheit; 
schon  das  allein  müste  stutzig  machen. 

Selbst  die  sprachlichen  fächer  der  mündlichen  prüfung  leiden 
an  diesem  übel,  und  doch  erfüllen  sie  nicht  ihren  zweck,  wenn  man, 
anstatt  das  hauptgewicht  auf  rasche  auffassung,  richtiges  Verständnis 
und  angemessenen  ausdruck  zu  legen  und  die  grammatischen  und 
sonstigen  fragen  mehr  auf  die  erklärung  und  tiefere  begründung 
der  Übersetzung  zu  beziehen,  alle  möglichen,  auszerhalb  des  be- 
reichs  der  vorgelegten  stelle  liegenden  fragen  stellt,  oder  wenn  eine 
sachgemäsze  nebenfrage  dieser  art  zum  abhören  eines  gröszeren 
grammatischen  oder  antiquarischen  oder  sonstigen  abschnitts  erwei- 
tert wird,  es  ist  also  nicht  richtig,  im  griechischen  z.  b.  bei  drfT^Muu 
mit  den  partic.  nach  den  andern  verben,  die  das  partic.  prfidic.  re- 
gieren, oder  auch  nur  nach  einem  teile  derselben  zu  fragen,  sondern 
man  musz  sich  mit  der  richtigen  antwort,  dasz  an  dieser  stelle  etwas 
thatsäcblicbes  gemeldet  wird,  begnügen;  oder  man  darf  bei  einer 
lateinischen  stelle,  in  der  antiquus  vorkommt,  nicht  die  frage  stellen : 
welches  sind  die  synonyma  von  a.,  welches  ihre  unterschiede?  son- 
dern: warum  ist  an  dieser  stelle  antiq.  notwendig?  oder  im  fran- 
zösischen bei  einem  verb.  c.  accus,  oder  einer  conjunction  mit  dem 
subj.  nicht:  welche  andere  verba  regieren  den  accusativ?  welche 
conjunctionen  den  subjonctif?  sondern  man  kann  sich  entweder  mit 
der  Übersetzung  allein  zufrieden  geben,  da  dieselbe  ein  kriterium 
des  grammatischen  Verständnisses  ist,  oder  man  wird  die  allgemeine 
sprachliche  auffassung,  welcher  der  Franzose  im  gegensatzo  zum 
deutschen  folgt,  wenn  er  z.b.  secourir  mit  dem  objectsaccusativ  ver- 
bindet, hervortreten  lassen.  —  Sehr  bedenklich  ist  es  ferner,  im 
Horaz  die  musterübersetzung  der  classe  und  noch  dazu  alle  mög- 
lichen einzelerklärungen  zu  fordern,  während  das  blosze  geschmack- 
volle, sinngemäsze  lesen  schon  einen  genügenden  maszstab  für  die 
beurteilung  des  Verständnisses  abgibt,  übrigens  wird  man,  wenn 
man  der  Horazlectüre  in  der  classe  am  besten  nur  ästhetische  ge- 
sichtspunkte  zu  gründe  legt,  auf  eine  prüfung  in  diesem  dichter 
wohl  verzieht  leisten  müssen. 


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Zur  überbürdungsfrage. 


193 


Noch  trauriger  steht  es  um  die  praxis  der  prttfung  in  der  mathe- 
matik,  demjenigen  fache,  bei  welchem  man  am  allerersten  nur  ver- 
standesmäszige  fragen  erwarten  sollte ,  da  dieses  fach  die  höchste 
Schulung  des  denkens  erreichen  kann,  statt  dessen  wird  der  prüf- 
ling  in  wenigen  minuten  durch  alle  teile  dieser  disciplin  gehetzt  und 
musz  ohne  Zusammenhang  eine  flut  von  lehrsätzen  und  beweisen, 
formein  und  definitionen  aus  dem  köpfe  hersagen,  aus  denen  nicht 
im  entferntesten  der  schlusz  auf  mathematisches  denken  gerecht- 
fertigt ist,  und  die  ein  mensch  ohne  einen  funken  von  mathemati- 
schem denken  mit  derselben  bravour  anzuführen  weisz,  wenn  er  nur 
tüchtig  auswendig  gelernt  hat.  gerade  hier  ist  es  so  leicht,  den  abi- 
turienten  dadurch,  dasz  man  ihn  etwas  finden  läazt,  auf  seine  geistigen 
fahigkeiten,  besonders  auf  die  schärfe  seines  schluszvermögens  zu 
prüfen ,  indem  man  ihn  z.  b.  an  der  tafel  eine  leichte  geometrische 
aufgäbe  lösen  und  den  gang  der  trigonometrischen  rechnung  angeben, 
oder  in  der  algebra  ihn  eine  sogenannte  wortgleichung  lösen,  oder 
in  der  Stereometrie  an  diesem  oder  jenem  körper  unter  bestimmten 
Verhältnissen  den  grad  seiner  anschauung  zeigen  läszt.  anwendung 
des  gelernten  auf  fälle  aus  dem  praktischen  leben,  auf  die  mathe- 
matische geographie,  oder  die  physik  bieten  gerade  der  mathematik 
gelegenheit  die  geistige  reife  oder  nichtreife  im  klarsten  lichte  er- 
scheinen zu  lassen. 

Wie  pflegt  es  endlich  mit  der  religion  und  mit  der  geschiebte 
und  geographie,  diesen  schmerzensfächern  jedes  abiturienten ,  zu 
stehen?  von  vorn  berein  kann  hier  in  der  prüfung  ein  bestimmtes 
m&sz  von  inanspruchnahme  des  gedächtnisses  zugestanden  werden, 
da  es  sich  bei  18 — 20jährigen  jQnglingen  nur  um  wiedergäbe  fester 
thatsachen  und  fertiger  urteile  handelt,  bei  der  dehnbarkeit  der  be- 
stimmungen  der  Prüfungsordnung  aber,  welche  bei  diesen  gegen- 
ständen von  'grundlehren'  bzw.  'epochemachend'  spricht,  liegt  die 
gefahr  des  zuviel  nur  zu  nahe;  aber  das  ist  nicht  gerade  das  schlimmste, 
60  leicht  es  auch  zur  belastung  des  schülers  führt,  weil  das  durch 
tüchtige  lehrer  für  diese  föcher  eingeflöszt«  interesse  manche  Schwierig- 
keit überwinden  hilft,  wenn  aber  dort  eine  prüfung  im  katechismus 
und  gesangbuch,  hier  ein  bloszes  abfragen  der  geschichtstabellen 
daraus  wird,  wenn  besonders  aufzählungen  in  bestimmter  reihenfolge 
mit  genauester  datenangabe  verlangt  werden,  so  musz  man  gegen 
solche,  dem  geiste  der  Prüfungsordnung  zuwiderlaufenden  anschau- 
ungen  im  namen  unserer  jugend  einspruch  erheben,  ist  denn  der 
nutzen,  um  von  der  religion  ganz  zu  schweigen,  z.  b.  für  die  ge- 
schiente so  bedeutend,  wenn  ein  abiturient  die  daten  der  ereignisse 
der  schlesischen  kriege,  oder  des  letzten  deutsch-französischen  weisz? 
das  blosze  gefühl  für  die  Heldengestalten  in  der  geschiebte  der  Hohen- 
zollern  ist  für  die  entwicklung  des  nationalbewust&eins  tausendmal 
mehr  wert,  freilich,  einzelkenntnisse ,  in  der  vaterländischen  ge- 
schiente besonders,  sind  ja  sehr  schön,  aber  für  die  zwecke  der  abi- 
turientenprüfung  erscheinen  sie  unbedeutend,  ebenso  verhält  es  sich 

N.jthrb.f.phil.u.pid.  Il.tbt.  1891  hfl. 4.  13 


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194 


Zur  überbürduogsfrage 


mit  der  kenntnis  geographischer  dinge  ohne  das  anscbau ungsmittel 
der  karte,  ein  mangel,  der  auch  der  unsinnigen  art  der  Vorbereitung 
für  die  geographische  prüfung  ohne  Zugrundelegung  des  atlas  Vor- 
schub zu  leisten  im  stände  ist.  —  Und  was  ist  die  folge  dieser  über- 
mäszig  das  gedächtnis  belastenden  forderungen  ?  der  abiturient  wird 
nur  eine  unangenehme  erinnerung  an  alle  diese  einzeldinge  mit- 
nehmen und  dieselben,  sobald  er  dem  gymnasium  den  rücken  kehrt, 
möglichst  schnell  zu  vergessen  suchen;  ja,  er  wird  unter  umständen 
denen  kein  freundliches  andenken  weihen,  die  ihn  um  weniger 
minuten  willen  ohne  sichtlichen  nutzen  zu  einer  vielwöchentlichen 
auszerordentlichen  anstrengung  gezwungen  haben.  —  Gewöhnlich 
pflegt  in  diesen  fächern  bei  der  abgangsprüfung  am  meisten,  wenig- 
stens dem  anscheine  nach ,  geleistet  zu  werden ,  die  prädicate  'gut* 
und  'sehr  gut*  kommen  öfter  als  anderswo  vor  und  haben  mit  hilfe 
der  compensation  schon  manchen  gerettet;  aber  gerade  darin  liegt 
etwas  sehr  bedenkliches,  da  es  beweist,  dasz  an  sich  nicht  gerade 
bedeutenden  gegenständen,  soweit  wenigstens  die  erforschung  der 
verstandesentwicklung  in  betracht  kommt,  zu  viel  zeit  und  mühe 
geopfert  wird,  anderseits  dasz  in  unserer  prüfung  gedächtnismäsziges 
und  verstandesmäsziges  wissen  gleichwertig  sind.  —  Wenn  in  einem 
fache,  so  wird  es  bei  den  beiden  eben  besprochenen  von  hervorragen- 
der bedeutung  sein ,  dasz  die  examinatoren  auszer  allseitiger  beher- 
schung  des  Stoffes  richtige  erkenntnis  der  individuellen  leistungs- 
fähigkeit  und  gewandtheit  in  der  fragestell ung  besitzen,  damit  sie 
nicht  multa,  sondern  multum  verlangen  und  durch  den  logischen 
aufbau  der  prüfung  und  hervortretenlassen  des  Zusammenhangs  und 
der  causalität  der  erscheinungen  und  der  thatsachen  die  gedanken- 
arbeit  des  prüflings  erzwingen. 

Ich  glaube  hiermit  den  beweis  erbracht  zu  haben ,  dasz  sich  in 
die  praxis  des  prüfens  bei  unserer  abiturienten prüfung  fehler  ein- 
geschlichen haben ,  welche  geeignet  sind  infolge  der  daraus  sich  er- 
gebenden gewöhnung  der  schüler  manigfaltige,  zur  Uberbtirdung 
führende  Verkehrtheiten  in  der  art  der  Vorbereitung  für  die  prüfung 
herbeizuführen,  geht  man  aber  der  sache  auf  den  grund ,  so  wird 
man  die  übelstände  bei  der  prüfung  doch  erst  als  die  folge  eines 
allgemeineren  fehlerhaften  zustandes  in  unseren  höheren  unterrichts- 
anstalten  ansehen  und  in  erster  instanz  die  herschende  methode, 
wonach  dem  gedächtnis  im  unterrichte  ein  zu  weiter  Spielraum  ge- 
lassen wird,  für  jenes  Übel  verantwortlich  machen  müssen,  allerdings 
kann  die  pädagogik  nicht  des  gedächtnisses  entraten,  aber  bei  der 
beschaffenheit  der  heutigen  lehrgegenstände  und  der  aufeinander- 
folge derselben  liegt  die  gefahr  nur  zu  nahe,  dasz  der  schüler,  be- 
sonders der  unteren  und  mittleren  classen,  dasjenige,  was  nur  mittel 
zum  zweck  sein  soll,  mit  diesem  selbst  zu  verwechseln  geneigt  ist, 
zumal  durch  die  art  des  Unterrichts  mancher  lehrer  dieser  falschen 
ansieht  Vorschub  geleistet  wird,  und  was  durch  6  —  7jährige  gewöh- 
nung in  der  schülerseele  wurzel  gefaszt  hat,  das  läszt  sich  nur  schwer 


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Zur  überbürdungßfrage. 


195 


ausrotten,  hier  also  wird  bei  allen  Verbesserungen ,  wenn  sie  wirk- 
sam helfen  sollen,  die  hand  zuerst  angelegt  werden  müssen. 

Wir  sind  damit  scblieszlicb  zu  der  frage  gekommen,  wie  unseren 
abiturienten  erleicbterung  geschafft  werden  könne,  die  beantwor- 
tung  dieser  frage  wird  sieh  auf  wenige  praktische  winke  beschränken 
können,  um  so  mehr,  da  schon  im  früheren  gelegentliche  andeutun- 
gen  zur  abhilfe  gegeben  worden  sind,  radical  wäre  das  Übel  beseitigt 
durch  die  aufbebung  der  abiturientenprüfung,  ein  Vorschlag,  den 
P.  Richter  —  zeitschr.  für  gymn.  1889  s.  385  ff.  —  in  dem  aufsatze 
rzum  100 jährigen  jubiläum  des  abiturientenezamens  auf  preuszischen 
gymnasien'  mit  groszer  wärme  und  geschicklichkeit  verfochten  hat. 
ich  kann  micb  dieser  ansieht  nicht  anschlieszen,  denn  abgesehen  von 
dem  oben  aufgestellten  ethischen  gesichtspunkte  für  den  wert  der 
prüfung  und  der  notwendigkeit,  dasz  der  Staat  eine  handhabe  be- 
sitzen musz ,  durch  welche  er  die  Vorbildung  der  zu  höheren  Stel- 
lungen seines  dienstes  berufenen  zu  tiberwachen  und  zu  regeln  im 
stände  ist,  wäre  es  doch  auch  wahrhaftig  eine  schmach,  wenn  wir 
unseren  gymnasiasten  nach  9jährigem  unterrichtscursus  nicht  die 
kurze  scbluszprtifung  zumuten  dürften,  eher  liesze  es  sich  schon 
rechtfertigen ,  dasz  einzelne  gegenstände  der  mündlichen  prüfung, 
besonders  die,  welche  gedächtnismä^zige  Vorbereitung  erfordern, 
ganz  oder  zum  teil  wegfallen ,  wie  es  in  der  letzten  philologenver- 
Sammlung  zu  Görlitz  empfohlen  wird,  z.  b.  geographie  als  selbstän- 
diger gegenständ ,  oder  Horaz ,  oder  ein  teil  der  geschiente  derart, 
dasz  nur  das  pensum  der  prima  in  betracht  kommt,  falls  eine  prüfung 
in  der  alten  geschiebte  bei  der  Versetzung  nach  prima  genügende 
kenntnisse  erwiesen  hat.  eine  kleine  entlastung  könnte  man  auch 
durch  den  Wegfall  des  lateinischen  Aufsatzes  aus  dem  unterrichte 
überhaupt  erreichen;  aber  ich  glaube,  dasz  alles  dieses  nur  armselige 
notbehelfe  sind  und  als  wichtiger  und  wirksamer  vorbeugende  maß- 
regeln vorzuziehen  sind,  zumal  in  dem  abbröckeln  einzelner  gegen- 
stände auch  eine  nicht  zu  unterschätzende  gefahr  liegt.  —  Zu  den 
gründlichen  maszregeln  zähle  ich  die  betonung  völliger  reife  bei  der 
Versetzung  nach  oberprima  derart ,  dasz  eine  voraussichtliche  com- 
pensation  nur  in  einem  fache  und  bei  thatsächlich  guten  leistungen 
in  einem  der  hauptfächer  latein,  griechisch,  deutsch  und  mathematik 
in  betracht  gezogen  wird,  nichtreife  im  deutschen  aber  grundsätzlich 
von  der  Versetzung  ausschlieszt.  wichtig  ist  ferner  die  genaue  be- 
kanntschaft  mit  der  Prüfungsordnung  und  deren  erläuterungen,  be- 
sonders den  oben  angeführten,  sowohl  bei  lehrern,  als  auch  bei 
schülern,  und  die  strenge  Überwachung  der  amtlichen  Vorschriften 
seitens  der  kgl.  commissare;  wichtiger  die  gewöhnung  des  lehrers 
an  eine  praxis  des  prüfens,  die  das  verstandesmäszige  wissen  des 
prüflings  zu  tage  fördert,  so  dasz  endlich  einmal  die  Überlieferung, 
wonach  die  masse  der  einzelkenntnisae  allein  schon  die  prüfung  aus- 
macht, zerstört  wird:  man  prüfe  nur  zwei-  bis  dreimal  nach  diesem 
gesichtspunkte  und  die  angeborene  Schülerschlauheit  wird  schon  die 

13* 


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196 


0.  Willmann :  didaktik  als  bildungslehre. 


notwendigen  folgerungen  zu  ziehen  wissen,  endlich  ist  am  wichtig- 
sten und  die  Voraussetzung  der  andern  r atschläge  die  schärfere  be- 
tonung  des  Zweckes  und  Zieles  unserer  gymnasial bildung  im  Unter- 
richt auf  allen  stufen  und  öftere  belehrende  hinweisung  auf  jene  in 
den  oberen  classen. 

Posen.    R.  Schröter. 


18. 

Otto  Willmann,  didaktik  als  bildunoslebre  nach  ihren 
beziehungen  zur  socialforschüng  und  zur  geschichte  der 
bildung  dargestellt.  zwei  bände.  1882  q.  1888.  420  u.  544  8. 

Die  klage,  dasz  über  fragen  des  Unterrichts  und  der  erziehung 
in  unsern  tagen  sehr  viele  leute  mitsprechen,  die  kein  recht  dazu 
haben,  weil  ihnen  alles  oder  doch  das  rechte  Verständnis  dafür 
mangelt,  ist  nur  zu  begründet;  auf  der  andern  seite  aber  kann  man 
mit  freudiger  genugthuung  sagen,  dasz  über  die  kunst  des  lehrens, 
die  reform  des  Schulwesens,  die  neugestaltung  der  lehrerbildung 
und  damit  verwandte  fragen  mit  einer  kenntnis  und  einem  nach- 
druck  geschrieben  wird,  dasz  unsere  zeit  an  pädagogisch-didakti- 
schem interesse  keiner  früheren  nachsteht,  an  pädagogisch-didakti- 
scher einsieht  aber  alle  früheren  übertrifft. 

Um  von  andern,  zum  teil  hochverdienten  pädagogen  zu  schwei- 
gen, so  erinnere  ich  nur  an  das  überaus  rührige  und  erfolgreiche 
wirken  von  H.  Schiller  in  Gieszen  und  0.  Frick  in  Halle;  diese  bei- 
den männer  haben  wie  durch  ihre  Schriften  so  durch  ihre  praktische 
thätigkeit  an  schulen  und  Seminaren  eine  tiefgehende  bewegung  in 
der  lehrerweit  hervorgerufen,  aber  neben  ihnen  und  in  gewissem 
sinne  vor  ihnen  ist  Otto  Willmann  in  Prag  zu  nennen;  hat  doch 
Frick  gelegentlich  erklärt,  es  sei  ein  irrtum,  wenn  man  meine,  dasz 
er  auf  die  worte  Herbarts  schwöre;  wolle  man  einen  mann  nennen, 
dem  er  sich  in  allen  hauptpunkten  verwandt  fühle,  so  sei  das 
0.  Willmann. 

W.  war  der  lehrerweit  schon  längst  kein  unbekannter  mehr. 
1867  hatte  er  das  lesebuch  aus  Homer,  1869  pädagogische  vortrage, 
1871  das  lesebuch  aus  Herodot  veröffentlicht  und  1875  Herbarts 
pädagogische  Schriften  herausgegeben,  und  jedes  dieser  werke,  die 
zum  teil  schon  fünf,  sechs  auflagen  erlebt  haben,  zeugte  von  um- 
fassender kenntnis,  von  klarer  einsieht  in  das  was  not  tbut,  und  von 
einem  zielbewußten ,  einheitlichen  streben,  wenn  also  dieser  mann 
sich  die  aufgäbe  stellte,  die  didaktische  kunst  in  den  hauptzügen 
ihres  geschichtlichen  Verlaufs  zu  verfolgen,  ihren  Zusammenhang  mit 
den  social-ethischen  fragen  der  gegenwart  nachzuweisen,  das  blei- 
bende festzuhalten  und  so  gegenwart  und  Zukunft  auf  unerschütter- 
liche grundlagen  zu  stellen,  so  war  das  ein  unternehmen,  das  man 
freudig  begrüszen  und  von  dem  man  sich  viel  versprechen  durfte. 


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0.  Willmann:  didaktik  als  bildungslehre.  197 

Im  gegensatze  zu  den  früheren  didaktikern,  welche  sici\  auf  den 
individualen  gesichtspankt  beschränkten  und  wohl  die  methodik  aus- 
bildeten, aber  die  bildungsarbeit  als  ganzes  aus  den  angen  verloren, 
setzt  W.  sich  das  ziel,  die  leistungen  der  unterrichtslehre,  zumal  der 
neueren,  philosophisch  begründeten,  die  ergebnisse  der  arbeiten  zur 
erziehungs-  und  bildungsgesebichte  und  die  anfänge  zu  einer  lehre 
vom  bildungswesen ,  auf  welche  die  socialforschung  unserer  zeit  ge- 
führt hat,  in  Verbindung  und  Wechselwirkung  zu  setzen. 

In  der  einleitung  (s.  1 — 98),  die  im  wesentlichen  methodo- 
logische erörterungen  enthält,  wird  die  notwendigkeit  des  ganges, 
der  im  folgenden  einzuschlagen  ist,  nachgewiesen,  und  in  kurzen, 
treffenden  zügen  werden  die  hauptsächlichsten  der  hier  in  betracht 
kommenden  begriffe,  wie  zucht,  lehre,  bildung  an  sich  sowie  in  ihrem 
verb&ltnis  zu  einander  und  zum  socialen  leben  gezeichnet,  band  in 
hand  damit  geht  eine  Würdigung  der  wichtigsten  didaktischen  und 
.pädagogischen  Systeme,  ich  setze  daraus  die  urteile  über  Pestalozzi 
und  Herbart  hierher,  damit  der  leser  gleich  einen  einblick  ge- 
winne in  die  feinsinnige,  vorurteilsfreie  betrachtungsweise  des  Ver- 
fassers, 'die  leitende  idee  Pestalozzis:  für  die  lehrgebiete  der 
Volksschule  die  letzten,  wahren  elemente  und  die  ihnen  entsprechen- 
den geistigen  elementaractionen  aufzusuchen,  um  den  lehrinhalt 
durch  combination  und  Verzweigung  dieser  elemente  zu  gestalten 
und  das  lernen  zu  einer  mit  innerer  notwendigkeit  sich  fortspinnen- 
den abfolge  von  psychischen  actionen  zu  machen,  zeugt  von  einer 
tiefe  der  auffassung,  bis  zu  der  kaum  irgend  welche  fach  wissen- 
schaftlichen lehran Weisungen  vorgedrungen  sind.'  und  in  bezug 
auf  Herbart  heiszt  es:  'der  umstand,  dasz  die  didaktik  Herbarts 
manigfacher  rectification  durch  unbefangene  Würdigung  sowohl  des 
positiven  gehaltes  der  lehre  im  allgemeinen ,  als  der  einzelnen  lehr- 
materien  im  besondern  bedarf,  ist  kein  grund,  die  von  ihm  einge- 
schlagenen bahnen  als  aussichtslose  zu  verlassen  .  .  keinerlei  fach- 
wissenschaftliche lehranweisung  kann  das  ersetzen,  was  Herbart 
bietet:  die  weitblickende  Vertretung  der  gesamtaufgabe  des  Unter- 
richts, die  nachdrückliche  forderung,  da&z  seine  einwirkungen  sich 
in  dem  einen  gedankenkreise  des  Zöglings  zusammenfinden ,  und  zu 
einem  totaleffect  verschmelzen  müssen,  der  nicht  mehr  blosz  ein  in- 
tellectueller ,  sondern  ein  ethischer  ist.' 

Am  scblu>z  der  einleitung  weist  der  verf.  die  Selbständigkeit 
und  einheitlichkeit  des  gebietes  nach,  das  er  zu  bearbeiten  gedenkt, 
und  nennt  die  teile,  in  welche  das  ganze  naturgemäsz  zerfällt,  ge- 
wisse bleibende  prob  lerne  und  immer  wiederkehrende  aufgaben  sind 
das  centrum  der  didaktik ;  zugleich  aber  hat  sie  an  ihrer  peripherie 
berührungen  mit  einer  reihe  von  Wissensgebieten ,  die  ihr  den  an- 
trieb zu  specialisierender  Verzweigung  geben,  als  der  gegenständ  der 
didaktik  wird  die  bildungsarbeit  bezeichnet,  wie  sie  sowohl  in  ihrer 
collectiven  gestaltung,  dem  bildungswesen,  als  in  ihren  individuellen 
erscheinungen,  dem  bildungserwerbe,  wie  er  durch  die  einzelnen  ge- 


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J 

f 

198       t        0.  Willmann:  didaktik  als  bildungslehre. 

schiebt  v  sich  darstellt,  damit  aber  gleichzeitig  dem  umstände  rech- 
nung  getragen  wird,  dasz  die  verschränkung  des  socialen  und  indi- 
vidual^i  princips  ein  auseinanderfallen  von  bildungswesen  und 
bildung^erwerb  nicht  zuläszt,  nimmt  die  lehre  vom  bildungswesen 
die  vom  bildungserwerbe  in  ihre  mitte  und  zwar  derart,  dasz  ihr 
historischer  teil  an  die  spitze  tritt,  dagegen  das  gesamtbild  des 
bildungswesens  und  der  nachweis  seiner  Verzweigung  in  das  ganze 
der  socialen  bethätigung  den  schlusz  bildet,  daraus  ergeben  sich 
folgende  abschnitte:  I.  die  geschichtlichen  typen  des  bil- 
dungswesens. II.  die  bildungszwecke.  III.  der  bildungs- 
inhalt.  IV.  d ie  bil dungsarbeit.  V.  das  bildungswesen. 

Der  verf.  sagt  vom  ersten  abschnitt,  derselbe  habe  nicht  die 
aufgäbe,  eine  geschiente  der  bildung  zu  geben,  da  eine  solche  nicht 
ein  bestandteil  des  Systems  der  didaktik  sei.  wohl,  und  doch  dürfte 
schwerlich  etwas  besseres  über  die  geschiente  der  bildung  geschrie- 
ben sein,  es  werden  die  culturvolker  von  den  ältesten  zeiten  an  bis 
auf  unsere  tage  nach  dem  stände  ihrer  bildung,  ihres  lehrwesena, 
ihrer  cultur  mit  groszer  schärfe  beurteilt,  das  sind  so  treffende ,  so 
überzeugende  Würdigungen  des  innersten  wesens  der  betreffenden 
Völker  und  bildungsgrade,  dasz  ich  auch  den  historikern  raten 
möchte,  davon  kenntnis  zu  nehmen,  vortrefflich  ist  das,  was  W. 
über  den  unvergänglichen  bildungsgehalt  des  classischen  altertums 
sagt;  aber  nicht  minder  vortrefflich  sind  seine  äuszerungen  über  die 
bedeutung  des  Christentums,  er  erkennt  unumwunden  an,  dasz  die 
christliche  cultur  zum  nicht  geringen  teile  der  geistesarbeit  der  bei- 
den classischen  Völker  entstammt;  aber  er  vergiszt  nicht  zu  rühmen, 
dasz  es  das  Christentum  war,  welches  der  subjectir-ästheti&cben  rich- 
tung  des  altertums  gegenüber  die  zuebt  der  Wahrheit,  welche  in  allem 
lehren  und  lernen  liegt,  zur  geltung  brachte,  und  dadurch,  dasz  es 
die  seelsorgende  liebe  zum  hauptmotiv  der  erhaltung  und  Überliefe- 
rung des  erkannten  wahren  erhob,  die  antike  tendenz  auf  naebruhm 
und  Unsterblichkeit  zurückdrängte. 

Wenn  das  mittelalter  eingehender  und  liebevoller  besprochen 
wird,  als  es  sonst  meist  der  fall  ist,  so  mag  das  mit  daher  kommen, 
dasz  der  verf.  ein  guter  Katholik  ist;  aber  es  fehlt  diesem  vorgehen 
auch  nicht  an  gründen.  W.  hat  ganz  recht,  wenn  er  die  weit  ver- 
breitete Vorstellung  bekämpft,  als  ob  jenes  weltalter  eine  zeitwttste, 
ein  Winterschlaf  der  menschheit,  eine  pause  der  culturgeschichte  ge- 
wesen sei ;  in  Wahrheit  sei  das  Zeitalter  von  umfassender  und  reger 
geschichtlicher  arbeit  erfüllt,  welcher  die  neuzeit  einen  namhaften 
teil  der  Voraussetzungen  ihres  eignen  Schaffens  verdanke.  —  Dasz 
Luther  nicht  voll  gewürdigt  wird,  darf  bei  einem  Katholiken  nicht 
wunder  nehmen;  erinnert  man  sich  aber  der  schmählichen  behand- 
lung,  welche  der  grosze  reformator  von  römischen  historikern  unserer 
tage  erfahren  hat,  so  musz  man  es  W.  hoch  anrechnen,  dasz  er  von 
den  Verdiensten  der  evangelischen  kirchen-  und  Schulmänner  noch 
mit  solcher  achtung  spricht;  er  verleugnet  auch  hier  nicht  seinen 


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0.  Willmann:  didaktik  als  bildungslehre. 


gerechtigkeitssinn  und  sein  edles  empfinden,  letzteres  zeigt  sich 
auszerdem  besonders  gegen  den  scblusz  hin,  wo  er  den  ansprüchen 
des  falschen  kosmopolitismus,  naturalismus  und  materialismus  gegen- 
über die  fabne  des  idealismus  mit  freudiger  Zuversicht  hochhält,  der 
staat  ist  ihm  nicht  der  bildner  des  Volkes,  sondern  bestenfalls  der 
Verwalter  seines  bildungscapitales ;  er  freut  sich,  dasz  der  gedanke, 
die  bildung  müsse  historisch  fundiert  sein,  bereits  gemeingut  der 
denkenden  pädagogen  geworden  ist;  er  findet,  dasz  bei  allem  stre- 
ben auf  das  reelle  und  das  reale  dem  modernen  wesen  doch  nicht 
ein  bedürfnis,  ein  heimweh  nach  dem  ideellen,  ja  dem  spirituellen 
fehle. 

Im  ersten  abschnitt,  von  dem  ich  bisher  gesprochen,  sind  die 
keime  der  folgenden  enthalten;  dort  historischer  nach  weis,  hier 
systematische  Verwertung  und  Zusammenfassung,  von  dem  reich- 
tum  und  der  gediegenheit  des  Stoffes,  der  in  den  folgenden  vier  ab- 
schnitten des  zweiten  bandes  wohl  geordnet,  klar  entwickelt  und 
schön  geformt  vorliegt,  erkläre  ich  mich  von  vorn  herein  auszer 
stände,  eine  genügende  Vorstellung  zu  geben;  ich  beschränke  mich 
auf  einige  hinweise. 

Im  zweiten  abschnitt  'die  bildungsz wecke'  werden  die 
man  ig  fachen  motive,  die  zum  lernen  und  wissen  führen,  die  trieb- 
artigen, die  mittelbaren,  die  ethischen,  die  transcendenten  u.  a.  von 
allen  selten  beleuchtet;  welche  bildungsideale  es  gegeben  hat  und 
was  wahre  bildung  ist,  wird  klärlich  auseinandergesetzt;  zwischen 
materialem  und  formalem  bildungt-princip  wird  scharf  geschieden 
und  ihre  einheit  wird  in  der  forderung  gefunden:  lehre  so,  dasz  das 
gegebene  gelernt  werde,  dasz  des&en  bildungsinhalt  zur  geltung 
komme,  und  dasz  dieser  bildungsgehalt  seine  rechte  stelle  in  dem 
gesamtwachstum  einnehme  und  in  der  förderung  der  ganzen  geisti- 
gen kraft  seinen  beziehungspunkt  suche. 

Der  dritte  abschnitt  'bildungsinhalt*  zerfällt  in  folgende 
Unterabteilungen:  analyse  des  bildungsinhaltes.  das  philologische 
dement  der  bildung.  die  übrigen  fundamentalen  elemente  der  bil- 
dung. die  accessorischen  elemente  der  bildung.  die  fertigkeiten.  — 
Was  über  die  bedeutung  der  antiken  und  der  modernen  sprachen 
für  die  zwecke  der  schule  gesagt  wird,  ist  mir  aus  der  seele  ge- 
sprochen, die  werke  der  spracbkunst,  heiszt  es  einmal ,  welche  die 
neueren  litteraturen  bieten,  stehen  gegen  die  antiken  in  rücksicht 
auf  einfachheit  und  unbewuste  groszheit  weit  zurücH,  aber  sie  zeigen 
dafür  einen  wertvollen  Zuwachs  neuer  dichtungsformen  und  Stile; 
ferner  stehen  sie  mit  unserem  lebensinhalte  und  gedan kenkreise  in 
mehr  unmittelbarer  beziehung  als  jene,  was  ihnen  auch  ohne  beson- 
dere Veranstaltung  bildende  Wirkung  verleiht. 

Zu  den  übrigen  fundamentalen  elementen  der  bildung  rechnet 
der  verf.  die  mathematik,  die  philosophie  und  die  theologie.  die 
mathematik,  natürlich,  aber  auch  philosophie  und  theologie?  in- 
dessen bei  der  letztern  ist  es  eigentlich  nur  der  name,  der  anstosz 


200  0.  Willmann:  didaktik  als  bildungslehre. 

erregt,  nicht  die  sache.  bibelkunde,  katechismus ,  etwas  kirchen- 
geschicbte  lehren  wir  auch,  aber  das  ist  noch  keine  theologie;  unser 
religionsunterricht  soll  selbstverständlich  auch  lehren,  und  darum 
ist  ein  dogmatischer  kern,  ein  bestimmter  glaubensinhalt  ganz  un- 
erläszlich;  aber  >vor  allen  dingen  will  und  soll  er  erbauen;  lassen 
wir  also  den  stolzen  titel  theologie  lieber  fallen,  und  den  der  Philo- 
sophie erst  recht,  ich  will  die  Wahrheit  des  satzes ,  dasz  der  höhere 
bildungsunterricht  ohne  das  philosophische  element  eine  lficke  habe, 
nicht  bestreiten,  aber  ein  zusammenhängender  Unterricht  in  der  philo- 
sophie  gehört  auf  die  Universität,  nicht  auf  die  schule,  wir  wollen 
froh  sein,  wenn  wir  unsere  schüler  klar  und  folgerichtig  denken 
lehren  und  sie  bei  der  lectüre  des  Plato  bzw.  der  deutschen  classiker 
in  philosophische  gedanken  und  philosophische  Untersuchungen  ein- 
fühlen ;  einen  neuen  Unterrichtsgegenstand  dürfen  wir  aus  der  Philo- 
sophie nicht  machen. 

Aber  noch  in  höherem  grade  hat  mich  die  verhältnismäszig 
geringe  Wertschätzung  überrascht,  die  der  verf.  der  geschiente  ent- 
gegenbringt, 'die  geschiente  ist  keine  schulwissenschaft*,  sagt  er 
II  156,  'dagegen  bietet  sie  dem  freien  bildungserwerbe  einen  höchst 
geeigneten  stoff.'  und  s.  222  heiszt  es:  'es  entspricht  der  geistes- 
richtung  des  jünglings,  wenn  ihm  die  neuere  litteratur  und  die  natur- 
kunde  erschlossen,  dagegen  der  geschichtsunterricht  nicht  fortgeführt 
wird.'  ich  stehe  auf  seite  derer,  die  von  einem  richtigen  betrieb  der 
geschiente  sich  sehr  viel  gewinn  für  köpf  und  herz  der  schüler  ver- 
sprechen, und  wäre  es  auch  nur  um  jenes  enthusiasmus  willen,  der 
nach  Goethes  bekanntem  worte  an  der  geschichte  das  beste  ist.  — 
Endlich  befremdet  es,  eine  empfehlung  der  polymathie  zu  ßnden; 
die  sache  ist  leicht  miszuverstehen ,  kann  auf  keinen  fall  einen  be- 
sondern gegenständ  bilden  und  wäre  also  besser  weggeblieben,  doch 
das  alles  sind  nur  kleinigkeiten  im  vergleich  zu  dem,  was  volle  billi- 
gung  verdient;  insbesondere  sind  die  stellen,  die  von  dem  betriebe 
der  classischen  sprachen  und  ihrer  real-  wie  formalbildenden  kraft 
handeln,  ganz  vortrefflich. 

Der  vierte  abschnitt  'die  bild ungsarbeit '  führt  mit  den 
Unterabteilungen  von  der  Organisation  des  bildungsinhaltes ,  der 
didaktischen  formgebung  und  der  didaktischen  teebnik  gleichsam  in 
das  allerheilig6te  der  lehrkunst.  hier  erfahren  wir,  was  lehren  heiszt 
und  was  unterrichten,  wie  und  wo  das  classische,  das  typische,  das 
charakteristisch^  zur  Verwendung  kommen  müssen ,  was  es  mit  der 
jetzt  so  nachdrücklich  geforderten  concentration  des  Unterrichts  für 
eine  bewandtnis  hat  und  wie  die  principiellen  normen  im  einzelnen 
auszuführen  sind,  damit  das  lehrverfahren  das  rechte,  das  heilsame 
werde,  dasz  bei  erörterung  dieser  fragen  auf  das,  was  von  groszen 
Vorgängern  gefunden  und  durch  die  erfahrung  bewährt  ist,  zurück- 
gegangen wird,  ist  selbstverständlich;  aber  auch  autori täten  wie 
Herbart  und  Ziller  gegenüber  wahrt  W.  seine  eigenart,  und  wie  weit 
entfernt  er  davon  ist,  den  wert  der  methode  zu  überschätzen,  lehren 


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0.  Willniann:  didaktik  als  bildungblehre. 


201 


die  trefflichen  bemerkungen  auf  s.  247,  wo  es  u.  a.  heiszt:  'die  didak- 
tische methode  ist  eine  richtschnur  des  lehrers ;  was  nach  ihr  ge- 
richtet wird,  darf  aber  dadurch  seiner  natur  nicht  entfremdet  wer- 
den, sonst  wird  die  methode  zur  Schablone.  —  der  methodencultus 
hat  die  gedankenlosigkeit  zur  mutter ,  die  methodenscheu  die  denk- 
faulheit.' 

In  welchem  fach  auch  einer  unterrichtet,  hier  findet  er  in  orga- 
nischer entwicklung  alle  die  lehren,  gesetze  und  regeln,  die  er  zu 
befolgen  hat,  will  er  ein  geschickter  und  tüchtiger  lehrer  werden; 
damit  man  aber  auch  sehe,  wie  die  sache  in  Wirklichkeit  anzugreifen 
ist,  gibt  der  verf.  erst  eine  lehrprobe  für  den  darstellenden  Unter- 
richt, zu  dem  er,  um  das  princip  der  Wechselbeziehung  der  lehr- 
fächer  veranschaulichen  zu  können,  das  thema  wählt:  die  einführung 
des  Christentums  in  Deutschland  (II  356 — 376);  sodann  eine  be- 
sprechung  von  Schillers  Glocke,  um  das  vorgehen  bei  der  umfassen- 
den erklärung  deutscher  sprachwerke  aufzuzeigen,  hierauf  als  probe 
für  die  analytische  entwicklung  eines  empirischen  Stoffes  die  be- 
handlung  des  lautwechsels  im  deutschen;  endlich  als  proben  der 
rationalen  lebrfächer,  der  logik  und  mathematik,  eine  analytische, 
die  gewinnung  der  begriffe  analyse  und  synthese,  und  aufgaben  über 
das  zusammentreffen  von  bewegten  körpern  als  solche,  deren  ent- 
wicklung analyse  und  synthese  verbindet. 

Darf  ich  aus  dem  letzten,  fünften  abschnitt,  welcher  'das  bil- 
dungswesen'  behandelt,  gleich  einiges  vorwegnehmen,  was  mir 
weniger  gefallt,  so  will  es  mir  scheinen,  als  ob  W.  von  der  bedeu- 
tung  des  einzelunterrichts  zu  günstig  urteile,  niemand  wird  leugnen, 
dasz  auch  auf  diesem  wege  grosze  lehrer  und  grosze  schüler  sich  ge- 
bildet haben;  aber  wird  nicht  gerade  hier  unleugbar  viel  gesündigt? 
von  zehn  hauslehrern  haben  neun  keinen  beruf  zu  ihrem  beruf,  und 
der  ein  flu  sz,  der  von  gemeinsamem  streben  und  gemeinschaftlicher 
bebandlung  ausgeht,  ist  nachweislich  ein  groszer.  ebenso  wenig  ver- 
mag ich  mich  für  seinen  Vorschlag,  die  höheren  schulen  in  einer 
Stufenfolge  von  Vorschule,  lateinschule,  lyceum  und  Universität  auf- 
steigen zu  lassen,  irgendwie  zu  erwärmen,  aber  das  sind  keine 
punkte  von  Wichtigkeit,  das  schöne  und  gute  überwiegt  auch  hier 
und  als  besonders  lesenswert  bezeichne  ich  die  ausführungen  über 
die  aufgäbe  der  familie  und  der  gesellschaft,  den  nachweis  der  not- 
wendigkeit  einer  gründlichen  lehrerbildung  und  die  nachdrückliche, 
überzeugungstreue  betonung  des  Christentums  als  der  einzigen  quelle 
der  religiös-sittlichen  erneuerung  der  menschheit. 

Wenn  ich  weniger  über  das  buch  als  aus  ihm  gesprochen  habe, 
so  hatte  daa  seinen  guten  grund ;  das  werk  spricht  für  sich  selber, 
es  genügte  daher,  einen  kurzen  Überblick  über  den  unendlich  reichen 
inhalt  zu  geben,  der  hier  verarbeitet  ist,  die  art  der  bearbeitung  in 
heispielen  vorzuführen  und  den  geist  kennen  zu  lehren,  der  das  ganze 
wie  alles  einzelne  durchdringt. 

Hiermit  könnte  ich  schlieszen,  wenn  mich  nicht  eine  ziemlich  ab- 


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202  0.  Willmann:  didaktik  ah  bildungelehre. 


fällige  besprecbung,  die  Perthes  in  der  neuen  pbilol.  rundscbau  1890 
nr.  1  über  W.s  didaktik  veröffentlicht  hat,  noch  zu  einer  kurzen  be- 
merkung  veranlaszte.  natürlich  liegt  mir  nichts  ferner  als  einen 
mann  wie  Perthes  eines  bessern  belehren  zu  wollen;  noch  weniger 
will  ich  seine  kritik  einer  kritik  unterziehen;  ich  versuche  nur  meine 
abweichende  meinung  zu  begründen. 

Ich  bin  mit  Perthes  darin  einverstanden,  dasz  W.s  ansichten 
über  die  nähere  gestaltung  unseres  Schulwesens  als  endgültige  nicht 
betrachtet  werden  können;  es  werden  die  gegenwärtigen  zustände 
und  bestrebungen  zu  wenig  berücksichtigt,  als  dasz  sein  urteil  im 
einzelnen  maszgebend  sein  könnte,  aber  darin  liegt  auch  gar  nicht 
die  stärke  des  buches;  die  groszen  grundgedanken  und  hauptzüge 
echter  didaktik  aufzuzeigen,  das  ist  seine  aufgäbe ,  und  die  bat  es 
meisterlich  gelöst,  kommt  also  auch  das  werk  für  die  reformfragen 
nicht  unmittelbar  in  betracht,  die  freunde  humanistischer  bildung 
finden  doch  in  ihm  ein  wahres  arsenal  vorzüglicher  waffen. 

Die  thatsache,  auf  welche  Perthes  hinweist,  dasz  ein  bestimmter 
gedanke  sich  mindestens  sechsmal  dargelegt  findet,  ist  richtig,  er 
hätte  weiter  gehen  und  sagen  können,  dasz  sehr  viele  gedanke n  sehr 
oft  wiederholt  werden,  nur  hat  es  mit  diesen  Wiederholungen  seine 
besondere  bewandtnis.  sie  finden  nicht  statt,  etwa  weil  der  verf. 
vergeszlich  wäre  oder  zur  breitspurigkeit  neigte ,  sondern  weil  die 
manigfachen  beziehungen  und  Verhältnisse  der  gedankenkreise  zu 
einander  eine  immer  neue,  anders  geartete  behandlung  erheischen, 
der  neue  gesichtspunkt  läszt  dieselbe  sache  in  neuer  beleuchtung 
erscheinen  und  macht  es  möglich,  ihr  immer  neue  seiten  abzuge- 
winnen. 

Und  nun  der  stil,  den  Perthes  so  abschreckend  findet,  dasz  er 
meint,  der  leser  werde  durch  ihn  mehr  als  einmal  in  Versuchung  ge- 
führt, das  ganze  buch  ungeduldig  bei  seite  zu  werfen!  dies  urteil 
überrascht  mich  am  meisten,  es  ist  wahr,  W.  braucht  mehr  fremd- 
wörter  als  nötig  und  recht  ist;  es  ist  weiter  wahr,  dasz  sich  deutsche 
ausdrücke  finden,  die  als  Provinzialismen  bezeichnet  werden  müssen; 
und  doch  ist  die  spräche  so  sachgemäsz,  so  biegsam  und  so  gehalt- 
voll, so  abgerundet  im  satz-  und  periodenbau,  dasz  es  mir  auch 
um  der  form  willen  ein  wahres  vergnügen  gewesen  ist,  das  buch  zu 
lesen. 

Alles  in  allem:  die  didaktik  von  Willmann  ist  eine  ausge- 
zeichnete schrift  und  unbedingt  die  beste,  die  wir  Uber  diesen  hoch- 
wichtigen gegenständ  haben,  wenn  sie  weit  verbreitet,  viel  gelesen 
und  fleiszig  befolgt  wird,  dann  wird  der  sache  der  lehrer-  und  schüler- 
bildung  ein  ganz  wesentlicher  dienst  geleistet,  ich  kann  sie  mit 
gutem  gewissen  der  allgemeinen  aufmerksamkeit  empfehlen. 

Stettin.  Christian  Müfp. 


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0. Perthes:  die  notwendigkeit  einer  Umgestaltung  unseres  schulw.  203 

19. 

Otto  Perthes,  Oberlehrer  ah  Gymnasium  zu  Bielefeld:  die 
notwendigkeit  einer  durchgreifenden  umgestaltung  unse- 
res schul wesen8.  eine  antwort  auf  oskar  jägers  8chr1ft: 
das  human  istische  GTMNA8IUM.  Gotha,  Perthes.  1891.* 

Es  erscheinen  jetzt  so  viel  Schriften  mit  an  Weisungen  darüber, 
wie  der  not  in  den  höheren  schulen  abgeholfen  werden  könnte,  dasz 
man  einer  neuen  erscheinung  nicht  mit  freudiger  erwartung,  son- 
dern mit  der  unbequemen  furcht  entgegensieht,  man  werde  wieder 
einmal  das  alte  lied  mit  wenig  veränderter  melodie  hersingen  oder 
wieder  einen  neuen  unmöglichen  Vorschlag  zu  den  hunderten  schon 
vorhandenen  machen  hören,  desto  angenehmer  ist  die  enttäusch ung, 
wenn  man  bei  einer  schrift  wie  die  von  Perthes  seine  berechtigte 
scheu  überwindet  und  den  nach  weis  liest,  dasz  ohne  änderung  der 
lebrpläne,  ohne  einheitsschnle  und  sonstige  künstliche  Veranstaltung 
auf  dem  boden  des  gegebenen  sehr  wohl  eine  befriedigende  lösung 
der  so  viel  besprochenen  höheren  schulfrage  sich  finden  läszt. 

In  erster  linie  wendet  sich  Perthes  gegen  Oskar  Jäger,  und 
nicht  mit  unrecht,  die  ironische  art  Jägers,  so  unterhaltend  sie  für 
viele  sein  mag,  hat  der  sache  des  gymnasiums  ganz  gewis  nichts  ge- 
nützt, sondern  nur  geschadet,  mit  wegwerfenden  ausdrücken  und 
herbem  spott  bekehrt  und  belehrt  man  niemanden,  man  erbittert 
nur,  und  an  erbitterung  gegen  das  gymnasium,  an  erbitterung  zwi- 
schen realsehullehrern  und  gymnasiallebrern  fehlt  es  leider  auch  so 
schon  nicht,  wenn  daher  Perthes  mit  recht  diese  art  Jägers  ver- 
urteilt, so  ist  das  doch  nicht  das  wesentliche  seiner  schrift.  dasselbe 
liegt  auch  nicht  darin ,  dasz  er  seinem  gegner  unter  heranziebung 
anderer  Jägerscher  Schriften  eine  anzahl  von  Widersprüchen  mit  sich 
selbst  nachweist,  ja  sogar  zeigt,  wie  Jäger,  der  unerbittliche  spötter 
gegen  jeden  unglücklichen  ausdruck  anderer,  selbst  einen  logischen 
fehler  erheblicher  art  begeht  (s.  20).  dieser  mehr  persönliche  kämpf, 
so  angenehm  er  durch  seine  ruhige  art  jeden  feind  erregten  Streites 
berühren  musz,  ist  doch  nur  nebensache.  hauptsacbe  ist  die  be- 
kämpfung  des  grundsätzlichen  Standpunktes,  auf  dem  Jäger  und 
mit  ihm  viele  freunde  des  gymnasiums  und  gegner  der  realschul- 
bildung  stehen. 

So  weist  P.  zunächst  nach,  dasz  es  ein  verhängnisvoller  irrtum 
ist,  die  Unzufriedenheit  mit  den  zuständen  des  höheren  Schulwesens 
für  etwas  künstlich  gemachtes  zu  halten,  die  gegnerschaft  gegen 
die  alleinherschaft  des  gymnasiums,  die  Unzufriedenheit  mit  der  art, 
wie  die  alten  sprachen  meist  noch  immer  betrieben  werden,  ist  in 
der  that  weit  verbreitet,  auch  in  kreisen,  welche  an  sich  die  antike 
bildung  sehr  hoch  schätzen,   der  grund  für  diese  Unzufriedenheit 


•  die  folgende  besprechung  ist  vor  den  Berliner  conferenzen  ein- 
gesandt. 


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204   0. Perthes:  die  notwendigkeit  einer  Umgestaltung  unseres  schulw. 


liegt  darin ,  dasz  der  erfolg  des  altsprachlichen  Unterrichts  der  auf- 
gewendeten zeit  und  mühe  nicht  entspricht,  der  vater,  welcher  sieht, 
wie  sein  söhn  selbst  in  prima  kaum  einen  alten  Schriftsteller  leicht 
und  mit  Verständnis  lesen,  kein  extemporale,  keinen  classenaufsatz 
ohne  erhebliche  fehler  anfertigen  kann,  musz  den  köpf  schütteln  und 


so,  dasz  sie  nur  den  zielen  und"  der  methode  des  jetzigen  Unterrichts 
schuld  geben,  gar  viele  sind  geneigt,  die  alten  sprachen  selbst  dafür 
verantwortlich  zu  machen,  daher  ist  es  hohe  zeit,  ziele  und  methode 
zu  ändern,  wenn  man  die  alten  sprachen  noch  retten  will. 

Jäger  will  ziele  und  methode  erhalten  wissen,  weil  sie  geeignet 
sind,  dem  schtller  respect  vor  dem  wissen  als  wissen,  ihm  jene 
idealität  zu  geben,  welche  nach  dem  wissen  ohne  rücksicht  auf  dessen 
nutzen  strebt,  dasz  das  verkehrt,  ja  sehr  verhängnisvoll  ist,  weist 
P.  (s.  29  ff.)  schlagend  nach,  sollen  eitern  und  schaler  zweck  und 
ziel  eines  Unterrichts  verstehen,  so  müssen  sie  den  nutzen  desselben 
einsehen,  nutzlose  arbeit  befriedigt  niemanden,  auch  den  besten 
schüler  nicht,  die  fabigkeit ,  lateinisch  zu  schreiben ,  ist  aber  heut- 
zutage nutzlos;  weshalb  sie  also  zum  ziele  des  Unterrichts  machen? 
man  entschliesze  sich  endlich  einmal,  die  lectüre,  das  sichere  Ver- 
ständnis der  alten  litteratur,  zum  wirklichen  ziele  zu  nehmen,  dann 
werden  eitern  und  schüler  wieder  vertrauen  zum  gyranasium  be- 
kommen, lesefertigkeit  und  Verständnis  des  gelesenen  lassen  sich 
ohne  die  vielen  exercitien  und  extemporalien  recht  wohl  erreichen, 
also  entferne  man  dieselben,  mit  recht  macht  P.  darauf  aufmerk- 
sam, dasz  diese  beseitigung  der  grammatik  und  der  endlosen  Übung 
der  regeln  an  Sätzen  und  andern  deutschen  stücken  durchaus  im 
sinne  der  lehrpläne  von  1882  läge,  dasz  aber  die  lehrpläne  zu  ihrem 
recht  nicht  kommen  können,  so  lange  von  den  abiturienten  ein 
exercitium  und  ein  aufsatz  gefordert  werden,  der  lehrer  kann  auf 
die  eingehende  Übung  des  Übersetzens  ins  lateinische  gar  nicht  ver- 
zichten, wenn  er  den  forderungon  der  Prüfungsordnung  genügen 
will,  daher  müssen  diese  forderungen  fallen,  ebenso  müssen  die 
griechischen  versetzungsextemporalien  der  obersecunda  beseitigt  wer- 
den, denn  auch  sie  sind,  ganz  abgesehen  von  der  Ungerechtigkeit, 
einem  jungen  menschen  anzurechnen,  was  er  vor  zwei  jähren  ge- 
sündigt hat,  das  gröste  hindernis  für  eine  vernünftige  betreibung 
des  griechischen  Unterrichts. 

So  fordert  also  P.  (s.  17  f.)  mit  recht,  es  solle  die  amtliche  be- 
stimmung  etwa  so  lauten :  'als  schriftliche  probearbeit  bei  dem  abi- 
turientenexamen  und  bei  jeder  Versetzung  von  sexta  an  wird  gefordert 
die  Übersetzung  eines  lateinischen  bzw.  griechischen  textes  ohne  hilfe 
von  lexikon  und  grammatik,  und  zwar  1.  eine  genaue  wörtliche  Über- 
setzung, 2.  eine  Übersetzung  derselben  in  wirkliches  deutsch,  die 
jetzt  üblichen  extemporalien  sind  dagegen  nur  so  weit  noch  anzu- 
fertigen ,  als  sie  als  mittel  zum  zweck  des  genaueren  Verständnisses 
der  Schriftsteller  unerläszlich  sind.' 


nicht  alle  beantworten  diese  frage 


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O.Perthes:  die  notwendigkeit  einer  Umgestaltung  unseres  schulw.  205 

Dieses  ziel  würden  alle  väter  und  alle  schüler  verstehen,  seinen 
nuben  einsehen  und  an  sich  selbst  fühlen,  dasselbe  ist  aber  ohne 
jede  Änderung  der  Stundenzahl  leicht  durchführbar,  und  es  ist  die 
neigung,  dies  sich  als  ziel  zu  setzen,  in  weiten  kreisen  der  lebrer  vor- 
handen, man  gebe  denselben  freiheit,  und  die  lebrbücher  werden 
bald  da  sein,  dasz  aber  bei  dieser  art  des  altsprachlichen  Unterrichts 
der  nutzen  für  die  geistesbildung  der  schüler  derselbe  sein  wird,  ist 
von  P.  völlig  klar  gestellt,  die  jetzige  grammatistische  methode 
berscht  lange  genug,  so  dasz  sie  sich  längst  hätte  bewähren  müssen, 
was  ist  ihr  erfolg  gewesen  ?  abneigung  der  eitern  gegen  die  alten 
sprachen,  mangelnde  neigung  der  schüler,  entmutigung  der  lebrer, 
die  auch  beim  besten  willen  eine  entsprechende  Sicherheit  bei  den 
Schülern  weder  in  der  Übersetzung  aus  noch  in  der  Übersetzung  in 
die  fremde  spräche  erreichen  können,  die  methode  ist  gerichtet,  selbst 
Jäger  nennt  sie  einen  abziehenden  feind.  aber  sie  herscht  dennoch, 
man  sehe  nur  die  letzte  Veröffentlichung  des  preusz.  central blattes 
über  die  an  den  gymnasien  gebrauchten  lehr-  und  Übungsbücher 
nach,  da  beherscht  Ostermann  194,  Spiess  55  und  Wesener  146 
schulen,  die  bücher  aber,  welche  die  lectüre  in  den  Vordergrund 
stellen,  fristen  nur  hier  und  da  ein  mehr  als  bescheidenes  dasein, 
und  die  grammatiken  sind  alle  darauf  berechnet,  die  fremde  spräche 
schreiben,  keine  darauf,  die  fremde  spräche  lesen  zu  lehren,  das 
musz  anders  werden,  musz  bald  anders  werden,  wenn  nicht  die  alten 
sprachen  durch  ihre  eignen  falschen  freunde  selbst  schliesslich  ganz 
unmöglich  gemacht  werden  sollen.  —  Dies  würde  niemand  mehr 
bedauern  als  P.  selbst,  und  mit  ihm  auch  ich. 

Der  nachweis  dieses  haupt-  und  kernpunktes  ist  das  wesent- 
lichste verdienst  der  Pertbesschen  schrift.  aber  P.  sieht  sehr  wohl 
ein,  dasz  es  noch  einen  feind  zu  besiegen  gilt,  der  ebenso  gefährlich 
für  das  gymnasium  wie  hemmend  für  die  freie  entwicklung  des 
volkea  überhaupt  ist,  das  sind  die  Vorrechte  des  gymnasiums.  die 
zeiten  sind  endgiltig  vorüber,  wo  es  nur  eine  art  der  höheren  bildung 
gab.  die  interessen  sind  unter  den  höher  gebildeten  so  ungemein 
verschieden,  warum  soll  nicht  auch  die  Vorbildung  eine  verschiedene 
sein?  wie  es  mit  der  leitenden  Stellung  der  studierten  kreise  und 
mit  der  einheitlichkeit  in  ihrer  lateinischen  bildung  beschaffen  ist, 
deckt  P.  in  ruhiger  und  meiner  ansieht  nach  unwiderleglicher  weise 
auf.  was  wir  in  der  gegenwart  brauchen,  ist  freiheit  der  bewegung. 
rnicht  minderwertig,  nur  anderswertig  ist  die  historische  bildung, 
welche  das  realgymnasium  der  des  gymnasiums  gegenüber  zu  stellen 
hat',  sagt  P.  (s.  38).  ich  wünschte,  er  hätte  real  schule  statt  real- 
gymnasium gesagt,  so  hätte  er  ganz  recht  gehabt,  sind  wir  durch 
die  zahllosen  examina  nicht  schon  auf  dem  besten  wege  Schablonen 
statt  menschen  zu  erziehen?  wann  wird  man  endlich  zu  der  einsieht 
kommen ,  dasz  man  jeden  auf  seine  weise  die  nötige  bildung  sich 
suchen  läszt?  nur  die  volle  gleichberechtigung  aller  höheren  schulen 
von  gleicher  dauer  der  Unterrichtszeit  kann  uns  helfen,  ist  es  wirk- 


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206   Trosien :  über  den  religionsunterrioht  an  evangelischen  gymnasien. 


lieh  ein  unglück,  wenn  ein  junger  mann  aus  einer  realschule  abgeht 
und  jura  studiert?  was  geht  es  den  staat  an,  wo  er  gelernt  hat  sein 
corpus  iuris  zu  lesen,  wenn  ers  nur  überhaupt  lesen  kann?  das 
gymnasium  lehrt  ja  auch  nicht  englisch,  und  doch  darf  jeder  gym- 
nasialabiturient  englische  philologie  studieren. 

Dasz  dies  ziel  erreicht  werde,  erhofft  P.  allein  von  den  laien 
und  verzweifelt  an  den  fachmännern.  dem  stimme  ich  nicht  bei. 
unter  den  lehre rn  der  gymnasien  ist  die  zahl  derer,  welche  unsere 
ansieht  teilen,  keineswegs  gering,  nur  die  zögernde  haltung  der 
regierungen  hindert  sie.  es  ist  nicht  jedermanns  Sache,  in  den  kampf- 
platz  zu  treten  und  für  die  freiheit  von  dem  zwang  der  grammatik 
und  der  Vorrechte  zu  kämpfen,  im  stillen  arbeiten  viele  einzelne 
lehrer  und  gar  manche  von  dem  preuszischen  zwange  freie  schule  in 
der  richtung,  welche  P.  empfiehlt,  dasz  die  regierungen  zögern,  kann 
man  begreifen:  sie  scheuen  die  Verantwortung,  aber  ich  hoffe,  dasz 
dieses  schwanken  überwunden  werden  wird,  ehe  die  alten  sprachen 
in  den  äugen  der  gebildeten  stände  das  ansehen  unrettbar  verloren 
haben,  geschieht  dies,  dann  wird  es  auch  an  fachmännern  nicht 
fehlen,  welche  die  neue  bahn  gangbar  machen. 

Wismar.  Bolle. 


20. 

ÜBER    DEN    RELIGIONSUNTERRICHT   AN   EVANGELISCHEN  GYMNASIEN. 

von  Trosien,  provinzialschülrat  in  Königsberg,  separat- 
abdruck  aus  den  deutsch  -  evangelischen  blättern.  Halle  a.  S.,  Ver- 
lag von  Eugen  Strien.  1889.  24  s.  gr.  8. 

Den  religionslehrern  wird  es  gewis  erwünscht  sein,  Uber  den 
religionsunter  rieht  die  stimme  eines  mannes  zu  vernehmen,  der  nicht 
nur  selbst  an  verschiedenen  gymnasien  denselben  erteilt  hat,  son- 
dern auch  in  seiner  jetzigen  amtlichen  Stellung  ihn  zu  überwachen 
und  für  die  anstellung  geeigneter  lehrer  zu  sorgen  hat.  der  religions- 
unterricht  auf  den  evangelischen  gymnasien,  so  äuszert  sich  der  verf. 
s.3,  verlangt 'lautere  frömmigkeit,  reinste  begeisterung,  umfassendste 
wissenschaftliche  bildung,  poetischen  sinn,  liebe  zur  jugend,  Ver- 
ständnis für  die  verirrungen  des  jugendlichen  herzens,  hervorragen- 
des pädagogisches  geschick  und  allezeit  richtigen  tact\ 

Diese  eigenschaften  allmählich  sich  anzueignen  wird  gewis  das 
bestreben  treuer  lehrer  sein,  zumal  ja  Quintiiian  sogar  von  seinem 
redner  verlangt,  dasz  er  ein  vir  bonus  sein  müsse,  und  an  einer  an- 
dern stelle  sagt:  pectus  est  quod  disertos  facit,  und  wenn  von  irgend 
einem  lehrer,  so  vom  religionslehrer  jenes  wort  Goethes  gilt:  'wenn 
ihr's  nicht  fühlt,  ihr  werdet' s  nicht  erjagen.*  nicht  dasz  die  lehrer 
es  schon  ergriffen  hätten,  aber  sie  jagen  ihm  nach,  ob  sie  es  ergreifen 
möchten:  nur  die  forderungen  'umfassendste  wissenschaftliche 


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TTOaien:  über  den  religionsunter  rieht  an  evangelischen  gymnasien.  207 

bildung,  hervorragendes  pädagogisches  geschick  und  allezeit 
richtiger  tact'  scheinen  mir  zu  hoch  gegriffen,  die  forderung,  dasz 
ein  poesieloser  mensch  niemals  religionslehrer  werden  sollte  (s.  6), 
erhält  ihre  ergänzung  dadurch,  dasz  poetischer  sinn  (s.  3),  ein  für 
die  poetisch-symbolische  auffas3ung  der  heiligen  schrift,  wie  sie  vor 
allen  Herder  gibt,  empfänglicher  sinn  als  conditio  sine  qua  non  auf- 
gestellt wird,  der  verf.  findet  es  (s.  5)  nicht  ratsam ,  den  religions- 
unterriebt  den  geistlichen  anzuvertrauen  und  spricht  hierdurch 
sicherlich  den  directoren  und  lehrern  aus  der  seele,  wie  diese  es 
auch  nicht  gern  sehen  werden,  wenn  die  confirmanden  von  dem 
religionsunterrichte  in  der  schule  dispensiert  werden  (s.  6).  mit 
recht  wird  es  wieder  in  erinnerung  gebracht,  dasz  in  der  schule  nicht 
tbeologie,  sondern  religion  zu  lehren  (s.  10)  und  nicht  eine  sog. 
einleitung  in  das  alte  und  neue  testament  oder  eine  eingehende  kritik 
über  die  echtheit  dieser  oder  jener  schrift  (s.  15)  zu  geben  sei;  denn 
so  wenig  in  der  schule  eine  deutsche  litteraturgeschichte  zulässig  ist, 
die  nur  über  die  classiker  belehrt,  nicht  in  die  lectüre  derselben 
einführt,  ebenso  unzweckmäßig  sind  die  Vorträge  über  die  bibel, 
wenn  der  schüler  nicht  in  die  lesung  der  heiligen  schrift,  als  der 
grundlage  des  Unterrichts ,  eingeführt  wird. 

Ganz  vortrefflich  ist  die  Widerlegung  einiger  die  methodische 
behandlung  der  biblischen  geschiente  betreffenden  seitens  der  Her- 
bartschen  schule  aufgestellten  forderungen  (s.  11  ff.),  vortrefflich  der 
nachweis,  dasz  CTT^pucrra  des  göttlichen  Xövoc  auch  auf  Latiums  und 
Hellas*  boden  ausgestreut  gewesen  (s.  4),  wie  dies  Ranke  in  seiner 
reformationsgeschichte  als  Zwingiis  lehre  so  hübsch  ausgeführt  hat, 
und  wie  ja  auch  Tertullian  von  einer  anima  naturaliter  christiana 
und  Augustin  mit  solcher  aner kennung  von  der  Platonischen  Philo- 
sophie spricht,  dasz  er  behauptet,  mit  ihr  sei  man  schon  ein  halber 
Christ,  anziehend  ist  es  ferner  zu  lesen,  wie  die  geböte  sich  in  ge- 
bete  wandeln  (erstes  und  drittes  hauptstück;  vgl.  s.  18),  wie  der 
Jacobusbrief,  den  Luther  bekanntlich  als  eine  stroherne  epistel  be- 
zeichnet, den  Herder  aber  so  vortrefflich  erklärt  und  übersetzt  hat, 
richtig  gewürdigt  wird  (s.  17). 

Aller  erfolg  des  religionsunterrichts  liegt  in  der  person  des 
lehrers  (s.  9) :  verba  movent,  exempla  trahunt.  so  darf  es  als  selbst- 
verständlich angesehen  werden,  dasz  der  lehrer,  der  das  dritte  gebot 
und  das  fünfte  hauptstück  erklärt,  auch  die  kirche  besucht  und  sich 
ad  sacra  hält,  wenn  die  Verteilung  des  lehrstoffs  auch  wohl  in  allen 
gymnasien  der  hauptsache  nach  dieselbe  ist,  so  dasz  in  den  unter- 
sten classen  die  biblische  geschiente,  in  den  mittleren  der  katechis- 
mus  in  den  Vordergrund  tritt,  so  verdient  es  doch  nachgelesen  zu 
werden,  wie  der  verf.  die  behandlung  des  Stoffs  sich  denkt.  Luther 
sagte,  er  bete  täglich  seinen  katechismus,  so  ein  alter  doctor  er  auch 
sei,  und  Ranke,  um  das  wort  eines  nichttheologen  anzuführen,  dasz 
jener  dem  weisesten  der  weisen  genug  thut.  —  Die  kirchengeschichte 
wird  zweckmäszigerweise  nur  in  prima  gelehrt  (s.  19),  und  in  dieser 


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208 


Personalnotizen. 


classe  auch  zum  Schlüsse  im  Zusammenhang  eine  Übersicht  über  die 
glaubenslehre  (s.  21)  und  ein  abrisz  der  Sittenlehre  (s.  24)  gegeben, 
ob  das  neue  testament  in  der  grundsprache  schon  in  secunda  gelesen 
werden  darf,  wie  es  nach  s.  10  und  17  scheint,  ist  mir  zweifelhaft, 
dagegen  habe  ich  in  prima  einzelne  stellen  aus  dem  griechischen 
testament  auswendiglernen  lassen:  Matth.  6,  9—13.  Römer  1,  17. 
3,  28.  7,  19—25.  Hebr.  1,  1—3.  —  Die  in  den  früheren  classen 
gelernten  schönen  kirchenlieder  sind  in  den  obersten  zu  wiederholen 
(s.  17). 

Die  abhandlung  des  verf.  macht  einen  überaus  wohlthuenden 
eindruck  auch  dadurch,  dasz  in  dubiis  libertas  gewahrt  wird,  mit 
geringer  modification  kann  sie  auch  für  realgymnasien  maszgebend 
sein ,  und  als  ergänzung  derselben  empfehle  ich  die  lectUre  der  vor 
einigen  jähren  erschienenen  abhandlung  desselben  Verfassers  über 
Leasings  Nathan  und  seinen  artikel  in  Schmids  encyclopädie. 

Insterburg.  E.  Kr ah. 


(6.) 

PERSONALNOTIZEN. 


erhielten  das  ritterkreuz  I  cl. 
des  k.  sächs.  Verdienstordens. 


Heine,  W.,  dr.,  Oberlehrer  am  gymn.  in  Rawitsch,  zum  director  des 

realgymn.  in  Solingen  ernannt. 
Lipsius,  Justus  Hermann,  dr.,  ord.  prof. 

der  classischen  philologie  an  der  univ. 

Leipzig, 

Windisch,  Ernst,  dr.,  ord.  prof.  des 

sanskrit  an  der  univ.  Leipzig, 
Richter,  Rieh.  Immanuel,  dr.,  prof.  an 

der  univ.  Leipzig,  mitdirector  des  kgl. 

pädag.  Seminars, 

» 

Gestorben! 

Albrecht,  Wilh.,  prof.,  director  des  gymn.  Martino-Catharineura  zu 

Braunschweig,  13  april,  48  jähr  alt. 
Heller,  H.,  dr.,  prof.  am  Joachimsth.  gymn.  in  Berlin,  am  8  märz, 

öljährig. 

Hiller,  Eduard,  dr.,  ord.  prof.  der  class.  philologie  in  Halle,  am  9  märz. 
47jährig. 

Pfotenhauer,  prof.  des  strafrechts  in  Bern,  am  10  märz,  89 jährig. 
Reuss,  Ed.  Wilh.  Eugen,  dr.,  ord.  prof.  der  theol.  an  der  univ.  Strasz- 

bürg,  senior  der  theol.  facultät,  hervorragend  als  exeget  und  kirchen- 

historiker,  am  15  april,  im  86n  lebensjahre. 
Schenk,  August,  dr.  geh.  hofrat,  ord.  prof.  der  botanik  an  der  univ. 

Leipzig,  am  30  märz,  im  76n  lebensjahre. 


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ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜR  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT   AUSSCHLUSS  DER  CLAS8ISCHKN  PHILOLOGIE 

HERAU8GEGEBEX  VON  PROF.  DR.  HERMANN  MäSIÜS. 


21. 

EINE  LÜCKE  IN  DER  LATEINISCHEN  CLASSENLECTÜRE 

DER  GYMNASIEN. 


Mein  kurzer  aufsatz  im  ersten  befte  dieses  jahrgangs  'die  nach- 
ahmung  Ciceros  auf  unseren  gymnasien'  schlieszt  mit  dem  wünsche, 
dasz  der  primaner  künftigbin  von  den  namhaften  lateinischen  pro- 
saikern  nach  Christi  geburt  durch  eigne  lectüre  etwas  mehr  kennen 
lernen  möchte  als  den  einen  Tacitus,  und  empfiehlt  zur  ausfüllung 
der  jetzt  vorhandenen  lücke  die  einführung  einer  Chrestomathie,  — 
nicht  als  das  an  sich  wünschenswerte,  sondern  als  das,  was  nach 
läge  der  dinge  mit  einiger  aussieht  auf  erfolg  scheint  erstrebt  wer- 
den zu  können,  die  nachfolgenden  Zeilen  sollen  nur  dazu  dienen, 
diesen  gedanken  zu  begründen  und  des  weiteren  auszuführen. 

Verwahren  musz  ich  mich  von  vorn  herein  gegen  die  nahe- 
liegende Unterstellung,  als  handele  es  sich  für  mich  um  die  ausfül- 
lung einer  litteraturgeschichtlichen  lücke.  nichts  kann  mir  ferner 
liegen  als  dies,  so  wenig  der  einsichtige  lehrer  heutzutage,  wenn  er 
mit  seiner  classe  Arrian  oder  Plutarch  zu  lesen  anfängt,  die  liebe 
jugend  mit  der  ganzen  kette  von  litteraturgeschichtlichen  Zwischen- 
gliedern behelligt,  welche  zwischen  den  genannten  und  den  griechi- 
schen prosaikern  der  classischen  zeit  liegen,  so  wenig  wird  er  meinen, 
dasz  für  die  zwecke,  welche  der  schullectüre  des  Tacitus  gesetzt 
sind,  ein  zurückgehen  auf  Vellejus  Paterculus,  Curtius,  Mela  u.  a. 
erforderlich  sei.  welche  einflüsse  auf  Tacitus  gewirkt  haben,  welche 
Vorbilder  er  im  einzelnen  vor  äugen  gehabt  hat,  das  mit  schülern  zu 
erörtern  könnte  ja  doch  nur  fruchtlose  mühe  sein,  auch  die  rück- 
sicht,  dasz  Schriftsteller  wie  Seneca,  Quintilian,  Plinius  d.  ä.  und  d.  j. 
in  gelehrten  kreisen  noch  heutzutage  verdientes  ansehen  genieszen, 
könnte  mich  nimmermehr  zu  dem  wünsche  bestimmen,  dasz  man  die 
primaner  ein  wenig  auch  von  diesen  nippen  lasse,  die  Zeiten  liegen 

N.  jaturb.  f. phil. o.  päd.  II.  abt.  1891  hft.5.  14 


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210    Eine  lücke  in  der  lateinischen  claasenlectüre  der  gymnasien. 

» 

hinter  uns,  da  man  es  für  einen  erheblichen  gewinn  erachtete,  durch 
einen  kurzen  lebenslauf  und  ein  paar  pröbchen  mit  einem  Schrift- 
steller bekannt  geworden  zu  sein,  auf  derartige  oberflächliche  be- 
kanntkschaften  legt  man  neuerdings  erfreulicher  weise  geringen  wert 
in  der  erwägung,  dasz  dabei  nur  unzuverlässige  eindrücke  und  schiefe 
urteile  herauszukommen  pflegen. 

Wenn  ich  mich  für  eine  blumeniese  aus  nachclassischen  latei- 
nischen prosaikern  als  Schulbuch  erwärme,  so  thue  ich  es  aufgrund 
der  Überzeugung,  dasz  unseren  oberen  schülern  bei  der  jetzigen  ein- 
richtung  der  lateinischen  classenlectüre  etwas  entgeht,  was  ihnen 
um  ihrer  anregung  und  geistigen  durchbildung  willen  nicht  vorent- 
halten werden  möchte. 

Was  man  auch  zum  lobe  der  uns  erhaltenen  Schriften  von  Sal- 
lust  und  Caesar,  sowie  von  Ciceros  staatsreden  sagen  möge,  leugnen 
läszt  sich  nicht,  dasz  für  unseren  geschmack  das  rein  menschliche 
in  ihnen  hinter  dem  staatsmännischen  und  kriegerischen  zu  sehr  in 
den  Hintergrund  tritt,  bei  Caesar  bis  zu  einem  grade,  dasz  der  gefühl- 
volle leser  sich  oft  verletzt  fühlt,  bei  Sallust  wenigstens  insoweit, 
dasz  an  seinen  erzählungen  und  betrachtungen ,  so  interessant  sie 
meist  sind,  sich  schwer  jemand  so  recht  erwärmen  wird,  es  sei  ferne 
von  uns,  damit  einen  Vorwurf  aussprechen  zu  wollen,  gerade  in 
dieser  beschränkung  liegt  die  imponierende  grösze  und  der  eigen- 
artige reiz  jener  Schriftwerke,  zum  teil  geradezu  das  geheimnis  ihrer 
classicität.  weil  jeder  der  drei  als  vielerfahrener  Staatsmann  mit 
dem  festen  blick  auf  bestimmte  strebeziele  schreibt,  mit  der  bewusten 
absieht,  durch  die  auswahl ,  gruppierung  und  beleuchtung  dessen, 
was  er  bietet,  gewisse  Wirkungen  zu  erzielen,  entstehen  werke  aus 
einem  gusz  nach  der  seite  der  form  wie  des  inhaltes.  das  kann  man 
ganz  und  voll  anerkennen,  dabei  aber  doch  den  oben  ausgesproche- 
nen vermisz  empfinden,  am  meisten  kommt  ohne  zweifei  das  mensch- 
liche neben  dem  engherzig- römischen  und  staatsmännischen  zu  seinem 
rechte  bei  dem  vielseitig  erregbaren  und  durchgebildeten  Cicero, 
zumal  in  seinen  briefen  und  philosophischen  Schriften,  im  verkehr 
mit  eng  vertrauten,  in  der  ländlichen  zurückgezogenheit  vom  lärme 
der  Weltstadt  hielt  er  es  nicht  für  einen  raub  an  seiner  senatorischen 
hoheit,  wenn  er  gelegentlich  als  mensch  empfand  und  als  solchen 
sich  gab.  aber  nur  in  muszestunden  und  wie  verstohlen  hat  Cicero 
sich  den  genusz,  unter  menschen  ein  mensch  zu  sein,  verstattet,  wie 
oft  findet  er  für  nötig,  zu  erklären,  dasz  alles,  was  er  treibe,  im 
letzten  gründe  darauf  abziele,  Korns  macht  und  ansehen  zu  fördern, 
dem  Staate  direct  und  indirect  zu  dienen !  als  philosoph  und  edler 
mensch  sah  er  unstreitig  den  lauf  der  weit  von  einer  höheren  warte 
aus  an  als  die  mehrzahl  seiner  standesgenossen;  teilnähme  an  wohl 
und  wehe  anderer  und  wohlwollen  lagen  nicht  blosz  in  seinem 
naturell,  sondern  hatten  ihren  grund  in  humanen  anschauungen, 
welche  vornehmlich  durch  das  Studium  der  griechischen  weisen  bei 
ihm  gereift  waren,  aber  die  sorge  für  den  Staat  und  seinen  einflusz 


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Eine  lücke  in  der  lateinischen  classenlectüre  der  gymnasien.  211 

im  Staate  überwog  schlieszlich  auch  bei  Cicero  alle  andern  rück- 
sichten.  willig  oder  widerwillig  wandelte  er  die  bahnen  mit,  welche 
die  Senatspartei  verfolgte,  immer  sehen  wir  ihn  nach  der  seite  sich 
neigen,  die  auf  friedliche  begleichung,  menschlich  keit  und  Sittlich- 
keit bedacht  ist;  schlieszlich  muste  aber  auch  er,  um  macht  und  an- 
sehen zu  behaupten,  die  mittel  ergreifen,  die  gerade  zum  zwecke 
führten,  so  tritt  uns  bei  Cicero  immer  ein  ringen  zwischen  dem 
edlen,  feinfühligen  menschen  und  dem  kalt  rechnenden  Staatsmann 
entgegen,  als  sieger  im  kämpfe  geht  aber  im  groszen  und  ganzen 
der  letztere  hervor. 

Auch  unter  den  Schriftstellern  der  argentea  aetas  finden  sich 
ja  manche,  die  einen  groszen  teil  ihres  lebens  in  einfiuszreichen 
ämtern  gestanden  und  ihre  beste  kraft  dem  Staate  gewidmet  haben 
(so  Seneca,  der  ältere  Plinius,  Frontin,  Tacitus),  aber,  wie  männig- 
lich  bekannt  ist,  war  seit  Augustus  und  noch  mehr  seit  Tiberius  das 
beamtentum  nur  noch  ein  schatten  von  dem,  was  es  früher  gewesen 
war.  mochte  auch  manche  procuratio  in  der  kaiserzeit  viel  fleisz  und 
hingäbe  von  Seiten  ihres  inhabers  erfordern,  so  war  doch  die  lösung 
derartiger,  bestimmt  abgegrenzter  Verwaltungsaufgaben  etwas  ganz 
anderes,  als  die  staatsmännische  thätigkeit  in  den  letzten  Zeiten  der 
republik,  welche  einschlieszlich  der  Vorbereitung  auf  dieselbe  das 
ganze  sinnen  und  denken  vom  jünglings-  bis  zum  reifsten  mannes- 
alter voll  in  ansprach  nahm  und  nur  dem  reichbegabten,  wenn  er 
auf  bequemlichkeit  und  leben&genüsse  fast  ganz  verzichtete,  für  lieb- 
habereien  edlerer  art  eine  spärliche  musze  übrig  liesz.  und  wie 
wenige  gelangten  in  der  kaisereeit  überhaupt  zu  ämtern ,  die  wirk- 
lich etwas  zu  bedeuten  hatten,  hatte  der  einigermaszen  strebsame 
optimat  der  späteren  republikanischen  zeit  über  keinen  mangel  mehr 
zu  klagen,  als  über  den  an  musze,  so  war  diese  den  meisten  abkömm- 
lingen  edler  geschlechter  in  der  zeit  der  Julischen  und  Flavischen 
kaiser  im  reichsten  masze  beschieden,  infolge  dessen  wurden  von 
denen,  die  ihr  dasein  nicht  in  einem  stumpfsinnigen  genuszleben 
vergeuden  wollten,  liebhabereien  aller  art  betrieben,  man  reiste  im 
weiten  reich  herum,  forschte,  sammelte,  versenkte  sich  in  einzel- 
studien,  stöberte  in  archiven  und  bibliotheken  herum,  die  einen 
betrieben  streng  gelehrte  Studien,  die  andern  das  litteratentum  zunft- 
mäszig.  die  über  die  Jugendjahre  hinaus  fortgesetzte  beschäftigung 
mit  grammatik,  rhetorik  und  philosophie  wurde  immer  akademischer 
in  dem  masze,  als  die  möglichkeit  einer  praktischen  Verwendung  des 
gelernten  im  Staatsdienst  geringer  wurde,  dadurch  wurden  diese 
Studien  aber  zugleich  gründlicher  und  vertiefter;  auch  fieng  ein 
wissenschaftlicher  stil  an  sich  zu  entwickeln,  man  vergleiche  nach 
beiden  Seiten  das,  was  wir  wissenschaftliches  von  Cicero  und  Varro 
besitzen,  mit  dem,  was  uns  vonVitruv,  Celsus,  dem  älteren  Plinius, 
Quintilian  und  Frontin  erhalten  ist.  ist  auch  keiner  der  letztgenann- 
ten ein  bahnbrecher  auf  dem  gebiete  seiner  Wissenschaft  gewesen 
(dazu  war  die  römische  geistesbildung  nicht  tief  genug  gegründet), 

14* 


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212    Eine  lücke  in  der  lateinischen  classenlecture  der  gvninasien. 

&o  hat  doch  jeder  in  seiner  weise  sich  ernstlich  mit  sammeln  und 
sichten  bemüht  und  darnach  getrachtet,  zu  dem  angelernten  selbst- 
gedachtes und  selbstempfundenes  hinzuzuthun.  schon  aus  dieser 
nebensächlichen  rücksicht  möchte  der  eine  und  andere  aus  dieser 
reihe  unserer  jugend,  die  auf  wissenschaftliche  Studien  sich  vor- 
bereitet,  wenigstens  einigermaszen  bekannt  werden. 

Es  tritt  aber  auch  (und  das  ist  wichtiger)  das  menschliche  bei 
den  meisten  nachclassischen  Prosaschriftstellern  mehr  hervor  als  bei 
den  prosaikern  der  classischen  zeit,  nicht  bei  allen,  bei  manchen  auch 
wohl  in  wenig  ansprechender  weise,  denn  wer  möchte  es  leugnen,  dasz 
in  den  prosawerken  des  ersten  jahrhunderts  uns  vielfach  hier  nie- 
drige Schmeichelei  entgegentritt,  dort  Verbitterung,  dort  eine  innere 
haltungslosigkeit,  die  der  Verzweiflung  nahekommt?  daneben  aber 
klingen  uns  aus  der  litteratur  jener  drangvollen  zeit  auch  gemüts- 
töne  von  besonders  ergreifender  innigkeit  und  tiefe  entgegen,  die 
gemütlichen  züge,  die  das  Römertum  der  älteren  zeit  ausgezeichnet 
hatten,  familiensinn ,  freude  an  der  ländlichen  natur  und  der  häus- 
lichen behäbigkeit,  anhänglichkeit  an  die  heimische  schölle  usw., 
treten  wieder  entschieden  hervor,  vorangegangen  war  hierin  die 
dichtung.  hatten  auch  Catull,  Tibull,  Vergil,  Horaz  nicht  umbin 
gekonnt,  um  hoher  gönner  gunst  sich  zu  erwerben  und  zu  bewahren, 
bis  zu  einem  gewissen  grade  an  dem  triumphwagen  der  dea  Roma 
sich  mit  anspannen  zu  lassen  und  ihre  muse  dem  tagesgeschmacke 
dienstbar  zu  machen,  jeder  von  ihnen  hatte  daneben  doch  auch 
gewagt,  sich  zu  geben,  wie  er  war,  und  zu  singen,  wie  es  aus  der 
kehle  kam,  begeistert- schwungvoll  oder  neckisch  -  tändelnd ,  und 
dabei  saiten  angeschlagen,  deren  klang  noch  heute  gemütvolle  hörer 
herzerquickend  anmuten,  was  die  prosa  anbelangt,  so  hat  auf  mich 
immer  die  vorrede  des  Livius  den  eindruck  gemacht,  als  verspüre 
man  in  ihr  das  erste  wehen  eines  neuen  geistes.  auch  des  Livius 
herz  ist  erglüht  von  stolz  auf  den  römischen  namen  und  begeisterung 
für  die  groszthaten  früherer  geschlechter,  welche  aus  einer  asylstätte 
allmählich  ein  weitreich  geschaffen  hatten,  aber  weder  er  noch  seine 
ahnen  hatten  an  alledem  anteil  und  verdienst  gehabt,  als  anspruchs- 
loser mann  der  feder  kleidet  er  das  aus  alten  Chroniken  zusammen- 
getragene in  das  gewand  einer  schmuckreichen ,  packenden  erzäh- 
lung,  für  sich  weiter  nichts  begehrend  als  die  anerkennung  seines 
redlichen  bemtihens,  der  selbstgestellten  groszen  aufgäbe  nach  kräften 
gerecht  zu  werden,  er  deutet  es  leise  an,  dasz  er  vor  manchem,  was 
ihm  in  der  gegenwart  unzusagend  sei,  sich  gern  in  die  stille  klause 
zu  seinen  büchern  geflüchtet  habe,  um  an  den  groszthaten  früherer 
zeiten  sich  zu  erbauen,  aber  er  thut  es  ohne  bitterkeit.  was  er  ge- 
legentlich Über  seine  arbeit  sagt,  trägt  das  gepräge  bescheidenster 
Selbstlosigkeit,  der  geist  aber,  der  das  ganze  geschichtswerk  durch- 
weht, ist  der  einer  durchgereiften  sittlichen  Weltanschauung,  eines 
wohlthuenden  inneren  friedens.  dasselbe  wird  wohl  auch  gesagt 
werden  können  von  Quintilians  Institutio  oratoria.    so  ernstlich 


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Eine  lücke  in  der  lateinischen  classcnlectüre  der  gymnasien.  213 

dieser  lehr  meist  er  der  redekunst  es  sich  angelegen  sein  läszt,  den 
auszubildenden  zögling  für  die  bedtLrfnisse  und  den  geschmack  des 
tages  praktisch  auszurüsten,  die  hauptsache  bleibt  ihm  doch  immer 
die  durchbildung  des  ganzen  menschen,  die  wertvollen  winke,  welche 
er  nach  dieser  seile  giebt,  lassen  uns  einen  einblick  thun  in  das 
Innenleben  eines  mannes,  der  viel  beobachtet,  durchdacht  und  unter 
ernsten  sittlichen  gesichtspunkten  sich  zurecht  gelegt  hat;  dazu  tritt 
von  anfang  bis  zu  ende  dem  leser  eine  ruhe,  eine  Sachlichkeit,  eine 
lauterkeit  der  gesinnung  entgegen,  die  nicht  imponierend,  aber  wohl- 
thuend  wirkt  und  hochachtuug  vor  dem  Verfasser  erwecken  musz. 

Aber  auch  bei  andern  prosaikern  des  ersten  Jahrhunderts  macht 
sich  im  vergleich  zu  denen  der  classischen  zeit  eine  gröszere  Samm- 
lung und  Vertiefung  nach  der  seite  der  gründlichkeit  der  forschnng 
wie  der  humanen  durchbildung  bemerklich,  was  man  auch  an  Seneca 
und  dem  jüngeren  Plinius  als  Charakteren,  am  alteren  Plinius  als 
Stilisten  auszusetzen  finden  möge,  ihre  durchbildung  ist  eine  gründ- 
lichere als  die  Ciceros  und  Caesars,  ihr  innenleben  reicher  ausge- 
staltet, ihr  empfinden  humaner  und  weitherziger,  was  dabei  zu  ver- 
missen bleibt,  sei  nicht  verschwiegen,  die  schöne  ebenmäszigkeit, 
die  lichtvolle  klarheit  der  gedankenäuszerung,  welche  die  classiker 
auszeichnete,  findet  sich  bei  keinem  der  nachclassiker  wieder,  selbst 
dem  groszen  meister  feinzugespitzter  rede,  Seneca,  macht  nicht 
selten,  zumal  in  seinen  gröszeren  Schriften,  der  ausdruck  zu  schaffen, 
noch  ungleich  mehr  macht  sich  dies  bei  dem  älteren  Plinius,  Quin- 
tilian,  auch  beiTacitus  bemerklich,  sobald  die  rede  höheren  Schwung 
annimmt  und  in  das  gebiet  der  allgemeinen  betrachtungen  sich  er- 
hebt, gar  häufig  erhält  man  den  eindruck,  als  gähre  es  noch  unklar 
in  des  Schriftstellers  seele,  als  ringe  er  noch  ohne  rechten  erfolg  bald 
mit  der  sache,  bald  mit  der  form,  darin  liegt  aber  gerade  für  uns 
modernen  ein  ganz  besonderer  reiz ;  hat  doch  ein  jeder  von  uns  einen 
winkel  in  seiner  seele,  wo  sich  manches  etwas  chaotisch  durcheinander 
treibt,  wie  man  aber  auch  über  die  mängel  und  Vorzüge  des  rmcb- 
classischen  stils  urteilen  möge,  soviel  wird  zugegeben  werden  müssen, 
dasz  zahlreiche  stellen  von  Seneca ,  die  einleitung  zum  ersten  und 
sechsten  buche  und  der  schlusz  des  zwölften  buches  von  Quintilian, 
verschiedene  bucheingänge  des  älteren  Plinius,  gewisse  partien  des 
Dialogus,  der  schlusz  des  Agricola,  zahlreiche  glanzstellen  der  Histo- 
rien und  Annalen  zu  dem  gehaltreichsten  und  tiefsten  gehören,  was 
in  römischer  zunge  geschrieben  worden  ist,  dasz  in  einzelnen  dieser 
abschnitte  uns  eine  herzigkeit,  ein  adel  der  auffassung,  eine  gemüts- 
tiefe entgegentritt  in  einer  uns  moderne  Germanen  wunderbar  an- 
mutenden form,  wie  uns  gleiches  bei  den  classischen  prosaikern  nicht 
begegnet,  soll  unseren  primanern  von  alledem  nur  das  bekannt 
werden,  was  die  Tacituslectüre  ihnen  bietet? 

Ein  anderer,  nicht  minder  wichtiger  gesicbtspunkt  ist  die  eigen- 
artige culturgeschichtliche  bedeutung  des  ersten  jahrhunderts. 
in  ihm  werden  die  formen  monarchischer  regierung  geschaffen,  welche 


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214    Eine  lücke  in  der  lateinischen  clussenlectüre  der  gyinnasien. 

eine  vorbildliche  bedeutung  noch  für  späte  Jahrhunderte  haben  sollten, 
in  die  bis  dahin  ziemlich  planlose  Verwaltung  des  reiches  kommt 
plan  und  Zusammenhang;  riesenbauten  entstehen  in  Born  und  in  den 
provinzen,  von  welchen  manche  bis  auf  diese  stunde  ziemlich  unver- 
sehrt sich  erhalten  haben,  öffentliche  bibliotheken  werden  geschaffen, 
Wissenschaft  und  kunst  vom  Staate  aus  gefördert,  handel  und  indu- 
strie  werden  im  groszartigeren  stil  betrieben,  das  litterarische  und 
gesellige  leben  bildet  sich  immer  weiter  aus  nach  der  seite  des  edleren 
gescbmackes  wie  der  überfeinerung  und  der  Überbildung,  man  fängt 
an,  auch  mit  der  socialen  frage  sich  zu  beschäftigen  und  der  not- 
leidenden sich  noch  in  andererweise  als  durch  gelegentliche  getreide- 
verteilungen  anzunehmen,  die  nationalen  Scheidewände  innerhalb 
des  imperium  Romanum  schwinden  in  dem  masze,  als  von  den  ab- 
kömmlingen  alter  patriciergeschlechter  die  einfiuszreicbsten  Stellun- 
gen mehr  und  mehr  an  günstlinge  aus  aller  herren  ländern  abgetreten 
werden  müssen,  und  zu  allem  dem ,  was  in  dem  gewaltigen  reiche 
neu  entsteht  und  zu  neuen  formen  sich  durchringt,  kommt  nun  noch 
der  abfall  fast  aller  gebildeten  von  dem  Volksglauben  und  die  da- 
durch hervorgerufene  gährung  der  geister.  in  wieweit  der  eine  oder 
andere  der  angesehenen  römischen  schriftsteiler  jener  zeit  bewust 
oder  unbewust  von  den  anschauungen  des  jungen  Christentums  be- 
einfluszt  worden  ist,  sind  wir  auszer  stand  zu  ermitteln,  man  hat 
christlichen  einflusz  bekanntlich  bei  Seneca  behaupten  wollen,  mit 
unrecht;  denn  von  einer  bekanntscbaft  auch  nur  mit  den  gru Un- 
gedanken des  evangeliums  findet  sich  bei  ihm  keine  sichere  spur, 
anderseits  wird  man  aber  auch  nicht  die  im  geheimen  treibende 
macht  der  christlichen  ideen,  welche  so  zeitig  in  Rom,  ja  in  der 
nächsten  Umgebung  der  machthaber  anbänger  gefunden  haben,  unter- 
schätzen dürfen,  so  etwas  schwebt  wirksam  umher,  wenn  es  auch 
nur,  wie  Goethe  sagt,  wie  glockenton  ernstfreundlich  durch  die  lüfte 
wogt,  jedenfalls  musz  für  uns  als  Christen  ein  abschnitt  der  Welt- 
geschichte einen  eigenartigen  reiz  haben ,  in  dem  wir  den  Sauerteig 
der  heilslehre  bereits  wirksam  wissen  und  ein  unsichtbares  reich 
sich  in  der  stille  ausgestalten  sehen,  von  dem  späterhin  das  römische 
weitreich  geistig  überwunden  werden  sollte,  und  wie  für  den  Christen 
an  der  schwelle  des  eingangs  zur  aetas  argentea  das  ereignis  aller 
ereignisSe  steht,  die  gehurt  Jesu  Christi,  so  für  den  Deutschen  die 
schlacht  im  Teutoburger  walde.  mit  einem  Zeitalter,  das  so  viel 
groszes,  auch  so  manches  für  uns  moderne  noch  hochwichtige  und 
folgereiche  in  seinem  schosze  getragen  hat,  möchte  unsere  reifere 
gymnasialjugend  sich  noch  mehr  befassen  als  dies  jetzt  gemeinhin 
der  fall  ist.  es  darf  unseres  erachtens  nicht  länger  dabei  sein  be- 
wenden haben,  dasz  ein  Oberprimaner  von  der  ganzen  reichen  litte- 
ratur  jener  zeit  nichts  mehr  durch  eigne  lectüre  kennen  lernt  als 
z.  b.  die  den  Germanicus  betreffenden  abschnitte  der  Annalen  und 
die  erste  hälfte  der  Germania. 

Pflichtet  man  dem  bei,  so  fragt  sich  nun  weiter,  wie  jene  lücke 


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s 

Eine  lücke  in  der  lateinischen  classenlectüre  der  gymnasien.  215 

aufgefüllt  werden  könne  ohne  Schädigung  anderer  interessen  oder 
Überlastung  der  jugend.  sollen  noch  andere  gröszere  werke  auszer 
dem  einen  oder  anderen  des  Tacitus  aus  jener  zeit  gelesen  werden  ? 
wir  können  dazu  nicht  raten,  die  Naturalis  historia  ist  für  schüler 
aus  mehr  als  einer  rücksicht  ungeeignet;  das  meiste,  was  Qu  in  tili  an 
behandelt,  ist  wenig  geeignet,  jugendliche  geister  zu  fesseln,  Seneca 
ist  als  schriftsteiler  zu  gespreizt,  als  Charakter  zu  anfechtbar,  der 
jüngere  Plinius  ist  bei  aller  seiner  liebena  Würdigkeit  doch  zu  wenig 
tief  und  dabei  von  der  eitelkeit  eines  französischen  akademikers. 
nach  reiflicher  erwägung  weisz  ich  nichts  besseres  vorzuschlagen, 
wie  dies  bereits  im  eingange  verraten  worden  ist,  als  eine  Chresto- 
mathie, welche  in  kürzeren  oder  längeren  abschnitten  das  beste  aus 
den  nachclassischen  prosaikern  bietet  und  nächstdera  das  in  cultur- 
geschichtlicher  beziehung  besonders  wichtige  und  interessante, 
darauf  möchte  ich  entscheidenden  wert  legen,  dasz  die  auswahl  nur 
nach  ästhetisch -humanen  und  anderseits  culturgeschichtlichen  ge- 
sichtepunkten  erfolgte,  mit  einer  Sammlung  nach  art  von  Löhbachs 
handbuch  der  römischen  national  1  itteratur  oder  Plötzs  Manuel  kann 
uns  für  den  vorliegenden  zweck  nicht  gedient  sein,  ob  unsere  jugend 
etwas  von  Vellejus  Paterculus,  Valerius  Maximus,  Mela,  Frontin  er- 
fährt, ist  nach  unserer  ansieht  an  sich  völlig  gleichgültig,  ebenso, 
ob  sie  vom  älteren  oder  jüngeren  Plinius  noch  mehr  weisz,  als  von 
gelegentlichen  bemerkungen  etwa  bei  ihr  in  erinnerung  geblieben 
ist.  nur  das  wahrhaft  schöne,  bedeutende,  nach  irgend  einer  seite  für 
sie  fruchtbare  soll  ihr  geboten  werden,  gleichviel  wie  der  Verfasser 
heiszt,  ob  sein  schriftstellername  ein  angesehener  ist  oder  nicht, 
darüber,  was  als  bedeutend  und  fruchtbar  anzusehen  ist,  werden  die 
ansichten  natürlich  weit  auseinandergehen,  aber  gewisse  partien  in 
Senecas  philosophischen  Schriften,  gewisse  briefe  von  ihm  und  dem 
jüngeren  Plinius  werden  sich  wie  von  selbst  jedem  Sammler  als  auf- 
nahmewürdig darbieten,  über  anderes  kann  man  verschiedener  an- 
sieht sein,  dem  zukünftigen  mediciner  würde  ich  geneigt  sein  durch 
aufnähme  einiger  abschnitte  aus  dem  ersten  buche  des  Celsus  rech- 
nung  zu  tragen,  angaben  über  bau-  und  sonstige  kunstwerke  von 
hervorragender  bedeutung  würde  ich  gern  aufnehmen,  wo  sie  sich 
auch  finden,  ebenso  einiges  über  den  jugendunterricht  aus  Quintilians 
erstem  buche  und  dem  Dialogus,  charakteristische  stellen  über  ge- 
lehrtes Studium,  litterarisches  cliquen-,  bücher-  und  theaterwesen. 
einzelne  stellen  von  besonderer  cnltur-  und  religionsgeschichtlicher 
bedeutung  aus  späteren  Schriftstellern ,  wie  z.  b.  die  auf  Palästina 
und  die  älteste  geschieht  e  der  Juden  bezüglichen  angaben  bei  Justin 
36,  2 — 4,  würde  ich  mir  nicht  versagen  können  wenigstens  in  einem 
anhange  zu  bieten,  ich  verheble  mir  aber  nicht ,  dasz  das  alles  dis- 
putable  dinge  sind  und  gar  leicht  dem  einen  Überflüssig  erscheinen 
kann,  was  der  andere  um  keinen  preis  missen  möchte,  darum  breche 
ich  hiervon  lieber  ab,  indem  ich  mich  begnüge  mit  den  gemachten 
andeutungen. 


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216    Eine  lucke  in  der  lateinischen  claasenlectüre  der  gymnasien. 

Aber  wie  der  empfohlenen  Chrestomathie  bahn  schaffen,  dasz 
sie  wirklich  ein  Schulbuch  wird  und  ein  recht  nutzbringendes?  daran 
kann  nicht  gedacht  werden,  die  privatlectüre  der  oberen  schüler 
nach  dieser  seite  lenken  zu  wollen,  die  schönsten  stellen  der  nach- 
classischen  prosaiker  pflegen  aus  den  oben  angedeuteten  gründen 
absonderlich  schwierig  zu  sein,  so  dasz  der  fachmann,  dem  alle  hilfs- 
mittel au  geböte  stehen,  leicht  not  hat  sich  mit  ihnen  abzufinden;  ich 
erinnere  beispielshalber  nur  an  das  vorwort  zu  Quintilians  sechstem 
buch ,  das  nach  meinem  geschmack  eine  perle  köstlichster  art  ist. 
unter  der  Voraussetzung,  dasz  die  Cicerolectüre  künftighin  mit  Unter- 
prima abschlieszt,  was  man  bei  der  Sachlage,  wie  sie  sich  neuerdings 
teils  schon  gestaltet  hat  teils  zu  gestalten  anfängt,  unbedenklich 
finden  wird,  läszt  sich  aber,  meine  ich,  für  die  benutzung  eines  flori- 
legiums  aus  nachclassischen  prosaikern  im  classenunterrichte  wobl 
räum  schaffen,  die  lectüre  der  Historien  des  Tacitus  in  der  schule 
vermag  ich,  so  hoch  ich  das  werk  auch  schätze,  doch  nur  insofern 
gerechtfertigt  zu  finden,  als  dem  verlangen  des  lehrers  nach  ab- 
wechselung,  nachdem  vielleicht  ein  jahrzehnt  hindurch  von  ihm  nur 
die  Annalen  behandelt  worden  sind,  eine  gewisse  berechtigung  kaum 
wird  abgesprochen  werden  können,  an  sich  empfiehlt  sich  sicher 
nicht  die  schulmäszige  behandlung  eines  geschichtswerkes ,  dessen 
uns  erhaltene  Überreste  nicht  einmal  vollständig  die  geschichte  der 
beiden  jähre  69  und  70  behandeln;  die  hochbedeutende  stelle  5, 1—13 
kann  auch  auszer  dem  zusammenhange  voll  verstanden  und  gewür- 
digt werden,  wird  nur  auf  den  schüler,  nicht  auf  den  lehrer  rück- 
sicht  genommen,  so  läszt  sich  für  das  erste  halbjahr  in  oberprima, 
wenn  Cicero  hin  wegfallt,  keine  angemessenere,  nach  allen  seiten 
empfehlenswertere  lectüre  denken  als  eine  auswahl  aus  den  beiden 
ersten  büchern  der  Annalen  in  Verbindung  mit  dem  allgemeinen  teil 
der  Germania,  sind  die  schüler  auf  diesem  wege  in  die  anfänge  des 
kaisertums  eingeführt  worden ,  so  bildet  der  Agricola  wie  der  Dia- 
logus  sicher  eine  durchaus  angemessene  fortsetzung.  einen  be son- 
dern wert  vermag  ich  aber  nicht  darauf  zu  legen,  dasz  jedenfalls 
eine  dieser  kleinen  Schriften  und  zwar  vollständig  gelesen  werde, 
denn  manches,  was  im  Dialogus  eingehend  erörtert  wird,  hat  ebenso 
wenig  für  unsere  deutschen  primaner  ein  besonderes  interesse  als 
die  querzüge  des  Agricola  in  Britannien,  aus  ästhetischen  wie  er- 
zieherischen rücksiebten  weisz  ich  nun  zwar  den  vorzug  durchaus 
zu  schätzen,  den  die  vollständige  lectüre  eines  in  sich  geschlossenen 
litteraturwerkes  vor  dem  herumlesen  in  einer  Chrestomathie  hat.  der 
abschüttende  lateinunterricht  in  oberprima  hat  aber  so  viele  ver- 
schiedene ideale  wie  praktische  ziele  neben  einander  zu  verfolgen, 
dasz  es  bedenklich  erscheint,  dem  an  sich  sehr  löblichen  grundsatze, 
immer  nur  ganze  werke  mit  den  schülern  zu  lesen ,  um  jeden  preis 
ängstlich  nachzugehen,  liest  der  schüler  ein  werk  von  anfang  bis 
zu  ende,  so  bleibt  er  in  dem  gedankenkreis  und  der  stilistischen  gat- 
tung  desselben  Schriftstellers,  das  ist  unzweifelhaft  ein  vorteil,  dabei 


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Eine  lücke  in  der  lateinischen  claesenlectüre  der  gjmnasien.  217 

kann  es  aber  leicht  vorkommen,  dasz  er  unwichtiges  neben  wich- 
tigem, unerfreuliches  neben  erfreulichem  mit  in  kauf  nehmen  musz. 
vor  beiden  ist  er  bewahrt  bei  einer  auswahl,  die  nur  gediegenes  und 
wertvolles  zu  bieten  bestrebt  ist,  er  musz  dafür  aber  öfters  von  einem 
zum  andern  ohne  weitere  vermittelung  überspringen,  so  steht  vor- 
teil gegen  vorteil,  genug,  wir  würden  nicht  anstehen,  die  Chresto- 
mathie, für  welche  wir  eintreten,  als  lesebuch  für  das  letzte  halbjahr 
in  oberprima  zu  empfehlen  an  stelle,  bzw.  neben  einer  kleineren 
schrift  des  Tacitus.  die  durchnähme  einzelner  abschnitte  derselben 
lftszt  sich  aber  auch  füglich,  je  nach  dem  plane,  der  verfolgt  wird, 
in  die  fortlaufende  lectüre  des  Tacitus  einschalten,  eine  bertick- 
sichtignng  der  nachclassischen  dichter  in  dem  lesebucbe  möchte  ich 
widerraten;  das  meiste  aus  jener  zeit  ist  für  schüler  entweder  nicht 
wertvoll  genug  oder  zu  schwer;  zudem  thäte  es  mir  um  jede  ein- 
busze  leid ,  welche  Horaz  erleiden  würde. 

Möchten  die  lateinlehrer  der  obersten  gymnasialclassen  den  ge- 
machten Vorschlag  wenigstens  einer  erwägung  wert  achten !  man- 
ches, waa  wir  zu  gunsten  desselben  wohl  noch  hätten  beibringen 
können,  haben  wir  absichtlich  unterdrückt,  um  nicht  aufdringlich  zu 
erscheinen  oder  von  der  vorliegenden  einzelfrage  zu  allgemeineren 
abgeführt  zu  werden,  nur  mit  einer  andeutung  mögen  wir  zum 
Schlüsse  nicht  zurückhalten,  die  richtung  der  zeit  geht  entschieden 
darauf  hin,  dasz  der  grammatische  betrieb  des  lateinischen  auf  das 
unbedingt  nötige  beschränkt  wird,  sowie  dasz  die  anforderungen  an 
die  freie  schriftliche  und  mündliche  handhabung  des  lateinischen, 
soweit  solche  überhaupt  künftig  noch  ernstlich  erhoben  werden,  eine 
ermäszigung  erfahren,  man  befürwortet  auszerdem  —  nach  unserer 
ansieht  nicht  mit  unrecht  —  eine  herabsetzung  der  ansprüche, 
welche  bisher  bezüglich  der  classischen  färbung  der  lateini- 
schen schülerarbeiten  gestellt  zu  werden  pflegten,  wird  diesen 
forderungen  der  zeit  ganz  oder  wenigstens  in  der  hauptsache  ent- 
sprochen, so  darf  wohl  ein  ausgleich  nach  einer  andern  seite  gesucht 
werden;  man  musz  dies  sogar  wünschen,  damit  der  lattin  Unterricht 
nicht  an  bildender  kraft  und  in  den  äugen  der  oberen  schüler  an  be- 
deutung  verliert,  den  besten  ausgleich  dürfte  eine  Vertiefung  des- 
selben nach  der  culturbis torischen  seite  bilden,  diesem  zwecke  zu 
dienen  müste  aber  unseres  erachtens  eine  den  Tacitus  ergänzende 
Chrestomathie,  wie  sie  uns  vorschwebt,  vorzüglich  geeignet  sein, 
wir  unterschätzen  nicht  die  culturgeschichtliche  und  ethische  aus- 
beute ,  welche  jedes  buch  der  Annalen ,  der  Diologus ,  der  Agricola, 
das  zehnte  buch  des  Quintilian  bietet,  aber  hier  überwiegen  zu  sehr 
politik  und  kriegführung,  dort  litteraturgeschichte  und  die  fach- 
interessen  der  beredsamkeit,  manches  hochbedeutsame  aus  jener 
zeit  bleibt  dagegen  völlig  unberührt  oder  wird  nur  flüchtig  gestreift. 

Ist  aber  irgend  eine  periode  des  altertums  geeignet,  nach  den 
verschiedensten  Seiten  für  den  inwendigen  menschen  fruchtbar 
und  für  die  gegenwart  nutzbar  gemacht  zu  werden,  so  ist  es  wohl 


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218    Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

das  erste  jahrhundert  der  christlichen  Zeitrechnung,  ungesucht  bieten 
sich,  welche  seite  man  auch  betrachte,  anknüpfungen  an  das,  was 
wir  heutzutage  um  uns  sehen  und  in  uns  durchleben,  gering  zu 
veranschlagen  ist  sicher  auch  der  umstand  nicht,  dasz  Seneca,  Quin- 
tilian  und  der  ältere  Plinius  in  der  geschiente  unserer  Wissenschaften 
wie  im  geistesleben  der  höher  gebildeten  bis  zum  anfange  dieses 
Jahrhunderts  eine  hohe  bedeutung  gehabt  haben ,  so  dasz  auch  nach 
der  deutseben  litteratur-  und  gelehrtengeschichte  hin  sich  bedeut- 
same beziehungen  aller  art  ergeben. 

Den  grundsätzlichen  gegnern  des  gebrauchs  von  anthologien 
bei  dem  classenunterricht  wird  der  gemachte  Vorschlag  selbstver- 
ständlich ebenso  unannehmbar  sein  wie  alle  andern  verwandter  art. 
erwägen  möchten  diese  aber  doch  zweierlei,  erstens  dasz  unsere 
schüler  schon  jetzt  von  umfänglicheren  werken  meist  nur  kleine  teile 
besitzen  und  näher  kennen  lernen,  und  zweitens  dasz  der  ernst  der 
läge  dazu  mahnt,  nicht  ohne  ganz  triftige  gründe  auf  irgend  welches 
grundsätzliche  non  possumus  sich  zu  versteifen. 

Dresden.  Theodor  Vogel. 


(10.) 

BEITRÄGE  ZUR  GESCHICHTE  DES  HÖHEREN  SCHUL- 
WESENS IN  DER  OBERLAUSITZ, 
(fortsetzung.) 


Auch  in  Görlitz  wird  man  nicht  gar  weit  gekommen  sein,  zwar 
hören  wir,  dasz  1348  der  guardian  Joh.  von  Sumiruelt  ein  inventa- 
rium  von  der  bibliothek  aufnahm  und  dasz  man  zu  verschiedenen 
Zeiten  kataloge  anfertigte,  von  denen  der  aus  dem  jähre  1362  im 
Kalendarium  necrologicum  fratrum  minorum  conventus  in  Goerlicz 
(script.  rer.  Lus.  I  s.  297  f.)  Überliefert  ist,  zwar  hören  wir  von 
arbeiten  der  Franciscaner  z.  b.  aus  jenem  kataloge,  zwar  wird  nach 
einem  beschlusse  des  in  Braunschweig  1458  gehaltenen  capitels  sogar 
eine  schule  gegründet:  allein  ein  blick  in  jene  kataloge  läszt  uns 
erkennen,  dasz  an  wissenschaftliches  arbeiten  gar  nicht  zu  denken 
ist;  antike  classiker  fehlten,  und  nur  solche  werke,  welche  die 
mönche  zu  ihren  predigten  brauchten ,  waren  vorhanden  (vgl.  Wat- 
tenbach a.o.);  und  was  die  schule  anlangt,  so  erfahren  wir  während 
des  ganzen  lön  Jahrhunderts  nichts  wesentliches"  von  ihr.  danach 


13  einmal  wird  z.  b.  8.  a.  1484  im  Kaiend.  necrologicum  der  name 
eines  lehrers  genannt,  a.  o.  s.  285;  und  an  einigen  stellen,  wie  8.  289. 
290.  292.  294  Studentes  philosophiae.  das  bekannteste  dürfte  sein,  dasz 
der  berühmte  Valentin  Trozendorff  im  anfange  des  16n  jahrhunderts  im 
Kloster  seine  erste  bildung  erhielt,  die  Franciscaner,  welche  bei  seinem 
vater,  einem  bauern  in  Troitschendorf  bei  Görlitz,  oft  einkehr  hielten, 


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I 


Beitrage  zur  geschichte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  219 

freilich,  wie  deren  beabsichtigte  gründung  dem  rate  zu  Görlitz  durch 
das  noch  vorhandene  schreiben  des  provinzials  Matth.  Döring  (script. 
rer.  Lus.  I  s.  340)  angezeigt  wurde  —  'es  würden  komen  czu  dem- 
selbigen  Studio'  (so  sollte  der  name  der  neuen  anstalt  lauten)  'acht 
oder  zehen  Brüder,  vnd  zwo  vorstendliche  vnde  woltüchtige  Lese- 
rneister'  —  wäre  man  berechtigt,  an  groszes  zu  glauben,  da  für  eine 
untergeordnete  klosterschule,  in  der  man  knaben  nur  für  den  gottes- 
dienst  abrichten  wollte,  kaum  so  viel  umstände  gemacht  zu  werden 
brauchten,  geraume  zeit  vor  dem  kloster  ging  das  Studium  ein. 

In  Zittau,  wie  in  Lauban,  Löbau  und  Kamenz  (grün- 
dungsjahre  der  klöster:  Zittau  1268  —  Lauban  1332  —  Löbau  vor 
1336  —  Kamenz  1493)  hat  sich  gar  keine  nacbricht  über  eine 
schule  der  Franciscaner  erhalten,  und  man  wird  anzunehmen  haben, 
dasz  sie  sich  in  diesen  städten ,  etwa  die  erwähnte  abrichtung  von 
knaben  zum  gottesdieuste  abgerechnet,  mit  schulehalten  gar  nicht 
beschäftigt  haben.2'  von  einer  bibliothek  und  von  wissenschaftlichen 
arbeiten  der  mönche  in  Zittau  und  in  Kamenz  hat  man  geringe 
kenntnis,  man  musz  sich  daher  hier  noch  mehr  als  bei  den  Görlitzer 
nachrichten  vor  zu  weitgehenden  Vermutungen  hüten. 

Aus  dem  bisher  behandelten  hat  sich,  wie  wir  glauben,  folgen- 
des herausgestellt:  es  ist  so  gut  wie  sicher,  dasz  die  schulen  der 
oberlausitzischen  Sechsstädte  auf  die  bei  den  städtischen  pfarreien 
gegründeten  pfarrschulen  zurückzuführen  sind,  woraus  sich  weiter 
ergibt,  dasz  sie  zum  teil  schon  lange  vor  ihrer  ersten  erwähnung  be- 
standen haben,  also  die  Bautzener  vor  1218,  die  Zittauer  vor 
1310,  die  Laubaner  vor  1317,  die  Görlitzer  vor  der  mitte  des- 
selben Jahrhunderts,  die  Löbauer  vor  1359  und  die  Kam  enzer  vor 
1438.  die  eine  pfarrschule,  die  in  Bautzen,  gieng  an  das  capitel  über 
und  wurde  zur  äuszeren  stiftsschule,  die  übrigen  nahm  der  rat  in  seine 
obhut.  während  aber  die  Verwaltung  der  Zittauer  schule  der  kirche 
vertragsweise  auf  zeit  zurückgegeben  wurde,  blieben  die  schulen  von 
Görlitz  und  von  den  drei  kleinen  städten  zwar  hinsichtlich  äuszerer 
Verhältnisse  mit  der  kirche  verbunden,  die  berufung  und  einsetzung 
des  Schulmeisters  aber  war  Sache  des  rates." 


Rahen  den  kleinen  Valentin  hin  nnd  wieder  bei  sich  im  kloster,  wo  die 
bibliothek  einen  tiefen  eindruck  auf  ihn  machte,  siehe  die  erläuterungen 
zum  Kai.  necrol.  a.  o.  8.  340.  Otto  Kümmel,  Job.  Hass  im  laus.  mag. 
bd.  51  s.  206. 

u  bezüglich  Zittaus  siehe  H.  J.  Kämmel,  rückblicke  anf  die  ge- 
schichte des  Zittauer  gymnasiums,  festschrift  1871,  8.3.  Weise  a.  o. 
über  die  vermeintliche  bibliothek  der  Franciscaner  siehe  Pescheck,  hand- 
buch  der  geschichte  von  Zittau  I  s.  373  ff.  und  die  ergänzungen  dazu 
im  laus.  mag.  bd.  26  s.  209.  H.  J.  Kämmel,  geschichte  des  deutschen 
Schulwesens  s.  43  geht  in  seinen  Vermutungen  zu  weit,  bezüglich  Löbau s 
und  Kamenz'  siehe  Knothe,  die  Franciscaner  in  Löbau  und  in  Kamenz 
a.  o.  s.  99  f.,  s.  101  und  s.  12t ;  auch  cod.  dipl.  Sax.  reg.  II,  VII  8.  XXXIX. 

**  der  Vollständigkeit  halber  sei  an  dieser  stelle  noch  einer  irrigen 
meinung  Knauthus  gedacht,  die  er  in  seiner  schrift  'Von  denen  Schul- 
büchern, welche  in  denen  oberlausitzischen  Schulen  vor  der  Reformation 


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220     Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlauaitz. 


Am  meisten  wird  nun  daran  gelegen  sein  zu  erfahren,  was  die 
genannten  schulen  ihren  Zöglingen  zu  bieten  imstande 
waren,  die  quellen  flieszen,  wie  im  ersten  abschnitte,  auch  hier 
recht  spärlich :  aus  den  ersten  Jahrhunderten  —  das  dreizehnte  und 
vierzehnte  durfte  dabei  nur  in  betracht  kommen  —  wissen  wir  gar 
nichts*6  und  aus  dem  fünfzehnten  und  beginnenden  sechzehnten  nur 
wenig,  allerdings  auch  wieder  genug  bei  der  groszen  dUrftigkeit  der 
quellen  in  bezug  auf  die  schulgeschichte.  dasz  wir  über  den  unter- 
richtebetrieb  in  den  sechsstädtiscben  schulen  während  der  älteren 
zeit  nichts  erfahren,  wird  uns  wenig  stören,  denn  sobald  wir  erwägen, 

gebraucht  worden»,  Görlitz  1769,  s.  4  f.  ausspricht;  er  meint,  es  hätten 
in  der  Oberlausitz,  und  zwar  in  Bautzen  ein  Studium  privi  legiatum 
oder  hohe  schule  (später  die  Stiftsschule) ,  in  allen  Sechsstädten 
klosterschulen,  bei  den  erzpriesterlichen  stählen  (erzpriester,  die 
heutigen  Superintendenten,  waren  in  Kamenz,  Löbau,  Görlitz,  Lauban, 
Reichenbacb,  Seidenberg  und  Bischofs werda)  erzpriesterliche  schu- 
len und  auszerdeni  noch  Stadtschulen  bestandeu.  zum  teil  ist  schon 
in  unseren  ausführungen  eine  Widerlegung  enthalten,  zum  teil  hat  sie 
Knothe,  die  erzpriester  in  der  Oberlausitz,  in  den  beiträgen  zur  säch- 
sischen kirchengeschichte,  herausgegeben  von  Dibelius  und  Lechler, 
2s  heft,  1888,  s.  33  ff.  gegeben. 

16  indesHen  sagt  Knauthe  iu  der  nachlese  oberlausitzischer  nach- 
richten,  1770,  s.  268  (fEtWH8  von  denen  Schulen  vor  der  Reformation  in 
Oberhui8itz  überhaupt'):  'in  einer  alten  Schulordnung,  der  schule  zu 
Reichenbach,  de  anno  1382,  finde  ich  gedacht,  einer  regel,  d.  i.  der  Vor- 
schrift im  schreiben,  und  des  Donati,  folglich  hat  man  daselbst  schreiben 
und  latein  gelernet.'  auch  in  das  Verzeichnis  oberlausitzischer  Urkunden 
11-4  (Görlitz  1799)  s.  114  hat  Zobel,  jedenfalls  auf  Knauthes  Ver- 
sicherung hin,  die  bemerkung:  'Schulordnung  des  erzpriesterlichen  Stuhls 
zu  Reichinbach  d.  1382'  aufgenommen,  da  jedoch  Knauthe  recht  oft  ein 
sehr  unzuverlässiger  gewährsmann  ist,  so  schlieszen  wir  uns  ganz  der 
meinung  Knothes  in  den  beiträgen  usw.  s.  41  anm.  an,  welcher  dort 
sagt:  rdie  betreffende  Urkunde  ist  nicht  vorhanden,  und  iuuere  gründe 
lassen  uns  stark  daran  zweifeln,  dasz  eine  solche  Schulordnung  in 
Reichenbach  sollte  erlassen  worden  sein.'  Knauthe  irrt  übrigens,  wenn 
er  meint,  die  'regel  sei  eine  Vorschrift  im  schreiben',  eine  erklärung, 
welche  derselbe  in  seiner  schrift:  Von  denen  Schulbüchern  usw.  s.  7  zum 
ersten  male,  und  zwar  ziemlich  ausführlich  vorgetragen  und  welche 
nachher  auch  Schütt  in  seine  festschrift  s.  11  anm.  2  übernommen  hat, 
während  diesem  wieder  Otto  Kämmel,  Job.  Hass,  im  laus.  Mag.  bd.  61 
s.  40  bzw.  212  gefolgt  ist.  wir  haben  es  hier  jedoch  nicht  mit  schreib- 
Vorschriften  zu  thun,  sondern,  wie  schon  aus  der  Verbindung  mit  dem 
Donat  hervorgeht,  mit  den  'regulae  pueriles',  einem  buche,  welches  zur 
erlernung  der  einfachsten  begriffe  der  lateinischen  Satzlehre  gebraucht 
wurde,  dieselbe  Verbindung:  'regel  und  Donat'  werden  wir  in  der 
Bautzener  Schulordnung  von  1418  finden;  auch  sonst  ist  sie  zu  treffen, 
z.  b.  in  der  gründungsurkunde  der  schule  zu  St.  Maria  Magdalena  von 
1266  bei  Schönborn,  beitrage  usw.  I  s.  2  (Donatum,  Cathonem,  Theo- 
dulura  et  regulas  pueriles),  in  der  Schleizer  Schulordnung  von  1492  (bei 
Müller  a.  o.  s.  113)  und  in  der  Nürnberger  Ordnung  der  vier  latein. 
schulen  nsw.  (bei  Müller  s.  148),  beide  male  'Donat  und  regel'.  vgl. 
auch  Müller  im  archiv  VIII  s.  6;  und  in  seinem  buche,  quellenschriften 
und  geschiente  des  deutschsprachlichen  Unterrichts  bis  zur  mitte  des 
16n  jahrhunderts,  erwähnt  Müller  s.  343  ff.,  wo  er  über  den  schreib- 
unterricht  handelt,  gar  nichts  von  derartigen,  so  benannten  Vorschriften. 


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Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  221 


dasz  die  kirche  zu  ihren  festen,  ja  tagtäglich  zum  gottesdienste 
bchüler  brauchte ,  so  dasz  für  den  Unterricht  gar  wenig  zeit  übrig 
blieb,  und  wenn  wir  auazerdem  bedenken,  dasz  infolge  des  geringen 
bildungsbedürfnisses  der  bürgerschaft  zunächst  von  der  schule  sehr 
wenig  erwartet  wurde,  wozu  endlich  noch  kommt,  dasz  bücher  nur 
schwer  und  dann  für  teures  geld  zu  erlangen  waren17,  —  so  können 
-wir  uns  mit  groszer  Sicherheit  eine  Vorstellung  von  dem  unterrichte 
während  jener  älteren  zeit  machen,  und  Zeugnisse  von  gleichzeitigen 
schulen  anderer  städte,  wie  die  gleichlautenden  Stiftungsurkunden 
der  schule  zu  St.  Maria  Magdalena  (1266)  und  zu  St.  Elisabeth 
(1293) 38  in  Breslau,  bestärken  uns  darin:  die  gebete  und  liturgi- 
schen formein  lesen  und  dann  auch  frei  hersagen,  beziehentlich 
singen  zu  können ,  war  das  nächste  ziel,  wenn  sich  daran  noch  die 
anfangsgründe  im  lateinischen  nach  dem  Cato  anschlössen,  so  hatte 
man  schon  alles  mögliche  gethan;  das  war  jedoch  schon  eine  er- 
weiterung  des  ursprünglichen  lehrplans  der  pfarrschulen ,  die  man 
aber  um  so  freudiger  begrüszt  haben  mag,,  als  man  das  lateinische 
im  leben  oft  genug  brauchte. 

Schreiben,  rechnen  und  die  deutsche  spräche  wurde  nach  der 
ansieht  vieler  neuerer  forscher  in  den  Stadtschulen  ebenfalls  gelehrt, 
eine  derartige  kurze  notiz  ist  aber  leicht  irreführend,  denn  wir 
haben  uns  diese  Unterrichtsfächer  als  äuszerst  stiefmütterlich  behan- 
delt zu  denken:  den  ersten  beiden,  die  man  wohl  aus  rücksicht  auf 
die  bedürfnisse  des  lebens  in  den  schulen  vertreten  zu  sehen  wünschte, 
eine  weitere  ausdehnung  zu  geben,  verbot  schon  der  mangel  an  wohl- 
feilen Übungsmitteln,  im  rechnen  kam  man  über  die  allerersten  an- 
fangsgründe, erlernung  der  zahlen,  nicht  hinaus,  und  die  deutsche 


17  vgl.  Ruhkopf  a.  o.  s.  146  f.  F.  A.  Eckstein,  lateinischer  und 
griechischer  Unterricht,  Leipzig  1887  (herausgegeben  von  EL  Heyden), 
6.  47  f.  Engel,  das  Schulwesen  in  Straszbnrg  vor  der  gründung  des 
protestantischen  gymnasiums  (progr.  1886)  s.  18.  wie  umständlich  es 
mit  den  büchern  noch  zu  Th.  Platters  zeit  (anfang  des  16n  jahrhunderts) 
war,  erzählt  er  in  seiner  Selbstbiographie  (siehe  Boos,  Th.  und  Felix 
Platter,  zur  Sittengeschichte  des  16n  jahrhunderts  s.  28):  . .  des  glichen 
batt  niemand  noch  kein  truckte  biecher,  alein  der  praeeeptor  hat  ein 
truckten  Terentium.  was  man  lasz,  muszt  man  erstlich  dictierreu,  den 
distingwieren,  den  construieren,  zu  letst  exponieren,  das  die  bacchanten 
grosse  scarteken  mit  inen  heim  hatten  zu  tragen,  wen  sy  hinweg  zugen.' 

**  abgedruckt  bei  Schönborn  a.  o.  und  bei  Reiche  a.  o.  s.  5  f., 
wo  es  heinzt:  r.  .  .  scolae,  in  qnibus  pueri  parvuli  (knaben  bis  zum 
14n  lebensjahre,  Schönborn  I  s.  16.  Du  Cange  s.  v.  parvulus)  doceantur, 
et  discant  alphabetum  cnm  oratione  dominica,  et  salutationem  beate 
Marie  Virginis,  cum  symbolo,  psalterio,  et  septem  psalmis,  discant  etiam 
ibidem  cantum,  ut  in  ecclesiis  ad  honorem  dei  legere  valeant  et  cantare. 
audiant  etiam  in  eisdem  scolis  Donatum,  Cathonem  et  Theodulum,  et  N 
regulas  pueriles  . . .*  dieser  lehrplan,  wenn  man  so  sagen  will,  erscheint 
schon  in  den  Verordnungen  Karls  des  groszen  i.  j.  801  ff.;  siehe  die  be- 
treffenden stellen  bei  Cramer,  gesch.  der  erziehung  und  des  Unterrichts 
in  den  Niederlanden  s.  43  ff.  und  bei  Heppe,  da»  Schulwesen  des  mittel- 
alters  uud  dessen  reform  im  16n  jahrhundert  s.  6  f.  anm. 


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222    Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

spräche  war  in  den  Stadtschulen  überhaupt  nicht  Unterrichtsfach,  sie 
wurde  nur  als  mittel  beim  Unterricht  gebrauch t.M  über  diese  parvae 
echolae,  wie  anstalten  mit  solch  einfachem  lehrplan  genannt  zu  wer- 
den pflegten,  wird  unten  bei  den  maiores  scholae  noch  einmal  zu 
sprechen  sein. 

Im  I5n  Jahrhundert  bewegte  sich  der  Unterricht  in  den  schulen 
der  Sechsstädte  im  groszen  ganzen  in  den  alten  geleisen  und  hatte 
dieselben  ziele,  welche  wir  soeben  gekennzeichnet  haben,  es  ist  jedoch 
nicht  auszer  acht  zu  lassen,  dasz  der  Unterricht  während  der  drei 
Jahrhunderte  oft  aus  manigfaltigen  gründen  in  noch  engere  grenzen 
gedrängt,  aber  auch  je  nach  der  läge  der  dinge  erweitert  wurde. 

Für  die  erstere  möglichkeit  brauchen  wir  nur  auf  die  wieder- 
kehrenden Stadtbrände,  auf  ansteckende  krankheiten,  auf  häufige 
durch  krieg  veranlaszte  Unruhen  zu  verweisen,  wozu  der  unglaublich 
rasche  Wechsel  der  lehrer,  deren  Vorbildung  auch  recht  verschieden 
war,  das  seine  beitrug,  obwohl  wir  von  den  ein  Wirkungen  der  äusze- 
ren  not  auf  die  schule  während  jener  zeit  keine  nachrichten  haben, 
so  dürfen  wir  doch  aus  gewissen  angaben  auf  solche  schlieszen. 
wenn  wir  z.  b.  hören,  dasz  Lauban  von  den  Hussiten  im  jähre  1427 
und  zum  zweiten  male  1431  erobert  und  zerstört  wurde,  dasz  infolge 
dessen  'vermögen  und  einkünfte  der  pfarrkirche  ganz  in  verfall  kamen 
und  deshalb  die  religionsübungen  in  der  kirche  nur  mangelhaft  be- 
sorgt wurden',  ein  zustand ,  der  fast  während  des  ganzen  15n  Jahr- 
hunderts dauerte  —  sollte  da  nicht  auch  die  schule  in  gleicher  weise 
gelitten  haben?  und  noch  schlimmer  ergieng  es  Löbau  ,  das  1429, 
wie  wir  schon  oben  hörten ,  auf  betreiben  der  Hussiten  angezündet 
wurde  und  vollständig  niederbrannte,  im  jähre  1431,  nachdem  es 
notdürftig  wieder  aufgebaut  war,  von  den 'ketzern' erobert,  während 
eines  halben  jahres  besetzt  gehalten  und  als  Stützpunkt  für  weitere 
Unternehmungen  in  der  Oberlausitz  benutzt  wurde,  obwohl  die  Stadt 
wieder  in  die  gewalt  der  bewohner  kam,  hat  sie  doch  in  den  folgen- 
den jähren  (bis  1438)  wegen  ihrer  centralen  läge  ungeheuer  gelitten, 
auch  Kamenz  sah  im  jähre  1429  die  'verdammten  ketzer*  vor  seinen 
mauern,  sie  bemächtigten  sich  der  stadt  und  richteten  ein  fürchter- 
liches blutbad  an.  in  den  folgenden  jähren  hatte  Kamenz  gleich- 
falls unruhige  zeiten.  glücklicher  als  diese  kleinen  Sechsstädte  waren 
die  drei  groszen,  welche,  obgleich  oft  mit  groszer  mühe,  dem  an- 
dränge der  feinde  stand  hielten,  trotzdem  war  hier,  besonders  in 
Zittau,  die  aufregung  während  der  dauer  der  Hussiteneinfälle  sehr 

w  zum  Schreibunterricht  vgl.  Schönborn  a.  o.  9.15  f.;  Eckstein  a.  o. 
b.  47;  Joh.  Müller,  deutscher  Unterricht  b.  209  anm.  45;  auch  Ruhkopf 
a.  o.  8.  151  und  H.  J.  Kämmel,  geach.  des  Unterrichts  s.  177  sprechen 
davon,  über  die  art  und  weise,  wie  man  unterrichtete  (besonders  in  der 
späteren  zeit,  reformation),  vergleiche  die  äusserst  lehrreiche  Zusammen- 
stellung von  Joh.  Müller,  deutscher  Unterricht  s.  346 — 356,  wo  8.  334  f. 
auch  einiges  über  den  rechenunterricht  gegeben  ist.  die  nachweise  über 
den  Unterricht  im  deutschen  siehe  gleichfalls  bei  Müller  s.  189  ff.,  vgl. 
auch  s.  317  ff. 


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Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  223 

grosz.  wenn  ferner  in  späteren  jahrhunderten  infolge  der  pest  die 
schule  zeitweilig  ganz  aufhörte  zu  bestehen,  wie  in  Zittau  1599,  in 
Görlitz  und  in  Lauban  1632  (nur  diese  wenigen  beispiele  seien  an- 
geführt) —  wie  vielmehr  sind  wir  genötigt,  ähnliches  auch  für  die 
zeit,  welche  uns  hier  beschäftigt,  anzunehmen,  für  eine  zeit,  in  wel- 
cher das  Schulwesen  keineswegs  so  fest  gefügt  war,  wie  in  den  spä- 
teren jähren? 

Von  einer  erweiterung  des  unterrichtsplanes  haben  wir 
kenntnis  aus  Bautzen  (die  Schulordnung  vom  jähre  1418),  aus 
Görlitz  (vom  ende  des  15n  Jahrhunderts  aus  Hass'  annalen  III 
s.  306,  4r  band  der  Scriptores,  wozu  eine  stelle  aus  den  annales 
Gorlicenses  von  Mylius  kommt,  und  vom  anfang  des  16n  jahrhun- 
derts  aus  Manlius,  comment.  VII  cap.  4  in  Hoifmanns  Script,  rer. 
Lus.  1 1  s.437  ff.  verglichen  mit  Mylius'  annalen  8.25  hei  Hoffmann 
I  2)  und  aus  Lauban  (vom  anfang  des  16n  Jahrhunderts  aus  Wies- 
ners annalen  in  den  oberlaus,  arbeiten  I  4  s.  81). 

Dasz  wir  zunächst  in  Bautzen  eine  gröszere  ausdehnung  des 
Unterrichts  finden,  läszt  sich  leicht  erklären,  ja,  wenn  man  davon 
nichts  wüste,  müste  man  sie  mit  Sicherheit  deshalb  annehmen,  weil 
Bautzen  von  jeher  mittelpunkt  alles  politischen  und  kirchlichen 
lebens  in  der  Oberlausitz  war30  und  weil  sich  die  Bautzener  schule 
schon  durch  ihre  Verbindung  mit  dem  stift  leichter  über  den  stand 
der  parvae  scholae  erheben  konnte. 

Im  folgenden  gehen  wir  die  bestimmungen  der  Schulordnung31 


90  Bautzen  als  sitz  des  domcapitels  ist  bekannt,  der  oberste  landes- 
herliche  beamte,  vom  lOn  jahrhundert  bis  1253  der  castellanus  de  Bu- 
dissin,  und  sein  Stellvertreter,  der  advocatus  provincialis,  wohnten  auf 
der  bürg  zu  Bantzen.  seit  1254  war  die  oberste  militär-  und  admini- 
strativbehörde  mit  der  obersten  Justizbehörde  für  die  ganze  Überlausitz 
in  der  person  des  landvoigts  von  Budissin  vereinigt;  seit  1268  hersehte 
dieser  nur  über  die  westliche  hälfte  des  landes,  während  über  die  öst- 
liche der  landvoigt  von  Görlitz  gesetzt  war;  eine  Vereinigung  beider 
voigteien  trat  oft  ein,  der  sitz  war  dann  wieder  Bautzen,  endlich  führte 
es  im  Sechsstädtebunde  den  vorsitz;  alle  an  die  Sechsstädte  gerichteten 
schreiben  giengen  an  den  rat  dieser  Stadt,  und  alle  von  dem  bunde 
ausgehenden  wurden  unter  dem  Bautzener  stadtsiegel  ausgefertigt,  (vgl. 
Knothe,  urkundl.  grundlagen  zu  einer  rechtsgesch.  der  Oberlausitz  usw., 
laus.  mag.  bd.  53?) 

"  sie  ist  jetzt  bequem  zu  benutzen  dadurch,  dasz  sie  Joh.  Müller 
unter  seine  vor-  und  frühreform.  Schulordnungen,  s.  38  f.,  aufgenommen 
hat,  und  zwar,  wie  er  selbst  sagt,  aus  der  nachlese  oberlaus,  nach- 
richten  1771,  s.  94  f.,  wo  Knauthe  sie  veröffentlicht  hat.  die  stelle, 
welche  uns  vor  der  hand  angeht,  lasse  ich  nach  Müller  folgen:  f. .  .  Item 
vor  ein  a.  b.  c.  und  pater  noster  und  credo,  benedicite,  jegliches  1  gr., 
vor  einen  guten  ('ganzen'  ist  bei  Knauthe  in  [  ]  hinzugefügt)  Donat 
10  gr. ,  ein  regel,  moralem  und  Catonem  8  gr.  oder  5  gr. ,  vor  einem 
ganzen  text  eine  halbe  mark,  vor  primam  partem  15  gr.'  durch  die 
freandlichkeit  des  herrn  realschuloberlehrer  Baumgärtel  in  Bautzen 
konnte  ich  noch  zwei  von  ihm  gefertigte  abschriften  vergleichen,  die 
eine  aus  der  Techellschen  chronik,  die  andere  aus  den  handschriften 
des  ratsarchives  (rep.  IV  sect.  IlIAa  nr.  1);  aus  beiden  quellen,  über 


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224     Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausit*. 

durch,  allerdings  gibt  diese  nicht,  wie  die  der  späteren  und  der 
heutigen  zeit,  anweisungen  für  die  einzelnen  Unterrichtsfächer,  son- 
dern setzt  nur  die  einkünfte  der  lehrer  fest,  über  welche  wir  weiter 
unten  zu  handeln  gedenken,  hier  haben  wir  von  den  einnahmen  zu 
sprechen,  welche  den  lebrern  aus  dem  buchhandel  erwuchsen,  es  inter- 
essiert uns,  auf  diese  weise  alle  bücher  kennen  zu  lernen,  die  damals 
und  vielleicht  schon  lange  vor  1418,  da  während  des  mittelalters  der- 
artige bestimmungen  gewöhnlich  nicht  etwas  neues,  sondern  nur  alt- 
hergebrachtes schriftlich  feststellten,  in  Bautzen  gebraucht  wurden, 
eine  Vorstellung  von  der  ausdebnung  des  Unterrichts  ist  dann  leicht 
gemacht,  die  ersten  vier:  das  abc,  pater  noster,  credo  und  benedi- 
cite  dienten  dem  Unterricht  im  lesen,  ein  zweck,  der  in  unserer 
Schulordnung  nicht  ausgesprochen  wird,  der  aber  ganz  unzweifelhaft 
ist;  überdies  können  wir  die  Schulordnung  von  Nürnberg  aus  dem 
jähre  1505  (bei  Müller  s.  145  ff)  zur  vergleichung  heranziehen, 
dort  lesen  wir  (a.  o.  s.  146  unten):  'Erstlich  sollen  die  jüngsten 
schul  er,  die  dann  in  der  tafel,  benedicite,  conti t cur  vnd  derglei- 
chen, buchstabenvnnd  lesen  lernen,  bey  ainannder  sitzen,  vnnd 
alle  tag  .  .  .  irer  lection,  buchstabens  oder  lesens  .  .  .  verhöret 
werden.'  unter  der  genannten  'tafel'  ist  das  abc  zu  verstehen;  dies 
geht  aus  der  Schulordnung  von  Schleiz  aus  dem  jähre  1492  (bei 
Müller  8.  113)  hervor,  durch  welche,  ähnlich  wie  in  Bautzen,  be- 
stimmt wurde,  dasz  rder  locat  keinen  schuler  zwingen  sal,  ym 
bucher  abzukauffen,  aussgelossen  die  tafeln  des  abc,  daspater- 
noster,  das  benedicite  und  das  gratias,  die  müssen  sie  vmb  ein  zeym- 
lich  gelt  von  ym  kauften.'  dasz  diese  lehrmittel  zum  lateinisch- 
religiösen anfangsunterricht  benutzt  wurden,  geben  wir  Joh.  Müller, 
im  deutschen  Unterricht  s.  208  f.,  zu,  jedoch  mit  der  einschränkung, 
dasz  ein  solcher  gebrauch  erst  sehr  spät  in  frage  kam,  nemlich  wenn 
es  sich  darum  handelte,  den  kleinen  das,  was  sie  gelesen  und  aus- 
wendig gelernt  hatten  —  mit  der  grösten  Umständlichkeit  brachte 
man  sie  so  weit  —  nun  auch  zu  erklären,  über  das  abc  usw.  ist 
auf  die  gründliche  Zusammenstellung  Joh.  Müllers  a.  o.  8.  208  ff.  zu 
verweisen. 

Ausschlieszlich  für  den  Unterricht  im  lateinischen  waren  die 
übrigen  bücher  bestimmt,  zuerst  der  Donat,  über  weichen  unter 
andern  Schönborn,  beiträge  I  s.  11  f.,  Joh.  Müller,  deutscher  Unter- 
richt s.  217  ff.  und  F.  A.  Eckstein,  latein.  und  grieeb.  Unterricht, 
Leipzig  1887,  s.31.  47  und  54  (Keil,  Grammatici  lat.IVs.355— 366 
die  ars  minor  und  s.  367 — 402  die  ars  maior)  gehandelt  haben,  und 


deren  Verhältnis  zu  einander  ich  jedoch  nichts  feststellen  konnte,  er- 
geben sich  die  lesarten:  'ein  Regel  moralem  und  Catonera  8  gr.  oder  9* 
und  rVor  ein  gantz  Doctrinale,  das  man  nennet  einen  (ganeen)  Text, 
Eine  halbe  Mark',  lesarten,  die  auch  Christian  Schöttgen  in  der  vor- 
rede zn  ( Der  löblichen  Buchdrucker- Gesellschaft  zu  Dreszden  Jubel- 
Geschichte1  kennt,  der  kürze  halber  bezeichnen  wir  sie  im  folgenden 
mit  BA. 


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Beiträge  zur  geschiebte  des  Löh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  225 


dann  die  regeln ,  von  welchen  wir  selbst  in  der  anm.  26  sprachen, 
unter  den  beiden  nächsten  büchern  'moralis  und  Cato'  hat  man  ohne 
zweifei  die  beiden  Sammlungen  von  Sprüchen  zu  verstehen,  welche 
den  namen  Cato  tragen,  der  'moralis' ist  dann  vielleicht  das'disticha 
de  moribus'  oder  'distieba  moralia'  oder  auch f  Cato  magnus'  betitelte 
spruchbuch  in  vier  büchern  und  der  Cato  die  Sammlung  der  56  Sinn- 
sprüche in  prosa,  sehr  oft  kurzweg  so,  oft  auch  'Cato  parvus'  ge- 
nannt, die  betitelung  dieser  beiden  bücher  ist  jedoch  keine  fest- 
stehende gewesen,  so  dasz  wir  ebenso  den  'moralis'  als  die  pro- 
saische, den  Cato  als  die  poetische  Sammlung  ansehen  können,  so 
viel  steht  aber  fest ,  dasz  die  Schulordnung  mit  der  angäbe  'mora- 
lem  und  Catonem'  beide  Sammlungen  meint,  nicht,  wie  Joh.  Müller 
will  (archiv  VIII  8.  261),  nur  eine,  indem  er  aus  rregel,  moralem 
und  Catonem*  —  'regel  und  Cato  moralis'  macht,  das  geht  auf 
keinen  fall,  den  vermeintlichen  fehler  so  zu  verbessern,  würde  nur 
möglich  sein,  wenn  wir  in  der  Schulordnung  die  Wortstellung  'regel, 
Catonem  und  moralem'  hätten ;  denn  den  Cato  moralis  können  wir 
mit  Hains  repertorium  bibliographicum  nr.  4707  —  4755  wenig- 
stens in  der  form  Cato  moralissimus  oder  moralizatus  nachweisen, 
der  moralis  Cato  kommt  aber  nie  vor.  gewis  hat  sich  Müller  zu 
dieser  änderung  entschlossen,  weil  ihm,  ebenso  wie  mir  die  angäbe 
des  preises  '8  gr.  oder  5  gr.  für  ein  regel,  moralem  und  Catonem* 
unerklärlich  war;  zudem  ist  das  folgende:  'vor  einen  ganzen  text 
eine  halbe  mark'  noch  vielmehr  dazu  angethan,  den  sinn  zu  ver- 
dunkeln. Müller  läszt  diese  worte  im  archiv  a.  o.  ganz  weg.  da 
wir  ihm  hierin  ebenso  wenig  wie  in  dem  vorhin  besprochenen  ände- 
rungsvorschlag  folgen  können,  da  wir  aber  selbst  zugeben,  dasz 
Knauthes  Überlieferung,  die  eben  Müller  annimmt,  so  beschaffen  ist, 
dasz  klarheit  kaum  hineingebracht  werden  kann,  so  versuchen  wir 
es  einmal  mit  der  Überlieferung  von  BA  (anm.  31).  daraus  ergibt 
sich  dies:  die  regulae  pueriles  zusammen  mit  einer  gesamtausgabe 
des  Cato  =  8  oder  9  gr.  (nach  dem  belieben  des  lehrers),  das  ganze 
Doctrinale  (des  Alexander  de  Villa  dei)  —  24  gr.  (eine  halbe  mark), 
die  prima  pars  dieses  Schulbuches  10  gr. 

Zur  näheren  erklärung  diene  folgendes,  die  Verbindung  mehrerer 
Schulbücher  in  einem  bände  ist  nicht  wunderbar;  wir  haben  eine 
solche  z.b.  in  der  Dresdener  vormundschaftsrechnung  1425  ff.  (archiv 
VIII  s.  249),  wo  der  Katho  mit  der  prima  pars  vereinigt  ist,  und  in 
einer  andern  rechnung  von  1434  (a.  o.  8.  250  anm.  155),  wo  sogar, 
wie  in  unserem  falle,  die  Regel  und  der  Katho  in  einem  bände  er- 
scheinen, jedoch  nicht  blosz  das :  auch  die  ausdehnung  der  betreffen- 
den bücher  passt  einigermaszen  zu  den  angegebenen  preisen,  über 
die  grösze  des  ersten  lehrbuches  konnten  wir  nichts  erfahren;  der 
umstand  jedoch,  dasz  in  der  erwähnten  vormundschaftsrechnung  von 
1425  ff.  'eyne  regele'  für  1  gr.  verkauft  wurde,  ein  'Benedicite'  aber 
für  2  gr.,  läszt  trotz  der  Verschiedenheit  der  geldwerte  (die  groschen 
in  Dresden  waren  meisznische)  immerhin  einen  schlusz  auf  die  aus- 

K.  j«hrb.  f.  phil.  u.  pid.  II.  abt.  1891  hft.  5.  1 5 


226     Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

dehnung  der  'Regel'  zu ;  jedenfalls  wäre  daher  auch  in  Bautzen,  wo 
ein  'Benedicite'  1  gr.  kostete,  die  Regel  allein  weniger,  sicherlich 
aber,  obwohl  die  bücherpreise  sehr  schwankten,  nicht  viel  mehr  als 
1  gr.  wert  gewesen,  die  144  verspaare  Catos  ergeben  mit  den  56 
kurzen  prosasprüchen  =  344  zeilen,  so  dasz  wir,  die  regulae  pueriles 
und  die  prologe  im  Cato  mitgerechnet,  ein  buch  von  ungefähr 
500  zeilen  erhalten  würden,  die  prima  pars  des  Doctrinale  zählte 
1082  und  das  ganze  Doctrinale  2660  verse.  die  prima  pars  wurde 
demnach  mit  10  gr. ,  das  vollständigere  Doctrinale  mit  24  gr.,  die 
Catoausgabe  allerdings  unverhältnismäszig  teuerer  mit  8 — 9  gr.  be- 
zahlt." 80  läszt  sich  nicht  leugnen,  dasz  die  lesung  aus  BA  vor  der 
Knauthe-Müllers  den  Vorzug  verdient.  —  Zu  Alexander  de  Villa  dei 
ist  hier  nur  auf  Thurot,  de  Alexandri  de  Villa  dei  Doctrinali  (einiges 
daraus  bei  Böcking,  Vlrichi  Hutteni  operum  supplementum,  epp.  ob- 
scuror.  viror.  II  1  8.  299),  auf  F.  A.  Eckstein  a.  o.  8.  56  f.,  Neu- 
decker,  das  Doctrinale  des  Alex,  de  Villa  Dei  (diss.  Lips.  1885)  und 
Müller  im  archiv  VIII  s.  249  f.  zu  verweisen,  proben  aus  der  pars 
I,  II  und  IV  gibt  Baebler,  beitrage  zu  einer  geschichte  der  latei- 
nischen grammatik  im  mittelalter,  Halle  a.  S.  1885,  8.  125  ff.  Hain 
nr.  662  ff. 

Wenn  wir  nun  das  soeben  besprochene  mit  dem  vergleichen, 
was  wir  oben  über  den  Unterricht  in  den  parvae  scholae  sagten, 
dürfte  die  Weiterbildung  des  Unterrichts,  und  zwar  des  lateinischen, 
feststehen:  die  Bautzener  schule  war  eine  schola  maior,  und  nicht, 
wie  Joh.  Müller  will  (archiv  VIII  8.  259),  eine  parva  schola,  deren. 
Unterricht  nach  seinen  eignen  worten  (a.  o.  s.  6)  sich  auf  folgendes 
beschränkte:  'lesen,  schreiben,  Ziffernkenntnis,  elementare  lateinische 
formenlehre  nach  der  kleineren  (in  frage  und  antwort  abgefaszten) 
grammatik  des  Donatus,  elementarste  lateinische  Satzlehre  nach  den 
sogenannten  'regulae  pueriles*,  leetüre  und  memorieren  eines  latei- 
nischen, dürftigen  religiösen  lesestoffs  (des  'pater  noster',  'credo', 
fave  Maria'),  sowie  der  lateinischen  kurzen  sittensprüche  des  soge- 
nannten Cato  und  öfters  auch  des  aus  künstlich  gebauten  lateinischen 
distichen  bestehenden  kirchenfestkalenders  Cisiojanus. '  dasselbe 
geht  aus  dem  vertrage  zwischen  dem  St.  Martinsstifte  und  demvoigte 
und  den  Schöffen  von  Ypern  (1253)  hervor,  wonach  in  zukunft  in 
dieser  stadt  tres  scolae  maiores  bestehen  und  von  dem  stifte  mit 


w  ein  ähnliches  misverhältnis  würde  auch  in  der  oben  erwähnten 
vormundschaftsrechnung  zu  bemerken  sein,  wenn  wir  mit  Müller  archiv 
VIII  8.  250  annähmen,  dasz  die  beiden  bücher,  welche  für  lO'/t  gr.  und 
6'/t  Pr-  gekauft  wurden,  die  secunda  und  tertia  pars  Alexandri  waren; 
die  diese  beiden  partes  umfassenden  1200  verse  hatten  dann  17  gr.  ge- 
kostet, während  die  prima  pars,  noch  dazu  mit  dem  Katho  zusammen, 
nur  für  7  gr.  erworben  wurde,  in  der  ebenfalls  oben  erwähnten  rech- 
nung  von  1434  —  38  kostete  die  prima  pars  8  gr.  und  ein  Alexander 
16  gr. ;  ob  in  diesem  falle  ein  ganzer  Alexander  oder,  wie  Müller  glaubt, 
nur  der  2e  und  3e  teil  gemeint  sei,  läszt  sich  nicht  sicher  entscheiden, 
das  misverhältnis  ist  aber  auf  alle  fälle  vorhanden. 


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Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Überlaubitz.  227 


lehrern  besetzt  werden  sollten;  parvae  autem  scolae,  so  heiszt  es 
dann  weiter,  in  quibus  discipuli  poterunt  erudiri  usque 
ad  Catonem,  könnten  nach  belieben  von  jedem  errichtet  werden 
(Schönborn  I  s.  17).  wenn  wir  nun  auch  Müller  (im  deutschen 
unterr.s.2l3f.)  zugeben,  dasz  die  grenze  zwischen  den  beiden  schul- 
gattungen  nicht  überall  gleich  strenge  inne  gehalten  wurde ,  indem 
an  dem  einen  orte  der  Cato  in  die  parva  schola,  der  Donat  aber  und 
die'regulae  pueriles'  in  die  höhere  schule  gehörten,  an  einem  andern 
sÄmtliche  drei  bücher  noch  in  der  parva  schola  gebraucht  wurden, 
so  kann  doch  über  die  Zugehörigkeit  der  Bautzener  schule  zu  den 
scholae  maiores  kein  zweifei  obwalten,  weil  eben  hier  noch  der  ganze 
Alexander  erscheint,  dessen  prima  pars  eine  fortsetzung  des  Donat 
(alphabetum  minus)  darstellte  und  zu  dessen  durcharbeitung  in 
seiner  ganzen  ausdebnung  lange  zeit  nötig  war,  da  nicht  nur  der  text 
auswendig  gelernt,  sondern  auch  commentare,  die  das  buch  noch 
unverständlicher  machten,  durchgenommen  wurden,  so  waren  in 
dem  College  de  Montaigu  zu  Paris  1508  sieben  jähre  zur  vollstän- 
digen bewältigung  der  quattuor  partes  nötig  (nach  Thurot,  rensei- 
gnem, dans  Tuniversite  de  Paris,  append.  s.  11,  bei  Eckstein  a.  o. 


Dasz  bei  diesem  stände  des  Unterrichts  die  schule  in  Bautzen 
auch  in  bestimmte  classen  eingeteilt  wurde,  liegt  auf  der  hand.  es 
sind  sicherlich  drei  gewesen:  die  leseclasse  und  zwei  lateinische 
classen,  die  eine  mit  dem  Donat,  die  andere  mit  dem  Alexander  als 
charakteristischem  lehrbuche,  so  war  es  in  Landau  (Schulordnung 
1432):  f.  .  .  die  das  a.b.c.  vnnd  benedicito  lernen . . .,  die  Donatum 
lernen  .  .  .,  die  darüber  sind  vnd  temporalia,  Cathonem,  primam  et 
secundam  partem  oder  anders  lernent  .  . (Müller,  Schulordnungen 
6.48),  in  Wien  (Schulordnung  1446,  Müller  s.  58  f.),  wo  jede  classe 
nochmals  dreifach  geteilt  war,  und  in  Nürnberg  (schulordnung  1505, 
Mflller  s.  146  f.).  vier  classen:  tabulistae  (lesescbüler,  vgl.  oben 
s.224),  catbonistae,  donatistae,  Alexandristae  werden  in  dem  schul- 
buche 'Es  tu  Scolaris'  (ende  des  15n  jahrhunderts)  unterschieden; 
bei  Müller,  deutscher  unterr.  s.  232  und  Baebler  a.  o.  8.  189  ff. 
proben  daraus. 

Ob  in  der  Bautzener  stiftsschule  die  beiden  andern  artes  des 
triviuma,  die  rhetorik  und  die  dialektik,  oder  eine  derselben  gelehrt 
wurde,  wissen  wir  nicht;  dasz  keine  lehrbücher  angeführt  wer- 
den, darf  nicht  gegen  eine  derartige  annähme  sprechen,  da  es  doch 
möglich  wäre,  dasz  die  lehrsätze  dictiert  wurden,  ein  verfahren, 
welches  in  jener  zeit  sehr  gebräuchlich  war.  wohl  aber  wurde 
die  dialektik  in  der  Görlitzer  schule  am  ende  des  15n  jahrhun- 
derts vorgetragen  nach  Hass'  zeugnis,  welches  hier  folgen  möge: 
.  .  Den  jn  alden  schulweisz  wüste  vnd  handelte  mann  nichts, 
den  grammaticam  Alexandrj  Gallj  jn  versen  geschriebenn ,  modos 
significandj,  die  konden  die  knaben  auch  nicht,  der  meister  nymmer 
mehr  vorstehnn  vnd  auslernenn ,  dialecticam  Petri  Hispani  etc.  vnd 

15* 


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228    Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausit*. 

wurde  doch  allis  gar  schuerer  weise,  weitleufftig,  vnd  vnbegreifflich 
furgegebenn  .  .  . '  natürlich  wurden  in  Görlitz  auch  die  elemente 
und  die  lateinische  spräche  gelehrt,  obwohl  in  der  angeführten  stelle 
davon  nichts  steht;  dasz  dabei  dieselben  bücher  wie  in  Bautzen  in 
gebrauch  waren,  ist  bei  dem  zähen  festhalten  an  dem  althergebrach- 
ten, was  dem  mittelalterlichen  Schulwesen  besonders  eigen,  selbst- 
verständlich." dadurch  werden  wir  aber  zugleich  gezwungen  auch 
an  der  Görlitzer  schule  eine  anzahl  classen  anzunehmen ,  zum  min- 
desten drei  (elemente ,  latein ,  dialektik) ,  besser  vier :  die  von  uns 
erwähnten  drei  Bautzener  classen  und  eine  für  die  dialektik.  damit 
haben  wir  allerdings  eine  andere  meinung  ausgesprochen  als  Kämniel, 
Joh.  Hass,  der  a.  o.  s.  40  sagt:  f  freilich ,  was  diese  so  elend  be- 
zahlten lohrer  leisteten  und  darboten,  das  war  auch  im  gründe  herz- 
lich wenig!  schon  dasz  eine  classeneinteilung  fehlte,  würde 
auf  höchst  unvollkommene  leistungen  schlieszen  lassen.'  wenn  nun 
Kämmel  als  beleg  dafür  eine  stelle  aus  Hass'  annalen  (III  8.  302) 
anführt,  wo  eine  classeneinteilung  im  jähre  1535  als  neuerung  er- 
wähnt wird,  so  ist  das  letztere  wohl  zuzugeben,  aber  der  zweck  dieser 
einteilung  war  ein  ganz  anderer ,  als  Kämmel  will.34  es  ist  nemlich 
aus  dem  ganzen  Zusammenhang  klar,  dasz  die  verschiedenen  classen 
vermögensclassen  waren  und  geschaffen  wurden,  um  die  reicheren 
zur  zahlung  eines  höheren  Schulgeldes  zu  verpflichten, als  die  ärmeren, 
wir  lassen  Hass  selbst  reden:  .  .  Vnd  wiewol  der  rate  etwas  mehr 
zu  quartalgelt  auff  die  schuler  gesatzt,  nochdem  sie  itziger  zeit  (1536) 
jn  ordines  adir  (oder)  classes  gesundert,  noch  schicklikeit  eines  itz- 
lichen  (je  nachdem  ein  jeder  im  stände  ist),  also  das  die  primj  ordinis 
Viij  grosschen,  die  andern  secundi  ordinis  Vj  gr.  etc.,  do  vor  alders 
einer  XVij  dn.  gegeben,  so  haben  doch  die  col laterales  ,  baccalarius 
senior,  junior,  cantor  etc.  doraus  nicht  mögen  versoldet  werden  . . 
dorumb  ein  rathe  alle  quartal  bisz  jn  X.  mr.  hat  zubussen  mossen.' 
derselbe  brauch  findet  sich  sehr  häufig;  am  nächsten  liegt  uns  das 
beispiel,  welches  die  Bautzener  Schulordnung  vom  jähre  1418  bietet; 
bei  allen  Zahlungen,  welche  die  kinder  an  die  lehrer  zu  leisten  hatten, 
werden  stets  drei  vermögensclassen  unterschieden,  und  es  wieder- 
holen sich  die  worte:  reiche  oder  wohlhabende,  mittelmäszige  oder 
mittelmäszig  habende  und  arme  kinder  (einige  male  auch  nur :  die 
reichen  und  armen  kinder).  —  Über  die  bei  Hass  neu  erwähnten 


M  Schütt  a.  o.  8. 10  fuhrt  zwar  aus  Tzachoppe  a.  o.  8. 18  anm.  •),  um 
nachzuweisen,  dasz  die  Görlitzer  lehrer  aus  dem  verkauf  von  bücheru 
gewisse  einnahmen  hatten,  mehrere  dieser  art  an;  er  hat  sich  dabei  aber 
versehen,  denn  Tzschoppo  nennt  aus  Knauthe,  Von  denen  Schulbüchern 
usw.  s.  6  die  bücher  der  Bautzener  Schulordnung,  wobei  er  allerdings 
auch  schon  meint,  die  Bautzener  taxe  dürfte  allgemeine  giltigkeit  ge- 
habt haben ,  was  nach  unseren  anführungen  a.  225  und  anm.  32  unmög- 
lieh  ist.  das  Verzeichnis  bei  Schütt  hat  also  für  Görlitz  einen  unmittel- 
baren wert  nicht;  übrigens  hat  sich  Otto  Kämmel,  Joh.  Hasa  im  laus, 
mag.  bd.  51  8.  212  durch  Schütt  zu  demselben  fehler  verleiteu  lassen. 

84  herr  rector  Kämmel  pflichtet  mir  jetzt  bei. 


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Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  229 

bticher,  die  modi  significandi  und  die  dialectica  Petri  Hispani,  vgl. 
Fr.  Haase,  de  medii  aevi  studiis  philol.  disput.  Vratisl.  1856,  s.  39, 
Prantl,  geschichte  der  logik  im  abendlande  III  s.  202.  215  f.  234, 
Baebler  a.  o.  s.  74  £f.,  besonders  8.  84  ff.  betr.  der  modi  signific; 
und  Prantl  a.  o.  8.  33.  ausgaben  bei  Hain  nr.  8677  ff.,  auch  Bbcking, 
suppl.  zu  Vir.  Hutteni  opp.  II  1  s.393f.,  ferner  Specht  a.  o.  s.122  ff., 
besonders  8.  126  betr.  der  dialectica. 

Noch  ein  lehrbuch  lernen  wir  aus  den  annales  Gorlicenses  des 
Mvlius  kennen  (Hoffmann,  Script,  rer.  Lnsatic.  I  2  s.  3),  wo  es  heiszt: 
'Exstat  über  Prosodiacus  scriptus  per  Marti num  Heintzchin  de 
Luckow  in  Schola  Gorlicensi  sub  An.  1463.  In  eo  autor,  qui  fuit 
Ludimoderator  scholae,  pro  exemplo  metri  heroici  proposuit  exem- 
plum  commendationem  nrbis  Gorlicensis.'  dieses  und  ähnliche  bücher, 
wie  der  dritte  teil  des  Doctrinale,  wurden  im  grammatikunterrichte 
verwendet,  und  zwar  als  anleitungen  zur  anfertigung  der  Dictamina 
metrica.  wie  es  allerdings  damals  mit  der  dichtkunst  bestellt  war, 
läszt  uns  jene  commendatio,  die  Heintzchin  pro  exemplo  metri  heroici 
hinzufügte,  deutlich  erkennen,  und  nur  deshalb  überlieferte  uns  der 
Chronist,  der  nachherige  poeta  laureatus,  das  mustergedicht,  weil  er 
seine  Verwunderung  über  eine  derartige  leistung  nicht  unterdrücken 
konnte;  er  schrieb  hinzu:  'Carmen  adscribo  ut  videatur,  qvae  tum 
fuerint  studia  scholarum.  Lex  autem  syllabarum  passim  neglecta 
est.'  dasz  dieser  Uber  prosodiacus  einmal  in  der  Görlitzer  schule 
zum  Unterricht  benutzt  wurde,  ist,  obwohl  es  nicht  ausdrücklich  be- 
zeugt wird,  doch  anzunehmen35 ;  und  da  wir  einmal  metrische  Übungen 
in  der  Görlitzer  schule  finden,  so  ist  es  bei  dem  groszen  ansehen,  in 
welchem  sie  standen,  wohl  auch  sicher,  dasz  man  sie  weiterhin  bei- 
behielt. 

Über  andere  Unterrichtsfächer  —  Schütt  nennt  nach  Knauthe, 
von  denen  büchern  s.  9  f.  und  Gjmn.  Augustum  s.  5  noch  rhetorik, 
ethik,  religion,  theologia  genannt,  und  gesang,  und  Kämmel  a.  o. 
folgt  ihm  zum  teil  —  haben  wir  keine  auf  Görlitz  bezügliche  nach- 
richten.  bei  den  ersten  zwei  disciplinen  (am  meisten  bei  der  ethik) 
bleibt  es  zweifelhaft,  ob  sie  in  Görlitz  vorgetragen  wurden;  bei  den 
beiden  andern  kann  man  allerdings  das  capitel  '  De  rectoribus  scho- 
larium  et  suis  consocijs'der  Statuta  Synodalia  Episcopatus  Misnensis 
Fol.  XVII M  verwenden,  um,  wie  dies  auch  Knauthe  thut,  von  denen 

•*  O.  Kämmel  a.  o.  s.  40  behauptet  unter  hinweis  auf  Hass'  anoalen 
III  s.  806,  Sulpitius  de  syllabarum  quantitate  habe  in  Görlitz  zur  ein- 
übung  der  metrik  gedient;  Haas  spricht  aber  weder  an  der  angegebenen 
stelle  noch  irgendwo  anders  von  diesem  Sulpitius.  Kämmel  ist  vielleicht 
durch  Knauthe,  von  denen  Schulbüchern  usw.  s.  9  verleitet  worden,  wo 
es  heiszt,  dasz  rin  der  poesie  sonst  Sulp,  de  qu.  s.  gebräuchlich  gewesen 
sei.  in  der  Görlitzer  schule  habe  der  meister  nach  seinen  eignen  Sätzen 
(mit  bezug  auf  Heintzchin)  die  dichtkunst  vorgetragen.1  aus  Kuauthes 
'sonst'  wird  bei  Tzschoppe  s.  14  'in  der  Oberlausitz'. 

u  ...  per  Melchiorem  Lotter  in  famoso  oppido  Liptzk  sunt  impressa 
a.  d.  1504;  die  Leipziger  Universitätsbibliothek  besitzt  ein  exeroplar 
dieses  seltenen  buches. 


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230     Beiträge  zur  geschiebte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

büchero  usw.  8.  9  f.,  zu  behaupten,  dasz  sie  während  unseres  Zeit- 
raumes in  den  lehrplan  aufgenommen  waren,  dies  wissen  wir  zwar 
schon  —  nach  unseren  ausfuhrungen  stand  ja  die  schule,  wo  es  sich 
um  den  gottesdienst  handelte,  in  engster  Verbindung  mit  der  kirche, 
—  allein  das  bemerkenswerte  und  neue  in  jenem  capitel  ist,  dasz 
vor  einem  zuviel  auf  das  entschiedenste  gewarnt  wird:  'Item  quan- 
tum  in  nobis  est  volentes  modis  quibus  possumus  errores  et  negli- 
gentias  in  nostra  dyocesi  tollere,  deliberatione  provida  duximus 
inhibendum  rectoribus  scholarium  in  studijs  particularibus  succen- 
toribus  locatis  et  collaboratoribus  eorundem  sub  pena  suspensionis 
ab  ingressu  ecclesie,  Ne  de  cetero  in  ipsorum  scholis  seu  locis  alijs 
quibusuis  preterquam  in  studijs  priuilegiatis  librossacrepagine 
atque  iuristarum  legant  aut  declarent  publice  vel  occulte,  ymo  in 
studio  arcium  liberalium  stent  contenti  .  .  .  (daraus  entspringen 
grosze  gefahren)  et  quod  potius  hereses  exinde  possent  pollulare 
Expositionem  tantum  Evangeliorum  Epistolarum  Hymnorum  et  se- 
quentiarum  in  materna  lingua  fleri  permittimus.' 

In  den  anfang  des  16n  Jahrhunderts  gehören  die  zwei  letzten 
Zeugnisse ,  welche  uns  sagen ,  dasz  in  Görlitz  und  in  Lauban  damals 
auch  schon  in  der  griechischen  spräche  unterrichtet  worden  ist. 

Es  ist  bekannt,  dasz  die  griechische  spräche  während  des  mittel- 
alters  in  Deutschland  nicht  nur  nicht  zu  den  Unterrichtsfächern  ge- 
hörte, sondern  überhaupt  eine 'gelehrte  Seltenheit' war.  erst  R.  Agri- 
cola  (f  1485)  und  vor  allem  Reuchlin  (f  1522)  und  Erasmus  (f  1536) 
haben  das  griechische  in  die  deutschen  schulen  gebracht,  mit  dieser 
einfuhrung  gieng  es  freilich  sehr  langsam,  da  nicht  nur  lehrer  heran- 
gebildet, sondern  auch  bUcher  besorgt  werden  musten;  aber  gegen 
1520  konnte  man  doch  schon  auf  den  deutschen  Universitäten  (ob 
auf  jeder,  wie  Paulsen  behauptet,  möchten  wir  bezweifeln),  etwa  30 
bis  40  jähre  später  in  so  ziemlich  allen  gymnasien  griechisch  lernen.37 
mit  ganz  schüchternen  versuchen,  das  griechische  von  der  Univer- 
sität in  die  schule  zu  verpflanzen,  haben  wir  es  hier  zu  thun.  es  ist 
der  spätere  Goldberger  rector  Valentin  Friedland  Trozendorff,  der 
in  Görlitz  seine  erste  Schulbildung  genosz,  1513  nach  Leipzig  gieng 
und  unter  Petrus  Mosellanus  im  latein  sich  vervollkommnete  und 
von  Richard  Crocus  griechisch  lernte;  da  letzterer  1515  nach  Leipzig 
gekommen  war,  Trozendorff  aber  von  1516  an  in  Görlitz  lehrte, 
so  wird  er  dessen  griechischen  Unterricht  höchstens  ein  jähr  ge- 
nossen haben  (Manlius,  comment.  rer.  Lus.  VII,  IV  s.  438  ist  zu  be- 
richtigen), diese  zeit  genügte,  und  wenn  sie  noch  kürzer  gewesen 
wäre,  denn  mit  einem  wahren  feuereifer  stürzte  man  sich  auf  die 
neuen  Studien,  mit  begeisterung  hörte  man  des  Crocus  Vorträge, 


»7  vgl.  z.  b.  Voigt,  Wiederbelebung  des  elass.  altertums  bd.  II  s.  104  f., 
Paulsen  a.  o.  s.  41  ff.,  Specht  a.  o.  s.  104  ff.  Platter  sagt  von  der  zeit 
um  1510:  '.  .  .  ward  doch  graeca  lingwa  noch  nienert  (nirgends)  im 
land  .  .     (Boos  a  o.  s.  23). 


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Beiträge  zur  geschiebte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlauaitz.  231 

jedes  bonorar,  jeder  ort  und  jede  stunde  war  den  zuhörern  recht. 88 
mit  solcher  begeisterung  kam  der  damals  26  jährige  Trozendorff  nach 
Görlitz,  der  erste,  welcher  die  griechische  spräche  dorthin  brachte, 
was  sich  in  Leipzig  bei  der  ankunft  des  Crocus  ereignet  hatte,  wieder- 
holte sich  jetzt  sicherlich  im  kleinen  in  Görlitz.  Trozendorff  unter- 
richtete als  bypodidascalos  nicht  nur  die  schüler,  sondern  machte 
auch  den  rector  und  die  Übrigen  lehrer  mit  der  griechischen  spräche 
bekannt  und  erklärte  ihnen  die  damals  neben  den  Äsopischen  fabeln, 
der  Cyropaedie  und  der  rede  des  Isocrates  ad  Demonicum  viel  ge- 
lesene abbandlung  Plutarchs  7T€pl  ttcuowv  äruJYtlc.  indes  nicht  lange 
blieb  Trozendorff  in  Görlitz:  er  gieng  schon  1518  wieder  hinweg, 
und  zwar,  durch  Luthers  auftreten  bewogen,  nach  Wittenberg,  sein 
andenken  blieb  aber  in  Görlitz  lebendig;  denn  wie  Funcke  in  den 
Görlitzer  annalen  erzählt,  feierte  man  ihn  1590  dadurch,  dasz  man 
sein  bild  am  chor  der  Peterskirche  anbrachte  mit  einer  widmung, 
deren  hierher  gehörige  worte  diese  sind :  f . . .  Collegae  infimo,  minori, 
supremo ,  primo  docentium  et  discentium  in  eadem  schola  linguae 
graecae  Doctori  .  . 

Wie  so  oft  im  vorhergehenden,  sind  wir  auch  hier  gezwungen, 
darüber,  ob  die  griechische  spräche  nun  im  Unterricht  beibehalten 
wurde,  Vermutungen  anzustellen,  und  auch  hier  ist  es  nach  dem, 
was  oben  im  allgemeinen  über  die  Verbreitung  des  griechischen  ge- 
sagt wurde,  geraten,  nicht  zu  weit  zu  gehen  und  höchstens  anzu- 
nehmen, dasz  in  der  folgenden  zeit  nur  hin  und  wieder  männer  an 
der  Görlitzer  schule  unterrichteten ,  welche  diese  spräche  kannten, 
bisVincentius  im  jähre  1565  dem  griechischen  auch  in  Görlitz  einen 
festen  platz  im  Unterricht  anwies. 

Von  Lauban  wissen  wir  endlich  nur,  dasz  man  etwa  in  den 
jähren  1520  ff.  Unterricht  im  griechischen  erteilte;  denn  es  heiszt  in 
Wiesners  annalen  s.  a.  1520,  dasz  Joachim  Knemiander  (Hosemann, 
geb.  1506)  'in  seinem  Patria  allhier  bis  ins  16e  Jahr  seines  Alters 
in  die  Schule  gegangen  ist,  und  dasz  er  bei  seinen  Praeceptoribus, 
IL  Oswaldo  Pergenawer,  Franco,  und  M.  Iugelio  von  Zwickau,  die 
lateinische  und  griechische  Sprache  ziemlich  begriffen,  und  sich  auf 
die  Musik  sehr  geleget',  als  er  sich  dann  1522  nach  Wittenberg 
begab ,  habe  er  von  Jugelius  ein  empfehlungsschreiben  an  Melanch- 
thon"  erhalten,  mit  dem  er  dann  wobl  in  Verbindung  blieb,  da  ihn 
dieser  für  das  Bautzener  rectorat  empfahl. 

M  vgl.  Böhme,  de  litteratura  Lipsiensi  opuscula  academ.,  Leipzig- 
1779,  s.  167—186  (de  Rieh.  Croco  Britanno  Graecar.  litterar.  in  Acad. 
Ups.  instauratore  commentatio),  besonder«  8.  173.  176,  auch  s.  13  f.  und 
8.  200  (Kichardi  Croci  Britanni  encominm  Academiae  Lipsiensis). 

39  eine  Vermutung  möge  wenigstens  an  diesem  orte  ausgesprochen 
werden:  als  lehrer  Knemianders  werden  Pergenawer  und  Jugelius  er- 
wähnt, beide  waren  rectoren,  jener  von  1518—1522,  dieser  von  1522  an. 
da  Knemiander  ßartholomäi,  also  am  24  august  1522  Lauban  verliesz 
(nach  Wiesner),  so  ist  es  immerhin  möglich,  wie  die  aunalen  behaupten, 
daiz  er  den  Unterricht  des  neuen  rectors  genosz;  vielleicht  war  es  eben 


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232     Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesen^  in  der  Oberlausitz. 

Was  wir  durch  die  vorausgehende  Untersuchung  gewonnen 
haben,  ist  kurz  zusammengefaszt  folgendes:  die  schulen  der  ober- 
lausitzischen  Sechsstädte  waren  ursprünglich  kirchliche  anstalten,  in 
ihnen  wurde  nur  das  getrieben,  was  für  den  gottesdienst  nötig  war: 
lesen,  singen,  auswendiglernen  der  gebete  und  liturgischen  formein, 
demente  des  latein.  diese  gegenstände  wurden  in  den  schulen  bei- 
behalten, als  sie  sich  in  städtische  oder  ratsschulen  verwandelten 
(parvae  scholae).  gewisse  anlässe  bedingten  sowohl  Störungen  in 
der  Weiterentwicklung  der  schulen,  als  auch  erweiterungen.  wir 
nahmen  an,  dasz  das  ohnehin  noch  auf  schwachen  fttszen  stehende 
Schulwesen  infolge  von  kriegen,  epidemien,  stadtbränden  u.  a.  für 
kürzere  oder  längere  zeit  darniederlag.  wir  erfuhren  aber  auch,  dasz 
die  schulen  der  beiden  führenden  Sechsstädte  Bautzen  und  Görlitz 
besonders  emporstrebten  (maiores  scholae).  Bautzen  zeigte  schon  in 
dem  beginnenden  15n  jahrhundert  eine  erweiterung  des  unterrichte 
im  latein,  während  wir  den  Unterricht  in  einer  der  beiden  andern 
artes  des  triviums  oder  in  beiden  als  möglich  hinstellen  konnten, 
in  Görlitz  wurde  am  ende  desselben  jahrhundert s  grammatik  in  aus- 
gedehntem masze  und  dialektik,  vielleicht  auch  etwas  rhetorik  ge- 
trieben, der  Unterricht  im  griechischen  fand  in  der  ersten  hälfte  des 
16n  Jahrhunderts  eingang  in  die  Görlitzer  und  Laubaner  schule. 

dieser,  der  (bekannt  mit  Melanchthon,  vielleicht  sein  schaler,  vgl.  oben 
das  empfehlungsschreiben)  die  griechische  spräche  nach  Laaban  brachte. 
Pergenawer  wenigstens  verhielt  sich  den  Wittenbergern  gegenüber  ab- 
lehnend, vgl.  laus.  mag.  bd.  36  s.  145  ff. 

(fortsetzung  folgt.) 
Dresden.  H.  Heyden. 


22. 

DIE  REIFEPRÜFUNG  AN  DEN  PROGYMNASIEN. 


Aufs.  419  ff.  des  vorigen  jahrgangs  der  Zeitschrift  für  gymnasial- 
wesen  hat  K.  Schirmer  in  Eschwege  eine  darstellung  der  unterrichts- 
verhältnisse  an  progymnasien  gegeben,  die  meines  erachtens  durchaus 
nicht  allgemeine  gültigkeit  beanspruchen  kann,  auch  seine  forderung 
die  reifeprüfung  an  jenen  anstalten  aufzugeben  kann  ich  als  berech- 
tigt nicht  anerkennen,  auch  nicht  zugeben,  dasz  alle  die  umstände, 
welche  nach  seiner  meinung  die  leistungen  der  progymnasialsecunda 
und  der  aus  ihr  hervorgehenden  primaner  ungünstig  beeinflussen 
sollen,  wirklich  zutreffen  oder  unvermeidlich  sind,  ich  glaube  im 
interesse  der  progymnasien  zu  handeln ,  wenn  ich  aus  meiner  erfah- 
rung  heraus  eine  abwehr  des  Schirmerschen  aufsatzes  versuche. 

Wenn  Zeitungen ,  familienjournale  oder  abgeordnete  längst  be- 
grabene misstände  und  Verkehrtheiten  des  gymnasialen  Unterrichts 
wieder  hervorholen,  neue  vermeintliche  übel  und  gefahren  entdecken 


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Die  reifeprüfung  an  den  progyninasien. 


233 


oder  wirkliche  Schwierigkeiten  aufbauschen ,  so  ist  man  nachgerade 
daran  gewöhnt,  betrübsamer  aber  ist  es,  dasz  auch  fachmänner  in 
ihren  Versammlungen  und  sonstwo  sich  von  Übertreibungen  nicht 
frei  halten,  dieser  Vorwurf  kann  auch  Sch.  nicht  ganz  erspart  wer- 
den, wenn  er  die  menge  von  gefahren  bespricht,  die  der  reifeprüfung 
anhaften,  denn  viele  müssen  es  wohl  sein,  da  er  mit  'z.  b.'  ihrer 
drei  anführt  und  durch  ein  'u.  s.  w.'  die  meinung  erweckt,  dasz  er 
noch  weit  mehr  kenne,  sehen  wir  uns  nun  die  von  ihm  genannten 
'gefahren  und  nachteile '  an.  die  rgefahr  gesundheitbedrohender  Über- 
anstrengung eines  noch  unvollkommen  entwickelten  körpers  und 
geistes'  sei  eine  von  denen,  über  die  rwohl  alle  einig  sind',  gut; 
dann  musz  man  aber  diese  gefahr  in  den  allermeisten  fällen  recht 
geschickt  vermeiden  oder  ohne  besondere  Schwierigkeiten  und  ohne 
üble  folgen  überwinden  können,  oder  wir  Westpreuszen,  ich  meine 
lehrer  sowohl  als  schüler,  müssen  bessere  menschen  sein  als  die  in 
Eschwege  und  umgegend.  denn  die  zahlreichen  gy mnasial Abiturien- 
ten ,  die  ich  gekannt  oder  gleich  nach  der  prüfung  zu  sehen  bekam, 
erschienen  so  gesund  und  frisch,  dasz  man  seine  freude  daran  hatte, 
und  zu  diesen  gehörten  auch  —  ohne  unterschied  von  den  andern  — 
meine  früheren  von  unserem  progymnasium  abgegangenen  schüler, 
bei  denen  nach  Sch.  'die  sorge  für  die  gesundheit  in  erhöhtem  inasze' 
gelten  müste.  dasz  auch  einmal  —  aber  sehr  selten  —  einer  mit 
etwas  bleicheren  wangen  seinen  besuch  machte,  ist  richtig;  es  war 
dann  aber  in  der  regel  einer,  der  von  jeher  mit  einem  ganz  vorzüg- 
lichen sitzfleische  ausgestattet  war,  der,  obwohl  er  vieles  wüste, 
alles  wissen  wollte  oder  vielmehr  keine  ruhe  fand,  bevor  er  auch 
das  ihm  genugsam  bekannte  noch  etliche  male  der  Sicherheit  wegen 
'repetiert'  hatte,  kurz  einer,  der  es  gar  nicht  nötig  hatte  zu  'ochsen', 
ein  solcher  würde  auch  ohne  prüfung  schwerlich  frischer  aussehen, 
die  zweite  gefahr,  'dasz  hastig  zusammengerafftes  wissen,  unterstützt 
von  der  nur  äuszerlichen  gäbe  (?)  eines  guten  gedächtnisses ,  den 
sieg  davontrage  über  treue,  anhaltende  Pflichterfüllung',  musz  ich 
völlig  zurückweisen,  denn  dasz  ein  primaner  mit  durchschnitts- 
begabung,  der  'treu  und  anhaltend'  gearbeitet,  also  doch  auch  durch- 
schnittlich befriedigendes  geleistet  hat  —  sonst  wäre  er  doch  nicht 
in  prima  —  die  prüfung  nicht  oder  nicht  zur  rechten  zeit  bestehe, 
sollte  wohl  ausgeschlossen  sein,  vorausgesetzt,  dasz  nicht  blosz  bei 
ihm,  sondern  auch  an  seinem  gymnasium  immer  nur  die  ehrliche 
arbeit  gegolten  hat  und  auch  in  der  prüfung  alles  nach  Ordnung  zu- 
geht, wenn  aber  die  niederlage  eines  solchen  schülers  in  der  bessern 
prüfung  besteht,  die  ein  weniger  fleisziger,  aber  reicher  begabter 
jüngling  ablegt,  so  ist  das  eine  erfahrung,  die  jener  nicht  früh  genug 
machen  kann,  und  wir  müsten  uns  glück  wünschen ,  dasz  wir  noch 
schüler  haben,  die  nicht  alles  blosz  ersitzen,  solche  aber  haben  es 
gewis  nicht  nötig  noch  irgend  welches  wissen  zum  examen  gedächtnis- 
mäszig  'zusammenzuraffen',  ein  dritter  fall,  dasz  ein  unbegabter,  für 
gymnasiale  Studien  sich  nicht  eignender  schüler  in  die  prüfung  ein- 


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234 


Die  reifeprüfung  an  den  progyinnasien. 


träte,  ist  eigentlich  nicht  zu  denken,  denn  wie  ist  es  möglich,  dasz 
ein  solcher  überhaupt  in  die  prima  aufsteigt?  oder  wenn  ihn  die 
prüfungscommission  eines  armseligen  progymnasiums  unter  den 
auspicien  des  königlichen  provinzialschulrats  mit  dem  primaner- 
zeugnis  ausgestattet  hat,  oder  wenn  er  gegen  den  rat  seines  rectors 
ins  praktische  leben  zu  treten  die  prima  beglückt  hat,  wie  durfte  er 
nach  oberprima  versetzt  werden?  jedenfalls  würde  ein  solcher  durch 
seine  leistungen  nie  jenen  ' sieg*  davonzutragen  im  stände  sein ;  denn 
mag  er  nun  fleiszig  gewesen  sein  oder  nicht,  wenn  er  sich  auch  ge- 
schichtszahlen  u.  ä.  'zusammenraffen'  kann,  wie  aber  die  aufsätze 
liefern ,  die  mathematischen  aufgaben  lösen ,  eine  stelle  aus  Demo  - 
sthenes  übersetzen?  oder  ist  das  irgendwo  'mit  der  äuszerlichen 
gäbe  des  gedächtnisses'  abzumachen?  auch  ein  dritter  nachteil,  der 
mit  der  maturitätsprüfung  untrennbar  verbunden  sein  soll,  und  zwar 
der  nach  Sch.s  ansieht  gröste,  wird  sich  weiter  unten  als  nicht  so 
sehr  erheblich  erweisen. 

'Wenn  nun  auch  diese  oft  beklagten  Schattenseiten  der  reife- 
prüfungen  den  überwiegenden  vorteilen  gegenüber  bei  vollanstalten', 
meint  Sch.,  'nicht  in  betracht  kommen  können,  so  fragt  es  sich  doch 
sehr,  ob  bei  den  unvollständigen  anstalten'  —  zunächst  bei  den 
progymnasien  —  'ein  gleiches  verfahren  zweckmäszig  sei.'  Sch.  be- 
hauptet 'nein',  den  grund  findet  er  in  der  Prüfungsordnung,  die 
für  die  progymnasien  ganz  dieselbe  gültigkeit  habe  wie  für  die 
vollanstalten,  nur  dasz  in  ihr  überall  für  'prima'  einzusetzen  sei 
'secunda';  der  obersecundaner  habe  sich  also  über  den  gesamten 
Wissensstoff  auszuweisen,  welcher  die  lehraufgabe  der  untern  classen 
sei,  und  daher  trete  die  prüfung  dem  schüler  'mit  all  der  schreck- 
lichkeit eines  richtigen  und  ganzen  examens'  entgegen,  und  dies 
Schreckgespenst  bewirke  bei  den  secundanern  noch  mehr  als  bei  den 
zwei  jähre  ältern  primanern  das  streben  nach  anhäuf ung  examinior- 
baren  Wissens,  zerstöre  die  Sammlung  und  hingebung  für  den  Unter- 
richt; die  die  obere  abteilung  der  secunda  beherschende  unruhe 
ziehe,  ähnlich  wie  in  der  prima,  aber  in  noch  höherem  grade  auch 
die  untere  abteilung  der  ungeteilten  classe  in  mitleidenschaft;  der 
memorierstoff  mache  die  sache  noch  lebensgefährlicher  als  in  der 
prima,  auch  dies  ist  teils  falsch,  teils  übertrieben,  erstens  gilt  die 
Prüfungsordnung  der  vollanstalten  nicht  buchstäblich  für  die 
progymnasien,  sondern  ihre  anordnungen  finden  sinnentspre- 
chende anwendung,  wie  deutlich  zu  lesen  ist,  mit  gewissen  näheren 
bestimmungen.  unter  diesen  ist  die  erste  (zu  §  3)  die  wichtigste, 
die  meines  erachtens  einer  mechanischen  anwendung  der  Prüfungs- 
ordnung vorbeugen,  eine  sinngemäsze  herbeiführen  wollte,  es  heiszt 
da:  'zur  erwerbung  eines  Zeugnisses  der  reife  hat  der  schüler  in  den 
einzelnen  lehrgegenständen  die  für  die  Versetzung  in  die  prima  eines 
gymnasiums  erforderlichen  kenntnisse  nachzuweisen.'  das  habe  ich 
immer  so  aufgefaszt  und  bin  auch  durch  Sch.  nicht  bekehrt  worden: 
«der  obersecundaner  des  progymnasiums  soll  das  wissen  und  leisten, 


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Die  reifeprufung  an  den  progymnasien. 


235 


was  der  obersecundaner  einer  vollanstalt  bei  der  Versetzung  in  die 
prima  wissen  und  leisten  musz,  d.  b.  also,  er  soll  den  cursus  der 
obersecunda  oder  meinetwegen  der  secunda  genügend  beberscben, 
und  seine  lehrer  haben  —  viel  mehr  als  er  selbst  —  dem  königlichen 
commissariu8  das  nachzuweisen,  wer  verlangt  nun  wohl  von  einem 
gymnasialobersecundaner ,  dasz  er  'sich  über  den  gesamten  Wissens- 
stoff ausweise ,  welcher  die  lehraufgabe  der  fünf  untern  gymnasial- 
classen  ist'?!  wer  kann  das  verlangen?  niemand  —  und  meiner 
ansieht  nach  ebenso  wenig  wie  es  verlangt  werden  kann,  dasz  der 
Oberprimaner  sich  Uber  den  gesamten  Wissensstoff  aller  classen  aus- 
weise, überdies  gibt  ja  die  Prüfungsordnung  für  progymnasien  den 
(m&szstab'  für  die  beurteilung  der  schriftlichen  und  mündlichen 
leistungen  nicht  näher  an,  wie  sie  es  doch  für  die  vollanstalten  in 
§  3  thut ;  sie  beschränkt  sich  ihren  eingangsworten  entsprechend 
auf  den  oben  citierten  satz.  sie  konnte  auch  keine  eingehendere  be- 
stimmung  treffen ,  da  in  den  gymnasien  der  monarebie  und  der  ein- 
zelnen provinzen  die  anforderungen  nach  den  lebrplänen  der  ein- 
zelnen anstalten  nicht  völlig  gleich  sind,  ganz  selbstverständlich, 
da  die  ministeriellen  lehrpläne  vom  jähre  1882  zwar  die  ziele  des 
gymnasiums,  aber  nicht  die  der  einzelnen  classen,  z.  b.  nicht  die  der 
secunda  bestimmen,  also  haben  sie  auch  den  lehrplan  der  progym- 
nasien nicht  ausführen  können,  sondern  sich  so  kurz  wie  klar  auf 
den  satz  beschränkt:  'ihr  lehrplan  ist  dem  der  gymnasien  in  den  ent- 
sprechenden classen  identisch,  ihr  lehrziel  bildet  die  reife  für  die 
prima  eines  gymnasiums.'  was  will  man  mehr?  seine  meines  er- 
achtens  falsche  auslegung  der  Prüfungsordnung  begründet  Sch.  mit 
dem  zusatze  zu  §  11 ,  indem  er  sagt:  'der  prüfling  hat  sich  .  .  über 
den  gesamten  Wissensstoff  auszuweisen,  welcher  die  lehraufgabe  der 
fünf  untern  gymnasialclassen  ist,  wie  denn  z.  b.  bei  geschieh te  und 
mathematik  ausdrücklich  bemerkt  wird,  dasz  sich  die  prüfung  nicht 
etwa  auf  das  lehrpensum  der  secunda  beschränken  darf.'  der  zusatz 
zu  §  11  bestimmt  allerdings  :  die  prüfung  in  der  geschiente  und  in 
der  mathematik  darf  sich  nicht  auf  das  lehrpensum  der  secunda  be- 
schränken, aber  gerade  dadurch,  dasz  zwei  gegenstände  als  die- 
jenigen genannt  werden,  in  denen  bei  der  prüfung  andere  lehrpensen 
als  das  der  secunda  behandelt  werden  sollen,  wird  zweifellos  für  die 
andern  fächer  auf  diese  forderung  verzichtet,  es  beweist  also  der 
§11  gerade  das  gegenteil  von  dem,  was  Sch.  aus  ihm  herausliest, 
indem  er  sein  verhängnisvolles  'z.  b.'  hinzufügt,  daher  ist  z.  b.  für 
die  prüfung  in  der  religion  keinerlei  auszerordentliche  'repetition' 
nötig;  der  obersecundaner  hat  sich  über  das  pensum  der  secunda 
auszuweisen,  das  natürlich  vieles  aus  dem  der  untern  classen  in  sich 
schlieszt,  und  der  lehrer,  der  dieses  wissen  seines  prüflings  ohne 
auszerordentliche  Wiederholungen  nicht  erreichen  kann,  müste  be- 
seitigt werden,  aber  selbst  für  mathematik  und  geschichte  ist  in 
§  11  nicht  die  borrible  forderung  aufgestellt,  die  Sch.  findet,  dasz 
der  schuler  'sich  über  den  gesamten  Wissensstoff  der  fünf  untern 


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236  Die  reifeprüfung  an  den  progymnasien. 


classen  ausweisen  soll',  denn  es  ist  in  dem  §  11  nicht  gesagt,  dasz 
auch  über  das  pensum  der  tertia,  quarta  usw.  eingehend  geprüft 
werden  soll;  es  ist  nirgends  angegeben,  wie  weit  sich  die  unter 
das  lehrpensum  der  secunda  hinuntergehende  prüfung  erstrecken 
soll,  offenbar  hat  der  paragraph  einen  sehr  guten  sinn  und  wenig- 
stens für  die  geschiente  seine  volle  berechtigung :  er  will  verhindern, 
dasz  über  dem  'einpauken'  der  griechischen  und  römischen  geschiente 
zu  examenszwecken  die  vaterländische  geschichte  zu  kurz  komme, 
was  besonders  für  die  in  das  praktische  leben  tretenden  prüflinge 
sehr  bedauerlich  wäre,  und  gibt  dem  prüfungscommissarius  das 
recht  nachzufragen,  ob  die  schüler  etwas  von  dem  deutschen  ritter- 
orden,  von  Feh  r  bell  in,  Leuthen  und  Sedan  wissen,  aber  ver- 
pflichtet ihn  nicht,  sich  die  regierungsjahre  der  Luxemburger, 
Habsburger  u.  ä.  aufsagen  zu  lassen,  wenig  freilich  zu  bedeuten 
scheint  mir  §  11  für  die  mathematik:  denn  wie  die  mündliche  und 
schriftliche  prüfung  in  latein  und  griechisch  auch  die  lehraufgaben 
der  mittleren  und  unteren  classen  mitberühren  musz,  so  weist  der 
prüfling ,  wenn  er  seine  mathematischen  aufgaben  genügend  gelöst 
hat  und  die  fragen  aus  dem  pensum  der  secunda  genügend  beant- 
wortet, damit  auch  hinreichend  nach,  dasz  er  in  den  früher  be- 
handelten gebieten  bescheid  weisz  und  mit  dem  'gehabten'  umzu- 
gehen versteht;  schon  dadurch  ist  also  die  forderung  erfüllt,  dasz 
sich  die  prüfung  nicht  auf  das  lehrpensum  der  secunda  beschränken 
soll ,  und  es  bedarf  keiner  besondern  probe. 

Es  ist  also  von  dem  'Schreckgespenst'  nicht  viel  übrig  geblie- 
ben, wenn  freilich  die  Prüfungsordnung  von  einem  lehrercolleg  so 
verkehrt  aufgefaszt  und  ausgelegt  wird,  'ist  es  zu  verwundern,  dasz 
bei  dem  weniger  freien  blick  besitzenden  secundaner  dieselbe  er- 
schein ung  auftritt'?  dann  ist  es  denkbar,  dasz  der  von  Sch.  genannte 
dritte  nachteil  sich  bemerkbar  macht,  'der  Unterricht  des  letzten 
jahres,  weil  ihm  von  vielen  Schülern  in  verzeihlicher  kurzsichtigkeit 
geringere  bedeutung  beigelegt  wird  als  dem  banausischen  arbeiten 
auf  das  examen,  um  den  besten  teil  des  erfolges  gebracht,  wenn 
nicht  gar  völlig  verdorben  wird',  'dasz  unter  der  die  obersecunda 
beherschenden  unruhe  auch  die  untersecunda  leiden  musz';  es  ist 
auch  nicht  ausgeschlossen,  dasz  durch  die  Vorbereitung  auf  die  prü- 
fung Überanstrengung  eintritt,  ich  habe  von  einer  unruhe  in  secunda 
sehr  wenig  bemerkt;  in  der  untern  abteilung  wäre  sogar  eine gröszere 
beweglichkeit  meist  recht  wünschenswert,  aber  auch  in  der  ober- 
secunda hat  unser  Unterricht  unter  den  bevorstehenden  schrecken 
des  examens  kaum  gelitten,  in  dem  ersten  halbjahre  des  obersecun- 
danerpensums  erfreut  sich  vielmehr  der  schüler  der  oberen  abteilung 
einer  gewissen  ruhigen  Überlegenheit,  wenn  sich  der  Unterricht,  wie 
in  der  ungeteilten  secunda  natürlich,  mehr  den  neuversetzten  zu- 
wendet, aber  auch  im  winter  tritt  erst  nach  neujahr  eine  gewisse 
Spannung  ein,  wie  sie  ja  wohl  vor  jeder  prüfung  auch  dem  gereif- 
teren  eigen  ist,  doch  sie  beeinfluszt  den  classenunterricht  nicht  und 


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Die  reifeprüfung  an  den  progyinnasien. 


237 


läszt  sich  mit  einigen  hausmitteln  erbeblich  mildern,  der  —  natür- 
lich mit  humaner  vorsieht  nach  obersecunda  versetzte  —  schüler 
kennt  die  oben  entwickelte  auffassung  der  Prüfungsordnung  und 
den  Charakter  des  examens;  er  weisz,  dasz  er  seine  pflicht  auf  das 
gewissenhafteste  erfüllen  musz;  er  weisz,  dasz  ihm  in  diesem  falle, 
aber  auch  nur  in  diesem,  das  bestehen  der  prüfung  in  sicherer  aus- 
sieht steht;  er  weisz,  dasz  von  ihm  keine  willkürlich  gewählte  probe- 
leistung  in  der  prüfung  gefordert  wird,  dasz  die  prüfungsaufgaben 
nicht  über  das  niveau  der  classenarbeiten  des  letzten  halbjahres 
hinaus  (eher  etwas  hinunter)  gehen  und  in  organischem  zusammen- 
hange mit  dem  classenunterrichte  stehen;  er  hat  das  alles  seit  jähren 
durch  die  früheren  prüfungen  bewährt  gefunden :  er  hat  daher  nicht 
nötig  für  seine  Versetzung  zu  fürchten,  zumal  wenn  ihm  zu  michaelis 
und  zu  Weihnachten  sein  Üeisz  anerkannt  und  seine  leistungen  als 
genügend  und  besser  bescheinigt  werden,  denn  er  weisz  schließ- 
lich auch,  dasz,  falls  irgend  eine  arbeit  misglttcken  sollte,  dieser  Un- 
fall nach  der  weisen  Prüfungsordnung  nicht  unbedingt  ein  nicht 
genügend'  in  dem  betreffenden  gegenstände  oder  gar  ein  'nicht  be- 
standen' zur  folge  hat;  weil  er  aber  nicht  zu  fürchten  hat,  hat  er 
auch  nicht  nötig  zu  'repetieren'  oder  vielmehr  der  lehrer  ihn  nicht 
repetieren  zu  lassen  —  denn  sicherlich  würden  die  schüler  sehr  wenig 
wiederholen,  wenn  nicht  der  lehrer  den  befehl,  den  wünsch  äuszerte, 
überhaupt  eine  mehr  oder  minder  nachdrückliche  anregung  gäbe, 
das  gilt  für  die  andern  fächer,  das  gilt  auch  für  die  religion,  obwohl 
wir  hier  für  die  in  das  praktische  leben  tretenden  schüler  eine  kurze 
darstellung  der  hauptepochen  unserer  kirchengeschichte  in  den  lehr- 
plan der  secunda  eingefügt  haben,  hoffentlich  wird  unsere  nächste 
ost-  und  westpreuszi9che  directorenconferenz  den  evangelischen 
religionsunterricht  noch  mehr  von  allen  Uberflüssigen  einzelheiten 
und  von  jeglichem  belastenden,  dem  lehrgegenstande  schädlichen 
gedächtniskram  befreien,  auch  der  geschichtslehrer  hat  die  pflicht 
und  der  verständige  und  leistungsfähige  sicher  auch  die  möglichkeit 
auszerordentliche,  den  schüler  übermäszig  anstrengende  repetitionen 
zu  vermeiden,  mindestens  kennt  er  die  ministerialverfügung  vom 
22  märz  1889,  in  der  es  heiszt:  'übrigens  finde  ich  es  mislich,  wenn 
repetitionen  für  die  prüfung  seitens  der  fachlebrer  veran- 
staltet werden,  das  gymnasium  wird  hierdurch  leicht  dem  vorwürfe 
ausgesetzt,  Schaustücke  bereit  zu  stellen,  und  es  werden  auch  solche 
schüler,  die  das  gymnasium  sicheren  ganges  durchschritten  haben, 
oft  monate  hindurch  in  einer  geist  und  körper  bedrohenden  weise 
angestrengt,  ohne  dasz  der  ihnen  zugemutete  ged&chtnisstoff  ihre 
bildung  erweitern  oder  auch  nur  ihr  wissen  mehr  als  vorübergehend 
vermehren  kann,  ich  musz  wünschen,  dasz  einem  derarti- 
gen treiben  die  handhabung  der  mündlichen  prüfung 
mit  beharrlichem  nachdruck  steuern  möge,  wenn  der 
königliche  commissar  in  der  mündlichen  prüfung  die 
Darlegung  von  kenntnissen  zurückweist,  die,  statt  sich 


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238 


Die  reifepriifung  an  den  progymnasien. 


als  der  natürliche  erwerb  einer  geziemend  benutzten 
Schulzeit  zu  kennzeichnen,  nach  beschaffenheit  und  um- 
fang lediglich  für  die  prüfung  angeeignet  sein  können, 
so  wird  dies  nach  zwei  Seiten  von  vorteil  sein ;  es  wird  hiermit  einer- 
seits der  prüfung  der  ernst,  womit  sie  namentlich  auch  im  hinblick 
auf  den  gegenwärtig  unzuträglichen  andrang  zu  Universitätsstudien 
ausgeführt  werden  musz,  gesichert  und  einer  tiefer  eindringenden 
Würdigung  der  prüflinge  räum  gewonnen,  anderseits  aber  verhütet 
werden,  dasz  der  beschlusz  der  Schulzeit  unter  einem  ängstlichen  und 
hastigen  zusammenraffen  des  verschiedenartigsten  wissens  verküm- 
mere und  eine  unnatürliche  ermüdung  derjenigen  erzeuge,  die  im 
begriffe  sind  zu  hochschulstudien  überzugehen.'  da  also  der  ge- 
schichtslehrer  weisz,  dasz  der  schulrat  derlei  gedächtnismäszig  zur 
prüfung  zusammengerafftes  wissen  zurückweisen  soll,  darf  er  nicht 
fürchten ,  dasz  gewisse  lücken  in  dem  vor  der  secunda  gewesenen 
pensum  ihm  zum  Vorwurf  gemacht  werden  können,  freilich  'wieder- 
holen' musz  er,  das  erfordert  die  natur  seines  gegenständes,  er  kann 
das  aber  sehr  gut  im  classenunterrichte  der  obersecunda ,  wenn  er 
sein  lehrpensum  den  lehrplänen  von  1882  gemäsz  von  unnützen, 
lediglich  belastenden  einzelheiten  und  nebensächlichkeiten  frei  hält, 
dort  heiszt  es,  wie  auch  in  der  Prüfungsordnung:  'der  schttler 
musz  die  epochemachenden  begebenheiten  der  Weltgeschichte, 
namentlich  der  griechischen,  römischen  und  deutschen  sowie  der 
preuszischen  geschichte ,  im  Zusammenhang  ihrer  Ursachen  und  Wir- 
kungen kennen  und  über  zeit  und  ort  der  begebenheiten  sicher 
orientiert  sein.'  wenn  sich  der  geschichtslehrer  dieser  aufgäbe  be- 
wust  bleibt,  wenn  er  sich  darauf  beschränkt,  die  epochemachen- 
den begebenheiten  der  Weltgeschichte,  nicht  die  für  die  Schicksale 
einzelner  Völker  und  Staaten,  sondern  die  für  die  heutige  cultur  und 
für  die  staatenbildung  unserer  zeit  entscheidenden  ereignisse  der  Ver- 
gangenheit im  Zusammenhang  ihrer  Ursachen  und  Wirkungen  vor- 
zutragen, so  hat  er  in  secunda  vollauf  zeit  neben  der  griechischen 
und  römischen  geschichte  die  wichtigsten  Schicksale  und  t  baten  des 
Vaterlandes  zu  wiederholen,  wie  sie  in  der  tertia  erzählt  sind,  aller- 
dings musz  er,  wenn  er  römische  geschichte  vorträgt,  z.  b.  darauf 
verzichten  den  streit  zwischen  plebs  und  patriciat,  so  wichtig  für 
Rom  und  so  interessant  er  für  den  historiker  sein  mag,  in  allen  seinen 
einzelheiten  und  Stadien  vorzutragen,  sondern  sich  begnügen  die  Ur- 
sachen darzulegen  und  eine  kurze  übersieht  der  hauptetappen  zu 
geben,  auf  denen  die  plebs  zu  ihrem  ziele  gelangte;  er  wird  die  folgen 
der  gleichstellung  zu  entwickeln  haben  und  darlegen,  wie  in  ihr  die 
keime  zu  den  Gracchischen  unruhen  und  den  bürgerkriegen  liegen, 
während  die  entwicklung  Roms  zur  herscherin  über  Italien  mit  eini- 
gen scharfen  strichen  gezeichnet  wird ,  aber  nicht  die  einzelheiten, 
z.  b.  die  acuten  veranlassungen  der  einzelnen  Samniter-  usw.  kriege 
vorgetragen  und  gefordert  werden  —  denn  das  ist  locale,  italische 
geschichte  —  musz  Roms  kämpf  um  die  herschaft  des  Mittelmeers, 


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Die  reifeprüfung  an  den  progymnasien. 


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sein  sieg  über  Karthago  und  Griechenland,  sein  emporwachsen  zur 
weltbeherschenden  macht  ausführlicher  durchgenommen  werden,  da- 
gegen ist  eine  ebenso  genaue  darstellung  der  inneren  kämpfe  von 
den  Gracchen  ab  weder  nötig  noch  spricht  sie  das  jugendliche  gemtit 
an;  es  musz  der  versuch  gentigen  dem  schüler  ein  bild  der  Caesari- 
schen zeit  zu  geben,  durch  das  er  befähigt  wird  die  gründung  der 
monarchie  und  die  entstehung  und  Verbreitung  des  Christentums  zu 
verstehen,  die  einrichtungen  des  kaisers  Augustus ,  die  starke  und 
schwache  des  römischen  kaiserreichs  sind  viel  wichtiger  als  die  kriege 
zwischen  Marius  und  Sulla,  die  mit  Jugurtba  usw.  wenn  der  ge- 
schichtslehrer  sich  auf  die  weltgeschichtlich  bedeutsamsten  ereignisse 
beschränkt,  wird  er  genügende  zeit  haben  gewisse  hauptabschnitte 
der  griechischen  geschieh te ,  die  im  jähre  vorher  in  ähnlicher  weise 
vorgetragen  ist,  zu  wiederholen,  ohne  extrastunden  zu  bilfe  zu 
nehmen  und  ohne  die  schüler  zu  belasten,  aber  die  messenischen 
kriege  gehören  ebenso  wenig  dazu  wie  die  einzelheiten  der  kämpfe 
zwischen  den  griechischen  städten  um  die  vorherschaft  von  404 — 338, 
dagegen  sehr  die  Perserkriege,  die  cultur  des  Perikleischen  Zeitalters, 
auch  die  hauptschläge  des  peloponnesischen  krieges ,  ferner  der  zug 
der  zehntausend  und  nach  einer  kurzen  Würdigung  des  Agesilaus 
und  Philippus  Alexander  der  grosze  und  seine  weltgeschichtliche  be- 
dentung.  dann  findet  sich  auch  räum  für  die  Wiederholung  der  wich- 
tigsten ereignisse  der  vaterländischen  geschiente,  der  wichtigsten, 
sage  ich;  denn  in  prima  bekommt  der  schüler  die  deutsche  geschiente 
noch  einmal  zu  hören,  aber  es  ist  angemessen,  dasz  auch  der  ober- 
secundaner  sieb  über  Preuszens  werden  und  seine  Stellung  in  Deutsch- 
land auslassen  kann  —  notabene  vom  Standpunkte  des  tertianers, 
aber  er  soll  nicht  den  ganzen  bailast  der  geschiente  des  römischen 
reichs  deutscher  nation  von  Ludwig  dem  Deutschen  bis  Franz  II 
mit  sich  herumtragen,  der  alte  Barbarossa  ist  ja  nun  wohl  vor 
zwanzig  jähren  endgültig  eingeschlafen;  störe  man  also  seine  ruhe 
möglichst  wenig,  aber  auch  in  der  preuszischen  geschiente  bedarf 
es  bis  zum  groszen  kurfürsten  für  den  tertianer  und  secundaner  nicht 
der  einzelheiten.  unter  solcher  beschränkung  kann  der  geschieh  t3- 
lehrer  die  anforderung  der  Prüfungsordnung  durchaus  erfüllen  und 
seine  schüler  mit  in  der  that  wertvollem  wissen  ausstatten ;  er  macht 
sich  dann  auch  nicht  des  in  jener  ministerialverfügung  mit  recht  ge- 
geiszelten  'treibens*  schuldig,  auch  für  diesen  Unterricht  hoffe  ich 
von  der  nächsten  ost-  und  westpreusziseben  directorenconferenz  eine 
durchgreifende  besser ung. 

Ich  leugne  also,  dasz  die  Prüfungsordnung  zu  verkehrten  frepe- 
titionen'  zwingt  und  den  Unterricht  der  prima  in  vollanstalten ,  den 
der  secunda  in  progymnasien  (oder  wenigstens  den  der  oberen  ab- 
teilnngen)  durch  beunrohigung  der  schüler  zu  verkümmern  nötigt: 
wo  das  geschieht,  liegt  die  schuld  wo  anders,  z.  b.  in  der  falschen 
anslegnng  oder  anwendung  der  Prüfungsordnung. 

Auch  der  folgenden  ausführung  Sch.s  kann  ich  nicht  durchweg 


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Die  reifeprüfuug  an  den  progyinnasien. 


beistimmen,  zuzugeben  ist,  dasz  'die  abiturienten  der  progymnasien 
in  der  prima  in  der  regel  unter  veränderten  häuslichen  Verhältnissen, 
bei  neuen  lehrern  und  mitschülern,  bei  vielfach  neuen  Schulbüchern 
einen  schweren  stand  haben',  die  hauptschwierigkeit  scheint  mir 
vergessen:  dasz,  wenn  auch  im  groszen  ganzen  die  lehrpläne  über- 
einstimmen, doch  auf  allen  gebieten  ab  weichungen  statthaben  müssen, 
und  diese,  weil  ihrer  in  der  lateinischen  Stilistik,  der  deutschen, 
lateinischen ,  griechischen  lectüre,  der  französischen  grammatik  und 
vor  allem  im  mathematischen  pensum  viele  sind,  dem  jungen  pri- 
maner  es  erschweren  werden  überall  den  anschlusz  in  der  weise  zu 
gewinnen,  wie  die  aus  obersecunda  versetzten,  dazu  kommt,  dasz 
die  lehrer  der  prima  auf  diese  Schwierigkeiten  des  'progymnasiasten* 
selten  rücksicht  nehmen,  mehrfach  wohl  auch  durch  die  frequenz  der 
classe  daran  gehindert  werden,  dasz  aber  —  abgesehen  von  den 
abweichungen  der  lehrpläne  —  die  abiturienten  der  progymnasien  an 
kenntnissen  und  leistungen  ihren  neuen  mitschülern  nachstehen, 
kann  ich  aus  meiner  erfahrung  nicht  bestätigen.  Sch.  sagt:  'ver- 
möge der  eben  nach  mühevoller  Vorbereitung  abgelegten  reifeprü- 
fuug am  progymnasium  verfügen  sie  zwar  über  ein  stattliches  wissen 
in  geschichtlichen  und  andern  dingen ,  von  denen  ihre  neuen  mit- 
schüler  meistens  nur  traumhafte  erinnerung  sich  bewahrt  haben;  aber 
es  hilft  ihnen  nichts ,  sie  werden  nicht  danach  gefragt  und  der  ge- 
legenheit  sich  einmal  auszuzeichnen  nicht  einmal  in  diesen  dingen 
teilhaftig.'  das  erscheint  wenig  glaublich  und  ist  auch  in  der  that 
nicht  so.  mir  haben  meine  alten  schÜler  wiederholt  mitgeteilt,  dasz 
sie  eine  gröszere  präsenz  'geschichtlicher  und  anderer  dinge'  besaszen 
und  dasz  sie  sich  hierin  häufig  ihren  mitschülern  überlegen  gezeigt 
haben,  das  ist  für  die  geschiente  auch  ganz  natürlich,  da  ja  in  der 
prima  die  deutsche  geschiente,  die  jene  im  auszuge  so  eben  wieder- 
holt haben,  von  neuem  vorgetragen  wird,  da  in  der  einleitung  und 
der  lectüre  der  antiken  schriftsteiler  fortwährend  griechische  und 
römische  geschichte  behandelt  wird,  aber  'um  so  empfindlicher 
spüren  sie  es  jetzt,  was  sie  in  der  Übung  der  sprachen  in  der  pro- 
gymnasialsecunda  mit  ihrer  durch  examensorgen  geteilten  aufmerk- 
samkeit,  auch  wohl  durch  die  nach  der  prüfung  folgende  zeit  wirk- 
lich oder  vermeintlich  notwendiger  erholung  versäumt  haben',  für 
unsere  anstalt  leugne  ich  eben  die  Voraussetzung,  auf  der  diese  be- 
bau ptung  begründet  ist;  jedenfalls  aber  habe  ich  festgestellt,  dasz 
die  abiturienten  unseres  progymnasiums  gerade  im  deutschen,  latei- 
nischen und  griechischen  durchschnittlich  ihren  neuen  mitschülern 
ebenbürtig  gewesen  sind,  ja  nicht  ganz  selten  sie  übertroffen  haben, 
wenn  sie  hier  und  da  geklagt  haben,  so  betraf  das  in  der  regel  die 
französische  spräche  und  die  mathematik,  die  erstere,  weil  von  ihnen 
in  der  prima  leider  grammatische  quisquilien  verlangt  wurden,  die 
wir  ihnen  auch  dann  erspart  hätten,  wenn  wir  eine  geteilte  secunda 
hätten ,  mehr  noch  die  letztere,  hauptsächlich  deshalb,  weil  von  den 
schtilern  die  kenntnis  gewisser  gebiete  gefordert  wurde,  die  wir  von 


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Die  reifeprüfung  an  den  progynmasien. 


241 


unserm  lehrpensum  der  secunda  ausscblieszen  müssen ,  z.  b.  Stereo- 
metrie, auch  die  erfolge  der  abiturientenprüfung  bestätigen  das  ge- 
sagte, von  den  in  den  jähren  1883—88  mit  dem  primanerzeugnis 
abgegangenen  schulern  unseres  progymnasiums  haben  zwei  drittel 
nach  ablauf  von  zwei  jähren  ihre  reifeprüfung  bestanden ,  mehr  als 
die  hälfte  davon  —  also  etwa  ein  drittel  der  ganzen  zahl  —  ist  von 
der  mündlichen  prüfung  befreit  worden,  etwa  ein  drittel  bat  mehr 
als  zwei  jähre  gebraucht  und  zwar,  so  viel  ich  weisz,  alle  mit  einer 
ausnähme  2  \  2  jähre,  diesem  einen  hatte  ein  höherer  die  reife  für 
die  prima,  die  ich  ihm  bestritt,  zugesprochen,  drei  unserer  schüler 
sind  während  des  primacursus  ins  praktische  leben  eingetreten,  ich 
wei3z  nicht,  ob  das  Verhältnis  der  an  den  vollanstalten  nach  prima 
versetzten  obersecundaner  günstiger  ist;  aber  im  hinblick  auf  die 
ausstände,  die  in  der  that  der  Wechsel  der  anstalt  für  die  scbüler  des 
progymnasiums  mit  sich  bringt,  halte  ich  unser  ergebnis  für  genügend, 
zumal  eine  nicht  geringe  zahl  unserer  abiturienten  auch  in-  grosz- 
städtischen  anstalten  sich  gut  bewährt  hat.  natürlich  haben  wir 
unsere  jungen  auch  nach  der  prüfung  bis  zu  ihrer  meist  am  tage  des 
jabresschlusse8  erfolgten  entlassung  in  der  schule  behalten  und  an 
den  arbeiten  der  andern  fast  ganz  in  der  gewohnten  weise  teilnehmen 
lassen,  der  'wirklichen*  erholung  bedürftig  scheint  keiner  bisher 
gewesen  zu  sein,  da  keiner  um  urlaub  nachgesucht  hat;  zwei  bis  drei 
tage  haben  wir  von  selbst  den  auswärtigen  scbülern  gegeben,  um  die 
eitern  zu  besuchen  und  etwa  den  Wechsel  der  anstalt  vorzubereiten, 
so  wurde  weder  vor  noch  nach  der  prüfung  durch  diese  die  arbeit 
in  irgendwie  nennenswerter  weise  gestört,  dasz  ferner  das  erste 
examen  den  'progymnasiasten'  für  das  zweite  keinen  nutzen  bringen 
sollte,  kann  ich  mir  nicht  denken,  z.  b.  nicht,  dasz  ihnen  der  früher 
eingeprägte  meniorierstoff  gar  nichts  nützen  oder  gar  schädlich  sein 
sollte,  auch  haben  sie  hoffentlich  aus  der  prüfung  gelernt,  dasz  es 
damit  nicht  so  schlimm  ist,  wie  es  manchem  scheint,  gesund  sind 
sie  bisher  gott  lob  geblieben. 

Es  ist  also  offenbar,  dasz  der  Unterricht  der  ober-  und  unter- 
secunda  nicht  oder  bei  weitem  nicht  in  dem  grade,  den  Sch.  annimmt, 
unter  der  prüfung  zu  leiden  hat.  es  ist  daher  auch  kein  grund  diese 
fortfallen  zu  lassen,  und  wenn  Sch.  fragt,  ob  sie  zu  behalten  ist, 
weil  sonst  ungenügend  vorbereitete  schüler  mit  dem  zeugnis  der 
reife  für  die  prima  entlassen  werden  würden,  so  musz  ich  das  bejahen, 
denn  wenn,  wie  es  nach  seinen  erfahrungen  scheint,  jetzt  trotz  der 
controle  des  königlichen  commissars  es  vorkommt,  dasz  ungenügend 
oder,  besser  gesagt,  verkehrt  vorbereitete  scbüler  von  den  progym- 
nasien  in  die  prima  eintreten,  ist  doch  die  gefahr  vorhanden,  dasz, 
sobald  diese  allein  maszgebende  controle  aufhört,  die  Vorbereitung 
noch  willkürlichere  bahnen  gehen  wird,  darin  könnte  die  kritik, 
welche  über  die  progymnasialabiturienten  in  der  prima  von  den 
herren  gymnasialprofessoren  gefällt  wird,  selbst  wenn  sie  noch 
weniger  nachsichtig  würde,  keine  abhilfe  schaffen  —  schon  deshalb, 

N.j»hrb.r.phil.D.plJ.  ll.abt.  1S91  hfl. 5.  16 


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242 


Die  reifeprüftiDg  an  den  progymnasien. 


weil  selten  festzustellen  ist,  ob  sie  eine  richtige,  berechtigte  ist  oder 
nicht,  und  zweitens,  weil  es  keine  amtliche,  keine  von  einem  höhern 
Standpunkte  gegebene,  keine  alle  anst alten  derselben  art  umfassende 
ist,  sondern  lediglich  eine  private,  persönliche,  einseitige,  die,  wenn 
ich  den  heim  director  oder  professor  kenne  und  sein  urteil  schätze, 
für  mich  lehrreich  sein  kann,  die  aber  sonst  in  der  regel  das  lehrer- 
colleg  des  progymnasiums  und  zwar  mit  recht  ziemlich  kalt  lassen 
wtirde.  auszerdem  hat  aber  der  staat,  der  für  eine  so  kleine  anstalt, 
wie  die  progymnasien  der  mehrzabl  nach  sind ,  einen  zuschusz  von 
12000  mark  und  mehr  zahlt,  für  jeden  abituriunten  also  jährlich 
etwa  2 — 3000  mark  ausgibt,  doch  wohl  nicht  allein  das  recht,  son- 
dern auch  die  pflicht  zu  prüfen,  ob  der  junge  das  wert  ist,  was  an 
ihn  gewendet  ist.  eine  schluszprüfung  wird  aber,  bis  eine  bessere 
form  gefunden  ist,  noch  immer  das  sicherste  mittel  für  die  behörde 
sein,  die  leistungen  der  sch'üler,  der  lehrer,  der  anstalten  zu  bestim- 
men und  zu  vergleichen,  Ubelstände  abzuschaffen ,  anregungen  zu 
geben  usw.  und  das  angenehme  ist  dabei ,  dasz  dies  von  mund  zu 
mund  geschieht,  nicht  auf  dem  papier,  das  ja,  wie  man  sieht,  arg 
misverstanden  wird,  auch  die  gefahr,  die  nach  Sch.  'bei  dem  der- 
maligen verfahren*  aus  der  verkehrten  anwendung  des  sogenannten 
compensationsparagraphen  erwachsen  kann,  fürchte  ich  nicht,  min- 
destens ist  sein  beispiel,  dasz  möglichenfalls  trotz  ungenügender 
leistungen  in  latein  und  griechisch  wegen  guter  leistungen  im 
deutschen  und  in  der  mathematik  die  reife  für  die  prima  zuge- 
sprochen wird ,  unglücklich  gewählt,  denn  der  erste  paragraph  der 
Prüfungsordnung  lautet  auf  das  progymnasium  angewandt:  zweck 
der  entlassungsprüfung  ist  zu  ermitteln,  ob  der  schüler  dasjenige 
masz  der  Schulbildung  erlangt  bat,  welches  das  ziel  der  obersecunda 
ist.  das  hat  er  aber  auf  einer  humanistischen  anstalt  nicht,  wenn 
seine  leistungen  in  beiden  antiken  sprachen  ungenügend  sind. 

Aus  diesen  gründen  bin  ich  der  meinung,  dasz  die  entlassungs- 
prüfung für  die  progymnasien  beizubehalten  ist.  gemütlicher  würde 
es  in  dem  andern  falle  wohl  werden,  aber  schwerlich  besser,  der 
unfug  freilich,  dasz  die  obersecundaner  der  progymnasien  ein  halbes 
jähr  vor  abschlusz  ihres  cursus  in  die  obersecunda  einer  vollanstalt 
eintreten,  wird  da,  wo  er  herscht,  wohl  aufhören,  aber  möglichen- 
falls kommen  dann  die  obersecundaner  der  vollanstalten  zu  den  pro- 
gymnasien. mir  ist  übrigens  der  'weitverbreitete  unfug'  so  gut  wie 
unbekannt  geblieben,  während  meiner  hiesigen  amtsführung  ist,  ob- 
schon  es  hier  'streng'  sein  soll ,  kein  einziger  obersecundaner  zu  der 
angegebenen  zeit  an  eine  vollanstalt  abgegangen;  ich  glaube,  einer 
verliesz  uns  bei  seiner  Versetzung  nach  obersecunda,  was  doch  sicher 
vernünftiger  ist,  als  ein  halbes  jähr  später,  kurz,  es  ist,  zumal  wenn 
es  möglich  ist,  dasz  geschriebene  Verordnungen  so  verschieden  aus- 
gelegt werden,  sehr  gut,  dasz  der  provinzialschulrat  die  prüfung  ab- 
hält; möchte  er  nur  jedes  mal  kommen. 

Schwbtz  a.  W.  Arthur  Gronau. 


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Chr.  Herwig:  griechisches  lese-  und  Übungsbuch  für  tertia.  243 

23. 

db.  Chr.  Herwig,  griechisches  lese-  und  Übungsbuch  für 
tertia.  Bielefeld  und  Leipzig,  Velhagen  u.  Klasing.  1891.  IV  u. 
118  B. 

db.  Chr.  Herwig,  vocabularium  und  regelverzeichnis  zu  dem 

GRIECHISCHEN  LESE-  UND  ÜBUNGSBUCHE  FÜR  TERTIA.  Bielefeld 

und  Leipzig,  Velhagen  u.  Klaaing.  1891.   161  s. 

Den  vom  ref.  in  dieser  Zeitschrift  1889  s.  113  ff.  besprochenen 
griechischen  elementarbüchern  mit  zusammenhängendem  Übungs- 
stoffe schlieszt  sich  das  lese-  und  Übungsbuch  von  Herwig  an.  der 
verf.  bat  vollständig  von  einzelsätzen  abgesehen,  er  bietet  zunächst 
32  griechische  stücke  ohne  anlebnung  an  griechische  originale ;  dann 
folgen  43  stücke,  fast  ausnahmslos  bearbeitungen  Herodoteischer  er- 
zahlungen  (mit  ausnähme  der  Perserkriege)  enthaltend ;  den  schlusz 
des  griechischen  Übungsstoffes  bildet  in  29  stücken  eine  darstellung 
der  me8senischen  kriege  nach  Pausanias.  besondere  deutsche  Übungs- 
stücke erklärt  der  verf.  in  den  beigegebenen  (und  unentgeltlich  zu 
beziehenden)  Vorbemerkungen  für  sehr  überflüssig,  da  der  griechische 
lesestoff  durch  beständige  Variationen,  retro Versionen  und  sonstige 
Übungen  so  manigfach  verarbeitet  werden  könne  und  solle,  dasz  für 
anderweitiges  übersetzen  wohl  kaum  viel  zeit  übrig  bleiben  werde, 
'am  jedoch  auch  abweichenden  anschauungen  entgegenzukommen, 
ist  hinter  dem  lesebuche  eine  auswahl  deutscher  stücke  gegeben 
worden,  die  anfangs  (stück  1—9)  blosze  Variationen  von  entspre- 
chenden griechischen  abschnitten  sind,  später  aber  den  angeeigneten 
sprachstoff  an  inhaltlich  neuem  material  zur  anwendung  bringen, 
auch  diese  stücke  sind  zusammenhängend  und  zum  grösten  teil  aus 
Herodot  entlehnt.'  dem  princip  des  verf.  stimmen  wir  aus  den  schon 
in  der  oben  erwähnten  recension  dargelegten  gründen  vollkommen 
bei.  wir  haben  selbst  wiederholt  die  er  fahrung  gemacht,  dasz  Übungs- 
stücke mit  einzelsätzen,  wenn  sie  wenigstens  so  einfache  sätzchen 
enthalten  wie  die  so  weit  verbreiteten  Wesenerschen  bücher,  wohl 
die  befestigung  der  formenlebre  wesentlich  unterstützen,  aber  eine 
ganz  ungenügende  Vorbereitung  auf  die  Anabasislectüre  bilden,  ganz 
zu  schweigen  von  dem  geringen  interesse ,  das  die  zusammenhangs- 
losen sätze  bei  tertianern  erwecken  können,  wir  begrüszen  also  mit 
freude  diesen  neuen  versuch ,  den  griechischen  elementarunterricht 
fruchtbarer  und  interessanter  zu  machen,  um  so  mehr,  als  wir  auch 
mit  der  durchführung  des  princips  uns  in  der  hauptsache  einver- 
standen erklären  können. 

Die  Übersetzungsstücke  sind  nach  form  und  inhalt  gleich  lobens- 
wert: im  griechischen  wie  im  deutschen  ausdruck  correct  und  ge- 
fallig, in  syntaktischer  beziehung  weder  zu  leicht  noch  zu  schwer 
und  nach  der  stofflichen  seite,  je  weiter  sie  vorschreiten,  desto  inter- 
essanter, zweifelhaft  ist  uns  nur,  ob  der  griechische  tibersetzungs- 
stoff  ausreichen  wird,  er  umfaszt  75  Seiten ,  die  seite  mit  höchstens 

16* 


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244    Chr.  Herwig:  griechisches  lese-  und  Übungsbuch  für  tertia. 

30  zeilent  und  davon  sollen  und  können  der  Untertertia  nur  die 
ersten  46  seiten  (bis  zu  den  verba  liquida  einschließlich)  zufallen, 
wir  fürchten,  dasz  der  gebotene  stoff  nicht  genügen  wird,  um  die 
scbüler  zu  der  erforderlichen  gewandtheit  im  berübersetzen  zu  brin- 
gen, wenn  er  auch  in  Verbindung  mit  den  für  Untertertia  bestimmten 
24  (im  ganzen  41)  seiten  deutschen  Übersetzungsstoffes  und  allen 
möglichen  Variationen,  retroversionen  und  formübungen  zur  befesti- 
gung  der  formenlehre  ausreichen  mag. 

Selbstverständlich  muste  der  verf.,  um  zusammenhängenden 
übersetzungsstoff  zu  gewinnen,  abs chnitte  aus  der  lehre  vom  v er bu m 
vorausnehmen,  so  ist  gleich  im  In,  die  masculina  der  o-declination 
behandelnden  stücke  der  ind.  praes.  act.  der  verba  auf  uj  voraus« 
gesetzt,  im  5n  (a-decl.)  der  coni.  praes.  act.,  im  7n  der  imp.  praes. 
act.,  im  9n  der  ind.  fut.  act.,  im  lOn  der  ind.,  der  inf.  und  das  part. 
praes.  pass.,  im  l  In  der  coni.  und  imp.  praes.  pass.,  im  I2n  der  ind. 
und  inf.  fut.  med.,  im  15n  (dritte  decl.)  das  impf,  act.,  im  16n  das 
impf,  pass.,  im  18n  der  ind.  aor.  act,  im  2 In  das  part.  praes.,  aor. 
und  fut.  act.,  im  27n  das  augm.  temp.,  im  28n  der  coni.  aor.  act., 
im  29n  der  imp.  aor.  act.,  im  30n  (unregelmäszigkeiten  der  dritten 
decl.)  der  inf.  aor.  act.,  im  31n  der  aor.  med.  auszer  dem  opt.,  im 
33n  der  opt.  praes.  und  aor.  act.,  im  35n  der  opt  praes.  und  aor. 
med.  es  bleiben  deshalb  für  den  zweiten  hauptabschnitt  des  buches, 
der  die  regelmäszigen  verba  auf  uj  behandelt,  nur  übrig  das  praes. 
und  impf,  der  verba  contracta,  der  per fect. stamm  des  activs,  der 
perfectstamm  des  passivs  und  der  aoriststamm  des  passivs  der  verba 
pura  non  contracta,  die  verba  mit  augment  El,  die  regelmäszige 
tempusbildung  der  verba  contracta,  die  abweichungen  von  der  regel- 
mäszigen tempusbildung,  die  verba  muta,  die  verba  liquida,  die  star- 
ken aoriste  und  perfecte  der  verba  auf  uu.  wir  sehen  in  dieser  vor- 
ausnähme des  verbums  nicht  das  geringste  bedenken;  auch  wird  es 
keine  Schwierigkeit  machen,  nach  der  durchnähme  der  mutastämme 
der  dritten  decl.  und  des  ind.  fut.  und  aor.  von  TraibeOw  die  ent- 
sprechenden formen  von  TreuTCUU,  Xe-fuu  und  rreiOai  bilden  zu  lassen, 
auch  mit  der  sonstigen  anordnung  des  grammatischen  Stoffes  —  am. 
meisten  weicht  der  verf.,  wie  aus  dem  vorstehenden  zu  erkennen  ist, 
bei  der  behandlung  des  verbums  von  seinen  Vorgängern  ab  —  sowie 
mit  der  teilung  der  einzelnen  abschnitte  —  z.  b.  ist  die  dritte  decl. 
in  14  Unterabteilungen  zerlegt  —  sind  wir  durchaus  einverstanden; 
nur  will  es  uns  nicht  gefallen,  dasz  das  ganze  paradigma  von  biöuuui 
und  beiKVuai,  von  Tiönui  und  irjui  und  von  iCTrjui  in  je  einem  stücke 
zusammengefaszt  wird,  seltene  und  unclassische  formen  sind  uns 
nicht  aufgestoszen,  dagegen  können  wir  rühmen,  dasz  geübte  formen 
in  den  späteren  stücken  ziemlich  häufig  wiederkehren. 

Besondere  Schwierigkeit  bereitet  in  einem  nur  zusammen- 
hängende Übersetzungsstücke  enthaltenden  Übungsbuche  der  Wort- 
schatz, der  natürlich  gröszer  sein  musz  als  in  Übungsbüchern,  die 
sich  ausschlieszlicb  oder  vorzugsweise  mit  einzelsätzen  begnügen. 


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Chr. Herwig:  vocabularium  z. d.  griech.  lese-  u.  Übungsbuch  f.  tertia.  245 

aber  auch  diese  Schwierigkeit  hat  der  verf.  in  seinem  vocabular  ziem- 
lich glücklich  gelöst,  das  vocabular  beruht  durchaus  auf  den  (ver- 
besserten) Perthesschen  grundsätzen.  ejede  (einem  lesestücke  ent- 
sprechende) nummer  zerfällt  in  drei  deutlich  abgegrenzte  teile,  deren 
erster  die  fest  einzuprägenden  vocabeln  in  groszer  schrift  enthält, 
wahrend  im  zweiten  die  sonst  noch  vorkommenden  (nicht  systema- 
tisch einzuprägenden ,  aber  bei  öfterem  vorkommen  sich  von  selbst 
einprägenden)  Wörter  in  mittelgroszen  typen  und  im  dritten  die  syn- 
taktisch oder  durch  ihren  vom  deutschen  abweichenden  ausdruck  be- 
merkenswerten stellen  des  lesesttickes  mit  der  deutschen  Übersetzung 
verzeichnet  sind.'  die  zahl  der  dem  unterterlianer  fest  einzuprägen- 
den vocabeln  ist  nicht  wesentlich  gröszer  als  die  in  dem  entsprechen- 
den teile  von  Wesener  (ca.  990  gegen  971),  dagegen  sind  die  Wörter 
bei  Herwig  weit  gleichmäsziger  auf  das  sommer-  und  Wintersemester 
verteilt  und  darum  unschwer  zu  bewältigen,  die  einprägung  wird 
um  so  leichter  gelingen ,  wenn ,  wie  es  die  moderne  pädagogik  mit 
recht  verlangt,  die  vocabeln  nicht  vor  der  Übersetzung  des  betreffen- 
den Stückes ,  sondern  erst  nach  mehrmaligem  übersetzen  desselben 
memoriert  werden.  Wörter,  die  sich  leichter  vergessen ,  sind  im 
vocabular  wiederholt  aufgeführt,  die  sonst  in  den  einzelnen  Übungs- 
stücken vorkommenden  fremden  vocabeln,  welche  die  zweite  gruppe 
im  vocabular  bilden,  stehen,  wenn  man  die  notwendigen  Wieder- 
holungen mitrechnet,  an  zahl  der  ersten  gruppe  vielfach  nicht  viel 
nach,  und  ihre  menge  wird  möglicherweise  in  der  praxis  etwas  un- 
bequem werden,  ebenso  wird  die  Verteilung  der  Wörter  unter  die 
beiden  gruppen  vielleicht  hier  und  da  bedenken  erregen;  doch  mögen 
für  den  verf.  öfter  besondere,  für  den  feiner  stehenden  nicht  sofort 
erkennbare  gründe  maszgebend  gewesen  sein ,  und  im  allgemeinen 
wird  die  Verteilung  jedenfalls  überall  beifall  finden,  in  beiden 
gruppen  sind  die  vocabeln  recht  übersichtlich  (die  griechischen 
Wörter  einerseits  und  die  deutschen  bedeutungen  anderseits  unter 
einander)  nach  Wortarten  und  innerhalb  derselben  nach  dem  aiphabet 
geordnet,  in  kleinerem  druck  ist  regelmäszig  auf  früher  dagewesene 
oder  aus  dem  lateinischen  bekannte  verwandte  Wörter  hingewiesen, 
wie  auch  durch  trennungsstriche  stets  auf  Zusammensetzungen  auf- 
merksam gemacht  ist,  ein  verfahren,  durch  welches  nicht  nur  die 
einprägung  neuer  vocabeln  erleichtert  und  die  erinnerung  an  früher 
dagewesene  aufgefrischt,  sondern  der  schüler  auch  veranlaszt  wird, 
die  bedentung  unbekannter  vocabeln  mit  hilfe  der  ihm  bekannten 
verwandten  Wörter  zu  finden  und  nicht  sofort  zum  wörterbuche  zu 
greifen,  bei  der  dritten  gruppe  ist  auf  die  angehängte  Zusammen- 
stellung kurzer,  mit  beispielen  versehener  regeln  der  syntax  ver- 
wiesen, doch  verlangt  der  verf.  nicht  die  einprägung  dieser  regeln 
und  scheint  auch  nicht  das  memorieren  sämtlicher  in  der  dritten 
gruppe  aufgeführten  syntaktischen  constructionen  zu  fordern,  in 
dem  vocabular  zum  zweiten  teile  des  Übungsbuches,  zu  den  deutschen 
Übungsstücken,  sind  diejenigen  vocabeln,  die  nicht  aus  der  ersten 


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246         P.  Nerrlich:  Jean  Paul,  sein  leben  und  aeine  werke. 

gruppe  des  ersten  teils  bekannt  sind,  nacb  ibrem  vorkommen  in  den 
einzelnen  stücken  und  Sätzen  aufgeführt  worden,  wodurch  eine  Ver- 
mehrung des  memorierstoffes  mit  glück  vermieden  ist. 

Wir  können  deshalb  nur  den  wünsch  aussprechen ,  dasz  recht 
viele  anst.il ten  die  Herwigschen  bücher,  die  sich  auch  durch  eine 
vortreffliche  ausstattung  empfehlen,  versuchen  möchten,  mängel, 
die  sich  dabei  etwa  herausstellen  sollten,  werden  sich  bei  einer  neuen 
aufläge  leicht  beseitigen  lassen;  auf  keinen  fall  werden  sie  das  durch- 
aus gesunde  grundprincip  der  bücher  berühren. 

MÜLHEIM  AN  DER  RUHR.  H.  FRITZ8CHE. 


24. 

Jean  Paul,  sein  leben  und  seine  werke  von  Paul  Nerrlich. 
Berlin,  Weidmannache  buchhaudlung.  1889.  XI  u.  655  a.  gr.  8. 

Es  wäre  eine  sehr  oberflächliche  auffassung,  wenn  man  die 
pädagogische  bedeutung  Jean  Pauls  nur  davon  herleitete,  dasz  er 
der  Verfasser  der  Levana  ist.  vielmehr  musz  man  fragen,  warum 
er  die  Levana  geschrieben  hat,  von  der  Goethe  urteilt:  'eine  un- 
glaubliche reife  ist  darin  zu  bewundern!'  (Nerrlich  s.  511).  auf 
grund  des  hier  zur  anzeige  zu  bringenden  buches  von  P.  Nerrlich, 
der  als  kenner  und  herausgeber  Jean  Pauls  bereits  vor  Veröffent- 
lichung dieses  Werkes  sich  einen  namen  erworben  hatte,  wird  man 
nun  keineswegs  zu  viel  behaupten,  wenn  man  sagt,  dasz  die  eigen- 
art  Jean  Pauls  als  eines  unserer  grösten  schriftsteiler  wie  seine  Stel- 
lung in  der  litteratur  ohne  die  richtung  auf  das  pädagogische 
gar  nicht  denkbar  sind,  handelt  es  sich  doch  auch  in  seinen  humo- 
ristischen romanen  in  so  weit  immer  um  die  lösung  pädagogischer 
probleme,  als  die  gegensätze  in  der  menschlichen  natur  darin  zum 
austrag  und  zur  Versöhnung  gebracht  werden  sollen.  Jean  Paul 
ist  einerseits  tief  durchdrungen  von  den  frühen  Vollgefühlen  der 
jugend  und  die  heiligen  schauer,  mit  denen  das  kind  noch  die  unbe- 
greiflich hohen  werke  der  schöpfung  in  sein  träumerisches  auge  auf- 
nimmt, bewahrte  er  eigentlich  sein  ganzes  leben  hindurch  in  seinem 
herzen  gleichsam  wie  den  kostbarsten  schätz  eines  die  höhere  be- 
stimmung  des  menschen  verbürgenden  erbes ,  das  unverkürzt  von 
der  urzeit  bis  in  die  gegenwart  zu  überliefern  sei.  indem  er  aber 
anderseits  das  gemeine ,  niedrige  und  kleine ,  wie  es  sich  sehr  bald 
seinem  scharf  beobachtenden  blicke  darstellte,  als  etwas  untrennbar 
zu  dieser  weit  gehöriges  begriff,  was  man  nicht  ungestraft  übersehen 
darf,  womit  es  gilt,  sich  irgendwie  durch  einen  überlegenen  verstand 
und  durch  einen  kräftigen  willen  in  frieden  zu  setzen ,  waren  nicht 
allein  bereits  die  elemente  für  ihn  gegeben,  die  sich  zu  der  ihm 
eigentümlichen  Weltanschauung  gestalteten,  der  humoristischen,  der 
das  Brunosche  principium  coincidentiae  oppositorum  nicht  als  blosze 
lehre  gilt,  die  es  vielmehr  thatsächlich  als  dauernde  gemtitsstimmung 


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P.  Nerrlich:  Jean  Paul,  sein  leben  und  seine  werke.  247 

in  sich  erlebt,  sondern  es  entsprang  daraus  auch  die  innere  nötigung, 
Stellung  zu  nehmen  zu  denjenigen  einrichtungen,  welche  den  zweck 
haben,  das  heranwachsende  gescblecht  so  zu  führen  und  zu  leiten, 
dasz  es  erstarkt  zu  pünktlicher  erfüllung  der  aufgaben,  welche  die 
rauhe  und  ernste  Wirklichkeit  einer  nur  in  strenger  arbeitsteilnng 
ihr  ziel  findenden  gesellschaft  einmal  ihm  entgegenbringen  wird, 
ohne  dabei  doch  weder  in  den  so  schnell  vorübergebenden  tagen  der 
goldenen  jugend  selbst  noch  im  späteren  leben  jenes  menschlich 
schöne  und  hohe  empfinden  einzubüszen,  welches  nur  auf  der  Er- 
haltung des  nicht  verstümmelten  ganzen  der  menschlichen  natur 
beruht. 

Da  ist  es  nun  vor  allem  bemerkenswert,  dasz  J.  P.  in  immer 
neuen  Wendungen  und  in  den  gestalten,  die  in  seinen  romanen  auf- 
treten, den  sein  ganzes  schaffen  bestimmenden  gedanken  zum  aus- 
druck  bringt ,  dasz  die  phantasie  eine  eben  so  köstliche  wie  ver- 
hängnisvolle gäbe  des  menschen  ist,  der  er  alles  verdankt,  was  ihn 
erhebt  und  beseligt,  und  deren  herschaft  ihn  doch  auch  wieder  bis 
zu  lächerlicher  unbeholfenheit,  ja,  bis  zur  ab  Wendung  von  allem 
sittlichen  verhalten  herabsinken  läszt.  niemand  hat  mit  so  drasti- 
schen ztigen  geschildert,  wenn  man  den  unsterblichen  Don  Quixote 
des  Cervantes  etwa  ausnimmt,  wie  die  einbildungskraft  den  menschen 
stets  verführt,  falls  er  sich  ihr  in  schrankenloser  willkür  überläszt, 
seinen  realen  zustand,  seine  wirkliche  Umgebung,  seinen  wahren 
wert  und  das,  was  er  in  der  that  erreicht  hat,  mit  dem  zu  verwech- 
seln, was  er  in  seinen  träumen  sich  vorstellt,  und  worin  er  sich  so 
lebhaft  mit  seinen  gedanken  hineinversetzt,  dasz  er  es  zu  sei  n  glaubt, 
wer  jemals  wirklich  jung  gewesen  ist,  nicht  blosz  den  jähren  nach, 
der  weisz  aus  eigenster  erfahrung,  dasz  ein  knabe  vermöge  der  leich- 
testen und  unscheinbarsten  anregung  von  auszen  Seefahrten,  kriegs- 
abentener,  ja,  alle  irdische  hoheit  und  ehre  innerlich  erleben  und 
durchmachen  kann,  eben  weil  der  ursprünglichen  macht  der  gefühle, 
mit  denen  die  einbildung  ihn  erfüllt,  durch  den  noch  unentwickelten 
verstand  keine  hemmenden  schranken  gesetzt  werden,  die  phantasie 
musz  doch  also  wohl  als  das  eigentlich  schöpferische  vermögen  des 
menschen  angesehen  werden,  nicht  allein  deshalb,  weil  sie,  wie  wir 
es  gleichfalls  bei  spielenden  kindern  sehen ,  alle  seine  kräfte  zu  dem 
höchsten  masz  ihrer  leistungsfähigkeit  entbindet,  sondern  auch  weil 
sie  aus  den  geringfügigsten  dingen,  die  ihr  gegeben  sind,  mit  ihrem 
zauberstab  eine  weit  hervorzubringen  versteht,  in  der  jeder  zeuge 
menschlicher  bedenklichkeit  ausgeschlossen  scheint,  und  das  alles 
deutet  allerdings  darauf  hin ,  dasz  der  mensch ,  der  noch  unter  dem 
vorwiegenden  einflusz  der  phantasie  steht,  die  ungebrochene  einheit 
seines  wesens  darstellt  und  ein  abbild  dieser  einheit  in  jedem  gegen- 
stände, der  ihn  anspricht,  vor  sich  zu  sehen  meint. 

Diese  einheit  ist  nun  aber  durchaus  nicht  sehr  verschieden  von 
derjenigen,  in  welcher  die  unbewuste  natur  sich  befindet,  der  erste 
bruch  mit  der  natur  erfolgt  in  dem  augenblick,  in  welchem  das  ich 


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248        P.  Nerrlich:  Jean  Paul,  sein  leben  und  seine  werke. 

erwacht,  mit  dem  erwachten  ich  tritt  der  mensch  aus  dem  reiche 
der  natur  in  das  der  geschieht e.  denn  geschiente  bedeutet  die- 
jenige aufsteigende  reihe  von  Veränderungen,  welche  als  auf  ihren 
urheber  zurückweist  auf  ein  sich  von  andern  und  von  der  natur  mit 
be wustsein  unterscheidendes  wesen.  so  in  der  lebensgeschichte 
wie  in  der  Völkergeschichte,  'an  einem  vormittag  stand  ich  als  ein 
sehr  junges  kind  unter  der  hausthür  und  sah  links  nach  der  holz- 
lege ,  als  auf  einmal  das  innere  gefllhl :  « ich  bin  ein  ich »,  wie  ein 
blit /  strahl  vom  himmel  vor  mich  fuhr  und  seitdem  leuchtend  stehen 
blieb :  da  hatte  mein  ich  zum  ersten  mal  sich  selber  gefunden  und 
auf  ewig.'  (s.  87.)  wer  aber  sein  ich  einmal  gefunden  hat,  und 
zumal  wem  sich  noch  in  später  erinnerung  das  geschehen'  dieses 
fundes  mit  flammenzügen  abhebt  von  dem  dunklen  hintergrunde 
seines  früheren  daseins,  ja,  wer  noch  dazu,  wie  derselbe  J.  P.,  ans 
jener  vorzeit  die  sttszesten  erinnerungen  der  paradiesischen  kindes- 
unschuld,  in  der  das  ich  noch  nicht  von  sich  wüste,  in  alle  folgenden 
entwicklungen  und  Wandlungen  seines  ganzen  späteren  lebens  hin- 
übernimmt, der  befindet  sich  zunächst  in  einer  seltsamen  und  schwie- 
rigen läge :  er  wird  wünschen  jene  einheit  mit  sich  zu  bewahren, 
welche  die  blosze  natur  besitzt,  und  die  deshalb  nicht  weniger  den 
allergrößten  reiz  auf  ihn  ausübt,  weil  sie  aus  der  ferne  viel  schöner 
erscheint,  als  sie  war ;  er  wird  auf  der  gewonnenen  höhe  des  selbst- 
bewustseins  nun  erst  recht  alles  nach  den  forderungen  seines  ich- 
gefühles  gestalten  wollen,  und  er  wird  dennoch  gerade  aus  Selbst- 
achtung mit  einer  weit  in  stetem  Widerspruch  leben  müssen,  welche 
ihm  kein  Verständnis  entgegenbringt,  weil  er  noch  keins  für  sie 
hat.  das  ich  im  Widerspruch  mit  der  weit  erzeugt  jenen  zustand  der 
gebrochenheit,  in  welchem  es  zu  dem  wahren  ich,  das  sich  als  den 
träger  des  objectiven,  die  entwicklung  der  menschheit  beherseben- 
den  gedankens  erfaszt  hat,  noch  gar  nicht  gekommen  ist:  der  brach 
ist  eingetreten,  aber  die  Versöhnung,  die  einigung  zwischen  natur 
und  geist  steht  noch  dahin.  * 

Hier  möchten  wir  nun  mit  Nerrlich  nicht  nur  den  Schlüssel  ge- 
funden haben  für  die  überaus  complicierte  erscheinung  J.  P.s,  son- 
dern auch  für  seine  pädagogik  als  thatsache  überhaupt  wie  in  ihrer 
besonderen  artung.  J.  P.s  gedrückte  jugend  und  entwicklung  —  er 
war  ein  söhn  der  armut  —  wie  seine  übermächtige  phantasie  haben 
ihn  die  Uberwindung  des  gegensatzes ,  in  welchem  das  ich  zur  weit 
steht,  zwar  als  humoristische  gemütestimmung ,  aber  nicht  als  eine 
praktische  und  in  allen  lebens  Verhältnissen  sich  bewährende  finden 
lassen.  Nerrlich  sagt  überaus  feinsinnig :  'in  J.  P.  lebt  das  ich  mit 
einer  stärke,  wie  nur  noch  in  Fichte,  aber  nicht  das  reine,  sondern 
das  empirische,  nicht  das  objectiv  urteilende,  sondern  das  nur  em- 
pfindende, nur  fühlende,  rein  subjective,  die  imagination,  dasjenige, 
welches  ihn  hindert,  der  auszenwelt  gegenüber  die  rechte  position 
zu  finden.'  (s.  61.) 

Hieraus  erklärt  sich  nun,  dasz  er  die  pädagogische  idee  mit 


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P.  Nerrlich:  Jean  Paul,  sein  leben  und  seine  werke.  249 

einer  lebhaftigkeit  sonder  gleichen  überhaupt  ergriff,  ahnlich ,  wie 
ein  Rousseau  und  ein  Pestalozzi  und  ganz  gewis  auch  unter  dem 
mittelbaren  einflusz  derselben,  die,  jeder  in  seiner  weise,  auch  in 
der  bewältigung  des  weltwesens  scheiterten  und  sich  darin  nicht 
zurecht  zu  finden  vermochten ,  muste  er  aus  der  fülle  seines  lieben- 
den herzens  ('das  einzig  wahre,  was  man  an  ihm  aus  seinen  büchern 
schlieszen  könne,  sei,  dasz  er  recht  herzlich  liebe*  s.  100)  sich  die 
frage  vorlegen,  ob  es  nicht,  wie  es  eine  pflanzencultur  gebe,  möglich 
und  notwendig  sei,  eine  kunst  auszuüben,  welche  auf  die  jugend 
derart  bildend  einwirke,  dasz  sie  dadurch  der  herschaft  des  Unver- 
standes oder  blinden  zu  falls  möglichst  entzogen  werde  und  so  vor 
jenen  irrwegen  bewahrt  bliebe,  die,  wie  ihn  die  eigne  erfahrung 
lehrte,  für  das  ganze  spätere  leben  verhängnisvoll  wären. 

Indem  nun  J.P.  so  auf  die  grundfragen  aller  erziehung  zurück- 
gieng,  indem  er  stets  die  menschliche  natur  vor  äugen  hatte,  in 
welche  er  als  dichter  die  tiefsten  blicke  gethan  hatte,  verleugnen  auch 
seine  pädagogischen  ideen  niemals  ihren  Ursprung  aus  dem  vollen 
und  ganzen,  aus  dem  sie  geschöpft  sind,  sie  entbehren  zwar  durchaus 
der  wissenschaftlichen  Systematik,  aber  sie  sind  dennoch  in  dem 
sinne  philosophisch,  dasz  sie  weder  der  erfahrung  noch  der  allgemein- 
heit  etwas  schuldig  bleiben,  und  wie  nun  der  biograph  J.  P.s  selber 
in  seiner  darstellung  von  den  höchsten  ideen  getragen  wird  und 
seinen  helden  mit  freiem  und  unbestechlichem  sinn  für  die  Sache  an 
jenen  miszt,  so  musz  es  auch  als  ein  groszes  verdienst  anerkannt 
werden,  dasz  er  da,  wo  sich  für  ihn  bei  besprechung  teils  der  erzieh- 
lichen thätigkeit,  die  J.  P.  selbst  ausübte,  teils  seiner  Schriften  die 
gelegenheit  dazu  bot,  mit  groszer  energie  die  rechte  des  philo- 
logischen Unterrichts,  wie  er  auf  unseren  gymnasien  betrieben 
wird,  vor  dem  gerichtshof  der  Vernunft  prüft  und  dabei  zu  entschei- 
dungen  gelangt,  die  ihn  auf  einem  so  wohl  begründeten  Standpunkt 
zeigen,  dasz  man  ihm  entweder  zustimmen  oder  ihn  mit  gründen 
widerlegen  musz. 

Wir  können  an  dieser  stelle  von  den  philosophischen  Über- 
zeugungen des  Verfassers  nur  insofern  handeln,  als  dieselben  masz- 
gebend  gewesen  sind  für  sein  urteil  über  das  classische  altertum  als 
den  hauptsächlichsten  lehrgegenstand  der  gymnasien.  da  werden 
wir  ihm  nun  zunächst  darin  beipflichten  können,  dasz  alle  bewunde- 
rung  für  die  Griechen  und  Börner  einer  rechtfertigung  bedarf,  die 
vergleichend  auf  dasjenige  einzugehen  hätte,  was  überhaupt  der 
menschliche  geist  bisher  groszes  und  herliches  geschaffen  hat;  wir 
werden  auch  dem  nicht  widersprechen  können,  dasz  jede  rein  philo- 
logische bildung  und  fertigkeit  sich  erst  mit  dem  rüstzeug  einer 
pädagogischen  Schulung  versehen  haben  musz,  ehe  sie  er- 
Bprieszlich  auf  die  jugend  einzuwirken  vermag,  und  dasz  eben  des- 
halb ein  gewisses  masz  philosophischer  Propädeutik  für  den 
gymnasiallehrer  erforderlich  ist.  in  diesem  sinne  hat  Nerrlich  durch- 
aus auch  recht,  wenn  er  die  philologie  in  den  dienst  der  ge- 


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250 


P.  Nerrüch :  Jean  Paul,  sein  leben  und  seine  werke. 


schichte,  die  geschiente  aber  in  den  der  philosophie  gestellt 
wissen  will.  (s.  33.) 

Wenden  wir  uns  nun  zu  den  ausstellungen,  die  J.  P.,  aber  noch 
viel  mehr  Nerrüch,  an  den  Griechen  und  Römern  als  unseren  mustern 
zu  machen  hat. 

Die  Griechen,  sagt  J.  P. ,  haben  das  höchste  in  der  plastik 
geleistet,  weil  eben  in  darstellung  des  körperlichen  über  ein  gewisses 
maximum  nicht  hinausgegangen  werden  könne,  dagegen  habe  sich 
die  neuere  poesie  bereichert  und  vertieft  dieses  zugegeben,  so 
würde  daraus  keineswegs  folgen,  dasz  die  griechische  poesie  sich 
nicht  mehr  für  den  jugendunterricht  eigne,  sondern  gerade  wegen 
ihrer  mit  dem  plastischen  sinne  genau  zusammenhängenden  und  ihm 
besonders  erfaszbaren  einheit,  in  der  sie  sich  als  menschen  darstellen 
und  stets  als  ein  ganzes  wirken,  und  vermöge  deren  'die  tieferen 
brüche  des  bewustseins'  ihnen  noch  fern  liegen,  sind  die  Hellenen 
erst  recht  am  tauglichsten  zu  leb  rem  der  jugend.  das  erste  herz 
gleicht  nach  dem  schönen  aussprach  J.  P.s  dem  letzten  (s.  449) 
—  sollte  nun  nicht  eben  dieses  menschenherz  in  der  spräche  jenes 
hochbegabten  Volkes  zwar  nicht  zu  einem  erschöpfenden,  aber  doch 
zu  einem  solchen  ausdruck  gekommen  sein,  der  den  auf  der  höhe  der 
heutigen  bildung  stehenden  lebrer  dazu  anregte,  das  fehlende,  was 
in  dem  modernen  ideal  inzwischen  zur  reife  gekommen  ist,  bei  pas- 
sender gelegenheit  zu  ergänzen,  wie  man  ganz  treffend  in  dieser  be- 
ziehung  den  donner  selbst  von  dem  nachdröhnen  des  donners 
unterschieden  hat?  für  Nerrlich  ist  freilich  die  einfachheit  der 
Griechen  nur  besebränktheit  (s.455).  er  erkennt  auch  nicht  an,  dasz 
der  ideale  sinn  nur  erweckt  und  entwickelt  werden  kann  an  einem 
object,  das  der  zeitlichen  Schwankung  nicht  mehr  unterliegt,  und 
dasz  der  idealisierende  trieb,  dor  die  jugend  der  menschheit  in  einem 
besseren  lichte  sehen  läszt,  als  es  der  Wirklichkeit  entspricht,  eine 
gewisse  berechtigung hat.  dagegen  scheintwohl  die  humoristische 
weltauffassung  wenigstens  in  ihrer  ausschlieszlichkeit  keine  hand- 
habe für  die  jugendbildung  zu  bieten,  da  sie  eine  viel  zu  grosze  reife 
voraussetzt 

Der  Standpunkt  der  Griechen  ist  ja  vorwiegend  ein  diesseitiger, 
immanenter;  wenigstens  haben  sie  nie  den  glauben  an  das  jenseits 
zum  bindenden  dogma  und  davon  die  'ewige  Seligkeit'  abhängig  ge- 
macht; um  so  wunderbarer  die  Verurteilung  der  Griechen  bei  einem 
manne,  der  überall  den  menschen  auf  sich  selbst  verweist  und  findet, 
dasz  das  mündige  subject  durch  das  Uberweltliche  du  herabgedrückt 
wird  (s.  197).  dagegen  ist  allerdings  eines  der  begreifbaren 
elemente  des  Christentums  Plato  mit  seinen  vorgeschritteneren  Vor- 
gängern, und  schon  deshalb  erscheint  das  Studium  des  Hellenentums 
unentbehrlich;  nur  wird  die  jugend  allein  durch  die  ihr  überlegene 
einsieht  des  lehrers  von  diesem  Zusammenhang  einen  gewissen  be- 
griff erhalten,  allein  Nerrlich  spricht  den  Griechen  überhaupt  die 
Sittlichkeit  (s.456)  und  die  natur  ab.  er  wendet  sich  inersterer 


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P.  Nerrlich:  Jean  Paul,  sein  leben  und  seine  werke. 


251 


beziebung  besonders  gegen  die  nach  unseren  anscbauungen  anstöszige 
auffflhrung  der  griechischen  götter.  als  ob  hier  nicht  eben  das  n  ai  v  e 
den  sittlichen  maszstab  anzulegen  ganz  verböte,  und  als  ob  eben 
diese  götter  nicht  immer  mehr  vergeistigt  und  ethisiert  worden,  als 
ob  hier  nicht  die  verschiedenen  Zeiten  und  epochen  auseinanderzu- 
halten wären,  ja,  als  ob  wir  die  grundbegriffe  alles  sittlichen  von 
anderswoher  hätten,  als  aus  der  religion  und  ethik  der  Griechen!  — 
Die  natur  aber  soll  erst  durch  die  neuere  philosophie  in  ihrer  Wahr- 
heit erkannt  sein!  (s.  54.)  aber  selbst  wenn  das  so  wäre,  was  hilft 
daserkennen,  wenn  nicht  nach  der  erkenntnis  gehandelt  wird? 
gerade  die  erkenntnis,  die  reflezion  schadet  der  natur,  so  wie  noch 
niemand  atmen  und  verdauen  durch  die  physiologie  gelernt  hat. 

Übrigens  nimmt  Nerrlich  Homer  von  seinem  verdammungs- 
urteil  aus  (s.  455).  nun  aber  ist  Homer  grund  und  quelle  und  Ur- 
sprung aller  poesie  und  kunst  bei  den  Griechen ,  Homer  loben  und 
die  Griechen  tadeln  heiszt  ungefähr  so  viel  wie  die  bibel  verher- 
lichen  und  die  Christen  nicht  gelten  lassen. 

Endlich  ist  auch  von  dem  einflusz  der  Griechen  für  unsere 
nationale  cultur  keine  gefahr  zu  befürchten,  (s.68.)  denn  es  gibt 
in  der  neueren  zeit  eben  keine  nationale  cultur  mehr  in  dem  sinne 
der  ausschlieszlichkeit  und  absperrung;  vielmehr  zeigt  eine  nation 
nur  dadurch  eine  um  so  stärkere  lebenskraft,  dasz  sie  sich  trotz  der 
Verarbeitung  aller  culturen  in  ihrer  eigentümlich keit  zu  behaupten 
versteht. 

Während  nun  J.  P.  selbst  sowohl  in  der  Vorschule  zur  ästhetik 
wie  in  der  Levana  die  Griechen  sehr  hoch  stellt  und  eigentlich  für 
den  jagendun terricht  nicht  entbehren  mag,  nennt  er  die  Römer  im 
anschlusz  an  Herder,  der  von  ihrer  'würgekunst*  spricht,  die  'welt- 
diebe  und  weltmörder'  (s.  454).  wir  werden  nun  freilich  hierin  die 
Römer  nicht  mehr  nachahmungs würdig  finden,  aber  die  logisch- 
disciplinierende  kraft  der  lateinischen  spräche  in  ihrem  werte  für 
den  jugendunterricht  wird  dadurch  nicht  angefochten,  was  dagegen 
J.  P.  gegen  die  berschaft  des  Ciceronianismus  (s.  124)  sagt,  ist  noch 
immer  beherzigenswert,  wenn  sich  auch  manches  in  dieser  hinsieht 
bereits  zum  besseren  geändert  haben  sollte,  der  empfehlung  der 
Schriftsteller  der  silbernen  latinität  (s.  508)  stellt  sich  jedoch  der 
satz  entgegen,  dasz  das  beste  für  die  jugend  eben  nur  gut  genug  ist. 
indes  wird  anderseits  damit  allerdings  ein  wunder  punkt  berührt; 
denn  auch  wir  müssen  bekennen,  dasz  bei  den  jetzt  noch  bestehen- 
den einrichtungen  die  hohe  Schönheit  und  einfalt  gerade  der  eigent- 
lichen classiker  dem  dafür  noch  nicht  reifen  sinne  der  jugend  oft  nur 
zu  leicht  verloren  geht. 

Nerrlich  ist  nun  aber  keineswegs  der  meinung,  dasz  der  Schwer- 
punkt des  Unterrichts  auf  die  Sachen  in  dem  sinne  verlegt  werde, 
dasz  die  spräche  dabei  als  ein  gleichgiltiges  Werkzeug  bei  seite  ge- 
worfen werde,  wie  es  in  der  pbysik  und  mathematik  geschieht;  er 
will  uns  nicht  auf  Bäk  on  und  den  realismus  im  Unterricht  verweisen; 


252        P.  Nerrlich:  Jean  Paul,  sein  leben  und  seine  werke. 

vielmehr  ist  er  als  philosoph  viel  zu  sehr  von  der  macht  der  idee 
durchdrungen,  von  der  bedeutung  der  geistesweit,  in  welcher  das 
blosze  sachliche  erst  seinen  wert  erhält,  als  dasz  er  die  spräche  als 
das  unmittelbarste  und  freieste  ausdrucksmittel  des  gedankens  für 
entbehrlich  halten  könnte,  worauf  er  dringt  und  wofür  er  Hamanns, 
Herders  und  J.  P.s  zeugnis  anführt,  ist  dieses,  dasz  ein  trockener 
formal ismus  nicht  das  scepter  in  der  schule  führe ,  dasz  die  jugend 
nicht  mit  leeren  hülsen  abgespeist  werde,  sondern  dasz  sich  die 
spräche  zugleich  mit  dem  vorstellen  und  denken  bilde  (s.  206). 
'blosze  sprachen  lernen',  erklärt  J.  P.  in  der  Levana,  'beiszt  sein  geld 
im  anschaffen  schöner  beutel  verthun  oder  das  Vaterunser  in  allen 
sprachen  lernen,  ohne  es  zu  beten*  (s.  506).  die  spräche  und  die  in 
der  spräche  geschaffenen  kunstwerke  sollen  also  dem  unterrichte 
dienen ,  sofern  sie  das  formale  bedürfnis  befriedigen  und  auch  den 
sinnlichen  trieb  nicht  zu  kurz  kommen  lassen :  alsdann  leisten  sie 
das,  was  Hamann  und  Herder  als  gegnern  des  toten  buchstabens 
vorschwebte,  was  Schiller  unter  dem  namen  der  ästhetischen  er- 
ziehung  begrifflich  zu  entwickeln  suchte,  und  worin  J.  P.  ihnen  bei- 
stimmt, wenn  er  fürchtet,  dasz  die  fremdsprachliche  lectüre  bei 
dem  beständigen  ringen  mit  grammatischen  Schwierigkeiten  für  den 
schüler  den  genusz  des  kunstwerkes  unmöglich  macht,  und  wenn 
er  daher  mit  entschiedenheit  für  das  deutsche,  wo  diese  Schwierig- 
keiten wegfallen ,  eintritt  (s.  509).  die  erziehung  ist  erziehung  zur 
humanität:  sie  soll  alle  anlagen  des  menschen  gleichmäszig  ent- 
binden und  den  zögling  mit  allem  bekannt  machen,  was  der  mensch 
bisher  groszes  und  edles  gethan  und  geschaffen  hat.  hier  wird  nun 
auch  die  antitheologische  und  antiphilologische  schärfe  erklärlich, 
welche  für  Nerrlichs  buch  bezeichnend  ist :  ihm  geht  nichts  über  den 
menschen,  und  ihm  schränken  die  philologen  die  idee  des  menschen 
in  einer  durch  den  thatsächlichen  Fortschritt  der  menschheit  nicht 
gerechtfertigten  und  einseitigen  weise  auf  das  classische  altertum  ein. 

Man  wird  nun  gewis  einräumen ,  dasz  Nerrlich  unter  berufung 
auf  J.  P.  viele  mängel  in  unserem  Unterrichts wesen  mit  einer  auf- 
richtigkeit  bloszlegt,  die  schon  allein  seinem  werke  den  erfolg  bei 
allen  sichert,  für  welche  das  ueräAr|  f}  dXrjteia  Kai  tJTT€picXU€i  ent- 
scheidend ist.  wir  nun  erwarten  die  abstellung  dieser  mängel  nicht 
durchaus,  wie  wir  hier  nur  andeuten  konnten,  von  den  mittein,  die 
Nerrlich  angibt,  sondern  zum  teil  von  einer  andern  Organisation 
unseres  höheren  Schulwesens,  durch  welche  über  kurz  oder  lang  be- 
sonders die  anzahl  der  gymnasien  vermindert  werden  musz,  wir  er- 
warten sie  auch  von  einer  äuszeren  hebung  des  lehrerstandes ,  der 
allerdings  nach  wie  vor  die  eigentliche  kraft  seines  wirkens  einer 
idealen  lebensanschauung  entnehmen  musz.  wir  sind  aber  auch  über- 
zeugt, dasz  die  blosze  verstandesausbildung  neben  der  ästhe- 
tischen nach  wie  vor  von  den  gymnasien  in  pflege  zu  nehmen  ist. 
hat  doch  Goethe  bereits  in  rdichtung  und  Wahrheit',  wo  er  den 
Magus  aus  dem  norden  bespricht  und  dessen  maxime,  dasz  alles, 


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Heidrich:  handbuch  für  den  religions Unterricht  in  den  ob.  ciassen.  253 

was  der  mensch  zu  leisten  übernehme,  aus  sämtlichen  vereinigten 
kräften  entspringen  müsse,  eben  dieses  im  allgemeinen  ausgespro- 
chen, 'das  wort  musz  sich  ablösen,  es  musz  sich  vereinzeln,  um 
etwas  zu  sagen,  zu  bedeuten,  der  mensch,  indem  er  spricht,  musz 
für  den  angenblick  einseitig  werden,  es  gibt  keine  lehre  ohne 
sonderung.' 

An  dieser  stelle  gebührte  es  sich  zunächst,  die  pädagogische 
seite  der  Nerrlichschen  darstellung  J.  P.s  hervorzuheben,  es  bleibt 
nur  noch  übrig ,  in  aller  kürze  die  leser  dieser  Zeitschrift  auf  das 
werk  Nerrlichs  als  auf  eine  literarhistorische  leistung  hinzuweisen, 
durch  welche  das  bleibende  in  dem  genius  J.  P.s  unserer  zeit  wieder 
nahe  gebracht  wird  in  einem  bilde,  dessen  züge  sich  auch  für  uns  in 
dem  masze  beleben  werden,  als  wir,  um  an  ein  geständnis  Darwins 
anzuknüpfen,  durch  angestrengte  geistes&rbeit  auf  dem  gebiet  e  x  a  c  t  e  r 
beobacbtung  die  empfindung  für  musik  im  weiteren  sinne  des  Wortes 
und  das  höhere  geistesleben  noch  nicht  eingebüszt  haben. 

Meseritz.  t  Arthur  Juno. 


25. 

Heidrich,  Handbuch  für  den  Religionsunterricht  in  den 
oberen  clasben.  erster  teil  :  kirchengeschichte. 

Ein  buch,  welches  wie  das  vorliegende  so  viele  Vorzüge  in  be- 
zug  auf  die  auswahl  und  anordnung  des  Stoffes  aufweist,  findet  ohne 
weitere  Schwierigkeit  seinen  leserkreis  und  macht  sich  selbst  be- 
kannt und  trotzdem  möchte  ich  nicht  unterlassen,  auch  in  dieser 
Zeitschrift  die  aufmerksamkeit  auf  dasselbe  zu  lenken,  es  enthält 
nur  einen  teil  des  religiösen  Unterrichtsstoffes  für  die  oberen  ciassen 
höherer  lehranstalten,  nemlich  die  kirchengeschichte,  während  das 
erscheinen  der  beiden  andern  teile  'heilige  geschiente'  und  Glaubens- 
lehre' von  der  günstigen  aufnähme  dieses  ersten  abhängig  gemacht 
ist.  das  neue  an  dem  buche  besteht  darin,  dasz  es  nach  andern  ge- 
sichtspunkten  bearbeitet  und  für  einen  weitern  leserkreis  bestimmt 
ist  als  andere  bücher  dieser  art.  allerdings  soll  es  zunächst  dem 
religionslehrer  wesentliche  dienste  bei  seinen  Vorbereitungen  für  den 
Unterricht  leisten,  und  das  ist  der  hauptzweck  des  buches.  daneben 
ist  es  auch  nach  der  ansieht  des  Verfassers  für  die  schüler  bestimmt, 
als  ein  lese-  und  wiederholungsbuch  zur  befestigung  und  Vertiefung 
ihres  wissens.  aber  nicht  minder  werden  auch  die  gebildeten  unseres 
Volkes,  die  nicht  speciell  theologische  bildung  besitzen,  das  werk  be- 
nutzen können,  um  an  der  hand  desselben  einen  einblick  in  die  ver- 
schiedenen entwicklungsperioden  der  christlichen  kirche  zu  thun, 
wie  es  auch  auszerdem  wohl  geeignet  ist ,  sinn  und  Verständnis  des 
christlichen  hauses  für  kirchliche  dinge  zu  wecken  und  zu  beleben.  » 
so  vermeidet  das  buch,  auf  einen  weitern  leserkreis  rücksicht  neh- 
mend, die  extreme  eines  theologischen  compendiums  einerseits  und 


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254  Heidrich:  handbuch  für  den  religionsunterricht  in  den  ob.  classen. 

die  eines  magern  hilfs-  oder  repetitionsbuches  fQr  die  kirchen- 
geschichte  anderseits. 

Bei  der  abfassung  ist  der  Verfasser  den  leitenden  grundsätzen 
von  Herbst  'zur  frage  über  den  geschichtsunterricht*  im  vollen 
masze  gerecht  geworden,  denn  was  zuerst  die  auswahl  des  Stoffes 
betrifft,  so  hat  Heidrieb,  ausgebend  von  der  ansiebt,  dasz  für  den 
sebüler  nur  das  interesse  hat,  mit  dem  sein  leben  direct  oder  in- 
direct  in  berührung  kommt,  eine  bedeutende  sichtung  desselben  vor- 
genommen, deshalb  finden  wir  auch  darin  keine  entlegenen  dinge, 
weder  die  namen  der  gnostiker  mit  ihren  com pli eierten  Systemen, 
noch  die  aufzählung  der  griechischen  und  lateinischen  kirchenväter 
nebst  ihrem  lebensabrisz  und  ihren  die  kirchliche  lehre  teilweise  be- 
stimmenden anschauungen.  auch  von  mittelalterlicher  lehrent Wick- 
lung ist  nur  die  allgemeine  bedeutung  der  Scholastik  und  mystik  in 
ihrem  Verhältnis  zu  einander  hervorgehoben;  von  den  Vertretern 
dieser  Wissenschaft  sind  dagegen  nur  die  namen  Abäiards,  Thomas' 
von  Aquino  und  Taulers  genannt,  was  mithin  der  darstellung  an 
breite  abgeht,  hat  die  tiefe  der  behandlung  reichlich  ersetzt,  ich 
erinnere  dabei  nur  an  einige  abschnitte,  die  besonders  zeugnis  von 
dem  eben  gesagten  ablegen,  z.  b.  nr.  11  aus  der  märtyrergeschichte 
und  sage,  nr.  47  Philipp  Melanchthon  und  Luthers  andere  freunde, 
nr.  68  der  glaube  der  evangelischen  kirche  im  unterschiede  vom 
katholischen  glauben,  endlich  auch  nr.  62,  67,  68  und  76—80,  welch' 
letztere  von  den  liebeswerken  der  evangelischen  kirche  handeln  und 
einen  überblick  über  die  verschiedenen  religionen  und  kirchenpar- 
teien  in  der  gegenwart  geben,  einigermaszen  befremdend  mag  es 
erscheinen,  dasz  oft  zeitlich  aus  einander  liegende  dinge  zusammen- 
gestellt und  zu  einem  abgerundeten  ganzen  verarbeitet  sind,  aber 
hiergegen  ist  anzuführen:  diese  eigentümlichkeit  hängt  mit  dem 
principe  der  anordnung  des  Stoffes  zusammen,  insofern  als  die  stoff- 
massen  ohne  rücksicht  auf  die  zeitliche  Verschiedenheit  in  gruppen 
aufgelöst  sind  und  jede  gruppe  auf  dem  höhepunkte  ihrer  ent Wick- 
lung dargestellt  ist.  so  kommt  es  auch,  dasz  das  einsiedlerleben,  als 
Vorläufer  des  mönchtums,  erst  in  der  periode  des  mittelalters  bei 
der  besprechung  des  letztern  zur  darstellung  kommt,  dasz  ferner  in 
dem  abschnitte  eder  gottesdienst  der  evangelischen  kirche'  vieles  ein- 
zelne sich  findet,  was  wir  schon  vorher  vermiszt  haben,  was  aber 
erst  später  der  Übersichtlichkeit  wegen  beigebracht  ist. 

Leider  ist  es  uns  nicht  möglich ,  die  zahl  der  hierher  gehörigen 
beispiele  zu  vervollständigen,  um  den  manigfaltigen  inhalt  des  Werkes 
noch  näher  zu  beleuchten,  wohl  aber  möchten  wir  wünschen,  dasz 
der  herr  Verfasser  in  seiner  amtlichen  thätigkeit  die  nötige  zeit  finden 
möge,  um  diesem  ersten  teile  seines  handbuches  die  beiden  andern 
hinzuzufügen  und  uns  in  nächster  zeit  mit  der  herausgäbe  derselben 
«zu  erfreuen. 

Kothen.  Alwin  Sterz. 


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Bericht  üb.  d.  41e  Versammlung  deutscher  philologen  u.  schulmänner.  255 


26. 

BERICHT  ÜBER  DIE  VERHANDLUNGEN  DER  EINUND- 
VIERZIGSTEN VERSAMMLUNG  DEUTSCHER  PHILOLOGEN 
UND  SCHULMÄNNER  ZU  MÜNCHEN. 


Empfangsabend. 

Die  zahl  der  aus  allen  teilen  Deutschlands  eingetroffenen  mitglieder 
hat  600  bereits  heute  überschritten,  die  gäste  wurden  am  bahnhof  von 
den  verschiedenen  comites  empfangen,  abends  traf  man  sich  in  den 
prächtigen  räumen  des  alten  rathaussaales,  der  bereits  gegen  8  uhr 
dicht  besetzt  war.  der  abend  sollte  der  freien,  unbehinderten,  gegen- 
seitigen begrüszung  der  teilnehmer  gewidmet  sein;  es  war  daher  von 
der  Veranstaltung  besonderer  festlichkeiten  Umgang  genommen,  später 
hielt  der  erste  präsident  der  Versammlung,  berr  Universitätsprofessor 
dr.  v.  Christ- München,  e^ne  kurze  launige  begrüszungsrede  und  for- 
derte die  herren  auf,  nach  altem  studentischen  brauch  den  cantus 
gaudeamus  igitur  anzustimmen,  herr  reallehrer  dr.  AI ö Her-Neu- Ulm 
begrüszte  die  gäste  mit  einem  humorvollen  gedichte.  der  abend  nahm 
den  angeregtesteu  verlauf. 

Von  bekannten  namen,  welche  auf  dem  philologentage  vertreten 
sind,  nennen  wir  nach  der  ersten  mitgliederliste:  prof.  Blümner -Zürich, 
prof.  dr.  Conze -Berlin,  prof.  dr.  Ebers-München,  gymnasialrector  dr. 
E itner- Görlitz,  geheimrat  Gef fcken-München,  prof.  dr.  Goraperz- 
Wien,  hofrat  dr.  v.  Härtel -Wien,  prof.  dr.  v.  Herzog  -  Tübingen, 
oberschulrat  dr.  Krüger-Dessau,  gymnasialdirector  dr.  Kübler-Berlin, 
prof.  dr.  Milchhöf  er-Münster  i.W.,  prof.  dr.  Iwan  v.  Müll  er- Erlangen, 
prof.  dr.  Osthof f -Heidelberg,  prof.  dr.  v.  P lanck-Stuttgart,  prof.  dr. 
Richter- Leipzig,  hofrat  dr.  Schenkt  -  Wien,  geh.  oberschulrat  dr. 
Hermann  Sc biller-Gieszen,  prof.  dr.  Erich  Schmidt-Berlin,  prof. 
dr.  8  ch  ö  11-  Heidelberg,  geh.  oberregierungsrat  dr.  8  c  hr  ad  er-  Halle  a.  S., 
prof.  v.  Schwabe-Tübiugen,  prof.  dr.  Socin- Leipzig,  prof.  dr.  Uhlig - 
Heidelberg,  prof.  dr.  Wissowa- Marburg  i.  II.,  prof.  dr.  Zell  er- Berlin, 
prof.  dr.  Z  i  n  g  e  r  1  e  -  Innsbruck,  selbstverständlich  sind  die  Universität 
München  und  die  bayerischen  philologen  durch  eine  reihe  anerkannter 
fächle ute  vertreten. 

Erste  hauptversammlung  (20  mai). 

Die  erste  hauptversammlung  wurde  vormittags  10  uhr  in  dem  fest- 
lich geschmückten  saale  des  kgl.  Odeons  mit  dem  feierlichen  rnänner- 
chor  von  Beethoven  'die  himmel  rühmen  des  ewigen  ehre*  unter  leitung 
des  berrn  directors  Schmid,  vorgetragen  von  philologen  und  philologen- 
freunden, eingeleitet,  es  waren  ca.  600  mitglieder  anwesend;  vom  kgl. 
hause  waren  erschienen  se.  k.  h.  prins  Rupprecht  mit  seinem  adjutanten 
major  Zerreiss,  ferner  cultusminister  dr.  v.  Müller  mit  den ministerial- 
räten  v.  Giehrl,  v.  Auer  und  Zeitlmann,  regierungsrat  Hu  mm, 
regiernngspräsident  freiherr  v.  Pfeufer,  präsident  der  akademie  der 
Wissenschaften  geheimrat  prof.  dr.  v.  Pettenkofer,  die  beiden  bürger- 
ineister  dr.  v.  Widenmajer  und  Bor  seht  n.  a. 

Der  erste  präsident,  prof.  v.  Christ,  eröffnete  die  41e  Versammlung 
deutscher  philologen  und  Schulmänner  damit,  dasz  er  kurz  die  umstände 
erwähnte,  infolge  deren  München  so  spät  erst  zum  sitz  einer  philologen- 
versammlung  erwählt  wurde  und  nachträglich  indemnität  dafür  nach- 
suchte, dasz  das  präsidium,  abweichend  von  dem  bisherigen  brauch,  die 
Versammlung  anf  pfingsten,  statt  ende  September  berufen  hat.  alsdann 


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256       Bericht  über  die  Verhandlungen  der  41n  Versammlung 


gieng  der  redner  auf  zweck  und  ziel  der  philologischen  wanderver- 
sammlungen  ein.  die  philologen  und  Schulmänner  aus  allen  ländern 
deutscher  zunge  versammeln  sich  in  Zwischenräumen  von  ein  bis  zwei 
jähren,  damit  die  männer  der  theoretischen  forschung  und  praktischen 
schul  thätigkeit  sich  auch  persönlich  näher  treten,  durch  gegenseitigen 
Gedankenaustausch  und  öffentliche  discussion  die  besserung  der  methode 
des  Unterrichts  anstreben,  durch  Vorträge  und  mitteilungen  über  ein- 
zelne punkte  der  Wissenschaft  sich  gegenseitig  belehren  und  das  Inter- 
esse für  ihre  bestrebungen  in  weitere  kreise  tragen,  die  hohe  bedentung 
der  Versammlung  für  anbahnung  und  erneuerung  persönlicher  freund- 
schaftlicher beziehuugen,  für  directen  meinungsäustausch  und  gegen- 
seitige aufrichtung  wird  von  niemand  verkannt,  aber  zweifei  werden 
vielfach  gehegt,  ob  die  philologen,  welche  sich  mit  den  litterarischen 
erzeugnissen  der  Vergangenheit  abgeben,  neues  mitzuteilen  haben,  ob 
die  philologie  überhaupt  gleich  den  nnturwissenschaften  an  den  groszen 
fortschritten  der  wissenschaftlichen  erkenntnis  teil  habe,  jene  zweifei 
werden  meist  nur  von  denjenigen  ausgesprochen,  welche  das  wort  philo- 
logie in  zu  engem  sinne  fassen  und  sich  unter  dem  philologen  gewöhn- 
lich nur  den  lehrer  denken,  der  ihnen  mensa  und  amo  einbläute,  aber 
die  philologie  im  wissenschaftlichen  sinne»  umfaszt  alle  sprachen  und 
beschäftigt  sich  mit  der  Wiedererkennung  alles  dessen,  was  an  geistigen 
ideen  die  früheren  generationen  in  spräche  und  schrift  niedergelegt 
haben,  zu  den  glänzendsten  triumphen  des  menschlichen  genies  gehört 
aber  sicher  die  entzifferung  der  hieroglyphen  und  keilinschriften,  und 
niemand  wird  den  europäischen  Orientalisten  den  stolz  verwehren,  dasz 
sie  mit  der  schärfe  ihrer  methode  den  ßrahmanen  und  Persern  das  Ver- 
ständnis ihrer  heiligen  schrift  erschlossen  haben,  nie  auch  wird  Deutsch- 
land der  groszen  Germanisten  vergessen,  die  uns  in  die  litterarischen 
denkmale  unserer  vorfahren  wieder  eingeführt  und  mit  der  geschicht- 
lichen entwicklung  unserer  spräche  bekannt  gemacht  haben,  aber  auch 
die  philologie  im  engeren  sinne,  die  sog.  classische  philologie  hat,  wie- 
wohl sie  sich  mit  einem  schon  viel  bearbeiteten  Stoffe  beschäftigt,  viele 
glänzende  entdeckungen  aus  den  letzten  jahrzehnten  aufzuweisen,  nicht 
blosz  haben  die  ausgrabungen  in  Troja,  Olympia,  Pergamon  erstaunlich 
viel  neues  und  groszes  an  den  tag  gefördert  und  hat  die  sprachverglei- 
chende grammatik  ganz  neues  licht  über  die  Spracherscheinungen  ver- 
breitet, auch  die  alten  zweige  der  classischen  philologie  haben  teils 
durch  neues  material,  das  ihnen  zugeführt  wurde,  mehr  aber  durch  die 
leuchte  kritischer  forschung  auszerordentliche  fortschrittc  gemacht. 

Redner  weist  dieses  sodann  in  gelehrter  ausfuhrung  an  einer  ein* 
zelnen  diseiplin,  der  griechischen  litteraturgeschichte,  nach  und  schlieszt 
mit  folgenden,  zum  herzen  gesprochenen  Worten:  auch  die  classische 
philologie  kann  einen  anteil  an  dem  wissenschaftlichen  fortschritt  der 
menschlichen  erkenntnis  beanspruchen;  sie  ist  nicht  altersschwach,  noch 
ausgeschöpft,  auch  in  ihr  giebt  es  noch  neue  dinge  zu  finden  und  winkt 
der  lorbeer  des  entdeckerruhms  dem  tüchtigen  forscher,  aber  das  ist 
nicht  das  höchste  in  unserer  Wissenschaft;  das  höchste  ist  der  unver- 
gleichliche schätz  der  classischen  werke  des  altertums,  den  zu  hüten 
und  zu  verwerten  unsere  erste  aufgäbe  sein  musz.  auch  wenn  keine 
gloriole  litterarischen  ansehens  unseren  Studien  winkte,  müste  der  echte 
philolog  und  schulmann  jener  hauptaufgabe  seine  besten  kräfte  zu 
weihen  stets  bereit  sein,  die  hervorragende  Stellung,  welche  die  clas- 
sische philologie  an  den  Universitäten  und  in  der  litteratur  einnimmt, 
verdankt  sie  wesentlich  dem  werte  jenes  kostbaren  Schatzes  für  die 
schule  und  die  jugenderziehung.  wollen  wir  namentlich  in  unserer  zeit, 
in  der  man  mehr  wie  früher  an  den  grnndsäulen  unserer  jugendbildung 
zu  rütteln  unternimmt,  uns  die  heiligkeit  unserer  aufgäbe  vor  äugen 
halten,  möge  insbesondere  auch  diese  Versammlung  dazu  beitragen,  d»** 
das  feuer  der  begeisterung  für  edle  humanität  in  unseren  herzen  nicht 


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deutscher  philologen  und  schulmänner  zu  München. 


257 


erloscht,  dasz  wir  den  schätz,  den  wir  von  unseren  vorfahren  empfangen 
haben,  onverkümmert  den  künftigen  geschlechtern  tiberliefern!  (beifall.) 

Schliesslich  gedachte  prof.  v.  Christ  der  seit  1889  verstorbenen  mit  - 
glieder,  darunter  Urlichs,  Conr.  Hofmann,  Gregorovius,  Miklosich,  Schlie- 
mann u.  a.  nachdem  sich  die  Versammlung  zn  ehren  der  toten  von 
den  sitsen  erhoben,  wurden  als  Schriftführer  in  das  bureau  berufen  die 
herrcn  dr.  Schenkel  jun.  -  Wien,  dr.  Adam  -  Wiesbaden,  dr.  Hammer 
und  dr.  Rück-München. 

Hierauf  begrüszte  cultusminister  dr.  v.  Müller  namens  der  baye- 
rischen staatsregierung  den  philologentag  aufs  herzlichste: 

Wie  schon  der  erste  präsident  erwähnt,  befand  sich  unter  den 
gründern  der  philologenversammlungeu  vor  56  jähren  auch  dr.  Friedr. 
v.  Thiersch.  wenn  es  eines  beweises  bedarf,  dasz  Ihr  unternehmen, 
das  aus  liebe  zum  berufe,  aus  treuer  hingebuug  an  wichtige,  dem  vater- 
lande geweihte  aufgaben  hervorgieng,  den  Wechsel  der  Zeiten  und  der 
menschen  zu  überdauern  vermag,  so  ist  es,  dächte  ich,  die  heutige 
glänzende  Versammlung.  Ihre  freie  Vereinigung  mehrt  sich  fort  und 
fort,  sowohl  in  bezug  auf  die  zahl  der  teilnehmer  als  in  bezug  auf  die 
gegenstände,  die  Sie  in  den  kreis  Ihrer  beratungen  und  erörterungen 
ziehen,  das  ziel  Ihrer  dankenswerten  bestrebungen  ist  ein  doppeltes, 
der  Wissenschaft  zu  dienen  und  dem  praktischen  leben,  der  schule  zu 
nützen,  beiden  richtungen,  meine  hochverehrten  herren,  bringt  die  kgl. 
bayerische  staatsregierung  ein  reges  interesse  und  ein  warmes  herz  ent- 
gegen, die  Wissenschaft  wählt  sich  die  gebiete  ihrer  forschungen  frei 
und  unabhängig  und  sie  zeichnet  sich  dabei  ihre  bahnen  selbst  vor. 
in  dem  akademischen  lehramt  aber,  meine  hochverehrten  herren,  Bind 
die  Vertreter  der  von  Ihnen  gepflegten  Wissenschaften  stets  auch  dessen 
eingedenk,  dasz  sie  für  jene  schulen,  die  wir  in  Bayern  mit  dem  aus- 
drack  'mittelschulen'  bezeichnen,  die  lehrer  heranzubilden  berufen  sind, 
und  je  mehr  wir  für  das  wohl  unserer  schulen  besorgt  sind,  um  so  leb- 
hafter müssen  wir  bleibende,  innige  beziehungen  zwischen  Universität 
nnd  schnle  wünschen  und  anstreben,  wissenschaftlichkeit  ist  die  erste 
und  unerläszlichste  Voraussetzung  für  die  lehrer,  aber  wissenschaftlich- 
keit für  sich  allein,  ich  glaube,  bei  diesem  satz  keinen  widersprach  zu 
finden ,  macht  noch  nicht  den  gediegenen  und  segensreich  wirkenden 
schulmann.  es  scheint  mir  daher  mit  recht,  meine  hochverehrten  herren, 
gerade  in  der  gegenwart  auf  die  pädagogisch -didaktische  ausbildung 
ein  erhöhtes  augenmerk  gewendet  zu  werden,  nur  dann,  wenn  wissen- 
schaftlichkeit und  pädagogik  gleichmäszig  zur  gebührenden  geltuug  ge- 
langen, werden  wir  mit  bestimmtheit  hoffen  dürfen,  dem  vaterland 
dauernd  söhne  zu  erziehen,  die,  ausgerüstet  mit  solidem  wissen,  stark 
an  charakter,  in  religiös -sittlicher  tüchtigkeit  den  sich  stets  steigern- 
den anforderungen  der  zeit  gerecht  zu  werden  vermögen,  hochansehn- 
liche Versammlung!  die  kgl.  staatsregierung  hat  sich  aufrichtig  ge- 
freut, dasz  Sie  in  diesem  jähre  wieder  eine  bayerische  Stadt,  und  zwar 
diesmal  die  haupt-  und  residenzstadt  des  landes  zum  ort  Ihrer  Ver- 
sammlung gewählt  haben,  dieselbe  hat  gerne  darauf  bedacht  genom- 
men, Ihnen  würdige  aitzungsräume  zu  erschlieszen  und  hat  mit  ver- 
gnügen dazu  mitgewirkt,  auch  im  übrigen  Ihren  hiesigen  aufenthalt  zu 
einem  angenehmen  zu  gestalten,  mögen  Sie,  meine  hochverehrten  herren, 
beim  abschlusz  Ihrer  diesjährigen  Verhandlungen  die  ergebnisse  derselben 
gleich  wie  früher  mit  voller  befriedigung  überblicken  und  mögen  Sie, 
meine  herren,  die  Sie  aus  der  ferne  zu  uns  gekommen  sind,  dann  aus 
München  mit  den  besten  erinnerungen  scheiden,  (beifall.)  —  Präsident 
v.  Christ  dankt  für  dieses  wohlwollende  entgegenkommen  der  baye- 
rischen staatsregierung;  er  könne  wohl  namens  der  Versammlung  ge- 
loben, dasz  die  teilnehmer  die  beiden  von  der  kgl.  staatsregieruug 
vorgezeichneten  aufgaben  berücksichtigen  werden.  —  Namens  der  Stadt 
Mönchen  sprach  der  erste  bürgerrae ister  dr.  v.  Widenmayer  warme 

N.jahrb.  f.  phil  u.  päd.  1J.  abt.  1891  hfl.  5.  17 


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258       Bericht  über  die  Verhandlungen  der  41n  Versammlung 


worte  des  Willkomms,  die  bürgerschaft  wisse  zu  schätzen,  was  sie  den 
männern  zu  danken  hat,  die  ihre  söhne  als  treue  führer  durch  die  wege 
wissenschaftlicher  arbeit  geleiten.  —  Namens  der  kgl.  bayerischen  akade- 
mie  der  Wissenschaften  richtete  der  präsident,  geh.  rat  dr.  v.  Pett  tri- 
kofer,  einige  mit  vielem  beifall  aufgenommene  worte  an  die  Versamm- 
lung, da  die  spräche  ein  erzeugnis  des  menschlichen  denkens  ist,  00 
liefert  die  wissenschaftliche  bescbäftigung  damit  die  erkenntnis  ihrer 
gesetze  ohne  zweifei  auch  eine  gute  grundlage  für  einen  methodischen 
Unterricht  in  den  schulen,  in  welchen  die  denkorgane  der  heranwach- 
senden jugend  geübt  werden  sollen,  um  die  denkfähigkeit  dann  auch 
auf  andere  praktische  und  wissenschaftliche  zwecke  und  ziele  anzu- 
wenden, da  sich  die  philologie  früher  entwickelt  bat  als  die  natur- 
wissenschaft,  so  ist  von  selbst  gekommen,  dasz  der  Sprachunterricht  die 
wesentliche  grundlage  der  schule  geworden  ist.  dies  sei  wohl  auch  der 
grund  der  historisch  gewordenen  Vereinigung  der  deutschen  philologen  und 
schulmänner.  allmählich  haben  sich  auch  andere  Wissenschaften  soweit 
entwickelt,  dasz  sie  passendes  material  für  den  Schulunterricht  liefern 
können,  aber  sie  werden  die  philologie  nie  verdrängen  und  auch  nie 
ersetzen  können,  rso  dasz  ich  glaube',  schlieszt  v.  Pettenkofer,  rdasz 
die  philologen  und  schulmänner  noch  lange  und  oft  zusammen  tagen 
werden.'  (lebhafter  beifall.) 

Präsident  v.  Christ  dankt  den  beiden  Vorrednern  bestens,  die 
gastlichkeit  der  Stadt  München  werden  die  herren  noch  in  besonderer 
weise  kennen  lernen;  Münchens  Stadtverwaltung  habe  auch  hohen  sinn 
und  begeisterung  für  die  aufgaben  der  philologen  und  schulmänner  wie 
nicht  alle,  die  sympathischen  worte  Pettenkofers,  des  weltberühmten 
forschers  und  hygienikers,  dessen  name  von  jeher  auch  bei  den  philo- 
logen einen  guten  klang  hatte,  gereichen  der  Versammlung  zur  beson- 
deren ehre. 

Hierauf  hielt  herr  professor  Erich  Schmidt  aus  Berlin  einen  Vor- 
trag über  aufgaben  und  wege  der  fFaustphilologie',  ausgehend  von  der 
musterung  der  älteren  Faustforscher  durch  Vischer  1839,  seinerseits  mit 
der  tendenz,  eine  mitte  zwischen  dem  zu  getrosten  allwissenkönnen  und 
der  lähmenden  Skepsis  des  nichtwissenkönnens  zu  suchen,  er  sagt  wie 
weit  die  combination  in  der  rundung  von  bruchstücken  und  der  her- 
stellung  älterer,  ganz  oder  teilweise  verschwundener  grundrisse  komme, 
zeigt  dasz  nur  die  historische  erklärung  manche  Schwierigkeit  im  'Faust1 
überwinde  und  beurteilt  mit  allgemeinen  Sätzen  und  einzelnen  beispielen 
die  neuere  Chronologie,  die  besonders  mit  parallelstellen  und  stilistischen 
beobachtungen  vieles  zu  klein  splittere  und  oft  zu  schroff  periodisiere. 
dann  überblickt  er  rasch  den  von  ihm  1887  entdeckten  'Urfaust»  und 
die  daran  geknüpften  probleme:  die  entstehung  der  einzelnen  scenen 
und  waa  auszerdem  schon  vor wei mansch  sein  könnte,  um  nach  einer 
einheitlichen  darstellung  der  Gretchentragödie  die  grosse  disparate 
masse  fwald  und  höhle',  den  italienischen,  ursprünglich  wohl  auf  die 
'hexenküche'  folgenden  monolog  'erhabener  geist,  du  gabst  mir,  gabst 
mir  alles',  die  in  Weimar  angeschlossene  zweifällige  mittelpartie,  deren 
zweiter  teil  plötzlich  erst  zu  Gretchen  überleitet,  und  das  aus  dem 
Urfaust  gerissene  schluszstück ,  eingehend  zu  besprechen  und  zu  zer- 
gliedern, die  an  unmittelbarer  und  auszielender  polernik  reiche  rede 
schlosz  mit  Goethes  spruch: 

forschung  strebt  und  ringt,  ermüdend  nie, 
nach  dem  gesetz,  dem  grund,  warum  und  wie. 
Endlich  sprach  herr  rector  O hl en sc h  1  age r  -  Speyer  über  die 
ergebnisse  der  römisch  -  archäologischen  forschung  der 
letzten  25  jähre  in  Bayern,  ausgehend  von  den  frühzeitig  begon- 
nenen forschungen  auf  antiquarischem  gebiete,  die  sich  an  die  namen 
Aventin,  Peutinger  und  Appian  anknüpfen,  versuchte  der  redner  in  ge- 
drängter Übersicht  in  die  ergebnisse  der  genannten  forschung  auf  den 


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deutscher  philologen  und  Schulmänner  zu  München.  259 


verschiedenen  gebieten  einen  einblick  zn  verschaffen,  er  berührte 
namentlich,  was  hervorragendes  an  einzelnen  fundgegenständen  zu  tage 
kam,  die  funde  von  gräbern,  die  ermittelung  römischer  straszen,  sowie 
der  orte  der  Peutinger-tafel,  die  aufgrabung  römischer  wohnstätten,  und 
betonte  insbesondere,  dasz  die  lager,  welche  zur  aufnähme  der  stän- 
digen römischen  besatznngen  im  lande  angelegt  worden  waren,  in  groszer 
zahl  in  der  letzten  zeit  aufgefunden  und  in  Untersuchung  gezogen  wurden, 
indem  er  auf  die  wichtigen  ergebnisse  der  genannten  Untersuchungen 
auch  für  hente  noch  bestehende  einrichtungen  aufmerksam  machte,  gab 
er  dem  bedauern  ausdruck,  dasz  in  Bayern  keine  sammlnng  bestehe,  in 
welcher  die  hauptergebnisse  der  römisch-archäologischen  Untersuchungen 
in  Bayern,  sei  es  im  original,  sei  es  in  nachbildung,  zu  finden  wären, 
redner  gab  zum  Schlüsse  der  hoffnung  räum,  dasz  durch  die  fortgesetzten 
bemühungen  der  forscher  auch  schliesslich  in  weiteren  kreisen  das  inter- 
esse  an  diesem  gegenständ  geweckt  und  für  die  noch  vorhandenen 
mängel  abhilfe  geschaffen  werde. 

Festessen. 

Nachmittag  2  uhr  fand  im  alten  rathaussaale  das  festessen  statt, 
an  welchem  sich  nahezu  300  herren  und  damen  beteiligten,  an  ehren- 
gasten  bemerkten  wir  den  cnltnsrainister  dr.  v.  Müller  mit  den  ministerial- 
räten  v.  Oiehrl  und  Zeitlmann,  regierungspräsident  frhr.  v.  Pfeufer, 
polizeidirector  frhr.  v.  Welser,  bürgermeister  dr.  v.  Widenmayer  mit 
mehreren  mitgliedern  der  gemeindecollegien  u.  a.  —  Zur  Speisekarte 
hatte  'lupulus'  (professor  E.  Wölflin)  ein  originelles  'vulgär-lateinisches' 
trinklied  gedichtet,  die  reihe  der  toaste  eröffnete  der  erste  präsident, 
prof.  dr.  v.  Christ,  mit  einem  hoch  auf  den  kaiser  und  den  prinz- 
regenten.  der  redner  feierte  in  seiner  anspräche  die  deutsche  einigung 
und  die  fürsorge  der  wittelsbachischen  fürsten  für  kunst  und  Wissen- 
schaft, der  zweite  präsident,  gymnasialrector  dr.  Arnold,  toastierte 
auf  die  bayerische  staatsregierung,  speciell  auf  den  gegenwärtigen 
cultusminister,  welcher  der  Versammlung  von  anfang  an  die  reichste 
rörderung  zu  teil  werden  liesz  in  einem  masse,  das  erkennen  liesz,  dasz 
sein  herz  bei  der  sache  war.  und  das  sei  nicht  zu  verwundern;  denn 
schon  als  jüngling  habe  unseren  cultusminister  der  geist  Athens  und 
Roms  begeistert,  und  man  wisse  von  ihm,  dasz  er  auch  jetzt  noch  in 
seinen  muszestunden  das  bedürfnis  habe,  aus  den  Schriften  der  alten 
süszes  vergessen  des  sorgenbelasteten  lebens  zu  schlürfen,  darum  habe 
der  herr  minister  auch  für  die  classische  bildung  die  gröste  Sympathie 
und  darum  habe  er  bei  der  jüngsten  Schulreform  in  Bayern  an  der 
idealen  grundlage  unseres  gymnasialschulwesens  nicht  rütteln  lassen 
nnd  insbesondere  die  herlichste  blüte  desselben,  das  schöpfen  aus  der 
griechischen  quelle,  nicht  verkümmert,  (beifall.) 

Cultusminister  dr.  v.  Müller  erwidert  auf  diesen  toast  sofort  in 
folgender  anspräche:  für  die  liebenswürdigen  worte,  die  der  zweite  herr 
Vorsitzende  soeben  an  mich  zu  richten  die  güte  hatte  und  die  aus  Ihrer 
mitte  so  freundlichen  beifall  fanden,  drängt  es  mich,  Ihnen  vor  allem 
meinen  herzlichsten  dank  auszusprechen,  ich  bekenne  mich  in  erwide- 
rnng  dieser  worte  gerne  als  den  dankbaren  Schüler  unseres  humanisti- 
schen gymnasiums.  (bravo.)  sehr  geehrte  herren!  wir  alle  hegen 
gleichmäszig  die  Überzeugung,  dasz  die  Wissenschaft  zu  den  höchsten 
gütern  des  volkes  gehört  und  dasz  in  der  schule  zum  guten  teil,  zum 
sehr  guten  teil  das  wohl  des  Vaterlandes  liegt,  bei  solchen  fragen,  meine 
herren,  bin  ich  in  erster  linie  von  dem  gedanken  beherscht,  dasz  die 
bedeutsamste  aufgäbe  der  gegenwart  in  der  sorge  für  die  Zukunft  be- 
steht, in  meinem  pflichtmäszigen  wirken  befinde  ich  mich  aber  in  dieser 
beziehung  —  und  das  wurde  heute  zu  meiner  groszen  freude  schon 
wiederholt  betont  —  auf  einem  auszerordentlich  gut  gepflegten  gebiet, 
unter  dem  landesväterlichen  schütz  und  schirm  weiser  und  hochgesinnter 

17* 


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260       Bericht  über  die  Verhandlungen  der  41n  Versammlung 


herscher  sind  in  Bayern  Wissenschaft  und  schule  stets  der  gegenständ 
sorgsamster  bedaehtnahme  und  eifrigster  pflege  gewesen.  Stätten  der 
Wissenschaft  und  der  schulen  blühen  und  gedeihen  im  lande,  bei  dem 
sehr  günstigen  stände  speciell  unserer  humanistischen  gymnasien  konnten 
wir  von  anfang  an  nur  an  einen  conservativ  gehaltenen  ausbau  im  ein- 
zelnen denken,  die  fundamente  unserer  humanistischen  anstalten  sind 
gesund,  und  wir  hoffen  auf  dem  alten  classischen  fundament  noch  lange 
fortzubauen  und  auf  dieser  grundlage  noch  lange  die  ersprieszlichsten 
erfolge  zu  erzielen  —  unter  der  beteiligung  guter,  wissenschaftlich  ge- 
bildeter und  geschulter  lehrer,  die  mit  mir  gemeinsam  der  erkenntnis 
sind,  dasz  das  wesentliche  in  der  schule  die  eigene  sittliche  höhe  des 
lehrers,  die  wärme  ist,  mit  der  der  schüler  gepackt,  gefesselt  und  fort- 
gerissen wird,  (bravo.)  hochansehnliche  Versammlung!  die  kgl.  Staats- 
regierung  konnte  Sie  beute  morgen  durch  meinen  mund  um  so  freund- 
licher und  herzlicher  begrüszen,  je  höher  sie  die  bedeutung  Ihrer 
Verhandlungen  schätzt,  ich  bin  dessen  gewis,  dasz  die  41e  Versamm- 
lung deutscher  philologen  und  schulmänner  ebenso  reich  an  fruchtbrin- 
genden ergebnissen  sein  wird  wie  ihre  Vorgängerin  und  in  diesem  sinne 
erhebe  ich  mein  glas  und  leere  es  auf  das  wohl  dieser  Versammlung, 
(lebhafter  zuruf.)  —  Prof.  dr.  Plan ck -Stuttgart  brachte  sodann  einen 
trinkspruch  aus  auf  den  kaiser  von  Österreich,  den  verbündeten  des 
deutschen  reiches,  dr.  Hergt-Landshut  trug  ein  schwungvolles  gedieht 
auf  die  classischen  Studien  vor,  hofrat  dr.  Härtel- Wien  feierte  die 
Stadt  München,  worauf  bürgermeister  dr.  v.  Widenmayer  in  warmen 
Worten  erwiderte.  —  Prof.  Oskar  Jäger- Köln  trank  auf  das  deutsche 
Vaterland,  indem  er  an  die  Zeiten  erinnerte,  da  sich  die  philologenver- 
sammlungen  noch  nicht  überall  in  Deutschland  in  gleicher  Weise  heimisch 
fühlten,  wie  es  heute  in  München  der  fall  ist.  —  Keallebrer  dr.  Möller- 
Neu-Ulm  feierte  in  beifällig  aufgenommenem  poetischen  toaste  die  damen, 
worauf  rector  dr.  Wecklein-München  die  Versammlung  veranlaszte, 
dem  anwesenden  regiernngspräsidenten  frhr.  v.  Pfeufer  zu  seinem  mor- 
gigen 40jährigen  dienstjubiläum  ihre  glückwünsche  auszusprechen.  — 
Herr  v.  P teufe r  erwiderte  hierauf  in  launiger  rede,  in  welcher  er 
zunächst  seiner  Überraschung  über  diese  liebenswürdigkeit  bei  dieser 
gelegenheit  ausdruck  gab  und  dann  aus  seiner  eignen  gymnasialzeit 
einige  mitteilungen  machte,  die  mehrfach  heiterkeit  hervorriefen,  herr 
v.  Pfeufer  schlosz  mit  einem  hoch  auf  die  classische  bildung.  —  Prof. 
B 1  ü  m  ne  r -Zürich  :  nachdem  man  Deutschlands  feste  eiuigung  gefeiert 
habe,  müsse  man  wohl  notwendig  auch  desjenigen  mannes  gedenken, 
der  noch  als  letzter  von  den  männern  unter  uns  weilt,  welche  diese 
einigkeit  wirklich  vollbrachten,  mein  hoch  gelte  dem  alten  im  Sachsen- 
walde, (lebhafter  stürmischer  beifall.)  —  Die  musik  bei  dem  festessen 
besorgte  die  Capelle  Fach;  das  festessen  selbst  besorgte  in  allgemein 
zufriedenstellender  weise  herr  restaurateur  Eckel. 

Zweite  hauptversammlung  (21  mai). 

Nachdem  in  den  morgenstunden  im  polvtechnicum  eine  reihe  von 
sectionssitzungen  stattgefunden,  wurde  vormittags  10  uhr  im  Odeon  die 
zweite  hauptversammlung  vom  zweiten  Präsidenten,  studienrector  dr. 
Arnold,  eröffnet,  dieselbe  war  wieder  zahlreich  besucht;  auch  cultus- 
minister  dr.  v.  Müller  und  die  ministerialräte  v.  Giehrl  und  Zeitlmann 
wohnten  derselben  bei.  —  Präsident  Arnold  lud  zunächst  die  Präsi- 
denten der  letzten  Versammlungen  und  die  Wiener  herren  ein  nach  den 
Statuten  als  commission  für  die  Bestimmung  des  nächsten  versainmlungs- 
ortes  zusammenzutreten.  —  Die  gesellschaft  für  deutsche  erziehnngs-  und 
schulgeschichte ,  deren  begründung  auf  der  39n  philologenversammlung 
beschlossen  worden  war,  übersendet  den  ersten  band  ihrer  mitteilungen, 
herausgegeben  von  dr.  Kehrbach,  sowohl  präsident  Arnold  als,  aus 
der  mitte  der  Versammlung,  prof.  dr.  Q  ünt her  -  München  empfehlen 


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deutscher  philologen  und  schulmänner  zu  München.  261 


dringend  den  beitritt  zu  dieser  unter  günstigen  anspielen  ins  leben  ge- 
rufenen gesellschaft.  die  mitteilungen  bergen  namentlich  auch  aus 
Bayern  reiches  material.  —  Der  bericht  der  Comeniusstiftung  in  Leipzig 
wird  im  'tagblatt'  abgedruckt.  —  In  die  tagesordnung  eintretend  erhielt 
hieranf  das  wort  herr  geheimrat  dr.  v.  Brunn  zu  seinem  vortrage  über 
Apollo  Ginstiniani.  der  redner  gieng  von  der  Voraussetzung  aus,  dasz 
die  griechischen  götterideale  nicht  bildungen  einer  subjectiven  phan- 
tasie,  sondern  künstlerische  Schöpfungen  seien,  die,  aus  einer  inneren 
notwendigkeit  erwachsen,  ihre  berechtigung  in  sich  selbst  tragen,  frei 
seien  allerdings  die  künstler  gewesen  in  der  wähl  und  der  begrenznng 
der  ideen  nicht  der  gottheit  überhaupt,  sondern  der  besonderen  gott- 
heit  nach  den  verschiedenen  Seiten  ihres  wesens,  das  sich  zuweilen 
sogar  in  bestimmten  gegensätzen  entwickele,  das  sei  der  fall  bei  Apollo, 
an  dem  die  gestalt  des  thatkräftigen,  helfenden,  wie  strafenden  fernhin- 
treffers  gegenübertrete  dem  von  dichterischer  begeisterung  getragenen 
gotte  des  gesanges  und  führer  der  Musen,  als  Vertreter  dieser  beiden 
entgegengesetzten  pole  im  wesen  des  gottes  wurden  die  in  abgüsseu 
ausgestellten  beiden  köpfe  des  belvederischen  und  des  jetzt  im  britischen 
museum  befindlichen  Giustinianischen  Apollo  bezeichnet,  und  durch  eine 
analytische  betrachtung  ihrer  formen  wurde  dargelegt,  wie  in  der  ge- 
samtanlage  der  massen  nnd  ihrer  äuszeren  anordnung  das  gemeinsame, 
die  ideelle  einheit  als  eine  unverkennbare  einheit,  eine  enge  Verwandt- 
schaft zu  tage  trete,  anderseits  aber  in  der  Verteilung  oder  richtiger  iu 
der  Verschiebung  der  massen,  in  der  veränderten  Stellung  des  kopfcs 
zum  halse  und  zum  nacken,  der  gegensatz  der  beiden  köpfe  zur  an- 
schanung  gelange,  so  dasz  man  den  einen,  den  belvederischen,  gewisser- 
xnaszen  als  das  activum,  den  andern,  den  Giustinianischen,  als  das  pas- 
sivum  des  gleichen  grundbegriffes  bezeichnen  könne,  was  die  alten 
unter  dichterischem  wuhnsinn  verstanden,  sei  wohl  nie  schärfer  zum 
ausdruck  gebracht  worden,  als  in  diesem  letzteren,  so  dasz  es  fast 
scheinen  möchte,  der  künstler  sei  wenigstens  bis  hart  an  die  grenze 
gegangen,  über  welche  hinaus  das  ideal  eines  griechischen,  auf  den 
lichten  und  heiteren  höhen  des  Olympes  wohnenden  gottes  nicht  gedacht 
werden  dürfe,  hier  aber  diente  dem  redner  die  vergleichnng  des  kopfes 
eines  Triton,  in  welchem  es  gestattet  war  die  elementare  naturkraft  des 
meeres  als  erregt  von  wilder,  sinnlicher  leidenschaft ,  ungezügelt  von 
sittlicher  selbstbeherschung  zur  darstellung  zu  bringen,  um  auf  die  weise 
mäszigung  uud  Zurückhaltung  hinzuweisen,  durch  die  es  dem  künstler 
gelungen  ist,  den  olympischen  gott  zu  erfassen  als  frei  von  leidenschaft 
nnd  momentaner  erregung,  nur  als  erfüllt  und  durchdrungen  von  einem 
pathos,  einem  leiden,  von  einem  geistigen  affect,  der  tief  begründet  in 
der  inneren  uatur  des  gottes,  ihm  selbst  zur  anderen  natur  geworden 
ist.  —  Lange  bevor  die  beiden  Apolloköpfe  entstanden,  habe  es  voll- 
endete darstellungen  des  gottes  gegeben  und  doch  sei  keiner  der  künstler, 
der  sie  geschaffen,  nur  nachahmer  früherer  generationen  gewesen, 
frei  seien  sie  gewesen  in  der  wähl  der  besonderen  ideen,  gebunden 
allerdings  in  deren  durchführung,  aber  gebunden  nur  durch  das  gesetz. 
aber  erst  in  der  ganzen  und  vollen  freudigen  erfüllung  des  gesetzes 
befreie  sich  der  genius  von  wirklich  hemmenden  fesseln,  den  fesseln 
des  zufälligen,  vergänglichen  und  erhebe  sich  zum  priestertum  des 
ewigen,  unvergänglichen. 

Hierauf  nahm  das  wort  der  generalsecretär  des  kaiserl.  deutschen 
archäologischen  instituts,  prof.  Conze,  uud  machte  im  namen  des 
intstitnt8  eine  mitteilung  im  anschlusse  an  Verhandlungen  auf  der  letzten 
philologenversammlung  in  Görlitz,  betreffend  die  stelle,  welche  die  sog. 
classische  archäologie  —  die  Wissenschaft  der  antiken  kunst  —  in  der 
ausbildung  der  gymnasiallehrer  beansprucht. 

In  Görlitz  war  aus  den  lehrerkreiseii  selbst  unter  anderem  der 
wünsch  zum  ausdruck  gekommen,  dasz  an  groszen  mittelpunkten  archäo- 


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262       Bericht  über  die  Verhandlungen  der  41n  Versammlung 


logischen  Bammeins  und  forschens  feriencurse  zumal  für  lehrer,  welche 
solchen  mittelpunkten  fern  wirken,  veranstaltet  werden  möchten.  —  Die 
Görlitzer  anregungen  sind  inzwischen  in  Österreich  weiter  verfolgt,  und 
für  Deutschland  hat  das  archäologische  institut  es  sich  angelegen  sein 
lassen,  für  sie  einzutreten,  mit  den  feriencursen  ist  auf  anlasz  dessen 
vom  kgl.  preuszischen  Unterrichtsministerium  im  mai  1890  ein  versuch 
gemacht,  bei  dessen  Wiederholung  in  diesem  jähre  zu  einem  zusammen- 
wirken der  verschiedenen  deutschen  regierungen  die  hand  geboten  ist 
über  ein  solches  zusammenwirken  das  wünschenswerte  zu  besprechen, 
lud  der  vortragende  auf  den  nachmittag  alle  für  die  suche  sich  inter- 
essierenden mitglieder  der  Versammlung  ein,  indem  er  der  geneigtheit 
dankend  erwähnung  that,  welche  se.  excellenz  der  kgl.  bayerische  unter- 
richtsminister persönlich  zu  erkennen  gegeben  habe  und  welche  auch 
von  andern  regierungen  durch  entseudung  von  delegierten  zu  der  be- 
sprechung  bethätigt  sei.  —  Auch  die  frage,  wie  die  belebende  anschauung 
antiker  knnst  auf  classischem  boden  selbst  in  immer  weitere  kreise  der 
pymnasi.il lehrer  getragen  werden  könne,  würde  da  besprochen  werden 
können,  der  vortragende  wies  noch  auf  die  kräftige  initiative  hin, 
welche  in  dieser  richtung  die  groszherzoglich  badische  regierung  er- 
griffen habe,  und  erwähnte  dann,  was  das  kaiserl.  archäologische  institut 
mit  seinen  lehranstalten  in  Rom  und  Athen  derart  bisher  gethan  habe 
und  weiter  zu  thun  bemüht  sein  werde,  er  glaubte  es  als  ein  günstiges 
zeichen  für  den  fortgang  ansehen  zu  dürfen,  dasz  hier  in  Bayern  dar- 
über beraten  werden  könne,  wo  könig  Ludwigs  Schöpfungen  als  leuch- 
tende Wahrzeichen  am  wege  ständen,  wo  bereits  der  praeceptor 
Bavariae  die  Vereinigung  von  philologie  und  archäologie  personifiziert 
hätte  und  wo  in  der  bestehenden  Prüfungsordnung  ein  fingerzeig  für  die 
bedeutung  der  archäologie  in  der  gymnasiallehrerbildung  gegeben  sei. 

Herr  geh.  rat  dr.  v.  Brunn  macht  sodann,  unter  hin  weis  auf  die 
Wichtigkeit,  welche  beste  anschauungsmittel  für  die  archäologische  seite 
des  gymnasialunterricht8  besitzen,  auf  das  im  verlade  von  Friedrich 
brackmann  in  München  unter  seiner  mitwirkung  erscheinende  werk 
'denkmäler  griechischer  und  römischer  sculptur  in  historischer  anord- 
nung'  aufmerksam,  da  dieses  werk  aber,  welches  vollständig  circa 
4 — 500  tafeln  enthalten  wird,  zu  teuer  für  die  anschaffung  der  gymna- 
sien  im  einzelnen  sei,  so  empfehle  sich  eine  engere  auswahl  von  ca. 
100—120  blatt,  welche  die  Verlagshandlung  bei  gröszeren  bestellungen 
zu  ermäszigten  preisen  liefern  würde,  redner  schlagt  die  an  Schaffung 
des  werkes  für  alle  gymnasien  des  reiches  auf  kosten  des  reiches  unter 
hinweis  anf  die  schon  bestehenden  aufwendungen  zu  ähnlichen  zwecken, 
wie  die  aufgrabnngen  in  Olympia  und  die  archäologischen  reichsinstitute 
in  Rom  und  Athen,  vor. 

Geh.  oberschulrat  prof.  dr.  Schiller  aus  Gieszen:  die  pädagogische 
Vorbildung  der  gymnasiallehrer.  der  vortragende  legt  zunächst  die  histo- 
rische entwicklung  der  frage  der  höheren  lehrerbildung  dar;  daraus  er- 
gibt sieli,  dasz  bezüglich  dreier  forderungen  allgemeine  Übereinstim- 
mung besteht:  1)  der  theoretischen  Unterweisung  über  pädagogische  fragen, 
2)  der  kenntnisnahme  eines  vorbildlichen  schulorganismus,  3)  eigner 
wohlgeleiteter  Unterrichtsversuche  der  jungen  lehrer. 

Pädagogische  seminarien  an  den  Universitäten  können,  sofern  ihre 
leiter  zugleich  praktisch  erfahrene  männer  sind,  sehr  ersprieszlieh  wir- 
ken, wenn  sie  die  fortbtldung  der  Wissenschaft  der  erziehung  als  ihre 
hauptaufgabe  ansehen;  sie  werden  durch  einrichtung  von  seminarien, 
die  mit  bestehenden  lehranstalten  verbunden  werden,  nicht  entbehrlich, 
sondern  in  diesem  falle  erst  recht  notwendig,  denn  in  ihnen  vermag 
sich  die  Wissenschaft  ohne  die  hemmenden  nebenrücksichten  der  Ver- 
waltung frei  zu  entfalten;  die  praxis  der  gymnasialseminarien  wird 
ihre  maszregeln  vor  dem  forum  der  Wissenschaft  zu  rechtfertigen  haben, 
die  oben  erwähnten  drei  aufgaben  werden  sich  aber  zur  zeit  nur  lösen 


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deutscher  philologen  und  schulmänner  zu  München.  263 


lassen  in  der  Verbindung  von  pädagogischen  seminarien  mit  bestehen- 
den schulanstalten.  in  den  vor  dem  j.  1890  in  Preuszen  bestehenden 
seminarien  verfolgte  man  neben  der  einfUhrung  in  den  lehrberuf  und 
in  die  pädagogische  theorie  auch  die  absieht,  die  jungen  lehrer  fach- 
wissenschaftlich weiterzubilden;  die  folge  war,  dasz  die  pädagogische 
ansbildung  hinter  die  wissenschaftliche  zurücktrat,  die  neueren  semi- 
narien haben  die  fachwissenschaftliche  ansbildung  in  der  bisherigen 
form  aufgegeben  und  suchen  ihre  aufgäbe  darin,  die  jungen  lehrer  an- 
zuleiten, das  auf  der  Universität  erworbene  wissen  für  die  bedürfnisse 
des  Unterrichts  zu  ergänzen  und  zu  erweitern,  dies  ist  nur  möglich, 
wenn  neben  dem  director  noch  eine  gröszere  anzahl  von  tüchtigen 
lehrern  vorhanden  ist,  welche  durch  teilung  der  arbeit  in  den  stand 
gesetzt  werden,  den  fortschritten  der  Wissenschaft  zu  folgen,  für  diese 
wissenschaftliche  aufgäbe  werden  besondere  abteilungen  (eine  altphilo- 
logische, neusprachliche,  physikalische  usw.)  im  seminar  gebildet,  in 
einer  für  alle  candidaten  verbindlichen  turnabteilung  sucht  man  das 
ideal  zu  verwirklichen,  dasz  allmählich  jeder  Ordinarius  auch  die  körper- 
liche ausbilduDg  seiner  classe  zu  tibernehmen,  ihr  vorbild  in  körper- 
licher frische  und  rüstigkeit  zu  werden  vermag. 

Die  seminarzeit  braucht  die  dauer  eines  jahres  nicht  zu  über- 
schreiten, eine  hauptsache  aber,  um  die  üblen  Wirkungen  des  isolierten 
fochlehrertums  zu  beseitigen,  dem  wesentlich  die  überbürdung  mit  ge- 
dächtnisstoff  und  die  Verdrängung  der  erzieherischen  thätigkeit  durch 
die  lediglich  anhäufung  von  kenntnissen  erstrebende  nnterrichtliche  zur 
last  fällt,  ist  die  Vereinigung  von  candidaten  der  sprachlich-historischen 
und  mathematisch-naturwissenschaftlichen  richtung  in  demselben  seminar. 
die  zahl  der  mitglieder  eines  Seminars  musz  auf  der  einen  seite  abhängig 
gemacht  werden  von  der  zahl  der  lehrer,  die  für  ihre  anleitung  heran- 
gezogen werden  können,  auf  der  andern  aber  von  der  frage,  ob  das 
seminar  das  probejahr  ersetzen  oder  nur  vorbereiten  soll,  folgt  kein 
probejahr  der  seminarthätigkeit,  so  musz  die  zahl  der  seminarmitglieder 
niedriger  bemessen  werden,  weil  sonst  ein  zu  groszer  teil  des  unter* 
richts  den  händen  der  ordentlichen  lehrer  entzogen  werden  müste.  von 
den  drei  den  seminarien  zufallenden  aufgaben  hat  die  theoretisch-päda- 
gogische anleitung  die  grundhegriffe  der  psyohologie  und  ethik  und  die 
hauptthatsachen  der  geschiente  der  pädagogik  sicherzustellen  und  ihre 
anwendung  auf  die  fragen  des  Unterrichts  und  der  erziehung  nachzu- 
weisen, auf  dieser  grundlage  ist  die  eigentliche  Unterrichts-  und  er- 
ziehungslebre  aufzubauen,  wozu  auch  die  hauptthatsachen  der  schul - 
gesetzgebung  und  der  schulgesundheitslehre  gehören,  diese  anleitung 
fällt  in  der  hauptsache  dem  director  zu,  während  in  der  speziellen 
didaktik  und  methodik  die  anleitenden  lehrer  den  candidaten  mit  bilfe 
der  unmittelbaren  anschauung  und  der  gewöhnung  den  weg  weisen,  das 
geschieht  teils  durch  referate  über  die  besten  einschlägigen  Schriften, 
teils  durch  wesentlich  induetiv  verfahrende  Unterredungen,  endlich  durch 
kleinere  schriftliche  und  mündliche  ausarbeitungen  der  candidaten,  welche 
die  anwendung  des  theoretisch  erlernten  nachweisen  müssen,  zum  nach- 
weise der  zwischen  theoretischer  einsieht  und  praktischer  anwendung 
vollzogenen  Verbindung  dienen  von  den  candidaten  zu  liefernde,  in 
den  seminarien  zu  beurteilende  gröszere  arbeiten,  deren  wähl  den  can- 
didaten freisteht,  aber  diese  aufgäbe  kann  nicht  gelöst  werden  ohne 
eine  weitgehende  Übereinstimmung  der  Unterrichts-  und  der  erziehungs- 
thätigkeit  an  der  einzelnen  seminaranstalt.  denn  diese  musz  vorbild- 
liche zustände  in  erziehung  und  Unterricht  den  candidaten  bieten,  da- 
mit ist  selbstverständlich  der  gedanke  gänzlich  unverträglich,  dasz  man 
die  seminarien  als  eine  last,  an  der  alle  tragen  müssen,  von  zeit  zu  zeit 
▼ob  einer  anstalt  an  die  andere  verlegen  könne,  denn  bis  eine  schule 
such  nur  vorbildliche  zustände  auf  dem  gebiete  der  Schulgesetzgebung 
und  der  Schulgesundheitspflege  erreicht,  dauert  es  meist  eine  reihe  von 


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264       Bericht  über  die  Verhandlungen  der  41n  versammlang 


jähren,  aber  anch  gut  gewählte  Seminarbibliotheken,  musterhafte  lehr- 
mittelsammlungen,  mustergültige  Stundenpläne,  richtige  bemessung  der 
arbeitszeit,  Veranstaltungen  zur  förderung  der  leiblichen  frische,  des 
geraeinsinnes  schafft  man  nicht  über  nacht,  sondern  sie  werden  mit 
mühe  in  einer  reihe  von  jähren  erzielt. 

Sind  schon  diese  aufgaben  grosz,  so  verschwinden  sie  doch  neben 
der  wichtigsten  von  allen,  der  erzielnng  von  einheitlichkeit  in  erziehung 
und  Unterricht,  denn  sie  kann  nur  aus  der  Selbstüberwindung  aller  be- 
teiligten hervorgehen,  wenn  sie  wert  haben  soll,  zwang  irgend  welcher 
art  ist  verwerflich,  geroeinsame  grundsätze  für  zucht  und  Unterricht, 
detaillierte  speciallehrpläne ,  die  innere  Verbindung  der  einzelnen  lebr- 
fächer  unter  einander  müssen  aus  conferenzen  aller  lehrer  erwachsen; 
sie  dürfen  aber  nicht  auf  dem  papier  stehen,  sondern  sie  müssen  that- 
sächlich  ins  leben  treten ;  denn  ein  anfänger  im  lehramte  kann  nur 
einen  klaren  einblick  in  die  Organisation  einer  schule  erhalten,  wenn 
sie  einheitlich  ist.  wir  roüsten  an  der  lösung  dieser  aufgaben  ver- 
zweifeln, wenn  nicht  die  bisherige  erfahrung  bewiesen  hätte,  dasz  die 
einrichtung  von  seminarien  mit  beteiligung  möglichst  vieler  lehrer  die 
beste  hilfe  für  die  allmähliche  herbeiführung  dieser  einheitlichkeit  der 
lehr-  und  erziehungsarbeit  bildet,  freilich  müssen  sich  die  lehrercolle- 
gien  ganz  anders  als  bisher  mit  den  ergebnissen  der  pädagogischen 
theorie  bekannt  machen.  —  Die  praktische  einführung  der  jungen  lehrer 
geschieht  zuerst  am  besten  in  der  Vorschule,  weil  diese  die  aufgaben 
des  erziehers  in  einfachster  form  bietet  und  weil  ihr  handgreiflicher 
Stoff  am  durchsichtigsten  für  die  methode  ist.  sie  erfolgt  dnrch  die  be- 
teiligten lehrer,  welche  die  candidaten  mit  dem  Stoffe,  der  bebandlong, 
den  literarischen  hilfsmitteln  usw.  bekannt  machen  und  sie  zur  beob- 
achtung  durch  vorhergehende  und  nachfolgende  besprechung  anhalten, 
gleichzeitig  wird  in  täglichen  semiuarsitzungen  die  theoretische  an- 
leitung  durch  den  director  in  stetem  anschlusse  an  die  beobachtungen 
im  unterrichte  gegeben,  die  eigne  thätigkeit  der  candidaten  wird  vor- 
bereitet durch  musterlectionen  der  seminarlehrer  und  tritt  ein  in  probe- 
lectionen,  deren  beurteilung  durch  die  Seminarmitglieder,  den  anleitenden 
lehrer  und  den  director  erfolgt,  nach  dieser  grundlegenden  gemein- 
samen thätigkeit  werden  die  candidaten  ihren  eigentlichen  fächern  im 
höheren  unterrichte  zugewiesen,  die  sie  selbstunterrichtend  auf  der 
unteren  und  mittleren  stufe  in  gleicher  weise  wie  in  der  vorschnle 
kennen  lernen,  aber  die  frühere  gemeinsamkeit  wird  auch  dann  noch 
teilweise  festgehalten,  indem  alle  candidaten  in  dem  geographieunter- 
richte festgehalten  werden  und  den  Zeichenunterricht  eingehend  kennen 
lernen,  auch  das  theoretische  seminar  bleibt  allen  candidaten  gemein- 
sam und  hier  bildet  namentlich  die  innere  Verknüpfung  der  einzelnen 
lehrfächer  das  alle  vereinigende  band.  —  Da  die  seminarthütigkeit  die 
volle  kraft  und  das  volle  iuteresse  der  candidaten  in  ansprach  nehmen 
mu.-z,  so  musz  die  Staatsprüfung  vor  der  aufnähme  in  das  seminar  voll- 
ständig abgeschlossen  sein.  —  Freilich  wird  auch  künftig  die  persön- 
lichkeit des  erziehers  die  hauptsache  bleiben  und  es  ist  nicht  zu  er- 
warten, dasz  in  den  seminarien  die  kunst  geübt  werde,  nur  gute  lehrer 
zu  bilden,  aber  wenn  nur  die  bestehenden  Schäden  des  höheren  Unter- 
richts, in  erster  linie  die  Überschätzung  einseitiger  verstandesbilrtung, 
beseitigt  werden  und  eine  allseitige  förderung  des  seelischen  lebens  zu 
ihrem  rechte  gelangt,  wenn  die  theoretisch  erkannten  Wahrheiten  in  der 
praxis  des  Unterrichts  und  der  erziehung  mit  der  Wirkung  neugesetzt 
werden,  dasz  das  interesse  und  die  selbstthätigkeit  der  schüler  erregt 
und  ihre  teilnähme  für  den  Unterricht  erzeugt  wird,  so  sind  das  schon 
so  wertvolle  resultate,  dasz  jede  anstrengung  in  dieser  richtung  gerecht- 
fertigt erscheint,  sicherlich  werden  dann  auch  die  seminarien  dazu 
beitragen,  das  den  höheren  schulen  zur  zeit  in  bedenklichem  grade 
mangelnde  feste  pädagogische  bewustsein  zu  schaffen,  ohne  das  eine 
i 


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deutscher  pbilologen  und  schulmanner  zu  München. 


265 


thatsächlich  entscheidende  Stellung  des  höheren  lehrerstandes  in  natio- 
nalen bildungsfragen  nicht  denkbar  ist. 

An  den  Vortrag  schlosz  sich  eine  kurze  discussion,  geführt  von  den 
herren  prof.  Uhlig- Heidelberg  und  hofrat  Richter- Jena,  ersterer 
betont  die  notwendigkeit  einer  materiellen  hebung  des  akademisch  ge- 
bildeten lehrerstandes,  letzterer  wünscht  pädagogische  docenturen  an 
den  Universitäten. 

Vom  prinzregenten  von  Bayern  und  vom  kaiser  von  Österreich  sind 
danktelegramme  für  die  dargebrachten  huldigungen  eingetroffen. 

Schliesslich  folgte  der  Vortrag  des  herrn  prof.  dr.  Munck er- 
München über  die  dichtung  des  fLobengrin\  prof.  dr.  Muncker  suchte 
zuerst  die  Stellung  des  rLohengrin'  innerhalb  der  dramatischen  ent- 
wicklung  Richard  Wagners  zu  bestimmen:  die  dichtung  dieses  Werkes 
bedeutet  den  letzten  schritt  dicht  vor  dem  ziele  auf  dem  wege  zu  dem 
Wagnerschen  ideal  des  musikalischen  dramas,  das  selbst  nur  eine  neu- 
gestaltung  des  antiken  gesamtkunstwerks,  der  attischen  tragödie,  aus 
deutsch- nationalem  geist  und  mit  den  reicheren  künstlerischen  mittein 
der  gegenwart  sein  solle,  er  untersuchte  dann  die  verschiedenen  mittel- 
alterlichen sagen  vom  schwanritter,  aus  denen  Wagner  dramatische 
raotive  entlehnte,  den  sog.  bayerischen  'Lohengrin'  ans  dem  13n  jahr- 
hnndert,  den  jüngeren  Titurel,  die  flämischen  volkssagen  von  den  ahnen 
Gottfrieds  von  Bouillun,  und  zeigte,  wie  Wagner  das,  was  hier  episch 
breit  und  in  losem  Zusammenhang  erzählt  war,  dramatisch  zu  verdichten 
und  wirkungsvoll  äuszerlich  wie  innerlich  zu  concentrieren  wüste,  seine 
hauptquelle  war  und  blieb  der  bayerische  'Lohengrin»,  den  er  zweifel- 
los genau  gelesen  hatte  und  auch  in  manchen  einzelzügen,  ja  gelegent- 
lich wörtlich  benützte,  die  übrigen  mittelalterlichen  gediente  kannte 
er  höchst  wahrscheinlich  nur  aus  den  kurzen  Inhaltsangaben,  die  Qörres 
in  seiner  einleitung  zu  jenem  bayerischen  'Lohengrin'  (1813)  und  die 
brüder  Grimm  im  zweiten  band  ihrer  'deutschen  sagen'  (1818)  davon 
mitteilten,  von  neueren  werken  lieferte  ihm  Webers  'Euryanthe'  be- 
sonders für  den  charakter  der  Ortrud,  Marschners  'templer  und  Jüdin' 
für  den  gottesgerichtskampf ,  Immermanns  'Merlin'  für  die  brautnacht- 
scene  einige  züge;  der  streit  der  beiden  frauen  vor  dem  münster  ist 
dem  Nibelungenliede  nachgebildet,  diese  nachweise  thun  aber  der 
Originalität  des  dichters  Wagner  nicht  den  mindesten  eintrag.  er  ver- 
fuhr in  der  gewinnung  seines  Stoffes  wie  alle  grossen  dramatiker  der 
weltlitteratur.  selbständig  baute  er  die  handlung  seines  dramas  mit 
unvergleichlich  wirkungsvoller  kunst  auf  und  nötigte  dadurch  selbst 
heftige  gegner  wie  Alfred  Meissner  zu  lautem  lobe;  selbständig  ge- 
staltete er  seine  Charaktere  aus,  vor  allem  die  tragische  heldin  Elsa, 
selbständig  deutete  er  den  sinn  der  sage,  in  der  er  ein  uralt  mensch- 
liches gedieht  erblickte,  das  die  natur  der  menschlichen  Sehnsucht  und 
das  wesen  der  liebe  ausspreche,  als  den  typus  des  eigentlichen  ein- 
zigen tragischen  Stoffes  für  die  moderne  gegenwart  erkannte  er  den 
Lohengrin,  von  dem  er  sich  dann  dem  ältesten  und  herlichsten  mythos 
des  germanischen  volksstammes,  den  an  tragischer  poesie  unerschöpflich 
reichen  Nibelungen,  zuwandte,    (lebhaftester  beifall.) 

Kellerfest. 

Donnerstag  abends  8  uhr  vereinigte  die  teilnehmer  ein  solennes 
kellerfest  in  dem  grossen  saale  des  löwenbräukellers.  schon  lange  vor 
8  uhr  waren  die  grossen  räume  bis  auf  den  letzten  platz  besetzt,  auszer 
den  mitgliedern  waren  auch  zahlreiche  gäste  aus  Universität«-  und 
rinden  tri,  kreisen  eingeladen,  von  den  ministem  nahmen  teil  frhr.v.  Crails- 
heim, frhr.  v.  Feilitzsch  und  dr.  v.  Müller,  die  Capelle  Fach  hatte  ein 
auserlesenes  musikprogramm  aufgestellt,  nach  dem  liede  rgaudeamus 
igitur'  feierte  der  zweite  präsident,  studienrector  dr.  Arnold  in  humo- 
ristischer weise  die  gastfreundliche  Monachia,  deren  Vertretung  den 


266      Bericht  über  die  Verhandlungen  der  41n  Versammlung 


gasten  dieses  fest  gebe,  hierauf  erwiderte  der  zweite  bürgermeister 
Borscht,  indem  er  in  launiger,  mit  vielem  beifall  aufgenommener  rede 
die  gaste  zu  einem  recht  gründlichen  quellenstudium  aufforderte,  rector 
Schmalz -Tauberbischofsheim  feierte  den  prof.  dr.  Wölfflin,  welcher 
zum  heutigen  abend  einen  festmarsch  componiert  hatte,  studienlebrer 
Wi8 m eye r-München  begrüszte  als  Müncher  kindl  in  einigen  trefflich 
gesungenen  heiteren  Strophen  die  anwesenden,  im  laufe  des  abends 
folgte  noch  eine  reihe  ausserordentlich  gelungener  komischer  vortrage, 
die  flanx  satura  philologorum  Monacentium',  eine  kneipzeitung  im  um- 
fange von  20  Seiten,  enthält  eine  fülle  der  witzigsten  leistungen  und 
wurden  einzelne  cabinetsstücke  daraus  vorgetragen,  den  höhepunkt 
erreichte  die  heiterkeit  bei  aufführung  einer  zwerchfellerschütternden 
dramatischen  parodie  fDido  und  Aeneas».  prof.  Steinberger  trag  ein 
gedieht  rdie  Verteilung  der  flora'  vor,  dr.  Möller-Neu-Ulin  toastete  in 
poetischer  form  auf  das  bayerische  bier.  —  Alles  in  allem  war  der 
abend  sehr  genuszreich  und  es  werden  ihn  alle  teilnehmer  im  besten  an- 
denken bewahren,  das  gelungene  fest  währte  denn  auch  bis  lange  nach 
mitternacht. 

Dritte  hauptversammlung  (22  mai). 

Vormittags  10  uhr  wurde  die  dritte  hauptversammlung  eröffnet, 
derselben  wohnte  wiederum  cultusminister  dr.  v.  Müller,  sowie  eine 
grosze  zahl  von  mitgliedern  bei.  präsident  prof.  dr.  v.  Christ  gab 
bekannt,  dasz  über  den  nächsten  Versammlungsort  noch  keine  Verein- 
barung getroffen  werden  konnte,  er  hoffe  morgen  einen  bestimmten 
Vorschlag  machen  zu  können.  —  Hierauf  wird  in  die  tagesordnung  ein- 
getreten, zunächst  hielt  prof.  dr.  Theodor  Schreiber-Leipzig  einen 
hochinteressanten  Vortrag  über  rdie  barockelemente  der  hellenistischen 
kunst'.  der  vortragende  begann  mit  einem  hinweis  auf  die  Wichtigkeit 
der  frage,  wann  das  antike  barock  entstanden  sei.  nach  der  gewöhn- 
lichen auffassung  ein  produet  der  römischen  kunst,  ist  es  nnch  meinang 
des  redners  bereits  in  der  ersten  hellenistischen  zeit,  in  der  epoche 
Alezanders  des  groszen  und  seiner  nachfolger  entstanden.  Alexandrien 
bezeichnet  er  als  den  ort,  wo  mit  der  gründung  des  mächtigeu  Sera- 
peions  bereits  alle  denkmale  des  barockstils  auftauchen,  die  nene 
kunstrichtung  erklärt  sich  einmal  aus  den  herschenden  einflüssen  der 
fürstenhöfe  auf  die  bildende  kunst,  ferner  aus  der  wachsenden  inten- 
sität  des  privatlebens,  welche  zum  entstehen  einer  genrehaften,  für  das 
Wohnhaus  arbeitenden  kunst  führt  und  endlich  aus  einer  mächtig  wach- 
senden naturfreude,  einem  unsern  modernen  empfinden  ganz  verwandten 
sentimentalen  interesse  an  der  Schönheit  der  freien  natur,  an  dem  wald, 
an  dem  hirten-  und  schäferleben,  diese  drei  gesichtspunkte  wurden  aus- 
führlicher erörtert,  besonders  die  bauleidenschaft  der  hellenistischen 
fürsten  und  ihre  mit  dem  feinsten  künstlerischen  Verständnis  einheit- 
lich durchgeführten  Städtegründungen  besprochen,  in  dieser  weise 
hellenistische  musteranlagen  sind  die  städte  Alexandria,  Antiochia  am 
Orontes,  Caesarea  augusta,  Gerasa,  Philadelphia  u.  a.  es  entwickelt 
sich  in  dieser  Städtebaukunst  eine  eigenartige  raumpoesie,  die  darauf 
ausgeht,  in  den  prächtigen  perspectiven  breiter  feststraszen  den  im 
hintergrund  auf  gewaltigem  unterbau  emporragenden  hauptgebäuden  in 
gartenanlagen,  hafenbauten  usw.  malerische  Städtebilder  zu  schaffen, 
charakteristisch  ist  ferner  die  dem  antiken  und  modernen  barock  eigen- 
tümliche raaterialkünstelei,  ein  verwenden  kostbarster  Stoffe,  von  edel- 
metall,  edelsteinen  und  von  glas  und  elfenbein  für  die  wanddecoration 
ebenso  wie  für  die  bildhauerei,  die  sich  bis  zur  anfertigung  ganzer 
Statuen  aus  edelsteinen  und  selbst  aus  farblosem  krystall  verstieg.  — 
Die  einkehr  der  kunst  in  das  Volkstum,  die  darstellung  von  scenen  aus 
dem  alltagsleben ,  die  jetzt  erblühende  genremalerei  sind  ein  weiteres 
rooinent  der  barockkunst,  die  freilich  auch  vereinzelt  monumentale 


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deutscher  philologen  und  schulmänner  zu  München. 


Jeistnngen  von  der  rnächtigkeit  des  pergamenischen  altarfrieses  schaffen 
kann  (das  werk  eines  wahrhaft  genialen  antiken  Bernini),    der  dritte 
den  stilumschwung  der  hellenistischen  kunst  wesentlich  mitbedingende 
hauptfactor,  die  immer  stärker  und  allgemeiner  werdende  naturfreude 
fuhrt  in  der  dichtung  zur  entstehnng  des  idylls  und  des  romans,  in  der 
bildenden  knnst  znr  landschaftsmalerei,  zum  reliefbild  und  einer  be- 
sondern  gattung  landschaftlicher  rundplastik,  welche  allerlei  figuren 
aar  gartenausschmückung  geschaffen  hat.  —  Das  wichtigste  material 
für  diese  geschichtlichen  forschungen,  die  reste  der  am  besten  und  zahl- 
reichsten in  Syrien  erhaltenen  Städtegründungen  berührte  der  vortragende 
am  Schlüsse  mit  dem  hinweis  auf  die  drohende  gefahr  schneller  und 
radicaler  Vernichtung  dieser  trümmer,  welche  bei  dem  mangel  an  inter- 
esse  seitens  der  türkischen  regierung  unvermeidlich  scheint,  der  redner 
schlosz  mit  dem  wünsche,  dasz  es  gelingen  möge,  noch  rechtzeitig  so 
viel  von  diesem  material  für  die  Wissenschaft  zu  retten,  als  möglich 
sei.  (beifall.) 

Indem  der  Vorsitzende  prof.  dr.  v.  Christ  dem  vortragenden  für 
den  anregenden  Vortrag  dankte,  gab  er  auch  der  hoffnung  ausdruck, 
dass  es  der  gegebenen  anregung  gelinge,  dasz  den  barbaren,  welche 
jetzt  in  diesem  herlichen  lande  wohnen,  wenigstens  die  denkmäler  einer 
groszen  Vergangenheit  entrissen  und  der  Wissenschaft  und  kunst  zu- 
gänglich gemacht  werden.  —  Den  zweiten  Vortrag  hielt  prof.  Iwan 
t.  Müller  über  'Galen  als  philologe'. 

Der  vortragende  gab  zunächst  einen  culturhistorischen  überblick 
über  die  regierungsperiode  des  kaisers  Mark  Aurel,  über  die  richtungen 
und  gegensätze,  welche  das  geistige  leben  in  den  culturländern  des  Welt- 
reichs unter  dem  philosophen  auf  dem  throne  beherschten  und  den  be- 
aondern  charakter  jener  culturperiode  bestimmten,  es  war  ein  eigen- 
tümliches, aber  erklärbares  zusammentreffen,  dasz  damals  auf  drei  ?er- 
schiedenen  gebieten  des  Wissens  gelehrte  auftraten,  welche  eine  mehr 
als  tausendjährige  autorität  auf  die  mittelalterliche  weit  und  neuere  zeit 
ausübten:  Apollonios  Dyskolos  und  sein  söhn  Herodian  auf  dem  gebiet 
der  griechischen  Sprachwissenschaft,  Claudius  Ptolemäus  auf  dem  der 
astronomie  und  geographie,  Galen  auf  dem  der  medicinischen  Wissenschaft, 
dessen  unbedingtes  ansehen  erst  mit  der  entdeckung  des  blutumlaufs 
durch  Horweg  im  17n  jahrhundert  gebrochen  wurde,  aber  derselbe  mann, 
der  an  Vielseitigkeit  des  Wissens  und  litterarischer  betriebsamkeit  seines 
gleichen  suchte,  verdient  auch  als  mitarbeiter  am  bau  der  philologischen 
Wissenschaft  in  forschuug  und  methode  von  einer  Versammlung  von 
philologen  gewürdigt  zu  werden,  seine  philologische  thätigkeit  war 
eine  doppelte,  eine  sprachwissenschaftliche  und  eine  exegetische,  die 
werke  der  erstem  art  hatten  den  zweck,  die  richtige  bedeutung  der 
antik  attischen  Wörter  gegenüber  der  misbräuchlichen  anwendung  der- 
selben festzustellen,  dabei  aber  für  die  rechte  des  gemeingriechischen 
im  gebrauche  der  gegenwart  gegenüber  den  bestrebungen,  das  altattische 
zur  alleinigen  litteratur-  und  conversationssprache  der  gebildeten  zu 
machen,  mit  entschiedenheit  in  die  schranken  zu  treten,  die  comraen- 
tare  Galens  hatten  die  logischen  Schriften  des  Aristoteles  und  einiger 
peripatetiker,  den  Timäus  des  Plato,  insbesondere  die  Sammlung  der 
unter  dem  namen  des  Hippokrates  auf  seine  zeit  gekommenen  Schriften 
zum  gegenstände,  an  der  hand  der  von  Galen  selbst  aufgestellten  grund- 
sätze  der  exegese  wies  der  vortragende  nach,  in  welcher  weise  Galen 
in  den  noch  erhaltenen  commentaren  des  Hippokrates  die  damals  theo- 
retisch geschiedenen  aufgaben  der  eigentlichen  aus  legung  und  der  be- 
urteilnng  des  Wahrheitsgehaltes  der  ausgelegten  stellen  vereinigte,  wie 
er  mit  der  exegese  textkritik  und  höhere  kritik  zu  verbinden  und  an 
die  beurteilende  betrachtung  der  lehrmeinungen  der  stoischen  schule  und 
ihres  meisters  den  ausbau  seines  eignen  Systems  zu  knüpfen  wüste, 
diese  zwecke  hätte  er  nicht  erreichen  können,  wenn  er  nicht  mit  natur- 


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268       Bericht  über  die  Verhandlungen  der  41n  Versammlung 


wissenschaftlicher  erkenntnis  nnd  forschungsart  philologische  Gelehr- 
samkeit und  methode  verbunden  hätte,    in  Galen,  schlosz  der  vor 
tragende,  zeigt  sich  das  unleugbar  vorhandene  band  zwischen  natur-  und 
geisteswissenschaft  gleichsam  verkörpert,  und  darauf  hinzuweisen  dürfte 
gerade  in  unserer  gegenwart  ein  nicht  ungerechtfertigter  versuch  ge 
nannt  werden. 

Vorsitzender  prof.  v.  Christ  dankt  dem  redner;  man  habe  ge- 
tadelt, dasz  so  viel  archäologische  und  literarhistorische  Vorträge  auf 
der  tagesordnung  standen  und  die  alte  philologie  etwas  zu  kurz  ge- 
kommen sei;  der  Vortrag  Iwan  v.  Müllers  sei  wohl  in  dieser  richtung 
ersatz  für  vieles,  (beifall.)  —  Schlieszlich  sprnch  herr  gymnasialreitor 
Max  L  e  c  Ii  n  e r- Nürnberg  über  'Sophokles  auf  der  modernen  bühne'. 

Der  vortragende  gibt  eine  geschichte  der  aufführungen  Sopho- 
kleischer  dichtungen  in  Deutschland,  beginnend  1575  auf  der  akademie 
zu  Straszburg  bis  zu  Goethe,  der  1809  die  Antigone  in  Rochlitz'  über* 
Setzung  zu  Weimar  aufführen  liesz.  von  da  an  und  besonders  seit 
Friedrich  Wilhelm  IV,  der  das  griechische  drama  mit  deutschem  ge- 
wand  förderte,  erfolgte  eine  reihe  von  aufführungen  der  Antigone,  des 
Oedipus  usw.  Mendelssohn  und  Lachner  schrieben  zu  mehreren  der 
dramen  die  mnsik.  1866  trat  ein  neues  Stadium  durch  aufführung  von 
Oedipus  und  Antigone  in  Wilbrandtscher  Übersetzung  zuerst  im  Mei- 
ningen ein,  werke,  die  1886  in  München  und  1887  am  burgtheater  in 
Wien  groszartige  theatralische  erfolge  erzielten,  redner  schlieszt  mit 
dem  wünsch,  dasz  die  beranblühende  jugend  sich  den  reinen  und  edlen 
genüssen,  welche  ihr  solche  aufführungen  bieten,  mit  voller  seele  hin- 
geben möge,  um  die  hinreiszende  Wirkung  und  den  unvergleichlichen 
zauber  griechischer  poesie,  für  die  wir  sie  auf  der  schule  zu  begeistern 
bemüht  sind,  recht  lebhaft  zu  empfinden,  damit  sie  später  in  etwas  ver- 
änderten Worten,  aber  in  noch  höherem  sinn  mit  dem  dichter  von  sich 
sagen  könne,  dasz  sie  die  alten  nicht  hinter  sich  liesz,  die  schule  in 
hüten,  nein,  dasz  sie  später  ihr  auch  sind  in  das  leben  gefolgt,  (leb- 
hafter beifall.) 

Vorsitzender  prof.  v.  Christ  schlosz  mit  dem  ausdruck  des  dankes 
an  den  vortragenden  um  1  uhr  die  dritte  hauptversammlung. 

Ausflug. 

Der  programramäszige  ausflug  an  den  Starnberger  see  fand  gestern 
trotz  der  ungünstigen  Witterung  unter  sehr  zahlreicher  beteiligung  von 
herren  und  damen  statt  und  verlief  in  animiertester  weise,  indem  sowohl 
auf  dem  herlich  gelegenen  Tutzinger  keller  als  auch  im  bahnhofhotel 
Simson  lustig  unter  den  klängen  zweier  musikcapellen  getanzt  wurde, 
eine  reihe  vom  ausschusz  vorbereiteter  heiterer  Vorträge  rauste  leider 
infolge  der  durch  das  schlechte  wetter  gebotenen  trennung  der  gesell- 
schaft  unterbleiben,  um  10  uhr  führte  ein  extrazug  die  teilnehmer  nach 
München  zurück. 

Vierte  hauptversammlung  (23  mai). 

Die  vierte  (letzte)  hauptversammlung  fand  heute  vormittags  10  ubr 
unter  dem  Vorsitz  des  zweiten  Präsidenten,  gyninasialdirector  dr.  Arnold- 
München,  statt,  sie  war  wie  alle  Vorgänger  sehr  zahlreich  besucht.  — 
Se.  excellenz  der  herr  cultusminister  dr.  v.  Müller  war  dienstlich  ver- 
reist; als  Vertreter  der  kgl.  Staatsregierung  wohnten  die  herren  ministe- 
rialräte  v.  Giehrl,  v.  Auer,  Zeitlmann  und  regierungsrat  Bumm  der  Ver- 
sammlung bei.  —  In  die  tagesordnung  eintretend,  sprach  zunächst 
privatdocent  dr.  Rudolf  v.  Sc ala- Innsbruck  über  Isokrates  und  die 
geschichtschreibung. 

Der  vortragende  geht  von  der  darstellungsweise  der  vergangenen 
ereignis8e  durch  erzählende  dichtung,  geschichtschreibung  und  beredt- 
samkeit  aus,  weist  darauf  hin,  dasz  alle  drei  richtungen  im  griechischen 


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deutscher  philologen  und  schulmänner  zu  München.]  269 


leben  versucht  haben  die  Vergangenheit  zur  wiedergäbe  zu  bringen  und 
stellt  an  die  spitze  der  dritten  richtung  Isokrates  und  seine  schule.  — 
Isokrates  leidet,  so  thöricht  auch  seine  rolle  gegenüber  Piaton  sein 
mag,  unter  der  grösze  seines  gegners  und  man  überträgt  den  eindruck 
des  mangelhaften  dialektikers  nur  zu  leicht  auf  die  gesamtpersönlich- 
keit.  diese  auf  philosophischem  gebiete  nicht  ganz  unbewanderte  per- 
sönlichkeit —  redner  weist  die  bekanntschaft  mit  Xenophanes  nach  — , 
die  auf  historischem  gebiete  sich  zum  gutem  teil  in  von  Gorgias 
überkommenen  redewendungen  bewegt,  erscheint  auf  politischem  ge- 
biete doch  weit  bedeutender,  nachdem  der  redner  die  läge  Griechen- 
lands in  wenigen  strichen  skizziert  hatte,  zeigt  er  die  Stellung  des 
Isokrates  gegenüber  könig  Philipp  von  Makedonien,  die  ratschläge 
sind  von  diesem  und  seinem  söhne  so  genau  ausgeführt  worden,  dasz  sie 
fast  wie  eine  Weissagung  aus  dem  erfolge  aussehen,  diese  scharf  um- 
schriebene Stellung  des  Isokrates  hat  auf  die  nachfolgende  geschicht- 
schreibung  so  stark  gewirkt,  dasz  sie  die  Zeitgeschichte  des  Isokrates 
auch  mit  den  äugen  des  Isokrates  ansieht,  der  vortragende  weist  dies 
an  beisptelen  aus  den  werken  seiner  Schüler  Ephoros  und  Theopompos, 
sowie  der  Alexandergeschichtschreibung  nach,  verfolgt  die  einwirkung 
bis  auf  Polybios  und  streift  die  weitere  nach  Wirkung  bis  in  die  späte 
stoa.  nach  einem  hinweis  auf  die  hier  noch  der  lösung  harrenden  fragen 
schlieszt  der  redner  mit  worten  aus  dem  letzten  brief  des  Isokrates,  der, 
kurz  vor  seinem  tode  geschrieben,  jegliches  politisches  verdienst  ablehnt 
und  somit  mit  dem  sonst  so  eitlen  mann  versöhne. 

Die  anwesenden  lohnten  den  vortragenden  mit  reichem  beifall.  — 
Hierauf  erfolgten  die  berichte  der  einzelnen  sectionen.  über  die  Ver- 
handlungen der  pädagogischen  section  berichtete  an  stelle  des  Vorsitzen- 
den, prof.  8  ehr  ad  er- Halle,  herr  rector  Weck  lein  -  München,  die 
Verhandlungen  wurden  eingeleitet  durch  einen  Vortrag  von  prof.  Oscar 
Jäger- Cöln  über  'das  vergängliche  und  bleibende  am  humanistischen 
gymnasium'.    diesem  Vortrag  waren  folgende  thesen  zu  gründe  gelegt: 

1.  Das  humanistische  gymnasium  kann  seine  aufgäbe  als  vor- 
bereitungsanstalt  für  akademische  Studien  nur  dann  lösen,  wenn  in 
seinem  lehrplan  ein  centraler  nnterrichtsgegenstand,  auf  allen  classen- 
stufen  mit  überwiegender  Stundenzahl  ausgestattet,  vorhanden  ist. 

2.  Die  gefahr,  durch  ein  vielerlei  nebeneinander  hergehender 
Unterrichtsgegenstände  die  geistige  kraft  der  schüler  zu  zersplittern 
und  dadurch  zu  schwächen,  ist  für  das  humanistische  gymnasium  in 
hohem  grade  vorhanden,  sie  ist  durch  die  gegenwärtigen  reform- 
bewegungen,  auch  durch  einzelne  beschlösse  der  Berliner  december- 
conferenz,  erheblich  gewachsen. 

3.  Eine  Vermehrung  der  deutschen  Unterrichtsstunden  wird 
den  nationalen  geist  ebenso  wenig  stärken,  als  Vermehrung  der 
religionsunterTichtsstunden  den  religiösen,  oder  Vermehrung  der  ge- 
schichtsunterrichtsstunden  den  historischen  sinn  stärken  würde. 

4.  Der  betrieb  des  lateinischen  und  griechischen  auf  den  deut- 
schen gymnasien  unserer  tage  leistet  der  jugend  mehr  und  besseres, 
als  er  den  generationen  früherer  Jahrhunderte  geleistet  hat:  dieses 
Studium  bindet  die  verschiedenen  Unterrichtsfächer  zusammen,  indem 
es  für  ihren  wissenschaftlichen  betrieb  die  historische  grundlage  und 
die  psychologischen  Voraussetzungen  schafft. 

5.  Kenntnis  des  französischen,  englischen,  naturwissenschaftliche 
kenntnisse  sind  jederzeit  und  für  alle  kreise  sehr  wichtig  gewesen 
und  sind  es  heute  nicht  in  höherem,  aber  in  gleichem  grade,  wie  zu 
Goethes  oder  Lessings  zeit,  aber  selbst  wenn  sie  es  in  höherem 
grade  wären,  so  würde  daraus  nicht  folgen,  dasz  sie  für  die  Vor- 
bereitung zum  akademischen  Studium  knaben  und  jünglingen  vom 
9n  bis  zum  18n  Iebensjahre  das  Studium  der  lateinischen  und  grie- 
chischen spräche  und  litteratur  ersetzen  könnten. 


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270       Bericht  über  die  Verhandlungen  der  41n  Versammlung 


Hierüber  entspann  sich  eine  lebhafte  debatte;  obwohl  im  einzelnen 
die  ansichten  auseinander  giengen,  war  man  im  allgemeinen  mit  den 
thesen  einverstanden  und  erklärte  sich  fast  einstimmig  für  dieselben. 

Weiter  berichtete  in  dieser  section  herr  dr.  Karl  Kehrbach  aus 
Berlin  über  den  gegenwärtigen  stand  der  editionsarbeiten  der  Mono- 
men u  German i ho  Paedagogica.  von  diesem  groszen  unternehmen,  das 
im  verlaufe  der  philologenversamralung  mehrfach  in  ehrenvollster  weise 
erwähnt  wurde,  sind  bis  jetzt  zehn  bände  erschienen,  unter  den  dem- 
nächst erscheinenden  publicationen  wird  sich  eine  umfassende  arbeit 
über  prinzen-  und  prinzessinnenerziehung  im  Wittelsbacher 
regentenbause  befinden,  deren  Verfasser,  herr  prof.  dr.  Schmidt,  in 
dem  der  philologenversammlung  gewidmeten  ersten  hefte  der  mittei- 
lungen  der  gesellschaft  für  deutsche  erziehungs-  und  schulgeschichle 
interessante  auszüge  aus  dem  werke  gibt. 

Der  Vorsitzende  wünscht  dem  unternehmen,  das  bis  jetzt  im  in-  und 
auslande  den  beifall  der  gelehrten  gefunden,  gedeihlichen  fortgang. 

Über  die  Verhandlungen  der  philologischen  (kritisch -exegetischen) 
section  berichtete  dr.  Gom  perz-Wien,  über  die  archäologische  section 
geheimrat  v.  Brunn  -  München,  über  die  orientalische  section  prof. 
Kuhn  -  München,  über  die  romanistisch -germanistische  section  prof. 
Brenn  er- München,  über  die  indogermanische  prof.  Os  t  ho  ff-Heidel- 
berg,  über  die  neusprachliche  prof.  dr.  Breym  ann- München,  über  die 
mathematisch -naturwissenschaftliche  prof.  dr.  Günther-München  und 
über  die  historische  privatdoceut  dr.  Ö im  onsfeld -München.  —  General- 
secretär  dr.  Conze- Berlin  machte  noch  mitteilung  über  die  im  kaiserl. 
archäologischen  institut  zu  Berlin  veranlaszte  hesprechung  über  ein- 
führung  archäologischer  feriencurse  für  gymnasialiehrer  in  Deutschland, 
hierzu  waren  von  verschiedenen  regierungen  delegierte  gesandt:  von 
Bayern  dr.  Arnold  und  v.  Brunn,  Württemberg  v.  Dorn  und  v.  Schwabe, 
Baden  Wagner,  Sachsen-Coburg-Gotha  Rauch,  für  Hessen  Soldan,  für 
Anhalt  Krüger  und  für  Reusz  j.  L.  Schneider,  die  Versammlung  erklärte 
sich  für  die  ausdehnung  der  in  Preuszen  eingerichteten  archäologischen 
curse,  erklärte  es  für  wünschenswert,  dasz  bei  ablegung  der  Staats- 
prüfung den  studierenden  die  Orientierung  auf  dem  gebiete  der  archäo- 
logie  zur  pflicht  gemacht  werde  und  dasz  archäologisch  gebildeten  gym- 
nasiallehrern  durch  Urlaub  und  Stipendien  gelegenheit  zum  besuch  von 
Italien  und  Griechenland  gegeben  werde.  —  Der  zweite  präsident,  dr. 
Arnold,  berichtet  hierauf  über  die  wähl  des  nächsten  Versammlungs- 
ortes, die  commission  schlägt  hierfür  Wien  vor,  und  ist  auch  bereits 
ein  telegramm  des  bürgermeisters  dr.  Prix,  welcher  sich  damit  einver- 
standen erklärt,  eingetroffen.  —  Wien  wird  hierauf  einstimmig  gewählt 
und  als  Präsidenten  bestimmt  hofrat  dr.  Härtel- Wien  und  regierungs- 
rat  Egger  v.  Möllwaldt,  director  des  Theresianischen  gy mnasinms 
in  Wien.  —  Die  nächste  Versammlung  soll  voraussichtlich  im  herbste 
1893  stattfinden. 

Hofrat  dr.  Schenkl-Wien  dankt  für  diese  wähl,  bei  welcher  die 
herren  offenbar  von  dem  gedankeu  geleitet  waren,  die  geistige  gemein- 
schaft  zwischen  Osterreich  und  Deutschland  auf  dem  gebiete  der  Wissen- 
schaft und  des  Unterrichts  zu  pflegen  und  zu  heben,  (beifall.)  er  heisze 
die  Versammlung  heute  schon  in  Wien  willkommen  und  hoffe,  dasz  sich 
dieselbe  würdig  anreihen  werde  der  Münchener,  die  durch  ihren  glänz, 
ihren  wissenschaftlichen  gehalt,  die  umsichtige  leitung,  die  liebens- 
würdigkeit  und  den  frohsinn,  der  dabei  zu  tage  trat,  in  aller  erinnerung 
bleiben  werde,  (bravo!) 

Hierauf  schlosz  herr  rector  dr.  Arnold  die  41e  Versammlung  der 
Philologen  und  Schulmänner  mit  einer  längeren,  mit  lebhaftem  beifall 
aufgenommenen  anspräche:  meine  herren!  die  tngesordnung  ist  nun- 
mehr erschöpft  und  hiermit  auch  die  vierte  sitzung  zu  ende,  da  dies 
aber  zugleich  die  letzte  sitzung  unserer  Versammlung  ist,  so  übe  ich 


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deutscher  philologen  und  Schulmänner  zu  München. 


271 


das  althergebrachte  recht  des  zweiten  Vorsitzenden  aus,  vor  dem  scheiden 
noch  einige  worte  an  Sie  zu  richten,  worte,  sage  ich,  und  nicht  — 
wobei  Sie  ohne  zweifei  erleichtert  aufatmen  werden  —  eine  rede, 
denn  für  den  schlusz  einer  philologenversammlung  scheint  mir  der  alte 
schnlmeisterspruch  prima  lectio  brevis  sit  umgewandelt  werden  zu 
müssen  in  ultima  lectio  brevissima  sit.  und  so  gestatten  Sie  mir  denn 
einen  kurzen  rückblick  auf  den  verlauf  unserer  Versammlung,  der  eine 
teil  stand  unter  dem  zeichen  des  cuuuoieiv,  der  andere  unter  dem  des 
cuvr)Ö€c6at.  unser  gemeinsames  arbeiten  darf  wohl  als  ein  ebenso 
energisches  wie  vielseitiges  bezeichnet  werden,  ein  deutscher  dichter 
brach  einmal  in  den  wehruf  aus:  rwie  schmerzt  es  mich,  auf  also 
sand'gen  sparen  euch  immer  noch  zu  sehen,  ihr  philologen ."  ich  glaube 
nicht,  dasz  er  dies  heutigen  tages  wiederholen  würde,  unsere  Wissen- 
schaft hat  sich  dem  einflusse  der  zeit  nicht  entzogen,  sie  ist  in  gutem 
sinne  realistischer  geworden,  sie  greift  hinein  ins  volle  leben  sei  es 
der  Vergangenheit,  insbesondere  des  classischen  altertums,  sei  es  der 
gegenwart,  nnd  weist  uns  die  bedingungen,  Wesenheiten,  manigfaltig- 
keiten  und  Verschiedenheiten  desselben  auf.  nach  dieser  seite  haben 
sich  zumeist  die  geistvollen  und  gediegenen  vortrage  unserer  allge- 
meinen Sitzungen  bewegt,  doch  wurde  darüber  auch  die  streng  wissen- 
schaftliche detailarbeit  nicht  hintangesetzt,  wofür  die  besonders  eifrige 
thätigkeit  der  sectionen  zeugt,  denn  erfreulicherweise  ist  zu  den  von 
vorn  herein  in  aussieht  genommenen  sectionen  nicht  nur  eine  histo- 
rische hinzugetreten,  sondern  auch  seit  1872  (neuuzehn  jähren)  wieder 
zum  ersten  male  —  eine  indogermanische  neu  begründet  worden,  so 
dasz  unsere  Versammlung  mit  der  stattlichen  anzahl  von  neun  sectionen 
auftritt,  es  ist  wohl  eine  aufgäbe  künftiger  Versammlungen,  in  dieser 
hinsieht  weitere  arbeitsteiligen  herbeizuführen,  aber  auch  auf  dem 
gebiete  der  schule  hat  unser  congress  eine  besondere  bedeutung.  es 
ist,  wenn  ich  nicht  irre,  das  erste  mal,  dasz  ein  Vortrag  pädagogischer 
natnr  in  einer  allgemeinen  Sitzung  gehalten  wurde,  es  ist  ebenfalls 
ein  zeichen  der  zeit,  welche  auch  in  der  schule  die  präzis  mit  nach- 
druck  betont,  welche  aufmerksamkeit  unserer  thätigkeit  in  dieser  rich- 
tung  zugewendet  wird,  geht  aus  dem  umstände  hervor,  dasz  das  College 
for  the  training  of  teachers  in  New-York  für  seine  neue  educational 
review  einen  bericht  über  dieselbe  erbeten  hat.  um  so  mehr  haben 
wir  die  pflicht,  die  deutsche  schule,  das  deutsche  gymnasium  auf  seiner 
höhe  und  eigenartigkeit  zu  erhalten  und  insbesondere  dafür  zu  sorgen, 
dasz  unserer  jugend  die  echt  deutschen  tugenden  der  idealität,  gründ- 
lichkeit  und  arbeitsamkeit  erhalten  bleiben,  dasz  unsere  Versammlung 
hierzu  ihren  teil  beitragen  wird,  darf  nach  manchen  kundgebungen  bei 
derselben  als  sicher  angenommen  werden,  was  nun  das  cuvrjöccSai  an- 
langt, so  wollen  wir  nur  hoffen,  dasz  Sie  so  gerne  bei  uns  weilten, 
als  wir  Sie  bei  uns  sahen,  an  gutem  willen,  Ihnen  freude  zu  bereiten, 
hat  es  uns  nicht  gefehlt,  wenn  gleichwohl  manches  nicht  so  gelungen, 
wie  wir  es  gewünscht,  wenn  insbesondere  gestern  uns  Jupiter  pluvius 
nur  allzu  günstig  gewesen  ist,  so  mögen  Sie  einesteils  nachsieht  mit 
uns  haben,  andern  teils  bedenken,  dasz  des  lebens  ungemischte  freude 
auch  den  philologenversammlungen  nicht  zu  teil  wird.  —  Meine  herren! 
es  erübrigt  mir  noch  die  pfiieht  des  dankes,  des  dankes  zunächst  an 
Sie ,  dasz  Sie  so  zahlreich  unserem  rufe  gefolgt  und  durch  leitung  der 
sectionen,  durch  Vorträge,  debatten,  mitteilungen  und  arraugement  treff- 
licher ausstellungen  zu  allseitiger  förderung  angeregt  und  beigetragen 
haben.  —  Aber  es  geziemt  sich  auch  noch  von  dieser  stelle  aus  den 
ehrerbietigsten  dank  seiner  königlichen  hoheit  dem  prinzregenten  für 
die  unserer  Versammlung  zugewendete  huld,  seinem  erlauchten  enkel, 
prinz  Kupprecht  königliche  hoheit,  dasz  er  die  eröffnung  unserer  Ver- 
sammlung mit  seiner  gegenwart  auszeichnete,  der  königlichen  Staats« 
regierung,  insbesondere  seiner  excellenz  dem  königlichen  staatsminister 


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272  Bericht  üb.  d.  41e  Versammlung  deutscher  philologen  u.  schulmänner. 


des  innern  für  cultus  und  Schulangelegenheiten  herrn  dr.  von  Müller, 
welcher  so  gütig  war,  sein  bedauern  ausdrücken  zu  lassen,  dasz  er  der 
heutigen  sitzung  wegen  abwesenheit  nicht  beiwohnen  könne,  für  seine 
uns  in  hohem  grade  ehrende  warme  und  unermüdliche  teilnähme  an 
unseren  Verhandlungen,  den  königlichen  hof-  und  staatsstellen  für  die 
gnädige  gewährung  manigfaltigster  begünstigungen  und  liberale  dar- 
bietung  ihrer  herlichen  räume,  sowie  der  ihrer  obhut  anvertrauten 
schätze  der  kunst  und  Wissenschaft;  insbesondere  der  königlichen 
generalintendanz  für  die  schönen  zu  ehren  unseres  cougresses  veran- 
stalteten, mit  einzelnen  Vorträgen  zusammenhängenden  aufführungen, 
den  städtischen  behörden  für  die  uns  durch  wort  und  that  bewiesene 
Sympathie  und  last  not  least  unseren  liebenswürdigen  ausschüssen,  aus 
deren  schön  vereintem  streben  unter  freundlicher  mitwirkung  künstle- 
rischer kräfte  und  der  presse  aller  richtungen,  sowie  von  mitgliedern 
des  akademischen  gesangvereins ,  sich  wirkend  erst  erhob  das  wahre 
leben.  —  Doch  jetzt  musz  geschieden  sein,  und  was  wir  kaum  im 
herzen  lieb  gewannen,  die  fremde  führt  es  neidisch  uns  von  dannen. 
aber  Sie  werden  uns  dadurch  nicht  entfremdet  werden,  die  geistigen 
bände,  die  sich  zwischen  uns  gesponnen,  sie  werden  fest  und  dauernd 
geknüpft  bleiben,  und  darum  geleite  ich  Sie  aus  dem  Odeion  des 
Isarathen  mit  dem  rufe  xaipere  küI  u^uvr|c9e!  —  Ich  erlaube  mir  die 
anfrage,  ob  noch  jemand  aus  der  hochverehrten  Versammlung  das  wort 
ergreifen  will,  (dank!)  meine  herren!  die  einundvierzigste  Versamm- 
lung deutscher  philologen  und  schulmänner  ist  geschlossen,  es  lebe 
die  zweiundvierzigste! 

Oberschulrat  dr.  Wendt-Carlsruhe  dankte  namens  der  scheidenden 
dem  präsidium,  den  behörden  nnd  der  einwohnerscbaft  Münchens  für 
das  gefundene  entgegenkommen.  fder  Vorsitzende  habe  in  der  eröffnung-s- 
rede  darauf  hingewiesen,  dasz  die  bedeutung  dieser  Wanderversammlung 
heute  eine  andere  sei  als  vor  mehreren  jahrzebnten.  gerade  in  der  jetzt- 
zeit  sei  aber  der  zusammenschlusz  aller  <rlt  ichgesinnten  vielleicht  wich- 
tiger als  je,  und  da  sei  es  erhebend  und  kräftigend  gewesen  zu  sehen, 
wie  in  Bayern  aus  einem  einmütigen  geist  von  oben  herab  der  ton 
angegeben  wird,  der  auch  uns  stark  machen  soll,  überwiegend  sind  wir 
freilich  hier  die  Vertreter  des  alterturas,  aber  wir  wollen  nicht  blosz 
wühlen  im  moder  der  ruinen,  sondern  jeder  von  uns  soll  sich  klar  vor 
äugen  halten ,  dasz  wir  emporstreben  zu  den  höchsten  zielen  unserer 
nationalen  entwickelung;  dasz  man  dies  im  auge  behält  auch  auf  dem 
thron,  das  musz  für  jeden,  der  hier  dessen  zeuge  gewesen  ist,  herz- 
erwärmend gewesen  sein,  und  dies  kann  für  die  gesamtentwickelung 
Deutschlands  in  einem  augenblick  sehr  erfolgreich  werden,  wo  es  keines- 
wegs an  stimmen  fehlt,  die  in  der  that  jetzt  sich  den  anschein  geben, 
als  müste  die  ganze  nationale  entwickelung  auf  vollständig  neue  grund- 
lagen  gestellt  werden,  mit  der  Vergangenheit  völlig  gebrochen  und  nur 
irgendwie  ein  ganz  neuer  bau  aufgeführt  werden,  (lebhafter  beifall.)  in 
diesem  sinne  könne  die  so  eröffnete,  in  solchem  geiste  fortgeführte  und 
geschlossene  Versammlung  ihren  grossen  segen  stiften  und,  wie  es  die 
philologenversammlungen  je  gethan  haben,  beitragen  zur  nationalen 
einigung,  denn  auch  die  humanistischen  Studien  sind  von  jeher  ein  festes 
band  nationaler  einigung  gewesen,  das  sollen  sie  bleiben,  und  wenn 
das  mit  ein  ergebnis  der  diesjährigen  Versammlung  ist,  so  wäre  das 
wohl  der  schönste  lohn  für  alle,  die  sich  um  ihren  verlauf  verdient 
gemacht  haben.» 


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ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜB  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT  AU88CHLU8Z  DER  CLA88I8CHEN  PHILOLOGIE 

HERAÜ8GEOEBEN  VON  PROF.  DR.  HERMANN  MASIÜS. 


(10.) 

BEITRÄGE  ZUR  GESCHICHTE  DES  HÖHEREN  SCHUL- 
WESENS IN  DER  OBERLAUSITZ, 
(fortsetzung.) 


Wir  wenden  uns  nun  zu  den  personen,  mit  denen  wir  es  in  der 
schule  zu  thun  haben ,  und  fragen  zunächst  nach  der  bildung  und 
der  anzahl  der  lehrer;  daran  fügen  wir  die  nachrichten  über  die  an- 
zahl  der  schüler. 

In  den  quellen  angaben  über  die  bildung  der  lehrer  zu  finden, 
wird  man  von  vorn  herein  kaum  erhoffen,  wir  werden  daher  um  so 
mehr  gelegentliche  bemerkungen  ausnützen  müssen,  um  auf  diese 
weise  das,  was  wir  über  die  bildung  der  lehrer  im  allgemeinen 
wissen ,  auch  für  die  Oberlausitz  nachzuweisen,  einen  wünschens- 
werten anhält  gewähren  zuerst  die  überlieferten  namen  der  lehrer, 
denen  der  titel,  wenn  der  betreffende  lehrer  einen  hatte,  hinzugefügt 
ist.  freilich  haben  wir  von  den  Sechsstädten  keineswegs  vollstän- 
dige listen;  die  beste  noch  ist  die  Görlitzer,  welche  etwa  vom  jähre 
1370  an  bis  1530  die  namen  von  30[— 32]  schulmeistern  nennt, 
die  Zittauer  liste  gibt  10 — 11  namen,  10  nur,  wenn  man  den  in  der 
Urkunde  von  1312,  bei  Köhler,  cod.  dipl.  Lus.  sup.  I*  anhang  s.  98, 
14.  15,  unter  den  zeugen  genannten  *Chunradus  magister  scole*  mit 
dem  in  der  Urkunde  von  1327,  a.  o.  I*  s.  272,  ebenfalls  als  zeuge 
erscheinenden  'Conradus  magister  scolarum1  identificieren  will,  wozu 
Müller,  archiv  VIII  s.  252,  neigt  und  wofür  er  z.  b.  die  elfjährige 
thätigkeit  Weissenbachs  als  Schulmeister  in  Löbau  als  ähnlichen  fall 
anfuhren  könnte,  mit  demselben  rechte  kann  auch  geltend  gemacht 
werden,  dasz  eine  so  lange  amtsdauer,  wie  die  Weissenbachs  und  gar 
die  Conrads,  in  dieser  zeit  bis  zur  reformation  und  über  diese  hinaus 
zu  den  ausnahmen  gehört  und  nur  durch  die  hervorragende  tüchtig- 

N.jahrb.  f.phil.u.  pid.  Il.abt.  1891  hft.6.  18 


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274     Beiträge  zur  geschichte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz, 

keit  der  betreffenden  männer  erklärt  werden  könnte ;  man  vergleiche 
die  Görlitzer  liste:  sie  nennt  für  160  jähre  30—32  namen,  d.h. 
also,  wenn  sie  vollständig  wäre,  würde  jeder  der  genannten  rectoren 
fünf  jähre  im  amte  gewesen  sein ;  so  aber  weist  sie  noch  hier  und  da 
lücken  auf,  und  die  durchschnittliche  amtsdauer  wird  auf  vier,  viel- 
leicht gar  auf  drei  jähre  herabgesetzt  werden  müssen,  davon,  dasz  die 
zeit  des  steten  rectorenwechsels  und  die  praxis  der  bestallung  der 
Schulmeister  auf  nur  ein  jähr  im  1  in  jahrhundert  in  Sachsen  noch 
nicht  angefangen  habe,  wie  Müller  archiv  VIII  s.  254  meint,  kann  also 
für  die  Oberlausitz  keine  rede  sein,  von  den  Laubaner  schulmeistern 
sind  uns  nur  sechs  mit  namen  bekannt;  von  einem  siebenten  wissen 
wir  nur  aus  seinem  schreiben  an  den  rat  (1506,  das  älteste  Schrift- 
stück der  Laubaner  schulacten,  archiv  B  22,  la),  dasz  er  sich  um 
das  amt  bewarb,  gleichfalls  zwei  namen  haben  wir  aus  Löbau  er- 
halten, aus  Bautzen  und  aus  Kamenz,  soweit  wir  erfahren  konnten, 
keinen,  obgleich  also  unsere  Verzeichnisse  zum  teil  recht  lückenhaft 
sind,  können  wir  doch  wenigstens  für  Görlitz  und  Zittau  annähernd 
bestimmen,  welches  Verhältnis  zwischen  den  schulmeistern,  welche 
in  ihren  akademischen  Studien  die  Septem  artes  bewältigt,  und  denen 
bestand,  welche  auf  der  Universität  nur  das  trivium  durchgemacht 
oder  überhaupt  keine  Universität  gesehen  hatten,  von  den  30[— 32] 
Görlitzer  schulmeistern  haben  22,  von  den  10  oder  11  Zittauern  7 
und  von  den  6  Laubanern  4  den  titel 9 magister' ;  das  ist  ein  Verhält- 
nis und  zwar  ein  in  allen  drei  städten  wunderbar  übereinstimmendes, 
wie  wir  es  günstiger  gar  nicht  wünschen  können,  zumal  wenn  wir  die 
berechnungen  Kämmeis  in  der  geschichte  des  deutschen  Schulwesens 
8.  125  und  Paulsens  in  der  geschichte  des  gelehrten  Unterrichts 
s.  18  damit  vergleichen;  nach  Kämmel  führte,  wenn  man  ganz 
Deutschland  ins  auge  faszt,  etwa  ein  drittel  der  Schulmeister  den 
höheren  titel  der  'magistri',  ein  zweites  drittel  den  der  'baccalaurei', 
während  das  letzte  drittel  jedes  akademischen  grades  entbehrte,  und 
nach  Paulsen  verliesz  vielleicht  der  vierte  teil  aller  immatriculierten 
die  Universität  als  baccalaureus  und  kaum  der  sechzehnte  teil  als 
magister. 

Einen  zweiten  anhält,  um  die  wissenschaftliche  bildung  der 
oberlauBitzischen  rectoren  zu  kennzeichnen,  gewähren  die  nach* 
richten,  welche  besagen,  dasz  viele  in  andere  ämter  übertraten,  alle 
diese  männer  kennen  wir  schon,  sie  haben  den  magister- titel,  wir 
wissen  also,  dasz  sie  wissenschaftlich  tüchtig  waren;  wir  erfahren 
aber  noch  auszerdem,  dasz  sie  sich  in  ihrem  schulmeisteramte  so 
bewährt  hatten,  dasz  die  einen  —  es  sind  die  meisten  von  ihnen  — 
in  den  rat  gewählt  wurden ,  dasz  sie  dann  das  amt  des  stadtschrei- 
bers,  oft  auch  das  des  bür germeis ters  bekleideten,  und  dasz  andere, 
nachdem  sie  sich  dem  kirchlichen  dienste  ganz  gewidmet  hatten,  zu 
hohen  ehren  emporstiegen ,  wie  z.  b.  zwei  Zittauer  Schulmeister  in 
das  Oybinkloster  eintraten  und  der  eine,  M.  Petrus  Zwicker,  1395 
provincial,  der  andere,  M.  Michael  de  Swibusin,  1407  prior  wurde. 


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Beitrage  zur  geschieht«  des  höh.  Bchulwesens  in  der  Oberlausitz.  275 

Nicht  unerwähnt  möge  zum  Schlüsse  bleiben,  dasz  Weissenbach 
in  Löbau  Schulmeister  und  stadtschreiber  zugleich  war,  eine  Ver- 
bindung beider  ämter,  die  sich  noch  in  Plauen  und  in  Iglau  nach- 
weisen läszt,  die  freilich  eine  feste  einrichtung  nicht  gewesen  sein, 
sondern  sich  dann  von  selbst  ergeben  haben  wird,  wenn  der  Schul- 
meister im  stände  war,  die  pflichten  eines  notarius  publicus  zugleich 
mit  zu  erfüllen,  daraus  geht  mit  groszer  Wahrscheinlichkeit  hervor, 
dasz  auch  an  andern,  besonders  kleineren  orten  jene  Verbindung  an- 
zunehmen ist,  auch  wenn  sich  keine  besondern  belege  finden,  wir 
wiesen  oben  schon  darauf  hin ,  als  wir  davon  sprachen,  dasz  der  rat 
dem  Schulmeister  keine  besoldung  gewährte,  ihm  aber  höchst  wahr- 
scheinlich durch  Überweisung  von  kleinen  nebendiensten  die  geringen 
einkQnfte  erhöhte. 

Die  anzahl  der  lehrer  stand  während  des  mittelalters  und  der 
folgenden  jahrhunderte  mit  der  anzahl  der  schüler  nicht  in  einer 
80  engen  Wechselwirkung  wie  heute. 

So  viel  ist  freilich  von  vorn  herein  zu  vermuten ,  dasz  an  den 
gröszeren  schulen,  also  an  denen  zu  Bautzen  und  Görlitz,  mehr  lehrer 
gewirkt  haben  werden,  als  an  den  kleineren  der  übrigen  Sechs- 
städte, an  der  Baut zen er  schule  waren  im  anfange  des  15n  Jahr- 
hunderts vier  lehrer,  deren  einkünfte,  wie  oben  schon  einmal  an- 
gedeutet wurde,  die  Schulordnung  von  1418  namhaft  macht,  es  sind 
der  meister  (oder  Schulmeister  oder  rector),  mindestens  zwei  loca- 
tores40,  der  cantor  und  der  signator;  hiermit  ist,  beiläufig  bemerkt, 
die  behauptung  Schtitts  a.  o.  s.  8, 3  widerlegt,  der  titel  rector  habe  erst 
nach  der  reformation  für  den  titel  Schulmeister  aufkommen  können, 
da  der  pfarrer  rector  divinorum  officiorum  geheiszen  habe,  die  Gör- 
litzer schule  wurde  in  der  mitte  des  14n  jahrhunderts  von  dem 
meister,  welcher  in  den  ratsrechnungen  1375  ff.  auch  magister  schole 
und  rector,  oder  in  den  annales  Gorl.  des  Mylius  (Hoffm.  scriptt.  rer. 
Lus.  I  2  s.  3)  im  jähre  1463  ludimoderator,  oder  endlich  in  einer  von 
Schütt  genannten  quelle,  a.  o.  s.  13,  im  jähre  1508gymnasiarcha  hiesz, 
ferner  von  seinen  baccalaurei  (also  von  mindestens  zweien)  und  von 
einem  signator  versorgt.  1446  bestand  gemäsz  des  oben  besprochenen 
Streites  das  collegium  aus  dem  meister,  den  locaten  und  dem  signator, 
eine  nachricht,  welche  sich  mit  der  vorigen  deckt,  da  beide  titel, 


40  stellen,  wie:  f welch  reich  Und  von  seinem  locatore  nicht  kauft 
ein  bnch  .  .  .',  'das  kind  soll  täglich  sein  brod  halb  geben  dem  loca- 
tori,  der  es  lehrt  .  .  .»  und  'ein  wohlhabend  kind  soll  geben  am 
tage  Job.  bapt.  .  .  .  seinem  unterweiser  6  heller',  nötigen  uns  zu 
obiger  annähme,  die  sich  übrigens  schon  bei  Müller,  archiv  VIII 
s.  260,  aber  nicht  mit  hinweis  auf  die  citierten  stellen,  findet,  zweifels- 
ohne haben  wir  in  den  betreffenden  Worten  spuren  von  dem  classen- 
lebrer.  es  gab  ja,  wie  wir  sahen,  drei  classen  —  warum  dann  nicht 
auch  drei  lehrer  (rector  und  zwei  locatores),  welche  sich  vorwiegend 
oder  gar  ausschlieszlich  mit  je  einer  classe  beschäftigten?  wenn  man 
sagen  wollte,  in  Bautzen  wirkte  nur  ein  locator,  so  wäre  die  aus- 
drucksweise  in  der  zweiten  stelle  rätselhaft. 

18» 


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276     Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlansitx. 


baccalaureus  und  locat,  den  nebenlehrer  bezeichnen,  und  schließlich 
am  ende  des  15n  jahrhunderts  nach  Hass'  zeugnis  in  den  annalen 
III  s.  303  aus  dem  Schulmeister,  seinen  vier  baccalaureen  und  dem 
cantor.  die  Zittau  er  schule  hatte  nach  dem  chronicon  Mönch 
1497  einen  Schulmeister  und  einen  cantor,  auch  1493  schon,  als 
Joh.  Molitoris  cantor  war,  und  1495,  als  Hass  der  cantor  des  Schul- 
meisters Leo  wurde  (vgl.  Otto  Kämmel,  Job.  Hass  im  laus.  mag-, 
bd.  51s.  45).  das  ist  aber  jedenfalls  nicht  die  stehende  zahl  ge- 
wesen, denn  1476  werden  nach  Gärtner  a.  o.  8.  4  in  einer  Stiftung 
vom  jähre  1476  locati  erwähnt,  so  dasz  damals  in  Zittau  mit  dem 
rector  und  dem  cantor  mindestens  vier  lehrer  waren,  in  Lauban 
scheint  anfangs  ein  Schulmeister  gar  nicht  vorhanden  gewesen  zu 
sein  (vgl.  oben  s.  166),  einen  solchen  fanden  wir  in  den  ratsannalen 
bzw.  in  einer  stiftungsurkunde  erst  1487  zusammen  mit  locaten  er- 
wähnt (die  betr.  stelle  oben  8.  167).  aus  Löbau  und  Kamen z 
haben  wir  für  die  zeit  bis  zur  reformation  gar  kein  Zeugnis,  doch 
möge  hier  erwähnt  sein,  dasz  in  Löbau  noch  in  der  mitte  des  16n 
Jahrhunderts  drei  lehrer  an  der  schule  thätig  waren  (nach  Knauthe, 
geschiente  der  Löbauer  schule  s.  11),  während  um  dieselbe  zeit  in 
Kamenz  schon  fünf  lehrerstellen  existierten,  nach  Kämmel,  beitr. 
zur  gesch.  des  gymn.  in  Zittau  s.  30  (quellenangabe  fehlt). 

Die  zahl  der  lehrer  an  den  oberlau  sitzischen  schulen  schwankt 
also  zwischen  sechs  und  drei,  ja,  wenn  wir  die  Verhältnisse  in 
Lauban  etwa  während  des  14n  jahrhunderts  hinzunehmen,  zwischen 
sechs  und  eins :  es  wäre  dann  neben  dem  in  der  schule  unterrichten- 
den pfarrer  der  cantor  oder  vielmehr  der  küster  dieser  eine  lehrer 
gewesen,  eine  annähme,  welche  deshalb  viel  für  sich  hat,  weil 
durch  sie  der  ursprüngliche  bestand  der  pfarrschulcollegien,  wie  er 
im  allgemeinen  für  die  pfarrschulen  feststeht,  für  die  Oberlausitz  an 
einem  beispiel  gezeigt  würde,  dasz  übrigens  nicht  von  allem  anfang 
an  ein  cantor  neben  dem  pfarrer  unterrichtete,  dasz  vielmehr  der 
küster  ursprünglich  die  funetionen  des  cantors  auszuüben  hatte,  wird 
sich  noch  im  folgenden  herausstellen,  wo  wir  in  einer  abschweifung, 
die  uns  gestattet  sein  möge,  Uber  die  Stellung  des  cantors  an  den 
oberlausitzischen  schulen  einiges  hinzuzufügen  gedenken. 

Der  cantor,  dieser  mann,  der  für  die  schule  die  gröste  bedeutung 
hatte,  so  lange  sie  mit  der  kirche  aufs  engste  verbunden  war,  der 
die  schüler  in  den  dingen  unterrichtete,  deretwegen  sie  überhaupt 
in  der  kirche  gebraucht  wurden  —  der  cantor,  so  sollte  man  meinen, 
durfte  nie  und  nirgends  in  einem  scbulcollegium  fehlen,  und  doch 
fehlte  er,  wie  sich  aus  obigem  ergibt,  in  Görlitz,  nicht  jedoch  fehlten 
die  Verrichtungen ,  welche  sonst  dem  cantor  zukamen,  denn  diese 
sind  uns  bereits  bekannt  aus  jenem  streite  um  die  bestellung  zweier 
stiftung8mäsziger  messen  und  das  aus-  und  einsingen  von  processionen 
auch  anderer  kireben,  als  der  St.  Peterskirche  (s.  163).  wunder- 
barerweise ist  nun  für  die  rechte  ausführung  der  Schulmeister  nur 
verantwortlich,  sie  selbst  geschieht  im  ersten  falle  durch  den  signator 


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Beiträge  zur  geschichte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  277 

und  im  zweiten  durch  den  Schulmeister  oder  seine  locaten,  unter 
die  gleichfalls  der  signator  zu  rechnen  ist.  er  also  spielte  in  Görlitz, 
wenn  der  kirchendienst  der  schüler  in  frage  kam ,  die  hauptrolle. 

Wir  versuchen,  die  Stellung  und  die  pflichten  des  signators, 
welche  in  dem  Görlitzer  zeugnis  unklar  bleiben,  durch  Zeugnisse  aus 
andern  städten  näher  zu  bestimmen,  die  schule  zu  St.  Elisabeth  in 
Breslau  hatte  im  jähre  1369  nach  einem  von  Schönborn  a.  o.  II  s.  2 
anm.  ***  abgedruckten  testament  neben  dem  rector  einen  succentor, 
einen  signator  und  einen  unter  diesem  stehenden  gehilfen  (famulus 
suus  i.  e.  signatoris),  von  denen  die  drei  letzten  als  zeugen  in  der  an- 
gegebenen reihenfolge  erscheinen,  an  den  zinsen  von  dem  gestifteten 
capital  haben  jedoch,  soweit  die  schule  in  frage  kommt,  nur  der 
rector,  der  signator  und  die  schüler  einen  anteil,  welche  an  allen 
donnerstagen  eine  bestimmte  motette  singen  und  zur  nachtzeit  die 
sacramentsprocession  mit  gesängen  begleiten,  von  dem  zinsen- 
genusz  sind  also  der  succentor  und  der  famulus  signatoris  aus- 
geschlossen, in  einer  Urkunde  der  kirche  zu  St.  Maria  Magdalena 
vom  jähre  1375  ist  von  derselben  donnerstagsfeier  die  rede;  auch 
darin  sind,  wie  in  der  vorigen,  der  rector,  der  signator  und  die 
schükr  diejenigen,  welche  beim  gottesdienst  singen,  für  Breslau  ist 
endlich  noch  auf  die  rechnungsbttcher  der  stadt  aus  den  jähren  1445 
und  1468  hinzuweisen,  wo  der  subsignator  des  Elisabethanums  und 
der  signator  des  Magdalineums  wiederholt  erwähnt  werden,  ohne 
dasz  jedoch  daraus  etwas  zu  schlieszen  wäre,  diesen  Zeugnissen 
schlieszt  sich  das  von  Neisse  an,  auf  welches  auch  Müller  archiv 
VIII  s.  260  hinweist  es  ist  uns  um  so  willkommener,  als  wir  da- 
durch näheres  über  die  pflichten  eines  signators  erfahren;  freilich 
ob  das  sogleich  mitzuteilende  auf  alle  signatores  zu  beziehen  ist, 
wird  noch  weiterer  Untersuchung  bedürfen,  die  fragliche  stelle  be- 
findet sieh  in  den  leges  scholae  Nissensis  conscriptae  anno  1498, 
veröffentlicht  durch  Kastner  in  dem  jahresprogramm  des  katholischen 
gymnasiams  zu  Neisse  1865  s.  12;  sie  mag  hier  ihrem  Wortlaute 
nach  folgen:  'Signatoris  est,  de  mane  sub  ultimo  pulsu  ad  matutinas 
excitare  cum  cantico:  Veni  creator  spiritus.  Item  tenetur  sub  sign a- 
tura  festivis  et  dominicis  diebus  surgere  et  pulsare  cum  baculo  ad 
matutinas.  Item  sign,  tenetur,  si  festum  fuerit  duplex  aut  triplex, 
stare  cantori  a  latere  in  missa  circa  librum  et  in  vesperis  tenetur  ad 
regendum  psalmos  in  secundo  choro.  Sign,  tenetur  cantare  vigilias 
et  conducere  funera.  Sign,  lectiones  tenetur  sibi  a  rectore  iniunctas 
summa  diligentia  complere.  Signatoris  officium  est  providere,  ut 
omnia  palatia  munda  serventur;  eius  interest  ordinäre  mendicantes 
per  ordinem,  qui  purgent  palatia  et  ante  Scholas  .  .  .  hospitale  scho- 
larum  .  .  .  purgare  faciet.  Signatoris  est  incipere  matutinas  et  can- 
tare Venite  et  invitatorium  in  matutinis  usque  ad  primum  psalmum, 
et  tunc  statim  cantor  tenetur  interesse  et  de  primo  psalmo  continuare 
matutinum  usque  ad  finero.  Item  signatoris  est  cantare  tertiam  et 
qna  finita  cantor  tenetur  incipere  missam  et  canere  usque  ad  Agnus 


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278    Beiträge  zur  geschichte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

Dei,  ibi  tenetur  Sign,  adesse  et  missam  ad  finem  finire,  nisi  cantus 
figuratus  servetur.  Item  signatoris  est  interrogare  sacristanum  de 
ritu  ecclesiae,  quae  omni  die  canenda  sunt,  et  illud  postea  intimare 
cantori.  Item  signatoris  est,  tabulare  omnia  invitatoria,  bymnos 
cantandos  in  matutinis,  vesperis  et  tertia,  item  evangelium  vel  epi- 
stolam  pro  latino:  item  cantare  Gloria  laus  in  die  Palmar.;  item 
scribere  in  tabula:  laus  tibi,  Christe;  item  cantare  omni  vespere 
Salve,  item  notare  Agios,  et  cantare  Crux  fidelis.' 

Das  steht  also  fest:  der  signator  war  im  schulcollegium  der- 
jenige, dessen  Stellung  eine  vorwiegend  kirchliche  war,  welchem  so- 
gar hier  und  da  oblag  den  gesang  in  der  kirche  zu  leiten,  eine 
Schwierigkeit  ist  aber  noch  vorhanden;  das  ist  der  verschiedene  rang 
des  signators  in  den  collegien.  in  der  Bautzener  Schulordnung  (1418) 
kann  die  reihenfolge  nicht  mit  voller  Sicherheit  angegeben  werden, 
dasz  der  rector  und  die  locatores  jedoch  dem  cantor  und  signator 
voranstanden,  ist  mit  gröster  Wahrscheinlichkeit  deshalb  zu  ver- 
muten, weil  jene  von  den  schülern  die  meisten  einnahmen  hatten; 
anderseits  stand  aus  demselben  gründe  der  cantor  vor  dem  signator: 
die  einnahmen  des  ersteren  sind  im  vergleich  mit  denen  des  letzteren 
geradezu  glänzende!  ganz  dieselbe  reihenfolge  bestand  in  Neisse; 
denn  in  den  leges  scholae  Niss.  werden  die  officia  der  schulcollegen 
festgestellt,  und  es  folgen  auf  einander:  rector,  baccalaureus  maior, 
baccalaureus  minor,  cantor,  signator.  eine  andere  Ordnung  bietet 
eine  Breslauer  Urkunde  vom  jähre  1442,  durch  welche  festgesetzt 
wird ,  dasz  bei  der  belehnung  mit  einem  gewissen  altargestift  der 
kirche  zu  St.  Maria  Magdalena  zuerst  der  Schulmeister  zu  St.  Maria 
Magdalena  vorgeschlagen  werde,  wenn  der  aber  schon  anderweit  be- 
lehnt wäre,  der  signator  derselben  schule,  und  so  sollte  man  unter 
gleicher  Voraussetzung  zum  locatus  senior  übergehen  und  unter  um- 
ständen bis  zum  subsignator  hinabsteigen,  sogar  nötigenfalls  das 
collegium  zu  St.  Elisabeth  zur  belehnung  heranziehen,  zum  Schlüsse 
fügen  wir  noch  aus  den  Breslauer  Stiftungsstatuten  (lös  jahrh.)  bei 
Schönborn  a.  a.  o.  II  s.  9 ,  woraus  ich  auch  die  andern  Breslau  be- 
treffenden nachrichten  nahm ,  die  reihenfolge  der  lehrer  an  der  dor- 
tigen domschule  hinzu:  zur  Unterstützung  des  rectors,  so  wird  in 
dem  Statut  de  officio  scholastici  atque  officiatorum  scholae  gesagt, 
sowohl  im  chore  als  auch  in  den  Unterrichtsstunden  seien  der  signator, 
subsignator  und  locatus  angestellt,  es  ergibt  sich  demnach  folgende 
Zusammenstellung : 

1)  1350  Görlitz:  rector,  baccalaurei,  signator. 

2)  1369  Breslau,  Elisabethanum :  rector,  succentor,  signator, 
famulus  suus  (i.  e.  eius)  =  subsignator  (1445  und  1468). 

3)  1375  Breslau,  Magdalineum:  rector,  signator. 

4)  1418  Bautzen:  rector,  locatores,  cantor,  signator. 

5)  1442  Breslau,  Magdalineum:  rector,  signator,  senior  locatus 
.  .  .  subsignator. 

6)  1446  Görlitz:  rector,  locati,  signator. 


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Beiträge  zur  geschiente  de8  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  279 


7)  1450  Breslau,  stiftsschule :  rector,  signator,  subsignator, 
locatus. 

8)  1498  Neisse:  rector,  baccalaureus  maior,  baccalaureus  minor, 
cantor,  signator. 

9)  1500  Görlitz:  rector,  vier  baccalaurei,  cantor. 

Daraus  geht  hervor:  I.  nr.  4  und  8  gehören  zusammen,  der 
signator  in  Bautzen  und  in  Neisse  ist  der  letzte  im  collegium 
und  beide  male  ist  ein  cantor  vorhanden,  der  dem  ränge  nach  jenem 
vorangeht:  ohne  allen  zweifei  sind  die  bestimmungen  der  leges 
scholae  Niss.  —  nicht  nur  die  oben  citierten  über  die  pflichten  des 
signators,  sondern  auch  die  über  die  pflichten  des  cantor»  —  auch  auf 
die  Bautzener  schule  zu  übertragen.  II.  anders  verhält  es  sich  ganz 
offenbar  bei  nr.  2.  5.  7  (Breslau:  Elisabethanum ,  Magdalineum, 
stiftsschule) :  da  steht  bei  nr.  2  der  famulus  signatoris  und  bei  nr.  5 
und  7  der  subsignator  an  letzter,  bzw.  bei  nr.  7  an  vorletzter  stelle, 
und  diesem  voran  der  signator.  es  liegt  auf  der  hand,  dasz  in  diesen 
drei  fällen  der  signator  die  geschäfte  des  cantors,  der  subsignator 
bzw.  der  famulus  die  des  signators  unter  I  führte,  die  reihe  nr.  3 
halte  ich  nicht  für  vollständig,  da  in  der  von  Schönborn  1  s.  21 
anm.  *  im  auseuge  mitgeteilten  Urkunde  nur  die  aufgezählt  wer- 
den, welche  den  zinsengenusz  haben,  nemlich  dieselben  (rector, 
signator,  scolares)  wie  1369  am  Elisabethanum;  dasz  wir  aber  von 
dieser  schule  auch  die  übrigen  collegen  kennen,  verdanken  wir  den 
zeugennnterschriften41  (siehe  oben);  entweder  fehlen  nun  diese  unter 
der  Urkunde  des  Magdalineums  oder  Schönborn  unterliesz  es,  sie  mit 
abdrucken  zu  lassen,  jedenfalls  zweifle  ich  nicht,  dasz  am  Magda- 
lineum schon  1375  unter  dem  signator  ein  subsignator  stand,  wie 
später  im  jähre  1442.  III.  in  Görlitz  (nr.  1  und  6)  wirkte  ent- 
gegen den  übrigen  füllen  nur  der  signator.  entweder  stand,  so 
müssen  wir  folgern,  noch  einer  unter  ihm  (subsignator),  der  in 
den  quellen  nicht  genannt  ist,  oder  einer  über  ihm,  der  neben  seinem 
eigentlichen  amte  zugleich  das  des  cantors  mit  versah,  das  letztere 
war  der  fall,  wie  wir  oben  erfuhren,  hat  nach  der  entscheidung  von 
1446  der  Schulmeister  den  kirchendienst  zu  überwachen,  der  aus- 
führende ist  in  dem  einen  falle  der  signator  allein  mit  den  schulern, 
und  bei  den  Verhandlungen  von  1489  (s.  123)  stellte  es  sich  heraus, 
dasz  der  rat  'dem  Schulmeister  als  hymnos  magnificat  etc.  in  men - 
suris  zu  singyn  vorbothen'  hatte,  nr.  1  und  6  sind  also  mit  nr.  4 
und  8  (Bautzen  und  Neisse)  zusammenzustellen.  IV.  der  titel  'signator' 

41  über  die  Stellung  des  succentors  etwas  zu  sagen,  sind  wir  auszer 
stände;  anders  wird  es  bei  dem  Zittauer  succentor  weiter  unten  sich 
verhalten,  möglich  wäre  ja  der  aus  weg,  dasz  man  dem  succentor  die 
cantoratsgeschäfte  übertrüge ,  woraus  sich  dann  für  den  signator  die 
pflichten  des  Bautzener  und  Neisser  collegen  ergäben,  an  dieser  an- 
nähme musz  uns  aber  hindern  1)  das  vorkommen  des  famulus  (»»  sub- 
signator, und  2)  der  umstand,  dasz  der  succentor  bei  der  oben  mitge- 
teilten Stiftung  gar  nicht  berücksichtigt  wird,  was  doch  notwendig  wäre, 
wenn  er  eben  die  cantoratsgeschäfte  zu  versorgen  gehabt  hätte. 


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280    Beiträge  2ur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

in  Görlitz  gieng  um  die  wende  des  Ion  und  16n  jahrhunderts  in 
den  titel  rcantor'  über,  womit  vielleicht  zusammen  bierig,  dasz  dem 
rector  die  früher  innegehabten  cantoratsverpflichtungen  genommen 
wurden. 

Das  so  eben  vorgetragene  glauben  wir  nun  folgendermaszen 
zusammenfassen  und  erklären  zu  können :  an  den  alten  pfarrschulen 
war  der  küster  neben  dem  pfarrer  der  leb r er,  ja  schließlich  sogar 
der  einzige  lehrer,  als  mit  der  vergröszerung  der  gemeinde  die 
arbeit  des  pfarrers  wuchs  und  dieser  mehr  und  mehr  das  unter- 
richten aufgeben  muste.  der  küster,  der  ja  gewöhnlich  ein  literatus 
war  (Nettesheim  s.  62),  hatte  dann  nicht  blosz  seinen  eignen  ge- 
schäftskreis,  sondern  auch  die  Vorbereitung  der  knaben  zum  gottes- 
dienst  (lesen,  singen,  im  besten  falle  noch  etwas  latein).  nach  der 
Verwandlung  der  pfarrschulen  in  Stadtschulen  trat  an  die  stelle  des 
küsters  als  des  einzigen  lehrers  der  Schulmeister,  er  tibernahm  da- 
mit diejenigen  geschäfte,  die  der  küster  zwar  geführt,  die  aber  eigent- 
lich nicht  in  seinen  geschäftsbereich  gehört  hatten:  die  Vorbereitung 
der  knaben  zum  gottesdienst  und  die  aufsieht  über  dieselben  auf  dem 
chore.  an  gröszeren  schulen  wie  in  Görlitz  brauchte  er  dazu  einen 
gehilfen,  der  den  titel  'signator'  führte,  in  Bautzen  setzen  wir  die- 
selben ersten  stufen  der  entwicklung  voraus;  als  jedoch  das  dom- 
capitel  mit  der  zeit  erweitert  wurde,  begründete  man  vor  1355  auch 
das  sehr  notwendige  amt  eines  canonicus  cantor.  dieser  bekam 
ganz  natürlich  neben  der  leitung  der  chorschule  auch  die  Vorberei- 
tung der  knaben  der  schola  externa  zum  gottesdienst,  was  um  so 
leichter  geschehen  konnte,  als  sein  amt,  wie  Müller  archiv  VIII  s.  25 
bemerkt,  in  den  Statuten  1372  nicht  als  dignitas,  sondern  als  officium 
bezeichnet  wird ,  er  also  nicht  zu  den  prälaten  gehörte ,  sondern  als 
lehrer  unter  dem  scholasticus  stand.41  dem  rector  verblieb  die  auf- 
sieht über  die  knaben  auf  dem  chore,  und  beiden,  dem  rector  und 
wohl  noch  mehr  dem  cantor,  war  der  signator  als  gehilfe  beigegeben, 
die  einrichtung  des  Breslauer  capitels  muste  deshalb  eine  andere 
sein,  weil  der  cantor  nicht  zugleich  an  der  domschule,  am  Elisa- 
bethanum  und  am  Magdalineum  die  ausbildung  der  knaben  in  die 
band  nehmen  konnte,  es  wurde  deshalb  an  den  drei  schulen  je  einer 
angestellt,  welcher  für  den  cantor  die  geschäfte  zu  führen  hatte,  des- 
halb aber  natürlich  nicht  den  titel  'cantor'  bekam,  sondern,  da 
er  in  gewisser  beziehung  der  gehilfe  des  cantors  war,  den  titel 
'signator'.  und  zur  Unterstützung  muste  diesem,  wie  in  Bautzen, 

48  durch  eine  freundliche  mitteilung  des  hrn.  prof.  Knothe  in  Dresden 
hätte  ich  mich  eigentlich  abhalten  lassen  sollen ,  diese  Vermutung  aus- 
zusprechen, allein  ich  könnte  mir  dann  durchaus  nicht  erklären,  warum 
der  cantor  in  der  Schulordnung  (1418),  die  ich  oben  als  der  stiftsschale 
zugehörig  nachgewiesen  habe,  erscheint.  Müller  archiv  VIII  s.  260 
glaubt  übrigens  auch,  dasz  der  cantor  in  der  Schulordnung  der  stifts- 
cantor  sei,  eine  ansieht,  die  deshalb  viel  gewagter  wäre  als  die  meinige, 
weil  Müller  ja  der  meinung  ist,  dasz  rdie  Schulordnung  die  der  städti- 
schen schule  ist,  mit  der  das  capitel  gar  nichts  zu  thun  hatte». 


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Beiträge  zur  geschiente  deB  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  281 


ein  gebilfe  bestellt  werden,  der  natürlich  nicht  Signatar  heiszen 
durfte,  sondern  am  einfachsten  'subsignator'  betitelt  wurde. 

Wir  kehren  in  die  Oberlausitz  zurück  und  finden  zuerst  in 
Zittau  neben  dem  rector  den  succentor  —  es  braucht  weiter  nichts 
hinzugefügt  zu  werden:  die  Verhältnisse  sind  wie  in  Görlitz,  nur 
dasz  an  stelle  des  titels  'signator*  der  titel  'succentor'  geführt  wurde, 
jetzt  haben  wir  auch  die  erklärung  für  die  Laubaner  nachrichten: 
das  kloster  sei  zur  beköstigung  nur  des  cantors  verpflichtet  gewesen 
—  sehr  recht;  denn  wir  können  uns  wohl  vorstellen,  dasz  zur  zeit 
der  gründung  des  klosters  (1320)  die  kleine  schule  der  kleinen  stadt 
Lauban  nach  alter  gewohnheit  noch  vom  küster  versorgt  wurde  und 
dasz,  als  ein  Schulmeister  und  neben  ihm  ein  gehilfe  (signator,  suc- 
centor, später  cantor)  angestellt  wurde,  eben  dieser  letztere,  weil 
er  am  meisten  an  der  kirche  beschäftigt  war,  das  beneficium  des 
kfisters  weiter  genosz.  für  Löbau  und  Kamenz  haben  wir  keine 
nachrichten ,  die  Verhältnisse  waren  dort  ohne  zweifei  dieselben  wie 
in  den  andern  vier  städten.  —  Warum,  so  fragen  wir  nun  zum 
schlusz,  führte  eigentlich  derjenige,  welcher  an  den  Stadtschulen, 
zum  groszen  teil  wenigstens,  die  geschäfte  auf  sich  hatte,  die  am 
domstifte  der  cantor  führte,  nicht  auch  von  allem  anfang  an  diesen 
titel?  warum  bekam  der  Görlitzer  signator,  welcher  thatsächlich 
cantoratspflichten  von  jeher  hatte,  erst  am  ende  des  lön  jahrhunderts 
den  entsprechenden  titel?  warum  nannte  man  in  Neisse  1498  die 
beiden  lehrer  nicht  signator  und  subsignator,  sondern  cantor  und 
signator?  warum  war  in  Zittau  Weisaenbach  1381—84  succentor, 
warum  wird  1476  bei  der  Stiftung  des  'tenebrae'  zwar  des  schul- 
meistere und  der  collaboratoren ,  nicht  aber  der  hauptperson ,  des 
cantors,  gedacht,  und  warum  waren  Joh.  Molitoris  1493  und  Joh. 
Hass  1495  und  andere  in  den  folgenden  jähren  cantoren?  nun, 
ich  glaube,  diese  angaben  können  nur  darauf  hinweisen,  dasz  der 
titel  'cantor'  ursprünglich  allein  den  betreffenden  männern  an  den 
klöstern  oder  domstiften  vorbehalten  blieb,  dasz  er  aber  gegen  das 
ende  des  15n  jahrhunderts  gewissermaszen  frei  gegeben  und  dasz 
dann  ein  jeder,  dessen  thätigkeit  in  der  schule  sich  auf  die  kirch- 
lichen Verpflichtungen  der  schüler  bezog,  cantor  genannt  wurde. 
Carpzovs  nachricht  (anal.  fast.  III  1 14),  es  sei  vor  1535  kein  cantor 
in  Zittau  angestellt  worden,  entspricht  demnach  zwar  nicht  den  that- 
sachen,  kommt  aber  doch  der  Wahrheit  ziemlich  nahe,  und  endlich 
konnte  der  Laubaner  rat  in  der  Urkunde  vom  jähre  1584  sehr  wohl 
deshalb  von  dem  cantor  sprechen,  der  von  jeher  im  kloster  beköstigt 
wurde ,  weil  dieser  titel  damals  schon  100  jähre  lang  geführt  wurde 
and  auszerdem  keine  veranlassung  vorlag,  den  titel  hinzuzufügen, 
den  der  betreffende  lehrer  der  Stadtschule  früher  gehabt  hatte.  — 

Auszer  dem  Schulmeister  und  dem  cantor,  wie  wir  nun  der 
kürze  halber  sagen,  gab  es  noch  nebenlehrer,  deren  titel  (gesellen, 
gehilfen,  locati,  locatores,  baccala(u)rei,  collaterales  usw.)  im  vor- 
hergehenden schon  oft  beiläufig  erwähnt  wurden,   während  jene 


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282    Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 


beiden,  unter  umständen  der  Schulmeister  allein ,  den  stamm  des 
collegiums  bildeten ,  richtete  sich  die  zahl  dieser  nach  der  schüler- 
anzahl,  wenn  auch  bei  weitem  nicht  in  dem  unseren  heutigen  be- 
griffen entsprechenden  masze.  das  sieht  man  recht  gut  an  dem  Ver- 
hältnis, welches  nach  Uass  (a.  a.  o.  III  8.  306)  am  ende  des  lfm 
Jahrhunderts  zwischen  lehrer-  und  schQleranzahl  in  Görlitz  bestand: 
auf  sechs  lehrer  kommen  500 — 600  schüler43,  eine  angäbe,  welche 
Schutt  a.  o.  s.  10  anm.  für  eine  aufschneiderei  zu  halten  geneigt  ist 
jene  mitteilung  beruht  aber  auf  Wahrheit,  denn  Hass  sagt  an  der- 
selben stelle,  dasz  die  Görlitzer  schule  nach  der  zu  Zwickau  den 
besten  ruf  gehabt  habe,  und  von  dieser  erfahren  wir  aus  Herzogs 
geschiente  des  Zwickauer  gymnasiums,  dasz  man  unter  dem  rectorat 
des  M.  Valentin  Strödel,  1476—1490,  gegen  900  einheimische  und 
auswärtige  schüler  zählte,  man  vergleiche  auch,  was  Thomas  Platter 
von  der  schülerzahl  der  sieben  Breslauer  schulen  sagt:  es  seien  zu 
seiner  zeit,  also  anfang  des  16n  Jahrhunderts,  zusammen  etliche  tau- 
send gewesen,  solch  hohe  zahlen  sind  natürlich  nur  durch  die  an- 
nähme zu  erklären,  dasz  der  gröste  teil  aus  fahrenden  schülern  be- 
stand ,  was  Hass  von  Görlitz  auch  bestätigt :  der  mendicanten  seien 
bis  *jn  etzlich  hundert*  gewesen,  von  einheimischen  schülern  wer- 
den wohl  kaum  mehr  als  etwa  160—200  darunter  gewesen  sein. 

*8  zu  erwägen  ist  dabei,  dasz  von  diesen  schülern  sehr  viele  (be- 
sonders die  auswärtigen,  die  fahrenden  schüler)  den  Unterricht  gar  nicht 
oder  sehr  unregelmäszig  besuchten,  und  dasz  zur  Unterstützung  der 
lehrer  ältere  schüler  bestimmt  wurden,  welche  den  titel f Schreiber'  führten, 
andere,  wie  Reiche  a.  o.  I  s.  9  und  Kümmel,  beitrage  zur  geschiente  des 
gymn.  zu  Zittau  s.  4,  glauben,  der  name  'schreiber'  sei  gesamtname  für 
'nebenlehrer',  die  den  Unterricht  im  schreiben  als  ihre  h&uptaufgabe  an- 
gesehen hätten.  Gärtner  a.  o.  s.  4  entscheidet  sich,  gestützt  auf  Carpzov, 
für  rgrosze  schüler1  und  führt  als  beleg  an  den  namen  'communicanten- 
schreiber»  für  'communicantenschüler',  d.  h.  schüler,  welche  bei  kranken- 
communionen  den  geistlichen  begleiteten  (Pescheck,  gesch.  von  Zittau 

I  s.  644).  andere  belege  können  hinzugefügt  werden.  Uass  macht  an 
der  nachher  noch  zu  erwähnenden  stelle  über  die  fahrenden  schüler 
(III  306)  folgende  einteilung:  'die  jungen  vnd  die  gewachsenn  schuler 
vnd  Schreiber',  und  sagt  dann:  rdie  gewachsenn  schuler  .  .  .  vnd 
Schreiber  abir,  haben  winterzeit  von  thur  zu  thur  .  .  .  singen  gangen.' 
ebenso  zwingend  ist  eine  stelle  aus  einem  Breslauer  testament  1466: 
den  armen  groszen  Schreibern  und  bursalibus  auf  der  schule  zu  St.  Eli- 
sabeth wird  ein  legat  ausgesetzt  (vgl.  Reiche  a.  o.  8.  9).  mit  schülern 
haben  wir  es  demnnch  auch  zu  thun,  wenn  wir  im  Kamenzer  stadtbuch 

II  121  ff.  (cod.  dipl.  Sax.  reg.  II.  VII  s.  177  ff.)  lesen,  dasz  der  söhn 
des  bürgermeisters  'mit  den  schreybern  von  der  schulen  uff  der  gassen 
.  .  .  eyn  hader  unde  geezenke  angefhangen'  habe.  Knothe  a.  o.  hält 
sie  auch  für  schüler.  endlich  ist  noch  die  Egerer  Schulordnung  (um 
1350)  bei  Müller  a.  o.  s.  22  f.  zu  vergleichen;  da  steht  im  texte:  der 
Schulmeister  soll  'keinen  gesellen  noch  locaten  noch  andere  fremde 
schüler'  auf  der  schule  halten,  es  sei  denn  dasz  sie  ihr  recht  beim  rate 
zu  Eger  suchen  zu  wollen  versprechen;  bei  'schuler'  ist  über  der  seile 
hinzugefügt  'oder  Schreiber',  am  ende  der  Schulordnung  wird  verboten, 
dasz  'die  gesellen  .  .  .  vnd  auch  andere  schreyber'  des  nachts  lärm 
verursachen,  vgl.  noch  ganz  besonders  den  Ulmer  lectionsplan  um  1500, 
a.  o.  s.  125  ff. 


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Beiträge  zur  neutestamentlichen  exegese. 


283 


Die  angäbe  über  die  schülerzahl  in  Görlitz  ist  für  die  Ober- 
lausitz  die  einzige  dieser  art.  wie  stark  der  durchschnittliche  besuch 
der  sechsstädtischen  schulen  war,  kann  man  schwerlich  auch  nur  an- 
nähernd vermuten,  denn  obwohl  wir  die  ungefähre  einwohnerzahl 
der  stödte  in  der  damaligen  zeit  kennen  und  mit  hilfe  der  ergebnisse 
der  Volkszählungen  in  unserer  zeit  annähernd  die  zahl  der  die  schule 
besuchenden  kinder  zu  bestimmen  im  stände  wären,  so  wird  sich  doch 
diese  an  und  für  sich  unsichere  zahl  von  der  Wahrheit  noch  mehr 
entfernen,  wenn  wir  erwägen,  1)  dasz  es  damals  keinen  schulzwang 
gab,  eine  bestimmung,  die  durch  Kriegks  Wahrnehmung  (bürgertum 
im  mittelalter  II  s.  65  f.),  die  eitern  hätten  ihre  kinder  fleiszig  zur 
6chule  geschickt,  nicht  aufgewogen  wird,  2)  dasz  die  mädchen  am 
Unterricht  nicht  teilnahmen  und  3)  dasz  die  schola  zwar  die  Volks- 
schule mit  vertrat,  dasz  es  aber  neben  der  Stadtschule  fast  in  jeder 
stadt  privatschulen  (deutsche ,  bei-  oder  winkelschulen)  gab. 

(fortsetzung  folgt.) 
Dresden.  H.  Heyden. 


27. 

BEITRÄGE  ZUR  NEÜTESTAMENTLICHEN  EXEGESE. 


1. 

Zu  Römer  13,  6. 

Weizsäcker  bemerkt  in  dem  im  november  1874  geschriebenen 
vorwort  zur  ersten  aufläge  seiner  Übersetzung  des  neuen  testamentes : 
'wer  die  Schwierigkeit  solcher  arbeit  auf  sich  genommen,  weisz  viel- 
leicht am  besten,  wie  weit  sie  hinter  ihrem  ziele  zurückbleibt,  ich 
werde  für  jede  Zurechtweisung  dankbar  sein,  und  mich  freuen,  wenn 
es  ein  anderer  besser  macht.'  es  wäre  mehr  als  vermessenheit,  wenn 
der  Schreiber  dieser  zeilen  den  zweiten  teil  dieser  erklärung  in  der 
weise  für  sich  in  anspruch  nehmen  wollte,  dasz  er  ihn  in  der  ganzen 
stärke  des  Wortlautes  auf  die  folgende  darlegung  anwenden  zu  dürfen 
glaubte,  diese  will  vielmehr  nichts  anderes  sein  als  die  berichtigung 
eines  Übersehens,  das  sich  in  die  1888  veröffentlichte  'dritte  und 
vierte  neu  bearbeitete  aufläge'  hinübergerettet,  also  bisher  noch 
keine  berichtigung  gefunden  hat.  möge  dieser  versuch  eine  freund- 
liche aufnähme  bei  dem  geehrten  Verfasser  finden ! 

Was  nun  den  ersten  teil  der  oben  angeführten  erklärung  be- 
trifft, so  glaube  ich,  dasz  der  Verfasser  der  neuen  Ubersetzung  zu 
einer  solchen  äuszerung  vollständig  berechtigt  war.  denn  wie  reif- 
lich er  die  übernommene  aufgäbe  und  ihre  Schwierigkeiten  tiberlegt 
hat,  dies  lehrt  ganz  besonders  der  diesem  vorangehende  absatz  des 
Vorwortes,  der  anfang  desselben  lautet:  'eine  Übersetzung  in  die 
spräche  der  gegenwart  musz  an  kraft  immer  hinter  Luthers  kernigem 


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284 


Beiträge  zur  neutestamentlichen  exegese. 


worte  zurückbleiben,  aber  sie  soll  befördern,  dasz  wir  den  ursprüng- 
lichen sinn  und  Zusammenhang  leichter  verstehen,  dasz  wir  annähernd 
lesen,  wie  die  ersten  leser  es  konnten,  in  strengem  an  Schlüsse  an 
das  griechische  wort  kann  sie  die  einzelnen  Schriften  und  Schrift- 
steller mehr  in  ihrer  besondern  eigenart  erkennen  helfen.' 

Dies  genügt  für  unsern  zweck  und  ist  in  allewege  beherzigens- 
wert, ich  halte  mich  zunächst  an  die  forderung  des  strengen  an* 
Schlusses  an  das  griechische  wort,  dieser  scheint  mir  Weizsäcker  in 
dem  vorliegenden  fall  nicht  zu  entsprechen  mit  der  Übersetzung: 
'darum  sollt  ihr  auch  die  steuern  entrichten.'  die  griechischen  worte 
lauten  nemlich:  blä  TOÖTO  yap  Kai  qpöpouc  T€XeiT€.  W.  scheint  so- 
mit TcXciTe  als  imperativ  oder  auch  als  futur  zu  fassen,  dies  erlaubt 
aber  nicht  das  f&p ,  welches  durchaus  zwingt  tcXcitc  als  indicativ 
des  präsens  aufzufassen,  darum  läszt  W.  auch  das  fdp  unübersetzt, 
verleugnet  aber  dadurch  den  oben  angeführten  grundsatz.  in  der 
beseitigung  des  ydp  stimmt  W.  mit  Luther  überein,  der  übersetzt: 
f  derhalben  müsset  ihr  auch  schosz  geben.'  dessen  ungeachtet  scheint 
mir  Luthers  Übersetzung  weniger  unrichtig  als  die  Weizsäckers,  und 
zwar  in  hinsieht  auf  das  verbum.  denn  wenn  auch  L.  dies  durch 
zwei  worte  ausdrückt,  so  können  wir  den  gewählten  ausdruck  doch 
als  phraseologische  Umschreibung  des  indicativs  ansehen,  was  bei 
dem  andern  ausdruck  nicht  angeht,  über  diese  neigung  der  deutschen 
spräche  zu  phraseologischen  Umschreibungen  handeln  zumeist  die 
lehrbücher  der  lateinischen  Stilistik,  vorab  das  von  Nägelsbach,  in 
der  von  dr.  Iwan  Müller  besorgten  achten  aufläge  (Nürnberg  1888) 
heiszt  es  §  98  8.  391 :  'unter  den  phraseologischen  verben  verstehen 
wir  diejenigen  hilfsverba,  welche  der  Deutsche,  überhaupt  die  moderne 
dar  Stellung  braucht,  um  über  die  weise,  in  welcher  das  subject  bei 
der  baupthandlung  beteiligt  ist,  vollständigen  aufschlusz  zu  geben.' 
diese  erklärung  passt  vollkommen  auf  Luthers  Übersetzung,  welche 
gewissermaszen  besagt:  ihr  gebet  schosz,  wie  ihr  ja  müsset,  unter 
diesen  umständen  ist  auch  die  weglassung  des  'denn'  kaum  anzu- 
fechten ;  sie  entspricht  nemlich  auch  dem  deutschen  Sprachgebrauch, 
wie  man  aus  demselben  werke  §  196  s.  730  entnehmen  mag. 

Freilich  hindert  auch  nichts  das  ydp  auszudrücken,  wie  die  Über- 
setzung von  Bunsen-Holtzmann  zeigt,  sie  lautet:  'denn  darum  zahlet 
ihr  auch  schosz';  wozu  die  richtige  bemerkung:  'aus  der  thatsache 
der  steuerentrichtung  beweist  Paulus  die  pflicht  des  gehorsams.' 

Der  übrige  teil  des  verses  scheint  uns  bei  W.  wohlgelungen: 
'denn  es  sind  gottes  beamte,  die  eben  dazu  auf  ihrem  posten  sind.' 

2. 

Zu  II  Kor.  5,  13  ff. 

Auch  diese  stelle  möchte  ich  in  rücksicht  auf  die  Übersetzung 
von  Weizsäcker  einer  besprechung  unterziehen,  die  Übersetzung 
lautet:  'sind  wir  von  sinnen  gekommen,  so  ist  es  für  gott;  sind  wir 


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Beiträge  zur  neutestamentlichen  exegeae. 


285 


bei  sinnen ,  so  sind  wir's  ftlr  euch,  denn  unser  wann  ist  die  liebe 
Christus',  mit  dem  Schlüsse :  einer  ist  für  alle  gestorben ;  also  sind 
sie  alle  gestorben;  für  alle  gestorben  ist  er,  auf  dasz  die  lebenden 
nicht  mehr  sich  selbst  leben,  sondern  dem,  der  ftlr  sie  gestorben  und 
auferweckt  ist.'  denken  wir  uns  einen  leser,  welcher  der  griechi- 
schen spräche  unkundig,  weil  er  weisz,  dasz  in  der  Lutherischen 
Übersetzung  einzelne  Unrichtigkeiten  und  ungenauigkeiten  vorkom- 
men, zu  mehrerer  Sicherheit  die  neuere  Übersetzung  entweder  zur 
vergleich ung  beizieht  oder  sogar  an  stelle  der  Lutheriscben  benutzt: 
wird  dieser  durch  die  angeführte  Übersetzung  sich  in  dem  Verständ- 
nis besonders  des  vierzehnten  verses  sehr  gefördert  finden?  Luther 
bietet  folgende  Übersetzung:  'denn  die  liebe  Christi  dringet  uns 
also;  sintemal  wir  halten  dasz  so  einer  für  alle  gestorben  ist,  so  sind 
sie  alle  gestorben.'  wir  glauben  nun ,  dasz  derjenige ,  der  sich  der 
neuesten  Übersetzung  zu  bedienen  pflegt,  in  diesem  falle  wohl  kaum 
ein  ihn  selbst  nur  einigermaszen  befriedigendes  Verständnis  gewinnen 
wird,  er  wird  also  in  diesem  falle  doch  wohl  zu  der  ihm  von  jugend 
auf  bekannten  und  wohl  auch  noch  in  seinem  besitz  befindlichen 
Übersetzung  seine  Zuflucht  nehmen  und  somit  in  die  gleiche  läge 
kommen  mit  demjenigen,  der  die  neueste  Übersetzung  nur  als  bei- 
hilfe  des  Verständnisses  neben  der  ihm  von  jugend  auf  vertrauten 
zu  benutzen  pflegt,  in  welcher  läge  werden  nun  beide  sich  befinden? 
wir  glauben,  dasz  sie  jetzt  erst  recht  in  Verlegenheit  kommen  wer- 
den ,  wenn  sie  wahrnehmen ,  dasz  gerade  an  der  schwierigsten  stelle 
beide  Übersetzungen  sowohl  in  der  form  als  in  der  bedeutung  des 
ausdrncks  weit  auseinandergehen,  wollen  sie  also  durchaus  ins  klare 
darüber  kommen,  wie  sich  die  sache  verhält,  so  werden  sie  wohl 
sich  gedrungen  fühlen,  einen  der  Urschrift  kundigen  freund,  also 
etwa  ihren  geistlichen  berater  um  auskunft  anzugehen,  es  ist  nicht 
unseres  amtes,  den  bescheid,  den  dieser  geben  wird,  auch  nur  ver- 
mutungsweise andeuten  zu  wollen,  wir  erachten  es  vielmehr  als  an- 
gemessen, uns  selbst  nun  der  Urschrift  zuzuwenden,  bei  der  ja  doch 
die  letzte  entscheid  ung  ruht,  wir  schreiben  sie  um  des  Zusammen- 
hanges willen  noch  etwas  weiter  aus,  als  es  bei  den  beiden  Über- 
setzungen geschehen  ist.  sie  lautet: 

Ou  ttoiXiv  £<xutoüc  cuvicTdvo^ev  ujaiv,  dXXd  d<popuf|v  bibövTcc 
uuTv  xauxnfiaTOc  unfep  fuiwv,  \'va  Ixryze  irpöc  touc  £v  rrpocumii) 
xauxuj^vouc  xai  nf]  £v  Kapbia.  erre  y<*P  &^ctti|J€v,  8eüV  etie 
cuKppovoüyev ,  tyuv.  f)  yäp  ardim,  toö  Xpicroö  cuv^i  ruiäc, 
KpivavTac  toöto  ,  öti  elc  imfep  iravTiuv  dTreöavev  •  dpa  o\  irdviec 
dTr^Oavov  xal  vmfcp  Trdvrujv  direBavev  Kva  ol  Cüjvtcc  mtik^ti 
iaurok  Zujciv  dXXd  tu)  im£p  (xutwv  d7To8avövTi  kou  ifepQlvu. 

In  Weizsäckers  Übersetzung  verursacht  uns  wohl  am  meisten 
bedenken  der  ausdruck;  f unser  wahn  ist  die  liebe  Christus'.'  was 
bewog  ihn  wohl  ein  Substantiv  an  die  stelle  des  verbums  cuv^X€l 
zu  setzen?  im  hinblick  auf  andere  fälle  glauben  wir  eine  gewisse 
Vorliebe  für  substantivische  ausdrücke  zu  erkennen ,  die  selbst  dem 


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Beiträge  zur  neutestamentlichen  exegese. 


streben  entstammt ,  dem  ausdruck  ein  möglichst  modernes  gewand 
zu  geben,  oder,  anders  ausgedrückt,  den  Schriftsteller  so  reden  zu 
lassen ,  als  wäre  er  einer  unserer  Zeitgenossen,  ob  dies  überhaupt 
möglich  ist  und  ob  es  auch  nur  wünschenswert  ist,  die  kluft,  die 
ohnedies  zwischen  zwei  sprachen  besteht,  bei  einer  Übersetzung  noch 
absichtlich  zu  erweitern,  dürfte  doch  sehr  fraglich  sein,  ein  nachteil 
ist  jedenfalls  mit  dieser  Umwandlung  des  ausdrucks  verbunden,  der 
noch  überdies  der  angenommenen  absieht  widerspricht,  dasz  nem- 
lich  die  spräche  an  natürlichkeit  und  volkstümlichem  gepräge  ein- 
busze  erleidet:  ein  nachteil,  der  nach  unserem  dafürhalten  gerade 
bei  einer  Übersetzung  des  neuen  testamentes,  die  doch  fürs  volk  be- 
stimmt ist,  schwer  ins  gewicht  fällt. 

Wenn  wir  aber  auch  von  diesem  allgemeinen  bedenken  absehen, 
80  fragt  es  sich ,  ob  der  gewählte  deutsche  ausdruck  dem  der  Ur- 
schrift seiner  bedeutung  nach  entspricht,  das  griechische  wort  cuv- 
^X€i  bietet  freilich  auch  selbst  räum  zu  zwei  fei  über  die  richtige 
auffassung  der  bedeutung.  diese  wird  natürlich  nicht  verändert  da- 
durch, dasz  Bunsen  -  Hoitzmann  'dränget'  an  stelle  von  Luthers 
'dringet'  setzt,  dieser  auffassung  stimmen  viele  der  angesehensten 
erklärer  bei,  deren  namen  man  in  Meyers  handbuch  (sechste  aufläge 
neu  bearbeitet  von  Heinrici  8.  165)  verzeichnet  findet.  Heinrici 
selbst  teilt  diese  auffassung  nicht ;  seine  erklärung  lautet:  rcohibet 
nos,  hält  uns  in  schranken,  nemlich  nicht  über  die  mit  Ocw  und 
u.luv  bezeichneten  grenzen  hinauszugehen,  und  etwa  eigne  affecte 
und  interessen  zu  verfolgen.'  auch  diese  erklärung  hat  viele  und 
namhafte  Vertreter,  es  ist  hier  nicht  unsere  aufgäbe,  zwischen  diesen 
beiden  deutungen  uns  zu  entscheiden ,  obwohl  wir  nicht  verhehlen, 
dasz  Bezas  erklärung  Uotos  possidet  ac  regit,  ut  eius  afflatu  quasi 
correpti  agamus  omnia'  sehr  ansprechend  lautet,  hier  handelt  es 
sich  aber  darum ,  zu  ermitteln ,  auf  welcher  auffassung  des  Wortes 
cuv^x^i  Weizsäckers  Übersetzung  fuszt.  zunächst  können  wir  nur 
sagen :  auf  keiner  der  beiden  oben  angeführten ;  denn  keine  von  bei- 
den liesze  die  Christusliebe  als  wahn  erscheinen,  ich  habe  den  aus- 
druck 'Christusliebe'  gebraucht,  weil  dieser  es  ebenso,  wie  der  grie- 
chische, zweifelhaft  läszt,  ob  die  liebe  der  menschen  zu  Christus  oder 
die  liebe  von  Christus  gemeint  ist.  beide  ansichten  haben  ihre  Ver- 
treter ;  Heinrici  entscheidet  sich  aus  beachtenswerten  gründen  für 
die  letztere,  dieser  huldigt  wahrscheinlich  auch  Weizsäcker,  da  er 
andernfalls  doch  wohl  die  präposition  angewendet  hätte,  doch  wollte 
er  diese  frage  vielleicht  auch  unentschieden  lassen,  sei  dem  wie  ihm 
wolle,  die  Schreibweise  Christus'  scheint  uns  am  wenigsten  empfehlens- 
wert; denn  das  willkürlich  zur  bezeichnung  des  genitivs  verwendete 
zeichen  ist  ja  nur  für  das  auge,  nicht  für  das  ohr  wahrnehmbar;  diese 
Schriften  sind  aber  doch  dazu  bestimmt,  nicht  blosz  still  gelesen, 
sondern  auch  laut  vorgelesen  und  gehört  zu  werden,  daher  würde 
ich  beinahe  das  herkömmliche  und  allgemein  verstandene  'Christi', 
so  wenig  auch  im  allgemeinen  die  einführung  lateinischer  casus- 


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Beitrage  zur  neutestamentlichen  exegese. 


287 


endungen  in  deutsche  rede  zu  billigen  ist,  hier  vorziehen,  zulässig 
wäre  auch  in  solchen  fällen ,  wo  im  griechischen  der  artikel  beige- 
fügt ist,  die  volle  Übersetzung  'der  gesalbte*  anzuwenden,  wie  das  zu- 
weilen geschieht  in  der  Verbindung  'der  gesalbte  des  herrn\  Luther 
sagt  dafür  'der  Christ  des  herrn'.  schade,  dasz  dieser  gebrauch,  der 
in  manchen  Zusammensetzungen,  wie  'Christkind,  Christtag,  Christ- 
fest, Christbescherung'  sich  eingebürgert  hat,  nicht  allgemein  durch- 
gedrungen ist,  namentlich  für  die  fülle,  in  welchen  die  bezeichnung 
die  geltung  eines  eigennamens  haben  soll,  es  wäre  dies  ganz  in  Über- 
einstimmung mit  unserem  sonstigen  freilich  keineswegs  folgerichtig 
durchgeführten  Sprachgebrauch ,  in  welchem  »nicht  nur  Homer  und 
Hesiod ,  sondern  auch  Horaz  und  Vergil  heimisch  geworden  sind. 1 
doch  ist  anzuerkennen,  dasz  eine  Schwierigkeit  besteht,  die  in  ver- 
stärktem masze  bei  dem  namen  'Jesus'  wiederkehrt  und  in  ganz  be- 
friedigender weise  wohl  nie  gelöst  werden  wird,  kehren  wir  nach 
dieser  abschweifung  zu  cuv^X€l  zurück  und  fragen  wir,  welche  be- 
deutung  Weizsäcker  dem  worte  gibt,  so  bleibt  uns  nur  die  Vermutung 
übrig,  dasz  derselbe  im  hinblick  auf  das  vorhergehende  dEecrrjjLiev 
das  wort  so  verstand,  wie  im  classischen  sprachgebrauche  auch  KCtT- 
ty€iv  vorkommt,  indem  Kaiexö^evoc  mit  £v6eoc  und  fiaivöinevoc 
und  das  Substantiv  KOTOKUJxr|  mit  jLiavia  verbunden  erscheint,  doch 
würde  auch  dieser  weg  wohl  zu  ' Wahnsinn*  (0eia  |uavia),  nicht  aber 
zu  fwabn',  d.  i.  'falsche  Vorstellung*  führen,  mit  diesem  begriffe 
wissen  wir  in  dem  vorliegenden  Zusammenhang  durchaus  nichts  an- 
zufangen und  gestehen  also,  dasz  all  unser  bemühen,  die  meinung 
und  absieht  des  Verfassers  zu  ergründen,  vergeblich  war. 

So  entschieden  anfechtbar  ist  das  folgende  'mit  dem  Schlüsse* 
allerdings  nicht,  aber  doch  insofern  zu  beanstanden,  als  es  von  der 
Wortbedeutung  des  griechischen  KpivavTac  unnötigerweise  abweicht, 
der  Übersetzer  trägt  seine  auffassung  des  folgenden  satzes  in  den 
gedaukengang  der  Urschrift  hinein,  diesen  gibt  Heinrici  folgender- 
maszen  an:  'der  inhalt  des  Urteils  als  solcher  (Kpwavrac  toöto) 
musz  in  dpa  oi  ndvTec  cWÖavov  liegen,  wovon  das  geschichtliche 
factum  elc  UTrfep  TrdvTUJV  ä7T€0av€V  nur  die  begründende  thatsäch- 
liche  Voraussetzung  ist.'  nicht  darauf  kommt  es  dem  Verfasser  des 
Sendschreibens  an ,  bemerklich  zu  machen ,  dasz  das  urteil ,  um  das 
es  sich  handelt,  auf  dem  wege  eines  logischen  Schlusses  zu  gewinnen 
ist,  sondern  dasz  es  als  einfache  folgerung  (dpa)  aus  der  für  ihn  ge- 
wissen thatsache  sich  ergibt  und  feststeht,  daran  that  der  Übersetzer 
wohl,  dasz  er  zwar  das  üti  der  Urschrift  fallen  läszt,  aber  doch  im 
übrigen  der  rede  die  form  der  beiordnung  gewahrt  hat,  wo  andere 
die  uns  geläufigere  Unterordnung  vorzogen. 

Nicht  frei  von  Schwierigkeiten  für  Verständnis  und  Übersetzung 

1  ja  sogar  *ödip>  wurde  von  dem  berausgeber  einer  tragödie  des 
Sophokles  gewagt,  ein  unterfangen,  das  von  einem  benrteiler  der  aus- 
gäbe gut  gerügt  wurde  mit  dem  bemerken,  dasz,  da  OIMttouc  bekannt- 
lich r8chwellfu8z'  bedeute,  dem  rOdlp'  ein  'schwellt  entsprechen  würde. 


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288  Beiträge  zur  neutestamentlichen  exegese. 

sind  die  vorhergehenden  worte  von  v.  12  an.  ich  erwähne  hier  nur, 
dasz  W.  die  worte  touc  tv  Ttpocumuj  Kauxw^vouc  xai  ufj  dv  Kapbia 
übersetzt:  'die  sich  mit  ihrem  auftreten  rühmen,  und  nichts  im  herzen 
haben.'  hier  scheint  uns  der  gegensatz  zwischen  irpocumov  und 
Kapbia  doch  zu  sehr  verwischt,  bei  ersterem  denkt  der  apostel  doch 
wohl  zu  allernächst  an  die  frommen  mienen  und  geberden,  mit  denen 
dann  wohl  das  übrige  heuchlerische  gebahren  übereinstimmt,  nach- 
teilig für  die  eigen tümlichkeit  des  ausdrucks  ist  auch  der  umstand, 
dasz  der  präposition  £v  bei  beiden  sich  gleich  gegenüberstehenden 
ausdrücken  eine  verschiedene  bedeutung  zugewiesen  wird ,  während 
bei  beiden  das  rein  sinnliche  cin'  oder  'an'  in  das  mehr  geistige  'auf 
grund  dessen'  Ubergeht.  Luther  wahrt  die  Übereinstimmung  des 
ausdmoks  durch  folgende  Übersetzung:  'auf  dasz  ihr  habt  zu  rühmen 
wider  die  so  sich  nach  dem  ansehen  rühmen ,  und  nicht  nach  dem 
herzen.'  im  folgenden  verse  übersetzt  W.  die  worte  €iT€  IHcxrtyiev 
und  €IT€  cuucppovoüfiev :  rsind  wir  von  sinnen  gekommen'  und  'sind 
wir  bei  sinnen',  hier  hält  er  sich  wörtlich  und  lautlich  strenger  als 
die  urschrift  an  den  gegensatz,  was  nur  insofern  bedenken  erweckt, 
als  der  ausdruck  'bei  sinnen  sein'  doch  wohl  nicht  ganz  die  bedeu- 
tung des  griechischen  CUKppoveiv  erreicht,  dieses  wird  zwar  auch 
sonst  im  classischen  Sprachgebrauch  als  gegensatz  von  ^aivccdai 
verwendet,  bewahrt  aber  doch  wohl  auch  in  diesem  gegensatz  seine 
eigentliche  bedeutung  'besonnen'  oder  'vernünftig  sein'. 

3. 

Die  vierte  bitte  im  Vaterunser. 

Von  unbekannter  hand  erhielt  ich  jüngst  von  Dorpat  einen 
durch  den  druck  veröffentlichten  Vortrag  von  Leo  Meyer  'über  die 
vierte  bitte  des  Vaterunsers'  zugesandt. 1  ich  glaube  meinen  dank 
für  diese  wertvolle  gäbe  dem  freundlichen  geber  in  keiner  andern 
weise  besser  kundgeben  zu  können,  als  indem  ich  so  viel  in  meinen 
kräften  steht  auch  in  weiteren  kreisen  auf  diese  schrift  aufmerksam 
mache,  von  der  ich  selbst  vorher  keine  kenntnis  hatte,  sie  verdient 
aber  auch  aus  mehr  als  einem  gründe  allseitige  beachtung.  da  be- 
greiflicherweise von  einer  eingehenden  betrachtung  der  vierten  bitte 
die  frage  nach  der  bedeutung  des  rätselhaften  Wortes  dmoticioc  nicht 
ausgeschlossen  werden  kann ,  so  werden  alle ,  die  dieser  frage  ihre 
aufmerksamkeit  zuwenden  oder  zugewendet  haben,  begierig  sein  zu 
erfahren,  wie  der  berühmte  Sprachforscher,  der  vor  mehr  als  dreiszig 
jähren  bereits  diesem  gegenständ  eine  eigne  abhandlung  gewidmet 
hat,  jetzt  darüber  denkt,  da  aber  die  schrift  nach  form  und  Ursprung 
nicht  ausschliesziich  für  theologen  und  spracbgelehrte  bestimmt  ist, 


2  Tortrag  am  22  jan,  (3  febr.)  1886  in  der  anla  der  univ.  zu  Dorpat 
gehalten  von  Leo  Meyer.  Dorpat,  E.  J.  Karows  Universitätsbuchhand- 
lung. 1886. 


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Beiträge  zur  neutestamentlichen  exegese. 


vielmehr  von  dem  kreis  der  leser  auch  frauen  nicht  ausgeschlossen 
sind,  so  bemerken  wir,  dasz  der  inhalt  im  besten  sinne  des  Wortes 
ein  erbaulicher  ist,  ganz  geeignet  christliche  erkennt  nis  und  christ- 
liche gesinnung  zu  fördern,  ja  es  will  uns  bedünken,  als  dürfte  man 
in  dem  gehaltenen  vortrage  eine  heilsame  frucht  der  bedrängnis, 
welcher  die  evangelischen  glaubensgenossen  in  jenen  landen  zur  zeit 
ausgesetzt  sind,  erblicken,  die  innigkeit  der  religiösen  gesinnung, 
wie  sie  an  mehreren  stellen,  insbesondere  in  dem  das  ganze  gebet 
überblickenden  schluszwort  (s.  20  ff.)  zu  tage  tritt,  erinnert  fast  an 
die  innigkeit  der  Christusliebe,  wie  sie  den  ersten  bekennern  und 
später  noch  oft  in  Zeiten  der  Unterdrückung  den  gläubigen  eigen 
war.  und  darf  ich  auch  von  dem  einflusz  reden,  den  die  darstellung 
auf  die  Überzeugung  der  leser  und  borer  nach  meiner  erfabrung  geübt 
bat,  so  waren  die  frauen,  welche  die  Vorlesung  mit  anhörten,  trotz 
festbegründeter  gewohnheit  der  auffassung  geneigt,  die  ihnen  hier 
dargebotene  und  empfohlene  anzunehmen,  die  läge,  in  die  ich  selbst 
versetzt  wurde,  wüste  ich  nicht  besser  zu  kennzeichnen,  als  mit 
gewissen  werten ,  deren  sich  Kallikles  in  dem  Platonischen  dialog 
Gorgias  dem  Sokrates  gegenüber  bedient :  deine  rede,  lieber  Sokrates, 
dünkt  mich  vortrefflich;  aber,  wie  es  wohl  oft  geschieht,  Uberzeugt 
bin  ich  nicht.8  es  ist  mir  dies  in  doppelter  hinsieht  unangenehm : 
einmal,  weil  ich  überhaupt  nicht  gern  wie  Kallikles  rede  und  denke; 
dann,  weil  der  tröstliche  Zuspruch,  mit  dem  Sokrates  erwidert,  auf 
mich  kaum  eine  anwendung  zuläszt:  wenn  wir  vielleicht  öfter  und 
besser  denselben  gegenständ  betrachten,  wirst  du  überzeugt  werden, 
eher  werden  wir  uns  vielleicht  dahin  einigen ,  dasz  in  einer  frage, 
die  in  einem  so  unsichern  boden  der  erkenntnis  wurzelt,  eine  sichere 
entscheidung  Uberhaupt  nicht  gewonnen  werden  kann. 

Was  uns  an  einer  vollen  und  rückhaltlosen  Zustimmung  hin- 
dert, ist  gerade  die  begründung  der  von  Leo  Meyer  vertretenen  auf- 
fassung der  vierten  bitte,  er  schlieszt  sich  nemlich  der  ansieht  derer 
an,  welche  die  bitte  nicht  auf  leibliche  nahrung  und  sonstige  be- 
dürfnisse  des  leiblichen  lebens,  sondern  auf  geistige  und  geistliche 
speise,  auf  das  brot  vom  himmel,  das  göttliche  wort  bezieben,  so 
viel  ist  unzweifelhaft,  dasz  eine  solche  bitte  mit  dem  inhalt  der  übri- 
gen mehr  übereinstimmen  würde  als  die  bitte  um  die  leibliche  nah- 
ning;  auch  dies,  dasz  sonst  wohl  vom  danken  für  die  gegebene 
speise  vor  dem  genusz  derselben ,  nicht  aber  von  der  bitte  um  die- 
selbe die  rede  ist.  doch  würden  diese  gründe  noch  nicht  ausreichen, 
um  die  bitte  ums  tägliche  brot  als  ganz  unzulässig  erscheinen  zu 
lassen,  wichtiger  ist  schon  der  umstand,  dasz  die  betonung  des 
Wortes  'heute*  bei  Matthäus  oder  'täglich'  bei  Lukas  durch  die  Stel- 
lung am  Schlüsse  des  satzes  so  wenig  begründet  erscheint,  dasz  man 

3  die  äuszerung  verdient  wegen  ihrer  bedeutsamen  eigentUmlichkeit 
in  form  und  inhalt  ihrem  Wortlaut  nach  angeführt  zu  werden,  sie  lautet: 
oök  otb*  övnvd  uoi  xpöirov  bOK€tC  60  ktjtw,  ÜJ  Cumpaxec  •  ir€Trov0a  bt 
tö  twv  iroXXüJV  irdOoc 1  oü  udvu  coi  ircidouai. 

K-  Jahrb.  f.  phil.  u.  pid.  II.  tbt.  1891  hft.  6.  19 


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290 


diese  worte  am  liebsten  ganz  entbehrte,  müste  man  sich  aber  zwi- 
schen beiden  ausdrücken  entscheiden,  so  spreche  die  Wahrscheinlich- 
keit mehr  für  Lukas  als  für  Matthäus,  mit  dieser  ansieht  ganz  ein- 
verstanden glauben  wir  jedoch  bei  der  tiefgreifenden  Verschiedenheit 
der  beiderseitigen  Überlieferung  und  der  Unmöglichkeit,  über  die 
gröszere  oder  geringere  urkundlichkeit  der  einen  und  andern  ein 
wohlbegründetes  urteil  zu  gewinnen,  von  dieser  hier  ohnedies  nicht 
maszgebenden  frage  ganz  absehen  zu  müssen. 

Maszgebend  für  die  auffassung  der  vierten  bitte  ist  die  ent- 
scheidung  über  herkunft  und  bedeutung  des  rätselhaften  tmouetoc. 
fwa8  soll  das  für  ein  brot  sein,  um  das  wir  nach  Christi  besonderer 
an  Weisung  gott  bitten  sollen?  soll  es  tägliches  brot  sein,  oder,  wie 
andere  gemeint  haben,  notdürftiges  brot  oder  ausreichendes  brot 
oder  gar,  wie  exegeten,  die  sich  für  besonders  präcis  halten  wollen, 
in  völlig  absurder  weise  lehren,  brot  für  den  morgenden  tag  oder 
ähnliches?'  dieses  wuchtige  tadelswort,  wünschte  ich,  wäre  unaus- 
gesprochen geblieben,  schon  aus  rücksicht  gegen  gelehrte  wie  Bungen, 
Holtzmann,  Wilibald  Grimm,  es  fügt  sich  wunderlich,  dasz  von  der 
ansieht,  welche  Leo  Meyer  vertritt,  Calvin  urteilt:  'prorsus  absur- 
dum est',  und  Melanchthon  ihren  Verteidigern  'eruditio  et  spirituale 
iudicium  abspricht.4  wir  schlieszen  uns  keinem  von  beiden  urteilen 
an,  wollen  vielmehr  annehmen,  dasz  sie  sich  gegen  einander  auf- 
heben, und  fragen:  wie  begründet  der  Verfasser  seine  auffassung 
sprachlich  ? 

Da  ein  vor  einem  gemischten  zuhörerkreis  gehaltener  Vortrag 
zu  einer  gründlich  eingehenden  Untersuchung  Über  ein  griechisches 
wort,  das,  wie  der  Verfasser  sagt,  'wie  ein  undurchdringliches  ge- 
heimnis,  wie  ein  ganz  unlösbares  rätsel*  vor  uns  liegt,  nicht  räum 
bot,  so  war  es  natürlich  und  geboten,  jene  eingangs  erwähnte 
abhandlung5  aus  früherer  zeit  zum  zweck  der  wissenschaftlichen  be- 
grün dung  beizuziehen,  wer  nun  freilich  eine  voll  gilt  ige  begründung 
der  hier  angenommenen  bedeutung  dort  zu  finden  glaubte,  würde 
sich  insofern  enttäuscht  sehen,  als  die  hier  ganz  entschieden  ver- 
worfene beziehung  auf  die  leibliche  nahrung  dort  festgehalten  wird 
und  somit  der  gegen  die  Vertreter  dieser  ansieht  ausgesprochene 
tadel  unausgesprochen  von  einem  tadelnden  Seitenblick,  um  mit 
Döderlein  zu  reden,  des  Leo  Meyer  maioris  natu  auf  den  Leo  Meyer 
minorem  natu  begleitet  ist.  gleichwohl  aber  verstattet  die  in  vieler 
beziehung  musterhafte  abhandlung  auch  für  den  späteren  Vortrag  noch 
mehrfache  Verwertung,  vorerst  verdient  hervorgehoben  zu  werden, 
dasz  eine  Zusammensetzung  mit  oucia  um  der  bedeutung  willen 
entschieden  abgewiesen  wird ,  womit  wir  ganz  einverstanden  sind. 

4  s.  Meyer-Weiss,  handbuch  s.  175  anm. 

»  ^itioOcioc.  Zeitschrift  für  vergleichende  Sprachforschung  anf  dem 
gebiete  des  deutschen,  griechischen  und  lateinischen,  herausgegeben 
von  dr.  Adalbert  Kuhn,  professor  am  Cölnischen  gymuasium  in  Berlin. 
7r  band,  Berlin  1858,  s.  401—430. 


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Beiträge  zur  neutestamentlichen  exegese.  291 

dagegen  hält  Leo  Meyer  dennoch  an  der  herleitung  von  clvou  bzw. 
dessen  particip  fest  und  entschuldigt  die  regelwidrige  erhaltung  des 
schluszvocals  der  präposition  durch  die  annähme,  dasz  die  neubildung 
nach  dem  vorbild  des  vorkommenden  und  freilich  auch  ganz  berech- 
tigten TiepiOÜCiOC  gebildet  sei,  und  durch  andere  Wortbildungen  des 
attischen  Sprachgebrauchs,  in  denen  dm  in  Zusammensetzungen  vor 
anlautendem  vocal  das  i  bewahrt,  diesem  rechtfertigungsversuch 
setzt  Wilibald  Grimm  in  seinem  lexicon  in  libros  N.  T.  (dritte  auf- 
läge, Leipzig  1888)  den  einwand  entgegen,  dasz  in  den  zusammen 
Setzungen  mit  etvcu  und  den  ableitungen  davon,  wie  dirouctct,  £ttou- 
ciuObnc  das  dm  immer  seinen  vocal  verliert,  und  ist  daher  geneigt 
nach  dem  Vorgang  anderer  seine  zu  flocht  zur  herleitung  von  f)  £m- 
OÜCCt  nemlich  f]uepa  zu  nehmen,  wie  Leo  Meyer  diese  erklärung 
beurteilt,  ist  schon  oben  angedeutet  worden,  könnte  man  das  wort 
'absurd'  im  deutschen  Sprachgebrauch  in  dem  gelinden  sinne  ver- 
stehen, wie  absnrdus  im  lateinischen  in  Verbindung  mit  absonus  und 
mit  ähnlicher  bedeutung  gebraucht  wird,  so  wäre  nicht  viel  dagegen 
einzuwenden ,  da  die  bitte  um  das  brot  für  den  folgenden  tag  von 
dem  ton  und  der  Stimmung  des  ganzen  allerdings  fühlbar  absticht; 
wenn  man  es  aber  so  versteht,  wie  es  im  deutschen  gewöhnlich  ver- 
standen wird,  von  etwas  ganz  sinnlosem  und  unvernünftigem,  so 
w&re  dieses  urteil  so  wenig  am  platze,  dasz  man  eher  sagen  könnte, 
die  bitte  wäre  in  dieser  form  gar  zu  überlegt  und  berechnet,  denn 
denken  wir  uns  leute,  die,  wie  man  sagt,  von  der  hand  in  den  mund 
leben,  oder  wie  die  arbeiter  im  gleichnisse,  die  auf  dem  markte 
stehen  und  warten,  ob  sie  jemand  dinge,  so  ist  doch  wohl  anzu- 
nehmen, dasz  sie  mit  dem  verdienst  des  einen  tage*  den  unterhalt 
für  den  folgenden  tag  beschaffen,  und  wenn  sie  nichts  erwerben, 
auch  am  folgenden  tag  nichts  haben,  indessen  ist  nicht  zu  leugnen, 
dasz  eine  einfachere  bezeichnung  des  zum  leben  notwendigen  an- 
sprechender wäre,  diese  glaubt  Leo  Meyer  dadurch  zu  gewinnen, 
dasz  er  daran  erinnert,  'wie  auszerordentlich  gewöhnlich  bei  allen 
präpositionellen  Verbindungen  oder  redensarten  die  elliptische  oder 
verkürzte  ausdrucksweise  ist.'  er  erinnert  an  beispiele  wie:  'der 
apfel  fällt  ab'  oder  'er  kömmt  an'  u.  a.  dem  entsprechend  «bemerkt 
der  verf. :  (£moücioc  wurde  durch  das  sufflx  10  gebildet  aus  im  und 
övt  und  namentlich  durch  diese  freie  Stellung  erklärt  sich  auch  die 
verbältnismUszig  ungewöhnliche  bewahrung  des  i  von  tni  vor  fol- 
gendem vocal.  sie  konnte  um  so  eher  stattfinden,  als  die  bildung 
des  worts  jedenfalls  eine  verhältnismässig  neue  ist  und  auf  dem  im 
ein  besonderes  gewicht  lag ,  da  ja  das  oücioc  hier  fast  weiter  nichts 
ist,  als  ein  adjectivisches  suffix.  es  kann  daher  t  tu  oücioc  nichts 
anderes  bedeuten,  als  'was  crri  ist*,  um  vorläufig  das  griechische 
wort  zu  behalten,  und  weiter  unten:  es  'ist  leicht  verständlich,  dasz 
das  im  darin  weder  das  des  ortes  noch  das  der  zeit  sein  kann,  son- 
dern nur  das  des  Zweckes,  des  zieles,  der  bestimmung,  der  gemäsz- 
heit,  wie  es  in  vielen  Verbindungen  vorkommt',  die  s.  428  gegebeno 

19  • 

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292 


Beiträge  zur  neutestamentlichen  exegese. 


Übersetzung  lautet:  '«unser  ausreichendes  (das  ist  das  für  unsere  be- 
dürfnisse  ausreichende)  brot  gib  uns  heute»  oder  wohl  noch  besser 
«unser  notdürftiges  brot  gib  uns  heute»,  wie  auch  schon  von  andern, 
z.  b.  von  Ewald  übersetzt  ist.'  es  ist  auffallend,  dasz  der  Verfasser, 
der  von  der  richtigkeit  seiner  erklärung  damals  aufs  festeste  über- 
zeugt war,  in  der  wähl  des  deutschen  ausdrucken  doch  noch  schwankt 
und  sich  zuletzt  für  den  entscheidet ,  den  man  kaum  für  besonders 
glücklich  gewählt  erachten  kann,  denn  c notdürftig*  schlieszt  in 
unserem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  einen  begriff  ein,  der  dem 
bittenden  doch  wohl  fremd  ist.  sagen  wir  von  einem  menschen  'er 
ist  notdürftig  bekleidet',  so  drücken  wir  doch  wohl  aus,  dasz  ihm 
noch  ein  und  das  andere  stück  fehlt  und  zu  gönnen  wäre,  wir  wun- 
dern uns,  dasz  Leo  Meyer  nicht  'zureichendes'  wählte,  wodurch  die 
von  ihm  angenommene  bedeutung  der  präposition  zum  vollen  aus- 
druck  käme. 

Indessen,  nachdem  diese  erklärung  und  Übersetzung  der  urheber 
selbst  wieder  aufgegeben  hat,  brauchen  wir  uns  auch  nicht  weiter 
um  dieselbe  zu  bekümmern,  eingehende  betrachtung  des  ganzen 
gebetes  hat  dem  Verfasser  die  Überzeugung  gewährt,  dasz  es  sich  in 
der  vierten  bitte  nicht  um  leibliche  nahrung,  sondern  um  himmlische 
speise  handle,  der  ausdruck  äpTOC  dmoucioc  wird  in  dieser  hinsieht 
einer  genauen  Untersuchung  unterzogen,  deren  ergebnis  dies  ist,  dasz 
Äpxoc  eine  andere  beziehung  als  die  auf  himmlische  speise  Über- 
haupt nicht  verstattet,  dirioucioc  aber  diese  wenigstens  ebenso  gut 
zuläszt  wie  die  früher  angenommene  auf  die  leibliche  nahrung.  was 
nun  letztere  annähme  betrifft,  so  bleibt  zwar  die  herleitung  von  im 
und  övt  bestehen,  aber  die  früher  ausgeschlossene  örtliche  bedeu- 
tung kommt  jetzt  zur  geltung.  der  verf.  bemerkt  nach  vergleichung 
einzelner  stellen  in  dieser  hinsieht  i  'jener  erste  teil  unseres  adjectiva 
bedeutet  also  «oben  auf,  auf,  oben  über,  über»  und  für  das  ganze 
adjectiv  selbst  gewinnen  wir  auf  dem  einfachsten ,  vorsichtig  abge- 
messenen wege  die  bedeutung  « was  über  etwas  anderem  ist ,  was 
einer  oberen  oder  höheren  region  angehört».'  auf  den  letzten  teil 
der  vorstehenden  behauptung  scheint  sich  die  gerühmte  vorsieht  nicht 
zu  erstrecken,  dasz  dm  sich  auf  das  beziehe,  'was  einer  oberen  oder 
höheren  region  angehört',  dürfte  sich  kaum  aufrecht  erhalten  lassen, 
was  über  den  gebrauch  der  präposition  im  im  voraus  bemerkt  wird, 
rechtfertigt  die  dem  adjectiv  beigelegte  bedeutung  nicht  im  minde- 
sten, und  was  nachher  zur  sachlichen  erörtern  ng  derselben  bei- 
gebracht wird,  muste  eher  bedenken  gegen  die  angenommene  bedeu- 
tung erwecken,  denn  Joh.  8,  23  steht  evc  tujv  övuj  im  gegensatz  zu 
iK  tüjv  KütTiu ,  Kol.  3,  2  Ta  ävw  im  gegensatz  zu  toi  iix\  ttjc  ttic, 
und  Joh.  6,  32,  wo  über  das  brot  vom  himmel  geredet  wird,  da 
heiszt  es  'töv  dpTov  iK  toO  oupavoö,  töv  äpTOV  £k  toO  oupavoö 
töv  äXrjöivöv,  6  äpTOC  toO  öeoü  ö  KOTaßaivtuv  U  tou  oupavoö.' 
man  sieht  also,  dasz  es  der  griechischen  spräche  an  mittein,  zu  denen 
auch  äviuBev  gerechnet  werden  musz,  nicht  gebrach,  die  himmlische 


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Beitrage  zur  neuteßtamentlichen  exegese. 


293 


speise  mit  gebräuchlichen  ausdrücken  zu  bezeichnen,  und  dasz  die 
Verfasser  der  beiden  evangelien  darum  nicht  genötigt  waren  zu  einer 
so  zweifelhaften  neubildung  ihre  Zuflucht  zu  nehmen :  ein  grund,  den 
Leo  Meyer  mit  recht  gegen  die  angenommene  bedeutung  'morgend' 
in  anwendung  bringt. 

Doch  wenn  es  auch  nicht  gelungen  ist,  dem  widerspenstigen 
eirioucioc  die  bedeutung  'himmlisch'  aufzuzwingen,  so  kann  es  doch 
nach  des  Verfassers  Versicherung  hier  in  dieser  Verbindung  keinen 
andern  sinn  haben,  denn  der  im  deutschen  recht  gewöhnliche  ge- 
brauch des  ausdrucks  'brot'  in  erweiterter  bedeutung,  wornach  wir 
z.  b.  von  mittagsbrot  und  von  abendbrot  sprechen,  ohne  an  das  brot 
im  engeren  und  eigentlichen  sinne  auch  nur  zu  denken,  ist,  so  ver- 
sichert der  Verfasser,  dem  entsprechenden  griechischen  wort  (äpTOc) 
ganz  fremd  und  wird  ihm  auch  im  neuen  testamente  nur  völlig  will- 
kürlicher weise  angedeutet  der  letzte  teil  der  behauptung  ist  uns 
natürlich  der  wichtigste ,  zumal  da  der  Verfasser  sehr  gründlich  sta- 
tistisch zu  werke  geht,  das  wort  kommt  im  N.  T.  99  mal  vor,  und 
zwar  41  mal  in  der  mehrzahl.  dasz  in  diesen  stellen  immer  von  brot 
im  engeren  sinne  die  rede  ist,  also  von  broten,  d.h.  gebäcksformen, 
unterliegt  keinem  zweifei;  ebenso  bei  dem  gebrauche  der  einzahl  in 
all  den  stellen,  in  welchen  vom  brotbrechen  die  rede  ist.  ob  nun 
auch  in  allen  andern  stellen,  in  denen  ctproc  vorkommt,  dieses  stets 
entweder  brot  im  engeren  oder  im  übertragenen  sinne,  nemlich 
geistige  speise  bedeutet,  erscheint  zweifelhaft.  Grimm  in  seinem 
lezikon  führt  eine  reihe  von  stellen  an,  in  denen  es  im  erweiterten 
sinne  von  jedweder  nahrung,  sei  es  leiblicher  oder  geistiger,  zu  ver- 
stehen sei.  es  würde  zu  weit  führen,  jede  der  angeführten  stellen 
einer  eingehenden  betrachtung  zu  unterziehen;  es  genügt  zu  be- 
merken, dasz  ich  z.b.  Mark.  6, 8,  wo  man  Uber  den  begriff  des  brotes 
in  engerem  sinne  nicht  hinauszugehen  und  höchstens  den  collectiven 
gebrauch  von  brot  in  beliebiger  menge  anzunehmen  braucht,  für  die 
erweiterte  bedeutung  nicht  in  anspruch  nehme,  dagegen  wird  man 
diese  II  Thess.  3,  8  u.  12  nicht  in  abrede  stellen  können.  Paulus 
rügt  den  unordentlichen  wandel  einzelner  brüder  und  weist  auf  sein 
eignes  verhalten  als  vorbild  hin;  airroi  fäp  oT&OT€,  sagt  er,  .  .  ÖTi 
ouk  rjTaKTrjcauev  Iv  uuiv,  oubfe  öwpeäv  dpiov  d(pdrouev 
Ttapä  tivoc,  äXX*  dv  köttuj  Kai  uöxöw  vuktöc  kgu  fiudpac  £pra- 
£6ü€voi  npöc  tö  urj  £Tnßapn.ca(  Tiva  uuüjv  und  weiter  unten:  toic 
toioutoic  TrapcrrNMouev  Kai  TrapaKaXoüuev  . .  iva  uexd  fjcuxtac 
£pTa£öuevoi  töv  £outwv  äpiov  dcGiwciv.  hier  ist  offenbar 
an  leibliche  nahrung,  und  zwar  nicht  auf  brot  in  engerem  sinne  be- 
schränkt, zu  denken,  aber  wenn  auch  keine  solche  stelle  nachweis- 
bar wäre,  würden  wir  aus  der  auf  die  geistesnahrung  übertragenen 
anwendung  des  wortes  schlieszen,  dasz  es  auch  von  leiblicher  nahrung 
im  weiteren  sinne  gebraucht  werden  konnte,  diese  erweiterung  ent- 
spricht ja  ganz  der  morgenländischen  ausdrucksweise,  von  welcher 
uns  ein  berühmtes  beispiel  in  der  bekannten  stelle  des  Thukydides 


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Beitrage  zur  neutestamentlichen  exegese. 


(I  138)  vorliegt,  dort  beiszt  es  von  Themistokles ,  dasz  er  über  die 
stadt  und  landschaft  Magnesia  geherscht  habe,  6ÖVTOC  ßaciX^wc 
auTiIi  MaTvrjciav  yfev  äptov,  Tipoc€<p€p€  TrevniKOVTa  id- 
Xavra  toö  dviauToö ,  AdjuiyaKo v  bk  otvov  .  .  Muoövra  bk  öujov. 

Wenn  somit  der  Sprachgebrauch  nicht  einen  zwingenden  beweis 
dafür  liefert,  dasz  man  den  ausdruck  töv  fipiov  töv  ^mouciov  im 
gebet  nur  in  geistiger  bedeutnng  verstehen  könne,  so  verdient  eine 
sachliche  erwägung  des  Verfassers  doch  volle  beachtung.  s.  15  lesen 
wir :  'sollen  wir  noch  hervorheben,  dasz  die  bitte  «unser  tftglich  brot 
gib  uns  beute»  in  zahllosen  lagen  des  lebens  ohne  willkürliche  aus- 
deutung  ganz  ohne  bedeutnng  ist,  eigentlich  schon  an  jedem  tage, 
sobald  wir  zu  abend  gegessen  haben?  und  was  sollen  wir  sagen  zu 
den  leidenden,  zu  den  todkranken,  die  vielleicht  auf  ihrem  Sterbe- 
lager ruhen  und  ein  letztes  vaterunser  hervorpressen  ?  sollen  die  die 
vierte  bitte  auslassen,  weil  sie  für  sie  keinen  sinn  hat,  oder  sollen 
sie  sie  traditionell  noch  mitbeten,  obgleich  sie  für  sie  keinen  sinn 
hat?  nein,  zu  aller  zeit  und  in  jedem  moment  und  unter  allen  um- 
ständen ist  die  vierte  bitte  ebenso  voll  berechtigt  und  bedeutend  wie 
jede  andere  im  Vaterunser ,  ja  sie  ist  erst  recht  bedeutend  in  aller 
not  und  bedrängnis  des  lebens.' 

So  schön  und  wahr  dies  gesagt  ist,  besonders  wenn  man  die 
darin  sich  aussprechende  christliche  gesinnung  würdigt,  so  darf  doch 
neben  dieser  erwägung  wohl  auch  noch  eine  andere  platz  greifen, 
bekanntlich  steht  bei  Matthäus  diese  belehrung  über  die  rechte  art 
zu  beten  im  engsten  zusammenhange  mit  der  Weisung  an  die  jünger, 
wenn  sie  beten,  nicht  in  den  schulen  und  an  den  straszenecken 
stehend  ihr  gebet  zu  verrichten,  wie  die  heuchler,  die  von  den  leuten 
gesehen  werden  wollen ,  und  nicht  zu  plappern ,  wie  die  Heiden,  die 
erhört  zu  werden  glauben,  wenn  sie  viel  worte  machen,  sollte  nun 
der  ersten  dieser  beiden  Weisungen  nicht  der  vollständig  entspre- 
chen, der  morgens ,  ehe  er  sein  kämmerlein  verlä ?zt,  sein  gebet  ver- 
richtet? die  Weisung  in  sein  kämmerlein  zu  gehen  und  die  thüre  zu 
verschlieszen ,  ist  eben  vom  Standpunkte  der  vorhergehenden  worte 
gesagt,  die  uns  bereits  aus  dem  hause  hinaus  in  die  Öffentlichkeit 
gefuhrt  haben,  dasz  wir  daher  wohl  zunächst  an  ein  morgengebet 
zu  denken  haben,  in  welcher  auch  der  vierten  bitte  nach  der  gewöhn- 
lichen auffassung  räum  gegeben  ist,  dürfte  kaum  zu  bezweifeln  sein, 
und  da  die  Weisung,  beim  beten  nicht  viel  worte  zu  machen,  auch 
eine  öftere  Wiederholung  des  gebetes  zu  bestimmt  vorgeschriebenen 
tageszeiten  nicht  zu  begünstigen  scheint,  so  dürften  auch  weitere 
bedenklichkeiten  in  dieser  hinsieht  sich  nicht  ergeben,  aber  selbst 
das  von  Leo  Meyer  geltend  gemachte  bedenken,  dasz  die  bitte  in 
dieser  fassung  und  auffassung  schon  für  ein  abendgebet  sich  nicht 
eigne,  gilt  doch  mehr  nur  vom  Standpunkt  unserer  begriffe  als  von 
dem  der  jüdischen  sitte,  die  den  bürgerlichen  tag  von  abend  bis 
abend  rechnete.  Oberhaupt  musz  man  bei  beurteil ung  solcher  Ver- 
hältnisse zeit  und  umstände  wohl  in  anschlag  bringen,  sonst  könnte 


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Beiträge  zur  neutestamentlichen  exegeae. 


295 


man  es  kaum  billigen,  dasz  im  kirchlichen  gebrauch  das  Vaterunser 
als  schluszgebet  dem  agendengebet  beigefügt  zu  werden  pflegt,  aus 
den  worten  des  herrn  liesze  sich  die  berechtigung  dazu  kaum  ent- 
nehmen, das  bedttrfnis  des  gottesdienstes  hat  die  sitte  eingeführt, 
die  unser  gefühl  nicht  verletzt,  sondern  befriedigt,  auch  das  be- 
denken wegen  der  leidenden  und  sterbenden  dürfte  nicht  leicht  zu 
einer  das  gemüt  beschwerenden  Wirkung  führen,  bei  schwerer  krank  - 
heit  sind  es  ja  meistens  andere,  welche  die  gebete  sprechen,  die  der 
kranke  mit  mehr  oder  weniger  be  wustsein  und  herzensteilnahme  an- 
hört dieser  wird  eher,  als  das  ganze  gebet,  eine  einzelne  bitte,  die 
seinem  Herzensbedürfnis  am  meisten  entspricht,  herauspressen,  ja, 
wir  können  uns  umstände  denken  —  wir  brauchen  in  unseren  erin- 
nerungen  nicht  einmal  auf  ein  halbes  jahrhundert  zurückzureichen, 
um  dergleichen  erlebt  zu  haben  —  wo  in  Zeiten  allgemeiner  arbeits- 
stockung  und  weitverbreiteter  verdienstlosigkeit  ein  bekümmerter 
familienvater,  dem  es  von  tag  zu  tag  schwer  wird  den  lebensunter  - 
balt  für  sich  und  die  seinigen  zu  beschaffen ,  oder  eine  arme  wit we, 
die  auch  mit  ihrer  hände  arbeit  sich  und  ihre  kinder  zu  erhalten  hat, 
im  drang  der  not  und  nach  tiefstem  herzensbedürfnis  nur  die  eine 
bitte  hervorbringt:  unser  täglich  brot  gib  uns  heute,  wir  fragen, 
hat  ein  solcher  nicht  vielleicht  mehr  und  wahrhafter  gebetet  als  man- 
cher andere,  der  gewohnheitsmäszig  und  vielleicht  gedankenlos  das 
ganze  gebet  hersagt?  freilich  bestreitet  Leo  Meyer  überhaupt  die 
berechtigung  einer  bitte  um  leibliches  brot,  da  von  einer  solchen  im 
N.  T.  keine  spur  vorkommt,  während  vom  danken  bei  dem  genusse 
der  dargebotenen  speise  öfter  die  rede  ist.  allein  das  argumentum 
ex  silentio  kann  doch  um  so  weniger  als  ein  ausreichender  beweis 
für  das  nichtvorkommen  der  sache  gelten,  als  ein  anlasz  zur  erwäh- 
nung  solcher  Vorgänge  kaum  denkbar  ist.  eher  könnte  man  Sprüche 
30,  8  für  die  bitte  in  diesem  sinne  geltend  machen,  wie  es  auch  ge- 
schehen ist.  anderseits  beruft  sich  der  Verfasser  nicht  blosz  gegen 
die  bitte  um  das  morgende  brot,  sondern  überhaupt  um  irdische 
nahrung  auf  Matth.  6,  31  ff.,  wo  im  nahen  zusammenhange  mit  der 
gebetsmitteilung  die  sorgenvolle  frage  'was  werden  wir  essen?  was 
werden  wir  trinken?  womit  werden  wir  uns  kleiden?*  als  eine  ganz 
ungehörige  bezeichnet  wird,  indessen  möchten  wir  doch  nicht  einen 
beweis  von  Spitzfindigkeit  theologischer  exegese  darin  sehen  ,  wenn 
man  die  bitte  um  das  tägliche  oder  morgende  brot  nicht  in  wider- 
sprach findet  mit  dem  verbot  der  ängstlichen  sorge  um  die  beschaf- 
fang  der  leiblichen  bedürfnisse,  die  ja  so  oft  das  ganze  leben  und 
alles  sinnen  und  trachten  der  menschen  beherscht. 

Somit  glaube  ich  das  ergebnis  der  vorstehenden  erörterung 
dahin  zusammenfassen  zu  können,  dasz  die  richtige  auffassung  der 
vierten  bitte  des  Vaterunsers  noch  nicht  so  festgestellt  ist,  um  jeden 
zweifei  und  jedes  bedenken  auszuschlieszen;  dasz  zwar  die  von  Leo 
Meyer  in  seinem  Vortrag  neuerdings  vertretene  ansieht,  nach  welcher 
als  gegenständ  der  bitte  die  himmlische  nahrung,  deren  wir  täglich, 


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296  Beiträge  zur  neuteBtam entlichen  exegese. 

stündlich  bedürfen,  zu  verstehen  ist,  durch  seine  eindringliche  Behand- 
lung sehr  an  überzeuglichkeit  gewonnen  hat  und  Uberhaupt  durch 
die  gröszere  Übereinstimmung  mit  der  ganzen  baltung  des  gebetes 
sich  empfiehlt  ,  dasz  aber  gleichwohl  viele  die  bitte  um  das  tägliche 
brot  der  leibesnahrung,  an  das  sie  von  jugend  auf  zu  denken  ge- 
wohnt sind,  nicht  werden  missen  wollen;  und  dasz  die  Schwierigkeit 
ein  einverständnis  zu  erzielen ,  das  eine  berichtigung  der  herkömm- 
lichen Übersetzung  verstattete ,  dadurch  erhöbt  wird,  dasz  das  ent- 
scheidende wort  der  griechischen  Urkunde  bisher  beharrlich  allen 
bemühungen  der  Sprachwissenschaft  widerstand  geleistet  hat  dieses 
wort  steht  in  der  that  in  der  griechischen  spräche  da  wie  ein  find- 
ling,  über  dessen  herkunft  und  geschichte  man  nichts  weisz,  der 
auch  selbst  keine  auskunft  über  seine  Verwandtschaft,  über  eitern 
und  geschwister  geben  kann;  er  sieht  aus  wie  andere  menschen- 
kinder,  erinnert  auch  wohl  durch  seine  gesichtszüge  an  diesen  und 
jenen  bekannten,  aber  niemand  findet  sich ,  der  ihn  als  angehörigen 
anerkennt  und  zu  sich  nimmt. 

Doch  soll  auch  diese  ansieht  nicht  ohne  vorbehält  ausgesprochen 
werden  für  den  fall,  dasz  seitdem  es  gelehrter  forschung  wirklich 
gelungen  sein  sollte  das  rätsei  endgiltig  zu  lösen  und  damit  jeden 
zweifei  und  Widerspruch  auszuschlieszen.  zu  dieser  vorsieht  sehe  ich 
mich  um  so  mehr  veranlaszt,  als  ein  jüngst  in  dieser  Zeitschrift  ver- 
öffentlichter aufsatz  von  Friedrich  Wilhelm  Münscher  gew isser maszen 
unmittelbar  an  meine  adresse  gerichtet  ist.  der  verf.  nimmt  meine 
erörterung  über  emoucioc  zum  beweise,  'dasz  die  überaus  gründ- 
liche, allseitige  und  im  wesentlichen  abschlieszende  Untersuchung 
über  die  ableitung  und  bedeutung  jenes  wortes,  welche  auf  der  von 
Leo  Meyer  .  .  gelegten  grundlage  A.  Kamphausen  («das  gebet  des 
herrn,  erklärt»,  Elberfeld  1866  s.  86—102)  angestellt  hat,  in  wei- 
teren kreisen  noch  nicht  genügend  bekannt  geworden  ist',  hätte  er 
mir  doch  seinen  oheim  Friedrich  Münscher  zum  genossen  gegeben, 
dem  ich  sogar  den  vortritt  nicht  hätte  streitig  machen  können  und 
wollen,  hätte  sich  nun  wohl  das  griechische  Sprichwort  'cuv  T€  bu' 
epxojae  vuu'  kt£  an  uns  nicht  bewähren  können,  so  hätte  um  so  mehr 
das  gemütvolle  deutsche  seine  anwendung  gefunden:  'geteiltes  leid, 
halbes  leid ,  geteilte  freu  de ,  doppelte  freude',  ersteres  um  der  nach- 
gewiesenen Versäumnis  willen,  letzteres  in  hinsieht  auf  die  empfan- 
gene belehrung.  gleichwohl  fühle  ich  mich  dem  Verfasser  zu  dank  ver- 
pflichtet, den  ich  durch  vorstehende  erörterung  glaube  thatsächlich 
erstattet  zu  haben,  denn  es  scheint,  dasz  der  Vortrag  von  Leo  Meyer 
'über  die  vierte  bitte  des  Vaterunsers*  in  weiteren  kreisen  auch  nicht 
genügend  bekannt  geworden  ist.  vielleicht  nimmt  F.  W.  Münscher 
anlasz,  die  bedeutung  des  fraglichen  wortes  aufgrund  der  neuen 
erklärung  Leo  Meyers  einer  erneuten  prtifung  zu  unterziehen  und 
dadurch  die  wissenschaftliche  erkenntnis  zu  fördern,  freilich  musz 
diese  sich  bisweilen  auch  mit  dem  ergebnis  begnügen,  zu  bewahren 
vor  dem  wahne  zu  wissen  was  man  nicht  weisz.    fehlt  es  doch 


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Beiträge  zur  neutestamentlicben  exegese. 


297 


auch  unserem  deutschen  Wortschatz  nicht  an  Wörtern  dunkeln  Ur- 
sprungs ! 

Schlie8zlich  bemerke  ich  noch ,  dasz  F.  W.  Münscher  mir  bei- 
stimmt in  der  ansieht,  dasz  für  den  täglichen  gebrauch  eine  änderung 
in  dem  Wortlaut  des  gebetes  sich  nicht  empfiehlt,  der  gleichen  an- 
sieht gab  auch  Leo  Meyer  in  der  abhandlung  über  dmoucioc  aus- 
druck.  ob  er  noch  jetzt  dieser  ansieht  ist,  wage  ich  nicht  zu  ent- 
scheiden. 

Ehe  vorstehendes  zum  abdruck  gelangte,  erschien  Rothes  «noch- 
mals £mouctoc»  im  lln  heft  des  vorigen  Jahrganges  dieser  Zeitschrift 
s.  586  f.  da  ich  bei  dieser  frage  nun  doch  auch  einigermaszen  be- 
teiligt bin,  so  sei  es  mir  verstattet,  hier  anhangsweise  meine  ansieht 
über  diesen  neuesten  erklärungsversuch  auszusprechen. 

Kothe  verwirft  die  herleitung  von  dTTi-ewai  und  läszt  nur  die 
von  en-ievai  gelten,  dieses  bedeute  sequi,  tmaiv  also  sequens  und 
dmoücioc  secundus.  durch  Vermittlung  der  lateinischen  spräche  ge- 
langt K.  zu  der  bestimmung  des  apioc  emoücioc  als  panis  secundus 
(secundarius).  dieses  sei  nun  das  gerstenbrot,  das  gewissermaszen 
als  mittelbrot  bezeichnet  werden  dürfe,  denn  Weizenbrot  wurde  nur 
von  reicheren  und  als  festspeise  genossen,  während  die  geringeren 
leute  sich  mit  kleienbrot  begnügten,  d.  h.  mit  solchem  brot,  bei  dem 
die  hülsen  nicht  ausgeschieden  waren,  hier  zu  lande  auch  spelziges 
brot  genannt  und  nicht  für  jeden  magen  verdaulich,  bezüglich  des 
gerstenbrotes  bemerkt  der  verf.,  dasz  es  wohlschmeckend  und  nahr- 
haft war  und  nach  einer  angäbe  Suttens  vom  kaiser  Augustus  mit 
Vorliebe  gegessen  wurde,  wie  auch  Horatius  (epst.  II  1,  123)  mit 
seinem  panis  secundus  nicht  die  armut,  sondern  die  einfachheit  des 
dichters  habe  bezeichnen  wollen,  schlieszlich  sucht  der  verf.  seine 
erklärung  im  voraus  gegen  zwei  einwendungen,  die  erhoben  werden 
könnten,  zu  rechtfertigen,  nemlich  erstens,  dasz  der  ausdruck  zu 
realistisch,  und  zweitens  dasz  er  zu  eng  bezeichnet  sei.  ersteres 
spreche  nicht  gegen  ihn ,  da  Christus  gern  die  erhabensten  begriffe 
an  die  alltäglichen  dinge  knüpfe;  der  zweite  umstand  komme  darum 
nicht  in  betracht,  weil  die  zwei  worte  doch  nur  einen  begriff  aus- 
drückten, der  für  den  kleinen  mann  in  Palästina  das  bezeichnete, 
was  wir  'brot*  nennen. 

Gegen  letztere  bemerkung  erhebt  sich  nun  aber  doch  ein  ge- 
wichtiges bedenken,  im  griechischen  sind  es  eben  doch  zwei  worte, 
deren  eines  nach  K.  dazu  bestimmt  ist,  die  beschaffenheit  des 
gegenständes,  den  das  andere  ausdrückt,  zu  bezeichnen;  denn  im- 
oucioc  soll  ja  secundarius  bedeuten,  das  noch  durch  die  Stellung 
nach  dem  Substantiv  mit  Wiederholung  des  artikels  sogar  nachdrück- 
lich ins  gewicht  fällt,  die  bitte  ist  also  dann  doch  jedenfalls  auf 
brot  zweiter  sorte,  auf  gerstenbrot  gerichtet,  und  soll  es  sein,  sie 
versteigt  sich  nicht  zu  Weizenbrot  oder  kuchen,  schlieszt  aber  doch 
auch  geradezu  das  brot  dritter  Sorte  aus.  die  geringeren  leute ,  die 


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Beiträge  zur  neutestamentlichen  exegese. 


doch  auch  wohl  diese  bitte  vor  ihren  himmlischen  vater  bringen 
dürfen,  die  sich  mit  ihrer  \iaZa,  ihrem  hausbrot  zu  begnügen  hatten, 
würden  um  eine  bessere  sorte  bitten,  die  auch  dem  kaiser  Augustus 
mundete,  mit  welcher  der  herr  die  fünftausend  in  der  wüste  speiste, 
da  ihm  gerade  fünf  gerstenbrote  zur  Verfügung  standen,  aber  auch 
abgesehen  von  den  geringeren  leuten,  würden  nicht  auch  die  aus 
dem  mittelst ande,  die  für  gewöhnlich  gerstenbrot  aszen,  sich  einer 
unbescheidenheit  schuldig  machen,  wenn  sie  in  ihrer  bitte  gerade 
diese  sorte  bezeichneten?  die  reichen  lassen  wir  ebenso  wie  die 
sklaven  auszer  betracht,  da  weder  die  einen  noch  die  andern,  sei 
es  nach  dem  bericht  des  Matthäus  oder  des  Lukas ,  unter  den  Zu- 
hörern werden  gewesen  sein,  wenn  sie  auch  nicht  als  ausgeschlossen 
von  diesem  gebete  betrachtet  werden  sollen,  immerhin  aber  er- 
scheint die  bezeichnung  einer  besondern  sorte  des  brotes  in  einer 
gebetsbitte  unschicklich,  sie  erinnert  mich  an  einen  brauch,  wel- 
cher zu  der  zeit,  als  in  Süddeutschland  noch  die  gülden  Währung 
bestand  und  der  straszenbettel  noch  mehr  im  schwänge  war  als 
heutzutage,  nicht  selten  vorkam,  nemlich  dasz  bettler,  vornehm- 
lich kinder,  die  vorübergehenden  ansprachen  mit  den  worten: 
'schenkend  mir  auch  ein  kleins  kreuzerle.'  das  lautete  auch  be- 
scheiden, denn  der  kreuzer,  die  kleinste  silbermünze,  war  in  der 
that  recht  klein  seinem  umfange  nach,  aber  seinem  werte  nach  doch 
viermal  so  grosz  als  der  kupferpfennig,  den  die  damals  übliche  mild- 
thütigkeit  als  straszenalmosen  zu  spenden  pflegte. 

Wenn  nun  der  v  er  f.  jede  erklärung  des  fraglichen  Wortes,  die 
einen  zeitbegriff  hineinlegt,  als  einen  pleonasmus  enthaltend  von 
vorn  herein  abweisen  zu  müssen  glaubt,  so  glaube  ich  mit  mehr 
recht  noch  jede  deutung,  die  eine  qualitätsbezeichnung  ausdrückt, 
aus  den  angegebenen  gründen  als  ganz  unzulässig  ansehen  zu  müssen.6 
was  aber  den  pleonasmus  betrifft,  so  ist  dieser  ja  doch  nicht  unbe- 
dingt zu  verwerfen,  kommt  diesem  ja  doch  schon  der  allgemeine 
grundsatz  'superflua  non  nocent'  zu  gute,  überdies  machen  ja  die 
besten  Schriftsteller,  dichter  wie  prosaiker,  vorkommendenfalls  davon 
gebrauch,  hier  in  dem  besondern  falle ,  was  läge  unschickliches  in 
der  bitte :  gib  uns  heute  unser  heutiges  oder  morgendes  oder  auch 
täglich  unser  tägliches  brot,  d.  h.  das  wir  heute  und  morgen  und 
jeden  tag  bedürfen  zu  unseres  leibes  erhaltung?  wäre  nur  die  her- 
leitung  des  Wortes  so  klar  gestellt,  dasz  eine  dieser  deutungen  sich 
mit  voller  Sicherheit  ergäbe ! 

Sollte  aber  diese  der  verf.  für  seine  deutung  auch  ferner  in  an- 
spruch  nehmen,  so  würden  wir  uns  den  Vorschlag  erlauben,  als  brot 
zweiter  sorte  das  anzusehen ,  das  er  als  dritte  sorte  bezeichnet  und 
kleienbrot  benennt,  denn  da  Weizenbrot  doch  mehr  als  kuchen  und 
fest  speise  angesehen  wurde,  so  kann  es  billigerweise  unter  den 


6  wie  ungeeignet  wäre  der  im  deutschen  etwa  entsprechende  aas- 
druck 'unser  Schwarzbrot  gib  uns  heute*. 


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A.  Gerber  u.  A.  Greef:  lexicon  Taciteum. 


299 


eigentlichen  brotarten,  wo  es  sich  um  die  tägliche  nahrang  handelt, 
auszer  ansatz  bleiben,  hier  ist  also  das  sorgfältig  bereitete  wohl- 
schmeckende gerstenbrot  auch  für  wohlhabende  in  Wahrheit  brot 
erster  sorte.  von  diesem  unterscheidet  sich  das  zweiter  sorte  nur 
dadurch,  dasz  es  von  schlechterer  mache  ist,  indem  es  nicht  aus  ge- 
reinigtem gerstenmehl,  sondern  aus  geschrotener  gerste  bereitet 
wurde  und  darum  spelzig  war.  doch  sei  nicht  verschwiegen,  dasz  die 
erklarer  des  Horaz,  die  mir  dermalen  zugänglich  sind,  an  der  oben 
bezeichneten  stelle  alle  von  panis  siligineus  als  erster  sorte  ausgehen. 

Schließlich  noch  eine  frage!  wen  hat  K.  wohl  im  äuge  bei 
der  bemerkung,  ff  ^mouca  sei  nicht  blosz  der  anbrechende  tag,  son- 
dern der  folgende  tag  in  seiner  ganzen  ausdehnung  ?  sollte  dieser 
bemerkung  vielleicht  ein  misverständnis  zu  gründe  liegen? 

AüOSBüRO.  Christian  Cbon. 


28. 

lexicon  Taciteum  ediderünt  A.  Gerbeb  et  A.  Greef.  fasci- 
culum  viii  edid.  A. Greef.  Lipaiae  inaedibusB.G.Teubneri.  1890. 

Seit  dem  tode  des  wackeren  mitarbeiten  an  diesem  werke  liegt 
die  gesamte  last  der  arbeit  allein  auf  den  schultern  Greefs  (Gr.). 
man  hat  klagen  vernommen,  dasz  das  werk  so  langsam  fortschreite, 
ja,  wir  alle  wünschten  wohl,  das  lexikon  vollständig  vor  uns  zu 
haben,  fanden  wir  doch  alles  das  uns  vorbereitet  dargeboten,  was 
wir  uns  jetzt  zum  teil  noch  selber  mühsam,  und  doch  immer  auf  die 
gefahr  hin,  etwas  übersehen  zu  haben,  zusammen  suchen  müssen, 
alle  solche  wünsche  zeugen  an  sich  schon  für  die  vortrefflich keit 
des  lexikon,  aber  doch  musz  ruhige  Überlegung  sich  die  unend- 
lich mühevollen  vorarbeiten  vergegenwärtigen ,  die  nicht  blosz  auf 
Seiten  des  Verfassers,  sondern  auch  der  verlagshandlung  liegen, 
greifen  wir  nur  die  rein  äuszerliche  seite,  die  correctur,  heraus, 
wenn  irgendwo  musz  doch  bei  einem  solchen  buche  jedes  versehen 
zur  bezeichnung  der  tausenden  von  stellen  vermieden  sein,  und  wir 
müssen  gestehen,  es  ist  auch  hierin  erstaunliches  geleistet,  wir  haben 
in  dieser  beziehung  bei  ziemlich  genauer  durchsieht  dieses  vorliegen- 
den 8n  bandes  auch  nicht  ein  einziges  beispiel  falscher  angäbe  ge- 
funden, dasz  die  bezeichnung  der  stellen  in  den  zeilangaben  unter 
verschiedenen  artikeln  oftsmals  verschieden  angegeben  ist,  ist  selbst- 
verständlich eine  notwendige  folge  des  jedesmal  in  demselben  bei- 
spiele  betonten  wortes.  auch  druck  fehler  sind  uns  nur  in  verschwin- 
dend geringer  zahl  aufgestoszen,  ich  notiere  dieselben  hier  sogleich. 
8. 818  b  z.  28  v.  u.  crederent  statt  crederes ;  s.  905  b  z.  28  v.  u.  ne  longius 
subsidium  et  vim  statt  obsidium.  dazu  rechne  ich  auch  s.895a  z.  15 
v.  u.  secuntur  statt  sequuntur;  vielleicht  auch  8.  850*  z.  34  v.u.  ad 
satis  faciendum ,  obschon  Hlm.  die  trennung  aufrecht  erhalten  hat. 


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300 


A.  Gerber  u.  A.  Greef :  lexicon  Taciteum. 


dasz  Gr.  die  beiden  Florentiner  codd.  nicht  durch  M  und  Ma  unter- 
scheidet, geschieht  wohl  der  abkürzung  wegen,  er  schreibt  nur  M. 
hier  und  da  treffen  wir  ein  set  (z.b.  s.872a)  statt  des  sonstigen  sed. 
Gr.  schreibt  stets  exiin  (s.s.422b),  obschon  der  berufene  corrector 
der  handüchrift  M  wiederholt  durch  correctur  ex  in  als  die  Schreib- 
weise fies  urcodex  bezeugt  hat. 

Unter  Miraculum  s.843*  fehlt  bei  I  27, 15:  milites  in  itinere 
adgregantur . .  pars  clamore  et  g  a  u  d  i  i  s  die  angäbe,  dasz  in  Ma  clamore 
et  gladiis  stehe,  auch  Mll. hat  diese  erwähnung  unterlassen,  vielleicht 
in  der  irrigen  annähme ,  die  jahrhnnderte  giltige  änderung  Pichen.s 
könne  nicht  mehr  erschüttert  werden,  und  doch  hält,  soviel  ich 
weisz,  jetzt  auch  Gr.  meine  Verteidigung  des  gladiis  für  begründet. — 
Zu  ende  des  artikels  Militia  fügt  Gr.  hinzu:  '[III  18,  10  Ritter]', 
dort  lautet  die  handscbrift:  quos  militie  legionariis  .  .  aequabant. 
hier  hätte  auszer  auf  Rtt,  der  militia  e  vorschlug,  auf  Legiona- 
rius  verwiesen  werden  müssen,  wo  die  conjectur  von  Dübn.  (jetzt 
allgemein  vorgezogen)  multi  e  angegeben  ist ,  der  hinweis  auf  die 
handschrift  fehlt  dort  allerdings,  ebenso  auch  bei  Mll.  ebenfalls 
unter  Militia  s.  839 ■  finden  sich  zugleich  zwei  abweichungen  von 
früherer  entscheidung,  I  87,  7:  facta  et  ceteris  spe  honoratioris 
in  posterum  militiae,  dagegen  unter  Honoro  8.534:  facta  et  ceteris 
spes  honoratae  [(a.  b.)  Her.  honoratioris]  in  posterum  militiae. 
eine  ähnliche  abweichung  findet  sich  unter  Et  s.  401*:  I  85,  6  et 
privato  Othoni  nuper  atque  eadem  timenti  nota adulatio,  dagegen 
unter  Dico  8.  287 a:  privato  Othoni  atque  eadem  dicenti  nota 
adulatio.  wahrscheinlich  mögen  sich  solche  Verschiedenheiten  in  den 
früheren  heften  mehrere  finden,  sie  beruhen  selbstverständlich  in 
einer  verschiedenen  auffassung  verschiedener  bearbeiter ,  oder  auch 
in  den  abweichungen  der  3n  und  4nHalmschen  ausgäbe  von  einander. 

Die  bemerkung  Wlff.s  (wochenschr.  f.  class.  phil.  1890  n.  47)  in 
bezug  auf  die  gruppierung  der  einzelnen  stellen  nach  der  Wortbedeu- 
tung kann  ich  nicht  ganz  unbegründet  erachten,  ich  würde  z.b.  unter 
einer  rubrik  des  warnenden  Ne  die  stellen  I  85  ne  contumax  Silen- 
tium, ne  suspecta  libertas  und  1,  7  ne  laeti  excessu  principis,  neu 
tristiores  primordio  sowie  Germ.  19  ne  ulla  cogitatio  ultra,  ne  lon- 
gior  cupiditas,  ne  t  am  quam  maritum,  sed  tamquam  matrimonium 
ament  u.  a.  st.  lieber  neben  einander  sehen,  ohne  jedoch  die  berech- 
tigung  der  von  Gr.  gewählten  einteilung  zu  bekritteln,  es  läszt  sich 
in  allen  solchen  fällen  nicht  alles  zugleich  erreichen,*  und  alle  etwaigen 
wünsche  nach  gröszerer  Vollkommenheit  sind  nicht  im  stände,  den 
dank  für  die  gäbe  in  der  gestalt,  wie  sie  uns  jetzt  vorliegt,  und  wie 
sie  eine  frucht  deutschen  fleiszes  und  eine  perle  deutscher  Wissen- 
schaft ist,  irgendwie  abzuschwächen. 

Bisweilen  ist  mir  Gr.  in  seiner  sonst  so  hoch  anzuerkennenden 
genauigkeit  oder  wenn  man  will  gerechtigkeit  gegen  die  bandscfar. 
zu  peinlich,  so  z.  b.  wäre  es  unter  dem  artikel  Murus  gar  nicht 
nötig,  auf  das  unmöglich  zu  verkennende  glossem  III  20,  13  machi- 


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A.  Gerber  u.  A.  Greef :  lexicon  Taciteum. 


301 


namenti  genus  ad  expugnandos  muros  in  modum  turrium  factum, 
(der  abscbreiber  hat  ebenfalls  am  schlusz  gewissenhaft  den  verdäch- 
tigenden punkt  gesetzt)  rücksicht  zu  nehmen,  ich  würde  es  auch 
nicht  für  geboten  erachten,  solch  ungeheuerliche  correctur,  wie  sie 
sich  Her.  zu  I  71,  10  erlaubt  hat,  zu  berücksichtigen  trotz  der  Zu- 
stimmung Npp.s  und  Pr.s  (Ma:  ne  hostes  metueret,  conciliationis 
adhibens,  dafür  Her. :  deos  testes  mutuae  reconciliationis  adhibens), 
denn  dieseB  mutuae  hat  in  einem  lexic.  Tacit.  als  falsche  wäre 
keine  berechtigung ,  die  ihr  Gr.  durch  schluszhinzufügung  zu  Mu- 
tuus  '[Heinsius,  Her.  Nipp.  I  71,  10]'  hat  zu  teil  werden  lassen. 

Gr.  hat  sein  lexikon  in  anzuerkennender  weise  zu  einem  förm- 
lichen commentar  des  Tac.,  zu  einem  vollkommenen  schulbuche 
gemacht,  er  gibt  in  unzähligen  fällen  und  wo  es  sich  etwa  um  ver- 
schiedene auffassungen  handelt,  ausnahmslos  die  beste  deutsche 
Übertragung;  wo  er  solche  in  den  erklärenden  ausgaben,  oder  sonst 
irgendwo,  vorfand,  wählte  er  diese  mit  beifügung  des  betreffenden 
namen,  im  übrigen  nach  eignem  ermessen,  einzelne  artikel  lassen 
sich  in  dieser  beziehung  gar  nicht  herausgreifen ,  sie  sind  durchweg 
zu  finden,  nur  an  verhältnismäszig  wenigen  stellen  erlaube  ich  mir, 
eine  abweiohende  erklärung  geltend  zu  machen. 

Zunächst  eine  stelle,  die  eine  erklärung  überhaupt  vermissen 
läszt.  Militaris  s.  837 b  16,  27,  4:  ad i tum  senatus  globus  toga- 
torum  obsederat  non  occultis  gladiis.  wer  sind  hier  togati?  keiner 
bat  darauf  antwort  gegeben ,  nur  Roth  übersetzt  f  bürger'  und  Böt- 
ticher  'männer',  Drg.  scheint  ähnlicher  ansieht  zu  sein,  aus  wel- 
chem gründe  aber  sollten  sich  die  cives  bei  einem  processe  des 
Tbrasea  in  der  angedeuteten  weise  in  ihrem  verhalten  beteiligt  haben? 
—  Die  vorweg  erwähnten  duae  praetoriae  cohortes  armatae  weisen 
auf  dengegensatz  praetoriae  cohortes  togatae  hin,  d.  b.  die  gerade 
den  wachedienst  habenden  cohorten,  und  diese  hatten  den  eingang 
der  curie  besetzt,  keine  cives,  sondern  ebenfalls  milites  'eine  schar 
der  palastwache'. 

Mol  es.  8.  857*  Agr.  17,  8  'sustinuit  molem  (sc.  ingruentis 
belli)  Frontinus';  nach  m.  e.  bezog  sich  'die  schwierige  aufgäbe'  des 
Frontinus  nicht  auf  die  damalige  politische  läge  Britanniens,  sondern 
auf  die  im  vorangehenden  bezeichnete  schwere  last,  die  ein  ausge- 
zeichneter Vorgänger  im  amte  dem  nachfolger  bereite,  der  allerdings 
Frontinus  gewachsen  war,  wie  kein  anderer. 

Mut o.  s.  888 b  II  80, 19  'Suriacis  legionibus  (i.  e.  a  8.  L)  Ger- 
manica hiberna  .  .  mutarentur';  die  syrischen  legionen  waren  bei 
diesem  intendierten  tausche  rein  passiv,  Vitellius  sollte  es  befohlen 
haben,  daher  erscheint  Suriacis  legionibus  richtiger  als  bloszer  dativ, 
'für'.  —  I  76,  7  'nusquam  fides  aut  amor  (sc.  pro  v  in  darum  et  exer- 
cituum),  metu  ac  necessitate  huc  illuc  mutabantur.  Prammer  pro 
subi.  aeeepit  <onines»\  ich  glaube,  Pr.  hat  recht,  indem  er  hinzu- 
fügt, omnes  sei  aus  nusquam  zu  entnehmen. 

Medius.  s.  818*  12,  57,  3  'ineuria  operis  manifesta  fuit  haud 


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302 


A.  Gerber  u.  A.  Greef :  lexicon  Taciteum. 


satis  depressi  ad  lacus  ima  vel  media  [Acid.,  Nipp.  dol.  vel  media]', 
es  liegen  nur  recht  unklare  (Roth  und  Bötticher)  oder  ganz  falsche 
auffassungen  und  behauptungen  (Drg.  Andr.)  dieses  vel  media  vor. 
Gr.  enthält  sich  jeder  entscheidung.  man  faszt  media  in  Örtlicher 
bedeutuug  als 'die  mitte  des  wasserbassins*  auf,  wo  'erfahrungsmäszig 
die  gröste  tiefe  zu  sein  pflegt',  in  dem  vorliegenden  falle  war  der 
abzugskanal  (opus)  in  Verhältnis  (ad)  zu  der  grösten  (ima),  selbst 
(vel)  mittleren  (media)  tiefe  des  sees  nicht  tief  genug  gegraben  (band 
satis  depressi). 

Met us.  8.  827  b  II  19, 11  metum  ac  discrimen  ostendere  würde 
ich  lieber  mit  Wlff.  'sie  wiesen  auf  die  gefahr  hin,  welche  sie  zu  be- 
fürchten hätten',  als  mit  Gantr.:  eils  manifestaient  leurs  craintes  et 
montraient  les  dangers'  erklären. 

M  i  litis,  s.  838 b  I  31  Longinum  exsrmsnt,  quia  non  ordine 
militiae .  .  erst  erklärt  Gr.  nach  MU.s  allgemein  angenommener  auf- 
fassung  'infolge  seiner  militärischen  Charge  als  officier',  dagegen 
I  38  rapta  .  .  arma  sine  more  et  ordine  militiae  ri.  q.  militärische 
dienstordnung'.  s.  n.  jahrb.  f.  class.  phil.  2e  abt.  1889  heft  10,  wo 
auf  die  äuszere  gegen  die  'militärische  dienstordnung'  yerstoszende 
erscbeinung  des  Longinus  (togatus)  hingewiesen  ist.* 

Misceo.  8.  844 b  III  69,  16:  Sabinus  .  .  arcem  Capitolii  in- 
sedit  mixto  milite  et  quibusdam  senatorum  equitumque.  Tac.  braucht 
mixtus  auch  in  der  bedeutung  'untermischt'  (s.  I  32  plebs  Palatium 
implebat  mixtis  servitiis,  'mit  untermischten  sklaven';  II  14  pars 
classicorum  mixtis  paganis) :  dagegen  das  absolute  mixtus  miles  be- 
zeichnet mannschaftcn  verschiedener  truppen-  und  Waffengattung, 
s.  III  21  milites  mixti  per  tenebras,  ut  fors  tulerat.  somit  kann  an 
obiger  stelle  mixto  milite  nur  die  Vermischung  der  milites  urbani 
und  der  vigiles,  die  hier  invbetracht  kommen  (cap.  69  omnis  miles 
urbanus  et  vigiles),  bezeichnen,  wie  auch  Gr.  richtig  erklärt,  dagegen 
unklar  Wlff. :  f mit  seiner  mannschaft,  welcher  sich  einige  Senatoren 
und  ritter  anschlössen',  in  den  das  reflexive  misceri  'sich  mischen 
mit  jemandem'  (dat.,  nicht  abl.)  betreffenden  stellen  I  74,  12  prae- 
toriani  .  .  remissi,  antequam  legionibus  miscerentur;  I  63,  13  Tre- 
veri  ac  Lingones  . .  hibernis  legionum  propius  miscentur,  'sie  traten 
in  nähere  berührung'  (Wlff.) ,  'in  näheren  verkehr  mit'  (Her.) ,  bat 
Gr.  sich  richtig  entschieden,  doch  I  38,  15  (s.  844 b)  kann  ich  ihm 


*  erst  nachträglich  ist  mir  der  letzte  Jahresbericht  Andr.s  bekannt 
geworden.  Andr.,  wenn  ich  mich  recht  eriunere,  aagt,  dasz  er  meine 
Bemerkung  über  das  auftreten  des  Longinns  nicht  verstehe,  vielleicht 
genügt  der  hin  weis  auf  die  in  der  toga  (togati)  aufziehende  palastwacbe, 
als  deren  augenblicklicher  tribunus  Longinus  zu  denken  ist.  die  schein- 
bar leichtfertige  weise,  in  der  Andr.  meine  Verteidigung  des  handschriftl. 
Psaulos  abzulehnen  sucht,  darf  ich  übergehen,  so  lange  es  ihm  beliebt, 
in  der  'Sackgasse',  in  der  ich  ihn  festgenagelt  habe,  stecken  zu  bleiben, 
zugleich  benutze  ich  die  gelegenheit,  seine  behauptung  gegen  Greef  in 
bezug  auf  plures  und  complures  ebenso  auffallend  zu  bezeichnen,  als 
Greef  und  andere. 


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A.  Gerber  u.  A.  Greef :  lexicon  Taciteum.  303 

nicht  beistimmen:  rapta  statim  arma  sine  more  et  ordine  militiae, 
nt  praetorianus  aut  legi onarius  insignibus  suis  distingueretur :  miscen- 
tur  auxiliaribus  galeis  scutisque  (abl.  caus.  wie  II  80,  21  necessitu- 
dinibus  et  propinqnitatibus  mixti).  die  prätorianer  und  legions- 
soldaten  (d.  i.  leg.  classic,  s.  cap.  36)  rafften  ohne  wähl  sich  ihre 
bewaffnung,  doch  'gerieten  sie  nicht  durch  einander*  (Gr.),  sondern 
jede  tmppengattong  blieb  getrennt  von  der  andern ,  aber  sie  beide 
hatten  in  ihren  eignen  reihen  durch  die  verschiedenen  helme  und 
Schilde  ein  buntscheckiges  aussehen,  der  eine  soldat  hatte  die  ihm 
wirklich  zukommende  bewaffnung,  sein  nebenmann  die  ihm  fremd- 
artige auxiliarbewaffnung.  auf  dieses  auseinanderbleiben  der  beiden 
betreffenden  truppengattungen  hätten  Walther,  Her. ,  Wlff.  in  ihrer 
erklärung:  'sie  waffnen  sich  in  wirrem  durcheinander  (ohne  wähl) 
mit  .  .'  den  nachdruck  legen  sollen. 

Mitto.  8.  850 b  15,  17,  11  Vologesis  ad  Corbulonem  missi 
nuntii,  detraheret  castella.  Gr.  ergänzt  fälschlich  mit  allen  editoren 
ein  sunt  und  erträgt  den  wunderbaren  gen.  Vologesis  missi  sunt 
nuntii.  in  meiner  Schulausgabe  ist  der  herkömmliche  punkt  nach 
faceret  in  ein  komma  verwandelt,  so  dasz  zu  missi  nuntii  (partic.) 
aus  dem  folgenden  ille  expostulabat  sich  das  praedic.  expostulabant 
von  selber  ergibt,  vielleicht  hat  schon  Npp.  durch  ein  kolon  das- 
selbe andeuten  wollen. 

Modo,  zu  ende  dieses  artikels  heiszt  es:  *  6)  omisso  modo  in 
priore  membro.'  mit  angäbe  der  zwei  stellen  4,  50,  17  und  6,  32,  4. 
ich  habe  schon  früher  wiederholt  hervorgehoben,  dasz  Tac.  nicht 
ohne  absieht  von  gewöhnlichen  Verbindungen  abweicht,  sondern  eine 
prägnante  nüancierung  des  sinnes  beabsichtigt,  z.b.  6,  21  und  14,  8 
magis  ac  magis  statt  des  gewöhnlichen  magis  magisque;  4,  39  mul- 
tum  superque  vitae  fore  statt  des  sonstigen  satis  superque,  oder  das 
absolute  quam,  das  wiederholt  in  falscher  weise  durch  ein  ausge- 
lassenes potius  (magis)  erklärt  wird,  so  soll  Tac.  auch  an  beiden 
obigen  stellen  im  ersten  gliede  ein  modo  ausgelassen  haben,  warum 
denn?  kennt  er  doch  sonst  immer  das  modo  —  modo,  aber  Tac. 
will  an  beiden  stellen  nicht  eine  thatsächliche  Unwahrheit  vermelden, 
es  hat  eben  kein  wiederholter  Wechsel  4,50  hostis  clamore  turbido, 
modo  per  vastum  silentium  incertos  obsessores  effecerat  zwischen 
turbidus  clamor  und  vastum  silentium  stattgefunden,  sondern  erst 
das  eine,  und  dann  sofort  das  andere,  auch  Artabanus  6,  32  tardari 
meto,  modo  cupidine  vindictae  inardescere  schwankt  nicht  hin  und 
her  in  seiner  gemütsbewegung  (nicht  modo  —  modo),  sondern  der 
erste  eindruck  der  empfangenen  nachricht  (cognitis  insidiis)  war 
furcht,  bald  aber  gewann  rachbegierde  die  oberhand. 

Modus,  zu  I  85  ne  contumax  silentium,  ne  suspecta  libertas ! 
und  zu  1,7  unter  Ne  s.902b  ne  laeti  excessu  prineipis  neu  tristiores 
pri mordio  ergänzt  Gr.  zwar  auch  ein  esset  oder  videretur ,  hält  aber 
doch  im  gegensatze  zu  andern  meine  bekannte  erklärung  des  ne  doch 
nicht  so  bedeutungslos  (nicht  für  f blosze  Pfitznersche  manier') ,  als 


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304 


A.  Gerber  u.  A.  Greef:  lexicon  Taciteum. 


dasz  er  sie  mit  stillschweigen  hätte  übergehen  sollen;  Gr.  bringt 
dieselbe  nach  Wlff.s  directer  anerkennung  wenigstens  in  negativer 
weise  zur  geltung:  'aliter  expl.  Pfitzner  f  nur  ja  nicht',  und  fügt  dem 
eine  Übersicht  derjenigen  stellen  bei,  die  ich  in  meiner  Schulausgabe 
in  ähnlicher  weise  zu  erklären  versucht  habe,  übrigens  gehören 
I  85  auch  noch  die  folgenden  worte:  et  privato  Othoni  nuper  atque 
eadem  dicenti  nota  adulatio  zu  dem  Selbstgespräche  der  verlegenen 
Senatoren.  Gr.  faszt  dieses  e  t  s.  401  *  als  praeterea,  atque  etiam  auf. 
der  arduus  modus  rerum  omnium  bezieht  sich  auf  dreierlei  möglich- 
keiten  ihres  Verhaltens:  sie  konnten  schweigen,  frei  reden,  oder  sich 
in  Schmeichelei  ergehn.  alles  dieses,  so  sagen  sie  sich  selber,  habe 
seine  bedenken  und  sei  nicht  ratsam,  die  dritte  selbst  Warnung:  'ja 
keine  Schmeichelei,  die  kenne  Otho  schon  aus  eigner  erfabrung*, 
wird  wegen  der  weiteren  ausführung  in  positiver  form  hinzugefügt, 
es  wird  somit  durch  dieses  et  noch  nicht  die  erzäblung  weiterge- 
führt (wie  Gr.) ,  und  das  selbst  noch  von  Wlff.  beibehaltene  Semi- 
kolon nach  suspecta  libertas  ist  in  ein  komma  (oder  au  Prüfzeichen) 
zu  verwandeln,  ich  bemerke  ausdrücklich,  dasz  es  in  dieser  weise 
schon Lips.  aufgefaszt  hat:  rtaceres?  silentium  pro  contumacia  esset, 
diceres  libere  et  censeres?  invisa  libertas.  ad  gratiam  loquerere? 
non  faceres  fidem.'  erst  mit  igitur  wird  die  erzäblung  weiter  geführt. 

N  e.  8. 905  b  12, 47  visui  tarnen  consuluit,  ne  coram  interficeret. 
Gr.  hat  sich  für  die  tautologie  Npp.s  entschieden  'er  schonte  seine 
äugen  dadurch ,  dasz  er  [sie  schonte  und]  nicht  den  Mithridates  vor 
seinen  äugen  töten  liesz  sc.  vcritus  ne\  Drg.  dagegen  erklärte  ne 
für  ut  non.  ich  fasse  es  als  das  selbst  warnende  ne  auf.  Npp. 
und  Drg.  berufen  sich  beide  für  ihre  obschon  ganz  verschiedene  er- 
klärung  auf  11,  15,  auch  Gr.  hat  nur  diese  beiden  stellen  für  die 
elliptische  bedeutung  ('veritus  ne')  geben  können,  doch  dort 
hat  ne  die  zu  schlusz  einer  rede  so  oft  bei  Tac.  vorkommende  war- 
nende bedeutung,  es  hängt  gar  nicht  von  dem  vorangehenden  ab, 
so  dasz  man  immerhin  ein  gröszeres  interpunctionszeichen  hinter 
referendam  setzen  sollte.  —  Npp.  verweist  für  sein  veritus  ne 
auch  noch  auf  II  23 :  legionem  .  .  in  auxilium  Placentiae  ducebat, 
diffisus  paucitati  cohortium,  ne  longius  obsidium  et  vim  .  .  partim 
tolerarent,  auch  Drg.  syntax  §  189  stimmt  solcher  ergänzung  bei, 
dagegen  erklärt  sich  Gr.  rsed  in  verbis  «diff.  pauc.  coh.»  inest  notio 
verbi  timendi*.  ich  sehe  darin  keinen  wesentlichen  unterschied,  kann 
jedoch  weder  den  elliptischen  noch  den  epexegetischen  gebrauch  an 
dieser  stelle  anerkennen,  denn  ne  hängt  gar  nicht  von  diffisus  ab,  son- 
dern ist  als  negative  absichtspartikel  mit  dem  hauptsatz  in  auxilium 
ducebat  zu  verbinden. 

Nam.  s.895  ff.  hat  Gr.  für  die  erklärung  des  elliptischen  natu 
ausgezeichnete  andeutungen  gegeben,  nur  15,  2,  5  nam  Medos  Pa- 
corus  ante  ceperat  können  diese  worte  nur  erklärende  bemerkung 
des  historikers  sein,  Gr.  ergänzt :  fsc.  in  possessionem  Medorum  eum 
deducere  non  potui,  nam',  so  müste  es  wohl  cepit  heiszen. 


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305 


Auf  eigne  kritik  des  textes  hat  Gr.  mit  recht  möglichst  ver- 
zichtet, so  ist  es  auch  dem  Charakter  eines  lexikon  angemessen,  nach 
einer  den  ersteren  heften  vorgedruckten  bemerkung  folgt  er  Hlra.s 
entscheidungen:  'verba  scriptoris  secundum  tertiam  Halmii  editionem 
Teubnerianam  all  ata  sunt.'  inzwischen  scheintauch  für  die  späteren 
hefte  die  4e  aufläge  Hlm.s  im  ganzen  maszgebend  gewesen  zu  sein, 
wenn  Wl ff.  einmal  urteilte ,  die  3e  Hairasche  ausgäbe  sei  besser  als 
die  4e,  so  findet  das  zum  teil  eine  erklärung  in  einem  gewissen  streben 
Hlm.s,  sich,  so  weit  er  es  vermöge,  der  Nipperdeyschen  textgestal- 
tung  zwecks  allmählicher  Schaffung  einer  neuen  vulgata,  wie  sie  ge- 
rade damals  ersehnt  wurde,  anzubequemen,  für  unser  lexikon  hatte 
das  abschwenken  Hlm.s  von  früherer  textgestaltung  einige  incon- 
venienzen  veranlasst,  wie  ich  sie  oben  an  einigen  mir  ungesucht  ent- 
gegentretenden beispielen  erwähnt  habe,  doch  Gr.  hat  sich  später 
seinem  f (ihrer  nicht  mehr  so  willig  gezeigt  und  tritt  auch  in  diesem 
vorliegenden  8n  hefte  öfters  gegen  Hlm.  in  die  schranken,  und  wir 
müssen  anerkennen,  es  ist  diese  gröszere  Selbständigkeit  in  der  ent- 
scheidong  dem  lexikon  zu  nutzen  gekommen. 

Eigne  conjecturen  Gr.s  habe  ich  nur  eine  gefunden,  s.  871 b 
unter  Mox  I  72,  5  liest  Ma:  praemia  virtutum  .  .  vitiis  adeptus, 
crudelitatem  mox,  deinde  avaritiam  .  .  exercuit.  Gr.  hat  scheinbar 
Wlffl.s  regel  anerkannt:  'mox  findet  sich  bei  Tacit.  wohl  zwischen 
adj.  und  subst.  eingefügt,  nirgends  aber  dem  worte,  zu  dem  es 
gehört,  nachgestellt.'  nach  dieser  norm  verlangt  Wlffl.  mox  crudeli- 
tatem ,  Gr.  sucht  in  beibehalt  derselben  regel  aber  in  anderer  weise 
heilung:  fortasse  scribendum 'crudelitatem  moxf,  deinde  avaritiam'. 
doch  s.  874 b  III  1,  8  extoilebant  et  advenisse  mox  .  .  Britannici 
exercitus  robora  hält  er  mit  recht  die  naohstellung  von  mox  auf- 
recht gegen  Wlffl.s  advenisse  modo,  er  hat  also  unter  bestimmten 
gesichtspunkten  abweichungen  von  der  berührten  regel  gar  nicht 
so  unerlaubt  gefunden,  weniger  tolerant  zeigt  sich  Gr.  in  der 
stricte n  durchführung  des  Ritterseben  gesetzes :  '  Tac.  sage  statt  acc. 
und  nom.  plur.  von  munera  in  der  bedeutung  «pflicht»  munia.' 
das  ist  nur  insoweit  begründet,  als  an  zwei  stellen  sich  Tac.  er- 
laubt hat,  die  regel  über  den  häufen  zu  werfen  3,  2  magistratus 
Calabriae  .  .  suprema  erga  memoriam  filii  sui  munera  fungeren- 
tur  und  III  13  ceteris  per  militiae  munera  dispersis.  ich  frage 
mich  wiederholt,  nicht,  warum  alle  (Drg.  ausgenommen)  auch  hier 
munera  in  munia  verändert  haben,  wohl  aber,  was  hat  auch  Witt, 
bewogen,  seinerseits  ebenfalls  diese  mir  unbegreifliche  tyrannis 
gegen  das  übereinstimmend  von  beiden  abschreibern  verzeichnete 
wort  zu  üben,  zumal  in  hinblick  auf  seine  eigne  Verweisung:  'für 
in  13,  9  ceteris  per  militiae  munera  kann  b.  II  16,  12  militiae 
muneribus  und  ann.  1,  17,  14  vacationes  munerum  (sc  militiae) 
geltend  gemacht  werden.'  —  Ich  vermag  mir  nicht  einen  Tacitus 
nach  der  Schablone  vorzustellen. 

Memoria,  s.  819 b  fügt  Gr.  III  68  retinerent  memoriam  sui 

N.  Jfthrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1891  hfl.  6.  20 


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A.  Gerber  u.  A.  Greef:  lexicon  Taciteum. 


hinzu:  rM  1  m.  suä.'  nach  Ritt,  hat  Ma  suä  mit  vetere  manu  über- 
geschriebenem i,  das  nennt  Meiser  *i  1  m.\  d.  h.  sui  war  sichere  les- 
art  des  urcodex.  es  würde  sich  im  interesse  des  richtigen  Verständ- 
nisses empfehlen,  die  Meisersche  bedeutung  der  1  m.  festzuhalten, 
Gr.  versteht  offenbar  hier  unter  1  m.,  was  man  sonst  als  prias  be- 
zeichnet. 

Mensis.  16,  12  Ma:  mensis,  qui  Aprilem  eundemque  Nero- 
neum  sequebatur  Maius  Clandii,  Iunius  Germanici  vocabulis  mutan- 
tur,  t estificante  Cornelio  Orfito  .  .  ideo  Iunium  transmissum,  quia . . 
Gr.  ist  Hlm.  gefolgt:  mens  es  .  .  sequebantur  .  .  Iulius  mit  drei 
änderungen  der  handschrift.  das  naive  Maius  nach  einem  mensis 
qui  Aprilem  sequebatur  ist  offenbare  randbemerkung  gewesen  und 
das  folgende  transmissum  ist  mit  Pichen.  fsc.  in  nomen  Germanici* 
und  Iunius  wie  vorher  mensis  (Npp.  statt  nomen  mensis)  aufzufassen. 

Met us.  s.  830 b  4,69  M:  metus  visus  .  .  suspicionis  erant,  so 
auch  Gr.  abweichend  von  Hlm.s  metus  erat,  und  verzichtend  auf  die 
änderungen  anderer:  metui  und  sollicitudines.  Drg.  hat  das  bedenken 
des  Rhen.  Hlm.,  Mll.  falsch  aufgefaszt,  nicht  der  plur.  metus  ist  be- 
anstandet, sondern  die  Verbindung  eines  nom.  abstr.  im  plur.  mit 
einem  gen.  object.  doch  siehe  3,  13  sociorum  iniurias,  5,  3  amores 
iuvenum  u.  a.  —  s.  827 b  14,  32  Ma:  Oceanus  cruento  adspectu  . . 
eftigies  relictae!  ut  Britanni  ad  spem  ita  veterani  ad  nie  tum  trabe- 
bantur.  nach  dieser  interpunction  geben  die  handschriftlichen  worte 
ein  vollständiges  Verständnis,  freilich,  das  einfach  erzählende  referat 
dessen,  was  sich  die  leute  wunderbares  erzählten:  fremitus  auditos, 
consonuisse  ululatibus  theatrum ,  visam  speciem  subversae  coloniae 
wird  plötzlich  durch  die  nominative:  iam  Oceanus  cruento  adspectu, 
dilabente  aestu  humunorum  corporum  effigies  relictae  unterbrochen, 
es  betrifft  das  nicht  mehr,  wie  das  vorhergehende  das  vernehmen 
des  obres,  sondern  das  selbsteigne  schauen  der  leute;  sodann  wird 
die  erzähl ung  wieder  aufgenommen :  ut  .  .  ita  t rabe bantur  (trahi  in 
natürlicher  bedeutung  vi  ad  aliquam  rem  adigi).  Gr.  hat  sich  dem 
heutigen  consensus  omnium  angeschlossen:  Oceanus  .  .  effigies  re- 
lictae ut  Britanni 8  (dat.  statt  a  c.  abl.)  .  .  ita  veterani s  ad  metum 
trahebantur  (d.  i.  deuten),  die  ältere  vulgata  wählte:  Oceanum  . . 
effigies  relictas  ut  Britanni  .  .  ita  veterani  trahebant.  die  blosze 
erzählung  ist  in  beiden  fällen  gerettet,  aber  Tacit.  um  seinen  schön- 
sten schmuck  der  dramatischen  Darstellung  betrogen,  mich  wundert, 
dasz  unsere  kritiker  nicht  über  ihr  eignes  thun  stutzig  werden,  dasz 
sie  ihre  eigne  liebhaberei  für  eine  ununterbrochene  erzählung  an  so 
vielen  stellen  immer  nur  mit  änderungen  des  handschriftlichen  textes 
oder  höchst  gewagten  noterklärungen  aufrecht  erhalten  können, 
z.  b.  1 ,  36  at  si  auxilia  et  socii  adversum  abscedentis  legiones  arma- 
rentur,  civile  bellum  suseipi.  'Periculosa  severitas,  flagitiosa  lar- 
gitio :  seu  nihil  militi  sive  omnia  concedentur,  in  aneipiti  res  publica.' 
Igitur  etc.  der  leser  nimmt  plötzlich  teil  an  dem  kriegsrate,  wir 
hören  die  generale  selber  reden,  —  doch  nein!   Andr.  und  Drg., 


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307 


auch  Hlm.  (Gr.)  ergänzen  est  als  'Schilderung  der  läge'.  Drg.  streitet 
noch  darüber,  ob  est  oder  erat  zu  ergänzen  sei,  denn  höchstens 
'Schilderung'  des  Schriftstellers  darf  es  nur  sein,  zu  diesem  zwecke 
halt  Hlm.  gar  noch  die  änderung  des  concedentur  in  concederentur 
für  nötig  (nun  erst  wird  es  zur  regelrechten  erzählung),  Gr.  ist 
ihm  s.  836  *  darin  gefolgt.  —  Wie  sollen  denn  15,  5  die  plötzlich 
eintretenden  absoluten  nominative:  inritum  obaidium,  tutus  manu 
et  copiis  Tigranes,  fugati,  qui  .  .  sumpserant,  missae  legiones  et 
aliae  . .  nitro  inrumpere  aufgefaszt  werden?  —  Andr. :  'natürlich  mit 
ergänzung  eines  historischen  est,  denn  der  schriftsteiler  gibt 
seine  Schilderung  der  läge,  dasz  Vologeses  dieselben  ge Janken 
hatte,  versteht  sich  von  selbst.'  warum  sollte  denn,  diesem  selbst- 
verständnis  sofort  in  der  darstellungsform  ausdruck  zu  geben ,  dem 
Tacitus  nicht  erlaubt  gewesen  sein?  bei  1,  41  quis  flebilis  sonus? 
erheben  sich  sogar  Andr.  und  Drg.,  jener  zu  einem  'vielleicht 
oratio  directa',  dieser  zu 'fast  wird  die  Schilderung  dramatisch', 
warum  nicht  wirklich  'dramatisch'?  so  würde  sich  Andr.  1,35  gewis 
der  einschiebung  eines  obirent  enthalten  haben ,  zumal  schon  Npp. 
mederetur  fessis,  neu  mortem  in  isdem  laboribus  der  Wahrheit  viel 
näher  als  'rede  der  leidenschaft'  aufgefaszt  hatte. 

13, 14  simul  intendere  manus  (Agrippina),  aggerere  probra,  con- 
secratum  Claudium,  infernos  Silanorum  manes  invocare  ettotinrita 
facinora.  s.  440*  verwirft  Gr.  mit  vollstem  rechte  die  Verbindung 
der  schluszworte  mit  invocare  (Andr.),  selber  hinzufügend  'sc.  esse 
clamitare,  (Drg.).  wie  nahe  der  dramatischen  auffassung!  hätte  Gr. 
nur  das  wörteben  esse  weggelassen,  so  würde  tot  inrita  facinora  als 
directer  ausruf  der  durch  höchste  wut  verbitterten  Agrippina  erklärt 
sein.  vgl.  13,  13:  'libertam  aemulam,  nurum  ancillam!'  fremere; 
12,41  fDornitium'  salutavere;  2,S7  'dorn  in  um'  dixerat;  6, 11  Tamm 
Caesarem'  dixisse;  6,4  'Latinium  Latiarem'  ingressus.  —  I,  62  non 
obstare  biemem,  neque  .  .  moras !  invadendam  Italiam  etc.,  das  ist, 
wie  Wlff.  richtig  erklärt,  'ungeduldiger  ausruf  der  Soldaten:  «nur  ja 
kein  aufschub  aus  feiger  friedensliebe!»'  neque  (nec)  in  der  geltung 
eines  ac  ne  ist  auch  I  71  nec  Otho  quasi  ignosceret  zu  erkennen,  wo 
Pr.  zur  aufrechterhaltung  der  erzählung  ein  egit  ergänzt,  so  viel  ich 
bemerkt  habe,  hat  Gr.  auf  diese  bedeutung  des  neque  (nec)  keine 
rückzieht  genommen,  auch  6,  2  haec  adversus  Togonium,  verbia 
moderans  neque  ultra  abolitionem  sententiae  suaderet  bezeichnet 
neque  ein  ac  ne.  Gr.  folgt  unter  Moderor  s.851 b  Hlm.  in  der  ein- 
Bchiebung  eines  ut  vor  ultra,  die  erzählung  verlangt  es  ja! 

Miles.  s.  833 b  3,  20  cohor latus  milites,  ut  copiam  pugnae  in 
aperto  facerent  .  .  hat  Gr.  mit  recht  der  eigentümlichen  behauptung 
Andr. s  (Probst):  'da  das  copiam  pugnae  facere  sache  des  comman- 
dierenden  ist,  so  muste  der  sing,  faceret  hergestellt  werden',  keine 
folge  gegeben. 

M  o  d  e  s  ti  a.  Germ.  36  inter  impotentes  et  validos  falso  quiescas : 
ubi  manu  agitur,  modestia  ac  probitas  nomina  (Gr.  'sc.  inania') 

20* 


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A.  Gerber  u.  A.  Greef :  lexicon  Taciteum. 


superiori  sunt  ziehe  ich  die  erklärung  von  Zernial:  'sind  titel  des 
überlegenen ,  des  Siegers*  vor ,  in  allen  handschriften  steht  der  gen. 
superioris. 

Multitudo.  Gr.  verweist  am  Schlüsse  dieses  artikels  jfM  II 
80,8']  auf  die  conjectur  (Lps.)  altitudinis  statt  des  handschriftlichen 
multi tud inis :  c u t  primum  tantae  multitudinis  obfusam  oculis  caligi- 
nem  disiecit.'  unter  dem  artikel  Altitudo  (s.  69*)  erklärt  das 
lexikon  die  conjectur  für  richtig  mit  der  beifügung  zu  altitudinis 
'hohe  Stellung'.  Lips.  bezweifelte  die  multitudo  der  zuhörer,  'quantae 
igitur?'  er  übersah,  dasz  Tac  schon  ausdrücklich  auf  die  grosze 
masse  der  zuströmenden  hingewiesen:  tum  ceteri  adcurrere.  drei 
volle  legionen  nebst  entsprechenden  hilfstruppen  kann  man  doch 
nicht  sogleich  mit  einem  blick  übersehen,  da  mochte  es  wohl  dem 
Vespasianus  auf  augenblicke  in  den  äugen  schwindeln  und  er  nicht 
sofort  die  worte  finden  können,  in  den  w orten  des  Liv.  26,  46  cum 
altitudo  caliginem  oculis  obfudisset,  ad  terram  delati  sunt  hat  alti- 
tudo die  natürliche  bedeutung  'höhe'  (quibusdam  stantibus  scalis) 
und  durfte  von  einem  durch  die  altitudo  hervorgerufenen  Schwindel 
der  äugen  gesprochen  werden,  jedenfalls  hat  Tac  diese  stelle  vor 
äugen  gehabt,  aber  eine  rein  wörtliche  nachahmung  der  altitudo  mit 
ganz  veränderter  bedeutung  —  solch  stilistischer  scherz  liegt  außer- 
halb der  grenzen  der  viel  gerühmten  severitas  Taciti. 

Militia.  die  handschriften  a.  und  b.  lesen  übereinstimmend 
I  87  facta  et  ceteris  spes  honoratae  in  posterum  militiae,  Gr.  hat 
sich  (auch  Wl ff.)  für  die  conjectur  von  Her.  bonoratioris  entschieden, 
s.  839  *  'sc.  quam  erat  classica'.  es  kommt  dabei  auf  die  verschiedene 
auffassung  der  betreffenden  leute  an,  das  moderne,  theoretische 
räsonnement  Her.s  von  rder  ehre  jedes  kriegsdienstes'  will  der  an- 
sieht der  betreffenden  leute  gegenüber  nichts  besagen  und  kann  nicht 
zu  gunsten  des  compar.  sprechen,  vgl.  IV  17  manentibus  ( cohorti- 
bus)  honorata  militia  offerebatur,  dagegen  allerdings  Liv.  32,  23 
navales  socii  relictis  nuper  classibus  ad  spem  honoratioris  militiae 
transgressi.  im  übrigen  nahm  es  der  Börner  mit  diesem  begriff  hono- 
ratus  nicht  so  genau,  s.  Ovid  fast.  1,  52  praetor  honoratus  (das  ist 
der  zweite  prätor),  während  der  erste  doch  praetor  maior  hiesz. 

Minister,  s.  842 *  15,  51  occidendae  matris  Neronis  (Ma) 
inter  ministros.  Drg.  allein  hat  sich  der  änderung  des  Neronis  in 
Neroni  (Heins.)  enthalten,  Gr.  geht  mit  Hlm.  Neroni.  wo  ist  da 
die  zwingende  notwendigkeit  von  der  handschrift  abzuweichen? 
Heins,  scheint  solche  gen.  förmlich  zu  verfolgen  und  zwar  consensn 
omnium,  II  4  Ma:  Sostratus,  sacerdotis  id  nomen  erat,  dagegen  alle 
auszer  Mll.) :  sacerdoti,  doch  hier  ruft  die  1  m.  in  der  handschrift 
'sacerdotib;  corr.  1  m.  in  sacerdotis')  den  vermeintlichen  ver- 
besserern nunmehr  ein  quos  ego ! 

Mitto.  man  hat  namentlich  bei  diesem  verbum  die  behaup- 
tung  geltend  gemacht,  dasz  Tac.  oftmals  das  simplex  im  sinne  eines 
compositum  gebrauche,  und  doch  wägt  Tac.  seine  ausdrücke  auf  das 


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A.  Gerber  u.  A.  Greef :  lexicon  Taciteum.  309 

sorgfältigste,  auch  Gr.  vertritt  am  schlusz  dieses  artikels  solche 
vertausch ung :  1,  39  es  stehe  veteraxii  nuper  missi  sub  vexillo 
hiemabant  für  di  missi,  warum  Tac.  hier  nicht  dimissi  sagen 
konnte ,  s.  meine  Schulausgabe.  1,  2,  6  perdomita  Britannia  et  sta- 
tim  missa  soll  missa  ein  omissa  nicht  blosz  vertreten,  sondern  es 
müsse  sogar  in  das  compositum  verändert  werden;  so  will  es  der 
neuere  consensus  omnium ,  die  alte  vulgata  begnügte  sich  mit  dem 
simplex.  Her.  verweist  wie  schon  Lips.  auf  Hadrians  zeit,  Spart. 
Hadr.  5  Britanni  teneri  sub  Romana  ditione  non  poterant,  doch  dem 
steht  das  mit  missa  verbundene  statim  entgegen,  unter  Titus  wurde 
Britannien  erst  unterworfen,  Agr.  10  tum  primum  perdomita  est, 
und  8  o  f  o  r  t  (statim)  nach  der  Unterwerfung  wurde  es  von  dem  neuen 
kaiser  Domitian  nicht  weiter  beachtet,  Britannien  ist  unter  ihm 
weder  verloren  (amissa)  noch  aufgegeben  worden  (omissa).  Agricola 
vollbrachte  für  Domitian  viel  zu  ausgezeichnete  thaten,  als  dasz  er 
sich  der  kaiserlichen  gunst  hätte  erfreuen  sollen,  aus  eifersucht 
schwächte  Domitian  vielmehr  dessen  truppenmacht,  so  viel  er  wagen 
durfte,  die  von  Titus  zur  invasion  von  Irland  zugestandene  legion 
II  Adiutrix  wurde  abberufen  und  überdies  noch  ein  bedeutendes 
detachement  der  leg.  IX  nach  Germanien  befohlen  (s.  meine  gesch. 
d.  röm.  kaiserlegionen  s.  211),  und  nun  konnte  Agricola  unter  den 
schwierigsten  politischen  Verhältnissen  Britanniens  sehen,  wie  er 
fertig  werde;  von  einer  irgendwie  kaiserlichen  ftirsorge  war  nicht 
mehr  die  rede,  die  provinz  war  abgethan.  das  ist  die  bedeutung 
des  missa  Britannia  in  noch  tieferem  sinne  als  das  zu  allgemeine 
neglecta  des  Lips. 

V  18,  9  Ma:  perfuga  Batavus  adiit  Cerialem,  terga  hostium 
promittens,  si  extremo  paludis  eques  mitteretur.  Gr.  billigt  Hlra.s 
immitteretur,  obschon  WUT.  und  AM.  darauf  verzichten,  immittere 
hat  in  übertragenem  wie  natürlichem  sinne  die  grundbedeutung 
'über  den  hals  schicken',  vgl.  13,  54  repente  immissus;  Agr.  13 
repens  immisit,  I  68  statim  immittere;  3, 16.  4, 19.  54.  11, 1.  14,  2. 
ist  denn  an  obiger  stelle  durchaus  von  einem  immittere  die  rede? 
Tac.  sagt  doch  sofort  nur  duae  alae  cum  perfuga  missae  und  nicht 
immi8sae.  ich  sehe  keine  berechtigung  der  änderung. 

Das  vorangehende  betraf  die  vollendeten  hefte;  schlieszlich 
möchte  ich  auch  zum  zeichen  meines  dankes  und  des  hohen  inter- 
esses  an  der  Vollendung  des  vorliegenden  werkes  pro  futuro,  viel- 
leicht auch  zu  nutz  späterer  hefte  den  gebrauch  der  partikeln  velut, 
quasi,  tamquam  berühren,  insofern  sie  über  den  bloszen  schein  hin- 
ausgehend von  Tacitus  in  den  Annalen  gebraucht  werden,  zumal 
meine  erklärung  derselben  von  der  bis  jetzt  in  asz  geben  den  auffas- 
sung  Andr.s  nicht  blosz  an  den  einzelnen  stellen,  sondern  principiell 
abweicht.  Andr.  weisz  auf  grund  der  betreffenden  Untersuchungen 
von  Wlffl.  und  Her.  keinen  wesentlichen  unterschied  dieser  par- 
tikeln anzuerkennen,  vgl.  die  anm.  in  seiner  ausgäbe  zu  3,  72  und 
6,  11.  nach  meinen  beobachtungen  bezeichnet  tamquam  die  vor- 


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A.  Gerber  u.  A.  Greef:  lexicon  Taciteum. 


Aussetzung  und  annähme  allgemeinen  ein  Verständnisses,  quasi  die 
ansieht  des  erzählers,  velut  (ut)  den  sinn  anderer,  namentlich  der 
handelnden  oder  sprechenden,  so  dasz  es  auch  zur  bezeichnung  wört- 
licher ausdrucke  dient. 

15,  69  (Nero)  tribunum  .  .  immittit  iubetque  praevenire  cona- 
tus  consulis :  occuparet  velut  arcem  eius,  opprimeret  dilectam  iuven- 
tutem.  Andr.  und  Drg.  sind  angesichts  dieses  velut  ratlos,  sie 
schlagen  vor  es  mit  f  burgähnliches  haus'  zu  übersetzen  oder  es  ganz 
unberücksichtigt  zu  lassen ,  jedenfalls  das  leichtere  und  auch  noch 
besser  als  das  erstere.  der  folgende  begründungssatz  quia  Vestinus 
imminentes  foro  aedes  decoraque  servitia  et  pari  aetate  babebat  gibt 
doch  offenbar  den  nach  weis,  inwiefern  Nero  die  aedes  mit  arz,  und 
die  decora  servitia  et  pari  aetate  mit  dilectam  iuventotem  bezeichnen 
konnte,  dient  also  zur  aufklärang  des  velut  arcem  und  velut  dilectam 
iuventutem,  der  eigens  von  Nero  gewählten  ausdrücke,  so  dasz  wir 
velut  zu  Ubersetzen  haben:  'wie  er  es  nannte'  oder  ähnlich,  so  dasz 
velut  den  'wörtlichen  ausdrack'  des  Nero  einfuhrt.  —  6,  60  verab- 
schiedet sich  der  nebenarzt  des  Tiberius,  Charicles,  'mit  dem  vor- 
geben',  (velut)  'er  müsse  seine  privatpraxis  besorgen':  velut  propria 
ad  negotia  digrediens.  —  3,  22  quae  velut  reicere  voluerat.  Tac. 
weist  den  Widerspruch  in  der  handlungsweise  des  Tiberius  nach,  erst 
verbitte  er  sich  eine  etwaige  Untersuchung  auf  majestätsverbrechen, 
und  hernach  veranlasse  er  den  Servilius  zu  aussagen,  die  gerade  dazu 
hinfuhren  musten ,  also  zu  etwas ,  das  er  doch  nach  'seinen  eignen 
worten  hätte  zurückweisen  wollen',  hier  ist  ebenso  wenig  von  einem 
'scheinbar'  (Drg.  Andr.)  die  rede,  als  5,  10  quibusdam  Caesaris 
libertis  velut  agnitus.  die  freigelassenen  hatten  klar  und  deutlich 
ausgesprochen:  'wir  erkennen  den  mann  als  Drusus',  das  ist  die 
bedeutung  des  velut.  so  werden  denn  auch  wohl  1,  8  die  funeris 
milites  velut  praesidio  stetere  und  3,  28  ut  .  .  velut  parens  omnium 
populus  vacantia  teneret  trotz  Andr.s  widersprach  als  wirkliche  be- 
zeichnungen  des  Tiberius  und  Augustus  aufzufassen  sein. 

In  betreff  tarn  quam  dürfen  wir  Plinius  als  unverwerflichen 
zeugen  anführen,  ep.  9,  13  accidit  fortuitum,  sed  non  tamquam  for- 
tuitum,  quod  Certus  intra  paucissimos  dies  implicitus  morbo  deees- 
sit,  d.  h.  die  öffentliche  meinung  hielt  es  für  keinen  zu  fall,  also: 
'nach  allgemeiner  annähme',  'offenbar';  ep.  4, 11  nescio  an  innocens, 
certe  tamquam  innocens,  d.  i.  'wenigstens  halten  ihn  alle  für  schuld- 
los', so  Tacitus  15,  44:  unde  quamquam  ad  versus  sontes  .  .  mise- 
ratio  oriebatur,  tamquam  non  utilitate  publica,  sed  in  saevitiam 
unius  absumerentur,  'man  hatte  mitleid  mit  ihnen,  da  sie  ja  «offen- 
bar» .  .  hingemordet  wurden'.  13,  43  intercessit  prineeps  tamquam 
satis  expleta  ultione,  Nero  that  einspruch  aus  dem  gründe,  weil 
jedermann  sagen  müsse,  es  sei  der  räche  hinlänglich  genügt,  d.  L 
'weil  offenbar*,  ebenso  14,  57  relatum  Caput  eius  illusit  Nero  tam- 
quam praematura  canitie  deforme ,  Nero  rekurriert  auf  das  selbst- 
verständliche urteil  aller,  jedermann  sähe  ja,  dasz  der  mann  durch 


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A.  Gerber  u.  A.  Greef:  lexicon  Taciteum. 


311 


allzu  frühes  ergrauen  entstellt  sei.  Andr.  behauptet,  Hamquam  be- 
zeichne blosz  das  folgende  als  äuszerung  Neros',  so  würde  Tae.  velut 
gesagt  haben.  12,  39  Ostorius  concessit  vita,  laetis  hostibus,  tam- 
quam  ducem  haud  spernendum  .  .  absumpsisset.  Andr.:  'tamquam 
bezeichnet  nichts  als  die  fremde  ansieht',  doch:  die  feinde  waren 
hocherfreut,  dasz  .  .  'den  unbestritten  achtungs werten  feldherrn' . . 
4,  31  eadem  poena  in  Latum  Firm  iura  senatorem  statuitur,  tarn- 
quam  falsus  maiestatis  criminibus  sororem  petivisset.  die  wiedergäbe 
durch  'gleichsam'  würde  ein  mitgefühl  des  erzählers  für  den  doch 
von  ihm  selber  so  tief  verachteten  ank läger  Catus  einschlieszen,  da- 
her: 'weil  er  offenbar  mit  falscher  beschuldigung  seine  Schwester 
ins  unglück  gestürzt  hatte.'  „ 

15,  58  volitabant  per  fora  .  .  equites  peditesque  permixti  Ger- 
manis, quibus  fidebat  prineeps  quasi  externis.  dieses  quasi  bezeichnet 
nicht  rdie  ansieht  des  Nero'  (Andr.),  das  würde  velut  verlangen, 
sondern  die  erklärung  des  Tacitus:  'wohl,  weil  sie  ausländer  waren.' 
—  15,33  non  tarnen  Romae  ineipere  ausus  Neapolim  quasi  Graecum 
urbem  delegit:  inde  initium  fore  usw.  die  nachfolgenden  hoffnungen 
hat  Tae.,  wie  überhaupt  Seelenmalerei  ihm  besonders  eigen  ist,  dem 
Nero  untergelegt,  wie  er  das  auch  bei  der  wähl  der  stadt  Neapel 
'als  einer  griechischen',  speciell  durch  das  quasi  vorweg  bezeichnet 
hat.  —  13,  18  undique  pecunias  quasi  in  subsidium  corripiens,  und 
bald  darauf:  nomina  et  virtutes  nobilium  in  honore  habere,  quasi 
quaereret  ducem  et  partes  erzeigen  sich  die  beiden  quasi  von  selber 
schon  als  ansieht  des  erzählers,  ebenso  13,  37  Radamisto  quasi 
proditore;  14,  65  Doryphorum  quasi  adversatum  nuptiis  Poppaeae 
(interfecit) ;  15,15  sed  Parthi  quasi  documentum  victoriae  iusse- 
runt  u.  a. 

An  drei  stellen  hat  man  quasi  oder  tamquam  durch  conjectur 
aufgenommen:  14,40  et  fuisse  eam  (Agrippinam)  poenas  conscientia 
qua  (Ma)  scelus  paravisset.  Npp.  und  Drg.  haben  die  schluszworte 
mit  Änderung  des  handschriftlichen  qua  in  quasi  noch  zu  der  orat 
obl.  gezogen  und  als  'causale'  hinzufügung  des  Nero  erklärt  ('im 
sinne  des  Nero'),  warum  denn  nicht  quia?  Her.  und  Mll.  ziehen 
tamquam  vor,  Hirn,  schwankt,  sein  text  lautet  quasi,  die  an  mer- 
kung 'an  tamquam?'  doch  weder  quasi  noch  tamquam  ist  im  sinne 
des  Nero  möglich ,  es  müste  velut  gesagt  sein,  man  wird  sich  ent- 
weder für  Wurm:  quäle  scelus  paravisset  oder  für  quia  entschei- 
den müssen,  oder  quasi  scelus  paravisset  von  der  orat.  obl.  ganz 
trennen  und  als  eine  höhnende  beurteilung  der  handlungsweise  des 
Nero  von  Seiten  des  Tacitus  auffassen:  'als  ob  sie  das  verbrechen 
geplant  hätte.  —  6,  2  bona  Seiani  ablata  aerario,  ut  in  fiscum 
cogerentur,  tarn  (Ma)  referret.  des  Lips.  von  allen  aufgenommene 
conjectur  tamquam  referret  in  dem  sinne:  'als  ob  das  ein  unter- 
schied wäre',  könnte  nur  eine  bemerkung  des  Tacitus  sein  und 
müste  als  solche  mit  quasi  eingeführt  werden,  nach  meiner  auf- 
fassung  ist  die  handschr.  tarn  referret  nicht  zu  beanstanden:  'so 


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Lateinische  Übungsbücher. 


möge  er  zurückzahlen'  d.  h.  nicht  an  das  Ärar,  sondern  an  den 
fiscus.  eine  ähnliche  Übertragung  aus  dem  aerarium  in  den  fiscus 
finden  wir  6,  19  aerarias  aurariasque  eins,  quamquam  publicarentur, 
sibimet  Tiberius  seposuit.  —  Eine  andere  stelle  14,  60  his  quam- 
quam Nero  paenitentia  flagitii  coniugem  revocavit  Octaviam  (so  Ma), 
die  wegen  anderweitiger  bedenken  viel  umstritten  wird  (der  prägnante 
gebrauch  des  abl.  his,  die  verkehrte  Stellung  von  Nero  und  die  offen- 
bar überflüssige  hinzufügung  des  namen  Octaviam)  bat  Rhen,  ge- 
ändert :  his  Nero  tamquam  poenitentia  flagitii ,  der  bedeutung  des 
tamquam  durchaus  entsprechend:  'man  nahm  allgemein  an,  er 
bereue  sein  frevelhaftes  verfahren  gegen  seine  gattin.'  von  manchen 
ist  die  auffällige  hinzufügung  von  Octaviam  als  erklärende  rand- 
bemerkung  bezeichnet,  ich  glaube  mit  recht,  aber  derselbe  rand- 
erklärer  hat  auch  die  ebenso  auffällige  Stellung  des  Wortes  Nero  zu 
verantworten,  es  möchte  zu  lesen  sein:  his  tamquam  paenitentia 
flagitii  coniugem  rovocavit. 

Parchim.  Pfitzner. 


29. 

LATEINISCHE  ÜBUNGSBÜCHER. 


1)  LüT8  0H,  LATEINISCHES  LEHR-  UND  LE8EBUCH  FÜR  8EXTA.  Biele- 
feld und  Leipzig,  Velhagen  u.  Klasing.  1889. 

Dem  kürzlich  in  diesen  blättern  besprochenen  teile  für  quinta 
ist  inzwischen  das  für  sexta  bestimmte  heft  gefolgt,  auch  dieses 
bringt  nur  zusammenhängende  lesestücke,  und  zwar  berichtet 
abschnitt  78  —  88,  94,  101  —  111,  114  —  118,  123—125  von  den 
thaten  des  Herkules,  abschnitt  10—14  ,  23—32  ,  35—37,  44-50, 
66  —  70  und  sämtliche  (30)  Übungsstücke  zum  übersetzen  aus  dem 
deutschen  in  das  lateinische  handeln  von  den  sitten  und  gebräuchen 
der  alten  Germanen  und  von  ihren  kämpfen  mit  den  Römern,  ab- 
schnitt 38—42,  71—75,  95—100  enthalten  als  ruhepunkte  fabeln 
(vom  wolf  und  böcklein,  von  der  Juno  und  dem  pfau,  vom  löwen 
und  der  maus  u.ä.).  in  den  stücken  56 — 62  erzählt  ein  von  schwerer 
krankheit  genesener  groszvater  seinen  enkeln  von  der  teilnähme 
seines  bruders  am  deutsch-französischen  kriege  und  von  dessen  vor 
Paris  erfolgtem  tode.  die  übrigen  abschnitte  endlich  bieten  andere 
erscheinungen  aus  dem  familion-  und  schulluben,  wie  sie  überall  den 
knaben  entgegentreten :  die  erkrankung  des  groszvaters  und  eines 
freundes,  die  heimkehr  des  vaters,  Spaziergänge  durch  flur  und  wald 
und  dergl.  mehr,  bald  in  erzählender,  bald  in  b  rief  forin ,  bald  in  der 
form  des  gespräches. 

Der  in  halt  einzelner  sätze  verdient  hin  und  wieder  tadel.  mir 
wenigstens  erscheint  der  brave  sextaner  oft  recht  unkindlich  und 


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Lateinische  Übungsbücher. 


313 


altklug,  auch  die  schwierige  form  gibt  an  vielen  stellen  zn  be- 
denken anlasz.  jedenfalls  gehört  non  dubito  quin,  fieri  non  potest 
quin,  non  multum  abest  quin,  timeo  ne,  der  acc.  c.  inf.,  das  gerun- 
dium  u.  a.  in.  nicht  in  die  sexta. 

Was  sodann  die  anordnung  des  grammatischen  materiales 
betrifft,  so  sind  wunderlicher  weise  die  Wörter  der  zweiten  declina- 
tion auf  us  und  um  der  ersten  declination  vorausgenommen,  wenn 
das  im  griechischen  Unterricht  geschieht,  so  hat  das  einen  sehr  ein- 
leuchtenden grund ;  für  das  lateinische  aber  habe  ich  keinen  finden 
können,  nach  der  behandlung  der  adjectiva  auf  us,  a,  um  folgt  das 
hilfszeitwort  sum,  dessen  frühzeitige  eintibung  lob  verdient,  und 
dann  sofort  die  erste  conjugation.  mit  viel  geschick  ist  hier  das 
grosze  pensum  in  viele  kleine  pensa  zerlegt  worden,  nun  erst  wird 
die  flexion  von  puer  bzw.  tener  und  ager  bzw.  piger  besprochen,  die 
dritte  declination  ist  streng  nach  substantivischer  und  adjectivischer 
declination  geschieden ;  zu  diesem  zwecke  finden  sich  einzelne  ad- 
jectiva schon  abschnitt  49  und  50,  während  die  hauptmasse  erst 
abschnitt  66 — 68  folgt,  bei  welcher  gelegenheit  auch  das  participium 
praesentis  besprochen  wird,  in  den  stücken  52 — 65  werden  die  drei 
bauptgenusregeln  durchgenommen;  Unregelmäßigkeiten  sind  dabei 
ausgeschlossen,  doch  ist  zu  tadeln,  dasz  als  merkbeispiele  pavo, 
homo,  miles  und  custos  gewählt  sind,  bei  denen  doch  das  natürliche 
geschlecht  und  nicht  die  endung  entscheidet,  es  folgt  die  vierte  und 
die  fünfte  declination ;  darnach  die  pronomina,  von  denen  is  und  qui 
mit  recht  zusammen  gestellt  worden  sind,  dagegen  müssen  die  pro- 
nomina adjectiva  und  indefinit a  nach  quinta  verwiesen  werden,  nun 
wird  die  zweite  conjugation,  darauf  praktischer  weise  die  vierte  und 
dann  erst  die  dritte  conjugation  behandelt,  und  zwar  immer  zunächst 
die  perfect-  und  supinstammgruppe;  erst  dann  folgen  die  vom  prä- 
sensstamme gebildeten  formen,  von  denen  der  imperativus  passivi 
gestrichen  werden  sollte,  den  schlusz  bildet  die  comparation,  die  im 
anschlusz  an  die  adjectiva  hätte  behandelt  werden  müssen ;  das  ad- 
verbium,  das  besser  erst  in  quinta  durchzunehmen  ist;  und  die  Zahl- 
wörter, die  im  interesse  grammatischer  Sicherheit  und  gründlichkeit 
entschieden  nicht  an  das  ende  gehören. 

Abgesehen  von  den  erwähnten  einzelheiten,  die  bei  einer  zweiten 
aufläge  mit  leichter  mühe  verbessert  werden  können,  verdient  das 
buch  empfohlen  zu  werden. 

Nicht  so  günstig  kann  ich  über  die  dazu  gehörige  formen - 
lehre  urteilen,  dieselbe  ist  als  lernbuch  gedacht,  in  ihr  soll  der 
achüler  die  lautlichen  processe,  die  ihm  das  lesebuch  in  der  zusam- 
menhängenden darstellung  zur  ersten  anschauung  gebracht  hat,  in 
streng  systematischer  Ordnung  wieder  vorfinden  und  sie  in  dieser 
Ordnung  dem  gedächtnisse  fest  einprägen,  zugleich  aber  soll  das 
buch  dem  strebsamen  und  eifrigen  knaben,  der,  sobald  er  das  gesetz 
erkannt  hat,  sich  gern  selber  ein  gebäude  aufbaut,  als  controle  des 
eignen  Schaffens  dienen,  deshalb  sind  die  paradigmen  vollständiger 


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Lateinische  Übungsbücher. 


und  zahlreicher  gegeben  worden ,  als  es  für  das  blosze  lernen  nötig 
gewesen  wäre. 

Um  die  gedächtnismäszige  aneignung  zu  erleichtern,  hat  der 
Verfasser  laut  vorwort  sein  augenmerk  vor  allem  aufklare  und  kurze 
fassung  der  regeln,  sowie  auf  tibersichtliche  anordnung  des  Stoffes 
gerichtet,  das  ist  ihm  auch  bei  der  behandlung  der  nomina  im  groszen 
und  ganzen  gelungen ,  nur  hätte  die  tabellarische  form  öfter  ange- 
wandt werden  sollen,  die  darstellung  des  verbums  dagegen  ist  un- 
praktisch und  verwirrend  im  höchsten  grade,  hier  hätten  zwei  grosze 
capitel  gemacht  werden  sollen:  1)  paradigmata  und  2)  verbal  Ver- 
zeichnis, so  aber  geht  alles  bunt  durch  einander,  dasz  ich  nicht 
ohne  grund  tadle,  mag  eine  kurze  inhaltsangabe  zeigen.  §  53—56 
enthält  eine  ziemlich  ausführliche  besprechung  der  formen  des  ver- 
bums im  allgemeinen;  §  57  das  hilfszeitwort  esse,  §  58  dessen  com- 
posita  einschlieszlich  posse,  §  59  den  auslaut  der  verbalstämme,  §  60 
die  fiexionsendu ngen  in  den  vier  conjugationen,  §  61  ein  kurzes 
verbal  Verzeichnis  der  zweiten  conjugation;  §  62  die  vollständigen 
paradigmen  der  drei  vocalischen  conjugationen;  §  63  ein  Verzeichnis 
der  einfachsten  verba  nach  der  dritten  conjugation;  §  64  das  para- 
digma  der  dritten  conjugation ;  §  65  ein  Verzeichnis  der  schwierige- 
ren verba  nach  der  dritten  conjugation,  nemlich  die  verba  mit  kurzem 
inlaut,  welche  das  perfect  durch  anfügung  von  s  bilden  und  die  verba 
mit  präsenserweiterung ;  das  paradigma  capio ;  die  consonantischen 
verbalstämme,  welche  das  perfect  durch  reduplication  bilden;  die 
verba  mit  conjugations Wechsel ,  den  der  Schüler  übrigens  gar  nicht 
versteht,  und  die  verba  incohativa;  §  66  und  67  die  paradigmen  der 
deponentia;  §  68  ein  Verzeichnis  der  deponentia;  §  69  ein  Verzeichnis 
der  semideponentia;  §  70  unregelmäszigkeiten  im  genus  verbi;  §  71 
Verkürzungen  einiger  verbalformen;  §  72  die  verba  anomala  und 
§  73  die  verba  defectiva. 

Von  den  angeführten  verben  könnten  unbedenklich  gestrichen 
werden:  crepare,  fricare,  micare,  merere,  mulcere,  pavere,  Stridore, 
tergere,  turgere,  tondere;  angere,  fremere,  gemere,  molere,  mingere, 
pectere,  rädere,  rodere,  repere,  serpere,  stertere,  strepere,  tingere, 
tundere,  ungere,  vellere,  vomere;  amicire,  farcire  und  fulcire. 

Ferner  müssen  die  supina  indultum,  pensum,  sessum,  tentum; 
iil  i  tum,  cantum,  cretum,  falsum,  not  um,  ostensum,  scansum,  quietum, 
tensum,  tentum,  saltum  und  die  perfecta  crevi,  frixi,  nexi,  serui,  sidi 
als  unclassisch  fallen. 

Die  paradigmen  sind  mit  recht  streng  getrennt  nach  den 
drei  stammgruppen  durchconjugiert  worden,  doch  hätte  die  zweite 
und  dritte  gruppe  besser  nebeneinander,  nicht  untereinander  ge- 
stellt werden  sollen,  im  übrigen  ist  die  wähl  von  moneo  statt 
deleo  zu  billigen,  während  prehendo  für  lego  keinen  fortschritt  be- 
zeichnet. 

Ebenso  wenig  kann  ich  als  besonderen  vorzug  empfinden,  dasz 
sich  Lutsch  bemüht  hat,  in  die  gereimten  genusregeln,  die  so  oft  die 


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Lateinische  Übungsbücher.  315 

kritik  herausgefordert  haben,  etwas  mehr  geschwätzigkeit  zu  bringen, 
als  sie  in  andern  formenlebren  zu  haben  pflegen,  ich  bin  kein  freund 
von  solchen  reimregeln: 

ein  tlu kz,  ein  volk,  ob  grosz,  ob  klein, 
will  stets  als  mann  behandelt  sein; 
indes  die  bäume  allzumal 
sich  rechnen  za  der  weiber  zahl. 

Zu  diesen  mehr  oder  weniger  äuszeren,  mnemonistischen  mit- 
tein gesellt  sich  dann  in  dem  buche  noch  ein  inneres,  welches  dem 
verstandesmäszigen  erfassen  der  spräche,  so  weit  sie  in  ihren  formen 
zu  tage  tritt,  dienen  soll,  nemlich  die  berücksichtigung  der  resultate 
der  Sprachwissenschaft,  nun  sind  zwar  formen  wie  mensai  und  men- 
sans  nicht  vorgeführt  worden;  aber  ich  bezweifle  auch  sehr,  dasz  es 
praktisch  ist,  rosa^e  u.  ä.  m.  drucken  zu  lassen,  gleicherweise  gehört 
§  20  die  bildung  des  nom.  sing,  der  dritten  declination  und  §  21 
anderweitige  Veränderungen  des  Stammes  u.  s.  f.  nicht  in  ein  lern- 
buch für  sexta  und  quinta. 

Auszerdem  sind  mir  folgende  einzelheiten  aufgefallen:  §  10,  3 
tiernamen  mit  neutraler  endung  sind  masculina;  dann  kann  s.  17 
vultur,  lepus  und  mus  gestrichen  werden.  §  15  ist  zweimal  gezählt, 
dem  ablativ  könnte  hier  und  sonst  des  besseren  Verständnisses  wegen 
eine  präposition  (in,  de,  a  oder  cum)  hinzugefügt  werden.  §  16  die 
regel  über  das  geschlecht  der  städtenamen  gehört  nach  §  10;  auszer- 
dem kann  zum  mindesten  alvus  gestrichen  werden.  §  22  die  adjec- 
tiva  hätten  hier  und  in  den  folgenden  paragraphen  für  sich  besonders 
behandelt  werden  sollen.  §  23  finden  sich  die  bemerkungen  über 
die  bildung  des  abl.  sing.,  des  nom.  acc.  voc.  plur.  der  neutra  und 
des  gen.  plur.  in  der  alten  verkehrten  anordnung  wie  bei  Ellendt- 
Seyffert.  warum  nicht  einfach:  1)  um  statt  ium,  2)  ium  statt  um, 
3)  im  statt  em  und  i  statt  e?  die  adjectiva  denke  ich  mir  dabei 
immer  besonders  behandelt;  ebenso  die  neutra  auf  e,  al  und  ar.  §  24 
von  den  ausnahmen  der  hauptregel  ist  compos  zu  streichen ;  parti- 
eipum  und  uberum  ist  meines  Wissens  nirgends  belegt,  supplicum 
und  celerum  aber  in  classischer  zeit  nur  substantivisch.  §  25  von 
den  besonderheiten  in  der  casusbildung  konnte  Ii  t  ium,  faucium, 
nivium;  aera,  aethera,  Pana  und  Salamina  unerwähnt  bleiben,  das 
gleiche  gilt  §  26  von  den  ausnahmen  im  geschlecht  cos,  compedes, 
card o ,  pugio  |  papilio ,  seipio ,  septentrio,  aequor,  verber,  axis,  ensis, 
torquis,  fustis,  anguis,  unguis,  Vertex,  codex,  Culex,  silex,  cortex, 
torrens,  oriens  und  occidens.  übrigens  sollten  die  substantiva  auf 
ex  mit  einziger  ausnähme  von  grex  als  feminina  angesehen  werden, 
ferner  wäre  es  praktischer  die  Wörter  auf  guis  und  nis  zusammen  zu 
behandeln.  §  34  kann  gracilis  fallen.  §  35  fehlt  die  deutsche  be- 
deutung  der  unregelmäszig  gesteigerten  adjectiva.  §  51,  2  ist  al  te- 
rms statt  (altus)  zu  setzen. 


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Lateinische  Übungsbücher. 


2)  Victor  Müller,  Übungsbuch  für  den  Unterricht  im  latei- 
nischen, erster  teil.  FÜR  Sexta.  Hamburg,  Verlagsanstalt  und 
druckerei,  actien-gesellschaft  (vormals  J.  F.  Richter).  1889. 

Das  vorliegende  Übungsbuch  zerfÄllt  wie  dasjenige  von  Holz- 
weissig  in  drei  abschnitte.  8. 1—74  enthält  die  lateinischen,  s.75— 
134  die  deutschen  stücke;  aufs.  135 — 184  befindet  sich  das  Wörter- 
verzeichnis. 

Was  zunächst  den  in  halt  anbelangt,  so  werden  nur  zusammen- 
hängende stücke  geboten;  darunter  zahlreiche  fabeln  und  gespräche. 
aus  der  griechischen  sagengeschichte  findet  man  den  trojanischen 
krieg  und  die  irrfahrten  des  Odysseus.  im  übrigen  sucht  das  buch 
der  nationalen  aufgäbe  der  schule  dadurch  gerecht  zu  werden,  dasz 
es  in  entschiedener  weise  die  vaterländische  geschiente  bevorzugt, 
vor  allem  wird  gern  berichtet  von  dem  leben  und  den  thaten  des 
ruhmreichen  kaisers  Wilhelm  I,  insonderheit  von  den  groszthaten 
des  letzten  krieges.  die  deutschen  Übungsstücke  sind  anfänglich  selb- 
ständig gehalten,  weil  es  wünschenswert  erschien,  einen  gröszeren 
Wortschatz  zu  gewinnen,  späterhin  bieten  die  deutschen  stücke  meist 
freie  Umarbeitungen  der  lateinischen,  auszer  Holzweißig  sind  hier 
die  vorarbeiten  von  Lattmann,  M eurer  und  Weller  benutzt  worden. 

Der  grammatische  stoff  ist  mit  groszem  geschick  in  viele 
kleine  stücke  zerlegt  worden,  nur  abschnitt  69  bietet  zu  viel  auf 
einmal,  dabei  ist  der  gewöhnliche  gang  der  grammatik  im  groszen 
und  ganzen  beibehalten  worden,  doch  sind  die  neutra  auf  e,  al  und 
ar  aus  nahe  liegenden  gründen  erst  nach  den  adjectiven  der  dritten 
declination  behandelt  worden,  die  regelmäszige  Steigerung  findet 
man  nach  der  ersten  conjugation  und  die  pronomina  nach  der  zweiten 
conjugation  eingeschoben,  die  vierte  conjugation  ist  mit  recht  der 
dritten  vorweggenommen  worden. 

Damit  hätte  das  buch  vernünftiger  weise  schlieszen  sollen,  es 
ist  jedoch  noch  ein  zweiter  cursus  angefügt  worden,  in  welchem  die 
wichtigsten  ausnahmen  von  den  hauptgenusregeln  der  dritten,  vier- 
ten und  fünften  declination  durchgenommen  werden;  ferner  die 
wichtigsten  ausnahmen  von  der  regel  über  den  gen.  plur.  der  sub- 
stantiva  der  dritten  declination,  wohin  auszer  iuvenum,  vatum,  pa- 
trum  usw.  wunderlicher  weise  auch  marium ,  nubium ,  urbium  usw. 
gerechnet  wird,  dazu  gesellen  sich  die  pluralia  tantum,  die  appo- 
sition,  das  neutrum  pluralis,  der  infinitiv  als  subject,  die  Zahlwörter, 
die  adverbia,  die  präpositionen ,  die  composita  von  sum  und  die  de- 
ponentia. 

Alle  diese  capitel  mit  ausnähme  der  cardinalia  und  ordinalia 
hätten  in  das  Übungsbuch  für  quinta  verwiesen  werden  sollen. 

Das  vocabular  bietet  die  präparation  zu  den  einzelnen  lese- 
8tücken,  geordnet  nach  grammatischen  gesichtspunkten.  doch  findet 
sich  infolge  der  zusammenhängenden  erzählungen  auch  hier  eine 
grosze  anzahl  von  Wörtern,  die  der  sextaner  sehr  wohl  entbehren 


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Lateinische  Übungsbücher. 


317 


kann,  dieselben  hätten  wenigstens  durch  kleineren  druck  gekenn- 
zeichnet werden  sollen. 

Das  verbalverzeichnis  der  ersten  und  vierten  conjugation  bietet 
mit  recht  nur  regelmäszige  bildungen.  dasselbe  verfahren  hätte  auch 
in  der  zweiten  conjugation  eingeschlagen  werden  sollen ,  und  zwar 
waren  hier  nur  verba  mit  ui  und  itum  zu  geben,  die  dritte  conjuga- 
tion bietet  perfecta  auf  si,  vi,  ui,  i  und  solche  mit  reduplication : 
die  hälfte  wäre  für  sexta  mehr  als  genug  gewesen,  übrigens  ist  zu 
exercere  als  supinum  exercitatum  zu  geben,  zu  tallere  aber  deceptum. 
dagegen  ist  das  supinum  zu  valeo,  lateo,  pareo,  teneo  und  iaceo  zu 
streichen;  ebenso  das  perfectum  von  inesse. 

Was  die  bezeichnung  der  quantität  anlangt,  so  hätten  die  langen 
vocale  lieber  durchgängig  mit  einem  striche  versehen  werden  sollen; 
dann  brauchten  die  kurzen  silben  nicht  besonders  gekennzeichnet  zu 
werden. 

Auch  die  Schreibung  der  einzelnen  Wörter  ist  nicht  immer 
richtig:  §  11  lies  caelum  statt  coelum,  ferner  fecundus  statt  foecun- 
dus;  §  19  co n in nx  f.  statt  coniux  c.j  §  20  autumnus  statt  auctum- 
nus;  §  26  oboedientia  statt  obedientia  und  ebenso  §  69  oboedire 
statt  obedire. 

Am  unteren  rande  des  Wörterverzeichnisses  finden  sich  wie  bei 
Holzweissig  einzelne  syntaktische  und  stilistische  bemerkungen  und 
regeln,  davon  sollte  §  67  der  ablativus  comparationis  lieber  ge- 
strichen werden,  weil  dieser  casus  dem  sextaner  schon  an  und  für 
sich  genug  Schwierigkeiten  bereitet. 

Der  gefällige,  klare  und  deutliche  druck  des  buches  verdient 
besonderes  lob. 

3)  Wesener,  lateinisches  elementarbuch,  drei  teile:  sexta, 

QUINTA,  QUARTA.  DRITTE,  BZW.  VIERTE  UMGEARBEITETE  AUFLAGE. 

Leipzig,  Teubner.  1889. 

Das  erste  heft  zerfällt  in  fünf  abteilungen :  A.  Vorbemerkun- 
gen und  Vorübungen,  B.  lateinische  und  deutsche  beispiele  zur  Ein- 
übung der  formenlehre,  C.  fabeln  und  erzählungen,  D.  vocabularium, 
£.  Verzeichnis  der  eigennamen. 

Die  Vorbemerkungen  enthalten  den  ind.  und  imp.  praes.  von 
timere  nebst  zwölf  andern  verben  der  zweiten  conjugation,  welcher 
für  diesen  zweck  vor  der  ersten  conjugation  der  vorzug  gegeben 
worden  ist,  weil  hier  nicht  wie  dort  in  der  ersten  person  singularis 
eine  contraction  des  stamm  vocale  s  mit  der  endung  stattfindet,  son- 
dern der  stamm  in  allen  formen  dem  schüler  deutlich  bemerkbar  ist. 
dazu  gesellen  sich  einige  formen  von  esse,  nemlich  est,  sunt,  erat, 
erant;  ferner  die  fünf  gebräuchlichsten  partikeln:  et,  non,  saepe,  sed, 
semper;  schlieszlich  die  präposition  in  mit  dem  ablativ.  die  Vor- 
übungen bestehen  in  kleinen  lateinischen  einzelsätzen ,  welche  nach 
den  casus  a)  nom.,  b)  acc,  c)  gen.,  d)  dat.,  e)  abl.  geordnet  sind. 


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Lateinische  Übungsbücher. 


Die  Übungsbeispiele  auf  s.  2  —  72  sind  dem  gesichtskreis  des 
seztaners  angepasst  und  vernünftiger  weise  nur  hin  und  wieder  der 
alten  geschieh  te  entnommen,  der  grammatische  lehr  st  off  selbst  ist 
mit  glück  in  kleine  pensa  geteilt  worden,  in  der  anordnung  des- 
selben ist  der  Verfasser  ziemlich  streng  dem  gange  der  grammatik 
gefolgt,  um  jedoch  gelegenheit  zu  bieten ,  möglichst  schnell  an  die 
conjugation  zu  kommen,  sind  die  Übungsstücke  zur  ersten,  zweiten 
und  vierten  conjugation  in  je  zwei  teile  A  und  B  zerlegt  worden, 
von  denen  die  mit  A  bezeichneten  schon  vor  den  pronominibus  durch- 
genommen werden  können,  die  consonantische  conjugation  ist  nem- 
lich  mit  recht  erst  nach  den  vocalischen  conjugationen  behandelt 
worden,  während  sich  capio  praktischer  weise  erst  im  zweiten  hefte 
findet,  das  hilfszeitwort  dagegen  ist  zwischen  die  numeralia  und 
die  pronomina  eingeschoben  worden,  auch  die  dem  sextaner  un- 
verständlichen nominalformen  des  verbums  sähe  ich  lieber  am  ende 
des  zweiten  heftes  im  Zusammenhang  mit  den  syntaktischen  regeln 
besprochen,  was  sodann  die  behandlung  der  deponentia  betrifft,  so 
kann  ich  es  nicht  gut  heiszen,  dasz  im  ersten  teile  nur  diejenigen 
besprochen  werden,  welche  nach  der  ersten  conjugation  gehen, 
die  deponentia  aller  vier  conjugationen  sind  zusammen  zu  behandeln, 
sei  es  nun  in  sexta,  wie  es  das  regulativ  für  die  gymnasien  vor- 
schreibt, oder,  was  mir  als  das  praktischere  erscheint,  in  quinta. 
dahin  möchte  ich  auch  die  nun  noch  folgenden  abschnitte  Uber  die 
Präpositionen  und  über  die  adverbia  gestellt  wissen. 

Vor  allem  verdient  es  lob  und  anerkennung,  dasz  im  anschlusz 
an  Harre,  unser  aller  meist  er,  viele  einzeihe  iten  und  besonderheiten 
beseitigt  worden  sind,  auf  deren  einübung  die  meisten  Übungsbücher 
und  schulgrammatiken  immer  noch  nicht  verzichten  zu  können 
glauben,  namentlich  in  den  beispielen  zur  dritten  declination  ist  so 
eine  nicht  unbeträchtliche  Vereinfachung  und  kürzung  eingetreten, 
auch  von  den  pronominibus  kommen  nur  die  wichtigsten  und  unent- 
behrlichsten zur  einübung. 

Die  angehängten  fabeln  und  erzählungen  sollten  vermehrt  und 
über  das  ganze  buch  verteilt  werden ,  dessen  brauchbarkeit  dadurch 
um  ein  bedeutendes  erhöht  werden  würde. 

Das  zweite  heft  bietet  an  erster  stelle  ein  Verzeichnis  der 
vocabeln  zu  den  auf  s.  15 — 71  folgenden  50  Übungsstücken,  diese 
behandeln  §  1  —  6  die  declination  der  substantiva,  §  7  —  8  die  ad- 
jectiva,  §  9 — 10  die  numeralia  und  pronomina,  die  lieber  getrennt 
hätten  besprochen  werden  sollen,  darauf  folgen  die  sogenannten 
unregelmäszigen  verba,  und  zwar  §  11—13  die  erste,  §  14—19  die 
zweite,  §  20—33  die  dritte,  §  34  die  vierte  conjugation,  von  denen 
sich  namentlich  die  behandlung  der  verba  der  dritten  conjugation 
durch  praktische  teilung  auszeichnet,  in  den  §  35  —  38  werden  ge- 
mischte beispiele  geboten,  die  deponentia  der  zweiten,  dritten  und 
vierten  conjugation  folgen  §  39  —  42;  zu  ihnen  gehören,  wie  schon 
erwähnt,  auch  die  deponentia  der  ersten  conjugation  aus  dem  für 


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Lateinische  Übungsbücher. 


319 


sexta  bestimmten  teile,  von  den  verba  anomala  §  43  ff.  könnte  edere 
füglich  gestrichen  werden,  ferner  sind  die  composita  von  ferre  und 
ire  getrennt  von  dem  simplex  zu  behandeln,  auch  sollte  fieri  in  einem 
besonderen  paragraphen  fttr  sich  allein  besprochen  werden,  nach 
den  verba  defectiva  in  §  47  und  den  verba  impersonalia  in  §  48 
folgen  wiederholungsbeispiele. 

Nach  absolvierung  dieser  schwierigen  capitel  finden  sich  auf 
s.  72  —  83  lateinische  und  deutsche  fabeln  und  erzählungen  prak- 
tischer weise  zur  erholung  eingestreut. 

In  den  §  51  —  53  werden  die  präpositionen  durchgenommen, 
denselben  würde  ich  gleich  die  Ortsbestimmungen  anschlieszen ,  die 
erst  §  62  besprochen  werden,  im  übrigen  sollten  von  syntaktischen 
regeln  in  quinta  nur  die  nominalen  verbalformen  bebandelt  werden, 
die  übungssätze  Uber  einzelne  regeln  aus  der  casuslehre  könnten  im 
dritten  hefte  aufnähme  finden. 

Auf  8.  106 — 138  folgen  lobenswerter  weise  wieder  kleinere 
und  gröszere  fabeln  und  erzählungen  sowohl  in  lateinischer  als  auch 
in  deutscher  spräche. 

Den  schlusz  des  hübsch  ausgestatteten  buches  bildet  ein  latei- 
nisch-deutsches und  ein  deutsch  -  lateinisches  Wörterverzeichnis,  das 
sich  mir  immer  als  sehr  zuverlässig  erwiesen  hat. 

Der  dritte  teil,  welcher  ursprünglich  mit  dem  zweiten  ein  ge- 
meinsames heft  bildete,  ist  nunmehr  von  demselben  getrennt  er- 
schienen ,  weil  laut  Vorwort  von  der  zuständigen  behörde  die  Ver- 
einigung der  beiden  teile  als  das  hindernis  bezeichnet  wurde,  welches 
der  einführung  des  buches  an  preuszischen  Unterrichtsanstalten  ent- 
gegenstand. 

Dieses  heft  bietet  nur  zusammenhängende  stücke,  die  in  einer 
neuen  aufläge  numeriert  werden  möchten,  auf  die  classenlectüre  ist 
die  gebührende  rücksicht  genommen  worden,  ich  finde  eine  kurze 
lebensbeschreibung  des  Thrasybul  s.  15,  des  Cimon  s.  24,  des  Han- 
nibal  s.  26 ,  des  Timoleon  s.  37,  des  Alcibiades  s.  38 ,  des  Aristides 
8.  39,  des  Pausanias  s.  45,  des  Miltiades  s.  65,  des  Timotheus  s.  70. 
ferner  handelt  8.  72  —  76  über  des  Xerxes  zug  nach  Griechenland, 
s.  35  über  den  feldzug  der  Athener  gegen  Sicilien ,  s.  47  über  die 
belagerung  von  Samos,  s.49  über  die  Schlacht  bei  Mykale.  von  den 
Perserkönigen  wird  gern  erzählt,  so  von  Cyrus  s.  20  und  29,  von 
Kambyses  s.  14,  von  Pseudosmerdis  8.  71,  von  Darius  Hystaspia 
s.  16,  33  und  69.  es  begegnen  jedoch  auch  erzählungen  aus  der  römi- 
schen geschiente,  z.  b.  s.  22  über  den  numantinischen  krieg,  s.  27 
über  Caesar  und  die  Helvetier,  s.  30  über  An  tonin  us  Pius,  s.  55  über 
Mucius  Scaevola,  s  59  über  den  Ursprung  der  stadt  Rom,  s.  61  über 
den  ersten  Samniterkrieg  und  dergl.  mehr. 

Der  erste  abschnitt  auf  s.  1 — 12  handelt  über  den  ausgang  des 
trojanischen  krieges  und  dient  zur  Wiederholung  der  unregelmäszigen 
verba.  hier  verdient  die  teilung  in  kleinere  pensa  (erste,  zweite, 
dritte,  vierte  conjugation;  deponentia;~ verba  anomala)  besondere 


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320 


Personalnotizen. 


anerkennung.  ich  wünschte  nur,  dieser  grundsatz  wäre  auch  im  fol- 
genden beachtet  und  durchgeführt  worden,  an  zweiter  stelle  sollte 
meines  er  achtens  ein  abschnitt  zur  Wiederholung  der  nominalen 
verbalformen  folgen,  dann  würde  ich  den  anbang  über  die  dasz-sätze 
(s.  68  ff.)  einschieben  und  nun  erst  die  Übungsstücke  über  die  con- 
gruenz  und  die  casuslehre  (s.  13  ff.)  bringen,  von  denen  namentlich 
der  erste  abschnitt  des  guten  zu  viel  auf  einmal  bringt:  subject, 
prädicat,  attribut,  apposition,  congruenz  des  pronomens.  auch  halte 
ich  es  für  praktischer,  nach  dem  accusativ  nicht  den  genetiv,  sondern 
den  dativ  zu  besprechen. 

Das  Wörterverzeichnis  bietet  viele  vocabeln,  die  dem  quartaner 
längst  bekannt  sein  müssen,  wie:  aber,  absieht,  acker,  allein,  an- 
denken, anfuhrer,  angriff  usw. 

Das  buch  verdient  der  beachtung  der  herren  collegen  empfohlen 
zu  werden. 

Annabebg.    Ebnst  Haupt. 


(6.) 

PERSONALNOTIZEN. 


Ernennungen  ,  befürderungen  ,  YerKetzungen  ,  auKxeiehnungen. 

Credner,  Hermann,  dr.,  oberbergrat,  prof.  an  der  univ.  Leipzig,  mm 

geheimen  bergrat  ernannt. 
Jörling,  Franz,  Oberlehrer  am  gymn.  zu  Gnesen,  als  'professor*  prä- 

diciert. 

Zenzes,  dr.,  Joh.,  Oberlehrer  am  Marien-gymn.  zu  Posen,  zum  director 
des  gymn.  in  Wongrowitz  ernannt. 

Gestorben  t 

Bi erlinger,  Anton,  dr.,  aord.  prof.  der  deutschen  philologie  an  der 
univ.  Bonn,  um  deutsche  sagen-  und  Sittenforschung  vielverdient, 
am  15  juni.  B.  war  geb.  am  14  januar  1834  zu  Wurmlingen  in 
Würtemberg. 

Dinse,  M.,  dr.  prof.,  früher  lehrer  am  grauen  kloster  in  Berlin,  am 
24  raai  daseibat. 

Gloel,  Johann,  dr. ,  ord.  prof.  der  theologie  an  der  univ.  Erlangen, 
am  10  juni,  im  35n  lebensjahre.    G.  war  geb.  am  22  april  1857. 

Kinkel,  Gottfried,  dr.,  kunsthistoriker  in  Bonn,  am  22  mai,  47j&hrig. 

v.  Nägel i,  Karl  Wilhelm,  dr.,  ord.  prof.  an  der  univ.  München,  starb 
daselbst  am  11  mai,  der  gröste  botaniker  und  pflanzenphysiolog 
der  gegenwart,  geb.  am  30  märz  1817  zu  Kilchsberg  bei  Zürich. 

Springer,  Anton,  dr.  ph.  u.  th.,  geh.  hofrat,  ord.  prof.  der  mittelalter- 
lichen und  neueren  kunstgeschichte ,  am  31  mai,  66jährig. 


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ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜB  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT   AUSSCHLUSS   DKK  CLA8HISCHEN  PHILOLOGIE 

HERAU8GEGEBEN  VON  PROF.  DR.  HERMANN  MaSIUS. 


(10.) 

BEITRÄGE  ZUR  GESCHICHTE  DES  HÖHEREN  SCHUL- 
WESENS IN  DER  OBERLAUSITZ, 
(fortsetzung  und  vorläufig  schlusz.) 


Was  die  einkünfte  der  lehrer  anlangt,  so  ist  zunächst  daran 
nochmals  zu  erinnern,  dasz  dem  meister  vom  rate,  oder  in  Bautzen 
vom  domcapitel  einzig  das  recht  verliehen  wurde,  schule  zu  halten, 
und  dasz  er  einen  gehalt  wahrscheinlich  in  allen  Sechsstädten  nicht 
erhielt,  was  wir  ja  aus  Görlitz  bestimmt  wissen,  über  die  einkünfte, 
welche  den  'schuldienern*  von  der  kirche  infolge  manigfaltiger  Ver- 
richtungen, die  meist  durch  Vermächtnisse  bestimmt  waren,  zuflössen, 
ist  oben  gesprochen  worden,  desgleichen  auch  über  die  möglichkeit 
von  nebenverdiensten  beim  rat.  es  erübrigt  nur  noch,  hier  über 
die  verschiedenen  be/.üge  von  den  Schulkindern  einiges  hinzu- 
zufügen, wir  beginnen  mit  der  Bautzener  Schulordnung41  vom  jähre 
1418,  die  für  unsern  zweck  eine  vorzügliche  quelle  ist.  wir  schicken 
voraus,  dasz  die  kinder  nach  dem  vermögen  ihrer  eitern  in  drei 
classen  eingeteilt  waren:  reiche,  mittelmäszige,  arme,  von  denen  die 
letzteren  von  allen  leistungen  befreit  waren.  —  Beim  eintritt  in  die 
schule,  welcher  am  tage  St.  Gregorii  (am  anfang  des  Schuljahres, 
12  märz)  erfolgte,  soll  jeder  ('der  arme',  wie  bemerkt,  ausgenom- 
men) 'dem  meister  zu  lohn'  2  gr.  geben  und  'fürbas  frey  seyn  bis 
auf  S.  Michaelis  tag,  ob  (=  wenn)  er  bleibet  bey  der  schule',  an 
»chulgeld  aber  hatte  der  rector  vierteljährlich  am  quatember  von  den 
reichen  2  gr.  und  von  den  mittelmäszigen  1  gr.  zu  bekommen,  zur 


44  obwohl  sie  schon  von  mehreren,  zuletzt  von  Müller  archiv  VIII 
s.  260  ff.  besprochen  worden  ist,  glauben  wir,  sie  hier  nicht  übergehen 
zu  dürfen. 

N.j*hrb.  f.  phil.u.  pid.  Il.abt.  1891  hfl.  7.  21 


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322    Beiträge  zur  geschieht«  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 

heizung  der  zimmer  erhielt  er  von  jedem  knaben  der  ersten  ver- 
mögensclasse  im  winter  täglich  rein  scheit  holz'  oder  für  die  ganze 
zeit  'ein  fuder  holz'  oder  2  gr.,  von  der  zweiten  classe  bekam  er  die 
hälfte.  wenn  die  kinder  aus  der  elementarclasse  in  die  nächste 
(Donatclasse)  aufrücken  wollten ,  hatten  sie ,  wohl  ebenfalls  an  den 
rector,  'jegliches  einen  pfenning',  die  armen  nichts  zu  bezahlen, 
ebenso  wenn  die  schüler  in  die  oberste  classe  kamen  (Müller:  'die 
man  setzt  zu  dem  cantu'  ftir  das  überlieferte  'die  man  jetzt  zu  dem 
cantu') :  'zum  ersten  6  heller,  zu  dem  andern  8  heller,  zu  dem  dritten 
1  gr.'  am  25  november  (Katharinentag)  endlich  erhielt  der  Schul- 
meister 1  gr.46  zusammen  mit  seinen  lehrern  bat  er  folgende  be- 
züge:  am  tage  Johannis  bapt.  (24  juni)  der  meister  4  heller,  der 
unterweiser  des  betreffenden  kindes  6  heller  'oder  einen  halben  topf 
mit  geschlagenen  kornmehl'46,  zu  Mariae  himmelfahrt  (15  august) 
der  meister  und  der  locator  je  '1  methe  heller'  (meth  =  honigwein), 
zu  neujahr  der  meister  6  heller,  der  locator  2  gr.  (überliefert  ist 
'zu'  gr.,  'zwo'  Müller)  von  den  reichen,  die  hälfte  von  den  mittel- 
mäszigen.  der  cantor  erhält  zu  ostern,  pfingsten,  michaelis  und 
Weihnachten  den  'austreibeheller',  je  einen  pfennig,  von  allen  Schü- 
lern, mit  ausnähme  der  armen,  bezüglich  des  locators  und  des 
signators  wird  bestimmt,  dasz  'ein  jeglich  wohlhabend  kind  soll  sein 
brod ,  das  es  mit  ihm  (sich)  in  die  schule  trägt,  halb  geben  dem 
locatori,  der  es  lehrt,  in  den  werkeltagen,  am  sonntage  dem  signatori, 
oder  alle  wochen  [natürlich  dem  signatori]  ein  heller,  oder  jederzeit 
der  quatember  1  gr.,  davon  der  locator  haben  soll  von  dem  locatore 
einen  pfenning'  —  'sed  pauper  nihil'  wird  hinzugefügt,  die  beiden  (?) 
locatoren  endlich  hatten  noch  ihre  festen  einnahmen  durch  den  ver- 
kauf der  von  ihnen  abgeschriebenen  Schulbücher  (vgl.  oben);  diese 
musten  die  knaben  von  den  locatoren  entnehmen  oder,  wenn  das 
nicht  geschah,  als  entschädigung  2  bzw.  1  gr.  (reiche  und  mittel  - 
mäszige)  zahlen,  eine  bestimmung,  die  auch  anderwärts,  z.  b.  in 
Schleiz  (Schulordnung  vom  jähre  1492  bei  Müller  a.  o.  s.  1 13)  und 
in  Marienberg  (Schulordnung  zweite  hälfte  des  15n  jahrhunderts 
a.  o.  124)  galt,  diese  entschädigung  wird  an  den  beiden  genannten 
orten  'anhebegeld'  genannt,  wodurch  die  überlieferte  form  der 
Bautzener  Schulordnung47:  die  kinder  sollten  das  geld  'in  anheben' 
bezahlen,  ihre  erklärung  findet;  Knauthe  (oberlaus,  nachl.  1771), 


45  in  der  Schulordnung  steht  allerdings  nur:  fl  gr.  zu  Catharinae'; 
da  jedoch  im  vorhergehenden  die  bestinimung  rdem  locatori*  nie  fehlt, 
wenn  dieser  auch  seinen  teil  bekommt,  ist  in  diesem  falle  der  rector 
als  alleiniger  empfänger  zu  denken.    Müller  ist  a.  o.  unklar. 

4*  die  bemerkung  vorher:  'item  nach  Johannis  bapt.  ein  jegliches 
wohlhabend  kind  einen  heller',  ist  unerklärlich,  da  der  empfanger  fehlt; 
es  könnte  nur  der  cantor  oder  der  signator  in  frage  kommen.  Müller 
läszt  die  worte  ganz  weg. 

47  Bautzener  rntsarchiv  reo.  IV  sect.  III  Aa  nr.  1  und  Techellsche 
chronik,  auch  bei  Schöttgen,  der  löblichen  buchdruckergesellschaft  zu 
Dresden  jubelgesthichte  (1740)  s.  6. 


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Beiträge  zur  geschieht«  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  323 


von  dem  Joh.  Müller  die  Schulordnung  in  seine  Sammlung  über- 
nahm, änderte  daher  mit  unrecht  die  worte  in  rein  ansehnlich',  wobei 
man  sich  doch  gar  nichts  denken  kann,  von  den  einkünften  kommen 
also  dem  cantor  und  dem  signator  die  wenigsten  zu  gute ;  das  ist 
leicht  zu  erklären :  sie  hatten  infolge  ihrer  Stellung  die  haoptein- 
nahmen  von  der  kirche. 

Von  der  Görlitzer  schule  bietet  wieder  Hass  allein  bestimmte 
nachrichten.  wenn  er  jedoch  a.  o.  s.  303  sagt,  der  Schulmeister  habe 
von  jedem  schüler  an  schulgeld  halbjährig  1  gr*4*  erhalten  und  der 
cantor  2  pfennige,  'das  er  die  schuler  mit  berbrige  vorsorget*  (auf 
wie  lange  zeit,  wird  nicht  hinzugefügt),  so  gibt  er  damit  sicherlich 
nur  wenige  der  einkünfte  von  den  Schülern  an4*,  wie  er  ebenso  kurz 
auch  die  von  der  kirche  abthut  mit  den  Worten:  ritem  [sc.  ein- 
nahmen] der  kirchen,  der  funera,  dein  grosz  vnd  mittel,  den  ein 
grosz  funus  mit  der  gantzen  schule  conducirt  hat  dem  Schulmeister 
gegeben  1  fl.  hung.' 

Die  für  Bautzen  und  Görlitz  geltenden  bestimmungen  finden 
wir  mit  hilfe  der  von  Müller  herausgegebenen  Schulordnungen  hier 
und  da  in  ganz  Deutschland ,  natürlich  mit  der  oder  jener  gering- 
fügigen änderung,  im  gebrauch,  und  wir  zweifeln  daher  nicht,  dasz 
die  vier  anderen  Sechsstädte  den  beiden  genannten  ohne  weiteres 
auch  hierin  an  die  seite  zu  stellen  sind. 

Lieferungen  von  naturalien  seitens  der  eitern  und  des  rates 
sind  uns  aus  Zittau  bekannt,  nach  Gärtner  a.  o.  s.  6  wurde  1530 
noch  an  den  stadtsyndicus  und  den  rector  'ein  schwein  aus  der 
mühlen'  geliefert,  was  jedenfalls  ebenso  auf  eine  alte  Stiftung  zu- 
rückzuführen ist,  wie  die  lieferung  von  12  scherte  1  korn  aus  des 
rates  obermühle  und  eines  mühlschweines  zu  fastnachten  an  den 
Bautzener  rector  (bei  Hessler,  die  frommen  Stiftungen  in  Bautzen 
III  s.  18  aus  dem  jabre  1692  erwähnt)  und  'die  Zurichtung  eines  guten 
schöpses*  an  den  rector  zu  Löbau  (Knauthe,  geschiente  der  schule  zu 
Löbau  s.  18).  andere  naturalien  musten  sich  die  lehrer  nach  einer 
alten  Bitte  erst  erbetteln,  wie  am  Gregorius-  und  Martinstage,  wo- 
von uns  Christian  Weise  in  der  oratio  saecularis  s.  8  eine  so  lebhafte 
Schilderung  gibt,   in  jener  zeit  fühlte  man  das  unwürdige  solcher 


48  bei  Hass  lesen  wir:  fdes  halben  jaris  vom  schuler  1  gr.  introitus.' 
das  letzte  wort  ist  in  dem  zusammenhange  unverständlich,  vielleicht  soll 
es  heiazen:  rdes  ersten  halben  jaris';  darin  würden  wir  die  Bautzener 
he  Stimmung-,  siehe  oben,  wiedererkennen.  —  Der  irrt  um  bezüglich  der 
bestimmten  nachrichten  über  den  buchhandel  in  Görlitz  ist  oben  be- 
sprochen worden. 

49  ein  euriosum  ist,  was  Schütt  a.  o.  s.  13,  8  mitteilt:  1512  bat 
Thomas  Spiess  von  Weyda,  mgr.  und  Schulmeister,  die  eldisten  herrn, 
seinen  Schülern  zu  fastnacht  gemeine  bier  zu  trinken  /u  vergönnen, 
welches  ihm  aber  durch  den  subnotarius  abgesagt  worden,  und  da  er 
auf  dem  rathause  noch  einmal  angebalten,  ihm  sein  lohn  zu  bessern 
versprochen  worden;  der  ratsbeschlusz  befindet  sich  in  den  annalen  von 
Hass  II  s.  205. 

21* 

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324     Beiträge  zur  geschichte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausiti. 

Sammlungen  gewis  nicht,  Weise  fügt  aber  a.  o.  mit  genugthuung 
hinzu ,  dieser  brauch  sei  mit  der  einführung  der  reformation  ver- 
schwunden. 

Dasz  das  Schulgeld  usw.  eine  gute  einnähme  für  die  lehrer  hätte 
ergeben  können,  wenn  bei  einer  so  bedeutenden  schülerzahl,  wie  in 
Görlitz,  ein  gröszerer  teil  gezahlt  hätte,  ist  leicht  einzusehen,  unter 
den  schtilern  gab  es  jedoch  sehr  viel  arme,  die  ja  von  allen  abgaben 
befreit  waren,  wie  viele  von  den  fahrenden  allein  werden  wohl 
ihren  Verpflichtungen  nachgekommen  sein?  sie,  die  oft  genug  nach 
den  Städten  strebten,  wo  die  mildthätigkeit  am  meisten  geübt  wurde, 
und  diese  mildthätigkeit  war  aller  orten  grosz,  sei  es  dasz  Stiftungen, 
natürlich  bei  der  kirche,  bestanden,  sei  es  dasz  der  wohlthätige  sinn 
der  bürgerschaft  in  freier  weise  sich  zu  bewähren  gelegenheit  fand, 
zu  der  ersteren  art  gehörten  Stiftungen,  wie  die  in  Zittau,  welche 
Gärtner  a.  o.  8.  8  erwähnt.  1380  wurde  ein  capital  dem  rate  über- 
geben, von  dessen  zinsen  die  eine  hälfte  vier  gesellen  von  der  schule 
zu  gute  kommen  soll  dafür,  dasz  sie  vom  charfreitag  bis  zu  der  zeit, 
da  man  das  kreuz  erhebt,  in  der  pfarrkirche  tag  und  nacht  den  psalter 
lesen  (der  stiftungsbrief  wird  von  Carpzov  a.  o.  III  8.  9  und  97  fast 
ganz  mitgeteilt,  daraus  in  dem  verz.  oberlaus.  urk.  I  nr.  524);  1519 
stiftete  ein  anderer  das  'salve  regina'  (Carpzov  a.  o.  s.  10  hat  gleich- 
falls die  näheren  bestimmungen,  nach  denen  die  schüler  insgemein 
1 2gr.  bekommen);  hierher  ist  jedenfalls  auch  das  'tonebrae',  seit  1476, 
zu  ziehen ,  obwohl  Carpzov  die  schüler  nicht  mit  nennt,  das  'salve 
regina*  in  Lauban  haben  wir  oben  zu  erwähnen  gehabt  und  in  Kamenz 
erhalten  zwei  scholares  seu  ch orales  per  rectorem  scbole  ad  hoc  (zu 
den  in  der  Urkunde  genannten  feierlichen  handlungen)  deputandi  aus 
einer  Stiftung  eine  bestimmte  summe,  ähnlich  waren  die  Vermächt- 
nisse, welche  sich  auf  die  lieferung  von  tuch  (Zittau  1397  und  1414 

—  Pescheck  I  s.  544  f.  und  Gärtner  s.  7;  Kamenz  1510  —  cod.  dipl. 
Sax.  rer.  II,  VII  s.  XXIV),  von  schuhen  (Kamenz  1483  —  cod.  dipl. 
Sax.  rer.  II,  VII  s.  114  und  Haberkorns  annalen  fol.  14  a,  1510  — 
cod.  dipl.  Sax.  rer.  a.  o.)  oder  endlich  von  holz  bezogen  (Zittau  1431 

—  Pescheck  I  S.-545  fholz  damit  zu  heizen  auf  den  abend* ;  Kamenz 
1483,  1510,  1511  —  a.  o.).  —  Gleichfalls  durch  Stiftungen  wurde 
dafür  gesorgt,  dasz  die  in  der  stadt  ankommenden  schüler,  wie  in 
Görlitz  und  in  Neisse,  wahrscheinlich  so  lange  wohnung  fanden,  bis 
sie  anderweit  versorgt  waren  (vgl.  Hoffmann  scriptt.  rer.  Lus.  I,  II 
17.  20  und  Schütt  a.  o.  s.  8,  5.  —  Kastner  a.  o.  8.  4). 

Abgesehen  von  solchen  Stiftungen,  zeigte  sich  die  wohlthätig- 
keit  der  bürger  gewis  tagtäglich,  wer  hätte  auch  den  armen  knaben 
das  almosen  versagen  wollen,  wenn  sie  etwa  zur  Winterszeit  singend 
von  thür  zu  thür  zogen?  'die  frembden  schuelir',  sagt  HassIII306, 
'musten  sich  der  almosen  behelffen,  abends  singende  die  responsoria, 
morgendi8  bietende  von  thur  zu  thur  .  .  .  die  gewachssen  schuler 
vnd  Schreiber  haben  winterzeit  von  thur  zu  thur  die  woche  dreynial 
.  .  .  singen  gangen  mit  den  responsorien  von  der  zeit  vnd  lieben 


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Beiträge  zur  geschiente  den  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  325 

heiligen  wie  jsz  einem  itzlichen  burger  gefallen ,  dem  de  passione, 
dem  andern  de  beata  virgine,  dem  drietten  de  s.  Catarina,  Martino 
etc.  haben  viel  armuts  erleiden  müssen.'  von  Löbau  weisz  Knauthe 
a.  o.  8.  18  zn  berichten,  dasz  der  rat  im  Hin  und  17n  Jahrhundert 
väterlich  für  die  in  Löbau  studierenden  armen  gesorgt  habe,  und  er 
vermutet,  'dasz  die  freiheit,  dasz  die  armen  schüler  in  derstadt  singen, 
und  dadurch  sich  einiges  almosen  sammeln  können  und  mögen,  einer 
von  den  ältesten  wegen  (ihnen  zu  helfen)  sei',  nicht  weniger  wie  in 
Löbau  sorgten  die  bürger  auch  anderwärts  für  hospitia  liberalia  (freie 
wohnung)  und  freitiscbe.  und  nicht  nur  gaben  die  einzelnen  dem 
und  jenem  schüler  oder  mehreren  zusammen  die  milden  gaben,  son- 
dern edle  männer  vereinigten  sich,  um  in  das  almosenwesen  eine 
gewisse  Ordnung  zu  bringen,  dieses  bestreben  geht  ganz  deutlich  aus 
den  nachriehten  hervor,  welche  wir  über  das  wirken  der  Zwickauer 
Bchulbrüderschaft  (fraternitas  scholarium)  haben;  sie  bestand  nur 
kurze  zeit,  von  1518  bis  1524.  nach  Herzog  a.  o.  s.  10  war  der 
hauptzweck,  die  schule  in  bessere  aufnähme  zu  bringen,  ihre  ein- 
ktinfte  zu  erhalten  und  zu  vermehren ,  sowie  arme  schüler  zu  unter- 
stützen, auch  in  Bautzen  begegnen  wir  einer  solchen  Vereinigung, 
die  fraternität  oder  almosenbrüderschaft ,  wie  sie  in  den  ältesten 
fraternitätsregistern  vom  jähre  1519  genannt  wird,  hatte  den  zweck 
falmosen8ammlungen  und  sonstige  kirchliche  zwecke  zu  befördern', 
wie  weit  die  armen  schüler  dabei  in  frage  kamen,  vermögen  wir  nicht 
zu  sagen;  dasz  sich  aber  die  sorge  dieser  brüderschaft  auch  auf  die 
schule  bezog,  geht  daraus  hervor,  dasz  1592  rector  Gerlach  aus  der 
fraternitätsgestiftscasse  einen  zuschusz  zu  seinem  gehalt  erhielt  und 
dasz  50  jähre  später  die  Verteilung  von  schuhen  und  tuch  an  schüler 
erwähnt  wird.  vgl.  Hessler  a.  o.  III  8.  25  ff.  notizen  darüber  auch 
in  Carpzovs  ehrentempel  cap.  XIV  s.  247  und  255  und  in  Grossers 
laus,  merkwürdigkeiten  III  s.  59. 

In  den  werken  über  mittelalterliches  Schulwesen  finden  wir  ge- 
wöhnlich noch  zwei  capitel:  Uber  die  schulzucht  und  die  schulfeste 
hinzugefügt  was  wir  darüber  mit  bezug  auf  die  Oberlausitz  sagen 
können,  möge  nun  noch  folgen. 

Bei  den  betrachtungen  über  die  mittelalterliche  schulzucht 
pflegt  man  von  der  behauptung  auszugehen ,  dasz  die  grosze  roheit, 
Verwilderung  und  sittenlosigkeit,  welche  man  bei  den  erwachsenen 
erkennen  könne,  in  ihren  anfängen  schon  bei  den  schülern  sich  zeige, 
und  dasz  dem  entsprechend  auch  die  ausübung  der  schulzucht  hart, 
strenge  und  roh  war.  unter  den  beispielen  ist  dann  gewöhnlich  das 
erste  jene  erzählung  Luthers,  die  lehrer  wären  noch  zu  seiner  zeit 
mit  den  kindern  nicht  anders  umgegangen,  denn  wie  die  stockmeister 
mit  den  dieben.  ganz  auszer  acht  gelassen  oder  nicht  ebenso  her- 
vorgehoben werden  berichte  über  lehrer,  welche  der  ansieht  waren, 
mit  worten  könne  man  gerade  so  gut  wio  mit  Schlägen  strafen,  und 
man  vergiszt  anordnungen  anzuführen ,  wie  die  in  Wien  (Schulord- 
nung 1446  bei  Müller  s.  60  f.),  durch  welche  rohe  Züchtigungen  ver- 


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326    Beiträge  zur  geachichte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlauiiü. 


hindert  wurden,  man  vgl.  beispielsweise  noch  a.  o.  8.  48  die  Schul- 
ordnung von  Landau  und  8.  226  die  Nördlinger  Schulordnung  vom 
jähre  1521.  gewis  ersehen  wir  aus  solchen  an  Weisungen,  dasz  nicht 
nur  die  lehrer,  sondern  auch  andere  auszerhalb  der  schule  stehende 
von  der  'finsteren  strenge'  keineswegs  so  beherscht  waren,  wie  es 
nach  den  oben  angedeuteten  ausfahrungen  erscheint,  wahr  ist  es, 
dasz  das  damalige  geschlecht  derb,  oft  auch  roh  war;  ist" es  da  aber 
nicht  ganz  naheliegend  zu  vermuten,  dasz  man  den  jugendlichen 
Übermut,  der  ebenfalls  derb  und  roh  sein  mochte,  nicht  besonders 
strafte ,  weil  eben  das  derbe  und  rohe  nicht  sonderlich  empfunden 
wurde?  um  das  zu  verstehen,  sind  analogien  selbst  aua  unseren 
tagen  leicht  zur  band. 

Nicht  unerwähnt  sollen  aber  auch  vergehen  bleiben,  wie  der 
besuch  der  Wirtshäuser  bis  tief  in  die  nacht  hinein,  raufereien  auf 
den  straszen,  wobei  dolche  und  messer  eine  grosze  rolle  spielten, 
bedrohungen  der  lehrer  durch  die  schttler  mit  messern  u.  a.  m.  dasz 
derartige  exceese  strafe,  sehr  strenge  strafe  forderten  und  auch 
fanden,  ist  ganz  selbstverständlich,  übrigens  zählten  die  fahrenden 
schüler  viele  recht  verwegene  gesellen  zu  den  ihrigen  und  die  er- 
wähnten Übertretungen  der  gesetze  werden  in  der  hauptsache  ihnen 
zur  last  gelegt  werden  müssen,  da  wir  nun  unter  den  Sechsstädten 
Görlitz  als  von  den  fahrenden  Schülern  besonders  viel  besucht  kennen 
lernten,  so  dürfen  wir  annehmen,  dasz  es  dort  zu  häufigen  ausscb rei- 
tungen gekommen  ist,  womit  freilich  nicht  gesagt  sein  soll,  dasz  die 
einheimischen  schüler  in  Görlitz  und  in  andern  Städten  ein  durchaus 
sittsames  leben  führten.  Über  das  treiben  der  schüler  in  Görhtz  haben 
wir  eine  sehr  allgemeine  nachricht  bei  Hass,  die  wir  hier  anführen, 
nicht  blosz  weil  sie  das  von  uns  gesagte  bestätigt,  sondern  weil  sie 
auch  wegen  ihrer  parteiischen  färbung  berichtigt  werden  muez.  Basa 
beklagt  sich  nemlich  a.  o.  III  8.  307 ,  dasz  in  der  Lutherischen  zeit 
die  schüler  ein  scoriantischer  tracht,  jn  landisknechtischen  schuen, 
zuflammitten  halben  vnd  geteiltir  färbe  hosen  und  jn  vieltzhuetten' 
giengen,  im  gegensatz  zur  früheren  zeit,  wo  'die  schuler  jn  zimlicher, 
erlicher  tracht*  erschienen.  cvnd  wil  beschlieslicb  davon  reden,  schrei- 
ben, das  vndir  der  alden  religion  vnd  papisterey,  gotisforcht,  liebe 
zum  nrlisten  ,  ehre,  zucht,  gehorsam  .  .  .  gewaldiger  gewesen  ist, 
den  jn  jtzig  Lutterischer  zeit.'  wenn  auch  Hass  in  seinen  annalen 
durchgängig  als  wahrheitsliebender  beurteiler  erscheint,  so  befindet 
er  sich  doch  an  dieser  stelle,  wie  an  allen  andern,  wo  er,  der  eifrige 
Katholik,  über  Luther  und  die  reformation  schreibt,  in  vollständigem 
im  um  (Kämmel  laus.  mag.  51  8.  128  urteilt  ebenso;  falsch  ist,  was 
Schütt  a.  o.  8.  10,  5  sagt),  wie  sollte  auch  das  zuchtlose  leben  der 
fahrenden  schüler,  welches  schon  im  15n  uod  beginnenden  16n 
Jahrhundert  zu  herbstem  tadel  anlasz  gab ,  in  der  kurzen  zeit  von 
der  reformation  bis  1534,  wo  Hass  jene  worte  schrieb,  in  so  auf- 
fälliger weise  sich  verschlechtert  haben? 

Ein  klareres  bild  von  der  sittsam keit  der  Görlitzer  schaler 


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Beiträge  zur  geschiente  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz.  327 


erhalten  wir,  wenn  wir  die  Verhältnisse  um  1565/66  betrachten. 
1565  wurde  das  gymnasium  gegründet  und  als  rector  der  Witten- 
berger professor  Yincentius  berufen,  er  nahm  an  in  der  er  wägung, 
'dasz  er  als  rector  einer  schule  dem  damals  so  mangelhaften  Unter- 
richt und  der  daniederliegenden  schulzucht  förderlich  sein  könnte'; 
sagt  er  doch  selbst  in  einem  briefe  an  Crato,  rer  habe  in  patria  (er 
war  aus  Breslau)  ein  gut  werk  stiften  wollen',  in  den  Schulgesetzen, 
die  er  beim  amtsantritt  erliesz,  sind  nun  eine  anzahl  vergehen  ge- 
nannt, die  sicher  nicht  blosz  kurz  vor  1565  bemerkt  worden  waren, 
da  wird  in  der  lex  nona  den  schillern  untersagt,  *ne  tabemas  publicaa 
potandi  causa,  aut  ulla  alia  de  turpitudine  suspecta  aut  infamia  loca 
accedant';  ebenso  verpönt  waren  'vagationes  nocturnae  in  plateis, 
cum  sodalitÜ8  sive  sui  ordinis  sive  alienis  aut  cum  Musicis  instru- 
mentis  .  .  .  protrahi  has  liberales  recreationes  in  multam  noctem, 
aut  in  compita  et  trivia  produci  nequaquam  volumus'.  in  welch 
schlechtem  rufe  die  vagatores,  die  fahrenden  schüler,  standen,  er- 
sehen wir  aus  der  lex  ultima  (XII):  sie  sollen  auf  der  schule  gar 
nicht  geduldet  werden,  weil  sie  durch  ihr  schlechtes  beispiel  un- 
geheuren schaden  anrichten;  vergleiche  die  leges  im  abdruck  bei 
Schütt  a.  o.  s.  90  ff. 

Von  den  Zittauer  Verhältnissen  erfahrt  man  aus  Dörings  annales 
gy mn.  Zitt.  (bei  Gärtner  s.  9)  nur,  dasz  1504  oder  1505  von  den  Schü- 
lern ein  tumult  gegen  den  cantor  Michael  ausgebrochen  sei,  und  von 
den  Kamenzer  zustanden,  dasz  der  söhn  des  bürgermeisters  Hennigke 
1516  mit  den  Schreibern  einen  'hader  unde  geczenke*  hatte,  wobei 
einer  der  angegriffenen  von  jenem  verwundet  wurde,  über  den  grund 
im  ersten  falle  erfahren  wir  nichts,  die  rauferei  in  Kamenz  soll  'ahn 
der  Camyczer  kyrmyss  ann  alle  urssache'  von  dem  jungen  Hennigke 
angefangen  worden  sein,  eine  nachricht,  welche  aus  dem  Kamenzer 
stadtbuche  stammt,  das  offenbar  gegen  Hennigke  und  dessen  söhn 
partei  nimmt  und  daher  als  zuverlässige  quelle  nicht  wohl  gelten  darf. 

Unter  den  schulfesten  nimmt  die  oberste  und  im  Schuljahre 
zugleich  auch  die  erste  stelle  das  Gregoriusfest  ein.  Über  dessen  Ur- 
sprung ist,  bevor  wir  über  die  feier  in  der  Oberlausitz  sprechen,  eini- 
ges vorauszuschicken ,  zumal  da  neuerdings  die  durchaus  das  rechte 
treffende  ansieht  Knothes  (im  laus.  mag.  bd.  39  s.  46)  von  dr.  H.  Eck- 
stein, die  feier  des  Gregoriusfestes  am  gymnasium  zu  Zittau  (oster- 
program  m  Zittau  1888),  ohne  angäbe  der  gründe  wieder  verworfen 
worden  ist.  nach  Schöttgen  und  Mücke  (beider  Schriften  haben  den 
titel  'vom  Ursprünge  des  Gregoriusfestes'  und  erschienen  1716  bzw. 
1793*)  nimmt  Knothe  an,  dasz  unser  fest  aus  den  römischen  Quin- 
quatrus  sich  entwickelt  habe,  aber  das  ist  nicht  blosz  zu  vermuten, 
sondern  geradezu  als  thatsache  zu  behaupten,  wie  sich  sogleich  durch 
eine  vergleichung  beider  feste  herausstellen  wird,  beide  feste  be- 
zeichneten den  anfang  des  neuen,  natürlich  auch  den  schlusz  des  alten 
jahres,  beide  wurden  im  märz,  das  römische  vom  19n  an,  das  christ- 
liche am  12n  gefeiert,  beide  galten  der  verherlichung  der  beschützerin 


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328     Beiträge  zur  geschieh te  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausit*. 


bzw.  des  beschützers  der  schulen,  der  Minerva50  und  Gregorius  des 
groszen,  bei  beiden  festen  trug  der  erste  teil  religiösen  Charakter,  dem 
sieb  bei  beiden  ein  zweiter,  der  lustbarkeit  gewidmeter  anschlosz,  bei 
beiden  wurden  aufzüge  der  kinder  in  allerhand  Verkleidung  veran- 
staltet ,  bei  dem  römischen  allerdings  erst  in  späterer  zeit,  nachdem 
man  die  sitte  der  Verkleidung  der  flötenbläser  bei  den  Quinquatrus 
minores  am  13  juni  auf  die  kinder  bei  dem  hauptfeste  übertragen  hatte, 
kurz  und  gut  —  es  steht  fest:  das  Gregoriusfest  ist  nichts  anderes  als 
das  im  christlichen  sinne  umgewandelte  Minervafest,  zu  den  genann- 
ten zügen  fügt  Knolhe  noch  einen  hinzu,  indem  er  sagt:  'wie  einst 
das  bild  der  Minerva  dem  zuge  vorangetragen  wurde,  so  erschien  jetzt 
in  demselben  ein  schüler  in  päpstlichem  ornat,  den  bischof  Gregorius 
darstellend',  eine  ansieht,  die,  so  sehr  sie  auch  auf  dem  ersten  an- 
blick  gefällt,  doch  nicht  ganz  richtig  sein  dürfte,  wir  glauben  viel- 
mehr, dasz  darin,  dasz  ein  als  bischof  verkleideter  knabe  der  pro- 
cession  voranschritt  und  dasz  er  dann  in  der  kirche  nach  einer  pre- 
digt des  geistlichen  sein  Sprüchlein  oder  eine  kleine  rede  hersagte, 
schwache  spuren  von  dem  schulbischofsspiel  zu  suchen  sind  und  dasz 
diese  beiden  züge  erst,  als  man  anfieng  das  letztere  zu  verbieten, 
auf  das  Gregoriusfest  übertragen  wurden,  dieses  schulbischofsspiel 
wurde  an  einzelnen  tagen  des  december,  sogar  hin  und  wieder  mit 
hinzunahme  der  letzten  tage  des  november  in  den  kloster-,  dorn-  und 
Stiftsschulen  in  der  weise  gefeiert,  dasz  rdie  rollen  zwischen  lehrern 
und  Schülern  gewechselt  wurden  und  die  schüler  einmal  die  herren 
spielen  durften,  ja  dasz  die  schüler  sogar  an  stelle  der  geistlichen  in 
der  kirche  fungierten'  (Specht  s.  222).  die  Versuchung  lag  nun  sebr 
nahe,  dasz  die  schüler  die  grenzen  des  erlaubten  überschritten  und 
dasz  man  deshalb  daran  dachte,  das  fest  einzuschränken  oder  gar  auf- 
zuheben, eine  anzahl  darauf  bezüglicher  Verfügungen  teilt  Specht 
a.  o.  mit.  sehr  natürlich  war  es  aber  auch ,  dasz  man  einen  so  alten 
brauch  wie  das  biscbofcspiel  nicht  ganz  fallen  liesz  und  auf  diese 
weise  die  oben  erwähnten  züge  auf  das  Gregoriusfest  übertrug,  an 
fangs  nur  vereinzelt  dort,  wo  man  eben  ziemlich  zeitig  jenes  verbot 
ergehen  liesz,  und  dann  aller  orten,  wo  überhaupt  schulen  bestanden." 
über  den  weiteren  verlauf  des  festes  ist  noch  hinzuzufügen,  dasz  nach 
der  feier  in  der  kirche  die  für  die  schule  angemeldeten  kinder  in  den 
Wohnungen  abgeholt  und  mit  einem  weiszen  chorhemd  bekleidet  in 
die  schule  geleitet  wurden,  wobei  die  alten  schüler  von  den  neuen 
mit  brotzeln  beschenkt  wurden. 

An  directen  Zeugnissen  dafür ,  dasz  dieses  scbulfest  vor  der 
reformation  in  den  Secbsstädten  in  der  angedeuteten  weise  gefeiert 
wurde,  haben  wir  keins.  es  ist  jedoch  von  vorn  herein  klar,  dasz 
ein  fest,  welches  nach  ausdrücklichen  Versicherungen  noch  im  laufe, 

60  dasz  die  Quinquatrus  zugleich  auch  von  anderen,  die  eine  kanst 
oder  ein  gewerbe  betrieben,  gefeiert  wurden,  ist  bekannt. 

M  in  unseren  ausführungen  ist  zugleich  auch  eine  Widerlegung  der 
Kriegkschen  ansieht  (bürgertum  im  mitteUlter,  n.  f.  s.  98  f.)  enthalten. 


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Beitrage  zur  geschiente  des  höh.  Bchulwesens  in  der  Oberlausitz.  329 

teilweise  im  anfange  des  16n  jahrhunderts  in  den  Sechsstädten  un- 
gefähr so ,  wie  wir  es  beschrieben ,  begangen  wurde ,  auch  schon  in 
früheren  zeiten  kinder  und  eitern  ergötzte,  auszerdem  haben  wir 
wenigstens  von  einem  teil  des  festes  kenntnis  und  halten  uns  für 
berechtigt,  auf  das  Vorhandensein  auch  der  übrigen  zu  schlieszen: 
in  der  Bautzener  Schulordnung  (1418)  lesen  wir  nemlich  im  anfange, 
dasz  ein  neuer  schuler  am  Gregoriustage,  'wan  ihn  die  schüler  holen, 
vor  1  gr.  prezel'  geben  soll,  und  dasz  dieses  einholen  in  Zittau  sogar 
zum  eintragen  (der  kleinen  durch  die  groszen  schüler)  wurde,  er- 
fahren wir  aus  der  erzählung  rector  Schnürers  (geb.  1518),  eine 
sitte ,  deren  entstehen  doch  nur  auf  eine  ältere  zeit  zurückgeführt 
werden  kann. 

Gehen  wir  im  Schuljahre  weiter,  so  stoszen  wir  an  der  hand 
unserer  Überlieferung  erst  im  november  wieder  auf  eine  Veranstal- 
tung, die  lehrern  und  schülern,  ja  der  ganzen  stadt  viel  freude 
brachte  und  die  ohne  zweifei  nicht  blosz  in  Zittau  und  in  Löbau, 
worauf  sich  unsere  Zeugnisse  beziehen,  sitte  war:  es  war  der  Martini- 
umgang, bei  welchem  die  lehrer  naturalien,  die  schüler  Martinshörn- 
chen erhielten,  dasz  dieser  umzug  ausartete  und  jedenfalls  so  einem 
späteren  geschlechte  nicht  mehr  gefiel ,  sehen  wir  aus  Christian  Weises 
Worten  (oratio  saecularis;  vgl.  8. 323).  ebenso  allgemein  werden  die 
weihnachtsumzüge  gewesen  sein ,  welche  zwar  hier  und  da  in  etwas 
abweichender  form  erscheinen,  im  gründe  jedoch  alle  auf  jenes  alte 
scbulbischoföspiel  zurückgehen;  auch  die  tage  waren  nicht  überall 
dieselben :  da  wurden  hier  schon  am  25  november,  am  tage  der  heil. 
Katharina,  der  patronin  der  Wissenschaft,  dort  am  30  november 
(St.  Andreas)  oder  am  6  december  (St.  Nicolaus)  oder  ganz  beson- 
ders am  28  december  (unschuldige  kindlein)  —  alles  tage ,  welche 
auch  beim  bischofsspiel  bedeutung  hatten  —  kleinere  oder  gröszere 
lustbarkeiten  veranstaltet,  aber  auch  diese  schwanden :  so  erfahren 
wir  aus  dem  Zittauischen  chronikon  Schnürer,  dasz  der  bürgermeister 
Dorne pach,  jedenfalls  infolge  von  ungehörigkeiten,  die  weihnachtsum- 
gänge  gegen  eine  an  die  schule  jährlich  zu  zahlende  entschädigungs- 
summe  aufhob. 

Der  zeit  nach  folgen  die  verschiedenen  festlichkeiten  zu  fast- 
nacht,  über  welche  wir  einige  nachrichten  haben,  so  wird  erzählt, 
dasz  in  Bautzen  im  jähre  1413  (nach  Knauthe  in  der  Oberl.  nach- 
lese 1771,  s.  107)  der  Schulmeister  am  Dorotheentage  (6  febr.)  auf 
dem  markt  ein  komödienspiel  von  der  heiligen  jungfraueu  Doro- 
theen  veranstaltete  und  dasz  in  Zittau  im  jähre  1505  der  rector, 
M.  Arnold,  eine  komödie  auf  dem  markte  aufführen  liesz,  in  der 
nach  dem  berichte  Christian  Weises  (oratio  saecularis)  zwei  ältere 
schüler  (Weise  denkt  fälschlich  an  collaboratores)  als  wurst  und 
häring  miteinander  kämpften ,  wobei  schlieszlicb  —  ein  hinweis  auf 
die  beginnende  fastenzeit  —  die  wurst  vom  häring  in  die  röbrbütte 
geworfen  wurde;  'ordini  scholastico  minus  glorios  um',  fUgt  der  die 
würde  des  lehrerstandes  wahrende  Weise  hinzu,  und 'närrische  spiele, 


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330    Beitrage  zur  geschichte  des  höh.  Schulwesens  in  der  Oberlausitz. 


gefährliche  ausginge'  ruft  ein  Laubaner  Chronist,  der  die  nachricht 
von  der  Arnoldschen  aufführung  auch  bringt,  kopfschüttelnd  aus. 
von  trinkgelagen  der  Görlitzer  lehrer  und  schüler  hört  man  näheres 
aus  dem  schon  oben  erwähnten  jahrbuch  nnd  aus  dem  ratsbeschlusz 
bei  Huss,  annalen  ü  s.  205.  danach  war  es  Bitte,  'das  die  schueller 
neben  andern  hantwercken,  jm  jare  ein  mol  vnd  zu  dieser  zceit 
(fastnacht) ,  vmb  ires  vi  eis  willen  .  .  .  eine  freu  de  haben  mochten.' 
da  jedenfalls  der  Schulmeister  das  hier  gegen  bezahlung  lieferte, 
wurde  dieser  brauch  1512  abgeschafft,  wobei  man  jenem  versprach, 
'sein  lone  bessern'  zu  wollen,  auch  von  fastnachtszechereien  der 
Bautzener  schüler  (besonders  der  Choristen),  'gemeines  bier'  genannt, 
wissen  die  Chronisten  zu  berichten.  1503  wurde  'diese  gewobnheit, 
bei  der  es  sehr  unordentlich  zugieng',  verboten. 

Am  ende  des  Schuljahres  endlich  wurde  in  Bautzen  ein  schüler- 
umgang  zu  Petri  stuhlfeier  (22  febr.)  gehalten,  wovon  der  Bautzener 
Senator  Hering  in  der  lausitzischen  monatsschrift  1795,  I  s.  214 
näheres  mitteilt,  danach  hiesz  dieses  schulfest  'das  empfahen  des 
sommers' die  procession  fand  des  abends  bei  fackelbeleuchtung 
statt,  und  'vor  zeiten  haben  auch  die  leute  lichte  gesetzet  in  die 
fenstern,  und  den  schülern  bier  vorgetragen  und  geschenkt',  der  zog 
bewegte  sich  durch  mehrere  gassen  nach  dem  markte,  wo  ein  groszes 
feuer  brannte,  wenn  man  nun  dort  angekommen  war,  'hat  der  Schul- 
meister figurierend  gesungen:  Jam  Ver  oritur!'  auch  dieses  alte 
fest,  ein  ausdruck  der  freude  über  die  erwachende  natur,  das  wir  mit 
dem  in  andern  gegenden  gefeierten  maifest  vergleichen  können 
(Eämmel,  geschichte  des  Schulwesens  s.  200),  hatte  das  Schicksal  der 
andern;  es  wurde  infolge  von  Störungen  im  jähre  1522  und  1523, 
die  durch  die  reformation  veranlaszt  waren,  1523  zum  letzten  mala 
gefeiert." 


5f  Baumgärtel,  die  kirchliehen  zustände  Bautzens  im  I6n  and  17n 
Jahrhundert  (progr.  der  Bautzener  realschnle  18d9)  s.  9  irrt,  wenn  er 
rdas  empfahen  des  sommers '  auf  den  81  juli  verlegt;  da«  von  dem 
Schulmeister  dabei  gesungene  rjam  ver  oritur'  spricht  schon  allein  gegen 
diesen  tag. 

M  Knothe  glaubt  (laus.  mag.  bd.  39  s.  48  anm.  3),  dasz  die  feier 
darin  bestanden  habe,  dasz  ein  papierner  bischof  (Petras)  auf  einem 
stuhle  berumgetragen  wurde.  Knothe  hat  sich  hier  jedoch  offenbar  ver- 
leiten lassen,  einen  einmaligen  Vorfall  zu  verallgemeinern,  eben  den,  der 
znm  verböte  des  festes  führte,  am  nemlich  ihre  abneigung  gegen  das  papst- 
tum  zu  zeigen,  tragen  1523  zwei  raRnner,  unter  denen  man  baccalaarei 
vermutete,  jenen  papiernen  bischof  heran  and  warfen  ihn  ins  feuer. 

Dresden.  H.  Heyden. 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaue.  331 


30. 

DER  DIDAKTISCHE  WERT  DE8  XENOPH  ONTISCHEN 

AGESILAUS 

im  zusammenhange  mit  der  Cjropädie  und  den  Memorabüien  als  schul- 

lectüre  untersucht. 


I.  Vorbemerkungen. 

Birgt  die  griechische  litteratur  einen  reichtum  an  schlechthin 
unersetzlichen  bildungsmomenten  in  sich,  so  ist  es  auch  aufgäbe  des 
gymnasialen  Unterrichts  diese  in  den  Schriftwerken  schlummernden 
kr&fte  zu  wecken  und  an  den  Zöglingen  lebendig  werden  zu  lassen, 
mit  dem  gerede  von  der  unvergänglichen  Schönheit  der  Griechenwelt 
und  von  der  herlichkeit  dieser  litteratur  ist  es  nicht  gethan :  die  ge- 
stalten dieser  weit  und  der  ideen,  welche  sie  bewegten,  müssen  geisti- 
ges besitztum  des  schulers  werden  und  müssen ,  wie  0.  Weissenfeis 
in  seinem  gehaltvollen  aufsatz  Mas  wesen  des  gymnasiums' 1  sagt, 
von  diesen  selbst  als  Ktri^aTa  de  dei  empfunden  werden :  erreicht  der 
griechische  Unterricht  dies  ziel  nicht,  so  spricht  er  sich  selber  das 
gerieht,  und  ermöglicht  wird  dasselbe  einzig  und  allein  durch  eine 
rationelle  didaktik*,  welche  die  griechischen  Schriftsteller  und  Schrift- 
werke im  einzelnen  auf  ihren  inneren  wert  hin  prüft,  aus  ihnen  das 
an  sich  und  für  die  jugendbildung  beste  auswählt  und  dasselbe  im 
zusammenhange  mit  dem  gesamten  Unterrichtsstoffe  dem  lehrplane 
einfügt,  diese  aufgäbe  ist  aber  noch  nicht  gelöst,  wie  0.  Altenburg' 
anzunehmen  scheint:  dasz  kaum  irgendwo  so  viel  willkür  herscht 
als  auf  dem  gebiete  der  griechischen  lectüre  in  secunda,  haben  wir 
s.  15  f.  zu  zeigen  gesucht. 

Die  folgende  erörterung,  welche  in  letzter  linie 
einer  bisher  (wenigstens  in  der  letzten  zeit)  unge- 
bührlich vernachlässigten  schrift  Xenopbons  gilt,  aber 
auch ,  um  den  didaktischen  wert  derselben  zu  erweisen, 
die  Memorabüien  und  die  Cyropädie  zu  berücksich- 
tigen hat,  erhebt  auch  ganz  und  gar  nicht  den  An- 
spruch eine  auswahl  von  Schriftwerken  als  vorzugs- 
weise geeignet  für  einen  kanon  vorzuschlagen,  sie  will 
weiter  nichts  bedeuten  als  einen  bescheidenen  versuch 
die  möglichkeit  nachzuweisen  eine  reihe  von  Schrift- 
werken in  engem  Zusammenhang  mit  einander,  weil  an 
ein  bedeutendes  bildungscentrum  angeschlossen,  und 
in  steter  beziehung  zu  den  anderweitigen  bildungs- 


1  zeitschritt  für  das  gymnaBial wesen  XXXX  jähr gang  s.  528. 
"  Vgl.  8.  14  f. 

*  Friek  und  Richter  lehrproben  and  lehrgänge  hft  X  s.  2:  f.  .  aber 
abgesehen  vielleicht  noch  vom  französischen  herscht  über  den  ckanon 
der  lectüre»  ein  erheblicher  zweifei  nicht  mehr.' 


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332       Der  didaktische  wert  des  Xenophontkchen  Agesilaus. 


Stoffen  im  griechischen  Unterricht  zu  behandeln,  im 
besondern  aber  den  didaktischen  gehalt  des  Agesilaus 
aufzudecken. 

Um  diese  unsere  aufgäbe  zu  lösen,  müssen  wir  etwas  weiter 
ausholen,  indem  wir  an  dem  grundsatze  festhalten,  keine  Chresto- 
mathien4, vielmehr  ganze  werke  (wenn  freilich  auch  nur  in  den  be- 
deutendsten partien,  im  übrigen  aber  im  durchblick)  sind  zu  lesen, 
fragen  wir  nach  den  grundsätzen,  welche  für  die  auswahl  der  grie- 
chischen lectüre  maszgebend  sein  müssen,  abzuweisen  sind  zunächst 
alle  die  gesichtspunkte ,  welche  äuszerlicher  art  sind.6  wenn  der 
schüler,  um  die  Homerischen  dichtungen  lesen  zu  können,  sich  mit 
einem  von  der  attischen  spräche  so  gänzlich  abweichenden  idiom 
vertraut  machen  musz,  so  kann  man  ihm  wohl  zumuten,  dasz  er 
auch  den  in  seinen  eigenartigen  gesetzen  so  leicht  zu  begreifenden 
Herodotischen  dialekt  erlernt,  und  es  ist  fUr  uns  der  von  N&gelsbach 
in  seiner  gymnasial pädagogik  s.  142  angegebene  grund,  dasz  die 
Schwierigkeiten  seiner  spräche  der  lectüre  des  Herodot  entgegen- 
ständen ,  gewis  nicht  stichhaltig  und  ausreichend  dem  schüler  einen 
der  anmutigsten  und  wertvollsten  autoren  zu  rauben,  ebenso  wenig 
kann  die  Schwierigkeit,  welche  stil  und  darstellung  dem  schüler 
bereiten,  allein  ausschlaggebend  sein,  den  Thukydides  aus  diesem 
gründe  verbannen  und  die  chorlieder  der  tragödie  übergehen  zu 
wollen,  wie  das  wohl  geschieht,  bedeutet  eine  Verurteilung  des 
griechischen  Unterrichts  überhaupt,  sein  ziel  ist  nicht,  dasz  der 
schüler  die  fertigkeit  des  griechischlesens  erwirbt  (leider  gottes 
verleitet  das  prüfungsreglement  nur  zu  häufig  zu  dieser  das  gymna- 
sium  aufs  tiefste  schädigenden  auffassung),  sondern  er  soll  dem 
zögling  die  bedeutsamsten  anschauungen  des  Griechentums  ver- 
mitteln, und  in  diesem  sinne  darf  weder  des  Thukydides  ge- 
schichtsbild  fehlen  noch  der  die  griechische  tragödie  erst  verstand- 
lieh  machende  chorgesang.  überhaupt  darf  die  sprachliche  seile 
der  darstellung  nicht  den  maszstab  für  die  reihenfolge  der  lectüre 
bilden,  höchstens  ceteris  paribus  mag  sie  ausschlaggebend  sein: 
sonst  kommt  man  zu  einem  resultat,  wie  es  der  referent  der  zwei- 
ten rheinischen  directoren Versammlung  ausspricht,  dasz  nemlich  sich 
die  Cyropädie  aus  dem  gründe  für  obersecunda  nicht  eigne,  weil 
sie  zu  leicht  (!)  sei.  äuszerlich  nenne  ich  auch  die  gesichtspunkte, 
welche  hergenommen  sind  von  den  litteraturgattungen.  gewis  soll 
der  schüler  die  darstellende  kuust  auf  allen  gebieten  der  prosa  wie 


4  im  gewöhnlichen  sinne  des  wortes;  dagegen  Hesze  sich  wohl  ein 
griechisches  lesuhuch  denken,  welches  ganz  nach  didaktischen  gesiehts- 
punkten  angelegt  wäre. 

*  dahin  rechnen  wir  anch  die  erklürang  F.  A.  Ecksteins,  lat.  und 
griech.  Unterricht,  Leipzig  1887,  s.  422:  'bei  der  auswahl  der  Schrift- 
steller müssen  zwei  grundnätze  massgebend  sein:  der  schüler  ist  in  die 
reinsten  quellen  der  griechischen  spräche  und  in  die  wichtigsten  zweige 
und  riebtungen  der  griechischen  litteratur  einzuführen.' 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus.  333 

nicht  minder  alle  arten  der  poesie  kennen  und  verstehen  lernen, 
aber  dasz  gerade  die  griechische  lectttre  ihm  diese  muster  alle  bieten 
müsse,  davon  kann  keine  rede  sein,  auf  dem  gebiete  der  poesie 
ist  freilich  das  epos  und  die  tragödie  mustergültig  für  alle  Zeiten 
vertreten,  aber  die  Aristophanische  komödie  kann  aus  naheliegen- 
den gründen  nicht  in  den  kreis  der  schullecttire  gezogen  werden  und 
von  der  lyrik  trotz  der  hohen  Schönheit  der  Pindarischen  bymnen 
und  der  sonst  erhaltenen  lieder  kaum  mehr  als  die  cborgesänge 
der  tragödie  und  etwa  einzelnes  von  den  elegien.  an  die  prosa- 
schriftwerke  darf  man  schwerlich  einen  formalen  maszstab  anlegen, 
anstatt  die  leitenden  gesichtspunkte  für  die  auswahl  der  lectüre 
von  der  bedeutsamkeit  des  inhalts  und  seiner  bezieh ung  auf  die 
seele  des  Zöglings  herzunehmen,  wir  wenden  uns  denselben  im 
folgenden  zu. 

Die  zeit,  in  welcher  man  einseitig  die  geschiebte,  oder  richtiger 
gesagt,  die  politische  geschiente  der  alten  Völker  zum  mittel punkt 
der  classenlectüre  machte  und  ein  werk  um  so  eifriger  las,  je  mehr 
ausbeute  es  zum  Verständnis  dieser  gewährte,  ist  immer  noch  nicht 
vorüber,  wie  auf  dem  gebiet  der  CicerolectUre  diejenigen  Schriften 
bevorzugt  werden,  welche  für  die  Zeitgeschichte  oder  auch  das  poli- 
tische leben  des  Verfassers  von  bedeutung  sind,  so  erfreut  sich  viel- 
fach noch  unter  den  griechischen  litteratur werken  die  historische 
gattung  bzw.  die  auf  dem  geschichtlichen  gebiete  sich  bewegende 
politische  beredsamkeit  einer  ungerechtfertigten  einseitigen  bevor- 
zugung.  gegen  die  Stellung  der  politischen  geschiente  im  centrum 
des  Unterrichts  spricht  sich  energisch  aus  0.  Weissenfeis  in  dem 
schon  oben  genannten  aufsatze  s.  530,  und  wir  schlieszen  uns  seiner 
klage,  dasz  durch  eine  solche  ein  tieferes  Verständnis  der  alten 
geradezu  unmöglich  gemacht  werde,  von  ganzem  herzen  an.  gewis 
ist  die  staatliche  entwicklung  ein  hervorragender  factor  der  griechi- 
schen weit,  wie  das  leben  der  alten  in  ganz  anderm  sinne  im  Staate 
seinen  mittelpunkt  fand,  als  das  unserer  anschauungsweise  entspricht, 
aber  derselbe  erschöpft  sie  keineswegs,  und  wenn  es  für  den  Unter- 
richt gilt  dem  Griechentum  mit  seinen  bildenden  kräften  in  die  seele 
des  Schülers  eingang  zu  verschaffen,  so  sind  es  noch  ganz  andere  be- 
thätigungen  des  griechischen  geistes  als  seine  politische  arbeit,  welche 
im  Unterricht  verwertet  werden  müssen,  ein  befriedigendes  ergeb- 
nis  können  wir  in  dieser  frage  nur  erhalten,  wenn  wir  uns  des  zieles 
der  Unterrichtsarbeit  erinnern,  dieselbe  soll  eine  erziehende  sein, 
nicht  kenntnisse  von  allem  sollen  wir  dem  Zögling  mitgeben,  viel- 
mehr soll  ein  wissen  in  ihm  erzeugt  werden ,  welches  er  in  ein  be- 
wustes  können  umzusetzen  vermag,  welches  daher  ein  (sittliches) 
wollen  hervorgerufen  haben  musz.  oder  kürzer  gesagt,  haben  die 
kenntnisse  für  den  schüler  ihre  höchste  bedeutung  darin ,  dasz  sie 
ftls  grundlage^ seiner  Charakterbildung  brauchbar  sind,  nur  soweit 
dieselben  zur  bildung  wichtiger  anschauungskreise  dienen  und  die 
welt  der  inneren  erfahrung  kräftig  gestalten  helfen,  haben  sie  be- 


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334       Der  didaktische  wert  des  Xenophonti  sehen  AgesilauB. 

rechtigung  im  Unterricht,  daher  hat  auch  die  geschiente  des  griechi- 
schen Volkes  nicht  um  ihrer  selbst  willen  eine  stätte  anf  dem  gymna- 
ßium  y  sondern  weil  und  zugleich  soweit  sie  Torzugsweise  geeignet 
ist  die  anschauungen  des  schülers  über  geschiente  überhaupt  zu  bil- 
den, weil  sie  in  politischen  einriebtungen  und  entwicklungen,  ge 
stalten  und  ideen  eine  menge  typen  bietet,  welche  von  höchstem  bil- 
denden werte  sind,  zu  einer  Vertiefung  in  geschichtliche  personen, 
Verhältnisse  und  vorgSnge  mittels  der  leetüre  sind  demgemäsz  Au- 
dio schule  nur  die  groszen  epochen  und  ihre  trager  geeignet,  dazu 
kommt  noch  ein  anderes,  sollen  die  geschichtlichen  gestalten  durch 
die  leetüre  dem  schüler  lieb  und  vertraut  werden ,  soll  der  Umgang 
mit  ihnen  für  diesen  bildend  sein,  so  genügt  es  nicht,  dasz  derselbe 
mit  bewunderung  für  ihre  leistungen  und  ihre  geschichtliche  grösze 
erfüllt  wird ,  sondern  ihre  Wirkung  auf  sein  gemtit  musz  sicher  ge- 
stellt sein,  sie  müssen  als  menschen  und  Staatsmänner  dazu  angethan 
sein  die  Sympathie  des  jugendlichen  lesers  zu  gewinnen:  nur  so 
können  sie  einen  einflusz  auf  seinen  willen  ausüben,  nun  vermittelt 
die  geschiente  der  Schriftsteller,  der  schüler  genieszt  den  umgaDg 
mit  ihren  gestalten  erst  durch  die  darstellungsweise  dieses,  mit  die- 
sem verkehrt  er  unmittelbar,  daraus  erwächst  die  weitere  forderung, 
dasz  der  Schriftsteller  nach  seiner  geschichtlichen  auffassung,  nach 
seiner  auf  das  gemüt  wirkenden  darstellungsweise,  nach  seinen  eigen- 
sc haften  als  mensch  und  als  patriot  einen  wahrhaft  bildenden  Umgang 
für  den  schüler  zu  bedeuten  im  stände  ist. 

Nach  dieser  kurzen  darlegung  glauben  wir,  dasz  in  der  that  ihrer 
typischen  bedeutung  halber  als  mittelpunkte  für  die  leetüre  geeignet 
sind  die  geschichtlichen  gestalten  des  groszen  gesetzgebers  Solon, 
des  freiheitskämpfers  Miltiades,  des  selbstlosen  Staatsmannes  Ari- 
stides ,  des  genialen  Themistokles ,  des  helden  Leonidas ,  weiter  des 
groszen  Perikles ,  des  strategisch  wie  politisch  bedeutenden  Xeno- 
phon,  des  patrioten  Demosthenes  und  des  welteroberers  und  cultur- 
trägers  Alexanders  d.  gr.  alle  diese  gestalten  sind  des  sympathe- 
tischen interesses  des  schülers  sicher,  sie  alle  sind  als  träger  groszer 
geschichtlicher,  bzw.  politischer  ideen  typen,  und  die  geschicht- 
lichen und  politischen  Verhältnisse  und  entwicklungen  Griechen- 
lands?  die  ausgestaltung  der  Verfassung  Athens  in  der  Solonischen 
gesetzgebung,  ihre  demokratische  fortentwicklung  bis  zum  nieder- 
gang  im  peloponnesischen  kriege  musz  nach  den  wesentlichen  zügen 
in  der  leetüre  gewonnen  werden,  vor  allem  aber  sind  fruchtbar  die 
freiheitskämpfe  der  Hellenen  gegen  die  barbareninvasion  in  ihrer 
typischen  bedeutung  und  endlich  das  vergebliche  ankämpfen  gegen 
den  Untergang  von  Hellas,  aber  auch  die  spartanische  Verfassung 
ist  in  den  kreis  der  leetüre  zu  ziehen,  und  endlich  die  grosze  be- 
wegung  der  Griechen  gen  Osten  nach  ihrer  politischen  und  beson- 
ders ihrer  culturgescbichtlichen  bedeutung.  nach  diesen  gesiebts- 
punkten  und  mit  rücksicht  auf  die  oben  ausgesprochene  anforderong 
an  die  schulautoren  empfiehlt  sich  folgender  kanon  historischer,  bzw. 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilauu.  335 

in  das  historische  gebiet  einschlagender  lectüre.  für  die  frühere  ge- 
schiente Athens,  besonders  die  Solonische  gesetzgebung,  nicht  min- 
der aber  auch  die  spartanische,  Herodots  geschichtswerk  (und  Bolons 
60 wie  des  Tyrtaeus  elegien),  für  die  Perserkriege  mit  ihren  groszen  ge- 
stalten ebenfalls  Herodot,  für  die  epoche  und  die  person  des  Perikles 
das  Thukydideische  werk,  dasselbe  zum  Verständnis  des  peloponne- 
si&chen  krieges.  indem  wir  uns  eine  Würdigung  des  Schriftstellers  Xeno- 
phon  für  später  vorbehalten,  möchten  wir  hier  nur  unsere  meinung  be- 
züglich seiner  Hellenika  dahin  aussprechen,  dasz  wir  dieselbe  nicht 
als  classenlectüre  zu  empfehlen  vermögen,  höchstens  einzelne  stücke, 
wie  die  Schilderung  der  belagernng  und  einnähme  Athens,  etwa  im  Zu- 
sammenhang mit  den  politischen  gerichtsreden  des  Lysias,  die  wir  für 
besonders  charakteristisch  für  den  Untergang  Athens  halten ,  gegen 
die  wir  aber  doch  allerlei  pädagogische  bedenken  nicht  zu  unter- 
drücken vermögen,  äuszerst  wertvoll  erscheint  Xenophons  Anabasis, 
für  die  Unterwerfung  Griechenlands  die  Demosthenischen  reden, 
für  die  athenische  geschiente  und  ihre  grösze  überhaupt  besonders 
des  Ieokrates  Panegyricus  und  des  Lykurg  rede  gegen  Leokrates. 
es  erübrigt  noch  die  epoche  Alexanders  d.  gr.,  deren  geschieh ts- 
schreiber  Arrian  zu  betrachten  wäre  (doch  vgl.  unten),  wenn 
nicht  in  der  lateinischen  litteratur  Curtius  Rufus  einen  wertvollen 
ersatz  böte  und  auszerdem  die  weltgeschichtliche  idee  Alexanders 
auch  in  einem  andern  litteratur  werke ,  dessen  Würdigung  die  fol- 
gende darlegung  im  auge  hat,  dem  schüler  deutlich  zu  tage  träte, 
in  dem  noch  aus  andern  gründen  empfehlenswerten  Xenophontischen 
Agesilaus. 

Nachdem  wir  so  die  griechische  geschiente  als  lectürestoff  auf 
das  ihr  gebührende  masz  beschränkt  haben,  wenden  wir  uns  den  an- 
dern bezieh ungen  zu,  um  derentwillen  das  Griechentum  in  der  reihe 
der  bildungsstoffe  eine  hervorragende  stelle  einnimmt  und  die  grie- 
chischen Schriftsteller  gelesen  werden  müssen,  es  ist  die  ganze  weite 
weit  griechischen  empfindens  und  denkens,  f Ohlens  und  gestaltens, 
in  welche  der  schüler  einen  tieferen  einblick  erhalten  soll ,  es  sind 
die  anschauungen  dieses  volkes  auf  allen  gebieten  des  lebens,  in 
seinen  privatverhältnissen  ebensowohl  wie  in  seinen  öffentlichen,  in 
seinen  Bitten  als  dem  niederschlag  seines  sittlichen  fühlens  und  auf- 
fassens  wie  in  seinen  gedanken  über  die  fragen  des  sittlichen  lebens, 
in  seinem  glauben  und  seinem  phontasieleben  auf  religiösem  gebiete, 
seinem  künstlerischen  sinn  und  schaffen ,  kurz  in  seinen  gesamten 
lebensauffassungen  und  -bethätigungen ,  soweit  dieselben  teils  die 
quelle  unserer  modernen  cultur  sind,  teils  von  der  heutigen  auf- 
fassungsweise überholt,  doch  von  unvergänglicher,  weit  über  die  ge- 
schichtliche hinausgehender  bedeutung  sind,  in  diese  griechische 
weit  mit  ihrem  reichtum  von  gebilden  sittlicher  und  religiöser  ideen, 
in  Wissenschaft  und  kunst  soll  der  schüler  eingeführt  werden  wegen 
ihres  idealen  gehaltes.  sie  soll  ihn  nicht  dem  deutschen  und  christ- 
lichen fühlen  und  leben  entfremden,  nicht  durch  die  beschäftigung 


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336      Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus. 


mit  einer  fernen  Vergangenheit  seinen  blick  für  die  gegenwart  trü- 
ben, sondern  ihm,  indem  sie  ihn  das  wesen  der  dinge  möglichst  klar 
in  ihrer  geschichtlichen  entwicklung  kennen  lehrt,  eine  tüchtige  bil- 
dung  für  die  auffassung  der  ihn  umgebenden  weit  verschaffen,  seine 
begeisterungsfäbigkeit  für  alles  gute  und  schöne  steigern  und  seinen 
sittlichen  willen  kräftigen,  dies  ziel  musz  die  griechische  lectüre  im 
auge  behalten,  nach  ihm  hin  musz  auch  ihre  auswahl  erfolgen,  so 
sind  unter  den  historikern,  welche  wir  unter  dem  gesicbtspunkte  der 
gewinnung  geschichtlicher  begriffe  und  der  bedeutung  der  geschicht- 
lichen gestalten  für  die  innere  weit  des  Schülers  besprechen,  die  von 
höchstem  werte,  welche  den  schüler  die  tiefsten  einblicke  in  die 
lebensauffassung  der  Griechen  überhaupt  thun  lassen,  mehr  oder 
minder  gewähren  sie  ja  alle,  von  Herodot  bis  Demosthenes,  schon 
in  dieser  beziehung  reichliche  ausbeute  für  sittliche  und  religiöse 
auffassung,  für  sitten  und  kunst  der  Hellenen,  aber  die  reihe  der 
Schriftwerke  und  autoren  bedarf  noch  einer  ergänzung  und  Vervoll- 
ständigung, nicht  der  unbedeutendste  trieb  hellenischer  geisteskraft 
ist  die  philosophie.  in  dem  streben  nach  Wahrheit,  wie  dasselbe  in 
der  person  des  Sokrates  verkörpert  ist,  bleiben  die  Griechen  allezeit 
unser  vorbild.  und  einer  einführung  in  die  griechische  weit  des  for- 
schens  bedarf  die  schule,  sie  rechnet  daher  Plato  und  den  zur  Vor- 
bereitung auf  diesen  dienenden  Xenophon  zu  ihren  vornehmsten 
autoren.  aber  in  einer  andern  beziehung  erscheint  mir  die  behand- 
lung  der  Sokratiscben  philosophie  noch  wichtiger,  mit  dem  streben 
nach  Wahrheit  geht  in  ihr  das  streben  nach  heiligung  parallel,  auf- 
gäbe der  christlichen  schule  ist  es  den  schüler  das  heilsbedürfnis 
der  heiden  erkennen  zu  lehren,  damit  er  das  Christentum  in  seiner 
weltgeschichtlichen  bedeutung  recht  verstehe,  darum  musz  er  mit 
dem  ringen  der  edelsten  der  Griechen,  sittlich  rein  und  gott  wohl- 
gefällig zu  werden ,  bekannt  werden,  auch  aus  diesem  gründe  ver- 
dienen die  um  die  person  des  Sokrates  gruppierten  Schriftwerke 
Xenophons  und  Piatos  einen  platz  in  der  schule,  wenngleich  auch 
schon  die  bisher  genannten  litteraturwerke  samt  und  sonders  von 
sittlichem  und  religiösem  ernst  erfüllt  sind,    auch  in  dieser  be- 
ziehung gilt  es  natürlich  die  treibenden  ideen  bis  zur  völligen  klar- 
heit  herauszuarbeiten,  sonst  ist  alle  aufgewandte  mühe  vergeblich 
gewesen. 

Damit  hätten  wir  die  reihe  der  griechischen  schulschriftsteller 
erschöpft,  die  dichtwerke  einer  besprechung  zu  unterziehen  fällt 
auszer  dem  rahmen  unserer  darstellung.  noch  sei  es  gestattet  auf 
einen  autor  hinzuweisen,  der  vielfach  harte  urteile  über  sich  hat  er- 
gehen lassen  müssen,  dafür  aber  von  anderer  Seite  um  so  beredteren 
schütz  gefunden  hat,  Lucian.  die  einwände,  welche  gegen  ihn  er- 
hoben werden,  sind  im  wesentlichen  die,  dasz  er  überhaupt  kein 
Grieche  ist,  sodann  dasz  es  ihm  an  sittlichem  ernst  mangelt,  endlich 
dasz  die  satire  als  Unterrichtsstoff  ganz  und  gar  nicht  zuzulassen  sei. 
aber  ist  Lucian  auch  nicht  von  geburt  Grieche,  ja  gehört  er  erst  der 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus.  337 

zeit  eines  künstlichen  Wiederauflebens  des  Griechentums  an,  so  hat 
er  doch  die  griechische  bildung  wie  einer  in  sich  aufgenommen  und 
nach  dem  gedankengehalt  seiner  Schriften  wie  nach  ihrer  Vollendung 
in  der  form  kann  er  den  besten  von  ihnen  an  die  seite  gestellt  wer- 
den, was  ferner  den  ihm  oft  vorgeworfenen  mangel  an  sittlichem 
ernst  angeht,  so  läszt  sich  gegen  diesen  vorwarf  doch  manches  gel- 
tend machen,  wenn  Lucian  die  eitelkeit  alles  menschlichen  strebens 
verspottet,  so  zeigt  er  damit,  dasz  griechische  und  heidnische  welt- 
weisheit  und  bildung  ihr  ziel  den  menschen  zufrieden  und  glücklich 
zu  machen  nicht  zu  erreichen  im  stände  gewesen  ist;  seine  Schriften 
reden  eine  deutliche  spräche  von  der  'fülle  der  Zeiten',  und  mit  dem 
rechten  ernst,  wie  er  für  die  schule  gehört,  bebandelt,  dürften  sie  die 
anschauungswelt  des  schülers  wohl  ergänzen  und  bilden  helfen,  wenn 
endlich  die  satire  als  solche  ansiosz  erregt,  so  ist  entgegen  zu  halten, 
dasz,  ganz  abgesehen  von  derHorazischen  satire,  schon  im  zusammen- 
hange mit  dem  deutschen  unterriebt  in  prima,  welcher  Schillers  ab- 
han dlimg  über  naive  und  sentimentalische  dichtung  doch  nicht  ent- 
behren kann,  die  lectüre  des  einen  und  andern  Lucianschen  Stückes 
erwünscht  wäre,  jedenfalls  möchte  ich  seinen  'träum'  einmal  um 
seiner  Wertschätzung  der  wissenschaftlichen  bildung  halber,  sodann 
auch  als  den  ausdruck  der  echt  griechischen  anschauung  von  dem  un- 
wert der  handarbeit,  endlich  aus  einem  formalen  gründe,  nemlich  weil 
derselbe  eine  parallele  zu  des  Prodicus  allegor ie  (Mem.  II  1)  bildet, 
für  die  schule  nicht  missen,  im  übrigen  liesze  sich  Lucian  wohl  ein 
bescheidenes  plätzchen,  etwa  am  schlusz  des  obersecundapensums, 
ohne  Schwierigkeit  einräumen. 

Es  waren  didaktische  zwecke  allgemeiner  art,  nach  denen  wir 
unter  den  griechischen  Schriftstellern  unsere  auswahl  für  den  unter- 
•  rieht  trafen :  dieselbe  deckt  sich  im  ganzen  mit  der  durch  eine  lange 
praxis  des  humanistischen  gymnasiums  bewährt  gefundenen,  die 
hauptarbeit  freilich  bleibt  noch  zu  thun,  nemlich  die  Verteilung  der 
Schriftwerke  auf  die  einzelnen  classenpensen  in  stetem  hinblick  auf 
den  gesamten  Unterrichtsstoff  der  anstalt  unter  dem  gesichtspunkt 
der  concentration  desselben,  dafür  ist  eine  genaue  Untersuchung  des 
didaktischen  wertes  derselben  unabweisliche  bedingung.  wir  berück- 
sichtigen im  folgenden  die  anordnung  des  leetürestoffes,  nur  soweit 
dieselbe  der  von  uns  zu  untersuchenden  schrift  einen  bestimmten 
platz  zuweist,  bzw.  sichert;  auch  können  wir  uns  nur  auf  andeutun- 
gen  beschränken.  Uber  Xenophons  Anabasis  als  lesestoff  für  den  an- 
fangbunterricht,  d.  h.  für  obertertia  in  parallele  mit  Caesars  bellum 
Gallicum  herscht  allgemeine  Übereinstimmung,  zwei  bücher  können 
in  dieser  classe  bequem  bewältigt  werden,  so  dasz  dann  ein  durch- 
blick  durch  das  ganze  mit  lesung  der  wichtigsten  partien  der  übrigen 
bücher  der  untersecunda  verbleibt,  in  welcher  das  interesse  für  diesen 
Stoff  auch  durch  die  geschichtlichen  Studien  bedingt  erscheint,  ein 
-eme-ter  genügt  für  den  abschlusz  der  Anabasislectüre;  welcher  lese- 
stoff dem  zweiten  halbjahre  zuzuweisen  ist,  dies  hängt  von  der  ent- 

N.  jnhrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1891  hfl.  7.  22 


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338       Der  didaktische  wert  des  Xenopbontischen  Agesilaus. 

Scheidung  einer  andern  frage  ab ,  nemlich  der  nach  der  lectüre  der 
obersecunda.  wäre  der  griechische  grammatische  Unterricht  jetzt 
nicht  auf  V/2  jähre  zusammengedrängt,  so  würde  ich  schwanken,  ob 
ich  nicht  die  lectüre  des  Herodot  in  die  untersecunda  verlegen  sollte, 
unter  den  heutigen  Verhältnissen  jedoch  dürfte  eine  so  frühe  be- 
schäftigung  mit  dem  ionischen  dialekt  die  grammatische  Sicherheit 
gefährden,  auch  wüste  ich  nicht ,  welche  lectüre  im  anschlusz  an 
den  geschichtlichen  Unterricht  der  vorigen  classe  für  die  obersecun- 
daner  geeigneter  sein  sollte  als  die  darstellung  der  Perserkriege  durch 
Herodot.  schon  Nägelsbach  weist  in  seiner  gymnasial pädagogik* 
darauf  hin ,  dasz  diese  lectüre  ein  schnelleres  tempo  nötig  hat,  auch 
ein  grund  für  ihre  Verlegung  nach  obersecunda.  so  wird  für  das 
erste  semester  dieser  classe  Herodot  von  uns  in  aussieht  genommen, 
für  das  zweite  ist  kaum  eine  lectüre  fruchtbarer  als  die  der  Memo- 
rabilien,  besonders  in  hinblick  auf  die  spätere  Platonische,  über 
den  hohen  didaktischen  wert  dieses  buches  ist  eine  auseinandersetzung 
an  dieser  stelle  nicht  am  platze7,  später  werden  eine  reihe  bemer- 
kungen  auch  über  die  Memorabilien  folgen,  mit  rücksicht  auf  ihre 
lectüre  in  obersecunda  erscheint  es  angezeigt,  in  untersecunda 
als  Vorbereitung  auf  sie  die  Cyropädie  in  aus  wähl  zu  lesen, 
dasjenige  werk  Xenophons,  in  welchem  die  Sokratischen  ideen 
am  gemeinverständlichsten  vorgetragen  werden,  und  welches  auch 
aus  andern  gründen ,  die  unten  zu  entwickeln  sind,  gerade  in  dieser 
classe  am  besten  platz  findet,  auch  gewährleistet  seine  lectüre 
für  den  fall,  dasz  in  obersecunda  die  wähl  auf  den  geschichtlichen 
stoff  der  Hellenika  und  der  politischen  Lysiasreden  fallen  sollte, 
die  Vorbereitung  späterer  Platonischer  Studien,  indem  wir,  als 
unserm  thema  fernstehend,  die  primalectüre  nicht  weiter  prüfen, 
sondern  für  unsern  zweck  nur  das  eine  hervorheben  wollen,  dasz 
Plato  ein  breiterer  räum  zu  verstatten  ist,  verfolgen  wir  den  ge- 
danken  der  lectüre  der  Cyropädie  in  untersecunda  und 
der  Memorabilien  in  obersecunda  weiter  und  suchen  den 
wünsch  zu  begründen,  dasz  zwischen  beide  in  letzterer 
classe  der  Agesilaus  desselben  Verfassers  eingeschoben 
werde. 

Bevor  wir  uns  einer  erörterung  der  didaktischen  Verwendbar- 
keit der  in  rede  stehenden  Schriftwerke  zuwenden ,  hören  wir  erst 
fremde  stimmen,  die  uns  zwar  der  eignen  Untersuchung  nicht 
überheben  können,  aber  doch  nach  der  einen  und  andern  seite  ge- 
wis  höchst  beachtenswert  sein  dürften. 

Die  reformatoren  betonten  neben  dem  neuen  testament  ganz 
besonders  die  Cyropädie9  wegen  ihrer  lehrhaften  tendenz.  ebenso 

•  s.  142. 

7  es  sei  verwiesen  auf  den  höchst  beachtenswerten  aufsatz  E.  "Weissen- 
borns 'Xenophons  Memorabilien  als  schullectüre»  im  osterprogramm  von 
Mühlhausen  i.  Th.  1886. 

6  vgl.  F.  A.  Eckstein  a.  a.  o.  s.  417. 


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Der  didaktische  wert  des  XenophontiBchen  Agesilaue.  339 


werden  in  der  sächsischen  Schulordnung  vom  jähre  1773  Xenophons 
Cyropädie,  die  Memorabilien,  auch  der  Oeconomicus  und  der  Age- 
silaus  für  die  zweite  classe  festgesetzt.9  von  dem  letzteren  verlautet 
später  wenig. 

F.  A.  Eckstein10  erkennt  an  der  Cyropädie  zwar  an,  dasz  'die 
lebendige  Schilderung  der  persischen  sitten,  das  überall  durchschim- 
mernde geschick,  das  morgenländische  mit  dem  griechischen  zu  ver- 
schmelzen, besonders  alles,  was  im  ersten  buche  erzählt  wird,  den 
schüler  reize',  dasz  auch  in  andern  btichern  gewis  prächtige  stellen 
sind,  wie  die  erzählung  von  der  Panthea  und  dem  Abradatas  (VH  3) 
und  das  schöne  bild  eines  sterbenden  weisen,  des  Kyros  (VIII  7), 
schlieft  indes  sein  urteil  dabin  ab :  'aber  diese  einzelnen  partien 
nötigen  nicht  zu  der  lectüre ,  die  nur  unerquicklich  sein  kann',  die 
Memorabilien  empfiehlt  er  besonders  in  auswahl  zu  lesen  (er  schlägt 
▼or  I  1.  2.  II  4.  5.  6.  10.  I  4.  IV  3),  doch  neigt  er  mehr  für  den 
idealen  Sokrates  des  Plato.  um  Ecksteins  ansieht  Uber  die  Helle- 
nika  auch  zu  erwähnen,  so  schreibt  er11:  'der  stoff  ist  reichhaltig, 
bietet  aber  für  die  jugend  nicht  genug  interesse.  das  ganze  ist  lang- 
weilig, wenn  auch  nicht  zu  leugnen,  dasz  lohnende  partien  darin 
sind,  wie  die  Arginusenschlacht  und  der  feldhermprocess ,  die  er- 
zählung von  dem  falle  Athens,  das  aufkommen  Thebens  und  die 
schlacht  bei  Leuktra.'  noch  weniger  endlich  empfiehlt  er  die  vier 
kleinen  Schriften  des  Xenophon,  im  besondern  die  'lobschrift  auf 
Agesilaus',  'die  noch  dazu  wahrscheinlich  das  machwerk  eines  spä- 
teren rhetors  oder  sophisten ,  sicherlich  aber ,  wenn  von  Xenophon, 
stark  interpoliert  ist'. 

Nägelsbach 11  nennt  von  den  Xenophontischen  Schriften  die 
Anabasis,  die  Hellenika  'oder  allenfalls  die  Cyropädie'  als  lesenswert. 

6.  Rad  tke 13  schlägt  für  untersecunda  einen  Wechsel  von  Helle- 
nika und  Cyropädie  vor,  für  obersecunda  die  lectüre  des  Herodot 
und  der  Memorabilien ,  letztere  zur  Vorbereitung  auf  Plato. 

C.  von  Oppens14  urteil  lautet  dahin:  'die  Cyropädie  halte  ich 
gleichfalls  für  sehr  anziehend  und  wohl  geeignet  die  jugendliche 
Phantasie  mit  den  schönsten  bildern  zu  erfüllen  und  daran  eine 
dauernde  erinnerung  hervorzurufen,  die  classe,  welcher  sie  seit  Ver- 
legung des  beginns  des  griechischen  Unterrichts  von  quarta  nach 
tertia  zuzuweisen  wäre,  würde  die  obersecunda  sein,  indessen  hier 
verdienen  doch  die  Memorabilien  den  vorzug  wegen  des  kostbaren, 
das  ganze  werk  durchziehenden  hu  mors  und  wegen  der  dadurch  dem 
schüler  zu  teil  werdenden  Vorbereitung  auf  Piaton.   deshalb,  und 

•  ebd.  s.  419. 
10  a.  a.  o.  B.  428. 
"  a.  a.  o.  8.  429. 
19  gyranaaialpädagogik'  s.  142. 

ts  der  griechische  Unterricht  auf  dem  deutschen  gyranasium.  eine 
pädagogisch-didaktische  Studie.    Pless  1874. 
14  in  der  8.  16  genannten  schrift  8.  26. 

22* 

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340       Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus. 


weil  die  lectüre  von  zwei  Schriften  des  Xenophon  in  einer  classe 
neben  dem  Herodot  dem  streben  nach  Vertiefung  widerspricht,  lasse 
man  die  Cyropädie  für  secunda  lieber  fallen  (während  cursorische 
lectüre  derselben  für  prima  empfohlen  wird).  —  Xenophons  grie- 
chische geschiente  macht  den  eindruck  einer  epitome  und  bietet, 
abgesehen  von  einigen  berlicben  darstellungen,  wie  Athen  nach  der 
schlacht  bei  Ägospotamoi,  das  ende  des  Theramenes  und  etwa  noch 
die  befreiung  Thebens  von  der  spartanischen  besatzung,  nur  geringe 
anziehungskraft.' 

0.  Altenburg'5  weist  in  seinem  lebrplan  nach  der  beendi- 
gung  der  Anabasis  Xenophons  Cyropädie  'nach  festzustellendem 
leseplan'  der  untersecunda,  dem  sommersemester  der  obersecunda 
auszer  Herodot  noch  Xenophons  Agesilaus  und  dem  Wintersemester 
entweder  (philosophische  lectüre)  Xenophons  Memorabilien  (nach 
leseplan'  oder  (rhetorische  lectüre)  Lysias  in  Agoratum  und  Era- 
t08thenem  parallel  mit  Xen.  Hell.  II  zu. 

In  H.  Schillers  'bandbuch  der  praktischen  pädagogik  für 
höhere  lehranstalten '  finden  die  Memorabilien  und  der  Agesilaas 
überhaupt  nicht  erwähnung,  auch  wird  der  didaktische  wert  der  Cyro- 
pädie angezweifelt:  'für  die  Cyropädie  läszt  sich  ja  manches  geltend 
machen,  und  Verknüpfungen  sind  in  alter  und  neuer  zeit  zu  finden; 
ob  die  schrift  aber  den  Schülern  wirklich  so  viel  interesse  erweckt,  als 
begeisterte  Verehrer  derselben  oft  behaupten,  ist  mehr  als  fraglich., 
an  einer  andern  stelle ,<r  hatte  derselbe  für  untersecunda  neben  der 
Anabasis  'zwei  bücher  der  Hellenika  oder  Memorabilien'  vorge- 
schlagen. 

Zum  schlusz  erwähnen  wir  noch  Bäumlein (-Schmid)  in 
Schmids  encyclopädie'7:  'als  muster  gefälliger  und  leichter 
attischer  prosa  bietet  sich  die  Anabasis  oder  die  Cyropädie  (oder  auch 
die  griechische  geschiente)  von  Xenophon  gleichsam  von  selbst  dar 
zur  ersten  lectüre  vollständiger  griechischer  Schriften',  sowie  mehrere 
directorenversammlungen.  so  läszt  in  der  zehnten  preuszi- 
schen  directorenversammlung  der  referent  (Carnuth  -  Danzig)  die 
Hellenika  als  lectüre  fallen,  während  er  warm  für  die  Memorabilien 
eintritt;  sein  Standpunkt  wird  vom  correferenten  und  von  der  con- 
ferenz  geteilt,  der  referent  der  zweiten  rheinischen  directoren- 
versammlung entscheidet  sich  für  die  Memorabilien  in  obersecunda, 
der  correferent  fügt  sehr  entschieden  die  Cyropädie  hinzu,  endlich 
empfiehlt  der  referent  der  neunten  pommerseben  directorenversamm- 
lung (Muff-Stettin)  unter  Zustimmung  des  correferenten  neben  der 
lectüre  der  Hellenika,  die  er  für  sehr  lesenswert  im  zusammenbange 
mit  der  griechischen  geschieh te  in  untersecunda  hält,  auch  die  Cyro- 
pädie nachdrücklich  ('ref.  kann  bezeugen,  dasz  die  schrift  unter- 


O.     ».  \J. 

16  fdas  griechische  im  gymnasium»,  pädagog.  zeitfragen  I  (1875) 
s.  34. 

17  III  s.  82. 


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Beiträge  zur  hebräischen  grammatik  und  metrik.  341 

secundanern  sehr  lieb  gewesen  ist'  indem  er  besonders  hervorhebt 
die  abschnitte  I  1—4.  II  1—4.  III  1.  VII  2.  3.  7.  die  Memorabilien 
wünscht  er  für  obersecunda:  'Xenophon  geht  passend  vor  Plato  her; 
jener  bietet  die  solide,  historische  grundlage,  auf  die  sich  dann  die 
geistvolle  speculation  Piatos  vortrefflich  aufbaut.' ,9 


«  «.  803. 

»  8.  311. 

(fortsetzung  folgt.) 
Ohlau.  Paul  Dörwald. 


31. 

BEITRÄGE  ZUR  HEBRÄISCHEN  GRAMMATIK 

UND  METRIK. 1 


Über  den  gebrauch  des  artikels  in  der  rhythmischen 

poesie  der  Hebräer. 

L 

Die  nachfolgende  Untersuchung  über  den  gebrauch  des  artikels 
in  der  hebräischen  poesie  zieht  zunächst  nur  diejenigen  stellen  in 
betracht,  in  welchen  der  artikel  im  consonantischen  text  durch  n 
erkennbar  ist.  diejenigen  stellen  aber,  in  welchen  der  artikel  nur 
durch  die  vocale  der  praefiza  3 ,  z  .  b  angedeutet  wird ,  bleiben  zu- 
nächst unberücksichtigt,  weil  diese  auf  rechnung  der  spätem  puncta- 
toren  kommen,  welche,  wie  wir  sehen  werden,  in  beziehung  auf  den 
artikel  keinen  unterschied  zwischen  poesie  und  prosa  machten. 

Geht  man  also  zunächst  vom  consonantisch  erkennbaren  artikel 
aus,  so  läszt  sich  schon  statistisch  nachweisen,  dasz  dieser  in  der 
poesie  wenig  gebräuchlich  war,  und  dasz  das  fortlassen  des  artikels 
eine  eigentümlichkeit  der  poetischen  spräche  ausmacht,  wie  ja  in  be- 
ziehung auf  die  ältere  griechische  und  deutsche  poesie  dieselbe  beob- 
achtung  gemacht  worden  ist.  gewisse  altertümliche,  meist  nur  in  der 
poesie  vorkommende  Wörter  nehmen  überhaupt  niemals  den  artikel 
an.*  unter  den  150  Psalmen  kommt  kein  artikel  vor:  in  Ps.  4.  5. 
6.  7.  15.  16.  17.  23.  26.  27.  30.  37.  39.  41.  43.  44.  53.  55.  60. 
(62.)  64.  67.  69.  70.  75.  76.  84.  90.  91.  92.  93.  101.  109.  110. 
III.  112.  120.  131.  132.  138.  139.  140.  141.  143.  144,  in  summa 
in  44  Psalmen,  hierzu  kommen  noch  diejenigen  Psalmen,  in  denen 
der  artikel  nur  in  gewissen  stereotypen  ausdrücken,  welche  über- 


1  vgl.  jahrgang  1887  e.  609—616. 

*  unter  den  in  Gesenius- Kautzsch  gramm.  (25e  aufl.)  §  125,  2  anm.  1 
schluaznote  1  aufgezählten  fehlt  Ü^pn©  und  einige  andere,  wie  wir  am 
Schlüsse  der  abhandlang  sehen  werden. 


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342  Beiträge  zur  hebräischen  grammatik  und  metrik. 

haupt,  wie  wir  sehen  werden,  für  eine  bestimmte  bedeutung  niemals 
ohne  artikel  vorkommen,  gebraucht  wird,  als  DV>tt  in  der  bedeutung 
'heute',  O'frrrbs  'fortwährend,  beständig',  ■parvbs  'überall,  aller- 
wärts',  so  in  Ps'.  2.  38.  42.  47.  73.  83.  88.  100  '=  8  Psalmen,  und 
abgesehen  von  den  genannten  ausdrücken  kommt  der  artikel  über- 
haupt nur  1  mal  vor  in  Ps.  9.  10.  13.  14.  20.  21.  22.  28.  32.  46. 
48.  50.  51.  54.  66.  58.  61.  71.  72.  74.  80.  81.  82.  86.  87.  95.  107. 
117.  122.  128.  129.  134.  142.  150,  also  in  34  Psalmen,  und  sieht 
man  von  Ps.  33.  34.  96.  104.  114.  133  ab,  so  findet  sich  in  allen 
übrigen  Psalmen  der  artikel  äuszerst  spärlich. 

Noch  auffälliger  erscheint  der  nichtgebrauch  des  artikels  im 
buche  Hiob.  er  fehlt  gänzlich  in  cap.  4.  6.  8.  10.  11.  13.  14. 
16.  17.  18.  19.  20.  21.  24.  25.  27.  29.  32.  34.  39,  in  summa  in 
20  capiteln,  also  in  dem  gröszern  teil  der  eigentlichen  dichtung. 
nur  lmal  kommt  der  artikel  vor  in  cap.  7.  15.  23.  31.  33.  35,  und 
sieht  man  von  dem  mit  participien  verbundenen  artikel  ab  (c.  3,  8. 
14.  16.  21.  22;  c.  9,  5.  6.  7;  22,  17;  30,  3.  4;  40,  19;  41,  25),  wo 
er  eine  besondere  bedeutung  hat,  so  ist  er  in  den  übrigen  capiteln 
durchaus  selten;  etwa  2 mal  in  c.  22.  26.  36.  40.  41;  3 mal  nur  in 
c.  37.  38.  in  den  proverbien  kommt  kein  artikel  vor  in  c.  2.  3.  4. 
5  (in  v.  22  wahrscheinlich  eine  glosse).  8.  11.  12.  13.  14.  15.  19. 
21.  24.  26.  27.  28,  also  in  16  capiteln,  der  gröszern  hälfte  des 
buches,  und  nur  lmal  in  c.  1.  10.  16.  20.  29. 

Auch  in  den  Klageliedern  ist  der  artikel  selten,  abgesehen  von 
dem  stereotypen  DvrrbD  kommt  er  vor  in  c.  1  2  mal,  in  c.  2  2  mal, 
in  c.  3  lmal,  in  c.  4  3 mal  (davon  2 mal  in  Verbindung  mit  parti- 
cipien), in  c.  5  kommt  keiner  vor. 

In  den  in  die  prosa  eingereihten  dichtungen  kommt  kein 
artikel  vor:  Genes.  4,  23—24;  9,  25—27.  Exod.  15.  Numer.  10, 
35—36;  21,  18;  21,27-29;  23,7—10.  18-24;  24,4—9  (inv.3 
lmal).  16—24  (v.  15  v.  3).  Deutern.  32  (nur  v.  1  und  2  mit 
artikel),  33  (nur  in  v.  12  und  22).  Iudic.  5  (nur  in  v.  9.  16.  20. 
28.  31).  I  Sam.  2,  1 — 10  ohne  artikel.  Habaq.  c.  3  nur  in  v.  4. 

Mag  nun  die  eine  oder  andere  stelle  übersehen  worden  sein  — 
weil  ein  einzelner  bei  der  menge  der  zu  vergleichenden  stellen  eine 
absolute  Vollständigkeit  nicht  verbürgen  kann  —  so  würde  dieses 
durchaus  nichts  an  den  resultaten  des  ganzen  ändern ,  und  darf  als 
feststehend  angenommen  werden,  dasz  der  nichtgebrauch  der  artikels 
eine  eigentümlichkeit  der  poetischen  ausdrucksweise  ausmache,  es 
entsteht  nun  die  frage,  aus  welchem  gründe  trotzdem  der  artikel 
in  vielen  stellen  noch  vorkommt ,  und  zwar  nicht  blosz  in  verschie- 
denen dichtungen,  so  dasz  dieses  mit  der  eigenart  des  Zeitalters  oder 
des  dicbters  erklärt  werden  könnte,  sondern  in  einer  und  derselben 
dichtung,  ja  in  einem  und  demselben  verse  wird  der  artikel  ge- 
braucht und  ausgelassen,  es  kommt  dieser  Wechsel  sogar  bei  einem 
und  demselben  worte  vor.  so  steht  z.  b.  in  Ps.  29,  3  im  ersten 
gliede  ü^nti       und  im  letzten  D*»73  b*;  in  v.  6  lautet  das  schlusz- 


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Beiträge  zur  hebräischen  grammatik  und  metrik.  343 

wort  pabtt  und  gleich  darauf  in  v.  6  piab  ohne  artikel.  in  Ps. 
57, 9  bn5H  rm*  stehen  zwei  nomina  neben  einander,  das  erste 
mit  dem  artikel,  das  zweite  ohne  denselben ;  in  demselben  Ps.  v.  12 
fehlt  der  artikel  im  ersten  gliede  D"*»©  b*,  dagegen  tritt  er  im 
zweiten  ein  y^arsbs  b*  und  ebenso  108,6,  während  doch  sonst,  wie 
wir  sehen  werden  und  es  auch  selbstverständlich  ist,  eine  gleichmäszig- 
keit  in  den  parallelen  ausdrücken  erstrebt  wird,  dieselbe  ungleich- 
mäszigkeit  im  gebrauch  des  artikels  tritt  uns  auch  in  vielen  andern 
versen  entgegen,  z.  b.  Ps.  95,5  nwm^n;  103,11  yiNn  b*  o^ntt; 
121,  6  nvrttttiöiT;  130, 7  nrnD-ionn;  Job.  3,3  rrb^birrov  hk\ 

in  Ps.  46,  3.  7  hat  das  wort  y^N  keinen  artikel ,  dagegen  in  v.  10 
f*ÄSl  nsp,  in  Habaq.  3,4  y-ifctn  n«b73  und  in  v.  6.  7.  12  y^N  ohne 
artikel;  in  Hiob  37,  3  und  38,  13  y^KS-i,  dagegen  in  v.  6.  17  j  38,  4. 
18.  24.  26  ohne  artikel.  dieses  sind  keine  vereinzelten  beispiele, 
sondern  sie  treten ,  wie  wir  noch  sehen  werden ,  uns  oft  entgegen, 
wie  soll  man  sich  divse  erscheinung  erklären  ? 

In  einem  gymnasial  program  m  (Breslau,  St.  Elisabeth-gymn. 
1875)  bat  gymnasialleb rer  Suckow  in  einer  abhandlung  'den  gebrauch 
des  artikels  in  den  Psalmen'  betreffend,  denselben  grammatisch  zu  er- 
klären versucht,  indem  er  demselben  die  ursprüngliche  bedeutung 
eines  pronomen  demonstrativum  beilegt,  in  einigen  stellen  könnte 
diese  erklärung  zulässig  erscheinen,  in  den  meisten  fallen  ist  sie,  wie 
wir  gleich  sehen  werden,  künstlich  und  unwahrscheinlich,  dabei  bleibt 
noch  immer  eine  grosze  zahl  von  nomina  mit  artikel  übrig,  die  trotz 
aller  künstelei  keine  erklärung  finden,  und  ebenso  bleibt  die  incon- 
sequenz  im  gebrauch  des  artikels  bei  demselben  worte  und  in  der- 
selben dichtung  unerklärt,  für  die  lösung  dieser  frage  muste  über- 
haupt die  ganze  sogenannte  rhythmische  poesie  in  den  kreis  der 
betrachtung  gezogen  werden,  während  Suckow  sich  nur  auf  die 
Psalmen  beschränkt  und  auch  in  diesen  viele  maszgebende  erschei- 
nungen  übersehen  hat.  umgekehrt  hat  S.  auch  die  Überschriften 
und  die  doxologiscben  Schlüsse  der  einzelnen  Psalmenbücher  herbei- 
gezogen, welche  offenbar  als  eine  prosaische  schluszformel  in  einer 
weit  spätem  zeit  hinzugefügt  worden  sind;  vgl.  Suckow  s.  8.  4; 
^.  11  z.  11;  s.  13  schlusz;  s.  17,  2  unten. 

Einige  beispiele  für  die  unhaltbarkeit  von  Suckows  erklärungen 
werden  genügen,  so  erklärt  er  (s.  9)  gleich  in  Ps.  1,  4  D^tt5"in  den 
artikel  als  demonstrativum ,  'der  artikel  bezieht  sich  auf  die  frevler 
r.  —  Abgesehen  davon,  dasz  in  v.  1  neben  D^Nün  und 

E'a":  steht  und  in  den  beiden  zunächst  vorangehenden  versen  nicht 
von  den  'gottlosen',  sondern  von  den  'frommen'  die  rede  ist,  so 
fragt  man,  warum  nicht  auch  in  v.  5  und  6  dieselben  rr:*  den 
Artikel  haben,  und  warum  nicht  auch  die  ö^TS  in  v.  5  und  6 
wenigstens  einmal  den  artikel  erhalten,  in  Ps.  3,  9  bezieht  S.  (s.  9) 
'fWWM  auf  v.  3:  viele  sprechen  zu  (sie)  meiner  seele:  keine  hilfe 
für  ihn  bei  gott  (der  sinn  ist:  jene  hilfe,  die  mir  nach  der  behaup- 
tung  meiner  feinde  von  gott  nicht  zu  teil  werden  wird,  wird  Jhvh 


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344  Beitrage  zur  hebräischen  grammatik  und  metrik. 

mir  senden)',  man  braucht  blosz  die  nachfolgende  parallele  vers- 
hälfte  zu  lesen ,  um  die  unbaltbarkeit  dieser  erklfirung  zu  erkennen, 
und  wer  wird  überhaupt  eine  znrück bezieh ung  auf  ein  wort,  das 
sechs  verse  entfernt  steht,  glauben?! 

Suckow  geht  aber  hierin  noch  weiter,  auf  derselben  s.  9  sagt 
er :  fes  ist  aber  nicht  nötig,  dasz  das  substantivum  .  .  .  wirklich  vor- 
her genannt  sei;  die  blosze  andeutung  desselben  genügt.'  auch 
hierbei  gentigt  es,  nur  einige  von  S.  gegebenen  beispiele  anzu- 
führen, um  deren  unhaltbarkeit  zu  ersehen.  8.  9  sagt  er:  Ts.  54,  7 
meint  der  dichter  mit  3>*iM  jenes  böse,  welches  (nach  v.  5)  seine 
feinde  ihm  zufügen  wollen.'  (Ps.  58,  1 1  weist  der  artikel  vor  rc-, 
das  hier  collectiv  steht,  zurück  auf  die  ungerechten  richter,  von 
denen  v.  2  — 10  die  rede  ist.'  'Ps.  74,  13  scheint  der  artikel  in 
D^n  auf  Dt  zurückzugehen  (sie),  sofern  «meer»  den  begriff  «wasser» 
in  sich  enthalt'!  'Ps.  115,  17  sind  unter  OTttii  (die  toten)  die 
v.  4 — 8  erwähnten  götzenbilder,  deren  verfertiger  und  die,  welche 
auf  sie  vertrauen,  zu  verstehen.'  wie  jedoch  im  nachfolgenden  balb- 
verse  die  riETT  "»YV  zu  verstehen  sind,  darüber  spricht  sich  Suckow 
nicht  aus.  auch  die  andern  von  S.  daselbst  angeführten  beispiele 
sind  nicht  viel  anders ,  und  dasz  eine  solche  erklärung  des  artikels 
verfehlt  ist,  bedarf  wohl  keiner  weiteren  darlegung. 

Auch  die  regeln,  welche  S.  in  beziehung  auf  den  gebrauch  des 
artikels  für  bestimmte  häufig  vorkommende  nomina  als  pn»,  triQO, 
aufstellt,  treffen  nur  teilweise  zu,  oder  sind  überhaupt  so  schwan- 
kend, dasz  sie  als  regeln  gar  nicht  gelten  können,  das  ist  z.  b.  keine 
regel,  wenn  er  (s.  11  unten)  sagt:  'ist  aber  mit  "pK  die  erde  im 
gegensatz  zum  himmel  oder  zum  meer  gemeint,  so  steht  es  teils 
mit,  teils  ohne  artikel.'  oder  (s.  12  z.  10):  'steht  yi«  für  sich 
allein  als  subject  oder  object  des  satzes ,  so  findet  es  sich  im  ganzen 
mehr  mit  als  ohne  den  artikel.'  wenn  er  (s.  11.  2)  über  y^m  die 
regel  aufstellt:  'wo  es  erdboden,  land  oder  bestimmtes  land  bedeutet, 
meidet  es  den  artikel',  so  ist  nicht  blosz  Ps.  106,  38  y^arr  tprvfl 
dagegen,  sondern  auch  Ps.  61,  3;  65,  10;  74,  12;  82,  8;  105,  16, 
in  welchen  nach  dem  zusammenhange  pnan  sich  auf  Palästina 
bezieht. 1 

a  da  Suckows  statistisches  material  über  V"ifct  höchst  lückenhaft 
ist,  so  dürfte  nachfolgende  ergänzung  nicht  unangemessen  sein.  y~.S 
ohne  artikel  kommt  in  folgenden  stellen  vor:  Ps.  2,  2.  10;  22,  28.  SO; 

28,  13;  36,  20;  37,  3.  9.  11.  22.  29.  34  ;  44,  4;  46,  3.  7;  47,  10;  48,11; 
50,  1;  60,  4;  65,  6;  67,  7.  8;  68,  9  (Judic.  5,  4);  69,  85;  72,  6.  8; 
74,  17.  20;  76,  4.  9;  76,  9.  10.  13;  79,  2;  80,  10;  81,  6;  82,  5;  89,  12.  28; 
90,  2;  96,  4;  98,  3;  101,  6.  8;  102,  20;  104,  5;  105,  11 ;  106.  17;  107,  34; 
HO,  6;  114,  7;  119,  90.  119;  188,  4;  139,  15;  147,  6.  15;  148,  11.  13; 
stets  ohne  artikel  in  der  Verbindung  -pH}  D"<tt»  tt«*  116,  16;  121,  2; 
124,5;  134,8;  146,6.  ferner:  Job  12, 15;  14,19;  16,18;  18,4.  17;  20,4. 
27;  24,  4;  26,  7;  28,  5;  35,  11;  37,  6.  16;  38,  4,  18.  24.  26;  39,  24; 
ferner:  Proverb.  2,  21.  22;  8,  19;  8,  23.  26.  29;  10,  30;  26,  3;  28,  2; 

29,  4;   30,  4.  16.  21.  24;   31,  23;    ferner:   Exod.  16,  12;  Denten». 


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Beiträge  zur  hebräischen  grammatik  und  metrik. 


345 


Ebenso  schwankend  und  unzuverlässig,  weil  die  Zusammenstel- 
lung des  statistischen  materials  fehlt,  ist  8uckows  regel  tiberD*»»« 
(8. 12  mitte):  fim  ganzen  etwas  seltener  als  bei  yiK  findet  sich  der 
artikel  bei  D*»».' 

Wir  geben  zunächst  das  statistische  material.  ohne  artikel 
kommt  traft  vor:  Ps.  8,  9;  18,10;  33,6;  60,6;  57,11.  12;  69,35; 
78,  23.  24;  89,  3.  6.  12.  30;  96,  5;  102,  26;  103,  11;  104,  2; 
105,  40;  107,  26;  108,  5.  6;  115,  15.  16;  121,  2;  124,  8;  134,  3; 
139,  8;  146,  6;  147,  8;  148,  13,  also  in  30  stellen;  dagegen  mit 
artikel:  Ps.  8,  1 ;  19,  2.  7 ;  50,  4;  57,  6  (wahrscheinlich  ohne  artikel; 
vgl.  unten);  79,  2;  96,  11;  97,  6;  104,  12;  113,4;  115,  16; 
136,  26;  148,  1.  4,  also  in  13  stellen,  in  den  übrigen  poetischen 
büchern  kommt  O^nv  ohne  artikel  vor  in :  Hiob9,8;  11,8;  14,12; 
15,  15;  20,  27;  22,  12.  14;  26,  11.  13;  35,  5.  29;  38,  29.  33.  37; 
ferner:  Proverb.  3,  9;  8,  27;  25,  3;  30,  4;  Habaq.  3,  2;  Genes. 
14,  19.  22;  49,  25;  Deutern.  32,  9  (dagegen  mit  artikel  v.  1). 

Die  regel  endlich,  welche  S.  Uber  den  artikel  vor  Dt  (s.  12  unten) 
gibt,  musz  als  ganz  verfehlt  bezeichnet  werden:  'wenn  oV,  sagt  er, 
'das  meer  im  allgemeinen,  die  «Sammlung  der  wasser»  im  gegensatz 
zum  trocknen,  bedeutet,  so  hat  es  stets  den  artikel,  zb.  Ps.  8,  9; 
33,  7;  78,  53;  89,  10;  95,  5;  96,  11;  98,  7;  104,  25;  107,  23; 
146,6.'  gegen  diese  regel  sprechen  zahlreiche  stellen,  wie  Ps.  65,  6; 
68,  23;  93,  4;  139,  9  und  ganz  besonders  Job.  9,  8;  11,  9;  14,  11; 
38,  8.  16;  41,  23;  Proverb.  23,  34;  30,  19  u.  a.  wenn  S.  ferner 
die  regel  aufstellt  (s.  13  oben):  'bezeichnet  dagegen  ein  be- 
stimmtes meer,  so  unterbleibt  der  artikel,  auszer  wenn  ihm  eine 
ganz  besondere  demonstration  inne  wohnt',  so  musz  eine  solche 
demonstrative  bedeutung  des  artikels  in  Ps.  114,  3.  5  sehr  zweifel- 
haft, und  in  Ps.  78,  53  ganz  unwahrscheinlich  erscheinen. 

Suckow  selbst  musz  zugeben,  dasz  seiner  erklärung  des  artikels 
als  eines  demonstrativum  entgegen  'nicht  selten  gattungsnamen  ohne 
den  artikel  gefundon  werden',  welche  ihn  nach  seinen  aufgestellten 
regeln  haben  müsten  (s.  14  unten),  seine  künstlichen  erklärungen 
reichen  also  nach  seinem  eignen  geständnis  nicht  aus,  der  weit 
gröszere  teil  bleibt  unerklärt,  und  am  wenigsten  wird  nach  den- 
selben die  Willkür  erklärlich,  dasz  ein  und  dasselbe  wort  in  derselben 


32,  13.  22;  33,  16.  17.  28;  Judic.  5,  4;  I  Sam.  2,  8.  10.  dagegen  mit 
artikel  ^"Nn  stets  nach  "Vd,  anf  welches  wir  später  zurückkommen; 
auazerdem  Ps.  18,  8;  24,  1;  88,  6.  14;  46,  10;  50,  4;  69,  14;  61,  8:  63,  10; 
66,  10?  68,  33  ;  71,  20;  72,  16;  74,  12;  77,  19;  82,  8;  94,  2;  96,  11.  13; 
97,  1.  4;  98,  9;  99,  1;  102,  16;  103,  11;  104,  9.  13;  105,  16;  106,  38; 
119,  64;  136,  7;  136,  6.  ferner:  Hiob  5,  21.  25;  12,  24;  15,  19;  22,  8; 
Äi  24;  87,  3;  38,  13;  ferner:  Genes.  49,  15;  Deutern.  32,  1;  II  Sam. 
22,  8;  I  Chron.  16,  31.  33.  auch  bei  diesem  worte,  trotz  dem  so  häu- 
figen gebrauch  desselben  in  der  prosa  mit  artikel,  ist  die  auslassung 
des  artikels  in  der  poesie  bei  weitem  häufiger,  in  ungefähr  100  stellen, 
als  die  Setzung  desselben,  in  ungefähr  45  stellen;  eine  Classification 
dieser  stellen  kann  erst  später  erfolgen. 


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346  Beitrage  zur  hebräischen  grammatik  und  metrik. 


dichtung  bald  mit  dem  artikel,  bald  ohne  artikel  gebraucht  wird, 
und  dasz  gewisse  ausdrücke  stets  mit  dem  artikel  und  andere  stets 
ohne  artikel  gebraucht  werden. 

Übrigens  kann  darüber  gar  kein  zweifei  sein,  dasz  in  vielen 
stellen  der  artikel  nicht  nur  grammatisch  erklärlich,  sondern  geradezu 
notwendig  ist.  dieses  ist  besonders  der  fall,  wenn  durch  voransetzung 
des  artikels  das  wort  erst  seine  bestimmte  bedeutung  erhält,  wie  in 
den  bereits  erwähnten  D"Pn  'heute',  BVirbD  'fortwährend',  fnKrrbD 
'allerwärts',  welche  zu  adverbiellen  ausdrücken  geworden  sind ;  ferner 
werden  wir  den  artikel  oft  zur  Unterscheidung  von  subject  und  prft- 
dicat  als  notwendig  kennen  lernen ;  auch  ist  bereits  in  der  grammatik 
erwähnt  und  von  Suckow  (s.  7 — 8)  weiter  ausgeführt,  dasz  oft  die 
participia  mit  artikel  die  stelle  eines  relativsatzes  vertreten,  alle 
diese  fälle  werden  wir  mit  den  statistischen  belegen  ausführen,  und 
dennoch  wird  sich  zeigen,  dasz  eine  weit  gröszere  zahl  von  fallen 
übrig  bleibt,  in  welchen  diese  erklärung  für  die  Setzung  des  artikels 
nicht  ausreicht. 

II. 

Viel  einfacher  lassen  sich  die  vielen  unregelmäszigkeiten  und 
Widersprüche  im  gebrauch  des  artikels  erklären,  wenn  in  den  be- 
treffenden stellen  das  bedürfnis  des  rbythmus  und  des  metrums  in 
betracht  gezogen  wird. 

a)  Wer  auch  nicht  meinem  Systeme  der  metrik  beistimmt,  wird 
doch  zugeben  müssen,  dasz  einen  gewissen  rbythmus  die  hebräischen 
verse  gehabt  haben  müssen,  weil  ohne  einen  gewissen  rbythmus  es 
keine  verse  gibt  und  solche  auch  gar  nicht  denkbar  sind,  wie  auch 
dieser  rhythmus  beschaffen  war,  so  musz  doch  jedenfalls  ein  heben 
und  senken  der  stimme  —  im  regelmäszigen  oder  unregelmäszigen 
Wechsel  —  vorausgesetzt  werden,  nun  tritt  fast  in  den  meisten 
stellen,  in  denen  gegen  den  poetischen  Sprachgebrauch  der  artikel 
gesetzt  ist,  der  fall  ein,  dasz  nach  massorethischer  lesart  zwei  ton- 
silben,  also  hebungen  unmittelbar  auf  einander  folgen  und  nur  durch 
die  silbe,  welche  der  artikel  selbst  bildet,  getrennt  werden,  es  liegt 
also  die  Vermutung  nahe ,  dasz,  um  die  aufeinanderfolge  zweier  ton- 
silben  oder  hebungen  zu  vermeiden,  der  artikel  als  tonlose  Senkung 
dazwischen  eingefügt  werden  muste.  diese  Vermutung  erhält  gerade 
ihre  volle  bestätigung  in  der  inconsequenz  im  setzen  des  artikels 
und  in  Vermeidung  desselben,  denn  im  allgemeinen  darf  es  nach 
obiger  auseinandersetzung  als  feststehend  angesehen  werden,  dasz 
die  Vermeidung  des  artikels  zum  poetischen  Sprachgebrauch  gehöre, 
und  dasz  derselbe  ohne  besondern  grund  nicht  gesetzt  werde,  es 
ist  also  ganz  natürlich,  dasz,  wenn  das  bedürfnis  des  metrums 
an  der  betreffenden  stelle  eine  unbetonte  silbe  als  thesis  erfordert, 
der  artikel  zu  diesem  zwecke  gesetzt  werde,  wo  aber  dieses  be- 
dürfnis fortfällt,  bleibt  auch  der  artikel  fort,  dieses  läszt  sich 
fast  mathematisch  an  den  beispielen  beweisen,  und  wir  können  zu 


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Beitrage  zur  hebräischen  gramraatik  und  metrik. 


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diesem  zwecke  gleich  mit  dem  ersten  verse  des  ersten  Psalms  be- 
ginnen. 

In  ttFNit  '»'TO«  kann  der  artikel  des  zweiten  Wortes  keinen  an- 
dern zweck  haben,  als  eine  thesis  zwischen  den  beiden  auf  einander 
folgenden  tonsilben  zu  bilden,  dieses  ersieht  man  daraus,  dasz  auf 
■*-rtDN  stets  der  artikel  folgt,  wenn  das  betreffende  nomen  auf  der 
ersten  silbe  den  ton  hat,  oder  überhaupt  einsilbig  ist,  als:  orrr  ^ttfit 
Ps.  89,  16;  144,  15.  ■»«pn  -"TO«  Ps.  33,  12.  13p  -»^D«  Ps.  34,  9; 
40,  5;  94,  12;  127,  8.  dagegen  unterbleibt  der  artikel,  wenn  das 
anf  "»TO«  folgende  wort  nicht  auf  der  ersten  silbe  betont  ist,  als 
DT«  -nWK  Ps.  32,  2;  84,  6;  Prov.  3,  13;  8,  34;  28,  14;  ebenso 
Ps.  41,  2;  84,  5;  106,  3;  119,  1.  2;  Job.  5,  17;  Prov.  29,  7;  Jes. 
56,  2.  vgl.  Ps.  65,  5;  137,  8.  9;  146,  5.  in  allen  diesen  stellen 
bleibt  **TO«  betont,  aber  es  folgt  auch  stets  eine  unbetonte  silbe 
alt  thesis. 

An  einer  stelle  folgt  auf  ^niDN  ein  einsilbiges  nomen  mit  ton- 
silbe  ohne  artikel  Ps.  112,  1: 

aber  gerade  durch  auslassung  des  artikels  können  die  beiden  ersten 
-worte  nur  mit  einer  tonsilbe  gelesen  werden  (vgl.  grundzüge  der 
metrik  s.  37 — 38.  leitfaden  der  metrik  s.  7.  9),  so  dasz  nicht  nur 
beide  halbverse  in  gleicher  weise  drei  tonsilben  zählen,  sondern  auch 
das  erste  metrum  des  ersten  halbverses  dem  ersten  des  zweiten  in 
der  silbenzahl  symmetrisch  entspricht,  worauf  ein  besonderes  ge- 
wicht gelegt  wird  (vgl.  leitfaden  s.  10  anm.).  umgekehrt  behält 
i*fl9H  den  ton  Ps.  32,  1 : 

t-wan  «JOD       3TOEpTO3  ^lö« 
weil  das  nachfolgende  wort  nicht  betont  werden  konnte,  weil  auf 
dieses  wieder  eine  tonsilbe  folgte,  wodurch  die  beiden  abschnitte  des 
verses  wiederum  symmetrisch  sich  gestalten. 

Dasz  der  artikel  in  den  oben  genannten  beispielen  weder  durch 
das  pronomen  relativum,  wie  in  Ps.  1,  1;  33,  12;  40,  5;  94,  12, 
oder  durch  den  relativen  satz,  wie  in  Ps.  34,  9,  bedingt  wird,  er- 
sieht man  an  stellen  wie  Ps.  89,  16;  84,  (5).  6  und  in  der  verglei- 
chung  von  Ps.  32,  2  (leitfaden  s.  21): 

TP  ib-rnrr  n«jrr-wb  d-j« 

undPs.  34,  9: 

13  norr  hsti  •'To« 

(hiernach  leitfaden  s.  23  zu  verbessern) ;  in  beiden  sätzen  folgt  auf 
**HDN  ein  relativsatz,  aber  in  beziehung  auf  den  artikel  sind  sie  ver- 
schieden, weil  den  ton  auf  der  ersten  silbe  hat,  dagegen  DI« 
auf  der  zweiten. 

Mit  der  annähme,  dasz  der  artikel  als  thesis  zwischen  zwei  auf 
einander  folgenden  tonsilben  gesetzt  wird ,  erhalten  sehr  zahlreiche 
stellen  die  erklärung  für  die  Setzung  des  artikels,  als:  Ps.  1, 1 ;  13,4 
18,  8;  24,  1;  33,  5.  7.  12.  14.  17;  34,  9.  13;  40,  5;  45,  6.  12 
49,10. 18;  54,7;  57,9;  59,14;  61,3;  63, 10;  65, 14;  68,33;  71,20 


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348  Beiträge  zur  hebräischen  grammatik  und  metrik. 

72,  16;  77,  15.  19;  78,  53;  82,  8;  85,  9.  13;  89,  10;  94,  2.  12; 
95,  5;  96,  11.  13;  98,  7.  9;  102,  16.  26;  104,  9.  13.  22.  25; 
107,  23;  108,  3;  114,  5.  8;  118,  26;  119,  64;  121,  6  a  (vgl.  ß); 
125,  3  a.  5;  126,6;  127,5;  130,7;  135,7;  136,6;  144,15; 
145,  1;  146,  4;  147,10.  Job  5,22;  15, 19;  22,8;  26,12;  28,24a; 
36,  20.  30;  38,  13.  Pro?.  1,  17;  7,  20;  17,  8.  14;  20,  1;  29,  2  a 
(vgl.  ß);  30,  19;  31,  13.  Thren.  1,  1  (vgl.  2,  12);  3,  38;  4,  1  ß 
(vgl.  a).  Deutern.  32,  1  ß.  Judic.  5,  31.  hiermit  ist  nicht  blosz  der 
grund  für  das  setzen  des  artikels  in  den  genannten  stellen  gegeben, 
sondern  die  inconsequenz  im  gebrauch  des  artikels  in  den  betreffen* 
den  dichtungen  ist,  wie  schon  oben  bemerkt,  zugleich  erklärt. 

Hiermit  soll  jedoch  keineswegs  gesagt  sein,  dasz  in  allen  ge- 
nannten stellen  der  artikel  des  rhythmus  wegen  stehen  muste. 
denn  wenn  von  den  beiden  zusammentreffenden  tonsilben  die  erstere 
durch  vocal  gedehnt  und  zugleich  durch  einen  consonanten  ge- 
schlossen ist,  so  bedurfte  es  gerade  nicht,  wenigstens  nach  dem  bei- 
spiele  vieler  dichter,  einer  thesis  zwischen  denselben  (vgl.  grundzüge 
s.  33  anm.  2.  leitfaden  s.  6),  und  manche  dichter  haben  consequenter- 
weise  in  diesem  falle  den  artikel  vermieden,  wie  in  Ps.  19,  2.  6; 
46,  3.  6  u.  a.,  allein  da  unzweifelhaft  durch  einfügung  des  artikels 
der  rhythmus  und  wohllaut  nur  gewinnt,  so  erscheint  es  natürlich, 
dasz  viele  dichter  von  diesem  hilfsmittel  des  rhythmus  gebrauch  ge- 
macht haben. 

Anderseits  wird  in  zahlreichen  stellen  die  auslassung  des  artikels 
ebenfalls  wegen  des  metrums  geradezu  notwendig,  um  das  auf  einen 
vocal  ausgehende  wort  tonlos  zu  machen ,  so  dasz  es  mit  dem  nach- 
folgenden worte  nur  mit  einer  tonsilbe  gelesen  wird,  wie  in  Ps.  2, 
2.  8.  10,  wo  vor  fix  stets  der  artikel  fehlt,  so  dasz  dieses  mit  dem 
vorangehenden  worte  nur  ein  metrum  bilden  kann,  weil  eine  Zurück- 
ziehung des  accents  in  dem  vorangehenden  worte  nicht  möglich  ist 
(vgl.  leitfaden  s.  6  b.  grundzüge  s.  32  f);  dagegen  Ps.  59,  74  btp 
Y"i«n  •»ODKb  ^pam  und  Ps.  102,  16  bin  rTpT  Dtpn«  Dyn  iep^i 
^■nDDTN  y^«!l  "Ob»  bat  den  artikel,  weil  das  metrum  die 
betonung  des  vorangehenden  Wortes  verlangt  und  eine  Zurück- 
ziehung des  tones  bei  demselben  nicht  statthaft  wäre,  diese  beiden 
stellen  sind  schon  aus  dem  gründe  beachtenswert,  weil  sonst  **OcN 
y-W  stets  ohne  artikel  vorkommt,  als  Ps.  2,  8;  22,  28;  67,  8;  72,  8; 
98,  3;  Prov.  30,  4;  Deutern.  33,  17;  I  Sam.  2,  10;  ebenso  stets 
y^N  -Obn,  als  Ps.  2,  2;  76,  13;  89,  28;  138,  4;  147,  15.  vgl. 
Ps.  48,  11;  65,  6;  Deutern.  32,  13.  ferner  Ps.  22,  30;  ebenso 
■pK-W»  Ps.  28,  13;  37,  9.  11.  22.  29.  34;  44,  4.  ebenso  erklärt 
sich  Ps.  106,  17: 

und  in  demselben  Psalm  v.  39:  D^nnn  pNri  t]3nm,  weil  in  v.  17 
ein  metrum,  dagegen  in  v.  39  zwei  metra  erforderlich  waren,  in 
gleicher  weise  muste  in  Habaq.  3, 4  p«r?  tnbnm  der  artikel 

vor  yn«  eintreten,  weil  eine  Zurückziehung' des  accents  im  voran- 


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Beiträge  zur  hebräischen  grammatik  und  metrik.  349 

gehenden  worte  nicht  möglich  war,  indem  dann  wieder  zwei  ton- 
silben  zusammentreffen  würden ,  wgbrend  in  v.  6.  7.  12  der  artikel 
fortbleiben  konnte,  weil  keine  solche  nötigung  vorlag,  hiermit  sind 
schon  viele  der  oben  erwähnten  inconsequenzen  erklärt,  wie  Ps.  95,  5 
norn  a?i-r  ib;  121,  6;  130,  7  und  selbst  69,  9  -n»  irn*, 
da  der  imperativ  nach  analogie  von  nzpp  (Ps.  74,  22)  und  nyi 
(Ps.  43,  1)  auch  auf  der  letzten  silbe  betont  sein  konnte1,  so  dasz 
der  artikel  eben  nur  vor  dem  ersten  nomen  notwendig  war.  freilich 
sind  hiermit  noch  nicht  alle  stellen  und  inconsequenzen  erklärt,  da 
die  rücksicht  auf  den  rhythmus  und  das  metrum  noch  einen  weitern 
umfang  hat. 

b)  Noch  in  einer  andern  beziehung  erscheint  der  artikel  als 
hilfsmittel  des  metrums,  nemlich  in  beziehung  auf  die  partikeln. 
dasz  diese  überhaupt  nur  betont  werden  können ,  wenn  eine  oder 
mehrere  unbetonte  silben  nachfolgen,  ist  in  den  'grundztigen  der 
metrik'  s.  23.  5  und  Leitfaden'  s.  5.  7  auseinandergesetzt  worden, 
wenn  daher  das  metrum  die  betonung  der  partikeln  erfordert  und 
das  unmittelbar  nachfolgende  nomen  auf  der  ersten  silbe  betont  ist, 
so  muste  zur  betonung  der  partikel  das  nomen  den  artikel  als  tbesis 
zwischen  den  tonsilben  erhalten,  in  dieser  beziehung  wiederholt  sich 
hier  derselbe  unter  a  bezeichnete  fall,  nur  mit  dem  unterschiede, 
dasz  zur  betonung  der  partikeln  in  allen  teilen  des  verses  der  artikel 
nachfolgen  musz,  während  bei  begriffswörtern  mit  geschlossener  silbe 
nur  am  Schlüsse  des  verses  der  artikel  notwendig  ist. 

Aber  der  gebrauch  des  artikels  nach  partikeln  reicht  noch  weiter, 
denn  nicht  blosz  vor  betonten  silben  tritt  zur  betonung  der  voran- 
gehenden partikeln  der  artikel  ein,  sondern  oft  auch  vor  nicht  be- 
tonten silben.  denn  da  die  betonung  der  partikeln  an  sich  sehr 
schwankend  ist,  und  diese  oft  auch  vor  unbetonten  silben  tonlos 
bleiben,  so  glaubte  der  dichter  durch  dazwischenfügen  des  artikels 
jedes  schwanken  zu  beseitigen  und  die  partikel  damit  als  betont  zu 
bezeichnen,  und  in  der  that  werden  mit  dieser  regel  nicht  nur  viele 
inconsequenzen  im  gebrauche  des  artikels  erklärt,  sondern  auch  das 
schwankende  in  der  betonung  der  partikeln  und  die  Unsicherheit  im 
lesen  der  verse  vielfach  beseitigt,  so  wird  z.  b.  gleich  Ps.  1,  4 
tPJiö^n  durch  den  artikel  die  betonung  der  vorangehenden 

Partikel  unzweifelhaft,  ebenso  Ps.  8,  2  D'qflttl  b*,  v.  10  yiNn  bbn, 
11,  2  D^iD^rr  v.  3  mnian     und  Ps.'29,  3  musz'gelesen 

werden  (anders  als  im  leitfaden  s.  19): 

D^a-V*  rYjrr      D^3pn  nrpn  ba      ö^rt  b*  rnm  brp 

so  dasz  dieser  vers  als  dekameter  gelesen  werden  musz,  und  dem- 
gemäsz  auch  der  ihm  symmetrische  v.  9  (vgl.  analyse.  leitfaden 
s.  50)  ebenfalls  (lies  rnb^N)  als  dekameter;  demnach  auch  Ps.  57, 12; 
108,  6 : 

Tpaa  -pari  b:rb*      Wp*  wnv-by  rtnjn 


vgl.  Gesenius-Kautzsch  gramm.  (26e  aufl.)  §  72  anm.  3. 


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350  Beitrage  zur  hebrüinchen  grammatik  und  metrik. 

wonach  Ps.  56,  6  zu  emendieren  wäre,  es  sind  nicht  wenige  stellen, 
welche  in  bezieh ung  auf  den  gebrauch  des  artikels  mit  dieser  regel 
ihre  erklärung  finden:  Ps.  1,  4;  8,  2.  10;  11,  2.  3;  18,  31;  21,  8; 
25,  12;  28,  9;  29,  3;  31,  25;  33,  8;  34,  23;  45,  17;  48,  5;  52,  9; 
57,  6.  12;  59,  6;  63,  12;  74,  13;  78,  14;  83,  19;  103,  11;  108,6; 
113,  4  ß  (vgl.  a);  115,  17;  116,11;  117,  1  ß  (vgl.  a);  118,20.  24; 
119,  91;  124,  4;  130,  4;  137,  7;  145,  14.  20;  148,4;  150,6.  Job 
3,  7;  28,  24  ß;  31,  7;  37,  3;  38,  19.  24.  Prov.  6,  29;  10,  26. 
Thren.  1,  3.  18  (qeri);  2,  16;  4,  19.  Genes.  49,  14.  Judic.  5,  16. 

c)  In  ganz  ähnlicher  weise  dient  der  artikel  zur  betonung  der 
vorangehenden  nomina  im  stat.  constructus,  vorzüglich  wenn  diese 
einsilbig  sind  (zu  denen  auch  die  segolata  gehören)  oder  mit  offener 
silbe  schlieszen.  nach  der  massorethischen  accentuation  werden  solche 
nomina  meistenteils  durch  maqqeph  mit  dem  nachfolgenden  worte 
verbunden,  so  dasz  erstere  ihren  ton  verlieren;  vgl.  grundzüge  der 
metrik  s.  25 — 30.  —  Dasz  auch  metrisch  in  vielen  füllen  diese  enge 
Verbindung  zweier  nomina  mit  einer  tonsilbe  notwendig  wird,  ist 
in  den  grundzügen  a.  o.  und  im  leitfaden  s.  7,  9  — 10  bemerkt  wor- 
den, will  daher  der  dichter  ein  solches  nomen  im  stat.  constr.  be- 
tont haben,  weil  das  metrum  es  so  verlangt,  so  läszt  er  auf  dasselbe 
den  artikel  folgen,  daher  Ps.  29,  5  T]3nbn  Vitt  mit  dem  artikel, 
während  im  nachfolgenden  v.  6  "|133b,  weil  hier  dieses  Verhältnis 
nicht  vorliegt,  demnach  musz  Ps.  33,  7: 

m?ri:-tn  nrianita  "jns  a-;n  ^  i3D  op 
gelesen  werden  (anders  als  im  leitfaden  8.  22),  dagegen  wie  im  leit- 
faden v.  13  D"]«n  "p  und  in  v.  14  y-ifcp  ■q»'» ;  dasz  Ps.  34,  9 
inati  gelesen  werden  musz,  ist  bereits  oben  bemerkt  worden, 
abgesehen  von  den  bereits  genannten  stellen  wird  der  stat.  constr. 
als  betont  durch  den  nachfolgenden  artikel  bezeichnet  in  Ps.  24,  7. 
8.  9.  10;  29,  3.  5;  33,  13.  14.  17;  40,  3;  56,  14;  58,  11;  82,  7 
(wahrscheinlich  fälscnlich  als  segolatum  gelesen);  87,3;  98,6; 
103,15;  127,2.4;  135,20;  136,26;  142,6;  145,12;  148,4; 
Job  5,  23;  28,  13;  33,  50;  über  D^ttn  tp*,  niemals  ohne  artikel, 
vgl.  unten. 

d)  Mit  dem  rhythmus  hängt  es  ebenfalls  zusammen ,  wenn  der 
artikel  zu  anfang  des  verses  oder  des  versabschnittes  vor  die  ton- 
silbe zum  auftact  gesetzt  wird,  da,  wie  anderwärts  ausführlich  aus- 
einandergesetzt worden  ist  (grundzüge  §  4  s.  16—20),  die  neigung 
zur  aufsteigenden  betonung  in  verschiedenster  weise  zu  erkennen  ist, 
und  der  sogenannte  vorton vocal  in  den  präpositionen  ("Tb,  rfT^, 
Ü^NtS  U8w),  in  nominibus  (*lSrt,  TpB,  "J|5T  usw.),  in  verbalformen 
(Dip^ ,  zb*  usw.),  welcher  beim  fortrücken  des  tones  wieder  schwindet, 
auf  diese  neigung  zur  ascendenz  zurückzuführen  ist. 5  da  es  meist 
einsilbige  nomina  oder  segolata  sind,  so  erhält  deren  ausspräche  und 


5  hiermit  soll  jedoch  nicht  ein  ursprünglich  kurzer  a-vocal  in  den 
betreffenden  silben  in  abrede  gestellt  werden. 


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Beiträge  zur  hebräischen  grammatik  und  metrik.  351 

betonung  durch  voransetzung  des  artikels  naturgemäsz  mehr  gehalt; 
ja  oft  wird  die  Substantivierung  des  Wortes  hierdurch  erst  erkenn- 
bar, so  z.  b.  Ps.  14,  3:  *iO  bbn  'alles  (d.  h.  alle  menschen)  ist  ab- 
gefallen'; dahin  gehören  Ps.  18,  31.  33.  48;  20,  10;  51,  6;  63,  12; 
66,  9;  68,  17;  113,  6  (grundztige  s.  154);  114,  3;  116,  15;  123,4; 
124,  5.  7;  148,  4;  Deutern.  32,  4;  Judic.  5,  20;  Job  3,  3  ß.  4.  6; 
Prov.  26,  14. 

e)  Der  artikel  dient  auch  zuweilen  zur  symmetrischen  ausglei- 
chung  der  entsprechenden  glieder  in  den  parallelen  versabschnitten, 
so  wird  z.  b.  Ps.  3,  9  durch  den  artikel  in  rWTD^in  dieses  wort  dem 
parallelen  worte  *jn5*i3  logisch  durch  determination  und  phonetisch 
durch  die  silbenzahl  mehr  symmetrisch,  in  Ps.  96, 11  musten  "flNtt 
und  O^Ji  wegen  der  vorangehenden  tonsilben  den  artikel  haben  (a), 
und  so  erhielt  auch  der  logischen  Symmetrie  wegen  D^tt'sn  denselben, 
obwohl  hier  keine  nOtigung  dazu  vorlag;  ebenso  wie  in  3,  9  ist 
auch  in  Ps.  102  öribon  —  zu  erklären,  vielleicht  auch  Deutern. 

32,  1  Oy  WO  übrigens  der  artikel  durch  den  vocativ  erklärt  werden 
könnte,  ein  entgegengesetztes  Verhältnis,  aber  mit  dem  metrum  zu- 
sammenhängend, läszt  sich  in  Ps.  114,  3 — 6  erkennen,  dieser  Psalm 
besteht,  wie  selbst  nach  massorethischer  accentuation  ersieht  lieb  ist 
(nur  müste  v.  1  ajjarTna  und  in  v.  7  "piK^bin  gelesen  werden), 
aus  vier  distichen  von  je  einem  hexameter  und  pentameter;  es  ist 
daher  wahrscheinlich, -das/  der  dichter  im  pentameter,  v.  4  und  6, 
damit  die  erste  hälfte  voller  als  die  zweite  auch  in  der  silbenzahl  er- 
scheine, in  der  ersten  den  artikel  hinzugefügt,  dagegen  in  der  zweiten 
denselben  weggelassen  —  rnyaTÖ^rlrl  —  während  in  v.  3  und  5, 
welche  hexameter  sind ,  und  deren  beide  vershälften  sich  einander 
entsprechen  müssen,  dem  ü^H,  dessen  artikel  (nach  d)  wegen  des 
auftactes  nötig  war,  auch  JTY»?1  mit  artikel  entspricht;  vgl.  Ps. 
145,  20  ß;  147,  11;  148,  9,  in  denen  ebenfalls  der  artikel  durch 
die  symmetrische  gliederung  sich  erklären  läszt. 

(schlusz  folgt.) 

Marburg  an  der  Lahn.  Julius  Ley. 


32. 

WIE  KANN  MAN  DEM  ANFÄNGER  DEN  BEGRIFF  DER 
HAÜPTCÄSÜREN  EINES  HEXAMETERS  KLAR  MACHEN? 


Auf  s.  121  ff.  (1890)  dieser  jahrbücher  war  eine  kurze  abhand- 
lung  'über  die  definition  der  cäsur'  zu  lesen,  der  inhalt  derselben 
liesze  sich  kurz  etwa  so  zusammenfassen :  die  schüler  (zunächst  der 
tertia)  können  sich  keinen  rechten  begriff  von  dem  worte  'cäsur' 
machen ,  weil  ihnen  in  den  allermeisten  fällen  von  lehrern  sowohl 
wie  grammatiken  eine  unklare  definition  derselben  ('einschnitt')  ge- 
boten wird;  die  richtige  definition  ist:  cäsur  =  pause. 


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352        Zur  verauschau  Hebung  der  hauptcäeur  im  hexameter. 


Die  richtigkeit  dieser  ansieht  wird  wohl  niemand  bezweifeln, 
damit  nun  der  schüler  um  so  klarer  das  wesen  der  cäsur  begreife, 
damit  er  recht  naturgemäsz  zum  Verständnis  derselben  gelange, 
durfte  sich  vielleicht  folgende  art  der  belehrung  empfehlen. 

Die  hexameter  darf  man  nicht  hastig,  ohne  Unterbrechungen 
oder  kleine  pausen  (caesura  —  TOurj)  lesen,  erstens  weil  ein  solches 
einförmiges  lesen  auf  den  zuhörer  einen  schlechten  eindruck  macht, 
zweitens  weil  es  den  lesenden  selbst  ermüdet. 

Wo  soll  man  denn  die  kleinen  pausen  machen?  so  lange  man 
im  lesen  der  hexameter  wenig  Übung  besitzt,  thut  man  wohl  am 
bebten,  wenn  man  hinter  jedem  versfusze  eine  pause  macht;  ein  sol- 
ches lesen  nennt  man  scandieren.  aber  mit  der  zeit,  und  zwar 
möglichst  bald,  musz  man  von  dieser  gewohnheit  sich  frei  zu  machen 
suchen ,  und  zwar  deswegen,  weil  es  bei  dieser  art  des  lesens  nicht 
ausbleiben  kann,  dasz  man  hier  und  da  mitten  in  einem  worte 
eine  pause  macht,  was  doch  sehr  unnatürlich  ist.  z.  b. 

conscia  |  mens  recjti  fajmae  men|dacia  |  ridet. 
ganz  natürlich  erscheint  dagegen  eine  pause  am  ende  eines  wortes. 
soll  man  aber  etwa  hinter  jedem  worte  eines  hexameters  eine  pause 
machen?  nein,  das  wäre  zu  viel;  das  lesen  eines  hexameters  ist  nicht 
in  dem  masze  anstrengend ,  dasz  man  dabei  so  viel  ausruhen  müste. 
wo  soll  man  denn  also  eine  pause  machen? 

Wenn  man  von  einem  orte  zum  anderen  geht,  der  etwa  eine 
stunde  vom  ersteren  entfernt  ist,  so  pflegt  man  nicht  etwa  gleich 
nach  beginn  des  gehens,  auch  nicht  erst  gegen  das  ende,  sondern 
ungefähr  in  der  mitte  auszuruhen,  ähnlich  musz  man  es  beim  lesen 
eines  hexameters  machen,  d.  b.  man  macht  in  den  beiden  mittleren 
versfüszen ,  in  dem  dritten  oder  vierten ,  am  ende  des  wortes  eine 
pause,  und  zwar: 

1)  hinter  der  ersten  länge  des  dritten  versfuszes, 

2)  hinter  der  ersten  kürze  des  dritten  versfuszes, 

3)  hinter  der  ersten  länge  des  vierten  versfuszes. 

die  erste  pause  nannten  die  früheren  grammatiker:  TO^f)  Trev9r|Ui- 
H€prjc  (Tr^VT€-f||ii-u£poc) ,  die  zweite :  Touf)  jucTd  Tpixov  Tpoxaiov, 
die  dntte:  TOüf|  £<p9r)ut^€pr|C. 

Jeder  hexameter  ist  so  eingerichtet,  dasz  an  einer  der  drei 
stellen  ein  wort  zu  ende  ist,  so  dasz  man  eine  kleine  pause  eintreten 
lassen  kann,  meistens  sind  die  hexameter  so  gebaut,  dasz  pause  1 
oder  3  oder  beide  zugleich  gemacht  werden  können,  seltener  pause  2. 
man  nennt  wohl  auch  die  pausen  1  und  3,  weil  sie  nach  langen, 
also  gleichsam  kräftigen  endsilben  erfolgen,  männliche,  pause  2 
dagegen,  weil  sie  nach  kurzer,  also  gleichsam  schwacher  endsilbe 
eintritt,  eine  weibliche  pause. 

Heiligenstadt.  K.  Stawioki. 


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A.  Weidner:  Cornelii  Nepotis  vitae. 


353 


33. 

Cornelii  Nepotis  vitae.  für  den  schulgebrauch  bearbeitet 
von  Andreas  Weidner.  dritte  aufläge,  mit  Einlei- 
tung, NAMENVERZEICHNIS  UND  ANHANG  VERSEHEN  VON  JOHANN 

Schmidt.  Leipzig,  G.  Frey  tag.  1890.  XIX  u.  167  s.  8. 

Weidners  textausgabe  des  Cornelius  Nepos  liegt  in  dritter  auf- 
läge vor.  während  der  text  (bis  auf  einige  änderungen  von  prof. 
Schmidt)  eine  Umarbeitung  nicht  erfahren  hat,  ist  'auf  wünsch  des 
Verlegers  die  vorliegende  ausgäbe  mit  einleitung,  namensverzeicbnis 
und  anhang  von  brn.  prof.  Schmidt  in  Wien,  sowie  auch  mit  ab- 
bildungen  und  karten  ausgestattet',  mit  diesen  neuerungen,  die 
man  wohl  unbedenklich  als  besserungen  bezeichnen  kann,  hat  es 
also  die  besprechung  zu  thun. 

Zunächst  findet  der  schüler  auf  16  Seiten  vor  dem  texte  das 
wichtigste  über  leben  und  Schriften  des  Cornelius  Nepos  sowie  Vor- 
bemerkungen zu  den  einzelnen  lebensbeschreibungen,  welche  'der 
lectüre  nicht  vorgreifen,  sondern,  an  den  geschichtsunterricht  in  der 
vorhergehenden  classe  der  gymnasien  sich  anlehnend ,  das  interesse 
an  der  lectüre  erregen  sollen',  das  scheint  angemessen  und  geeignet, 
die  für  jeden  Unterricht  wünschenswerte  anknüpfung  an  früher  ge- 
lerntes zu  fördern:  auch  sind  die  einzelnen  abschnitte  ziemlich  knapp 
gehalten,  so  dasz  es  dem  schüler  nicht  eben  schwer  fallen  dürfte, 
sich  den  iubalt  derselben  einzuprägen,  letzteres  würde  freilich  noch 
besser  gelingen ,  wenn  der  Verfasser  das  charakteristische  und  be- 
sondere der  persönlichkeiten  schärfer  hervorgehoben  hätte,  aber 
vielleicht  lag  es  in  seiner  absieht,  die  gewinnung  eines  mit  deut- 
licheren zügen  ausgestatteten  bildes  der  lectüre  selbst  und  dem 
unterrichte  vorzubehalten. 

Eine  zweite  beigäbe  bildet  das  'namensverzeichnis'  auf  s.  113 
— 145,  das  gewis  nicht  weniger  dazu  beiträgt,  die  brauebbarkeit 
des  buches  zu  erhöhen,  die  namen  sind  mit  quantitätszeichen, 
genetivendung  und  geschlechtsangabe  versehen ;  in  letzterem  punkte 
wäre  vielleicht  etwas  weniger  philologische  genauigkeit  am  platze 
gewesen :  wenigstens  sollte  ich  meinen,  dasz  sich  ein  rechtschaffener 
quartaner  durch  angaben  wie  Antigonus,  T,  m.,  Apollo,  inis,  m., 
Diana,  ae,  f.  verletzt  fühlen  könnte,  anderseits  wäre  es  erfreulich, 
wenn  in  büchern,  die  dem  schüler  die  arbeit  erleichtern,  d.  h.  doch 
wohl  vermindern  sollen,  Verweisungen  wie  Tullius  s.  Cicero,  Valerius 
8.  Flaccus  ganz  wegfielen,  oder  warum  scheut  man  sich,  dasselbe, 
was  unter  Cicero  und  Flaccus  steht,  bei  Tullius  und  Valerius  noch 
einmal  abzudrucken?  einen  gewinn  hat  der  schüler  von  der  Ver- 
weisung gewis  nicht,  während  ihm  das  doppelte  aufschlagen  immer- 
hin einige  secunden  zeit  kostet. 

Drittens  bringt  ein  anhang  auf  s.  146  — 155  drei  abschnitte 
über  die  Staatsverfassung  der  römischen  republik ,  über  die  Staats- 
verfassung in  Sparta  und  über  wohnung,  kleidung,  bewaflfnung  und 

N  jthib  f.  phil.  o.  pftd.  II.  »bt.  1891  hft.  7.  23 


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354  J. Schmidt:  cominentar  z.  d.  lebenBbeschreibungen  des  Coro.  Nepos. 

geldwesen  der  Griechen  und  Römer  in  einfacher  und  dem  verstand- 
nis  des  quartaners  entsprechender  darstellung.  unklar  bleibt  nur 
die  beschreibung  des  griechischen  Wohnhauses  aufs.  150;  auch  die 
des  tropaeum  (s.  154)  dürfte  leicht  zu  einer  nicht  ganz  zutreffenden 
Vorstellung  verleiten,  ebenso  möchte  man  Wendungen  wie  'mit  oder 
ohne  ärmeln'  (s.  150)  und  'im  werte  von  etwa  4  —  5  pfennige' 
(s.  155)  in  einem  schulbuche  vermieden  sehen,  erwähnt  sei  noch, 
dasz  das  namenverzeichnis  und  der  anhang  mit  21  abbildungen  nach 
bekannten  mustern  ausgestattet  sind,  die,  zumal  soweit  sie  realien 
darstellen,  gewis  dazu  beitragen  werden ,  das  Verständnis  der  dinge 
zu  fördern,  drei  vorn  angebundene,  leider  nicht  buntfarbige  karten 
von  den  lftndern  am  mittelländischen  und  am  ägäischen  meere  ver- 
vollständigen das  erklärende  beiwerk  des  büchleins,  dem  es  in  seiner 
neuen  gestalt  gewis  auch  an  neuen  freunden  nicht  fehlen  wird. 
Dresden.  0.  Stange. 


34. 

J.  Schmidt,  oommentar  zu  den  Lebensbeschreibungen  des 
Cornelius  Nepos.  Wien,  Tempskv.  1890.  VI  u.  110  s.  8. 

• 

Der  Verfasser  des  vorliegenden  heftes  hat  sich  die  aufgäbe  ge- 
stellt, ein  hilfsmittel  zu  schaffen,  das  'jene  Schwierigkeiten  beseitigen 
soll,  welche  sich  der  erstlingslectüre  in  den  weg  stellen',  um  diesen 
zweck  zu  erreichen  und  dem  schüler  die  häusliche  Vorbereitung  zu 
erleichtern,  enthält  der  commentar  'die  phrasen,  die  die  lexica  nicht 
so  leicht  zu  bieten  pflegen,  Verweisungen  auf  die  grammatik,  die  zum 
Verständnis  der  stelle  nötig  sind,  und  erklärungen,  die  ein  rascheres 
vorwärtsschreiten  bei  der  lectüre  ermöglichen'  (vorrede  8.  IV).  für 
die  grammatischen  Verweisungen  ist  dr.  Scheindlers  lat.  schulgram- 
matik  zu  gründe  gelegt. 

Aus  dem  angeführten  erhellt,  dasz  es  dem  Verfasser  ebenso 
ferne  gelegen  hat,  dem  schüler  die  häusliche  Vorbereitung,  insbeson- 
dere das  aufschlagen  unbekannter  Wörter,  abzunehmen,  wie  er  sich 
anderseits  ausdrücklich  dagegen  verwahrt,  etwa  die  arbeit  des  lehrers 
überflüssig  machen  zu  wollen,  beide  grundsätze  stimmen  mit  dem 
überein ,  was  ich  mir  bei  abfassung  meiner  'anleitung  zur  Vorberei- 
tung auf  Cornelius  Nepos'  (Leipzig,  Teubner,  1889)  vorgesetzt  hatte, 
und  schon  deshalb  muste  es  für  mich  anziehend  sein,  die  arbeit 
Schmidts  genauer  kennen  zu  lernen,  um  so  mehr  freue  ich  mich 
sagen  zu  können ,  dasz  dieselbe  mit  ebenso  viel  geschick  wie  sorg* 
falt  und  Verständnis  ausgeführt  ist,  und  wenn  ich  im  folgenden 
gleichwohl  auf  einige  punkte  hinweise,  in  denen  ich  von  des  Ver- 
fassers ansieht  abweiche,  so  geschieht  das  mit  dem  herzlichen  wünsche, 
der  sache  selbst  nach  kräften  einen  dienst  zu  erweisen. 

Wer  die  bemerkungen  zu  der  mehrzahl  der  vitae  —  nur  in  den 


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J.Schmidt:  commentar  z. d.  lebensbeschreibungen  des  Coro.  Nepos.  355 

letzten  tritt  dieser  zug  mehr  in  den  Hintergrund  —  durchliest,  der 
wird  sich  des  eindrucks  nicht  erwehren  können,  dasz  es  dem  Verfasser 
bei  seinem  commentar  in  erster  linie  darum  zu  thun  gewesen  ist, 
dem  schüler  erleichtern  ng  oder  belehrung  auf  gram mati  sehe m 
gebiete  zu  verschaffen,  'damit  die  leetüre  nicht  etwa  zur  grammatik- 
stunde herabsinke,  musz  die  häusliche  präparation  des  schulers  wesent- 
lich erleichtert  werden'  (vorrede  s.  III),  so  finden  sich  denn  für  jedes 
capitel  durchschnittlich  8 — 10  Verweisungen  auf  die  grammatik,  oft 
mit  gleichzeitiger  Übersetzung  ins  deutsche ,  nicht  selten  auch  blosz 
in  einer  form  wie  diese  (Themist.  cap.  1) :  ex  qua.  vgl.  §  132, 1  anm. ; 
miior,  8.  §  37  anm.  2;  in  rebus  gerendis,  gerundivum  (§  212,  4). 
nun  ist  es  ja  gewis  unerläszlich ,  dasz  der  schüler  das ,  was  er  liest, 
sich  grammatisch  zurechtlegen  kann;  es  mag  auch  wünschenswert 
sein,  dasz  er  in  der  Neposstunde  und  bei  der  Vorbereitung  dazu 
sein  grammatisches  wissen  bereichere  oder  doch  befestige,  aber 
musz  ihm  nicht,  falls  er  wirklich  gewissenhaft  genug  ist  alle  Para- 
graphen aufzuschlagen ,  durchzulesen  und  sich  ihres  inhalts  zu  ver- 
sichern, die  Vorbereitung  selbst  statt  erleichtert  vielmehr  auszer- 
ordentlich  schwer,  zeitraubend  und  —  sagen  wirs  offen  —  recht 
unerquicklich  vorkommen?  und  wie  steht  es  mit  der  Schulstunde? 
wird  sich  nicht  auch  der  lehrer  durch  entsprechende  fragen  verge- 
wissern müssen ,  ob  der  schüler  wirklich  die  angezogenen  Paragra- 
phen mit  erfolg* benutzt  hat? 

Aber  neben  diese  mehr  äuszerlichen  bedenken  tritt  für  mich 
noch  ein  zweites ,  das  mit  rticksicht  auf  die  immer  stärker  hervor- 
tretende forderung  einer  mehr  sachlichen  und  weniger  formalen 
behandlung  der  Schriftsteller  gewis  nicht  leicht  zu  nehmen  ist, 
ich  meine  die  frage,  ob  der  rein  grammatischen  belehrung  bei 
der  beschäftigung  mit  dem  schriftsteiler  überhaupt  ein  so  weites 
gebiet  eingeräumt  werden  darf,  wie  es  hier  der  fall  ist.  ich  wieder- 
hole, dasz  auch  ich  es  für  durchaus  notwendig  halte,  von  dem 
sehüler  nicht  nur  sachliches,  sondern  auch  grammatisches  Verständ- 
nis des  gelesenen,  besonders  hinsichtlich  der  satzconstruetion ,  zu 
verlangen,  aber  darüber  wird  meines  eraebtens  in  dem  vorliegen- 
den werkchen  weit  hinausgegangen,  ein  paar  beispiele  dürften  zur 
bestätigung  des  gesagten  genügen,  zu  Milt.  3,  4  beiszt  es:  (quäs 
seeum  tränsportärat.  der  relativsatz  enthält  einen  bloszen  zusatz 
des  Nepos;  daher  steht  der  indicativ,  während  der  paragraph  sonst 
eine  indirecte  darstellung ,  abhängig  von  einem  aus  hortatus  est  zu 
ergänzenden  verbum  dicendf,  gibt.'  ist  eine  solche  grammatische  be- 
lehrung wirklich  notwendig  und  geeignet,  dem  quartaner  das  Ver- 
ständnis der  stelle  beizubringen?  sollte  es  nicht  genügen,  ihn  dazu 
anzuhalten,  dasz  er  den  lateinischen  indicativ  wortgetreu  durch  einen 
indicativ  im  deutschen  wiedergibt?  so  sehr  derartige  klarlegungen 
die  entwicklung  einer  grammatisch  geschulten  denkfähigkeit  beför- 
dern mögen  und  so  viel  man  deshalb  in  der  grammatikstunde  auf 
dergleichen  gewicht  legen  wird,  so  wenig  haben  sie  mit  der  leetüre 

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356  J.Schmidt:  commentar  z.  d.  lebensbeechreibungen  des  Corn.Nepos. 

an  sich ,  ja  selbst  mit  der  Vorbereitung  auf  die  lectüre  gemein.  — 
Zu  Themist.  6, 1  findet  sich  die  angäbe:  'in  päce  im  frieden  (§  144, 1 
zus.)*,  ebenso  zu  Iph.  1,  1 :  *aliquem  cum  aliquö  comparäre  jem.  mit 
einem  vergleichen  (§  127  anm.  2).'  was  kann  der  Verfasser  mit 
diesen  und  einer  groszen  anzahl  ähnlicher  bemerkungen  anders  be- 
zweckt haben,  als  den  schüler  auf  gewisse  grammatische  gesetze 
hinzuweisen,  deren  er  sich  bei  dieser  gelegenbeit  erinnern  oder  die 
er  sich  einprägen  soll ,  ungeachtet  ihm  daraus  für  das  bessere  Ver- 
ständnis der  stelle  auch  nicht  der  geringste  gewinn  erwächst?  — 
Ich  sehe  ab  von  der  anführung  weiterer  beispiele  und  fasse  mein 
urteil  dahin  zusammen,  dasz  ein  groszer  teil  der  bemerkungen  statt 
dem  sog.  grammatischen  betrieb  der  lectüre  entgegenzuwirken,  viel- 
mehr geeignet  scheint,  demselben  ganz  bedenklich  in  die  hände  zu 
arbeiten,  wer  sich  aber  vergegenwärtigt,  mit  welcher  abneigung 
viele  aus  der  'älteren  schule'  an  diese  art  der  scbriftstellerbehand- 
lung  zurückdenken,  der  wird  es  vielleicht  auch  entschuldigen,  dasz 
ich  gelegenheit  genommen,  auf  diesen  punkt  ausdrücklich  hinzu- 
weisen. 

Abgesehen  von  diesem  grundsätzlichen  bedenken  dürfte  Schmidts 
arbeit,  die  zugleich  eine  grosze  menge  guter  Übersetzungen  und  an- 
leitungen  zum  construieren  enthält,  nur  wenig  anlasz  zu  ausstelluugen 
bieten,  manchmal  scheint  es,  als  habe  der  Verfasser  beim  quartaner 
allzu  geringe  kenntnisse  vorausgesetzt;  ich  erwähne  nur  beispiels- 
weise accidit,  ut  es  ereignet  sich,  dasz  (Milt.  1,  1);  re  potiri  sich 
einer  sache  bemächtigen  (ebd.  1,  2);  bellum  gerere  krieg  führen 
(Them.  2,  1);  vereor  (timeo),  ne  ich  fürchte,  dasz  (5,  1);  venenum 
sumere  gift  nehmen  (ebd.  10,  4)  usw.  unter  den  Verdeutschungen 
sind  mir  folgende  aufgefallen,  die  man  vielleicht  nicht  ohne  weiteres 
gutheiszen  wird :  Them.  8,  1  effugere  invidiam  der  misgunst  (dem 
neide)  entfliehen;  Cim.  1,  1  aliquem  pecunia  multare  jem.  mit  einer 
geldsumme  bestrafen;  Ale.  11,  4  summam  vi  Hütern  in  patientia 
ponere  die  höchste  tugend  in  ausdauer  (abhärtung)  setzen;  Con. 
3,  3  regem  venerari  sich  vor  dem  könige  niederwerfen,  ihm  an- 
betung  erweisen;  Epam.  9,  1  magna  caede  unter  groszem  blutbade; 
Pelop.  2,  1  ex  proximo  demnächst;  Phoc.  4,  1  vehiculo  portari  auf 
einem  wagen,  in  einer  sänfte  getragen  werden;  Timol.  5,  2  legibus 
aliquid  experiri  etwas  gerichtlich  verfolgen;  Hann.  2,2  ab  interiori- 
bus  consiliis  segregari  von  den  etwas  geheimen  beratschlagungen 
ausgeschlossen  werden;  ebenso  12,  4  num  obsideretur  ob  sie  besetzt 
würden  (oder  liegt  hier  ein  druckfehler  vor?);  Att.  4,  3  rei  fami- 
liari  operam  dare  dem  vermögen  seine  thätigkeit  widmen;  endlich 
zwei  falle,  bei  denen  der  fremd wörterschalk  seine  hand  im  spiele 
gehabt  hat:  Att.  8,  3  privatum  aerarium  constitnere  einen  privat- 
fond  gründen,  und  Att.  9,  3  in  der  Wendung  'asyndetisch  ver- 
bunden'. —  Von  druckfehlern  endlich  oder  irrtUmern  verzeichne  ich 
folgendes:  Them.  8,  2  musz  es  heiszen:  vgl.  I  cap.  8  §  1;  ebenso 
Paus.  5,  2  thürflügel;  Cim.  3,  2  paenitet  und  rei;  Ale.  6,  4  wegen 


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£.  Haupt:  kurzgefuszte  lateinische  formenlehre.  357 


religionsfrevels ;  Thras.  3,  3  eorum;  Dion  2,  4  durch  diese  als  eine 
schwere;  Dat.  11,4  relativsatz;  Epam.  3,  3  venisset  (wenigstens 
steht  so,  nicht  venerat,  in  Weidners  texte);  Pelop.  2,  1  fehlt  fors 
vor  obtulisset,  ebenso  Timol.  5,  2  se  zwischen  quod  und  agere; 
Ages.  1,  2  musz  es  heiszen  ersten;  Timol.  4,  2  nihil;  Harn.  1,  4 
in  gedanken ;  Att.  8,  4  verabreden  und  verbinden ;  desgl.  5  ver- 
zweifelten; 15,  1  quidquid. 

Dresden.  0.  Stange. 


35. 

KUBZGEPASZTE  LATEINISCHE  FORMENLEHRE  VON  DR.  ERNST  HaüPT. 

Berlin  1890.  Friedberg  u.  Mode.  IV  u.  62  8.  kl.  8. 

Ein  kleines  ansprechendes  büchelchen  ist  es,  das  hiermit  denen 
geboten  wird ,  die  in  einer  formenlehre  keine  erklärungen  und  nur 
das  allerhauptsächlichste ,  nur  regeln,  formen  und  tabellen  suchen, 
die  wörtlich  auswendig  zu  lernen  sind.  Haupts  formenlehre  will 
eben  sein  und  ist  auch  wirklich  ein  lernbuch  fast  ausschliesslich  in 
der  form  übersichtlichster  tafeln;  und  nicht  zu  ihrem  schaden  merkt 
man  es  ihr  an,  dasz  sie  thatsächlich  aus  der  präzis  —  sagt  der  Ver- 
fasser leider,  aus  der  erfahrung  und  beobachtung,  sage  ich  lieber, 
entstanden  ist.  man  merkt  dies  auszer  an  der  Übersichtlichkeit  z.  b. 
daran,  dasz  in  den  declinationstafeln  der  vocativus  ganz  weggelassen 
ist,  gewis  das  sieberste  mittel,  die  von  jedem  lehrer  nur  zu  oft  be- 
obachtete Verwechslung  von  vocativus  und  ablativus  zu  verhindern; 
unter  den  für  quinta  bestimmten  unregelmäszigkeiten  kommt  in 
§  10  der  vocativus  auf  -e  und  -i  der  zweiten  declination  noch  zeitig 
genug,  man  merkt  dies  ferner  daran,  dasz  Überhaupt  alle  solche 
unregelmäszigkeiten  nicht  unter  den  tafeln  der  einzelnen  declina- 
tionen,  sondern  nachträglich  im  Zusammenhang  gebracht  werden, 
man  merkt  es  an  der  abwechslungsreichen  art,  wie  in  den  declinations- 
tafeln der  ablativus  bald  mit  dem ,  bald  mit  jenem  passenden  ver- 
hftltnisworte  versehen ,  bald  auch  ohne  ein  solches  aufgeführt  wird, 
man  merkt  es  endlich  daran,  dasz  überall,  wo  die  schüler,  von  einem 
falschen  angleichungsdrange  geleitet,  erfahrungsgemäsz  falsche  laute 
einzuschmuggeln  suchen,  die  geforderten  fettgedruckt  sind,  überall 
da,  wo  sie  aus  einem  ähnlichen  gründe  falsch  zu  betonen  geneigt 
sind  —  ich  erinnere  an  pössumus  —  durch  einen  beigefügten  accent 
dem  vorgebeugt  wird,  überhaupt  wird  durch  gewissenhafte  bezeich- 
nung  aller  längen  dem  lehrer  sein  streben  nach  erzielung  richtiger 
ausspräche  erleichtert;  und  nicht  minder  sind  die  groszen  und  kleinen, 
die  dünnen  und  fetten  sebriftzeichen  geschickt  benutzt,  um  haupt- 
und  nebensachen,  sexta-  und  quintastoff,  oder  stamm  und  endungen 
deutlichst  zu  scheiden  und  die  besonders  eigentümlichen  laute  ein- 
zelner formen  kräftig  hervorzuheben. 


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358  K.  Haupt:  kurzgefaszte  lateinische  formenlehre. 

Erwähnt  mag  noch  werden,  was  in  dem  büchelchen  anders  an- 
geordnet ist,  als  in  andern  verbreiteten  formenlehren. 

Da  ist  zunächst  alles  das,  was  das  genus  betrifft,  in  den  ersten 
drei  paragraphen  zusammengestellt:  §  1  das  natürliche  geschlecht, 
dessen  ausdehnung  auf  flusz-  und  baumnamen  man  nur  billigen  wird, 
während  man  die  regel  'namen  der  städte,  länder  und  inaein  auf 
-US  sind  feminina'  kaum  unter  dieser  Überschrift  erwarten  dürfte. 
§  2  grammatisches  geschlecht  nach  den  hauptregeln  der  Eilendt- 
Seyffertscben  fassung,  und  dann  §  3  abweichungen  im  geschlecbt, 
verständigerweise  ohne  reim  klingklang,  ausschliesslich,  wie  nebenbei 
auch  die  hauptregeln,  in  musterbeispielen  erläutert,  indem  allen  ge- 
schlechtlich abweichenden  Wörtern  ein  passendes  adjectivum  der 
zweiten  declination  beigegeben  ist.  die  formenlehre  des  adjectivums 
ist  nicht  den  einzelnen  declinationen  beigefügt,  sondern  nachher  im 
zusammenhange  dargestellt,  in  den  tafeln  zur  conjugation  sind  nur 
zwei  gruppen,  eine  präsens-  und  eine  perfectgruppe  geschieden  und 
die  zweite  gruppe  ist  verständigerweise  nur  einmal ,  bei  der  ersten 
conjugation,  desgleichen  die  befehlsform  nur  im  activum  und  beim 
deponens  und  der  infinitivus  nur  im  praesens  activi  und  passivi  auf- 
geführt; auf  eine  Zusammenstellung  aller  verba  nach  den  Stamm- 
formen ist  ganz  verzichtet,  vollständig  werden  die  intim  tive  und 
die  participia  erst  im  letzten  40n  §  unter  der  Überschrift  'nominal- 
formen des  verbums'  aufgeführt,  diese  tafeln  benutzt  aber  der  Ver- 
fasser, wie  ähnlich  den  von  den  präpositionen  handelnden  25n  zur 
einfügung  der  lehre  von  den  städtenamen,  ihrerseits  da2u,  einen 
kurzen  abrisz  der  lehre  von  den  participialconstructionen ,  aus  dem 
ich  rühmend  hervorhebe,  dasz  gleich  auf  der  Unterstufe  die  Vertre- 
tung des  participiums  durch  einen  hauptsatz  gebührend  betont  wird, 
dann  vom  infinitivus,  bzw.  acc.  cum  inf.,  vom  gerundivum  und  vom 
supinum  daran  anzuknüpfen. 

Gar  nicht  berücksichtigt  sind  die  griechischen  Wörter  und  formen, 
im  übrigen  aber  wird  das  büchlein  für  die  zwei,  ja  drei  unterclassen 
als  formenlehre  für  alle  schulen,  insonderheit  für  realgymnasien 
völlig  ausreichen,  und  das  ist  sicher:  der  vater,  der  das  niedliche 
bOchelchen,  das  sich  überdies  durch  schönen  druck  auf  gutem  papier 
empfiehlt,  seinem  eben  in  die  pforten  der  ernsteren  f hoben  schule1 
geführten  neun-  bis  zehnjährigen  buben  kauft,  auch  der  kleine  lern- 
lustige lateinschüler  selbst,  der  es  in  die  hand  bekommt,  wird  sich 
schon  bei  seinem  freundlichen  unschuldigen  aussehen  der  heutigen 
tages  nur  zu  leichtgläubig  aufgenommenen  meinung  entschlagen, 
dasz  das  latein  das  schulkreuz  aller  schulkreuze  sein  soll. 

Zittau.  Theodor  Matthias. 


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K.  Bone:  wie  soll  ich  übersetzen? 


359 


36. 

WIE  80LL  ICH  Ü BKRSETZ EN  ?    PRAKTISCHES   HILFSBUCH   BEIM  ÜBER- 
SETZEN AÜ8  DEM  LATEINISCHEN  UND  ORIE CHI 8 CHEN  INS  DEUTSCHE. 

winke  und  Ratschläge  VON  dr.  Kahl  Bone.  Düsseldorf  1890. 
verlag  von  Eduard  Lintz. 

Die  lateinische  und  griechische  lectüre  soll  nach  der  meinung 
derer,  die  den  kämpf  gegen  das  humanistische  gymnasium  am  hitzig- 
sten führen,  nicht  nur  keine  dem  aufwand  von  zeit  und  kraft  ent- 
sprechenden kenntnisse  in  den  alten  sprachen  verschaffen,  sondern 
auch  noch  obendrein  den  deutschen  stil  der  schuler  verderben. 

Wenn  wir  lehrer  nun  ehrlich  sein  wollen,  so  müssen  wir  aller- 
dings einräumen,  dasz  sich  nicht  nur  in  den  deutschen  arbeiten  der 
tertianer,  sondern  auch  in  denen  der  primaner  eine  reihe  von  un- 
deutscben ,  also  lateinischen  Satzgefügen  und  Wendungen  vorfinden. 

Der  lehrer  des  griechischen  wird  wie  der  des  deutschen  gleich- 
falls die  er  fahrung  gemacht  haben,  dasz  sich  sozusagen  latinismen 
auch  in  den  griechischen  stil  einzuschleichen  pflegen. 

Ja,  so  manches  mitglied  der  Staatsprüfungscommissionen,  und 
zwar  nicht  blosz  der  philologischen  facultät,  sondern  auch  der  juri- 
stischen, hat  sich  bereits  zur  klage  über  den  mangelhaften,  zum  teil 
undeutschen  stil  der  von  den  betreffenden  candidaten  eingereichten 
Prüfungsarbeiten  veranlaszt  gefühlt. 

Doch  mit  dem  lateinischen  und  griechischen  an  sich  steht  diese 
schwäche  deutscher  arbeiten  nicht  im  zusammenhange,  die  gründe 
müssen  also  anderswo  liegen. 

Nach  meiner  erfahrung  sind  wir  lehrer  selbst  zum  teil  daran 
schuld. 

Nicht  alle  haben  nemlich  das  zeug  und  die  lust  dazu,  die  latei- 
nische oder  griechische  vorläge  auch  für  den  deutschen  Unterricht 
voll  und  ganz  auszunützen. 

Wenn  nun  der  schüler  sich  so  viele  stunden  in  der  woche  mit 
der  einprägung  schlecht  deutscher  vorÜbersetzungen  abplagt,  sobald 
eben  keine  entsprechende  umschraelzung  im  Unterricht  selbst  ver- 
sucht worden  ist,  dann  ist  es  kein  wunder,  wenn  sich  undentsche 
eatzgebilde  und  Wendungen  auch  in  seine  deutschen  aufsätze  ein- 
schleichen. 

Der  lehrer  des  deutschen  steht  diesem  Übelstande  machtlos 
gegenüber,  sobald  nicht  auch  der  lateinische  Unterricht  in  der  be- 
treffenden classe  in  seinen  bänden  ruht. 

Da  nun  aber  bei  einer  schwachen  classe  der  lehrer  oft  mühe 
genug  hat,  die  fremdsprachliche  vorläge  überhaupt  ins  deutsche  zu 
Übertragen,  so  dürfte  er  sich  vielleicht  nicht  selten  damit  begnügen, 
wenn  die  nachtibersetzung  im  ganzen  richtig  und  flieszend  von  statten 
geht,  mag  sie  auch  nicht  gerade  im  besten  deutschen  gewande  er- 
seheinen. 

Ferner  befördern  die  Übungsbücher  noch  oft  genug  die  ver- 


360 


K.  Bone:  wie  soll  ich  übersetzen? 


hunzung  des  deutschen  stils.  was  sie  aber  durch  ihre  fremdsprach- 
liche zustutzung  zur  erleichterung  der  Übertragung  in  die  betreffende 
spräche  beitragen,  soviel  schädigen  sie  auch  die  gesunde  entwicklung 
des  deutschen  Sprachgefühls  bei  den  schülern.  dies  ist  jedoch  um  so 
gefahrlicher,  weil  der  schüler  im  allgemeinen  nur  wenig  deutsche 
bücher  liest;  und  wer  dies  doch  thut,  für  den  ist  oft  der  materielle, 
vielleicht  gar  aufregende  inhalt  die  hauptsache,  auf  die  sprachliche 
darstellung  achtet  dabei  wohl  keiner. 

Auch  drängt  das  für  das  jähr  oder  halb juhr  bestimmte  quantum 
der  lectüre  naturgemäsz  dazu,  die  Übertragung  ins  deutsche  stief- 
mütterlich zu  behandeln,  ist  es  doch  gar  zu  schön,  im  Jahresberichte 
angeben  zu  können ,  so  und  so  viele  bücher  oder  verse  eines  Schrift- 
stellers sind  gelesen  worden,  ich  für  meine  person  bin  ganz  zufrieden, 
wenn  ich  in  jeder  stunde  ein  capitel  Livius  oder  Cicero  den  schülern 
zum  vollen  Verständnis  bringe,  wobei  natürlich  auch  die  entspre- 
chende Umformung  ins  deutsche  eine  recht  bedeutende  rolle  spielt 
mir  ist  eben  das  lateinische  nicht  Selbstzweck ,  sondern  nur  mittel 
für  höhere  aufgaben. 

So  dürfte  also  auch  die  massenhafte  lectüre  als  ein  grund  für  die 
Verhunzung  des  deutschen  Sprachgefühls  betrachtet  werden  können. 

Kommt  noch  hinzu,  dasz  das  lateinische  in  den  mittleren  classen 
zuweilen  von  einem  Polen  erteilt  wird,  der  vielleicht  gar  nicht  weissi, 
worauf  es  bei  der  Übertragung  ins  deutsche  ankommt,  so  erklärt 
sichs  leicht,  wenn  die  deutschen  ausätze  von  latinismen  strotzen. 

Am  schwierigsten  haben  es  natürlich  die  lehrer  der  an  stalten, 
wo  die  schüler  verschiedener  nationalität  sind  oder  meist  den  niede- 
ren ständen  angehören,  deren  familie  also  und  deren  umgang  auszer- 
halb  der  Schulzeit  nicht  blosz  der  entwicklung  des  Sprachgefühls 
keinen  Vorschub  leisten,  sondern  sogar  das  tag  für  tag  noch  zer- 
stören, was  der  lehrer  ihnen  mühsam  beigebracht  hat.  doch  gerade 
an  solchen  anstalten  ist  es  die  gröste  p flicht  der  lehrer,  alles  aufzu- 
bieten, um  der  muttersprache  zu  dem  ihr  gebührenden  rechte  zu  ver- 
helfen,  nur  verlange  man  vom  lehrer  nichts  unmögliches ! 

Wer  das  bisher  entwickelte  ruhig  erwägt,  der  wird  sich  hüten, 
auf  das  lateinische  und  griechische  zu  schieben,  was  von  diesen 
sprachen  an  sich  nicht  verschuldet  wird,  welch  sprachbildende  kraft 
im  gegenteil  das  lateinische  z.  b.  enthält,  sucht  die  von  dr.  Bone 
verfaszte  schrift,  welche  den  titel  führt:  wie  soll  ich  übersetzen?  zu 
beweisen,  diese  blätter  sollen  nach  dem  Vorworte  hauptsächlich, 
wenn  auch  nicht  ausschlieszlich ,  dem  gebrauche  der  schüler  dienen, 
nach  meinem  urteil  wird  der  herr  Verfasser  seinen  hauptzweck  nicht 
erreichen;  ich  würde  aber  mich  freuen,  wenn  recht  viele  lehrer  aus 
seinem  werke  die  anregung  gewönnen,  fortab  nach  bestimmten  grund- 
Sätzen  die  Übertragung  ins  deutsche  zu  erstreben ,  die  rück  Wirkung 
auf  die  schüler  wird  dann  sich  von  selbst  einstellen. 

Was  nemlich  der  lehrer  bisher  instinctiv  getroffen,  ihm  viel- 
leicht auch  zum  klaren  be wustsein  gekommen  ist,  das  findet  er  in 


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K.  Bone:  wie  soll  ich  übersetzen? 


361 


dieser  schritt,  die  offenbar  reges  interesse  für  die  deutsche  spräche 
und  ein  tieferes  Verständnis  der  fremden  sprachen  bekundet,  wenig- 
stens in  seinen  hauptzügen  zusammengestellt. 

Man  wird  dem  Verfasser  recht  geben  müssen,  wenn  er  behauptet, 
dasz  das  übersetzen  ins  deutsche  nicht  ausschlieszlich  dem  inhalte 
der  fremdsprachlichen  texte  dient  —  diesen  kann  man  sich  ja  heut- 
zutage bequemer  zu  eigen  machen  — ,  und  dasz  selbst  in  diesem 
falle  die  deutsche  form  doch  nicht  vernachlässigt  werden  dürfe,  son- 
dern eine  pflege  finden  müsse,  als  ob  sie  die  hauptsache  wäre. 

Weil  nun  die  lehrer  womöglich  alle  jähre  wechseln,  so  ist  es 
ein  glücklicher  gedanke  des  herrn  Verfassers  gewesen ,  dem  schüler 
eine  anzahl  fester  haltpunkte  zu  bieten ,  zumal  Übersetzungen  und 
speciallexica  seine  ratlosigkeit  kaum  zu  beseitigen  vermögen. 

Das  von  dr.  Bone  gebotene  läszt  sich  mit  dem  ausdruck  apho- 
rismen  am  besten  bezeichnen,  da  man  eine  systematische  anordnung 
in  der  Zusammenstellung  vermiszt.  ob  dies  der  pädagogisch  richtige 
weg  bei  einem  hilfsbuch  besonders  für  schüler  ist,  möchte  ich  be- 
zweifeln, doch  da  die  ordnungslosigkeit  in  der  aufeinanderfolge  und 
die  auseinanderhaltung  verwandter  dinge  vom  Verfasser  absichtlich 
geschaffen  ist,  so  musz  der  erfolg  des  buches  entscheiden,  ob  diese 
sonderbare  absieht  bei  schülern  den  erwünschten  anklang  finden  wird. 

Zu  billigen  ist  es  dagegen,  wenn  der  Verfasser  dieselben  bei- 
spiele  unter  verschiedenen  gesichtspunkten  beleuchtet  und  das  latei- 
nische im  Vordergründe  hält. 

Minder  glücklich  ist  der  gedanke  des  Verfassers  zu  nennen,  die 
beispiele ,  abgesehen  von  einigem  zusätzlichen ,  der  rede  Ciceros  pro 
Archia  poeta  allein  zu  entnehmen. 

Mag  dies  auch  ein  deutlicher  beweis  dafür  sein,  dasz  selbst  eine 
kleinere  lateinische  schrift  reiche  geiegenheit  bietet,  den  deutschen 
stil  zu  bilden,  und  dasz  es  auf  eine  massenhafte  leetüre  zu  diesem 
zwecke  nicht  ankommt,  so  verliert  die  schrift  für  schüler,  welche 
den  Archias  nicht  gelesen ,  doch  bedeutend  an  wert,  die  beispiele 
konnten  also  lieber  aus  mehreren  der  gelesensten  Schriften  genom- 
men werden. 

Für  eine  zweite  aufläge  erlaube  ich  mir  dem  herrn  Verfasser 
einige  praktische  winke  zu  geben. 

£s  empfiehlt  sich  erstens,  das  Stichwort  im  beispiel,  anstatt  ge- 
sperrt, fett  zu  drucken;  zweitens  die  beispiele  mit  der  Stellenangabe 
zu  versehen;  drittens  dieselben  so  auszuschreiben,  dasz  jedes  beispiel 
auch  auszerhalb  des  Zusammenhanges  für  sich  verständlich  ist;  schliess- 
lich müöte  innerhalb  einer  numiner  das  zusammengehörige  auch  zu- 
sammengestellt werden  und  das  am  häufigsten  vorkommende  an  die 
spitze  treten. 

Was  die  anmerkungen  anbetrifft,  die  recht  wertvolles  enthalten, 
so  musz  bemerkt  werden,  dasz  der  kleine,  geradezu  polizeiwidrige 
druck  die  benutzung  des  buches,  das  verhältnismäszig  sehr  reife 
schüler  voraussetzt,  sehr  erschwert. 


362 


K.  Bone:  wie  soll  ich  übersetzen? 


Das  Sachregister  am  ende  erleichtert  durch  das  Stichwort  die 
benutz  ung  der  50  auf  etwa  24  Seiten  stehenden  Übersetzungsregeln; 
ihnen  voran  geht  ein  abschnitt  A. ,  der  von  der  schulübersetzung, 
und  ein  mit  B.  bezeichneter,  der  von  den  grundlagen  für  das  über- 
setzen handelt  letzterer  zerfällt  in  die  beiden  teile:  grundsätze  und 
unterschiede. 

Mit  recht  bemerkt  der  Verfasser  im  abschnitt  A.,  dasz  die  schul- 
übersetzung die  mitte  zwischen  Interlinearübersetzung  und  der  freien 
umschmelzung  des  gedankenstoffes  in  eine  form ,  wie  sie  das  frei- 
thätige  andere  sprachidiom  ihm  etwa  geben  würde,  oder  schlichter 
ausgedrückt:  zwischen  der  geschraubten  wörtlichkeit  und  dem  win- 
digen plaudern  über  den  text  ernstlich  zu  suchen  und  zu  pflegen 
habe  und  in  allererster  linie  dem  zwecke  dienen  müsse,  dasz  die 
heranwachsende  jugend  die  eigne  spräche  beb  ersehen  lerne  und  dem- 
nächst dieselbe  reinigen  und  rein  halten  helfe,  letzteres  sei  um  so 
nötiger,  als  derselben  durch  den  zeitungs-,  kaufmanns~  und  techniker- 
Stil  weit  gröszere  gefahren  drohen,  als  durch  die  im  ganzen  harm- 
lose fremdwörtergesellschaft. 

Dasz  aber  die  mitte  nicht  so  ohne  weiteres  vom  schüler  ge- 
funden ,  sondern  erst  nach  langer  arbeit  der  ganzen  classe  erreicht 
wird  und  dasz  gerade  darin  eins  der  anregendsten  momente  des 
altsprachlichen  unterrichte  liegt,  wird  kein  fachgenosse  bestreiten, 
rege  teilnähme  zeigen  hierbei  selbst  schwächere  schüler,  und  wenn 
auch  viele  falsche' antworten  gegeben  werden,  so  kommen  die  schüler 
doch  allmählich  zum  klaren  be wustsein ,  wo  eine  Umformung  fürs 
deutsche  nötig  und  wie  dieselbe  zu  gestalten  ist.  jedenfalls  belohnt 
der  erfolg  die  mühe  der  schüler  und  des  lehrers. 

Da  aber  im  griechischen  wie  lateinischen  satzbildungen  mög- 
lich sind,  die  als  unübersetzbar  fürs  deutsche  bezeichnet  werden 
müssen  und  anderseits  doch  die  grundgesetze  des  denkens  und  des- 
halb auch  des  Sprechens  für  alle  menschen  dieselben  sind ,  so  musz 
auch  jeder  gedanke  in  jede  andere  spräche  umgedacht  und  in  ihr 
ausgesprochen  werden  können,  wenn  auch  zuweilen  eine  völlige  und 
schwierige  umschmelzung  notwendig  wird. 

Unter  B.  führt  dann  der  Verfasser  12  grundsätze  an,  die  nach 
meinem  dafürhalten  für  schüler  und  lehrer  überflüssig  sind,  weil  sie 
in  abschnitt  C.  zum  grossen  teil  wiederholt  und  durch  concrete  bei- 
spiele  belegt  werden ,  anderseits  auch  für  schüler  nicht  klar  genug 
gefaszt  sind  und  nicht  viel  neues  bieten. 

Unklar  ist  gleich  der  erste  grundsatz:  jeder  satz  besteht  aus 
drei(V)  Grundbestandteilen:  subject,  prädicat  und(?)  copula  (wohl 
'oder  copulagruppe  ?').  nach  den  angeführten  beispielen:  Archias 
est  civis,  fruetus  ostenditur,  credo  soll  unter  copula  offenbar 
die  bildung  des  prädicats  durch  copula  und  prädicatsnomen  verstan- 
den werden,  richtiger  wäre  also  die  fassungvon  grundsatz  1,  wenn 
sie  nach  der  anmerkung  oder  nach  anmerkung  2  auf  seite  36  gebildet 
würde,   auch  nr.  2  —  4  ermangeln  der  für  schüler  nötigen  klarheit. 


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K.  Bone:  wie  soll  ich  übersetzen? 


nr.  5  ist  gut  gemeint,  doch  für  den  schüler  überflüssig,  in  nr.  7  ist 
der  ausdruck  'satzfügung'  nicht  besonders  glücklieb  gewählt,  da 
man  quibus  anditis  doch  nicht  als  satzfügung  bezeichnen  kann.  nr.  8 
wird  besonders  im  zweiten  teil  nicht  recht  verstanden  werden,  schliesz- 
lich  weisz  ich  nicht,  was  der  schüler  sich  bei  nr.  12  denken  soll, 
dieser  grundsatz  lautet  wörtlich:  keine  spräche  reicht  zur  vollkom- 
menen wiedergäbe  des  menschlichen  denkens  aus}  aber  vieles  kann 
angedeutet  werden,  ohne  dasz  es  ausdrücklich  gesagt  wird. 

Was  der  herr  Verfasser  unter  II  von  den  unterschieden  der 
fremden  sprachen  vom  deutschen  sagt,  ist  für  den  schüler  erst  dann 
verständlich,  wenn  er  den  abschnitt  C.  durchgearbeitet  hat. 

Hiernach  dürfte  es  sich  empfehlen,  die  grundsätze  (I)  einfach 
über  bord  zu  werfen ,  den  abschnitt  II  aber  gleichsam  als  ergebnis 
der  Sprachvergleichung  hinter  C.  zu  rücken,  da  bekanntlich  abstracto 
lehren  und  grundsätze  für  schüler  wertlos  bleiben,  sobald  dieselben 
von  ihnen  nicht  aus  concreten  fällen  mittels  eignen  nachdenkens  abs- 
trahiert worden  sind. 

Was  nun  den  hauptteil  C.  anlangt,  so  erlaube  ich  mir  in  mög- 
lichster kürze  folgende  randglossen :  in  nr.  1  müste  auch  ein  beispiel 
für  den  präpositionalen  ausdruck,  der  zum  adjectivum  usw.  werden 
soll ,  angegeben  werden,  bei  nr.  2  fehlt  ein  beispiel  für  manche 
adjectiva,  und  wenn  man  auch  als  lehrer  allenfalls  zwischen  den 
zeilen  lesen  kann,  so  müsten  doch  für  schüler  die  ersten  beiden  bei- 
spiele  zuletzt  stehen  oder  die  regel  selbst  allgemeiner  gefaszt  werden, 
in  nr.  3  wird  der  ausdruck  copulativer  verba  den  schülern  neu  sein, 
auch  ist  die  anmerkung  zu  videri  zu  philosophisch,  in  nr.  4  ist 
'domicilium'  in  störender  weise  eingeschoben  und  die  prägnanz  des 
ausdrucks  auch  auf  die  conjunetive  reprehendat  —  succenseat  aus- 
gedehnt die  hilfsverba  'können  und  mögen'  dienen  wohl  hier  nur 
zur  wiedergäbe  der  conjunetivischen  form,  in  vehementer  errat  finde 
ich  wenigstens  keine  Umschreibung  der  verbalform  durch  ein  hilfs- 
verbum. 

In  nr.  7  könnten  für  den  schüler,  weil  ihm  wohl  zuerst  bekannt 
geworden,  die  relativsätze  voranstehen  und  an  stelle  eines  relativ- 
satzes  auch  ein  grund-  und  bedingungssatz  eintreten,  allenfalls  in 
der  anmerkung,  wenn  Archias  kein  beispiel  dieser  art  aufweist;  nach 
der  anmerkung  zu  nr.  8  könnte  das  beispiel  mit  'ne  quid'  an  die 
spitze  treten;  die  zu  nr.  9  etwa  durch  die  Livianische  wendung 
caesi  —  vi  vi  capti  sunt  belegt  werden,  der  verweis  auf  regel  32  bat 
keinen  sinn!  in  nr.  13  könnte  die  Ordnung  strenger  sein,  auch  ist 
bei  rsi  nihil  aliud  dieimus'  von  einem  verdeutlichenden  adverbium 
wohl  nicht  recht  zu  reden,  da  die  Übersetzung  von  'nur  darum'  blosz 
der  positive  ersatz  einer  lateinischen  negativen  wendung  ist.  Über- 
haupt hat  der  herr  Verfasser  gerade  dieses  oft  einzig  und  allein  zu 
einem  guten  deutsch  führende  Übersetzungsmittel  Ubersehen. 

In  nr.  15  stört  das  beispiel  mit  cum  —  tum  an  dieser  stelle, 
an  stelle  eines  der  positiven  beispiele  konnte  ein  negatives  mit  neque 


364 


K.  Bone:  wie  soll  ich  übersetzen? 


—  neque  geboten  werden,  in  nr.  20  finde  ich  keinen  Zusammenhang 
zwischen  der  regel  und  dem  ersten  wie  dem  letzten  beispiele.  in 
nr.  27  ist  der  ausdrnck  persönlicher  (pronomina)  nach  dem  beispiel 
C.  Mario  zu  eng;  auch  gehört  das  letzte  beispiel  weiter  nach  oben. 

Nr.  10  und  31  zu  trennen  lag  nicht  der  mindeste  grund  vor, 
und  da  der  letzte  teil  der  nr.  31  kein  beispiel  bietet,  bleibt  das  ge- 
sagte für  schüler  toter  ballast  ebenso  könnten  nr.  34  und  36  ver- 
schmolzen sein. 

Wenn  der  herr  Verfasser  in  anmerkung  1  auf  seite  26  sich  ziem- 
lich scharf  gegen  den  ersatz  antiker  militärischer  ausdrücke  durch 
moderne  ausspricht,  weil  sie  unorganisch  in  die  Ubersetzung  einge- 
flickt werden,  so  kann  man  ihm  ja  in  der  theorie  recht  geben,  wenn 
auch  die  praxis  zur  heranziehung  der  dem  schüler  nahe  liegenden 
vorstellungskreise  rät.  einen  vergleich  wenigstens  mit  modernen 
einrichtungen,  wenn  sich  auch  die  begriffe  nicht  völlig  decken,  habe 
ich  auch  ohne  reminiscenzen  an  eigne  militärzeit  allezeit  versucht 
und  empfohlen,  'bei  gott'  für  'beim  Zeus*  finde  ich  wenigstens  nicht 
so  Übel,  mag  auch  ein  anachronismus  vorliegen  —  wo  fehlen  diese 
heut  zu  tage  nicht?  —  denn  nicht  blosz  die  wortform,  sondern  auch 
der  inhalt  ist  dem  augenblicklichen  culturzustande  möglichst  nahe 
zu  bringen,  nr.  36  redet  viel  ohne  positiven  nutzen,  exempla  docent! 
den  doppelpunkt  hinter  'deutlichkeit*  verstehe  ich  nicht,  für  37  ist 
der  vollständige  satz  auszuschreiben,  das  'zugleich'  der  anmerkung 
bleibt  unverständlich,  desgleichen  der  verweis  auf  regel  4,  12  und  13. 
zum  suchen  hat  weder  lehrer  noch  schüler  grosze  lust;  alles  musz 
sich  aus  sich  selbst  erklären!  in  nr.  38  kann  ich  keinen  Zusammen- 
hang zwischen  dem  beispiel:  ubi  .  .  .  und  der  regel  finden,  und  die 
anmerkung  bleibt  wertlos,  sobald  man  nicht  concreto  beispiele  dazu 
erhält,  die  regel  39  ist  nicht  klar  genug  gefaszt  (auch  die  participia 
sind  Wörter),  die  anmerkung  ist  klarer  als  die  hauptregel.  was  heiszt 
schliesziich  'Umwandlung'?  auch  bringt  die  anmerkung  zu  41  erst 
das  rechte  licht  in  den  ausdruck  'ähnliche  formen'  in  der  hauptregel. 
was  sich  der  schüler  bei  nr.  43  bezüglich  des  über  den  Chiasmus 
gesagten  denken  soll ,  kann  ich  nicht  begreifen,  im  ersten  teil  der 
regel  46  vermiszt  man  ein  beispiel  fürs  adverbium,  vielleicht  sollen 
die  beim  vierten  'oder*  stehenden  beispiele  zu  nr.  1  gehören?  den 
Schülern  lassen  sich  die  übersetzungs weisen  des  hendiadyoin,  sobald 
man  von  Archias  absieht,  durch  folgende  einfache  Wendungen  klar 
machen:  a)  viribus  ac  iuventute,  1)  mit  jugendlichen  kräften,  2)  mit 
jugendkraft,  3)  mit  den  kräften  der  oder  in  der  jugend.  b)  novus 
atque  inauditus  (bzw.  adv  ),  völlig  neu,  o)  orare  atque  obsecrare, 
inständig  bitten,  in  nr.  47  scheint  mir  der  erste  absatz  dasselbe  als 
der  zweite  zu  enthalten,  nr.  48  und  50  zeichnen  sich  nicht  durch 
besondere  klarheit  aus. 

Was  die  Orthographie  anlangt,  so  ist  der  umlaut  im  anlaut 
überall  zu  verbessern. 

Es  erübrigt  nur  noch,  ein  gesamturteil  über  dr.  Bones  buch 


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Bosnier:  geachichte  der  k.  sächs.  fürsten-  und  lande»8chule  Grimma.  365 

abzugeben,  es  lautet:  in  seiner  jetzigen  fassung  kein  hilfsbuch  für 
scbüler!  wenn  ich  nemlich  auf  die  mühe  zurückblicke,  die  mir  selbst 
das  Verständnis  des  bucbes  gemacht,  so  wäre  es  unverantwortlich 
Ton  mir,  wollte  ich  es  meinen  schülern  zum  privatstudium  empfehlen, 
die  zweite  aufläge  wird  vieles  anders  zu  gestalten  haben,  will  sie 
wirklich  ein  hilfsbuch  für  die  schüler  werden,  den  herren  fach- 
genossen dagegen  möchte  ich  es  zur  lectüre  empfehlen ,  nicht  etwa, 
um  sich  sklavisch  von  heim  dr.  Bone  abhängig  zu  machen,  denn 
es  führen  viele  wege  nicht  blosz  nach  Rom,  nein  auch  zu  einer 
guten,  echt  deutschen  Übersetzung,  sondern,  um  Uberhaupt  diesem 
wichtigen  unterricbtszweige  fortab  mehraufmerksamkeitzu  schenken, 
hieraus  ergibt  sich  auch  das  scbluszurteil,  dasz  der  leitende  gedanke 
des  herrn  Verfassers,  feste  regeln  zur  Übertragung  aufzustellen,  volle 
billigung  finden  kann. 

Kempen  in  Posen.    Paul  Mahn. 

37. 

GESCHICHTE  DER  KÖNIGLICH  SÄCHSISCHEN  PÖRSTEN-  UND  LANDES- 
SCHULE Grimma,  von  prop.  Rö ssler  f.  Leipzig  1891.  B.  G. 
Teubuer.  XII  u.  323  a. 

Veranlasst  durch  den  neubau  der  fürstenschule  zu  Grimma  hat 
der  Verfasser  des  vorliegenden  buches,  welches  sr.  excellenz  dem 
brn.  staatsminister  dr.  v.  Gerber  gewidmet  ist,  die  zur  säcularfeier 
1850  von  Lorenz  und  Palm  in  getrennten  abteilungen  behandelte 
geschichte  der  schule  zusammengefaszt ,  aus  den  handschriftlichen 
annalen  Schellenbergs  und  andern  quellen  erweitert  und  bis  zur 
gegenwart  fortgeführt,  doch  ist  nur  die  eigentliche  schulgeschichte 
behandelt  worden,  bei  welcher  auch  schulverwalter  und  rectoren 
eingehend  und  gewissenhaft  charakterisiert  worden  sind. 

Der  historisch-statistische  stoff  ist  praktisch  und  übersichtlich 
eingeteilt  nach  sachlichen  gesicbtspunkten,  deren  jeder  für  sich  nach 
der  Zeitfolge  von  anfang  bis  zu  ende  durchgenommen  wird,  der  erste 
abschnitt  erzählt  die  Vorgeschichte,  die  Stiftung  der  beiden  fürsten- 
schulen  in  Meiszen  und  Pforta,  die  Vereitlung  der  dritten  in  Merse- 
burg, der  zweite  abschnitt  aber  handelt  mit  zuverlässiger  genauig- 
keit  über  die  gründung  der  fürstenschule  zu  Grimma  und  über  die 
eröffnung  derselben,  die  erwähnten  capitel  sind  bekanntlich  schon 
1889  als  fcstachrift  zum  Wettinjubiläum  erschienen,  der  dritte  ab- 
schnitt bespricht  die  ersten  einrichtungen  und  zwar  die  ausstattung, 
die  schulgebäude,  die  stellen,  die  bezüge  und  die  Verpflegung  der 
lehrer  und  der  schüler,  die  schulaufsicht  und  Schulordnung,  der 
vierte  abschnitt  behandelt  die  äuszere  geschichte  und  schildert  die 
schule  unter  dem  einflusse  der  zeitläufte,  die  gestaltung  und  Ver- 
waltung der  einkünfte,  die  baulichen  Veränderungen,  der  fünfte 
und  umfangreichste  abschnitt,  der  für  den  leser  naturgemäsz  des 


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366  Rössler :  geschieht«  der  k.  säch».  forsten-  und  landesschale  Grimma. 

interessanten  am  meisten  bietet  und  im  herzen  eines  jeden  alumnus 
quondam  Grimensis  so  manche  liebe  erinnerung  an  die  verflossene 
Schulzeit  wachrufen  wird,  führt  uns  in  ausführlicher  und  erschöpfen- 
der weise  die  innere  geschichte  der  anstatt  vor  äugen,  nemlich  die 
stellen verb altni.>s e  und  die  frequenz ;  die  bezüge  und  die  Verpflegung 
der  alumnen;  die  zahl  und  die  bezüge  der  lehrer  und  der  andern 
beamten ;  die  schulaufsicht  und  die  schulzucht ;  den  Unterricht  und 
die  Unterrichtsmittel;  die  Stundenpläne;  aufnähme  und  abging  der 
schüler;  programme,  prüfungen,  prämien  und  Stipendien;  arbeit  und 
erhol ung ;  tagesordnung  und  saalordnung;  gebete,  gottesdienste  und 
Schulfeierlichkeiten. 

Es  folgen  nicht  weniger  als  vierzehn  anhänge,  der  erste  handelt 
über  die  namen  der  schule,  die  nächsten  bringen  wichtige  Schulord- 
nungen von  1560  — 1677  und  speiseordnungen  von  1562  —  1859. 
unter  nr.  11  findet  man  die  gebetsformeln  der  ältem  und  der  jüngern 
zeit;  unter  nr.  12  werden  die  Stiftungen  für  die  schule  aufgezählt, 
den  schlusz  macht  der  lectionsplan  von  1820  und  1839. 

Beigegeben  sind  zwei  sehr  gute  grundpläne  der  schule  in  ihrer 
letzten  gestaltung  vom  jähre  1885.  die  alten  räume,  in  denen  wir 
die  schöne  jugendzeit  verlebt  haben,  sind  verschwunden  .  .  .  möge 
das  neue,  prächtige  heim  ein  an  leib  und  geist  gesundes  geschlecht 
herbergen  allezeit! 

Die  weihe  des  hauses  hat  der  Verfasser  des  buches  nicht  mehr 
erleben  sollen,  auch  sein  werk,  dem  er  so  lange  zeit  mit  regem  eifer 
seine  muszestunden  gewidmet,  hat  er  nicht  vollendet  vor  sich  ge- 
sehen, am  6  märz  d.  j.  ist  er  gestorben,  er  war  ein  mann  von  ausser- 
ordentlicher schärfe  des  geistes,  besonnen  und  ruhig,  klar  und  be- 
stimmt, ohne  viel  worte.  er  war  ein  mit  reicher  erfahr  ung-  und 
vielseitigem  wissen  ausgestatteter  lehrer,  dem  alle  seine  schüler  in 
aufrichtiger  Verehrung  und  dankbarkeit  zugethan  waren,  leicht  sei 
ihm  die  erde! 

Annaberg.  Ernst  Haupt. 


38» 

DER  EVAN0ELI8CHE  RELIGIONSUNTERRICHT  IM  LEHRPLAN  DER  HÖHEREN 
SCHULEN.    EIN  PÄDAGOGISCHES  BEDENKEN  VON  D.  L.  WlE8E. 

zweite  AUFLAGE  mit  einem  Anhang.  Berlin  1891.  verlag  von 
Wiegandt  &  Grieben.   128  8.  8. 

Da  die  zweite  aufläge  von  der  in  diesen  jahrbüchern  1890 
s.  590  ff.  angezeigten,  im  vorigen  jähre  erschienenen  ersten  aufläge 
in  keinem  wesentlichen  punkte  abweicht,  so  erübrigt  es,  den  s.  89 
— 128  beigefügten  anhang  zu  besprechen,  den  jeder  lesen  sollte,  der 
die  erste  aufläge  kennt,  diese  ist  mit  lebhafter  Zustimmung  und 
mit  nicht  weniger  Widerspruch  aufgenommen  worden,  wie  W.  s.  89 
sagt,  mit  recht  hebt  er  hervor,  dasz  die  aufgäbe  des  religionsunter- 


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L.  Wiese :  der  evang.  religionsunterr.  im  lehrplan  der  höh.  schulen.  367 

richts  heute  schwerer  zu  lösen  ist  als  früher,  dasz  bei  allem  bemühen 
der  lehrer  und  dem  fleisz  der  schtiler  von  einem  erziehlichen  ein- 
flusz  desselben  nicht  eben  viel  wahrzunehmen  ist,  zum  teil  auch  des- 
halb, weil  dieser  Unterricht  in  die  Wirklichkeit  des  lebens  weiter 
hinausweist  als  der  Unterricht  in  andern  gegenständen,  selbst  in  der 
muttersprache  und  in  der  geschiente,  aus  der  der  auffassung  Wieses 
zum  gründe  liegenden  annähme  einer  gemeinsamkeit  von  kirche  und 
schule  in  der  religiösen  jugendbildung  erklärt  sich  auch  die  bedeu- 
tung,  welche  darin  für  die  confirmation  in  ansprach  genommen 
(3.  101)  und  die  wohl  auch  von  den  eitern  der  kinder  meistens  an- 
erkannt wird,  der  confirmandenunterricht  gehört  unstreitig  zu  den 
mühevollsten  pflichten  der  geistlichen  (s.  103);  ihm  musz  auch  der 
Unterricht  in  den  höheren  schulen  vorarbeiten,  eine  trennung  der 
denselben  genieszenden  gymnasiasten  von  den  mädchen  ist  meines 
erachtens  nicht  unbedingt  notwendig,  da  bei  dem  von  würdigen 
geistlichen  erteilten  unterrichte  ungehörigkeiten  zu  vermeiden  die 
knaben  —  wie  ich  wenigstens  aus  meinem  in  Braunsberg  vor  57 
jähren  genossenen  unterrichte  bezeugen  kann  —  sich  scheuen  wer- 
den, allerdings  war  der  geistliche  zugleich  religionslehrer  am  gymna- 
sium  und  vereinigte  in  der  besonders  von  ihm  unterrichteten  zweiten 
abteilung  seiner  confirmanden  die  schüler  und  Schülerinnen  der  Volks- 
schulen, jedenfalls  müste  Vorkehrung  getroffen  werden,  dasz  die 
grosze  anzahl  der  gleichzeitig  zu  unterrichtenden  in  kleinere  ab- 
teilungen  getrennt  wird  (s.  104). 

Die  warnung  'es  unterwinde  sich  nicht  jedermann  lehrer  zu 
sein'  (Jak.  3,  1)  ist  für  keinen  gegenständ  so  sehr  zu  beherzigen  wie 
für  den  religionsunterricht  (s.  115).  so  wenig  die  religiöse  Unter- 
weisung der  schule  zu  erbauungsstunden  werden  darf,  so  ist  es  auch 
nach  Wieses  Überzeugung  mit  bloszen  gefühlsanregungen  nicht  ge- 
than.  er  erinnert  sich  die  rede  eines  abiturienten  mit  angehört  zu 
haben,  die  eine  ganz  orthodoxe  auseinandersetzung  enthielt  und  mit 
einer  gefühlvollen  pietistischen  nutzanwendung  schlosz.  das  inner- 
lich unwahre  und  ungesunde  dieser  scbülerleistung  machte  einen  be- 
trübenden eindruck  auf  ihn,  was  er  dem  lehrer  nicht  verhehlte,  wobei 
er  hinzufügte,  an  dem  zögling  werde  er  wenig  freude  erleben,  diese 
vorhersagung  erfüllte  sich  nur  zu  sehr  und  bald:  der  junge  mensch 
schlug  während  seiner  Studienjahre  in  eine  ganz  materialistische 
lebensau ffassung  und  führung  um  (s.  1 14  f.).  dagegen  wird  es  auch 
nicht  an  lehrern  fehlen,  die  mit  viel  segen  geschmückt  werden  (Psalm 
84,  7),  und  an  denen  sich  das  wort  des  propheten  (Daniel  12,  3) 
erfüllt. 

Ob  die  religionslehre  gegenständ  der  abiturientenprüfung  sein 
solle  oder  nicht,  darüber  sind  die  meinungen  bekanntlich  noch  ge- 
teilt. Wiese,  der  nach  der  einsegnung  den  schülern  eigentlichen 
religionsunterricht  nicht  mehr  erteilt,  wissen  will,  ist  natürlich 
dagegen,  wenn  aber  oft  behauptet  wird ,  dasz  die  abiturienten  in 
den  letzten  Semestern  fast  nichts  thun  als  nur  in  der  geschiente  und 


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368    L.  Wiese:  der  evang.  religionsunterr.  im  lehrplan  der  höh.  schulen. 


religion  repetitionen  anstellen ,  und  dasz  auf  diese  weise  durch  das 
viele  auswendiglernen  das  gedächtnis  auf  kosten  der  übrigen  Seiten 
des  menschlichen  geistes  zu  sehr  in  ansprach  genommen  wird,  so 
werden  bei  der  heutigen  praxis  des  abiturientenexamens  auch  in 
andern  fächern  an  das  gedächtnis  nicht  unerhebliche  anforderungen 
gestellt,  wie  dies  trefflich  in  diesen  Jahrbüchern  1890  s.  588  ff. 
Rieder*  nachgewiesen  hat. 

Die  beurteilungen  der  Wieseschen  schrift  haben  auf  den  Ver- 
fasser den  eindruck  gemacht,  dasz,  wenn  die  recensenten  ihm  auch 
nicht  zustimmten,  ihm  doch  war,  als  hätten  sie  in  dem  geftihl, 
einer  gemeinsamen  groszen  sache  zu  dienen ,  und  in  der  sorge  um 
sie  sich  mit  ihm  eins  wissend,  über  die  gegensätze  hinweg  ihm  den- 
noch die  band  gereicht  (s.  123),  und  nur  in  einer  schrift  von  einem, 
wie  es  scheint,  jungen  'paator  und  gymnasiallehrer*  ist  ein  anderer 
ton  angeschlagen,  welcher  der  meinung  ist,  die  schrift  sei  mit  einer 
durch  altersschwachheit  und  lange  entfernnng  vom  schulleben  be- 
wirkten Unkenntnis  dessen,  was  die  schule  kann  und  bedarf,  in  einem 
/an  fall  von  pessimismus*  verfaszt.  W.  spricht  über  diese,  sowie  über 
die  abfällige  beurteilung,  welche  seine  schrift  durch  hm.  geheimrat 
Elix  in  der  decemberschulconferenz  von  1890,  der,  wenn  ich  ihn 
recht  verstanden  habe,  Wiese  auch  nur  eine  venia  aetatis  zugestan- 
den wissen  wollte,  mit  der  ihm  eignen  ruhigen  milde,  mit  recht  er- 
klärt er  sich  gegen  die  von  dem  'pastor  und  gymnasiallehrer'  ver- 
langte stunden  Vermehrung  (die  Stundenzahl  —  so  meinte  jener  — 
müsse  in  den  oberen  classen  auf  mindestens  vier  in  der  woche  ge- 
bracht werden!)  und  lehrt  die  abhilfe  da  zu  suchen,  wo  sie  allein 
geschafft  werden  kann. 

Bedauern  werden  es  mit  dem  unterzeichneten  viele  Schulmänner 
und  eitern,  dasz  er  die  beschaffenheit  des  religionsunterrichts  in  den 
weiblichen  bildungsanstalten  zu  beleuchten  durchaus  andern  über- 
lassen zu  müssen  meint  auch  diejenigen,  welche  Wiese  nicht  in 
allen  punkten  beistimmen,  werden  ihm  für  den  anhang  der  zweiten 
aufläge  dankbar  sein. 


*  vgl.  R.  Schröter  'zur  überbürdangsfrage'  in  dieser  Zeitschrift  1891 
s.  186  ff.  und  ebd.  die  denselben  gegenständ  behandelnde  abhandlang 
von  P.  Mahn  s.  185  ff. 

IN8TERBURG.  E.  Krah. 


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ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜB  GYMNASIALPADAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT  AÜ88CHLU8Z  DBB  CLA88ISCHBN  PHILOLOQ1B 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  DR.  HERMANN  MASIU8. 


(30.) 

DER  DIDAKTISCHE  WERT  DES  XENOPHONTISCHEN 

AGESILAUS 

im  zusammenhange  mit  der  Cyropädie  and  den  Memorabüien  als  schul- 

lectüre  untersacht. 

(fortsetzung  and  schlusz.) 


II.  Xenophon  als  schulschriftsteller. 

Genius  z  unserer  bisherigen  darlegung  sind  wir  vorerst  vor  die 
aufgäbe  gestellt,  den  nachweis  zu  führen,  dasz  der  Verfasser  der  von 
uns  für  die  behandlung  auf  dem  gymnasium  empfohlenen  Schrift- 
werke, Xenophon,  den  ansprüchen  genügt,  welche  wir  an  einen 
schulautor  machen  müssen :  nur  für  den  fall ,  dasz  der  Schriftsteller 
selbst  eine  derartige  persönlichkeit  ist,  dasz  der  umgang  mit  ihr  auf 
die  schüler  bildend  und  veredelnd  wirkt,  können  wir  seine  werke 
als  eine  quelle  der  geistesbildung  dem  gymnasium  zuweisen,  es 
könnte  freilich  scheinen,  als  sei  gerade  bezüglich  Xenophons,  dessen 
Schriften  im  altertum  gleichmäszig  gerühmt  wurden ,  und  an  dessen 
wert  als  Schriftsteller,  bzw.  schulschriftsteller  wohl  nur  vereinzelt 
zweifei  ausgesprochen  sind ,  eine  solche  Untersuchung  überflüssig ; 
trotzdem  dürfen  wir  uns,  indem  wir  dabei  stets  unserer  aufgäbe, 
welche  in  letzter  linie  dem  Verfasser  des  Agesilaus  gilt,  eingedenk 
bleiben,  der  notwendig  zu  stellenden  forderung  nicht  entziehen.*0 

*°  wir  bemerken,  dasz  die  folgende  entwicklang  des  in  der  persön- 
lichkeit des  Schriftstellers  liegenden  1  brstoffes,  ebenso  wie  später  die 
darstellung  des  Somatischen  tugendideals  und  des  königsideals  Xeno- 
phons, von  uns  etwa  in  dem  nmfange  gegeben  ist,  in  welchem  sie  durch 
die  Unterrichtsarbeit  herauszustellen  ist.  allein  in  dieser  praktischen 
rücksichtnahme  finde  auch  die  breite,  welche  die  darlegung  in  mancher 
Beziehung  zeigt,  ihre  rechtfertigung. 

N.  jthrh.  f.  phil.  o.  päd.  IL  «bt.  1891  hft.  8  u.  9.  24 


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370       Der  didaktische  wert  des  Xenophoutischen  Ageeilaus. 

Der  schiiler  lernt  den  Schriftsteller  Xenophon  aus  der  Ana- 
basis  zunächst  als  den  heerftlhrer  Xenophon  kennen,  und 
dieser  zug  ist  für  unsere  zwecke  bedeutungsvoll.  Xenophon  ist  von 
anfang  an  dem  schüler  nicht  ein  mann  des  Wortes,  sondern  der  that 
er  lernt  ihn  hochschätzen  als  die  Beele  des  groszen  heereszuges,  wel- 
cher die  bewund erung  aller  Zeiten  hervorgerufen  hat  und  in  seiner 
ktthnheit  und  genialen  ausführung  auch  ihm  verständlich  wird,  wie 
wäre  das  wahrlich  gewaltige  unternehmen,  die  ihrer  heerf (Ihrer  durch 
verrat  beraubten  zehntausend  mitten  aus  dem  herzen  des  feindes- 
landes  der  heimat  wohlbehalten  zuzuführen ,  ohne  den  klugen  rat 
des  einen  mannes,  ohne  seine  scharfe  erfassung  der  jedesmaligen 
Situation,  seine  unermüdliche  neubelebung  des  gesunkenen  und  immer 
wieder  sinkenden  mutes,  seine  kriegstüchtigkeit  und  tapfer keit,  aber 
nicht  minder  die  packende  macht  seiner  ganzen  persönlichkeit  wohl 
geglückt!  —  dafür  gewinnt  der  schüler  schnell  Verständnis,  er  lernt 
den  mann ,  der  durch  all  die  drohenden  gefahren  das  nicht  immer 
leicht  zu  führende  heer  zielbewust  hindurchlenkt  und  Überall  thätig 
mit  dem  eignen  beispiel  vorangeht,  sehr  bald  bewundern,  aber 
das  nicht  allein:  gröszere  teilnähme  noch  flöszt  ihm  der  mensch 
Xenophon  ein.  wenn  er  liest,  mit  wie  viel  Widerwärtigkeiten 
Xenophon  in  seiner  schweren  Stellung  gegenüber  dem  neide,  der 
inisgunst  und  dem  kleinmut  der  seinen  zu  kämpfen  hat,  so  gewinnt 
auch  seine  pflichttreue,  seine  aufopferungsfähigkeit  die  rechte  be- 
leuchtung.  und  trotz  der  Überlegenheit,  welche  Xenophon  gegen- 
über allen  andern  teilnehmern  an  dem  zuge  auszeichnet,  welche 
bescheidenheitl  nie  tritt  er,  trotz  seiner  leistungen,  mit  ansprüchen 
hervor,  nie  ist  es  ihm  um  die  eigne  person,  sondern  allemal  um  die 
sache  zu  thun.  vom  ersten  augenblick  an,  wo  er  hervortritt,  ja  in 
den  worten,  mit  welchen  der  schriftsteiler  den  Strategen  einführt, 
leuchtet  die  Selbstlosigkeit,  der  dienende  gehorsam,  in  welchem  er 
sich  zu  der  sache,  die  er  übernimmt,  stellt,  hervor,  wie  gegen  die 
andern ,  so  zeigt  er  besonders  Cheirisophos  gegenüber  bescheidene 
Zurückhaltung ;  seine  wähl  zum  oberfeldherrn  verbittet  er  sich,  auf 
die  vielfachen  angriffe,  welchen  er  seitens  der  Griechen  selber  aus- 
gesetzt ist,  erfolgt  immer  die  gleiche  sachliche  antwort!  wie  weisz 
er  mit  der  gehässigkeit  eines  Soteridas  fertig  zu  werden  (III  4, 47 ff.), 
statt  der  gebührenden  derben  antwort  überführt  er  den  frechen 
schmäher ,  indem  er  vom  rosse  herabspringt  und  selbst  die  last  der 
waffen  trägt,  ein  erhebendes  beispiel  für  alle,  aber  Xenophon  hat 
noch  andere  schöne  eigenschaften,  wegen  deren  wir  ihn  als  menschen 
lieb  gewinnen,  dahin  rechnen  wir  seine  demut  gegenüber  der  gott- 
heit,  seine  frömmigkeit,  seine  Offenheit  wie  überhaupt  seine  reine 
gesinnung,  dahin  gehört  auch  sein  humor.  mit  so  köstlichem  humor, 
wie  er  z.  b.  V  7  in  der  Zurückweisung  der  gegen  ihn  erhobenen  an- 
klagen oder  IV  6  in  der  bemerkung  über  die  spartanische  sitte  des 
stehlens  der  knaben  hervortritt,  kann  in  so  gefahrvoller  läge  nur 
ein  mann  sprechen ,  der  sich  den  ihn  umringenden  gefahren  nicht 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaua.       37 1 


blobz  völlig  gewachsen  weisz,  sondern  dessen  persönlichkeit  auch 
ausgereift  und  abgeklärt  ist,  in  dem  das  gemüt  eine  macht  ist.  das 
ist  in  kurzen  strichen  entworfen  das  bild  des  heerfuhrers  Xenophon, 
wie  es  dem  schüler  aus  der  Anabasis  entgegenstrahlt,  wir  können 
wohl  behaupten,  dasz  es  danach  angethan  ist,  das  sympathetische 
interesse  des  Schülers  zu  gewinnen,  der  in  ihm  den  groszen,  tapfern 
und  umsichtigen  mann  hochschätzen  und  den  edlen,  vaterlands- 
liebenden und  guten  menschen  lieben  lernt.21 

Aber  auch  für  den  Schriftsteller  Xenophon  ergeben  sich 
noch  eine  reihe  recht  günstiger  charakterzüge  aus  der  Anabasis, 
was  selbst  der  schüler  aus  der  lectüre  dieser  bald  herausmerkt,  ist 
die  objectivität  des  autors.  nirgends  drängt  sich  die  person  des- 
selben hervor,  streng  sachlich,  scheint  es,  ist  der  darsteller  verfahren, 
indem  er  dem  Strategen  Xenophon  gerechtigkeit  widerfahren  liesz, 
nicht  aber  ihn  auf  kosten  anderer  pries,  diese  Wahrheitsliebe, 
die  auch  die  übrigen  Schriften  des  Xenophon  durchweht,  ist  an  sich 
ein  hoher  sittlicher  vorzug  seiner  werke,  für  die  schule,  welche  zu 
ihr  zu  erziehen  hat,  wird  sich  ihr  läuternder  einflusz  nicht  verleug- 
nen, wie  sollte  sich  der  führung  dieses  autors  der  leser  nicht  gern 
anvertrauen,  mag  derselbe  den  rückzug  der  zehntausend  schildern 
oder  das  leben  und  die  lehre  seines  meisters  Sokrates.  ein  zweites, 
was  dem  leser  der  Anabasis  bald  zum  bewustsein  kommt,  ist  die 
hohe  Sachkenntnis  des  mannes.  freilich  etwas  selbstverständ- 
liches, aber  ich  meine,  sie  erweckt  schon  ein  günstiges  Vorurteil  für 
die  übrigen  werke  des  Schriftstellers  Xenophon.  von  der  bescheiden  - 
heit  und  Selbstlosigkeit  des  heerführers  Xenophon  war  schon  die 
rede,  erst  recht  gilt  sie  vom  Schriftsteller,  so  gestaltet  sich  das  bild 
des  Verfassers  der  Anabasis  als  das  eines  hervorragenden  Strategen, 
eines  ganzen  mannes  und  nicht  minder  edlen  menschen ,  wie  auch 
eines  ebenso  anregenden  als  liebenswürdigen  fUhrers.  doch  auch  auf 
die  formelle  seite  der  bearbeitung  seines  Stoffes  müssen 
wir  einen  blick  werfen,  denn  mag  das  interesse  an  einem  Schrift- 
werke in  noch  so  hohem  masze  durch  die  person  des  Verfassers  und 
durch  den  stoff  bedingt  sein ,  so  hängt  es  doch  zum  nicht  geringen 
teile  auch  von  der  art  der  darstellung  ab,  von  der  übersichtlichen, 
klaren  anordnung  des  Stoffes,  der  anschaulichkeit  der  erzählung  und 
beschreibung  und  der  lesbarkeit  des  stils.  über  die  Vorzüge  der 
Anabasis  nach  dieser  seite  hin  brauchen  wir  kein  wort  zu  verlieren : 
die  knappe,  sachliche  erzählungs-  und  schilderungsweise  Xenophons, 
seine  anmutige  spräche  und  oft  humoristische  darstellungsweise  haben 
ja  von  jeher  unangefochten  als  solche  gegolten. 

Wie  es  scheint,  in  Widerspruch  zu  dem  manne  des  praktischen 
handelns,  dem  tüchtigen  militär  steht  derphilosophXenophon. 
die  für  uns  im  folgenden  in  betracht  kommenden  werke,  die  Memo- 

"  mit  recht  mahnt  G.  Radtke  a.  a.  o.  8.  35:  'vor  allem  aber  mnsz 
der  lehrer  eine  herzliche  liebe  zu  der  Persönlichkeit  Xenophons  bei  den 
Schülern  erwecken.» 

24» 


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372      Der  didaktische  wert  de«  Xenophontischen  Agesilaus. 

rabilien,  die  Cyropädie  und  der  Agesilaus  (über  die  Hellenika  haben 
wir  schon  oben  unsere  ansieht  geäuszert)  tragen  wesentlich  philoso- 
phischen gehalt  in  sich.  Xenophon  erscheint  in  ihnen  als  der  eifrige 
schüler  des  Sokrates.   so  ergibt  sich  uns  eine  wesentliche  er- 
gänzung  des  bisher  gefundenen  bildes,  Xenophon  ist  auch  ein  denker, 
und  zwar  ein  selbständiger  und  recht  ernster,   er  verzeichnet  nicht 
nur ,  wie  er  versichert ,  und  wir  haben  ja  grund  ihm  aufs  wort  zu 
glauben,  möglichst  getreu  die  lehren  seines  weisen  meisters  über  das 
weite  gebiet  des  menschlichen  lebens,  sondern  er  wendet  dieselben 
auch  selbständig  an  auf  sein  lieblingsthema,  das  konigsideal.  bleiben 
wir  zunächst  bei  dem  bilde  desXenophon  als  eines  schülers 
und  freundes  stehen,  denn  das  Verhältnis  des  letzteren  ist  es  ja, 
in  dem  er  zu  seinem  lehrer  stand,  wahrlich  ein  seltenes  beispiel  der 
freundestreue,  die  Memorabilien,  einer  treue,  die  sich  nach  dem  tode 
des  teueren  golden  bewährt   welche  beleuchtung  erfahren  die  be- 
lehrungen,  welche  Xenophon  in  den  Memorabilien  seinen  lehrer  über 
die  freund schaft  erteilen  läszt,  und  welche  er  selber  in  seinen  andern 
Schriften  so  vielfach  gibt,  durch  das  beispiel  des  Schriftstellers!  es 
ist  eine  rührende  liebe  und  anhänglichkeit,  welche  Xenophon  nach 
seiner  rückkehr  im  zuge  der  zehntausend  zur  Verteidigung  des  von 
ungerechten  Hentern  zum  tode  verurteilten  Sokrates  treibt,  sie 
drängt  ihn  das  reine,  fleckenlose  leben  dieses,  seine  lehre  und  den 
mit  ihr  übereinstimmenden  wandel  vor  aller  weit  zu  bezeugen  —  so 
handelt  der  wahre  freund  und  der  rechte  schüler.   und  noch  eine 
beobachtung  drängt  sich  bei  diesem  bilde  auf.  der  mann ,  welcher 
mitten  im  thatkräf tigen ,  praktischen  wirken  steht,  zeigt  eine  so 
warme  hingäbe  an  seinen  lehrer,  eine  so  frische  begeisterung, 
wie  sie  sonst  nur  dem  jugendlichen  alter  eigen  zu  sein  pflegt,  wer 
vermöchte  wohl  ohne  tiefere  rührung  die  totenklage  zu  lesen,  welche 
Xenophon  in  den  Memorabilien  seinem  lehrer  darbringt!  freilich 
kein  weichliches  jammern ,  sondern  eine  ernste ,  männliche  spräche, 
in  welcher  der  welterfahrene  mann  um  den  dem  misverstande  und 
der  bosheit  zum  opfer  gefallenen  klagt,  ich  meine,  das  ist  das 
schönste,  was  der  schriftsteiler  Xenophon  der  jugend 
zu  bieten  vermag,  seine  begeisterung  für  den  groszen 
und  seinem  herzen  teueren  lehrer.  diese  begeisterungsfahig- 
keit,  wie  sie  nur  einem  edlen  herzen  entspringen  kann,  reiszt  auch 
den  blödesten  mit  und  führt  ihn  in  eine  ideale  Sphäre,  die  nicht  ohne 
reichen  sogen  für  ihn  sein  wird,    vermag  überall  die  wärme  des 
tones,  gepaart  mit  sachlicher  behandlungsweise,  den  leser  zu  packen, 
so  gilt  das  ganz  besonders  für  die  Sokratischen  Schriften  Xenophons. 

Freilich ,  das  ist  zuzugestehen ,  ein  groszer  philosoph  ist  Xeno- 
phon nicht,  und  die  ausstellungen ,  welche  E.  Zeller  2  nach  dieser 
Seite  an  seinen  werken  macht,  sind  vom  Standpunkt  des  geschicht- 
schreibers  der  philosophie  aus  berechtigt,   weder  hat  Xenophon  die 

82  fdie  philosophie  der  Griechen  in  ihrer  geschichtlichen  entwick- 
lung'»  II  1  a  200. 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilans.  373 

weite  des  Sokratischen  gesichtskreises  auch  nur  annähernd  erschöpft 
noch  ist  er  dem  meister  in  die  tiefe  der  Untersuchung  gefolgt,  noch 
hat  er  endlich  die  lehren  desselben  immer  richtig  verstanden :  wie 
hätten  wir  auch  von  einem  manne,  der  im  praktischen  leben  so 
groszes  leistete,  eine  derartige  feinheit  der  dialektik,  Uberhaupt  eine 
bedeutendere  speculative  anläge  erwarten  sollen,  aber  was  den  philo- 
sophischen köpf  ausmacht ,  das  interesse  an  der  forsch  ung  um  ihrer 
selbst  willen  und  die  fähigkeit  den  dingen  tief  und  selbstfindig  nach- 
zudenken, beides  beweist  er  in  seinen  werken,  und  was  im  beson- 
deren sein  Verhältnis  zu  8okrates  betrifft,  so  hat  er  gewis  diesen 
altmeister  in  seinen  speculationen  vielfach  nicht  richtig,  wenigstens 
—  und  das  ist  ja  groszen  männern  gegenüber  natürlich  —  einseitig 
aufgefaszt ;  aber  das,  was  er  uns  von  dem  bilde  des  weisen  gibt,  ent- 
schädigt uns  reichlich  für  diese  einseitigkeit.  auch  haben  wir  es  ja 
hier  nicht  mit  dem  Schriftsteller,  bzw.  philosophischen  Schriftsteller 
Xenophon  zu  thun,  sondern  mit  dem  schulschriftsteller.  und  da 
kommt  es  für  uns  allein  auf  die  beantwortung  der  frage  an:  trägt 
das  bild ,  welches  Xenophon  von  seinem  meister  Sokrates  entwirft, 
und  tragen  seine  selbständigen,  an  die  Sokratische  philosophie  an- 
geschlossenen leistungen  die  merkmale  an  sich,  welche  seinen  werken 
einen  bildenden  einflusz  auf  die  jugend  sichern?  besinnen  wir  uns 
auf  den  zweck  der  Memorabilien,  nemlich  die  reinheit  und  unantast- 
barkeit des  lebens  wie  der  lehre  des  Sokrates  nachzuweisen,  so  müssen 
wir  zugeben,  dasz  der  autor  dieser  aufgäbe  glänzend  genügt  hat. 
das  bild  des  weisen  strahlt  uns  entgegen  als  das  des  sittlich -guten 
menschen,  des  patrioten  und  —  sagen  wir  es  gleich  heraus  —  des 
sittlichen  reformators  seines  volkes."  was  Xenophon  bieten 
wollte,  war  nicht  ein  erschöpfendes  bild  des  philosophen 
Sokrates,  sondern  das  des  lehrers  und  Staatsbürgers 
8okrate8.  und  dieses  bild  trägt  nicht  blosz  die  begeisternden  ztige 
des  geliebten  freundes,  dessen  tücbtigkeit  und  Verdienste  um  das 
gemeinwohl  mit  leuchtenden  färben  geschildert  werden ,  sondern  es 
gibt  uns  auch  eine  völlig  deutliche  anschau  ung  von  der  staatserhal- 
tenden lehrthätigkeit  desselben,  nicht  blosz  ihn  selbst,  den  groszen 
und  weisen  menschen,  lernen  wir  kennen,  auch  Beine  sittliche  tbat 
für  die  dem  verfall  entgegen  eilende  Vaterstadt  verstehen  wir.  der 
weise,  gute  mitbürger,  welcher  seinen  Volksgenossen  den  einzig  noch 
möglichen  weg,  dem  politischen  untergange  zu  entgehen,  zeigte, 
nemlich  den  der  sittlichen  erneuerung,  ist  es,  von  dem  die  Memora- 
bilien handeln,  da  mag  denn  leicht  der  schein  entstehen,  als  ob  auch 
diese  schrift  'sich  durchschnittlich  wohl  kaum  über  das  gebiet  popu- 
lärer Vorschriften  für  das  tägliche  leben  erhebe',  in  der  that  jedoch 
will  seinem  zwecke  gemäsz  Xenophon  ja  nur  den  für  das  heil  seiner 
Vaterstadt  thätigen  moralphilosophen  darstellen,  und  ähnlich  sind 
die  aus  der  lehre  des  Sokrates  geflossenen  Schriften,  die  Cyropädie, 


n  vgl.  Weissenborn  a.  a.  o.  8.  9  ff. 


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374       Der  didaktische  wert  dea  Xenophontischen  AgeailauB. 

der  Agesilaus,  der  Hieron  usw.  zu  beurteilen:  sie  tragen  philoso- 
phische fragen,  wie  sie  Sokrates  angeregt  hat,  soweit  sie  für  die 
höheren  praktischen  interessen  der  menschheit  von  wert  sind,  in 
einer  auch  gröszeren  kreisen  verständlichen  form  vor.  so  muszaus 
den  Sokratischen  Schriften  Xenophons  für  den  schuler 
herauswachsen  die  Persönlichkeit  des  groszen  Sokrates 
in  seiner  lehrthätigkeit  für  das  sittliche  und  damit 
auch  politische  wohl  seiner  mitbürger,  kurz  derrefor- 
mator  Sokrates  nach  seinen  wesentlichen  zügen. 

Ein  Schriftsteller,  welcher  eine  derartige  darstellung  des  Sokrates 
sich  zur  aufgäbe  gemacht  hat,  musz  auch  nach  einer  andern  seite  hin 
den  forderungen  genügen,  welche  an  einen  schulschriftsteller  zu 
stellen  sind,  wer  das  bild  des  für  das  wohl  seiner  mitbürger  trotz 
aller  anfeindungen  und  lttsterungen  eintretenden  weltweisen  ent- 
worfen hat,  dem  musz  selber  das  wohl  seiner  Vaterstadt  und  seines 
volkes  am  herzen  gelegen  haben,  er  musz  einpatriot  sein,  so  wäre 
denn  auf  dem  kürzesten  wege  die  frage  beantwortet:  ermangelt  der 
Schriftsteller  bei  seinen  andern  groszen  eigenschaften  auch  nicht  der 
Vaterlandsliebe,  die  ein  sittliches  erfordernis  bildet,  welches  nach 
unserer  auffassungs weise  den  mann  unseren  herzen  erst  recht  nahe 
bringt?  indes  bedarf  dieser  punkt  einer  etwas  weiteren  ausfahrung. 
die  thatsachen,  dasz  Xenophon  aus  seiner  heimatstadt  verbannt  wor- 
den ist,  und  dasz  in  seinen  Schriften  mehr  Sympathie  für  Sparta  als 
für  seine  Vaterstadt  zu  tage  tritt,  könnten  gar  leicht  zu  einem  schiefen 
urteil  führen,  dagegen  berücksichtige  man  zunächst,  dasz  ein  mann, 
der  in  seinem  Agesilaus  die  Vaterlandsliebe  mit  so  warmen  worten 
preist,  der  ferner  durch  seine  aufopfernde  rückführung  der  zehn- 
tausend durch  die  that  sich  als  ein  opiXeXXrjv  wie  einer  bewiesen  hat, 
der  in  den  Memorabilien  seinen  lehrer  Sokrates  allezeit  zu  rüstiger 
mitarbeit  an  der  staatsleitung  auffordern  läszt,  tiefe  liebe  zu  seinem 
Vaterland  im  herzen  getragen  haben  musz.  und  mit  ihr  ist  seine 
spartanerfreundliche  gesinnung  wohl  zu  vereinigen ,  ja  dieselbe  er- 
klärt sich  gerade  aus  ihr.  welch  eine  wüste  zeit  die  Jahrzehnte  des 
peloponnesisch en  krieges  waren ,  wie  zumal  in  Athen  das  politische 
leben  völlig  verfiel  und  in  eine  trostlose  und  rettungslos  dem  ab- 
grand  zueilende  demagogie  entartete,  das  erfährt  der  schüler  im 
geschieh tsunterricht,  ja  er  kann  es  auch  erfahren  aus  desselben  Xeno- 
phon geschichtswerk  wie  auch  aus  dem  des  Thukydides  und  den 
politischen  reden  des  Lysias,  in  welchen  allerdings,  entsprechend 
dem  parteistand  punkt  des  redners,  die  pöbelherschaft  nicht  in  dem 
traurigen  lichte  erscheint  wie  das  sie  ablösende  oligarchenregiment 
dasz  solchen  zuständen  gegenüber  der  wahre  patriot,  welcher  die 
schreckliche  tragödie  sich  vor  seinen  äugen  abspielen  sab ,  wie  das 
Athen  der  Perserkriege  und  das  Athen  des  Penkies  eben  infolge 
seiner  freiheitlichen  Verfassung,  deren  letzte  consequenzen  von  einem 
Kleon  und  genossen  gezogen  wurden,  unaufhaltbar  dem  verderben 
entgegengieng,  sich  voller  ingrimm  von  der  demokratie  abwandte, 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus.  375 


auf  die  er,  an  sich  wegen  seiner  aristokratischen  gesinnung  eine  ver- 
dächtige persönlichkeit,  keinerlei  einflusz  zu  gewinnen  vermocht 
hatte,  wer  wollte  das  nicht  verstehen?  und  wie  es  mit  seiner  spar- 
tanerfreundlichen gesinnung  steht,  ist  dem  schüler  doch  auch  wohl 
klar  zu  machen:  was  Xenophon  an  Lacedämon  liebt,  ist,  wie  er  ja 
immer  wieder  betont,  die  starke  Verfassung  dieses  Staates  mit  seinem 
historischen,  fest  im  boden  wurzelnden  königtum.  in  einer  kräftigen, 
der  demagogie  wehrenden  conservativen  Verfassung  sah  Xenophon 
das  heil  Athens,  —  dasz  er  eine  eigennützige  oligarchenherschaft 
wünschte,  das  anzunehmen  fehlt  uns  jeder  anhält,  halten  wir  zu 
dem  eben  gesagten  noch,  was  oben  über  die  auffassung  des  bildes 
des  Sokrates  bemerkt  wurde,  so  wird  uns  die  politische  Stellung 
Xenophons  nicht  zu  den  geringsten  pädagogischen  bedenken  anlasz 
geben,  im  gegenteil  sein  warm  patriotisch  empfindendes  herz  wird 
uns  für  die  schulzwecke  den  mann  nur  noch  lieber  machen. 

Fügen  wir  die  übrigen  züge,  welche  das  bild  des  Schriftstellers 
Xenophon  trägt,  hinzu,  die  überzeugungstreue  seiner  politischen 
gesinnung  hat  man  nie  zu  verdächtigen  gewagt ,  überhaupt  ist  alle- 
zeit seine  eh  renhafte,  tüchtige  gesinnung  anerkannt  worden, 
und  dasz  er  ritterlich  und  vornehm  in  seinem  empfinden  und  denken 
war,  davon  sprechen  seine  Schriften  auf  schritt  und  tritt,  seine  Wert- 
schätzung ritterlicher  Übungen,  des  kampfes  und  der  jagd  mag  nur 
beispielshalber  angeführt  werden,  seine  religiöse  gesinnung 
zeigt  sich  nicht  nur  in  seinem  eignen  leben  in  verschiedenen  in  der 
Anabasis  erzählten  zügen ,  sondern  vor  allem  in  vertiefter  weise  in 
den  lebensbildern ,  welche  er  von  Cyrus,  Agesilaus  und  besonders 
von  Sokrates  entwirft,  dasz  überhaupt  sein  sinn  in  hohem  masze 
dem  idealen  zugewandt  war,  darüber  braucht  man  bei  dem  Ver- 
fasser der  Memorabilien  wohl  kein  wort  zu  verlieren,  so  tritt  uns 
in  Xenophon  ein  gediegener,  wahrhaft  sittlicher  Cha- 
rakter entgegen,  der  wohl  dazu  angethan  istnach  den 
verschiedensten  Seiten  hin  das  interesse  der  schüler 
zu  gewinnen,  und  der  reiche  bildungsmomen te  in  sich 
birgt,  vor  allem,  erwähne  ich  noch  einmal,  Xenophon  als  der 
freund  und  schüler  seines  meisters  Sokrates,  als  der 
warmherzige  patriot  und  der  mann  der  that  wie  nur 
einer. 

Glauben  wir  so  gezeigt  zu  haben,  dasz  Xenophon  in  dem  sinne 
eine  ideale  gestalt  ist,  wie  wir  sie  für  den  Umgang  mit  dem  schüler 
fordern,  und  dasz  darum  auch  seine  werke  reichen  bildungsgehalt 
besitzen,  so  ist  doch  noch  die  formelle  seite  dieser  zu  besprechen, 
Xenophon  als  Schriftsteller  im  besonderen  zu  behandeln,  von  dem 
stofflichen  interesse,  welches  der  schüler  seinen  Schriften  entgegen- 
bringt, ist  später  zu  sprechen,  hier  geht  uns  zunächst  nur  seine 
art  der  darstellung  an.  so  sehr  die  meisterhafte  kirnst  Xenophons 
in  der  Anabasis  allgemein  bewundert  wird ,  so  oft  hört  man  hin- 
gegen tadel  gegen  die  Sokratischen  Schriften  in  dieser  beziehung 


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376       Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus. 

aussprechen,  sie  leiden  an  übermäsziger  breite ,  so  lautet  ein  be- 
liebter yorwurf.  es  ist  nicht  zu  leugnen,  dasz  die  eigenart  des  Stoffes 
den  Verfasser  der  Cyropädie  zu  behaglichem  siebergehen  in  breiter 
anläge  des  ganzen  verlockt  und  verleitet  hat,  und  dasz  das  werk  an 
manigfaltigen  Wiederholungen  leidet,  ebenso  wenig ,  glauben  wir, 
ist  es  möglich  das  interesse  des  schülers  für  die  leetüre  der  ganzen 
Memorabilien  wach  zu  erhalten;  stofflich  sowohl  wie  in  der  art  der 
behandlung  tritt  in  den  gesprochen  häufig  schon  früher  gelesenes  in 
wenig  veränderter  gestalt  entgegen,  für  die  dritte  in  bet rächt  kom- 
mende schrift,  den  Agesilaus,  läszt  sich  ein  derartiger  Vorwurf  nicht 
erheben,  weil  dieselbe  im  ersten  teil  durchaus  lebendig  und  anschau- 
lich ,  im  zweiten ,  theoretischen  teil  kurz  und  bündig  gehalten  ist 
aber  auch  bezüglich  der  Cyropädie  und  der  Memorabilien  sind  diese 
mängel,  so  weit  sie  für  die  didaktik  in  betracht  kommen,  leicht 
genug  zu  beseitigen:  man  liest  eben  mit  aus  wähl,  wie  das  ja  auch 
sonst  bei  gröszeren  werken  zu  geschehen  pflegt,  werke,  welche  in  all 
ihren  teilen  von  gleicher  vorzüglichkeit  sind ,  wie  die  Homerischen 
dich  hingen,  sind  ja  ausnahmen,  und  da  suche  man  die  in  der  spräche 
lebendigsten  und  anschaulichsten  partien,  und  an  solchen  ist  in  beiden 
werken  kein  mangel ,  im  gegenteil  dürfte  die  wähl  des  besten  nicht 
immer  leicht  werden,  sich  heraus  und  verarbeite  das  übrige  mit  ihnen 
zu  einem  ganzen,  einfach  und  auch  für  einen  anfänger  leicht  zu  be- 
wältigen ist  ja  überhaupt  die  diction  und  darstellungs weise  Xeno- 
phons,  auf  wesentliche  Schwierigkeiten  dürfte  derselbe  kaum  je 
stoszen. 

Indem  wir  die  frage  nach  der  didaktischen  bedeutung  des  Stoffes 
der  Somatischen  Schriften  einstweilen  unerledigt  lassen,  untersuchen 
wir  hier  blosz  die  darstellung,  in  welcher  Xenophon  diesen  stoff 
seinen  lesern  bietet,  um  deren  didaktische  Verwendbarkeit  zu  prüfen, 
dasz  eine  theoretische  behandlung  derSokratischen  philosophie,  auch 
wenn  ihr  die  beschränktheit  des  Xenophontischen  Standpunktes  an- 
haftete ,  über  den  Standpunkt  der  secunda  hinausgienge ,  ist  wohl 
zweifellos ,  da  selbst  die  in  so  gefälliger  form  vorgetragenen  lehren 
des  Plato  in  der  obersten  classe  noch  Schwierigkeiten  genug  be- 
reiten, und  so  dürfen  wir  es  denn  als  den  hauptvorzug  der  behand- 
lungsweise,  welche  Xenophon  dem  stoffe  hat  angedeihen  lassen,  auf- 
fassen, dasz  er  die  moralphilosophie  keines  meisters  in  eine  praktische 
form,  an  anschauliche  Vorgänge  und  Verhältnisse  des  täglichen  lebens 
anknüpfend,  kleidet  und  sich  nie  durch  speculative  Untersuchungen, 
welche  an  die  geistige  kraft  des  schülers  zu  hohe  anforderungen 
stellen  würden,  unterbricht,  in  den  Memorabilien  sind  die  dialoge, 
welche  in  lebhaftem  gange  den  gegenständ  behandeln,  kurz,  und  der 
grundgedanke  wird  in  knapper  darlegung  durchgeführt,  so  dasz  etwa 
mit  ausnähme  des  wichtigen  und  gedankenreichen  gespräebs  II  1 
über  die  wahre  freiheit  die  behandlung  derselben  nicht  über  eine 
reihe  von  Unterrichtsstunden  hingezogen  zu  werden  braucht,  was 
nicht  im  interesse  des  Unterrichts  läge,  die  Cyropädie  und  der 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophonti sehen  Agesilaus.  377 

Agesilaus  behalten  mehr  oder  weniger  politische  oder  kriegerische 
Verhältnisse  durchgängig  im  auge,  so  dasz  auch  hier  der  schüler  nicht 
etwa  mit  abstractem  gedankenstoff  beschäftigt  wird,  dazu  ist  die 
auffassungsweise  Xenopbons  für  secundaner  durchweg  verstund  lieh 
oder  kann  es  wenigstens  mühelos  gemacht  werden,  fast  nirgends 
werden  Verhältnisse  und  anschauungen  als  allgemein  bekannt  voraus- 
gesetzt, sondern  der  stoff  wird  auch  in  seinen  einzelneren  erschöpft. 

Um  noch  ein  formales  dement  zu  erwähnen,  so  schlieszt  sich 
die  spräche  der  Cyropädie  am  leichtesten  an  die  der  Anabasis ,  mit 
welcher  sie  die  flieszende  und  klare  diction  gemein  bat,  an,  der 
schüler  hat  also  keine  wesentliche  formelle  Schwierigkeit  in  der  be- 
wältigung  dieser  leetüre.  den  Übergang  auf  die  spräche  der 
Memorabilien  macht  zweckmäszig  die  leetüre  des  Age- 
silaus, welcher  vielfach  in  der  sprachlichen  fassung  an  diese  an- 
klingt, daher  dürfte  es  sich  auch  empfehlen,  ganz  ab- 
gesehen von  dem  später  zu  erledigenden  stofflichen 
i nteresse,  denselben  der  leetüre  der  Memorabilien  als 
Vorbereitung  voraufzuschicken,  ist  im  ersten  Semester  das 
geschieht*  werk  des  Herodot  in  auswahl  gelesen,  so  wird  der  Agesilaus 
schon  nm  deswillen  passend  gewählt  werden,  weil  die  längere  be- 
schäftigung  mit  dem  ionischen  dialekt  ein  möglichst  intensives  be- 
treiben des  attischen  zum  zweck  einer  tüchtigen  sprachlichen  grund- 
lage  für  prima  fordert,  der  Agesilaus  aber  gerade  in  seinem  ersten 
teil  auszerordentlich  gefällig  und  leicht  geschrieben  ist,  wie  denn  auch 
das  Verständnis  dieses  historischen  teiles  der  Schrift  aller  Schwierig- 
keiten entbehrt,  die  leetüre  demnach  eine  schnelle  sein  kann,  ander- 
seits bereitet  diese,  indem  sie  das  in  der  Cyropädie  gewonnene 
material  in  kurzer  und  knapper  Zusammenfassung  vorführt,  auf  die 
schwierigere  leetüre  der  Memorabilien  vor.  nach  meinen  wieder- 
holten erfahrungen  kann  der  Agesilaus  innerhalb  weniger  wochen 
bequem  bewältigt  werden ,  und  der  leetüre  der  Memorabilien  wird 
dann  um  so  regeres  interesse  entgegengebracht,  auch  möchte  neben- 
bei der  praktische  gesichtspunkt  nicht  ganz  abzuweisen  sein,  dasz 
der  schüler,  der  bisher  an  der  Anabasis,  der  Cyropädie  und  dem 
Herodot  gewöhnt  ist  Schriftwerke  blosz  in  auswahl  zu  lesen,  jetzt 
zum  erstenmal  gelegenheit  bekommt  etwas  ganzes  zu  bewältigen, 
wodnrch  sein  kraftgefühl  wie  nicht  minder  sein  interesse  an  der 
griechischen  litteratur  nur  eine  Stärkung  erfahren  kann.  —  Endbch 
bieten  die  Memorabilien  auch  in  ihrer  gesprächsform  passend  eine 
Vorbereitung  auf  die  leetüre  des  Plato. 

HI.  Der  didaktische  wert  der  Sokratischen  Schriften 

Xenophons. 

Wir  behandeln  auch  jetzt  noch  die  drei  Schriftwerke,  die  Cyro- 
pädie, den  Agesilaus  und  die  Memorabilien,  zusammen :  sie  sind  ins- 
gesamt der  au8flusz  und  die  darstellung  Sokratischer  lehren ,  und 


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378       Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaos. 

ehe  der  im  Agesilaus  im  besonderen  liegende  bildungsgehalt  einer 
eingehenden  Würdigung  unterzogen  wird,  müssen  wir  denselben  im 
Zusammenhang  mit  der  voraufgegangenen  lectüre  der  Cyropädie  und 
der  nachfolgenden  der  Memorabilien  untersuchen,  d.  h.  seine  bildungs- 
momente  im  Zusammenhang  mit  denen  der  andern  beiden  Schrift- 
werke, mit  welchen  zusammen  sie  erst  einen  festen  einheitlichen 
gedankenkreis  ergeben,  behandeln,  dieser  gedankenkreis  gruppiert 
sich  um  die  gestalt  des  philosophen  Sokrates  und  seine  moralpbilo- 
sophie.  um  den  didaktischen  wert  der  drei  Schriften  zu  erweisen, 
müssen  wir  einmal  die  geschichtliche  persönlich keit  des  Sokrates, 
wie  der  schüler  sie  aus  ihnen  gewinnen  kann,  auf  ihre  bedeutung 
für  die  anschauungsweit  dieses  prüfen,  sodann  die  brauchbarkeit  der 
Sokratischen  lehre,  wie  sie  in  ihnen  zur  darstellung  gelangt,  für  die 
gesamten  unterrichtszwecke.  tritt  übrigens  die  gestalt  des  philo- 
sophen auch  in  den  beiden  erstgenannten  Schriften  noch  nicht  faszbar 
hervor,  so  weist  doch  auch  in  diesen  schon  alles  auf  sie  hin  und  ihr 
geist  beherscht  den  gesamten  gedankenkreis,  so  dasz  wesentliche 
züge  ihres  bildes  schon  hier  gewonnen  werden. 

Soll  die  geschichtliche  gestalt  des  Sokrates  ein  für 
die  unterrichtszwecke  fruchtbares  object  sein,  so  musz  derselben 
geschichtliche  grösze  und  bedeutung  innewohnen,  sie  musz  typischen 
gehalt  haben  und  die  eigenschaften  besitzen,  um  dem  schüler  ein  lieber 
und  begehrter  Umgang  zu  werden,  und  gewaltig  genug  ragt  der 
Sokrates  der  geschichte  aus  der  Griechen- ,  überhaupt  aus  der  alten 
weit  empor,  in  der  geistigen  entwickelung  derselben  bezeichnet  er 
als  vater  der  philoaophie  einen  merkstein,  dessen  ungeheuere  bedeu- 
tung auch  für  unsere  cultur  deutlich  vor  äugen  liegt  kein  name 
aus  der  alten  weit  bedeutet  für  die  gesamte  geistige  entwickelung 
der  menschheit  so  viel  als  dieser,  diese  universelle  bedeutung  des 
Sokrates  als  des  begründers  aller  philosophischen  Wissenschaft,  im 
besonderen  des  geistigen  vaters  der  Platonischen  und  Aristotelischen 
Philosophie,  sowie  der  griechischen  philosophenschulen,  wie  er  sie 
aus  Ciceros  Schriften  später  kennen  lernt,  springt  auch  dem  schüler 
klar  in  die  äugen.  Sokrates  lehrt  die  menschheit  sich  über  sich  selbst 
sowie  die  umgebende  weit  klar  zu  werden;  er  lehrt  den  menschen 
nachdenken  über  das  eigne  ich,  über  seine  bestimmung,  die  mittel 
derselben  zu  genügen ,  über  die  Stellung  des  einzelnen  zur  familie, 
seinen  mitmenschen  gegenüber,  dem  Staate;  sie  sollen  sich  klar 
machen,  was  das  wesen  des  menschen  ist,  der  familie,  des  Staates, 
all  diese  Verhältnisse  und  bedingungen  sollen  ein  gegenständ  tieferen 
nachdenkens  werden,  und  dies  soll  zu  einer  systematisch  begründeten 
Weltanschauung  führen,  freilich  der  Xenophon tische  Sokrates 
begnügt  sich  nicht  damit,  dem  menschen  die  aufgäbe  zuzuweisen, 
über  die  begriffe  der  dinge  nachzudenken,  er  stellt  auch  die  frage 
nach  dem  zwecke  dieser  geistigen  arbeit,  er  will  diese  in  den  dienst 
der  eignen  Vervollkommnung,  in  den  dienst  der  arbeit  an  den  seinen, 
in  den  dienst  an  der  gesamtheit  im  staatsieben  gestellt  wissen,  auch 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus.  379 


die  philosophie  soll  die  aufgaben  des  einzelnen  wie  der  gesamtheit 
erfüllen  helfen,  vor  allem  soll  sie  der  moralischen  besserung  dienen, 
indem  er  alle  sich  dieser  nicht  unterordnenden  fragen  verwirft,  cha- 
rakterisiert Xenophon  seine  lehrtbätigkeit  Mem.  I  1,  12  durch  das 
seinem  Verfasser  so  oft  zum  Vorwurf  gemachte  wort:  Kai  TTpüJTOV 

H^V  aUTÜJV  dCKÖTT€l,  1TÖT€pd  7TOT€  VOUicaVTCC  IküVÜJC  {\bf\  TfivöpUJ- 

TTiva  eibevai  £pxoviai  (nemlich  die  philosophen)  im  tö  Trepi  tüuv 
TOiouTUJV  (nemlicb  astronomie ,  pbysik  u.  ä.)  qppo  vn£€iv,  f)  xd  faev 
dvöpujTnva  nap^vTec,  to  öaiuövia  bk  ckottoövtcc  f|YoövTai  to 
rrpocriKovTa  TTpotTieiv.  so  ersteht  in  dem  Xenophontischen  Sokrates 
ein  gewaltiger  prediger,  dessen  mahnruf  noch  heute  an  uns  mächtig 
erschallt,  und  wenn  wir  so  in  ihm  nicht  blosz  den  groszen  philo- 
sophen, sondern  auch  den  propheten  sehen  wollen,  welcher  mit  lauter 
stimme  der  menschheit  ihre  aufgaben  vorhält,  so  bekommt  die  ge- 
stalt  desselben  doch  noch  ein  ganz  anderes  aussehen,  es  scheint,  als 
ob  dieser  mann  weit  hinausrage  aus  der  ihn  umgebenden  weit  des 
Heidentums,  er  scheint  mit  seiner  buszpredigt  den  boden  desselben 
zu  verlassen  und  eine  Vertiefung  des  sittlich-religiösen  bewustseins 
darzustellen,  wie  wir  eine  solche  für  das  Christentum  in  anspruch 
nehmen,  und  die  tugenden ,  welche  er  lehrte ,  lebte  er  in  frömmig- 
keit  und  reinheit  seinen  mitbUrgern  vor;  wie  er  durchaus  selbstlos 
war,  so  galt  seine  ganze  thätigkeit  seinem  berufe  diese  zu  bessern. 
Sokrates  ist  eben  eine  der  edelsten  erscheinungen  des  Griechentums; 
das  streben  nach  heiligung,  welche  auch  diesem  nicht  fehlte,  findet 
in  ihm  einen  seltenen  und  rührenden  ausdruck.  dieser  Sokrates 
zeigt  dem  schüler,  wie  das  griechische  leben  in  der  pflege  des 
schönen ,  dem  genusz  des  daseins  und  seiner  politischen  Gestaltung 
sich  doch  noch  nicht  erschöpft  hat,  wie  denn  doch  auch  eine  tiefere, 
sittlich -ernste  und  wahrhaft  religiöse  lebensauffassung  wenigstens 
dem  kern  nach  im  Hellenentum  steckt,  wenngleich  derselbe  zur  ent- 
faltnng  nur  in  wenigen  geschichtlichen  gestalten  gekommen  ist.  in 
dieser  beziehung  bietet  Sokrates  eine  wesentliche  ergän- 
zung  des  Griechentums,  aber  er  weist  zugleich  über 
dasselbe  hinaus,  freilich  zeigt  er,  wie  seiner  mitweit,  so  auch 
uns,  wie  weit  es  der  mensch  in  seiner  Vervollkommnung  mit  sitt- 
lichem ernste  zu  bringen  vermag,  wie  weit  er  ein  tugendhaftes  und 
gottwohlgefälliges  leben  anzustreben  vermag,  aber  auf  der  andern 
seite  bleiben  auch  für  einen  Sokrates  noch  so  viel  fragen  offen,  dasz 
an  seinem  bilde  klar  zu  erkennen  ist,  wo  die  grenzen  des  Heiden- 
tums liegen,  wie  weit  dasselbe  aus  eigner  kraft  überhaupt  nur  zu 
gelangen  im  stände  war."  und  so  ist  auch  in  dieser  beziehung 
der  Xenophon  tische  Sokrates  eine  typische  gestalt,  welche  die  ge- 


u  für  Plato  vgl.  die  schöne  Zusammenstellung  J.  Rothfuchs'  im 
Programm  des  evangel.  gymnasinms  za  Gütersloh,  Ostern  1878  'paral- 
lele und  sich  schneidende  linien  Sokratischer  und  christlicher  lebens- 
weisheit'. 


380       Der  didaktische  wert  des  Xenophontiachen  Agesilaus. 

achichtliche  auffassung  des  Schülers  wesentlich  bereichern  und  ver- 
tiefen kann. 

Tragt  das  bild  dieses  mannes  nach  der  bisherigen  darlegung  in 
gewisser  beziehung  einen  kosmopolitischen  charakter,  weist  der 
Philosoph  und  der  lehrer  der  humanität  auch  Über  die  grenzen  des 
Griechentums  hinaus,  so  zeigt  sich  doch  der  Sokrates  des  Xenophon 
auch  als  ein  wahrer  Grieche  in  seiner  Vaterlandsliebe,  man 
braucht  nicht  einmal  an  seine  Widerlegung  des  Aristippischen  ircrv- 
TCtxoC  eifu,  «mundanus  sum'  zu  denken  (Mem.  II  1),  in  welcher  er 
die  Zugehörigkeit  zu  einem  Staatswesen  gegenüber  einem  trostlosen 
Weltbürgertum  verteidigt,  sein  leben  und  seine  lehre  stehen  überall 
im  dienste  seiner  Vaterstadt,  wie  er  denn  ohne  anmaszung  seinen 
richtern  gegenüber  sich  rühmen  konnte,  er  habe  einen  ehrenplatz 
im  prytaneum  zu  beanspruchen,  vgl.  Mem.  I  2,  61  ff.  damit  gehen 
wir  zur  Würdigung  der  geschichtlichen  bedeutung  des  Sokrates  im 
engeren  sinne  über. 

Sokrates  lehrte  in  dem  entarteten  Athen,  in  der  durch  den 
peloponnesischen  krieg  völlig  zerrütteten  Stadt,  wie  er  in  dem  be- 
rüchtigten Arginusenprocess  den  leidenschaften  des  Volkes  mit  ruhiger 
Überlegenheit  gegenübertrat  (Mem.  I  1,  18),  so  suchte  er,  furchtlos 
auch  den  erbittertsten  politischen  gegnern  und  den  machthabern 
gegenüber,  das  volk  zu  kräftigen,  indem  er  demselben  ernst  und  be- 
stimmt die  wege  wies,  auf  denen  es  besserung  erhoffen  konnte,  es 
galt  ihm  die  Schäden  der  demokratie  zu  beseitigen  (z.  b.  Mem.  I 
2,  9  ff.),  aber  auch  positiv  tüchtige  naturen  zu  energischer  mitarbeit 
an  dem  wohle  des  Staates  anzutreiben ,  wie  er  denn  selbst  mehrfach 
in  seinem  leben  sich  in  den  unmittelbaren  dienst  seines  Vaterlandes 
gestellt  hat ,  im  übrigen  freilich  durch  seine  lehrthätigkeit  seinen 
Patriotismus  am  besten  zu  erweisen  glaubte,  vor  allem  sab  er  klar 
—  und  die  geschiente  hat  ihm  recht  gegeben  — ,  dasz  nur  durch 
eine  völlige  Umgestaltung  des  wesens,  durch  eine  sittliche  erneue- 
rung  ein  entrinnen  aus  dem  allgemeinen  Untergang  möglich  war. 
darum  seine  stete  mahnung  an  der  sittlichen  besserung  zu  arbeiten, 
sein  ruf  an  den  einzelnen  mit  allem  ernste  für  das  eigne  heil  und 
das  der  seinen  einzutreten,  seine  kräfte  ohne  rücksicht  auf  das  eigne 
behagen  in  den  dienst  des  ganzen  zu  stellen,  so  gewinnen  wir  dem 
bilde  des  Sokrates,  wie  es  Xenophon  zeichnet,  noch  eine  andere  seite 
ab,  er  ist,  oder  will  es  wenigstens  sein,  der  reformator  seines 
Volkes,  also  auch  insofern  ein  typischer  charakter,  zugleich  aber 
auch  ein  tragischer,  die  Zersetzung  und  der  verfall  de3  athenischen 
Volkes  war  schon  nicht  mehr  aufzuhalten,  Sokrates  verteidigte  einen 
verlorenen  posten,  er  muste  seine  treue  gegenüber  seinen  Volks- 
genossen mit  dem  tode  büszen. 

Ehe  wir  auf  das  Schicksal  des  Sokrates  weiter  eingehen,  sei 
ein  geschichtlicher  rückblick  gestattet,  wie  die  politische  ent Wicke- 
lung Athens  auf  dem  gymnasium  nach  unserer  obigen  darlegung 
mit  recht  einen  breiteren  räum  beansprucht,  so  musz  der  verfall 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus.  381 

dieses  Staatswesens  nach  seinen  Ursachen  und  erscheinungen  auch 
in  der  lectttre  seinen  platz  haben,  wir  wiesen  auf  Xenophons 
Hellenika  und  des  Ly6ias  reden  hin,  bemerkten  jedoch,  dasz  wir 
dieselben  lieber  durch  die  Somatischen  Schriften  Xenophons  ver- 
drängt sähen,  hier  folge  der  grund  für  diese  unsere  entscbeidung. 
die  auffassung  des  Sokrates  in  den  Memorabilien  Xenophons  flieszt 
and  ist  allein  zu  verstehen  aus  denselben  politischen  Verhältnissen, 
welche  in  jenen  litteraturwerken  in  so  grellen  färben  gemalt  sind, 
nun  hat  es  aber  pädagogisch  sein  bedenkliches,  die  schüler  an- 
haltend mit  epochen  des  allgemeinen  Verfalls  eines  Volkes  zu  be- 
schäftigen, und  anstatt  die  blute  desselben  vor  seinen  äugen  wieder- 
erstehen zu  lassen,  ihn  allzu  tiefe  blicke  in  seine  fäulnis  thun  zu 
lassen,  das  lehrreiche  dieser  wagen  wir  nicht  zu  bestreiten,  aber 
das  gemüt  des  schülers  findet  zu  wenig  nahrung  bei  derartigen 
Stoffen,  wenn  nun  aber  für  die  Memorabilien  des  Xenophon  der 
politische  und  sociale  niedergang  des  athenischen  Volkstums  die 
grundlage  bildet,  auf  der  sich  das  wirken  des  patrioten  Sokrates  er- 
hebt, und  zugleich  die  gründe  zu  seiner  Verurteilung  bietet,  so  meinen 
wir,  wäre  diese  geschichtliche  epoche  in  ihren  Wirkungen  klar  und 
deutlich  genug  in  ihnen  gezeichnet,  freilich  ist  der  leser  der  unmittel- 
baren anschauung  dieser  unsäglich  traurigen  zeit  mit  ihren  greueln 
und  ihrer  ohnmächtigen  blutherschaft  enthoben,  vielmehr  zeigt 
ihm  das  lebensbild  des  Sokrates  in  typischen  zügen, 
wie  einem  dem  abgrund  zueilenden  volke  allein  noch 
zu  helfen  ist,  lehrt  aber  auch  das  furchtbare  rzu  spätl' 
der  Weltgeschichte  in  erschütternder  weise,  demnach 
bieten  die  Memorabilien,  und  wie  wir  später  zeigen  werden,  auch  die 
beiden  andern  genannten  Schriften,  die  positive  kehrsei te  der  Schil- 
derungen des  Lysias  und  der  Hellenika ,  und  ihre  lectüre  erhebt, 
anstatt  niederzudrücken;  sie  enthält,  wenn  sie  auch  in  ebenso  deut- 
licher spräche  das  warnende  geschichtliche  beispiel  vor  äugen  hält, 
doch  daneben  des  groszen  und  gesunden  genug  an  stelle  des  kleinen 
und  krankhaften. 

Und  innerhalb  dieses  gedankenkreises  gewinntauch  das  1  e  ben  s- 
schicksal  des  Sokrates  seine  rechte  bedeutung.  weshalb  muste 
dieser  durchaus  uneigennützige,  patriotische  und  dem  dienst  der 
Wissenschaft  ergebene  mann  seinen  tod  finden?  diese  frage  musz 
dem  Bchtiler  die  lectüre  der  Memorabilien  beantworten  können ;  die 
Antwort  ist,  wenn  auch  von  Xenophon  in  herbem  schmerz  mehr  an- 
gedeutet als  deutlich  ausgesprochen ,  zwischen  den  zeilen  herauszu- 
lesen, gegen  die  vorwürfe  der  gottlosigkeit  und  der  verfuhrung  der 
jugend  seinen  lehrer  zu  verteidigen,  muste  dem  Verfasser  leicht 
werden;  bringt  er  doch  in  dem  bilde  der  segensreichen  thätigkeit 
desselben  den  besten  beweis  gegen  sie.  und  was  sonst  an  Verdäch- 
tigungen geltend  gemacht  wurde,  konnte  er  ja  mühelos  aufklären, 
sollten  aber  wirklich  die  richter  nur  um  der  bosheit  des  eignen 
herzens  willen  Sokrates  verurteilt  haben?  sprach  wirklich  auch  dem 


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382       Der  didaktische  wert  de«  Xenophontischen  Agesilaus. 

leidenschaftslosen  Athener  alles  für  Sokrates?  man  berücksichtige 
die  allgemeine  Stimmung  in  der  beurteilung  seines  wirkens,  wie  sie 
sich  in  Aristophanes  Wolken  aasspricht  (dem  schüler  von  dieser 
komödie  eine  Vorstellung  zu  geben  wäre  bei  der  lectüre  der  Memo- 
rabilien ,  bzw.  der  apologie  Piatos  am  platze);  dieselbe  entschied 
gegen  ihn.  die  gründe  für  die  Verurteilung  werden  denn  doch  wohl 
tiefer  gesucht  werden  müssen,  wenn  Sokrates  seine  schüler  zum 
nachdenken  veranlagte  über  das  Verhältnis  der  kinder  zu  den 
eitern,  der  bürger  zum  Staate,  so  handelte  er  damit  in  der  that 
dem  griechischen  volksgeiste  zuwider,  die  griechische  anschau- 
ung  schlosz  eine  kritik  der  pietäts Verhältnisse  der  famiüe  wie  der 
staatsgesetze  unbedingt  aus.  und  dann  das  mis Verständnis,  dasz  des 
Sokrates  thätigkeit  derjenigen  der  Sophisten  gleiche!  ja,  Sokrates 
wäre  schuldig  gewesen  nach  griechischer  auffassung,  —  wenn  er 
vor  andern  richtern  gestanden  hätte,  darin  liegt  die  lösung  der 
ganzen  frage :  die  Athener  des  ausgangs  des  peloponnesischen  krieges 
hatten  kein  recht  Sokrates  zu  verurteilen,  nicht  Sokrates  war  es,  der 
den  verfall  des  Volkstums,  der  väterlichen  sitte  und  des  väterlichen 
glaubens  beschleunigte,  die  Athener  dieser  zeit  glaubten  schon  längst 
nicht  mehr,  das  gift  der  Zersetzung  und  des  zweifeis  hatte  seine  Wir- 
kung längst  gethan:  Sokrates  dagegen  wollte,  wie  wir  sahen,  an 
stelle  der  allgemeinen  Verneinung  etwas  positives  setzen,  er  wollte 
die  wunden,  welche  dem  attischen  Volkstum  geschlagen  waren, 
heilen,  im  lichte  dieser  Überlegungen  musz  denn  auch  die  lectüre 
der  Memorabilien  dazu  beitragen,  den  geschichtlichen  blick 
des  schülers  zu  schärfen  und  zu  erweitern,  auch  für  die 
griechische  anschauungsweit  müssen  sich  ihm  grosz- 
artige  geschichtliche  perspectiven  erschlieszen. 

Nun  nehme  man  noch  die  übrigen  züge,  welche  die  Memora- 
bilien für  das  bild  des  groszen  weisen  bieten,  hinzu :  neben  der  schon 
oben  erwähnten  sittenreinheit  die  grosze  anspruchslosigkeit  des  nur 
güter  von  ewigem  wert  schätzenden  mannes  —  gewis  ein  typischer 
zug  für  das  bild  des  weisen,  tagtäglich  sehen  wir  ihn  thätig 
seine  mitbürger  ohne  ansehen  der  person  und  des  Standes  zu  belehren 
und  zu  bessern,  wie  anschaulich  lassen  die  gespräche,  welche  uns 
Xenophon  vorführt,  das  bild  des  philosophen  hervortreten,  wie 
musz,  nebenbei  bemerkt,  sich  der  phantasie  des  schülers  auch  Athen 
mit  seinen  platzen  und  straszen,  seinen  ballen  und  Werkstätten,  mit 
seinem  menschengewoge  beleben:  ich  zweifle  nicht,  dasz  das  bild 
Athens,  welches  der  schüler  unter  der  leitung  eines  phantasievollen 
lehrers  aus  der  lectüre  der  Memorabilien  gewinnt,  ein  anschaulicheres 
wird,  als  das  in  bloszen  topographischen  belehrungen  gebotene, 
und  wie  gern  lassen  wir  uns  von  dem  seiner  Umgebung  weit  über- 
legenen manne  führen,  der  so  viel  liebenswürdige  züge  an  sich  trägt, 
doch  wohin  will  er  uns  führen,  mit  andern  worten,  welches  ist  der 
inhalt  seiner  lehre?  wir  haben  uns  im  zusammenhange  unserer  dar- 
legung  jetzt  die  frage  vorzulegen :  bietet  die  Sokratische  lehre, 


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Der  didaktische  wert  de»  Xenophontischen  Agesilaus.  383 

wie  sie  in  den  Xenophontischen  Schriften  entwickelt  wird,  des  bil- 
denden genug  für  den  scbüler?  zur  beantwortung derselben  müssen 
wir  diese  in  ihren  grundzügen  besprechen,  wie  wir  auch  die  frage 
nach  der  methode ,  in  welcher  sie  entwickelt  wird ,  zu  untersuchen 
haben. 

Schon  oben  war  gesagt  worden,  dasz  die  So k ratischen  Schriften 
Xenophons  die  lehre  des  meistens  nicht  in  form  eines  Systems  geben, 
die  arbeit  die  in  anschlusz  an  die  bebandlung  der  lebensbilder  des 
Sokrates,  des  Cyrus  und  des  Agesilaus  gewonnenen  resultate  zu 
einem  solchen  zu  vereinigen  verbleibt  der  schule,  das  hauptsäch- 
liche sei  im  folgenden  dargestellt. 

Der  zweck  aller  moralphilosophie  ist  für  den  Xenophontischen 
Sokrates  der  oben  bereits  angegebene,  den  menschen  durch  sie  zu 
erziehen  und  zu  bilden,  an  das  ziel  der  sittlichen  bildung,  zur  sitt- 
lichen Vollkommenheit,  dpein,  genannt  als  der  in  die  äugen 
fallende  innere  wert,  KCtXoKdYaeia  in  einer  der  griechischen  anschau- 
ungsweise  eigentümlichen  Zusammenfassung  des  vorzüglich  ausge- 
stalteten inneren  und  der  ausprägung  desselben  in  der  äuszeren 
er  scheinung,  gelangt  der  mensch  durch  die  Unterweisung,  den  Unter- 
richt, freilich  wollen  die  seelischen  kräfte  geübt  werden,  zu  dem 
unterriebt  musz  eine  stete  Übung  treten,  doch  im  wesentlichen  ist 
tugend  gleich  wissen,  ein  fandamentalsatz  der  Sokratischen 
ethik  ist:  wer  das  gute  weisz,  der  thut  es  auch,  bedingung  für  den- 
selben ist,  dasz  für  die  bestimmung  des  sittlich  guten  der 
maszstab  von  den  folgen  des  thuns  hergenommen  wird,  so  dasz  das 
gute  zusammenfallt  mit  dem  nützlichen,  freilich  nicht  dem  einzelnen 
lebenszwecken  förderlichen,  sondern  dem  wahrhaft  frommenden,  weil 
den  menschen  dauernd  beglückenden  und  beseligenden  (eubaijiovia). 
indessen  will  Sokrates  das  gute  nicht  etwa  um  seiner  folgen  willen 
gethan  wissen,  in  der  aussieht  auf  lohn  oder  strafe,  sondern  das  gute 
soll  allein  um  seiner  selbst  willen  gethan  werden,  diese  Sittlichkeit 
wird  freilich  auch  in  beziehung  gesetzt  zunächst  zur  gottheit,  deren 
existenz  im  anschlusz  an  den  griechischen  Volksglauben  als  selbst- 
verständlich gesetzt  wird,  aber  auch  teleologisch  nachgewiesen  wird, 
am  schönsten  ist  es  wohl  Cyr.  VIII  7,  22  ausgesprochen,  dasz  die 
scheu  vor  der  ewigen  und  allwissenden  gottheit,  der  allmächtigen 
hüterin  der  sittlichen  weltordnung,  zum  sittlichen  handeln  bestimmen 
soll:  dXXd  Ö€ouc  Y€  touc  dei  övrac  Kai  TravT*  ^cpopüjviac  Kai 
Trdvta  buva^evouc,  oi  Kai  Trrvbc  Tf|v  tüjv  öXujv  toHiv  cuvcxouav 
ciipißf)  Kai  drripaTOv  Kai  dvaudpTryrov  Kai  utto  KdXXouc  Kai  hcy^- 
öouc  döirjYTyrov,  toutouc  cpoßoüuevoc  urjiroT*  aeeßec  un.btv  unb£ 
dvöciov  urjT€  7TOirjcr|T€  nryre  ßouXeucnrc.  und  mit  hin  weis  beson- 
ders auf  die  allwissenheit  derselben  Mem.  14,  19:  luoi  nev  toutü 
\lfwv  ou  uövov  touc  cüvövxac  dbÖKei  Tioieiv,  Ö7TÖT€  utto  dv6puj- 
ttujv  6ptuvTO,  dTT^xecGai  tüjv  dvocuuv  T€  Kai  dbucwv  Kai  aicxpujv, 
dXXd  Kai  öttötc  iv  £pnuia  clev,  inemtp  f|YT|cavTO  pntöv  äv  ttotc 
ujv  Ttparroiev  Oeouc  biaXaBeiv.  daneben  soll  aber  auch  die  rück- 


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384       Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus. 

siebt  auf  mit-  und  nach  weit  nicht  ohne  einflusz  auf  das  handeln  sein, 
besonders  bei  denen,  welche  wie  die  fürsten  den  blicken  derselben 
in  hervorragender  weise  ausgesetzt  sind,  aber  auch  für  einen  jeden 
ist  die  sittliche  scheu  vor  dem  nächsten  mit  ein  antrieb  zum  sitt- 
lichen handeln,  bzw.  eine  warnende  stimme,  unserem  gewissen  ver- 
gleichbar, das  böse  zu  meiden. 

Ist  tugend  wesentlich  gleich  wissen,  so  ist  das  höchste  gut 
die  Weisheit,  zu  ihr  musz  der  mensch  erzogen  werden,  damit 
sind  wir  schon  auf  die  verschiedenen  erscheinungsformen  des  guten, 
bzw.  des  sittlich  guten  handeln*,  übergegangen,  sie  sind,  weil  der 
auffassungsweise  des  täglichen  lebens  entsprechend,  praktisch  am 
wichtigsten,  auch  sie  sind  von  dem  Xenophontischen  Sokrates  noch 
nicht  in  ein  bestimmtes  System  gebracht,  doch  scheinen  die  Plato- 
nischen sog.  cardinaltugenden  auch  in  den  Xenophontischen 
Schriften  schon  durch. 

Die  tugend  stellt  sich  zunächst  dar  als  frömmigkeit,  evei- 
ßeia  oder  öeiabaiuo via  im  guten  sinne,  im  Verhältnis  des  menschen 
zu  der  gottheit.  sie  ist  die  grundlage  der  sittlichen  persönlichkeit, 
welche  in  allem  handeln  ihren  anfang  bei  der  gottheit  nimmt :  rroXXd, 
heiszt  es  Cyr.  I  ö,  14 ,  fdp  |uoi  cuvöviec  drricTacGe  ou  jiövov  tä 
^täXa,  dAXd  Kai  xd  uuepd  rreipujMevov  dei  coro  Oeuuv  öpuäcöai. 
kein  frevel  wiegt  schwerer  als  der  meineid.  der  wahrhaft  fromme 
hält  auch  nicht  blosz  die  heimischen  götter,  sondern  ebenso  die 
fremden  gottheiten  heilig,  mit  andern  Worten,  die  frömmigkeit  for- 
dert die  toleranz.  wie  sittenreinheit  im  leben  aus  ihr  folgt,  so  findet 
sie  ihren  wesentlichen  ausdruck  im  gebet,  im  opfer  und  in  der 
mantik,  indem  der  Xenophontische  Sokrates  auch  die  beiden  letzten 
von  der  volksreligion  geforderten  erweise  der  frömmigkeit  festhält, 
vertieft  er  sie  doch  in  wahrhaft  religiöser  auffassung.  wie  das  gebet 
der  frommen  nicht  etwa  blosz  zur  zeit  der  not,  sondern  erst  recht 
im  glücke,  als  dankgebet  zum  himmel  gesandt  wird,  so  soll  der 
mensch  in  ihm  nicht  thörichte  und  unfromme  wünsche  thun,  sondern 
er  soll  in  gläubigem  vertrauen  auf  die  allgütige  gottheit  allein  am 
den  segen  von  oben  flehen,  so  kommt  auch  bei  der  mantik  allesauf 
die  reinheit  der  gesinnung  des  fragestellers  an  (vgl.  bes.  Cyr.  VII 
2,  15  ff.),  die  geneigtheit  der  gottheit  den  menschen  ihren  willen 
durch  zeichen  kundzuthun,  folgt  aus  der  fürsorge,  mit  welcher  sie 
ihn  überall  umgibt  (vgl.  z.  b.  Mem.  I  1,  19).  insofern  als  die  gott- 
heit durch  ihre  täglichen  wohlthaten  auf  die  dankbarkeit  des  men- 
schen anspruch  hat,  übt  dieser  nur  billigkeit,  buceuoeuvr),  indem  er 
ihr  ehre  und  dank  spendet,  die  biicaiocüvr)  ist  eine  weitere  cardinal- 
tugend  der  Sokratischen  ethik:  sie  versittlicht  auch  die  Übrigen 
menschlichen  lebensverhältnisse. 

Die  tugend  der  gerechtigkeit  übt  der  söhn,  wenn  er  die 
sorge  und  liebe ,  mit  der  die  eitern  seine  kindheit  umgeben  haben, 
mit  dankbarkeit  vergilt  und  mit  zärtlicher  liebe  an  diesen  hängt, 
er  soll  auch  da,  wo  das  Verhältnis  zwischen  kindern  und  eitern  kein 


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Der  didaktiache  wert  des  Xenophontißchen  Ageailaus.  385 


ganz  ungetrübtes  ist,  diese  pflicht  der  pietät  nicht  auszer  äugen 
lassen :  ihre  Vernachlässigung  findet  die  härtesten  strafen  seitens  des 
Staates,  und  die  menschen  strafen  sie  mit  ihrer  Verachtung,  dasz 
die  kinder  den  willen  des  sterbenden  vaters  nach  dessen  tode  heilig 
halten,  wird  Cyr.  VIII  7,  22  als  stillschweigende  Voraussetzung  an- 
genommen, diese  gerech tigkeit,  welche  als  gegensatz  dem  egoismus 
gegenübersteht,  verklärt  auch  das  Verhältnis  zwischen  geschwistern 
innerhalb  der  familie.  da  soll  eins  dem  andern  nicht  blosz  seine 
liebe  vergelten,  sondern  ihm  an  freundlichkeit  und  gutem  willen 
zuvorkommen  und  ernstlich  bestrebt  sein  etwaige  mis klänge  und 
Einverständnisse  zu  beseitigen,  nicht  minder  ist  die  biKaiocuvr)  die 
grundlage  und  das  sittliche  princip  der  freundschaft.  wie  klingt  der 
preis  dieser  durch  die  Xenophontischen  Schriften  hindurch!  wie  die 
gattenliebe,  so  wird  die  freundesliebe  nach  ihrem  wesen  untersucht 
und  an  schönen  und  erhebenden  beispielen  erläutert,  kein  irdisches 
gut  frommt  dem  menschen  so  sehr  wie  die  freundschaft,  in  der  not 
wie  im  glücke,  nur  edle  naturen  können  wahrhafte  freundschaft 
schlieszen,  nur  wer  willig  und  ohne  allen  eigennutz  von  dem  seinen 
mitteilt,  vermag  sich  den  freund  zu  verpflichten  und  zu  dauerndem 
besitze  zu  machen,  an  stelle  augenblicklichen  Zerwürfnisses  tritt 
bald  die  Verständigung,  wie  zart  wird  das  freundes  Verhältnis  Cyr. 
I  6,  24  beschrieben:  tö  b€  cuvnböuevov  <pcuv€c9cu,  flv  n  äraGdv 
auToic  cuußaivrj ,  Kai  cuvaxOouevov,  r)v  ti  kcocöv,  Kai  cuveiriKOu- 
peiv  Trpo8uuouu€VOv  xaic  drropiaic  auiaiv,  Kai  qpoßoüuevov,  prj  ti 
cmaXwci,  Kai  Tipovoeiv  ireipujuevov,  ibc  ufj  copäXXujvTai ,  TaÖTa 
Ttujc  bei  uäXXov  cuuirapouapxeiv.  so  zeigt  sich  in  dem  freundes- 
dienst  der  begriff  der  biKaiOCUvr)  in  seiner  ganzen  sittlichen  kraft, 
über  ihre  bedeutung  im  Verhältnis  des  unterthanen  zum  herscher  ist 
weiter  unten  noch  zu  sprechen,  hier  sei  nur  noch  erwähnt  die  ehr- 
furcht,  welche  der  jüngere  dem  älteren  zu  zollen  hat,  die  er  äuszer- 
lich  bezeugt,  indem  er  ihm  auf  der  strasze  bescheiden  ausweicht  und 
auf  Sitzplätzen  den  Vorrang  läszt.  auch  sonst  tritt  im  verkehr  mit 
den  mitmenschen  die  gerechtigkeit  in  erscheinung  in  der  übung 
strenger  Wahrhaftigkeit,  in  der  milde  und  nachsieht  gegen  fehlende, 
endlich  ist  ein  erforde rnis  der  biKatocüvrj  die  pflicht  gegen  das  Vater- 
land: ihm,  unter  dessen  schütze  der  einzelne  bürger  lebt,  bat  dieser 
seine  ganze  kraft  zu  leihen,  es  ist  etwas  herliches  ein  qpiXöiraipic 
zu  sein. 

Wohlthaten,  materielle  ebensowohl  wie  sonstige  gunstbezeu- 
gungen,  wird  der  edle  dankbar  hinnehmen  und  so  bei  gelegenheit 
zu  vergelten  suchen,  wie  er  sie  erweist,  ohne  dank  zu  beanspruchen, 
diese  unejgenntitzigkeit,  f)  eic  xpilMOrra  bmaiocuvr)  (Ag.  IV  1),  führt 
uns  auf  die  dritte  cardinaltugend ,  die  £YKp&T€ia.  diese  tugend  der 
conti  nentia  ist  durch  unser  wort  enthaltsamkeit  nur  nach  ihrer  nega- 
tiven seite  wiedergegeben,  richtiger  werden  wir  sie  durch  selbst- 
beherschung  übersetzen,  Zügelung  der  begierden  des  fieisches, 
Unterordnung  derselben  unter  die  Vernunft,  der  weise,  also  sittlich 

N.  jahrb.  f.  phil.  a.  päd.  11.  »bt.  1891  hfl  8  u.  9.  25 


386      Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaue. 

gute  besitzt  die  herschaft  über  die  fleischlichen  begierden,  d.h.  ebenso 
wohl  die  Widerstandsfähigkeit  gegen  den  schmerz  wie  gegen  die 
lockungen  des  Sinnenreizes,  diese,  welche  dv  tlu  cujtuj  cuu^axi  cuu- 
TT€q)UT€u^dvai  ttj  ujuxr)  Treiöouciv  aurfjv  cujcppovciv,  dXXd  xfjv 
Taxicuiv  dauraic  T€  Kai  tuj  cuunait  xap^ecöai  (Mem.  I  2,  23),  sind 
mit  sittlichem  ernste,  ob  sie  sich  auf  den  fleischlichen  gennsz  oder 
auf  das  eigentum  des  nächsten  richten,  zu  bekämpfen,  wenn  anders 
der  mensch  seinen  sittlichen  beruf  erfüllen  will,  hat  er  sich  von 
ihnen  völlig  frei  zu  machen;  erst  wenn  er  zur  sittlichen  freiheit-sich 
durchgekämpft  hat,  vermag  er  in  sittlichen  lebenskreisen  erspriesz- 
lich  zu  wirken,  endlich  ist  noch  die  tugend  der  tapferkeit  und 
des  mutes,  die  dvbpeia,  zu  erwähnen,  welche  auf  der  einsieht  in  die 
wahren  gefahren  beruht  und  diesen  richtig  zu  begegnen  weisz. 

Wer  so  allemal  im  besitz  des  echten  Wissens,  der  coqnct  ist,  der 
thut  das  gute,  diesen  so  organisierten ,  sittlichen  menschen  nennt 
Sokrates  cuxppwv.  so  ist  cuMppocuvr)  sittlichkei t  schlechthin: 
der  stimme  der  Vernunft  und  des  gewissens  ordnen  sich  die  mensch- 
lichen triebe,  weiche  nach  befriedigung  des  eigennutzes  und  des 
fleisches  verlangen,  unter,  so  hat  der  philosoph  das  bild  des  wahr- 
haft guten,  weil  weisen  aufgestellt  und  das  tugendideal  nach 
seinen  wesentlichen  Seiten  umschrieben,  wenn  so  der  mensch  nach 
Vollendung  seiner  persönlichkeit  strebt,  so  trachtet  er  auch  mit  ernst 
die  lebenssphäre,  in  welche  er  gestellt  ist,  auszufüllen;  er  wird,  eine 
durchaus  sittliche  natur,  auch  alle  lebenskreise  mit  sitt- 
lichem geiste  erfüllen,  als  familienvater  schafft  er  nicht  blosz 
sein  eignes  sittliches  wohl,  sondern  er  faszt  seine  aufgäbe  dahin  auf, 
dasz  er  auch  an  dem  wohle  der  seinen  zu  arbeiten  hat,  für  dieses  an 
seinem  teil  verantwortlich  ist.  als  beamter  im  Staatsdienst  sucht  er 
seine  Stellung  nach  kräften  auszufüllen ,  überhaupt  in  jedem  beruf 
oder  Stellung  ist  er  eingedenk  des  Wortes,  dasz  nicht  der  ein  arzt, 
Stratege  usw.  ist,  der  in  dieses  amt  eingesetzt  ist,  sondern  wer  den 
pflichten  zu  gentigen  weisz,  welche  das  amt  an  ihn  stellt,  6  ^Tricrct- 
uevoe  iäcOou,  CTpaTrrfeTv  usw.  (vgl.  z.  b.  Mem.  III  4).  zu  dieser 
•  erkenntnis ,  dasz  nicht  der  name  und  äuszere  Stellung  den  wert  des 
mannes  ausmacht,  sondern  das  masz  seiner  leistungen,  soll  die  be- 
griffsmäszige  Untersuchung  der  dinge  führen,  auf  sie 
müssen  wir  noch  einen  blick  werfen,  indem  Sokrates  seine  schüler 
beobachten  lehrt,  ihren  blick  für  die  dinge  um  sich  schärft,  führt  er 
sie  zugleich  darauf  überall  zu  fragen  nach  dem  warum?  und  dem 
wozu?  und  indem  er  nun  die  verschiedenen  erscheinungsformen  der 
dinge  mit  einander  vergleicht,  lehrt  er  sie  das  wesen  dieser  erkennen, 
sie  lernen  über  die  äuszeren  erscheinungsformen  weg  in  das  wesen 
eines  jeden  dinges  einzudringen,  d.  h.  seinen  begriff  zu  erfassen, 
der  weg,  auf  welchem  dies  geschieht,  ist,  wie  schon  oben  angedeutet, 
der  der  induetion,  in  der  form  der  frage  und  antwort,  wobei  die 
Sokratische  dpiuveia  eine  wichtige  rolle  spielt. 

Wir  wenden  uns  zur  didaktischen  Würdigung  der  Somatischen 


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Der  didaktische  wert  de»  Xenophontischen  Ageaüaus«.  387 

moralpbilosophie,  wie  sie  Xenophon  darsteUt.  die  psychologie  unter- 
scheidet im  Charakter,  dessen  herausarbeitung  das  eigentliche  ziel  aller 
Unterrichtsarbeit  ist,  von  dem  wollen  selber  seine  theoretische  grund- 
lage,  wie  sie  in  den  die  willensacte  bestimmenden  Vorstellungen,  an- 
schanungen  und  Überzeugungen  besteht  und  ein  gleichmäsziges  sitt- 
liches wollen  gewährleistet,  dasz  dieses  fundament  in  der  seele  des 
schülers  möglichst  fest  und  dauerhaft  gelegt  wird ,  ist  der  höchste 
zweck,  nach  welchem  das  gymnasium  seine  bildungsstoffe  auswählt 
und  bestimmt,  und  zwar  gilt  die  arbeit  vor  allem  der  erzeugung  sitt- 
licher Werturteile,  so  wenig  sich  nun  der  Unterricht  auf  eine  blosze 
nii Heilung  solcher  beschränken  darf,  wenn  sie  nicht  nur  äuszerlich, 
gedächtnismäszig  in  der  seele  haften  sollen,  ohne  bedeutung  für  das 
handeln  zu  gewinnen,  vielmehr  ihre  erschlieszung  die  herlichste 
frucht  der  gesamten  erziehlichen  thätigkeit  ist ,  ebenso  wenig  darf 
er  darauf  verzichten  klärung  der  begriffe  auf  sittlichem  gebiet,  ent- 
schiedene urteile  über  gut  und  böse  herbeizuführen,  gewis  ist  es 
das  wahrhaft  fördernde  eines  jeden  Unterrichtsfaches,  den  schüler 
mit  sittlichen  persönlichkeiten  bekannt  zu  machen,  welche  ihm  zu 
mustern  werden  können  in  den  verschiedenen  lebenssphären ,  und 
an  welchen  er  eine  so  innere  teilnähme  gewinnt,  dasz  er  sie  gern  zu 
führern  nimmt  auf  seinen  lebenswegen.  dasz  der  Sokrates  des  Xeno- 
phon in  diesem  sinne  eine  ideale  persönlichkeit  ist,  wurde  oben  dar- 
gelegt, bedeutsamer  für  die  didaktischen  zwecke  erscheint  uns  nach 
dem  eben  gesagten  seine  morallehre,  ihre  Verwendbarkeit  für  das 
gymnasium  zu  prüfen,  greifen  wir  nach  dem  maszstabe,  welchen 
wir  entsprechend  seiner  aufgäbe,  christliche  Charaktere  zu  bilden, 
allein  anzulegen  vermögen,  wir  untersuchen  ihr  Verhältnis  zu 
der  christlichen  Sittenlehre. 

Was  zunächst  tendenz  und  Charakter  der  Xenophontischen 
darstellung  betrifft,  so  bedeutet  diese  nur  scheinbar  einen  Wider- 
spruch mit  der  Platonischen  auffassung.  der  sittliche  lebensernst, 
mit  welchem  Xenophon  seinen  meister  lehren  läszt,  ist  keine  Ver- 
leugnung der  forderung,  dasz  das  streben  nach  der  Wahrheit  um 
ihrer  selbst  willen  schon  wert  habe,  die  bezieh  ung  auf  die  sittliche 
Vervollkommnung  sollen  wir  bei  all  unserem  forschen  und  unserer 
gesamten  geistigen  arbeit  festhalten :  auch  der  begriff  der  christlichen 
bildung  verlangt  die  unausgesetzte  arbeit  an  unserer  sittlichen  besse- 
rung.  deckt  sich  so  die  Sokratische  auffassung  von  der  sittlichen 
bestimmung  des  menschen  mit  der  christlichen,  so  weit  auch  in  dieser 
'  frage  eben  der  natürliche  blick  zu  dringen  vermocht  hat,  so  ergibt 
doch  ein  vergleich  der  tugen'dlehre  des  Xenophonti- 
schen Sokrates  mit  der  Sittenlehre  des  Christentums 
in  ihrer  grundlegenden  auffassung  sowohl  wie  in  der 
Ausgestaltung  im  einzelnen  manche  wesentlichen  unter- 
schiede, schon  den  fundamentalgrundsatz,  dasz  die  tugend  wissen 
sei,  bestreitet  die  neutestamentliche  lehre  (Röm.  7,  18  ff.),  und 
wie  steht  es  mit  dem  streben  nach  Vervollkommnung  in  wirklich- 

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388       Der  didaktische  wert.de«  Xenophoutiscben  Agesilaus. 

keit?  gewis  soll  der  mensch  in  stetem  kämpf*  mit  den  begierden 
liegen  und  nach  der  efKpdTeia  ringen,  aber  dasz  zu  diesem  kämpfe 
die  menschliche  kraft  viel  zu  schwach  ist  (vgl.  ebenda!),  das 
weisz  in  seinem  ganzen  umfange  und  in  seiner  tieferen  bedeutung 
auch  ein  Sokrates  noch  nicht,  kennt  er  doch  nicht  den  begriff  der 
sünde,  wenngleich  die  ahnung,  dasz  es  schwer  tilgbare  schuld  gebe, 
auch  im  altertum  durchschimmert  (zur  besprecbung  dieser  frage 
findet  sich  gelegenheit  in  anschlusz  an  manche  m ytben ,  besonders 
aber  bei  der  griechischen  tragödie,  auch  Goethes  Iphigenie!),  die 
frömmigkeit  und  die  pflichten  gegen  die  gottheit  erscheinen  mehr 
oder  weniger  auf  der  furcht  und  auf  dem  princip  der  gerechtigkeit 
beruhend,  was  der  Grieche  Sokrates  nicht  ahnen  konnte,  ist  die 
liebe  als  die  kraft,  welche  unser  Verhältnis  zu  gott  bestimmt,  und 
entsprechend  den  pflichten  gegen  den  nächsten,  ja  der  begriff  dieses 
überhaupt.  Ober  den  feindeshasz  ist  auch  die  Sokratische  ethik  nicht 
hinausgekommen,  diese  tiefe  kluft  zwischen  der  Soma- 
tischen moral  und  dem  Christentum  darf  dem  schaler 
nicht  verhüllt  bleiben;  ihre  klare  erkenntnis  frommt 
dem  historischen  Verständnis  des  welterobernden  und 
weltbeseligenden  Chris tentu  ms  ebenso  sehr  wie  sie  das 
urteil  über  den  die  grenzen  des  natürlichen  denkens 
und  empfindens  inne  zu  halten  gezwungenen  Philo- 
sophen nicht  herabzustimmen  vermag,  findet  doch  auf 
der  andern  seite  die  Sokratische  auffassung  so  vielfache  bestätigung 
durch  unsere  christliche  anschauung,  ja  wie  vermag  nicht  der  sitt- 
liche lebensernst,  welcher  die  lehre  des  griechischen  weisen  durch- 
weht, die  lauheit  zu  beschämen ,  welche  sich  trotz  aller  höheren  er- 
kenntnis auf  dem  gebiet  des  sittlichen  lebens  zeigt,  trotzdem  dasz 
hier  das  beispiel  des  herrn  als  des  urtypus  der  Sittlichkeit  und  seine 
lehre  in  ihrer  unvergänglichen,  durch  eitte  jahrhunderte  lange  ge- 
schichte  bezeugten  kraft  geboten  wird,  dort  nichts  als  ein  versuchen 
und  ringen  ohne  geschau tes  ziel! 

Und  selbst  die  oftmal.-,  praktische,  durch  hinweise  auf  die  folgen 
der  handlungen  geübte  begrtindung  der  sittengesetze  kann  in  ihrer 
scharfen,  folgerichtigen,  das  laster  in  seiner  abschreckenden  bäszlich- 
keit  und  mit  seinen  leib  und  seele  schädigenden  und  zerstörenden 
folgen,  die  schwächen  des  menschen  in  ihrer  lächerlichkeit  geiszeln* 
den  entwickelung  einer  tieferen  und  nachhaltigen  Wirkung  gewis  sein, 
welch  vernichtendes  urteil  wird  über  die  gottlosigkeit  gefällt  oder 
über  den  geiz,  die  unmäszigkeit,  die  Undankbarkeit  und  lieblosig-  ' 
keit  oder  auch  die  prahlerei !  kann  diese  dem  denken  und  empfinden 
des  schülers  nicht  fernstehende  art  das  sittliche  zur  nacbahmung  zu 
empfehlen  und  vor  dem  unsittlichen  zu  warnen  ihre  Wirkung  auf 
seine  einsieht  und  sein  gemüt  wohl  verfehlen  ?  wie  beredt  und  klar 
werden  die  haupterfordernisse  der  persönlichkeit,  die  innere  freibeit 
und  die  treue  gegen  sich  selbst,  die  gerechtigkeit  und  die  Wahrhaftig- 
keit, der  ernste  wille  seine  kraft  in  den  dienst  der  gesamtheit  zu 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus.  389 


stellen  entwickelt,  wie  alles  scbeinwesen  und  die  halt-  und  Charakter- 
losigkeit! so  wenig  der  stoff  der  Xenophontischen  Schriften  einer 
falschen  und  einseitigen  Würdigung  des  wissens  das  wort  redet,  so 
stark  betont  er  doch  den  wert  des  rechten  wissens,  indem  das  halb 
wiesen  in  seiner  leerbeit  und  lächerlichkeit  bloszgestellt  wird,  wenn 
nun  unsere  zeit  gerade  infolge  der  Überschätzung  der  erlösenden 
kraft  der  intellectuellen  bildung  auf  falschen  wegen  ist  und  in  ihr 
eine  sich  ideal  nennende,  in  der  that  aber  die  materie  an  die  stelle 
der  idee  setzende  geistesrichtung  sich  breit  macht,  und  jetzt  die  auf- 
gäbe dringender  als  je  an  die  schule  herantritt  den  Zöglingen  eine 
wohl  in  sich  gefestigte  grundlage  für  eine  Weltanschauung  mitzu- 
geben, welche  sie  dann  schützt  der  spielball  jeder  tagesmeinung  zu 
werden,  da  können  wir  freudig  jeden  bildungsstoff  begrüszen,  der  in 
die  tiefen  der  Charakterbildung  hinabreicht,  und  welche  schule  sollte 
da  heilsamer  sein  und  nachhaltiger  wirken,  um  alles  halbwissen  ver- 
werflich erscheinen  zu  lassen ,  als  die  des  Sokrates ,  welcher  allem 
geistigen  hochmut  und  eigennützigen  dünkel  zu  wehren  weisz  wie 
nur  einer! 

Dasz  die  socialen  Verhältnisse  in  familie  und  ge- 
meinde mit  sittlichem  geist  erfüllt  werden  sollen,  von  dieser  for- 
derung  der  Sokratisch-  Xenophontischen  ethik  war  oben  die  rede, 
wir  halten  gerade  diesen  stoff  für  besonders  wichtig  ebenso  für  die 
klärung  der  begrififswelt  des  Schülers  an  sich  wie  für  die  grundsätze 
seiner  lebensführung.  folgt  doch  aus  ihr  auch  für  das  leben  jene 
berufs-  und  pflichttreue,  zu  der  wir  auf  der  schule  mit  aller  kraft  den 
grund  legen  müssen,  seine  Vertiefung  erfährt  auch  dieser 
anschauungskreis,  welcher  die  Ordnungen  der  gesell- 
schaft  sittlich  adelt,  durch  das  Christentum,  welches 
dem  gesamten  leben  und  aller  arbeit  die  religiöse 
weihe  gibt. 

Die  hohe  bedeutung  der  einführung  des  Schülers  in  das 
begriffliche  denken,  wie  eine  solche  die  Memorabilien  und  die 
CyTOpädie  gewähren,  in  hinblick  auf  spätere  logische  Übungen  über 
begriff  und  urteil  braucht  an  dieser  stelle  wohl  nur  gestreift  zu  wer- 
den, lernt  der  schtiler  hier  doch  auch  die  methode  der  induction 
praktisch  kennen,  so  dasz  für  die  behandlung  Lessingscber  und 
Schillerscher  prosaaufsätze  und  für  sonstige  rhetorische  und  logische 
besprechungen  auf  der  obersten  stufe  hier  schon  ein  dankenswertes 
material  gewonnen  wird,  auf  den  begriff  der  elpwvda  wurde  schon 
aufmerksam  gemacht 

So  können  wir  denn  unsere  erörterung  des  didaktischen  wertes 
der  Sokratischen  Schriften  Xenophons  damit  schlieszen,  dasz  wir 
dem  moralphilosophischen  stoffe  derselben  die  Wir- 
kung zuschreiben,  ebensowohl  das  speculati ve  wie  das 
sympathetische  und  sociale,  vor  allem  aber  das  mora- 
lische und  religiöse  interesse  stark  und  nachhaltig  zu 
erregen,  dasz  derselbe  eine  reihe  sittlicher,  für  den  ge- 


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390       Der  didaktische  wert  des  Xenopkontischen  Agesilaus. 

samten  Unterrichtsstoff  des  gymnasiums  höchst  wert- 
voller begriffe  dem  schüler  zuführt  und  auch  für  seine 
intellectuelle  förderung  die  vielfachsten  mittel  dar- 
bietet. 

IV.   Der  didaktische  wert  der  das  königsideal  dar- 
stellenden  Sokratischen   schritten  Xenophons,  der 
Cyropädie  und  des  Agesilaus. 

Nachdem  wir  die  Sokratische  moralpbilosophie,  wie  sie  in  den 
Schriften  Xenophons  entwickelt  wird,  dargelegt  und  auf  ihre  päda- 
gogische bedeutung  hin  geprüft  haben,  wenden  wir  uns  zu  seiner 
Aufstellung  eines  königsideals.  denn  er  hat  sich  nicht  darauf  be- 
schränkt die  anschauungen  seines  lehrers  über  das  tugendideal  vor- 
zutragen, wie  wir  oben  sahen,  hat  nicht  blosz  der  einzelne  die  auf- 
gäbe zu  lösen  dieses  an  sich  zu  verwirklichen,  sondern  der  mensch 
ist  in  sittliche  gemeinschaften  hineingestellt,  in  denen  sein  streben 
darauf  gerichtet  sein  musz  an  den  gliedern  derselben  sittliche  Ver- 
vollkommnung zu  wirken:  das  gilt  vom  Verhältnis  der  familie,  der 
freundschaft  u.  ä.  im  besondern  ist  der  hausvater  verantwortlich 
für  das  sittliche  wohl  der  hausgenossen ;  sein  Verhältnis  zu  den 
kindern  und  dem  gesinde  wird  durch  die  Sokratische  auffassung  mit 
sittlichem  geiste  erfüllt,  über  diesen  Sokratischen  gedanken  ist  nun 
Xenophon  selbständig  hinausgegangen,  auf  der  grundlage  der  familie 
entwickelt  sich  das  staatsieben,  wie  jene  ist  auch  die  gemeinde,  der 
staat  eine  sittliche  gemeinschaft,  und  was  in  jener  der  haus- 
vater bedeutet,  das  ist  in  dieser  der  her  scher,  nemlich  nur  in  der 
politischen  form  der  monarchie  entwirft  Xenophon  sein  bild  eines 
idealstaates,  und  seine  anforderungen  an  den  idealstaat 
stellt  er  dar  in  dem  bilde  des  wahren  herschers,  des 
herscher-,  bzw.  königsideales,  warum  Xenophon  das  könig- 
tum  als  die  berechtigtste  staatsform  gelten  läszt,  ist  weiter  unten  zu 
erklären,  prüfen  wir  jetzt  dieztige,  welche  das  bild  des  königs- 
ideals in  der  Cyropädie  und  im  Agesilaus  trägt,  einzelnes  vorberei- 
tendes enthalten  schon  die  Memorabilien.  schon  in  ihnen  werden  die 
aufgaben  eines  rechten  beamten  und  eines  wahren  Strategen  ent- 
wickelt; es  gilt  die  von  der  Volksgemeinschaft  einem  solchen  anver- 
traute Stellung  ganz  auszufüllen  und  alle  kraft  in  ihren  dienst  zu 
stellen,  ich  setze  ein  beispiel  hierher,  Mem.  III  3.  pflicht  des  reiter- 
obersten ist  zunächst  die  sorge  für  reiter  und  rosse*  die  sorge  für 
seine  pferde  darf  nicht  dem  einzelnen  reiter  Uberlassen  bleiben, 
wenn  der  ob  er  st  eine  gute,  ihren  zwecken  und  aufgaben  gewachsene 
reiterei  haben  will,  die  sorge  für  die  reiter  selbst  enthält  die  Ver- 
pflichtung die  Übungen  derselben  möglichst  gründlich  und  voll- 
ständig zu  leiten,  auf  ihre  gemüter  und  deren  erbebung  kräftig  ein- 
zuwirken und  sie  zu  willigem  gehorsam  zu  erziehen,  dazu  musz  er 
sich  selbst  als  der  tüchtigste  in  seinem  fache  zeigen,  auch  bedarf 

• 

* 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus.  391 

tr  der  geistigen  Überlegenheit,  um  in  überzeugender  rede  ihnen  nicht 
blc-8z  die  vorteile  des  gehorsams  und  der  disciplin  auseinander  setzen, 
sondern  überhaupt  ihr  gemüt  mit  edlem  ehrgeiz  und  streben  nach 
wahrem  rühm  erfüllen  zu  können,  auch  finden  wir  in  den  Memora- 
biüen  schon  den  gedanken,  dasz  der  gute  feldherr  ein  hirt  seiner 
Völker  sein,  für  sie  väterlich  sorgen  und  sie  zum  glück  führen  müsse, 
nur  der  sei  ein  herscher,  der  zu  beherschen  und  zu  befehlen  verstehe, 
nicht  die,  welche  das  scepter  besäszen  oder  zu  herschern  gewählt 
seien  oder  ihre  Stellung  erlost  hätten  oder  endlich  den  thron  mit 
gewalt  errungen  hätten  (III  9,  10). 

In  der  Cyropädie,  welche  die  erziehung  des  älteren  Cyrus  zum  * 
herscher  behandelt,  werden  für  den  herscherberuf  gewisse  körper- 
liche und  geistige  eigenschaften  zur  Voraussetzung  gemacht,  ein 
kräftiger  körper,  eine  schöne  und  imposante  gestalt  empfehlen  nicht 
minder,  als  ein  dem  hohen  und  edlen  unbedingt  zugewandtes  streben, 
ein  die  höchsten  ziele  verfolgender  ehrgeiz  allein  dessen,  der  seine 
aufgaben  auf  dem  throne  lösen  soll ,  würdig  ist.  eine  kriegerische 
erziehung  hat  vor  allem  dem  zweck  zuzustreben,  dasz  der  fürst  der- 
einst überall,  in  der  schlacht  ebenso  wie  in  den  werken  des  friedens, 
im  stände  sei  mit  gutem  beispiel  den  seinen  voranzugehen,  er  hat 
selbst  pünktlichen  und  völligen  gehorsam  zu  lernen,  damit  er  später 
auch  befehlen  könne,  als  heerführer  musz  er  die  vielfachen  Ver- 
pflichtungen, die  ein  feldherr  seinen  truppen  gegenüber  hat,  kennen ; 
es  genügt  nicht,  dasz  er  taktisch  tüchtig  ausgebildet  ist;  um  ein 
stets  schlagbereites  heer  zu  haben,  musz  er  seine  ganze  sorge  dem 
zustande  seiner  truppen  zuwenden,  vor  allem  aber  herz  und  gemüt 
derselben  sich  sichern,  indem  er  sie  mit  edlem  streben  erfüllt  und 
zu  regem  Wetteifer  unter  einander  anspornt,  indem  er  lobt,  was  an- 
erkennung  verdient,  und  nicht  schont,  wo  zu  tadeln  ist.  dem  feind 
gegenüber  bedarf  es  kluger  berechnung,  oft  statt  der  härte  der  müde, 
um  ein  wahrer  herscher  zu  werden ,  musz  er  die  vielfachen  anforde- 
rungen  seines  hohen  berufes  eifrig  studieren,  musz  er  ein  dmCTCt^- 
Viuc  ÖpxuJV  werden,  als  fürst  genieszt  er  die  grösten  Vorrechte  unter 
allen  bürgern  des  Staates,  aber  diese  rechte  soll  er  nur  zur  besseren 
erfüll ung  seiner  hervorragenden  pflichten  ausnützen,  nicht  in  äusze- 
rem  glänz  und  ehren,  sondern  in  treuer  Pflichterfüllung  soll  er  das 
schönste  Vorrecht  seiner  erhabenen  Stellung  sehen,  er  musz  den 
ggrundsatz  anerkennen  apxovn  irpocrjK€iv  ou  püXciKia,  äXXä  «ap- 
Tepia  tuj v  ibiwTUJV  Trepieivai  (Ag.  Y  2)  und  ir)  ßaciXda  irpooiKew 
ou  ßcibtouptiav,  äXXä  KaXoKcVfaGiav  (Ag.  XI  6),  oder  wie  es  Cyr. 
I  6,  25  heiszt,  f|v  ji€v  £v  0^p€i  ujci,  töv  Äpxovra  bei  toö  f|Xiou 
TiXeoveKTOuvTCt  aavepöv  elvai,  fjv  be  dv  x^imujvi,  toö  ujuxouc,  F|v 
b€  biet  ^öxOujv,  tüjv  ttövuuv.  demnach  musz  er  das  tugendideal  an 
sich  in  vorzüglichem  masze  darstellen,  eine  sittlich  hochentwickelte 
persönlichkeit  sein,  kann  doch  erst  der,  welcher  sich  selbst  zu  sitt- 
licher freiheit  durchgearbeitet  hat,  und  dessen  ganzes  wesen  die 
abgeklärtbeit  einer  sittlich  geläuterten  persönlichkeit  atmet,  auch 


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392       Der  didaktische  wert  des*  Xenophontischen  Agesilaus. 


wahrhaft  veredelnd  auf  seine  unterthanen  einwirken,  ihnen  gegen- 
über beseelt  ihn  treues,  nie  ermattendes  Pflichtgefühl,  unermüdlich 
tritt  er  ein  für  die  grösze  und  das  glück  seines  Vaterlandes  vnd 
bringt  dieses  zu  kraftvoller  entfaltung,  nicht  am  wenigsten  durch  rein 
eignes  thätiges  beispiel.  so  steht  er  seinen  unterthanen  auch  licht 
blosz  als  der  herr  gegenüber,  dessen  befehle  ausgeführt  werden»  son- 
dern sein  Verhältnis  zu  ihnen  ist  das  des  vaters  zu  seinen  kiodern, 
er  ist  der  vater  des  Vaterlandes,  keinen  seiner  mitbürger  siebt  er 
etwa  als  seinen  persönlichen  feind  an ,  auch  um  den  geringsten  von 
ihnen  zu  retten,  steht  er  freudig  ein.  die  thätigen  glieder  des  Staates 
unterstützt  er  durch  ermutigung,  anerkennung  und  gnadenbeweiae, 
die  lauen  spornt  er  zur  erfiillung  ihrer  pflichten  an.  allzeit  zur  milde 
geneigt,  vor  allem  den  schwachen  gegenüber,  straft  er  doch  uner- 
bittlich, wo  grobe  p  flieh  tvernachlässigung  vorliegt,  —  dem  reuigen 
öffnen  sich  wiederum  seine  vaterarme,  fühlt  er  doch  lebendig  in 
sich  die  schwere  Verantwortlichkeit  seines  Standes,  so  wird  seinem 
aufopfernden,  arbeitsvollen  leben  denn  auch  der  schönste  lohn,  die 
liebe  seiner  unterthanen ,  von  der  Xenophon  an  einer  andern  stelle, 
im  Hier.  XI  13 — 15  in  so  köstlichen  Worten  spricht. 

Das  ist  in  den  wesentlichen  zügen  das  idealbild  des  berscher», 
wie  es  Xenophon  in  der  Cyropädie  und  dem  Agesilaus  entwirft, 
fragen  wir  uns  jetzt,  worin  der  didaktische  wert  dieses 
Stoffes  besteht. 

Im  vorigen  abschnitte  erkannten  wir,  welche  summe  von  sitt- 
lichen begriffen  aus  der  Xenophonlischen  darstellung  der  Soma- 
tischen moralphilosophie  für  die  schule  zu  schöpfen  ist  und  wie  die- 
selbe fruchtbar  zu  verwerten  ist.  wenn  wir  zugleich  sahen,  wie  die 
lebensgemeinschaft  der  familie  mit  sittlichem  geist  erfüllt  werden 
müsse,  so  lernen  wir  hier,  dasz  auch  der  staat  ein  sittlicher  begTiff 
ist*  dasz  derselbe  nicht  sowohl  macht  bedeutet  als  einen  Organismus 
mit  sittlichen  zwecken  und  deren  Verwirklichung  durch  sittliche 
mittel  darstellt,  so  ist  die  obige  gedankenreihe  zu  einem  abschlusz 
geführt  und  vollständig  geworden,  auch  gewisse  mittelglieder  haben 
wir  beobachtet:  jeder  beruf  innerhalb  der  menschlichen  gesellschaft, 
jedes  amt  im  staat  soll  mit  dem  bewustsein  der  sittlichen  Verant- 
wortung ausgeübt  werden,  aber  es  sind  nicht  blosz  die  ethischen 
begriffe,  welche  der  schüler  durch  die  behandlung  der  beiden  Schrift- 
werke gewinnt,  bilden  doch  die  aufstellungen  Xenophons  die  grund- 
lage,  welche  der  christliche  staat  der  gegen  wart  inne  zu  halten  sucht, 
wenn  derselbe  nun  auch  durch  das  Christentum  seine  impulse  er- 
halten hat,  und  wenn  auch  die  enge  gemeinschaft,  in  welcher  der 
könig  sich  mit  seinem  volke  weisz,  für  dessen  heil  und  Wohlfahrt  er 
verantwortlich  ist,  und  welche  alle  glieder  eines  gewaltigen  Organis- 
mus unter  einander  verbindet,  in  den  erhabenen  lehren  jenes  ihre 
grundlage  hat,  so  ist  doch  die  wahrhaft  humane  auffassung,  welche 
der  griechische  autor  von  dem  Verhältnis  zwischen  fürst  und  volk 
mit  den  pflichten  des  ersteren  vorträgt,  eine  kräftige  und  ernste 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontiacben  Agesilaus.  393 


mahnung  gerade  für  die  heutige  zeit,  und  für  die  sittliche  Vertiefung 
ist  uns  dieser  stoff  nach  der  bezeichneten  rieb  tu ng  äuszerst  wertvoll, 
und  dann  die  patriotische  Seite  desselben,  der  geschiebtsunterricht 
zeigt  dem  sehüler,  dasz  in  dem  brandenburgisch-preuszischen  staat 
von  jeher  für  die  fürsten  die  forderungen,  welche  er  hier  schon  von 
den  alten  gestellt  sieht,  maszgebend  gewesen  sind,  mangreife  heraus, 
welche  gestalt  der  geschichte  der  monarchie  man  will,  für  sie  alle 
ist  es  charakteristisch ,  dasz  sie  die  aufgäbe  des  herschers  darin 
sehen  ein  'vater  des  Vaterlandes',  der  diener  des  Staates  zu  sein,  es 
braucht  wohl  nur  an  den  groszen  kurfürsten,  an  Friedrichs  II  Ant  i- 
macchiavelli ,  an  die  hehre  gestalt  des  ersten  deutschen  kaisers  er- 
innert zn  werden,  und  wie  sollte  nicht  eben  dieser  stoff  die  liebe 
und  Verehrung  dem  jetzigen  kaiser  gegenüber  vertiefen ,  gleicht  er 
nicht  in  vielen  beziehungen  einem  spiegelbilde,  in  welchem  wir 
die  sorgenvolle  und  aufopferungsfreudige  arbeit  der  Hohenzollern 
schauen?  aber  wie  wir  oben  schon  erkannten,  dasz  trotz  aller  rein- 
heit  und  erhabenheit  des  Sokratischen  Systems  und  seines  ergreifen- 
den sittlichen  ernstes  doch  die  religiös-sittliche  erkenntnis  des  heid- 
nischen weisen  tief  unter  den  christlichen  ethischen  begriffen  steht, 
so  lehrt  auch  das  bild,  welches  eben  die  Hohenzollernherscher  ge- 
währen, die  weite  des  abstandes  antiker  anschauung  von  den  lehren 
des  Christentums:  rkönige  der  armen',  wie  sich  mit  stolz  unsere 
kaiser  nennen  lassen,  waren  die  idealen  könige  Xenophons  nicht, 
dazu  fehlt  der  antiken  humanität  das  beste ,  was  erst  das  Christen- 
tum in  die  weit  gebracht  hat,  das  geheimnis  der  bruderliebe,  des 
begrifies  des  nächsten. 

80  glauben  wir,  dasz  die  behandlung  des  Xeno phon- 
tischen königsideals  nach  verschiedenen  Seiten  hin 
didaktisch  äuszerst  fruchtbar  zu  machen  ist.  sie  er- 
weitert die  weit  der  inneren  erfahrung  des  schülers 
wesentlich,  indem  sie  ihn  sittliche  begriffe  von  der 
höchsten  bedeutung  für  die  lebensführung  gewinnen 
läszt,  nemlich  den  des  Staates  als  einer  sittlichen  ge- 
meinschaft,  wie  auch  den  der  sittlichen  persönlichkeit 
in  ihrem  Wirkungskreise  innerhalb  der  staatlichen  ge- 
meinschaft,  sie  erweckt  das  sympathetische  und  das 
sociale  interesse,  nicht  minder  aber  das  religiöse,  so 
dasz  wir  diesem  bildungsstof f  einen  erheblichen  ein- 
flusz  auch  auf  den  sittlichen  willen  des  Zöglings  zu- 
sprechen dürfen,  das  höchste  ziel  alles  Unterrichts. 

Nun  liegt  aber  die  litterargeschich tliche  bedeutung 
der  Verfolgung  des  königsideals  in  der  Cyropädie  und 
im  Agesilaus  nicht  blosz  auf  moralphilosophischem  ge- 
biete, sondern  ebenso  sehr  liefert  sie  ein  treues  abbild 
der  politischen  anschannngen  und  wünsche  des  Ver- 
fassers, auf  diese  seite  der  geschichtlichen  bedeutung  beider 
Schriftwerke  müssen  wir  hier  noch  eingehen.   Xenophons  Stellung 


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394       Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus. 

zu  der  athenischen  demokratie  ist  oben  schon  berührt  worden:  er 
war  ein  entschiedener  gegner  der  durch  wüste  demagogie  and  mit 
ihr  abwechselnd  greuel volle  Oligarchie  entarteten  demokratie.  dasz 
er,  der  sich  äuszerlich  freundlich  gegen  Sparta  stellte,  darum  mit 
nicht  geringerer  liebe  seinem  vaterlande  anhieng,  ist  oben  auch  schon 
gesagt  worden  —  das  beweist  uns  seine  auffassung  von  dem  Philo- 
sophen Sokrates,  der  wir  eine  weitgehende  politische  bedeutung  bei- 
maszen.  mit  tiefem  schmerz  hat  Xenophon  sehen  müssen,  wie  seine 
Vaterstadt,  die  retterin  Griechenlands  in  den  freiheitskämpfen,  von 
ihrer  einstigen  höhe  herabsank,  wie  sie  infolge  der  freiheitlichen 
ausgestaltung  ihrer  Verfassung  die  beute  weniger  habgieriger  streber 
wurde,  welche  sie  an  den  rand  des  abgrundes  brachten,  ja  sie  völliger 
Vernichtung  preisgaben,  wie  durch  hebung  der  allgemeinen  moral 
zu  bessern  gewesen  wäre,  hat  sein  meister  Sokrates  gezeigt  aber 
der  fehler  lag  noch  an  einer  andern  stelle,  die  athenische  Verfassung 
hatte  längst  ihre  gesunden,  dem  Staate  eine  kraftvolle  entwicklung 
verbürgenden  grundlagen  verlassen,  ein  für  seine  höchsten  güter 
mutig  eintretendes,  durch  eine  starke  regierung  geleitetes  Staats- 
wesen war  das  Athen  seiner  zeit  längst  nicht  mehr,  da  kann  man 
es  wohl  verstehen,  wie  der  edle  patriot  in  dem  gefühle  heimlichen 
neides  sein  auge  nach  Sparta  richtete ,  von  dessen  Verfassung  er  im 
Agesilaus  (I  4)  bedeutsam  sagt,  dasz  ihre  kraft  auf  der  stets  von 
beiden  Seiten  gewissenhaft  aufrecht  erhaltenen  harmonie  zwischen 
volk  und  fürsten  beruht,  und  eine  so  kraftvolle  persönlichkeit,  wie 
sein  freund  Agesilaus  war,  zum  träger  seiner  politischen  ideen  machte, 
ja  selbst  ostwärts  auf  die  groszen  staatengebilde  Asiens  schaute,  die 
wenigstens  in  früherer  zeit  kraftvoll  organisiert  waren :  und  so  wählte 
er  sogar  den  gründer  des  despotischen  Perserreiches,  den  groszen 
Cyrus,  zu  ihrem  träger,  und  diese  seine  politischen  ideen  sind  ihm 
zugeflossen  aus  der  lehre  der  Weltgeschichte.  Xenophon  hat  mit 
offenen  äugen  die  entwicklung  seines  heimats  taates 
verfolgt,  er  hat  sich  aus  ihr  seine  lehre  gezogen:  nur 
ein  Markes,  zielbewußtes  königtum  vermag  ein  volk 
grosz  und  glücklich  zu  machen,  so  zeigt  sich  Xenophon  als 
einen  entschiedenen  royalisten"  in  seinen  Schriften,  und  wir  ver- 
stehen, wie  er  das  geworden,  und  sollte  diese  thatsache  uns  nicht 
viel  zu  denken  geben?  zieht  sie  nicht  mit  kühner  band  und  in  mar- 
kigen zügen  das  facit  aus  der  staatengeschichte  des  altert  ums  ?  die 
politische  freiheit  ist,  sobald  sie  entartet,  der  ruin  der  Völker,  die 
monarchie,  und  wir  setzen  hinzu,  die  monarchie  von  gottes  gnaden, 
verbürgt  allein  einem  Staatswesen,  dessen  grundlagen  sonst  gesund 
sind,  eine  gedeihliche  entwicklung.  ich  brauche  die  didaktische  Ver- 
wendbarkeit dieses  gedankens  wohl  nicht  weiter  zu  verfolgen,  be- 
weist er  doch  deutlich ,  dasz  der  schüler  durch  die  Vertiefung  in  die 


M  vgl.  dazu  die  Ausführungen  von  Ernst  Curtius,  altertum  und  gegen- 
wart.    gesammelte  reden  und  vortrüge.    Berlin  1875,  s.  S60  ff. 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus.  395 


griechische  geschichte  wahrlich  nicht  zum  republikaner  oder  demo- 
kraten  erzogen  wird,  musz  sie«  doch  im  gegenteil  das  gefühl  einer 
warmen  Vaterlandsliebe  in  ihm  stärken,  und  die  Sokratischen  Schriften 
Xenopbons  werden  ihm,  so  betrachtet,  ein  Spiegel  für  die  grurid- 
lage  der  grösze  des  eignen  Vaterlandes  mit  seinem  starken  und 
zielbe wüsten  königtum  der  Hohenzollern ,  wenn  er  hier  sieht,  mit 
welchem  schmerz  die  besten  der  Zeitgenossen  die  nicht  mehr  auf- 
zuhaltende verderbliche  entwicklung  des  athenischen  Staatswesens 
verfolgten,  und  mit  welcher  Sehnsucht  sie  nach  dem  unwiederbring- 
lich verloren  gegangenen  gut,  einem  kraftvollen  königtum,  ver- 
langten! so  schlieszt  sich  der  gedankenkreis  der  beiden 
Xenophontischen  Schriftwerke  aufs  engste  an  die  wich  - 
tigsten  lebenskreise  des  schülers  an,  er  dient  dazu 
seine  patriotische  gesinnung  zu  stärken  und  sein  poli- 
tisches Verständnis  zu  vertiefen,  und  wie  er  mit  dem  grie- 
chischen geschichtlichen  Unterricht  unmittelbar  zusammenhängt,  so 
mündet  er  anderseits  in  den  gesamten  Unterrichtsstoff  ein. 

Die  königsidee  ist  von  Xenophon  nicht  systematisch  entwickelt 
worden,  sondern  se'ine  anschauungen  sind  an  historische  persönlich- 
keiten angeschlossen  in  der  form  von  idealgebilden,  in  der  Cyropädie 
an  den  älteren  Cyrus ,  in  dem  Agesilaus  an  seinen  Zeitgenossen  und 
intimen,  den  Spartanerkönig  dieses  namens,  und  zwar  wird  in  dem 
ersteren  buche,  wie  schon  sein  titel  sagt,  das  werden  des  heischers, 
seine  erziehung  in  den  Vordergrund  gestellt,  seine  regentschaft  mehr 
summarisch  behandelt,  während  im  Agesilaus  der  fertige  könig  nach 
seinen  t baten  und  seinem  Charakter  gezeichnet  wird,  soll  der  um  das 
königsideal  gruppierte  stoff  nun  seinen  didaktischen  geh  alt  auch 
wirksam  werden  lassen,  so  ist  unbedingt  zu  fordern,  dasz 
die  seele  des  schülers  mit  den  beiden  geschichtlichen 
gestalten  ein  zu  anhaltender  beschäf tigung  mit  ihnen 
ausreichendes  interesse  schon  verknüpft,  bzw.  letzteres 
geweckt  werden  kann,  zur  beantwortung  dieser  frage  müssen 
wir  auf  die  in  beiden  liegenden  geschichtlich  und  persönlich  bedeu- 
tungsvollen bildungsmomente  näher  eingehen. 

Zunächst  wer  ist  Cyrus?  verlohnt  sich  in  der  that  eine  halb- 
jährige beschäf  tigung  mit  ihm  in  secunda?  gewis  sollen  im  ge- 
schichtsunterricht  allein  die  groszen  epochen  der  bedeutsamsten  alten 
culturvölker  in  ihrem  werden,  ihrer  blüte  und  ihrem  untergange  klar 
heraustreten,  und  wenn  derselbe  von  der  griechischen  geschichte  aus- 
geht,, so  hat  er  das  zum  tieferen  Verständnis  unserer  heutigen  poli- 
tischen Verhältnisse  nötige  geliefert  und  weit  genug  ausgeholt,  und 
doch  basiert  einmal  das  Griechentum  in  den  anfängen  seiner  cultur 
auf  dem  Orient,  wie  es  denn  auch  im  laufe  seiner  geschichte  uns 
stetig  auf  Asien  hinweist,  anderseits  ist  unsere  cultur  nicht  blosz  in- 
direct  aus  Asien  überkommen ,  sondern  Christentum  wie  Judentum, 
die  Urkunden  der  heiligen  schrift  weisen  uns  auf  dasselbe  Vorder- 
asien als  die  wiege  unserer  religiösen  Weltanschauung,  so  verknüpfen 


- 

396       Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus. 

» 

uns  eine  reihe  fäden  mit  dem  Orient,  und  der  geschieh tsunterricht 
ist  völlig  in  seinem  recht,  wenn  er-der  behandlung  der  griechischen 
geschiente  in  untersecunda  eine  kurze  übersieht  über  die  orienta- 
lischen geschichtlichen  Verhältnisse  vorausschickt,  d.  h.  dem  schüler 
die  groszen  epochen  vorführt,  in  welchen  die  Völker  des  Orients 
hervortreten,  sich  zu  groszen  staatengebilden  zusammenschlieszen, 
um  bald  wieder  unterzugehen  und  neuen  Völkergruppen  platz  zu 
machen,  und  wenn  eine  gestalt  unter  den  orientalischen 
herschern  als  begründern  von  Weitmonarchien  typisch 
ist,  so  ist  es  die  des  älteren  Cyrus,  des  Stifters  des 
Perserreichs,  in  welchem  sich  die  kraft  Vorderasiens  zusammen- 
schlieszt,  wie  der  geschichts  unter  rieht  sich  mit  diesem  manne  ein- 
gehender beschäftigt,  so  würde  auch  für  die  leetttre  eine  Vertiefung  in 
diesen  Stoff  wohl  anzuraten  sein,  um  so  mehr  als  in  der  Cyropädie 
dem  schüler  alle  die  groszen  reiche,  von  denen  er  sonst  hört,  Babylon 
und  Assur,  Medien  und  Lydien,  selbst  Indien  hier  vorgeführt  werden 
und  das  gewaltige  völkergemisch  in  Kleinasien ,  Mesopotamien  und 
Iran,  wie  es  sich  gliedert  in  Semiten  und  Indogermanen,  ihm  anschau- 
lich entgegentritt;  der  stete  gebrauch  der  karte  wird  seine  bekannt- 
schaft  mit  all  diesen  Völkern  wesentlich  befestigen.** 

Doch  da  hören  wir  einen  einwurf,  der  diese  ganze  darlegung  zu 
entkräften  scheint,  ja,  das  gesagte  möchte  richtig  sein,  wenn  der 
Cyrus  Xenophons  nur  der  ältere  Cyrus  wäre,  die  Cyropädie  ist  über- 
haupt kein  geschichts  werk,  sondern  ein  rroman';  wie  das  bild,  wel- 
ches Xenophon  von  der  person  des  Cyrus  entwirft,  sowohl  in  der 
Zeichnung  seines  Charakters  wie  in  derjenigen  der  geschichtlichen 
thatsachen  mit  dem  Cyrus  der  geschiente  wenig  gemein  hat,  er  ist 
ein  Grieche,  nach  der  moralphilosophie  des  Sokrates  gebildet,  und 
hat  von  jenem  groszen  manne  nur  den  namen  entlehnt,  darauf  ist 
zu  antworten,  dasz  allerdings  die  Cyropädie  kein  geschieht s buch  ist, 
der  Verfasser  spricht  ja  deutlich  genug  den  zweck  aus,  welchen  er 
mit  dieser  schrift  verbindet,  nemlich  das  bild  eines  wahren  herschers, 
wie  er  wird  und  wie  er  sein  volk  grosz  und  glücklich  macht,  zu 
zeichnen,  und  wie  wenig  genau  derselbe  es  mit  der  getreuen  dar- 
Stellung  persischer  oder  asiatischer  zustände  überhaupt  genommen 
hat,  beweist  die  Übertragung  selbst  religiöser  Verhältnisse  in  die 
griechische  gewandung.  so  wie  Cyrus  spricht,  redet  freilich  nicht 
ein  asiatischer  despot,  ihm  ist  die  anschauungsweise  des  griechischen 
weisen  verliehen,  und  die  höhere  bildung,  welche  er  und  seine  Um- 
gebung vielfach  verraten,  ist  die  hellenische  der  Xenophontischen 
zeit,   wir  können  darin  aber  keinen  Vorwurf  für  Xenophon  finden 


•*  was  O.  Frick  L.  P.  H.  XII  s.  33  von  der  Curtiuslectüre  sagt. 
f.  .  .  sie  .  .  .  fuhrt  auch  geographisch  in  dieselben  räume  hinein,  die 
der  schüler  bereits  in  der  biblischen  und  der  apostelgeschichte,  im 
Homer  wie  in  der  Anabasis  und  in  den  Hellenicis  des  Xenophon,  end- 
lich durch  die  kreuzzüge  keunen  gelernt  bat',  nehmen  wir  auch  für  die 
Cyropädie  in  anspruch. 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontiscben  AgeBÜaua.  397 


und  aus  diesem  gründe  etwa  die  schüler  auf  die  lectüre  der  geschiente 
des  Cyrus  bei  Herodot  verweisen,  die  abweichungen  von  der  ge- 
schichtlichen treue  dem  schüler  zu  zeigen ,  dazu  ist  der  Unterricht 
da,  und  wenn  derselbe  im  rechten  geist  erteilt  wird,  möchten  wir 
fragen,  ob  dem  schüler,  welchem  die  tendenz  des  Werkes  klar  ge- 
macht wird,  und  dessen  hau p tauf merksamkeit  auf  die  Sokratische 
gedankenweit  gelenkt  wird,  zweifei  an  dem  geschichtlichen  wissen 
und  der  Zuverlässigkeit  des  Schriftstellers  aufsteigen  können,  was 
übrigens  die  nichtssagende  bezeichnung  roman  angeht,  so  brauchen 
wir  dieselbe  wohl  nicht  erst  besonders  zurückzuweisen;  wollen  wir 
die  Cyropädie  durchaus  in  eine  litteraturgattung  einstellen,  so  ist  sie 
eine  (populär-)  philosophische  schrift  in  geschichtlichem  gewande. 
umzulernen  hat  der  schüler  bei  ihrer  lectüre  nichts  von  seinen  ge- 
schichtlichen kenntnissen,  mag  ihm  immerhin  die  Überlieferung,  wie 
sie  Herodot  gibt,  und  welche  der  geschichtlichen  darstellung  zu 
gründe  gelegt  zu  werden  pflegt,  als  quelle  dieser  gelten,  —  wenn- 
gleich manche,  wie  es  vielfach  scheint,  willkürlichen  änderungen, 
welche  Xenophon  an  der  gewöhnlichen  Überlieferung  vorgenommen 
hat,  besonders  bezüglich  der  herkunft  des  Cjrus,  denn  doch  wohl  in 
ihrer  berechtigung  nicht  so  ganz  von  der  hand  zu  weisen  sind,  jeden- 
falls steht  das  eine  fest:  Xenophon  hatte  infolge  seiner  Verbindungen 
in  persischen  kreisen  gewis  gelegenheit  quellen  für  seine  darstellung 
des  lebens  des  Cyrus  zu  benutzen,  welche  im  allgemeinen  verschlossen 
blieben. 

Die  gestalt  des  mächtig  aufstrebenden,  kraftvollen  und  dabei 
doch  milden  und  versöhnlichen  weit  uroberer  s,  wie  sie  Xenophon 
darstellt,  darf  auf  unbedingte  hingäbe  des  schülers  rechnen,  und  das 
heldentum  des  Cyrus  ist  in  parallele  zu  setzen  mit  de»  in  unter- 
secunda  behandelten  heldengestalten,  wie  sie  das  altdeutsche  epos 
und  die  moderne  epik,  etwa  im  Cid  bietet,  die  leicht  ins  auge  fallen- 
den unterschiede  geben  deutliche  fingerzeige  für  die  verschiedenen 
Völker  und  Zeiten  in  ihrer  eigenart. 

Wir  wenden  uns  hiermit  von  der  Cyropädie  ab,  welche,  nebenbei 
bemerkt,  als  leetürestoff  nur  mit  wohlüberlegter  auswahl*7  zu  lesen  ist. 
unsere  aufgäbe  war  es  nur  die  Cyropädie  wie  auch  die  Memprabilien 
soweit  in  den  kreis  unserer  Darlegungen  hereinzuziehen,  als  erforder- 
lich war,  um  eine  vollständige  und  sichere  grundlage  der  von  uns  be- 
handelten lectüre  des  Agesilaus  zu  gewinnen,  dessen  bedeutung  als 
einer  auf  Sokratischen  gedanken  aufgebauten  philosophisch  -  politi- 
schen schrift  in  geschichtlichem  gewande  wir  durch  eingehende  be- 
sprechung  des  Schriftstellers  Xenophon,  insbesondere  des  Sokratikers 
Xenophon  und  der  das  königsideal  entwickelnden  beiden  in  betracht 
kommenden  Schriftwerke  festzustellen  bemüht  waren,  wenn  wir  die 
Cyropädie  auch  in  ihrer  besonderheit  kurz  zu  würdigen  suchten ,  so 
geschah  das,  um  etwaigen  zweifeln  an  ihrer  didaktischen  brauchbar- 


»  Vgl.  8.  18. 


I  ■ 

398       Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus. 


keit  zu  begegnen  und  ans  die  festbaltung  der  reihenfolge  der  lectüre- 
stoffe  Cyropädie  —  Agesilaus  —  Memorabilien  zu  sichern. 

Wenn  die  den  Unterricht  in  der  griechischen  geschichte  stützende 
und  vertiefende  lectüre  nur  die  hauptepochen  berücksichtigen  darf, 
so  scheint  es  zunächst  fraglich,  ob  die,  wenn  im  gründe  auch  prak- 
tisch-philosophische, so  doch  daneben  geschichtliche  darstellung  einer 
persönlichkeit  und  eines  Staatswesens ,  welches  nicht  von  der  allge- 
meinen bedeutsamkeit  ist  wie  Athen ,  des  spartanischen  und  seines 
königs  Agesilaus,  anspruch  darauf  machen  darf  in  den  kreis  der 
schullectüre  gezogen  zu  werden,  um  diese  frage  zu  entscheiden, 
müssen  wir  die  allgemeinen  Zeitverhältnisse  dieser 
geschichtlichen  periode,  die  besonderen  staatenver- 
hältnisse  und  die  thaten  sowie  die  persönlichkeit  des 
geschichtlichen  Agesilaus  ins  auge  fassen,  die  Behand- 
lung von  Athens  Untergang  ist  mit  der  lectüre  des  Thukydidea  in 
prima  und  der  Memorabilien  in  obersecunda,  bzw.  der  Hellenika  und 
der  reden  des  Lysias  abgeschlossen :  aus  der  weiteren  entwicklnng 
Athens  wie  Griechenlands  verdient  in  hohem  masze  die  aus  dem  all- 
gemeinen untergange  mächtig  emporragende  gestalt  des  Demosthenes 
eingehende  behandlung.  auf  die  zeit  des  niedergangs  folgt  indes 
noch  einmal  eine  gewaltige  erhebung  des  Hellenentums,  freilich  nicht 
der  Staaten,  welche  die  griechische  geschichte  im  engeren  sinne  aus- 
machen ,  es  ist  die  Unterwerfung  der  vorderasiatischen  weit  durch 
die  auf  den  trümmern  Griechenlands  aufgebaute  macht  Alexanders 
des  groszen.  die  weltgeschichtliche  bedeutung  dieses  mannes  und 
seiner  thaten ,  die  für  die  gesamte  culturgeschichte  und  die  staaten- 
geschichte  aller  späteren  Zeiten  von  weittragendster  bedeutung  sind, 
fordert  eine  gründliche  berücksichtigung  in  der  schule,  dieselbe 
wird  ihr  im  geschieh tsunterricht  zu  teil,  in  welchem  die  Fingerzeige 
auf  die  in  rede  stehende  epoche  und  ihre  ergebnisse  auch  die  römische 
geschichte  beleben,  aber  auch  die  hellenisch  -  römische  cultur  baut 
sich  auf  diese  Voraussetzung  auf,  und  die  lectüre  des  Horaz  und  des 
Cicero  bietet  gelegenheiten  genug. den  blick  des  schülers  auf  sie 
hinzulenken,  aber  es  gibt  ja  auch  ein  griechisches  geschichtswerk, 
welches  .eingehend  die  thaten  Alexanders  des  groszen  behandelt, 
Arrians  Anabasis,  wir  können  die  gründe,  welche  uns  gegen  die 
lectüre  dieses  nur  noch  selten  auf  gymnasien  gelesenen  autors  spre- 
chen, hier  nicht  entwickeln:  es  sei  nur  auf  das  eine  hingewiesen, 
dasz  wir  autoren  des  frischen,  jungen  Hellenentums  für  die  schule 
brauchen ,  mit  Hellenisten  ist  ihren  interessen  nicht  gedient,  auch 
bedarf  es  gar  nicht  der  beschreibung  der  züge  Alexanders,  für  sie 
kommt  es  allein  auf  das  typische  als  das  lehrreiche  an.  und  das 
typische  der  Alexanderzüge  liegt  darin,  dasz,  nachdem 
der  osten,  Asien,  seine  völkerschar en  nach  Europa  ge- 
sandt und  die  anfänge  aller  cultur  dorthin  verpflanzt, 
ja  später  in  seinen  eroberungsgelüsten  sich  wieder 
nach  westen  gewandt  hat,  jetzt  die  rollen  gewechselt 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus.  399 


werden,  an  die  stelle  des  dranges  nach  westen  tritt  der 
zag  nach  Osten,  und  Alexander  gründet  nicht  blosz  reiche  in 
Asien,  er  gibt  zurück,  was  dereinst  Asien  Europa  gereicht,  reiche 
bildungskeime  Uberträgt  er  nach  dort  und  vermittelt  durch  diese 
Übertragung  die  rettung  der  griechischen  cultur  für  die  weit,  also 
das  charakteristische  liegt  in  der  geschichtlichen  wendung,  dem  zuge 
Europas  nach  dem  Osten,  wir  brauchen  die  Weiterentwicklung  der 
Weltgeschichte  wohl  nur  zu  streifen:  Rom  und  die  kreuzzüge  des 
mittelalters  bezeichnen  die  fortführung  dieses  gedankens,  der  heut- 
zutage in  der  orientfrage  noch  brennend  ist. 

Und  ein  träger  dieser  weltgeschichtlichen  idee  ist 
bereits  der  Spartanerkönig  Agesilaus.  das  fühlten  schon 
seine  mitbürger  heraus,  als  er,  kaum  auf  den  thron  gelangt,  auf  das 
gerücht  hin ,  Ar  tax  er  x  es  rüste  gegen  Griechenland,  diese  überredete 
ihm  ein  heer  zu  geben,  um  den  krieg  nach  Asien  hinüberzutragen. 
€U0uc  u£v  ouv,  heiszt  es  im  Ages.  I  8,  ttoXXoi  irdvu  rfrdcöricav  auid 
toöto  to  £Tn8unf|cai,  £ttc\  ö  rtepcrjc  TrpöcGev  im  xf|v  .'€XXdba 
bießn,  dvribiaßfivai  in*  clutöv,  tö  t€  cripeicGai  dmövia  näXXov  f| 
imouevovTa  ndxeceai  aurtp,  tca\  tö  Tdxeivou  baTravuiVTa  ßouXecOai 
uäXXov  f|  Td  tüjv  '€XXr|vu>v  TroXeiaeiv,  KdXXicrov  bk  TrdvTUJV  dxpi- 
V€to  un.  TT€p\  Tf|c  f€XXdboc  dXXd  Trepl  tx\c  'Acfac  töv  dyüjva  xae- 
tadvat.  Agesilaus  gieng  mit  der  bestimmten  absieht  nach  Asien, 
das  Perserreich  zu  unterwerfen,  und  als  es  ihm  gelungen  war  das- 
selbe dermaszen  zu  schwächen,  dasz  die  Unterwerfung  in  allernächster 
zeit  in  aussiebt  stand,  er  selbst  aber  nach  Griechenland  zurückgerufen 
wurde  und  seine  Selbstlosigkeit  in  das  heflichste  licht  trat,  da  wird  . 
es  wieder  ausgesprochen  (I  36):  Ttapöv  b'  auTui  .  .  .  TTpdc  bk  tou- 
toic  tö  n^ricrov  dTTivoujv  xat  dXm£wv  xaraXuceiv  tV|v  trt\  TT)V 
'GXXäba  CTpaT€ucacav  TtpÖTepov  dpxrjv.  zur  ausführung  seines  ge- 
waltigen planes  kam  Agesilaus  nicht  infolge  der  kämpfe  Spartas  in 
Griechenland,  wir  befinden  uns  in  der  zeit  des  rückschlages  gegen 
die  durch  den  peloponnesischen  krieg  errungene  lakedämonische 
Hegemonie,  auch  Sparta  muste  die  Schwächung  seiner  macht,  welche 
ihm  der  unselig*  krieg  eingebracht  hatte,  empfinden :  nach  mancherlei 
andern  vergeblichen  versuchen  durch  staatenbündnisse  gelang  es 
den  Thebanern  dieselbe  zu  brechen  und  damit  das  innerlich  schon 
faulende  Staatswesen  auf  immer  zu  vernichten,  also  eine  zeit  des 
politischen  Verfalls  auch  Spartas,  und  doch  errang  dies 
noch  grosze  erfolge,  abgesehen  von  der  expeditiqn  nach  Asien ,  be- 
zeugen das  die  schlacht  bei  Koronea  und  der  kräftige  widerstand, 
der  den  eindringenden  Böotiern  entgegengesetzt  wurde,  diese 
kraft,  welche  der  spartanische  staat  vor  seinem  zu- 
sammensinken noch  einmal  zeigte,  besasz  er  einzig  in 
seinem  im  fei  de  wie  auf  dem  gebiete  der  politik  hervor- 
ragenden könige  Agesilaus.  so  steht  derselbe  als  ein  groszer 
beerftihrer  und  politiker  in  einer  kleinen  zeit  und  einem  schon  äuszerst 
geschwächten  Staatswesen,  er  zeigt,  dasz  hervorragende  tüchtigkeit 


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400       Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus. 


es  vermag,  den  verfall,  wenn  auch  nicht  zu  verhindern,  so  doch  auf- 
zuhalten, nimmt  man  dazu  die  eigenschaften  des  von  heiszer  liebe 
für  sein  Vaterland  beseelten  mannes  und  des  grossen  menschen,  so 
gewinnt  das  geschichtliche  lebensbild  des  Agesilaus  eine  typische 
bedeutung. 

Wir  können  hier  nur  gelegentlich  die  sich  an  die  unzuverlässige 
darstell ung  Plutarchs  anlehnende  abfällige  beurteilung,  welche  die 
geschichtliche  gestalt  des  Agesilaus  von  mehreren  seiten  erfahren 
hat,  streifen,  wir  nennen  einmal  Grote,  geschichte  Griechenlands1 
bd.  Vs.  540,  der  trotz  seiner  spartanerfeindlichen  tendenz  doch  nicht 
umhin  kann,  einzuräumen:  'wenn  man  auch  noch  so  viel  für  Partei- 
lichkeit in  dieser  Schilderung  (durch  Xenophon)  abrechnet ,  so  wird 
doch  ein  wahrhaft  groszer  und  ausgezeichneter  Charakter  zurück- 
bleiben. '  Hertzberg,  das  leben  des  königs  Agesilaus  III  von  Sparta, 
s.  215  erkennt  zwar  die  thatkraft  und  eine  reihe  glänzender  eigen- 
schaften an  Agesilaus  an,  'die  ihn  persönlich  auszeichnen  und  an 
einem  manne,  der  in  einer  zeit  tiefen  sittlichen  Verfalls  auf  der  höhe 
des  leberis  stand,  mit  recht  gepriesen  werden  dürfen',  aber  zugleich 
spricht  er  ein  hartes  urteil  aus,  indem  er  die  G  rot  eschen  werte  'der 
ebrgeiz  für  Sparta  steht  in  der  ersten,  der  für  sich  selbst  immer  in 
der  zweiten  linie'  selbst  vertritt  und  hinzusetzt:  'in  dem  herzen  des 
Agesilaus  verschmelzen  leidenschaftlicher  Patriotismus  und  brennen- 
der ebrgeiz  auf  eine  wunderbare  weise',  gar  die  Xenophontische 
schrift  enthält  ihm  nur  ' lobhudeleien 1  und  'triviale  gemeinplätze' 
(a.  a.  o.  s.223).  wohlthuend  berührt  uns  im  gegensatz  dazu  die  liebe- 
volle Versenkung  A.  Buttmanns  in  die  persönlichkeit  und  das  wirken 
des  Spartanerkönigs  in  seinem  'Agesilaus,  söhn  des  Archidamus. 
lebensbild  eines  spartanischen  königs  und  patrioten.  Halle  1872'. 

V.  Xenophons  Agesilaus  als  schullectüre. 

Wir  haben  unsere  aufgäbe  bisher  dahin  gelöst ,  dasz  wir  zu- 
nächst die  persönlichkeit  des  Schriftstellers  Xenophon  im  allgemeinen 
wie  im  besondern  diesen  als  Sokratiker  einer  Untersuchung  unter- 
zogen, darauf  den  gehalt  der  Sokratischen  Schriften  überhaupt  auf 
seinen  didaktischen  wert  prüften,  wozu  es  nötig  war,  ebenso  wohl 
die  persönlichkeit  des  groszen  philosophen  wie  auch  seine  lehre  zu 
erörtern,  sodann  um  das  bildungscentrum  zu  gewinnen,  dem  wir  den 
Agesilaus  zuweisen  konnten,  das  von  Xenophon  weiter  gebildete 
königsideal ,  endlich  musten  wir  für  beide  dabei  in  betracht  kom- 
mende litteraturwerke  die  zeiten  sowohl  wie  auch  die  hauptpersön- 
lich keiten  ,  an  welche  hier  die  erörterung  geknüpft  ist,  in  ihrer  ge- 
schichtlichen und  pädagogischen  bedeutung  überhaupt  besprechen, 
nachdem  wir  so  den  grund  gelegt  haben ,  wenden  wir  uns  zu  dem 
didaktischen  gehalt  unseres  Schriftwerkes  allein  und  suchen  folgende 
fragen  zu  beantworten:  1)  leistet  in  ihm  der  schriftsteiler 
das,  was  die  obige  darstellung  uns  von  ihm  verspro- 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus.  401 


chen  hat?  2)  ist  der  Agesilaus,  wie  ihn  der  Verfasser 
darstellt,  eine  didaktisch  geeignete  persönlichkeit? 
3)  worin  besteht  die  didaktische  leistungsfähigkeit 
der  schrift  selbst? 

Eine  erörterung  der  frage,  ob  der  Agesilaus  denn  überhaupt 
Xenophon  zum  Verfasser  hat,  oder  ob  diese  schrift  apokryph  ist,  ge- 
hört nicht  in  den  rahmen  dieser  Untersuchung,  hüben  und  drüben 
stehen  namhafte  autoritäten.  um  es  kurz  zu  sagen,  können  uns  die 
äuszerlichen  gründe,  welche  man  gegen  die  echtheit  der  schrift  an- 
geführt bat,  so  die  stellenweise  poetische  diction  (dieselbe  fehlt  auch 
der  Cyropädie  nicht!)  und  der  sich  hier  und  da  hervordrängende 
rhetorische  Charakter,  besonders  im  periodenbau  (zu  einem  solchen 
lud  der  stoff  ein!)  nicht  tiberzeugen,  wohl  aber  sprechen  so  viel 
innere  gründe,  die  im  folgenden  bei  der  besprechung  des  Schrift- 
stellers anzugeben  sind,  für  Xenophon,  die  schrift  zeigt  so  ganz  den 
Sokratisch-Xenophontischen  geist,  dasz,  je  länger  man  sie  liest,  um 
so  mehr  alle  zweifei  an  ihrer  echtheit  schwinden. 

Als  bedeutungsvoll  für  die  schrift  ergibt  sich  das  Verhält- 
nis des  Schriftstellers  Xenophon  zu  Agesilaus.  dasz 
beide  in  enge  berührung  mit  einander  getreten  sind ,  lehrt  die  ge- 
scbichte.  wie  weit  Xenophon  in  Asien  in  des  Agesilaus  begleitung 
gewesen  ist,  wissen  wir  nicht;  verbürgt  dagegen  ist  uns  seine  an- 
wesenheit  in  der  schlacht  von  Koronea.  jedenfalls  beruht  die 
Schilderung  der  kriegszüge  des  spartanischen  königs 
wenigstens  zum  groszen  teil  auf  autopsie  und  gewinnt  so 
den  eindruck  der  treuen  Wahrheit,  anderseits  befindet  sich  hier 
der  f achmann  Xenophon  so  ganz  eigentlich  auf  seine m 
gebiete  in  der  darstellung  der  kriegsbilder,  der  strategischen  masz- 
n  ahmen  seinem  beiden,  der  einwirkungen  des  feldherrn  auf  die  truppen, 
der  Schilderung  der  asiatischen  Verhältnisse,  niemand  wäre  gleicher- 
maßen befugt  gewesen  das  alles  darzustellen  als  Xenophon.  aber 
auch  die  politische  thätigkeit  des  Spartanerkönigs  hat  derselbe  aus 
der  nähe  beobachten  können,  und  die  ergreifende  Schilderung  seines 
unermüdlichen  wirkens  für  Lacedämon  beruht  auf  genauester  kund- 
schaft.  vor  allem  betonen  wir  aber  auch  hier,  dasz  das  lebens- 
bild  des  Agesilaus  von  dem  vertrautesten  freunde  ent- 
worfen ist  und  in  einzelnen  zügen  den  Stempel  langjähriger  intimer 
beobachtung  trägt,  auch  in  dieser  schrift  tritt  uns  in  Xeno- 
phon wieder  der  treue,  warme  freund  entgegen,  das 
schönste  denkmal  hat  er,  der  mit  bewunderung  und  liebe  an  dem 
freunde  hieng,  demselben  gesetzt,  indem  er  die  tugenden  des  ver- 
ewigten pries  und  ihn  zum  träger  der  eignen  philosophischen  ideen 
machte. 

Doch  da  erhebt  sich  uns  ein  einwand,  derselbe  Xenophon  hat 
in  seiner  hellenischen  geschichte  ein  in  manchen  nicht  unwesent- 
lichen zügen  von  dem  in  rede  stehenden  verschiedenes  bild  des  Age- 
silaus entworfen,  dasz,  wie  es  nach  der  gleichnamigen  schrift  das 

N.  j*hrb.  f.  phil.  a  päd.  II.  abt.  1891  hft.  8  u.  9.  26 


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402      Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus. 

ansehen  gewinnen  könnte,  der  geschichtliche  Agesilaus  nicht  ohne 
fehler  und  schwächen  war,  verschweigt  der  Verfasser  des  gescbichts- 
werkes  nicht,  dasz  er  die  mithilfe  des  ehrsüchtigen  Lysander  zur 
besteigung  des  Heraklidenthrones  annahm,  deutet  Xenophon  hier 
an,  dasz  er  in  seinen  kämpfen  nicht  immer  siegreich  war,  ist  gleich- 
falls hier  zu  lesen,  und  endlich  findet  sein  verhalten  gegenüber  Spbo- 
drias  hier  auch  nicht  Xenophons  beifall.  aber  alles  das  hat  keinen 
platz  im  'Agesilaus'.  sieht  man  denselben  freilich  als  eine  lobschrift 
an,  wozu  die  ausdrücke  Ittcuvoc  (II)  und  £ykujhiov  (X3)  verleiten 
konnten ,  und  was  er  doch  nur  in  beschränktem  sinne  ist,  so  könnte 
man  dem  Verfasser  den  Vorwurf  nicht  ersparen,  er  habe  die  geschiente 
gefälscht,  wir  wissen  ja  aber,  dasz  die  tendenz  der  schrift  eine 
wesentlich  andere  war.  verherlichen  wollte  Xenophon  wohl  die 
gestalt  des  Agesilaus,  aber  das  büchlein  galt  in  erster  linie  der 
durebfübrung  seines  lieblingsgedankens ,  des  königsideals.  und  ent- 
sprechend der  theoretischen  grundlage,  wie  sie  die  philosophisch 
begründete  Überzeugung  Xenophons  lieferte,  konnte  der  Verfasser 
nur  die  züge  gebrauchen,  welche  in  diesen  rahmen  passten,  d.  h.  er 
muste  zeigen,  wie  weit  sich  in  dem  könige  Agesilaus 
das  ideal  eines  fürsten  mit  all  seinen  forderungen 
geschichtlich  verwirklichte,  etwaige  schwächen  des 
mann  es,  welche  übrigens  gerade  in  seinen  Vorzügen  ihre  wurzel 
haben  *  hätten  in  diesem  bilde  keinen  platz  gehabt,  im 
übrigen  ist  dasselbe  durchweg  mit  geschichtlicher  treue  entworfen, 
und  mit  welcher  wärme  hängt  der  Verfasser  an  diesem  köstlichen 
lebe  Ms  bilde !  wie  spiegelt  sich  in  dem  preise  des  Patriotismus  seines 
helden  die  eigne  Vaterlandsliebe  wieder,  wie  in  dem  lobe  des  uner- 
müdlich thätigen  mannes,  der  sein  leben  im  dienst  der  Vaterstadt 
verzehrt ,  das  Pflichtgefühl  des  Verfassers ,  wie  in  der  begeisterung 
für  den  sittlich  trefflichen  menschen  die  sittliche  tüchtigkeit  und 
grösze  des  Schriftstellers  selbst!  es  ist  dieselbe  liebenswürdige, 
ritterlich- vornehme,  gottesfurchtige ,  patriotische  persönlichkeit  der 
Schriftsteller  selbst  wie  Bein  held !  und  mit  welcher  frische  ist  die 
kleine  schrift  geschrieben ,  wie  weisz  der  Verfasser  das  interesse  des 
lesers  für  seinen  freund  zu  gewinnen  und  bis  zum  schlusz  festzu- 
halten !  nirgends  auch  nur  die  geringste  breite ,  in  scharfer  disposi- 
tion  entwirft  der  Verfasser  seine  gedanken  in  groszen  zügen,  und 
mit  lebhafter  teilnähme  begleiten  wir  den  für  seinen  stoff  begeisterten 
darsteller  bis  zum  schlusz. 

Nachdem  wir  schon  oben  das  tugendideal  und  seine  erfüllung 
im  königsideal  nach  seinen  wesentlichen  merkmalen  beleuchtet  und 
auf  seinen  didaktischen  wert  geprüft  haben,  haben  wir  jetzt  nach- 
zuweisen, dasz  und  wie  derselbe  sich  in  der  person  des  Agesilaus 
darstellt,  deren  geschichtliches  interesse  gleichfalls  schon  oben  von 
uns  erkannt  worden  ist.  des  königs  Agesilaus  ganzes  dichten  und 


88  vgl.  Buttmann  a.  o.  s.  285  ff. 


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Der  didaktische  wert  dea  Xeuophontischen  Agesilaus.  403 

trachten  geht  in  seinem  berufe  auf,  in  der  erfüllung  der  aufgaben, 
welche  dieser  an  ihn  stellt,  dasz  er  ihn  im  Somatischen  sinne  auf- 
faszt,  dasz  er  in  ihm  nur  die  pflichten  sieht,  welche  derselbe  mit  sich 
bringt,  dagegen  von  seinen  Vorrechten  nichts  wissen  will,  und  dabz 
er  sich  als  hirte  seines  volkes  für  dessen  Wohlergehen  verantwort- 
lich weisz,  ist  bereits  gesagt  worden,  diese  seine  berufstreue  be- 
thätigt  sich  nicht  blosz  in  der  freudigen  Übernahme  schwieriger  com- 
mandos,  im  asiatischen  kriege,  in  der  unverzüglichen  rückkehr  aus 
Asien  zur  bekämpfung  der  antispartanischen  verbündeten,  in  der 
rastlosen  thätigkeit,  mit  der  er  dort  bandelte  und  seine  truppen  aus- 
bildete, um  den  kräften  des  gegners  gewachsen  zu  sein,  in  seinen 
steten  feldztigen  zum  wohle  der  stadt  bis  ins  hohe  alter  hinein,  wie 
er  dann  auf  der  rückkehr  von  dem  ägyptischen  kriegszuge,  den  er 
im  interesse  der  machtstellung  seiner 'Vaterstadt  unternommen  hatte, 
seinen  tod  fand,  sondern  ebensowohl  in  seiner  thätigkeit  im  frieden, 
in  welchem  sein  leben  blosz  arbeit  war,  berechnet  für  das  glück  und 
wohl  der  seinen,  diese  rastlose  thätigkeit  in  rat  und  that  für  seine 
Vaterstadt,  die  unnachsichtige  strenge  gegen  sich  selbst  im  dienste 
der  p flicht  hat  ihre  wurzel  in  der  Vaterlandsliebe.  Agesilaus  ist  Spar- 
taner vom  scheitel  bis  zur  sohle ,  wie  er  als  kraftvolle  persönlich- 
keit eben  alles  ganz  ist.  aber  sein  blick  geht  hinaus  Über  die  be- 
schränkte spartanische  auffassung,  er  ist  auch  ein  qpiXe'XXrjv.  dieses 
national-griechische  empfinden  zeigt  sich  ebensowohl  in 
seinem  unversöhnlichen  hasz  gegen  die  Perser,  den  nationalfeind, 
wie  in  seinem  tiefen  schmerz  nach  der  Schlacht  bei  Koronen:  <peö, 

UJ  *€XXdc,   Ö7TÖT€  0\  VÖV   T€ÖVr]KÖT€C  IxCtVOl  fjcCtV  2ÜJVT6C  VlKCtV 

jiaxönevoi  Träviac  touc  ßapßdpouc  (Vll  6).  dazu  (vgl.  ebd.)  seine 
milde  und  seine  Versöhnlichkeit  gegenüber  dem  besiegten  griechi- 
schen feinde,  dem  barbarentum  gegenüber  war  er  sich  der  höheren 
griechischen  bildung  wohl  bewust,  seinem  despotismus  setzte  er  die 
griechische  humane  denk  weise  gegenüber,  innerhalb  Griechenlands 
hingegen  war  sein  bemühen  darauf  gerichtet,  die  leidenschaften  zu 
mildern  und  auszusöhnen. 

Der  kern  dieses  vortrefflichen  herscherbildes  nun  ist  die  sitt- 
lich ausgestaltete  persönlichkeit,  wie  der  könig  Agesilaus 
seinen  beruf  vor  allem  durch  sein  persönliches  hervortreten  erfüllt, 
so  stellt  der  mensch  Agesilaus  in  sich  das  tugendideal  dar.  zunächst 
seine  festigung  in  der  gottesfurcht  und  frömmigkeit.  dieselbe  zeigt 
sich  recht  klar  in  seiner  auf  wahre  religiösität  zurückgehenden  un- 
bedingten glaub  Würdigkeit:  selbst  der  feind  weisz  ihn  nach  dieser 
seite  hin  zu  schätzen  und  vertraut  ihm  mehr  als  seinesgleichen, 
Xenophon  gibt  dafür  mehrere  beispiele  an.  und  diese  Zuverlässig- 
keit und  Wahrhaftigkeit  hat  ihm  manchen  erfolg  in  seinen  kriegen 
gebracht,  den  er  sonst  hätte  teuer  erkaufen  müssen,  wie  notwendig 
übrigens  für  jede  im  öffentlichen  dienst  stehende  person  die  Ver- 
trauenswürdigkeit ist,  vor  allem  für  den  heerführer  im  feindesland, 
bemerkt  der  Verfasser  mit  den  worten :  oütw  jn^ya  kcu  KaXöv  Kif\\xa 

26* 


404       Der  didaktische  wert  des  Xenophcmtiachen  Agesilau». 


rote  T€  dXXoic  cnraci  xai  dvbpi  bf|  CTpaTrjYiu  to  öciöv  te  Kai  ttictöv 
€?vai  T6  Kai  ÖVTa  dfVUJCGai.  aus  der  wurzel  der  frömmigkeit  ent- 
sprang naturgemäsz  die  toleranz,  welche  ihn  fremden  glauben  und 
fremde  religiöse  culte  schonen  liesz ,  wie  er  denn  stets  pietätsvoll 
die  rechte  der  götter  wahrte:  wer  den  sich  an  den  altar  des  gottes 
flüchtenden  diesem  schütze  entrisz,  galt  ihm  als  ein  tempelscbänder. 
und  wie  tief  er  die  religion  auffaszte,  zeigt  sein  ausspruch,  dasz  gute 
werke  so  viel  wert  seien  als  reine  opfer.   dieser  religiositSt  ent- 
spricht es  auch,  dasz  er  im  glücke  der  götter  nicht  minder  gedachte 
als  in  schweren  tagen:  dXXd  nf|v  Kai  öttote  euiuxoirj,  ouk  avGpui- 
ttujv  imepeqppövei,  dXXd  Geoic  x<*piv  fjbei  Kai  Gappujv  irXeiova 
£8uev  fj  Ökvujv  rjuxeio  (XI  2).  aus  seiner  wahren  frömmigkeit  ent- 
sprang denn  auch  die  demut,  welche  den  mann  ziert,  die  tugend 
der  bucaiocuvr)  erscheint  in  diesem  lebensbilde  zunächst  als  uneigen- 
nützigkeit  gegenüber  seinen  mitbürgern  und  dem  gemeinwesen.  mit 
wohltbaten ,  heiszt  es ,  kargte  er  gegen  niemand ,  ohne  auf  dank  zu 
rechnen ,  am  wenigsten  dem  Staate  gegenüber,  dasz  einem  solchen 
manne  jede  gewinnsucht  fern  lag,  versteht  sich  von  selbst;  hatte  er 
doch  den  grundsatz :  rjpeiTO  cuv  tüj  f  evvaiiu  u,€iov€KT€iv  f|  cuv  tw 
dbiKUJ  ttX^ov  ^X£lv        5).  für  sich  beanspruchte  er  überhaupt 
nichts,  wie  er  in  seiner  demut  nie  das  eigne  suchte,  so  weigerte  er 
sich  ,  sich  bei  lebzeiten  ein  denkmal  setzen  zu  lassen,  nichts  haszte 
er  bitterer  als  den  leeren  schein,  wie  er  gegen  die  seinen  immer 
freigebig  war,  so  zeigte  er  sich  auch,  wie  Xenophon  das  durch  seine 
handlungs weise  gegen  seine  Stiefschwester  belegt,  als  ein  guter 
bruder.  in  der  mäszigkeit  gieng  er  sehr  weit:  die  fleischlichen  be- 
gierden  nach  speise  und  trank ,  schlaf  oder  wollust29  waren  seiner 
nicht  herr,  vielmehr  hatte  er  sie  völlig  in  seiner  gewalt  gemäsz  seinem 
grundsatze :  f}Y€iTO  -f dp  dpxovxi  TTpocrjKeiv  ou  naXaKia ,  dXXd  Kap- 
Tepia  tüjv  ibiuJTÜuv  Trepuivai  (V  2).  die  hohe  mäszigkeit  und  ein- 
fachheit,  ja  völlige  anspruchslosigkeit  des  fürsten  wird  in  einer 
schönen  parallele  mit  dem  barbarenkönig  durchgeführt  (VI):  ganz 
im  gegensatz  zu  diesem  war  er  der  mann,  der  mit  jeder  speise,  mit 
jedem  trunk  fürlieb  nahm,  dem  zur  ruhe  jede  stunde  recht  war: 
keine  jahreszeit  hatte  für  ihn  Unannehmlichkeiten,  seine  kräfte  waren 
vielmehr  so  gestählt,  dasz  sie  zu  jeder  zeit  in  dem  dienste  des  Vater- 
landes stehen  konnten,  im  felde  gönnte  er  sich  weder  ruhe  noch 
schonung,  seine  selbstbeherschung  ermöglichte  es  ihm  fdie  nacht 
zum  tage  zu  machen',  und  bezüglich  seiner  tapferkeit  kann  Xeno- 
phon von  ihm  sagen ,  dasz  seine  schlachten  auch  trophäen  für  ihn 
gewesen  seien,  dem  feinde  gegenüber  kam  ihm  seine  hohe  klugheit 
zu  statten,  welche  ihn  feind  und  freund  richtig  behandeln  liesz.  wie 
ihn  im  Verhältnis  zu  letzterem  das  innige  Verhältnis  unterstützte,  in 
welches  er  zu  seinen  untergebenen  trat,  und  seine  tiefe  menschen- 
kenntnis,  welche  ihn  stets  den  kern  im  menschen  erkennen  und  alle- 


»■  die  partie  V  4—7  ist  bei  der  lectüre  natürlich  zu  übergehen. 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus.  405 

mal  den  rechten  an  die  rechte  stelle  setzen  liesz,  so  wüste  er  den 
griechischen  gmndsatz  dem  feinde  möglichst  furchtbar  zu  sein  zu 
verwirklichen,  aber  ihn  auch  durch  milde  und  Versöhnlichkeit  zu  ge- 
winnen und  zu  schonen,  wo  es  angieng.  seine  milde  gesinnung 
gegenüber  dem  unterworfenen  feinde ,  besonders  das  edle  herz,  wel- 
ches er  gegen  die  von  Sklavenhändlern  am  wege  liegen  gelassenen 
kinder  bewies  (I  21),  musz  selbst  der  dem  Spartanerkönige  aus  poli- 
tischer Parteinahme  durchaus  nicht  holde  Grote80  bewundernd  ein- 
räumen. —  Noch  sei  darauf  hingewiesen,  wie  er  als  heerführer  die 
wahren  erfordernisse  •  eines  guten  geistes  der  truppen  vortrefflich 
kannte:  kcütoi  ttüjc  öv  icxupoi^pa  y^voito  qpdXcrf£  fj  biet  tö  fifcv 
TreiOecGcu  cutoktoc  oöca,  biet  bi  tö  <piXeiv  töv  äpxovia  ttictüjc 
Ttapouca;  ruft  VI  4  Xenophon  aus,  ebenso  I  27:  öttou  *fdp  dvbpec 
Geouc  ji£v  c^ßoiev,  ttoXc^ikci  bk  dcKOicv,  TT€i0ctpxiav  b£  ueXeTtliev, 
ttujc  ouk  cIköc  dvTaöGa  Trdvra  uec tu  £Xiribuuv  dYCtGwv  elvai ;  — 

Ein  so  gleicbmäszig  gereifter  Charakter,  von  dem  Xenophon 
sagen  kann :  u€T*  öXitujv  bi  noi  dbÖK€i  dvGpumujv  ou  Kapreptav 
ttjv  dp€TT)V,  dXX*  6UTrd0€iav  V0|ii£eiv,  kann  auch  die  ruhe  und  stille 
heiterkeit  zeigen ,  welche  die  frucht  treuer  arbeit  an  sich  selbst  zu 
sein  pflegt,  von  Agesilaus  rühmt  der  Verfasser,  dasz  man  seinen 
Umgang  wegen  seiner  hohen  gesellschaftlichen  Vorzüge,  wegen  des 
euXQpi,  welches  ihm  in  hohem  masze  eigen  war,  aufsuchte,  nichts 
war  in  ihm  von  stolzer  abgeschlossenheit,  nichts  von  äuszerem  zur- 
sebautragen  seiner  bevorzugten  Stellung,  im  gegenteil  infolge  der 
ihm  eignenden  demut  auch  eine  milde  freundlichkeit  gegen  jeder- 
mann, wie  er  zu  aller  zeit  zugänglich  war,  so  wüste  er,  wohin  immer 
er  kam,  durch  anschlagen  des  rechten  tones  eine  gehobene  und  frohe 
Stimmung  zu  verbreiten,  er  liebte  scherze  und  heiteres  gespräch, 
wie  er  auch  darin  ein  echter  Spartaner  war,  dasz  er  eine  grosze 
schlagfertigkeit  der  rede  besasz,  so  dasz  sein  Umgang  allgemein  be- 
gehrt war.  ausdrücklich  aber  versichert  Xenophon  (XI  11),  dasz 
seine  scherze  sich  nicht  etwa  in  witzen  auf  kosten  anderer  äuszerten, 
sondern  seine  liebenswürdigkeit  in  einer  herzgewinnenden  freund- 
lichkeit bestand ,  wie  sie  eben  seinem  Charakter  entsprang. 

Um  da3  in  kurzen  strichen  dem  Xenophon  nachgezeichnete 
lebensbild  abzuschlieszen ,  mag  noch  hergesetzt  werden,  was  gegen 
schlusz  der  schrift  der  Verfasser  von  seinem  freunde  sagt:  'an  ihm 
rühmten  seine  verwandten  die  treue  pflege  der  verwandtschaftlichen 
beziehungen,  alle,  die  mit  ihm  umgiengen,  sein  unverfälschtem  wesen, 
wer  ihm  diente,  sein  treues  gedenken,  wer  im  leide  war,  seine  Hilfs- 
bereitschaft, wer  mit  ihm  in  gefahr  gewesen  war,  nannte  ihn  nächst 
den  göttern  seinen  retter.  auch  das  scheint  er  mir  in  ganz  einziger 
weise  gezeigt  zu  haben,  dasz,  wenn  auch  die  kräfte  des  körpers  altern, 
doch  die  seelenkraft  des  edlen  nicht  altert.'  mit  dieser  köotlicheu 
parallele  zu  den  worten  des  psalrasängers  (92,  15)  schlieszen  wir 


«•  a.  o.  V  s.  192. 


406       Der  didaktische  wert  des  Xenophontischeu  Agesilaus. 


diese  Darstellung  ab,  welche  zeigen  sollte,  dasz  das  Xenophontische 
bild  des  Spartanerkönigs  Agesilaus  nicht  nur  alle  wesentlichen  züge 
des  oben  erörterten  königsideals  an  sich  tragt,  sondern  dasz  seine 
persönlichkeit  auch  eine  so  harmonisch  entwickelte,  so  deutlich  den 
Stempel  der  Y€waiÖTr)c  zeigende  ist,  dasz  sie  uns  einen  idealen 
könig  und  menschen  darstellt,  wie  wir  ihn  uns  für  die  unterrichte- 
zwecke  nur  wünschen  können,  das  bild  dieser  sittlich  erhabenen 
persönlichkeit  ist  wohl  dazu  angethan,  einen  tiefen  und  dauernden 
eindruck  auf  die  seele  des  schülers  zu  machen  und  dieselbe  für  die 
ideen,  welche  der  Schriftsteller  vertritt,  zu  gewinnen. 

Es  erübrigt  noch  die  beantwortung  der  dritten  frage:  das 
material  dazu  ist  in  der  ganzen  bisherigen  erörterung  gegeben,  wir 
begnügen  uns  daher  unter  Verweisung  auf  die  vorhergehenden  ab- 
schnitte damit  den  gewinn  der  lectüre  des  Agesilaus  dahin  zusammen- 
zufassen, dasz  dieselbe 

1)  die  erhabene  gestalt  des  patriotischen  Spar- 
tanerkönigs und  sein  wirken  für  die  dem  verfall  ent- 
gegengehende Vaterstadt, 

2)  das  königsideal  in  seiner  geschichtlichen  be- 
rechtigung  und  in  seiner  philosophischen  gestalt 
sowie  das  Sokratische  tugendideal,  ersteres  in  Ver- 
vollständigung des  aus  der  Cyropädie  entnommenen 
bildes,  letzteres  in  Vorbereitung  auf  die  Memorabilien, 

3)  die  ergänzung  des  Charakterbildes  des  Schrift- 
stellers Xenophon,  besonders  nach  der  seite  seiner 
politischen  denkweise 

darbietet,  ebenso  wenig  wie  es  nötig  erscheint ,  hier  das  über  den 
didaktischen  gehalt  der  groszen  in  betracht  kommenden  gedanken- 
kreise  gesagte  zu  wiederholen,  brauchen  wir  noch  über  die  Verbin- 
dung dieser  lectüre  mit  den  übrigen  lehrstoffen  uns  auszulassen:  wir 
haben  bei  gelegenheit  der  besprechung  all  dieser  bildungsstoffe  ihre 
berührung  mit  den  andern  Unterrichtsfächern,  soweit  eine  solche 
ungezwungen  sich  darbietet,  erörtert. 

Nur  einem  einwände,  welcher  möglicherweise  aus  der  an  sich 
zuzugebenden  heterogenität  der  von  uns  nachgewiesenen  in  dieser 
schrift  enthaltenen  bildungskreise  abgeleitet  wird,  möchten  wir  noch 
zu  begegnen  suchen,  scheinbar  liegen  ja  Xenophon  und  seine  poli- 
tischen ideen,  Sokrates  und  sein  tugendideal  und  die  geschichtliche 
gestalt  des  Agesilaus  weit  von  einander,  aber  wir  fürchten  nicht, 
dasz  die  von  uns  geforderte  hervorkehrung  aller  dieser  momente  der 
einheitlichkeit  des  Unterrichts  abbruch  zu  thun  vermöchte,  vielmehr 
wird  derselbe  es  dankbar  begrüszen  können,  wenn  ihm  die  möglich- 
keit  geboten  wird,  das  bildungsmaterial  mit  vielen  fäden  der  seele 
des  schülers  zu  verknüpfen  und  für  dasselbe  ein  vielseitiges  interesse 
in  dieser  zu  erzeugen,  sodann  haben  wir  ja  von  anfang  an 
die  lectüre  des  Agesilaus  nur  als  ein  glied  in  der  reihe 
Cyropädie  —  Agesilaus  —  Memorabilien  ins  auge  ge- 


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Der  didaktische  wert  des  Xenophontischen  Agesilaus.  407 

faszt.  wir  würden  demnach  folgende  Verteilung  des  gesamten 
Stoffes  als  sich  aus  der  natur  der  sache  ergebend  ansetzen:  der 
lectüre  der  Cyropädie  fällt  zunächst  die  aufstellung 
des  königsideals  nach  seinen  hauptzügen  zu,  gelegent- 
liche hinweise  auf  Xenophon  als  Sokratiker  und  auf  das 
tugendideal  seines  meisters  drängen  sich  von  selbst 
auf,  und  schon  hier  erweite rt  sich  das  bild  des  Schrift- 
stellers, eine  eingehendere  berück  sich  tigung  der  poli- 
tischen seite  desselben  und  der  politischen  anschau- 
ungen,  aus  welchen  die  aufstellung  des  königsideals 
entsprungen  ist,  ist  im  anschlusz  an  die  lectüre  des 
Agesilaus  zu  geben,  zugleich  in  ihrer  geschichtlichen 
berechtigung,  daneben  wird  der  abschlusz  des  Xeno- 
phontischen königsideals  gewonnen,  wie  sich  auch  die 
hauptzüge  des  tugendideals  schon  hier  herausstellen, 
den  Memorabilien  endlich  verbleibt  die  systematische 
entwicklung  des  letztern  sowie  der  Sokratischen  raoral- 
philosophie  überhaupt,  die  behandlung  der  philosophi- 
schen und  geschichtlichen  gestalt  des  Sokrates  und  ab- 
schliessende.- über  das  Charakterbild  des  Verfassers, 
-wir  glauben,  dasz  auf  diese  weise  der  ganz  erhebliche  bildungsstoff, 
welchen  die  Sokratischen  Schriften  Xenophons  darstellen,  sich  orga- 
nisch gliedern  und  verteilen  läszt.  dasz  am  Schlüsse  seiner  behand- 
lung ein  vertiefender  rückblick  geboten  ist,  braucht  wohl  nicht  erst 
bemerkt  zu  werden. 

Wir  haben  in  unserer  erörterung  den  Schwerpunkt  auf  den 
inneren  Zusammenhang  gelegt,  welcher  zwischen  lectürestoffen  auf- 
gedeckt ist,  die  im  Unterricht  nach  einander  behandelt  werden,  so 
richtig  auch  uns  bei  der  auswahl  der  lectüre  die  didaktische  Forde- 
rung erscheint,  dieselbe  in  möglichst  vielfache  berührung  mit  den 
übrigen  lesestoffen  und  Unterrichtsgegenständen  überhaupt,  die 
gleichzeitig  die  seele  des  Schülers  beschäftigen,  zu  bringen,  und  so 
sehr  wir  es  anerkennen ,  dasz  auf  diese  concentration  in  der  aufstel- 
lung der  lehrpläne  groszes  bemühen  verwandt  wird  —  für  ebenso 
wichtig  als  das  richtige  nebeneinander  halten  wir  das  richtige  nach- 
einander, wir  verlangen ,  dasz  nur  solche  vorstellungskreise  zu  an- 
haltender beschäftigung  ausgewählt  werden,  welche  noch  für  die 
oberste  stufe  wertvolles  inaterial  bilden,  erst  in  dieser  classe  findet 
der  abschlusz  der  concentrationsarbeit  statt,  und  dio  auf  den  ver- 
schiedenen Unterrichtsgebieten  gewonnenen  vorstellungsmassen  er- 
halten durch  ihre  gegenseitige  Verknüpfung  erst  hier  ihre  rechte  be- 
ziehung  zu  einander  wie  auch  zu  der  seele  des  unterrichteten,  in 
diesem  sinne  dürfen  wir  wohl  auch  das  wort  0.  Fricks"  verstehen: 
'der  Unterricht,  wenigstens  der  oberprima,  müste  recht  eigentlich 
und  vornehmlich  in  solcher  rückschauender  und  vertiefender  zu- 


31  lehrproben  und  lebrgänge  hft.  XII  s.  19. 


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408 


Beiträge  zur  hebräischen  grammatik  und  raetrik. 


sammenfassung  des  früher  erworbenen  gewinnes  bestehen.'  freilich 
ist  es  zur  erreichung  dieses  zieles  erforderlich ,  dasz  der  unterriebt 
in  den  einzelnen  classen  nie  den  Zusammenhang  mit  den  Vorstufen 
aufgibt,  und  dasz  er  tiberall  bemtlht  ist  die  fundamente,  welche  ihm 
zum  weiterbau  übergeben  werden,  auch  auszunützen,  es  darf  daher 
als  eine  dankenswerte  p  flicht  der  Schulleitung  bezeichnet  werden, 
dasz  dieselbe  dieser  seite  der  ausführung  der  lehrpläne  ihre  beson- 
dere aufmerksamkeit  zuwendet;  jedenfalls  bleibt  nach  dieser  seite 
hin  in  der  theorie  wie  in  der  praxis  noch  sehr  viel  zu  thun  übrig. 

Sollte  es  uns  in  der  vorstehenden  erörterung  gelungen  sein  den 
nach  weis  zu  führen,  dasz  durch  die  methodische  anordnung  und 
aufeinanderfolge  von  lectürestoffen  sich  eine  reihe  bedeutungsvoller 
anschauungen  und  vorstellungskreise  und  damit  eine  wesentliche 
bereicherung  des  geistigen  lebens  des  schülers  gewinnen  läszt,  zu- 
gleich aber  auch  mit  ihr  für  die  abschlieszende  arbeit  auf  der  ober- 
sten stufe  ein  guter  grund  gelegt  wird,  so  glauben  wir  ihren  zweck 
als  erreicht  bezeichnen  zu  dürfen. 

Ohlau.  Paul  Dörwald. 


(31.) 

BEITRÄGE  ZUR  HEBRÄISCHEN  GRAMMATIK 

UND  METRIK. 

(schlusz.) 


III. 

Dasz  in  vielen  stellen  der  artikel  grammatisch  erklärbar  und 
um  der  klarheit  des  sinnes  wegen  notwendig  erscheint,  ist  bereits 
zu  an  fang  der  abhandlung  ausgesprochen  worden,  es  beschränkt 
sich  jedoch  dieses  auf  folgende  fälle: 

1.  Der  artikel  kann  nicht  fehlen  in  feststehenden  ausdrücken, 
welche  eine  adverbiale  bedeutung  erhalten  haben,  als 

et)  in  D*Tn  in  der  bedeutung  'heute*  (hodie);  Ps.  2,  7;  95,  7; 
119,  91;  Hiob  23,  2;  Prov.  7,  14  u.  a. 

ß)  in  der  Verbindung  von  DVStVd,  welches  die  bedeutung  'fort- 
während ,  immerfort*  erhalten  hat  (D"P~bD  =»  'jeden  tag');  beide 
wörtchen  gehören  eng  zusammen  und  werden  stets  nur  mit  einer 
tonsilbe  gelesen,  als  Ps.  26,  5;  32,  3;  35,  28;  37,  26;  38,  7.  13; 
42,  4,  11;  44,  9.  16.  23;  52,  3;  56,  2.  3.  6;  71,  8.  15.  24;  72,  15; 
73,  14;  74,  22;  86,  3;  88,  18;  89,  17;  102,  9;  119,  97;  Prov. 
21,  26;  23,  17;  Thren.  1,  13;  3,  3.  14.  62;  vgl.  Jes.51,  13;  52,5; 
62,  6;  65,  2.  5. 

T)  in  y-iKrrbs  in  der  adverbialen  bedeutung  'tiberall,  aller- 
wärts*  (ubicunque  terrarum),  daher  es  niemals  als  subject  des  satzes 
aufgefaszt  werden  müste;  wie  denn  auch  das  dabei  stehende  verbum 


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Beiträge  zur  hebräischen  grammatik  und  metrik. 


409 


stet 8  nur  im  plural  vorkommt,  weil  dieses  das  subject  enthält  und 
yiKirrba  eine  adverbiale  bestimmung  zu  demselben  bildet,  als  Ps. 
35,  8;  47,  8;  66,  1.  4;  96,  1,  7;  98,  4;  101,  1;  ferner  47,  3.  8; 
48,  3;  97,  5;  I  Chron.  16,  23.  in  allen  diesen  füllen  werden  beide 
eng  zu  einem  begriff  verbundene  Wörter  mit  einer  tonsilbe  gelesen, 
wird  jedoch  Vd  mit  einer  präposition  verbunden,  so  wird  bs  betont, 
wie  yn»Ti  bD-by  in  Ps.  47,  3;  57,  6.  12;  83,  19;  97,  9;  108,  6; 
oder  yit*n  brp  Ps.  8,2.  10;  19,5;  45,  17;  105,7;  I  Chron.  16, 14; 
in  diesem  fall  erhält  b3  seine  substantivische  kraft,  ebenso  bsb 
D^Oin^  Ps.  18,  31,  sobald  der  artikel  als  thesis  nachfolgt;  man  ver- 
gleiche bsri  Ps.  14,  3;  49,  18;  sonst  wird  bs  vor  der  tonsilbe  ton- 
los gebraucht. 

b)  hierher  gehören  auch  einzelne  ausdrücke,  welche  niemals 
ohne  artikel  gebraucht  werden,  als  welches  trotz  dem 

artikel  mit  einer  tonsilbe  gelesen  wird,  in  Ps.  8,  9;  Hiob  12,  8, 
wahrscheinlich  wegen  der  kürze  der  beiden  Wörter  und  des  gewohn- 
heitsmäszigen  gebrauchs  nach  der  prosa,  vgl.  Genes.  9,  2;  Num. 
11,22;  Habaq.  1,14;  Hosea  4,3;  Ezech.  38,20;  Zeph.  1,3;  ebenso 
stets  D^ttn  r)")?,  aber  stets  mit  zwei  tonsilben,  so  dasz  der  artikel 
aus  metrischem  gründe  (vgl.  II  c)  berechtigt  wäre;  so  Ps.  79,  2; 
104,12;  Hiob  12,7;  28,21;  35,11;  vgl.  Genes.  1,26.  28.  30;  2,20; 
6,  7;  7,  3;  9,  2;  Levit.  28,  26;  I  Sam.  17,  44.  46;  II  Sam.  21,  10; 
I  Reg.  14,  1;  16,4;  21,  24;  Jerem.  4,  28;  7,  33;  9,  9;  15,  3;  16,4; 
19,  7;  34,  20;  Ezech.  10,  20;  29,  5;  31,  6;  32,  4;  Hos.  2,  20;  7,  12; 
Zeph.  1,3;  vielleicht  auch  O^-nDü  ao'P  Ps.  80,2;  vgl.  I  Sam.  4,4; 
IE  Sam.  6,2;  I  Reg.  8,  7;  II  Reg.  19,  lo;  I  Chron.  13,6;  Jes.  37, 16, 
so  dasz  in  Ps.  99,  1  statt  atfh  gelesen  werden  müste  212^  cer  liesz 
sich  nieder5,  um  gericht  zu  halten  (vgl.  Ps.  9,  5.  8 ;  29,  10;  122,  5), 
wodurch  auch  der  parallelismus  mehr  symmetrisch  und  der  sinn  klar 
würde,  in  mehreren  stellen  der  Psalmen  sind  wörtliche  entlehnungen 
aus  der  prosa  unzweifelhaft,  als  Ps.  135, 11;  136,  19.  20  (vgl.  Num. 
21,  21.  26.  33.  34;  Ps.  79,  6  und  Jerem.  10,  25).  solche  aus  der 
prosa  wörtlich  entlehnte  stellen  können  bei  der  beurteilung  rhythmi- 
sch er  dichtung  nicht  in  betracht  kommen. 

2.  Ziemlich  zahlreich  kommen  parüeipia  mit  dem  artikel  vor. 
abgesehen  von  den  fallen,  in  welchen  der  rhythmus  den  artikel  er- 
fordert, verlangt  oft  der  sinn  und  die  grammatische  construetion 
denselben,  so  wird  bereits  in  der  grammatik  (Gesenius  §  126,  1  b) 
der  fall  erwähnt,  in  welchem  mit  dem  artikel  vor  dem  partieipiumdas 
subject  des  vorangehenden  satzes  wiederaufgenommen  wird,  so datz 
der  artikel  das  demonstrativum  und  relativum  zugleich  vertritt  (vgl. 
Suckow  s.  7).  in  Ps.  19,  11  D^Tanrn  setzt  das  partieipium  mit  dem 
artikel  von  neuem  an,  indem  der  artikel  als  demonstrativum  die  in 
v.  8 — 10  genannten  subjecte  aufnimmt  und  zugleich  als  relativum 
das  prädicat  im  partieip  hinzufügt:  esie,  die  schätzbarer  sind  als 
gold.'  dieses  stimmt  auch  ganz  zu  der  Stellung  dieses  verses  zur 
vorangehenden  und  nachfolgenden  strophe^c^^3em5ei^n  aus 


410 


Beiträge  zur  hebräischen  graniniatik  und  metrik. 


metrischen  grUnden  im  leitfaden  (s.  13)  gegeben  werden  muste. 
ähnlich  erhalten  Job  9,  5 — 7  die  participia  durchgängig  den  artikel 
in  gleicher  bedeutung  und  heben  sich  durch  gleichheit  dieser  form 
als  strophe  ab  von  v.  8 — 10,  welche  mit  participien  ohne  artikel  in 
attributivem  sinne  beginnen  und  ebenfalls  durch  diese  formengleich- 
heit  als  eine  besondere  strophe  erkennbar  sind ,  wie  dieses  bereits 
Dillmann  (commentar  s.  82  unten)  auch  ohne  kenntnis  der  metrik 
herausfühlte,  eine  mehr  künstliche  abwechslung  findet  sich  Ps.  104, 3; 
dagegen  wird  in  v.  10  der  beginn  einer  neuen  strophe  durch  das 
participium  mit  dem  artikel  angedeutet,  während  in  v.  13  und  14 
die  participia  nach  der  Unterbrechung  von  v.  11  und  12  ganz  passend, 
weil  sie  zu  derselben  strophe  gehören,  keinen  artikel  haben;  im  v.32 
erfordert  der  sinn  in  tranft  den  artikel,  weil  es  so  viel  als  cra^BK 
bedeuten  soll,  participia  mit  artikel,  welche  durch  demonstrativa 
und  relativa  aufzulösen  sind,  finden  sich  Ps.  18,33.  48;  25, 3;  31,7; 
32,  10;  33,  15;  35,  26;  81,  11;  118,  26;  125,  1;  126,  5;  129,8; 
144,  1.  2.  10;  146,6;  147,3.  8.  14.  15.  16;  Job  5,  106;  9,5.6.7: 
22, 17;  30, 4  (zum  beginn  einer  neuen  strophe,  vgl.  s.  350  d);  Pro?. 
26,  18;  Thren.  4,  5;  Genes.  49,  17,  21  (zur  wiederaufnähme  der 
person). 

Geht  ein  determiniertes  nomen  oder  eigennamen  voran ,  so  er- 
fordert der  sinn,  wie  auch  die  grammatik  (Gesenius  §  126,  5),  dasz 
das  participium  ebenfalls  den  artikel  erhält,  wenn  dasselbe  attribut 
zum  nomen  ist,  da  es  ohne  artikel  in  prädicativer  bedeutung  gefaszt 
werden  mtiste;  vgl.  Ps.31, 19;  34,13;  35,27;  86,2;  122,3;  128,1; 
134,  1;  Prov.  9,  15. 

3.  Der  artikel  steht  oft  zur  Unterscheidung  des  subjecta  vom 
prädicat.  dieser  fall  tritt  vorzüglich  ein,  wenn  das  prädicat  ein 
nomen  oder  participium  ist;  so  werden  z.  b.  in  Ps.  19,  2  D*»non 
0^0073  und  yip-itt  YW3  durch  den  artikel  die  participia  als  prä- 
dicate  klar,  welche  die  praesentia  der  dauer  vertreten;  ebenso  Ps. 
104,  21  o*a«tö  D^csr;.  ganz  besonders  wird  der  sinn  klar  durch 
den  artikel  in  Ps.  68,  12  :  'der  herr  gab  das  wort  (d.  h.  die  ver- 
heiszung),  der  siegesverkünderinnen  (gab  es  sofort)  eine  grosze 
schar',  die  unmittelbarkeit  der  verheiszung,  Verwirklichung  und 
Verkündigung  des  sieges  von  Seiten  der  herbeiströmenden  schar  der 
frauen  ist  ebenso  prägnant  wie  klar  ausgedrückt;  der  vers  steht 
in  keiner  beziehung  dem  vielgerühroten  Homerischen  verse  nach 
II.  1,  52 :  ßdXX* '  ctiet  be  Trupai  vexüwv  kguovto.  wäre  der  artikel 
fortgeblieben,  so  würde  der  sinn  vieldeutig  und  schwer  zu  erkennen 
gewesen  sein;  ebenso  läszt  sich  der  artikel  in  v.  20  erklären,  und 
ganz  unzweifelhaft  zeigt  sich  dieses  in  v.  21  my©i?ab  b«  12b  b«H 
und  Ps.  115, 16  mr^b  c^n»  D^tt)n,  in  denen  sich  offenbar  subject 

6  das  participium  mit  dem  artikel  "rm  ist  demnach  ein  parenthe- 
tischer relativsatz;  denn  es  sollen  hier  nicht  die  wunder  gottes  in  der 
natur,  sondern  in  der  leitung  der  menschlichen  Schicksale  (v.  11 — 15) 
dargestellt  werden,  so  dasz  v.  11  sich  als  folgeaatz  an  v.  9  anschlieait. 


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Beiträge  zur  hebräischen  gramniatik  und  metrik.  41 1 

und  prädicat  nur  durch  den  artikel  unterscheidet,  auch  in  manchen 
andern  fällen  läszt  sich  der  artikel  am  besten  grammatisch  erklären, 
als  Ps.  104,  18  üTiaan  Q"^!i,  wo  durch  den  artikel  das  adjectivum 
die  bedeutung  des  Superlativs  erhält,  wie  in  der  that  die  'höchsten 
berge*  die  wohnstätte  der  gemsen  sind,  ebenso  89,  50  *]^on 
D^HNCnn  nicht  'die  früheren  gnadenbeweise,  sondern  'die  gnaden- 
beweise der  früheren',  d.  b.  die  den  früheren  gezeigten  gnaden- 
beweise, in  ähnlicher  weise  tritt  der  artikel  nach  eigennamen  zur 
bezeichnung  des  vocativs  ein  (vgl.  Gesenius  gramm.  §  126,  2e. 

Zach.  3,  8  ynart  iron  roirr),  als  Ps.  122,  3  rmaatt  D^bttw 

'Jerusalem,  die  du  erbauet  bist',  ebenso  Ps.  137,  8:  'stadt  Babel, 
du  zerstörte*;  ohne  den  artikel  würde  der  vocativ  ebenso  wenig  er- 
kennbar sein ,  wie  er  noch  jetzt  trotz  dem  artikel  von  den  meisten 
exegeten  erkannt  worden  ist.  hiernach  auch  ist  Judic.  5,9  DWttvnfl 
Dya  'die  ihr  euch  freiwillig  stelltet*  zu  tibersetzen.7 

Oft  wird  der  sinn  des  wortes  erst  durch  den  artikel  bestimmt, 
wie  in  Ps.  148,  10,  wo  nur  das  erste  nomen  !"Pnri  allein  den  artikel 
hat,  weil  es  eben  erst  durch  diesen  oder  einen  noch  näher  bestim- 
menden genitiv  wie  tTWD  oder  y*iN  die  bedeutung  von  'wild*  erhält; 
es  dient  demnach  der  artikel  zur  Substantivierung  des  wortes ;  ebenso 
erhält  Ps.  118,  22  das  participium  rmr  durch  den  artikel  die  be- 
deutung 'bauleute'.  —  Auf  diese  weise  ist  der  artikel  in  dem  con- 
stanten  ausdruck  D^nn  y^Nn  Ps.  27,  13;  142,  6;  Job  28,  13  zu 
erklären  'im  lande  der  lebenden9,  ohne  den  artikel  würde  es  'land 
des  lebens'  bedeuten,  wie  Ps.  16,  11;  Prov.  2,  19;  5,  6;  6,  23; 
12,  28;  15,  24,  wo  D^n  in  Verbindung  mit  ^"Vi  oder  stets  die 
bedeutung  von  'vita',  nicht  'viventes*  hat,  wie  denn  überhaupt  D^n 
im  abstracten  sinne  in  der  poesie  niemals,  so  viel  ich  weisz,  den 
artikel  hat,  vgl.  Ps.  21,  5;  30,  6;  34,  13;  36,  10;  133,  3;  Prov. 
3,  2.  18.  22;  4,  10.  22.  23;  8,  35;  9,  11;  10, 11;  11,30;  13,12.  14; 
14,27;  15,4.31;  16,15;  18,21;  21,21;  22,24;  27,27;  Hiob  3,20. 

4.  Es  bleiben  nur  noch  wenige  stellen  übrig,  in  denen  der 
artikel  durch  corruption  des  textes  entstanden  ist;  so  musz  Ps.  57,  6 
0"»72SrbT  ohne  artikel  wie  in  v.  12  und  Ps.  108,  6  gelesen  werden 
(vgl.  oben  s.  349);  in  Ps.  36,  6  musz  statt  D^ttJün  gelesen  werden 
0"»7asriy  wie  in  Ps.  57,  11  und  71,  19,  'da  zugleich  das  unterbleiben 
der  syncope  beim  artikel  nach  der  präpositton  a  ganz  abnorm  ist' 
(Olshausen);  in  Ps.  62,  4  musz  statt  mmrr  na  gelesen  werden 
rpim  STVtt,  wie  schon  Olshausen  vermutete. 

Metrisch  musz  in  Ps.  21,  2  nach  der  lesart  der  LXX  (6  ßctct- 
Xeuc  und  der  arabischen  Übersetzung  alnialiqun*)  gelesen  werden 

7  vielleicht  gehört  auch  Ps.  9,  7  i^NJl  als  vocativ  hierzu,  wenn 
man  es  nicht  lieber  mit  der  nötigung  des  akrostichon  erklären  will. 

8  die  abhängigkeit  der  arabischen  Übersetzung  von  der  LXX  ist 
bereits  leitfaden  s.  59  unten  bemerkt  worden;  sie  gewährt  daher  ein 
vorzügliches  hilfsmittel  zur  controle  derselben,  namentlich  in  beziehung 
auf  den  gebrauch  des  artikels. 


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412  Beiträge  zur  hebräischen  gramniatik  und  metrik. 

Y-^n  rrac  ^T*a  mfp,  damit  nicht  2wei  tonsilben  zusammen- 
treffen ,  da  eine  Zurückziehung  des  accents  in  rv:  w""  (wie  unrichtig 
im  leitfaden  8.  13)  wegen  der  vorangehenden  tonsilbe  von  ^t?2 
nicht  zulässig  ist;  aber  auch  der  sinn  rechtfertigt  den  artikel,  da 
wohl  hier  bestimmt  auf  den  anwesenden  gefeierten  könig  hinge- 
wiesen werden  soll,  dagegen  musz  in  Ps.  33,  16  ebenfalls  nach  der 
lesart  der  LXX  (ou  cuj&TCU  ßaciXeüc,  arabische  Übersetzung:  mali- 
qun)  gelesen  werden  WfWS  y»i3  ^btt-p«  ohne  artikel,  weil  sonst 
V«  nach  II  b  betont  werden  mtiste,  und  der  halbvers  eine  hebung 
zu  viel  haben  würde. 

IV. 

Über  den  artikel  in  der  syncope. 

Es  ist  zu  an  fang  der  abhandlung  bereits  gesagt  worden ,  dasz 
die  unterbuchung  über  den  gebrauch  des  artikels  in  der  poesie  zu- 
nächst nur  von  dem  durch  consonantisches  he  bezeichneten  ausgeben 
kann,  da  der  artikel  in  der  syncope  nach  b,  3,  3  nur  durch  die 
vocale ,  welche  von  den  späteren  punctatoren  herrühren ,  erkennbar 
ist.  die  punctatoren  aber  hatten  offenbar  kein  bewustsein  mehr 
von  dem  unterschiede  des  dichterischen  und  prosaischen  ausdrucks. 
dieses  zeigt  sich  schon  darin,  dasz  sie  die  Überschriften  der  Psalmen 
und  die  doxologischen  schluszverse  der  einzelnen  bücher  der  Psalmen 
(41,  14;  72,  19;  89,  53;  106,  48)  und  ebenso  im  buche  Hiob  3,  2; 
4,  1;  6,  1;  8,  1  usw.,  ferner  31,  40;  32,  1 — 5,  welche  doch  offen- 
bar prosa  sind,  mit  denselben  rhythmischen  accenten  versehen  haben, 
die  rhythmische  accentuation  hatte,  wie  bereits  anderwärts  ausge- 
führt worden  ist  (vgl.  grundzüge  s.  11—14),  nur  bedeutung  für  die 
recitation  oder  cantillation ;  sie  sollte  feierlicher  als  die  prosa  sein. 

Ebenso  zeigt  sich  die  Unkenntnis  von  dem  unterschiede  der 
poetischen  und  prosaischen  spräche  in  der  vocalisation  der  genannten 
praefixa.  der  artikel  wird  nur  dann  durch  keine  vocale  bezeichnet, 
wenn  das  nomen  durch  den  status  constr.,  suffixa  oder  sonst  bereits 
determiniert  ist.  wo  dieses  nicht  der  fall  ist,  da  wird  der  artikel 
häufig  in  der  syncope  gesetzt,  ganz  offenbar  gegen  den  poetischen 
Sprachgebrauch,  dieses  mag  an  einigen  beispielen  dargelegt  werden, 
das  wort  ö^pniö,  welches  eben  nur  in  der  poesie  vorkommt,  bat 
niemals  den  artikel;  man  vgl.  Ps.  18,  12;  36,  6;  57,  11;  77,  18; 
78,  23;  108,  5;  Job  35,  5;  36,  28;  37,  18;  38,  36;  Prov.  3,  20; 
8,  28;  Deutern.  33,  26;  II  Sam.  22,  12;  Jes.  45,  8;  Jerem.  51,  9; 
nichts  desto  weniger  vocalisierten  die  punctatoren  Job  37,  21 
cpr.d^,  obwohl  dieses  wort  in  demselben  capitel  und  im  nach- 
folgenden keinen  artikel  hat;  ebenso  Ps.  68,  35.  in  Ps.  89  hat  das 
wort  D"1»©  nach  poetischem  Sprachgebrauch  keinen  artikel,  in  v.  3. 
6.  12.  30;  trotzdem  hat  in  der  massorethischen  vocalisation  das  nur 
äuszerst  selten  vorkommende  pmö  in  v.  7  und  38  den  artikel:  pntta. 
ein  anderes  beispiel.  das  wort  *ip  2  hat  in  poetischer  spräche  niemals 
den  artikel:  Ps.  5,  4;  46,  6;  55,*18;  65,  9;  Job  24,  17;  38,  7.  12; 


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Beiträge  zur  hebräischen  gramraatik  und  metrik. 


413 


II  Sam.  23,  4;  JeS.  17,  14;  21,  12;  38,  13;  Hos.  6,  4;  13,  5.  wird 
jedoch  dieses  wort  mit  einem  praefixum  verbunden ,  so  erhält  es  in 
der  massoretbiscben  vocalisation  stets  dem  syncopierten  artikel,  so 
mit  a  in  Ps.  90,  5.  6.  14;  92,  3  (in  beiden  Psalmen  kommt  sonst 
kein  artikel  vor);  88,  14;  143,  8;  Prov.  27,  14;  Jes.  8,  11;  17,  11; 
ebenso  -lp/ab  Ps.  30,6;  49,15;  69,17;  130,6  und  Job  11,17. 

ein  drittes  beispiel.  das  wort  T*5n  ermangelt  im  poetischen  Sprach- 
gebrauch des  artikels  in  etwa  40 — 50  stellen,  als  Ps.  18,  12;  35,  6; 
104,  20;  105,  28;  107,  10.  14;  139,  11.  12;  Job  3,  3.  4;  5,  14; 
10,  21;  12,  22.  25;  15,  22.  23.  30;  17,  13.  18;  19,  8;  20,  26; 
22,  11;  23,  17;  26,  10;  29,  3;  34,  22;  37,  19;  38,  19;  II  Sam. 
22,  12;  Jes.  5,  20;  8,  30;  42,  7;  45,  3.  7;  48,  19;  59,  9;  Thren. 
3,  2;  Arnos  5,  18.  20;  Joel  2,  20;  Nahum  1,  5.  nur  in  Jes.  60,  2 
hat  es  nach  rn.n  den  artikel,  wobei  noch  zweifelhaft  bleibt,  ob  nicht 
eine  dittographie  vorliegt,  obwohl  nun  nach  so  vielen  beispielen 
man  es  als  feste  regel  ansehen  dürfte,  dasz  dieses  wort  in  der  poesie 
ohne  artikel  gebraucht  wird,  so  haben  dennoch  die  punctatoren 
•?rorn  Ps.  88,  13;  112,  4  und  ^tinb  Job  28,  3  vocalisiert. 

Wie  diese  wenigen  beispiele  den  Widerspruch  der  massorethi- 
schen vocalisation  gegenüber  dem  poetischen  Sprachgebrauch  in  ein- 
zelnen Wörtern  beweisen,  so  tritt  dieser  gegensatz  noch  stärker  uns 
entgegen,  wenn  wir  die  einzelnen  dichtungen  in  dieser  beziehung 
näher  betrachten,  so  gleich  in  Ps.  1,  4  ^1733,  obwohl  ein  bestim- 
mendes relativum  folgt  (vgl.  Gesenius  gramm.  §  126,  3  d  schl.) 
und  im  Widerspruch  mit  Ps.  35,  5  (iMTsa),  woraus  zugleich  ersicht- 
lich ist,  dasz  nicht  etwa  die  rücksicht  auf  das  met.ru  m,  um  eine  volle 
thesis  zwischen  den  beiden  tonsilben  zu  erhalten,  maszgebend  ge- 
wesen sei,  da  in  letzterer  stelle  ganz  dieselbe  rücksicht  hätte  ge- 
nommen werden  müssen,  in  v.  5  üBTötta  (wahrscheinlich  nach  un- 
richtiger deutung  auf  'das  jüngste  geficht'),  in  Ps.  2,  in  welchem 
auszer  0'vn  (v.  7  vgl.  8.  408,  1  a)  kein  consonantischer  artikel  vor- 
kommt, vocalisierten  die  punctatoren  o?»$B3  (v.  4).  in  Ps.  4—6, 
in  welchen  kein  consonan tisch  erkennbarer  artikel  vorkommt,  ob- 
wohl viele  nomina  sich  in  denselben  finden,  welche  in  der  prosa 
den  artikel  haben  müsten  (vgl.  4,  3.  4;  5,  5.  6),  wird  Ps.  4,  2  -Uta 
(ebenso  18,  7;  106,  44,  in  denen  wegen  der  pronominalbestimmung 
noch  viel  weniger  der  artikel  erwartet  wird),  5,  13  Siss.S,  6,  6 
n^a  vocalisiert;  dagegen  in  Ps.  7,  3  rP/iKS,  v.  16  nnitia  sprach- 
gemäsz,  aber  im  Widerspruch  mit  ihrer  sonstigen  vocalisation. 

Vergleichen  wir  einige  gröszere  Psalmen,  in  Ps.  78,  1 — 72 
findet  sich  nur  zweimal  der  consonantische  artikel,  welche  bereits 
oben  als  metrische  aushilfe  ihre  erklärung  gefunden  haben,  trotz- 
dem erhalten  die  nomina  in  Verbindung  mit  den  praefixa  den  syn- 
copierten artikel  wie  in  der  prosa,  so  in  v.  14.  16.  27.  33  (2 mal). 
46  (2 mal).  47.  48  (2 mal).  50.  51.  62.  64;  in  einigen  von  diesen 
stellen  würde  man  selbst  in  der  prosa  den  artikel  nicht  erwarten.  — 
Ps.  90,  1  — 17  ermangelt  des  consonantischen  artikels,  hat  aber  den 


414  Beiträge  zur  hebräischen  grammatik  und  metrik. 

syncopierten  in  v.  4.  5  (2  mal).  6  (2  mal).  14;  Ps.  139  hat  ebenfalls 
keinen  consonantischen  artikel,  in  der  syncope  jedoch  in  v.  12  vier- 
mal.  natürlich  können  hier  nur  solche  Psalmen  in  betracht  kommen, 
in  denen  nomina  in  Verbindung  mit  praefixa  vorkommen. 

Im  buche  Job,  in  welchem  überhaupt,  wie  bereits  oben  gesagt, 
auszer  vor  participien  mit  relativem  sinne,  der  conson antische  artikel 
äuszerst  selten  vorkommt,  erscheint  der  artikel  in  der  syncope  ziem- 
lich oft,  besonders  in  S  (aber  ohne  consequenz  selbst  in  demselben 
verse  14,  2),  so  c.  10,  9.  10  (2 mal).  16.  20;  13,  10;  17,  7.  13.  14 
u.  v.  a.;  c.  24  hat  keinen  consonantischen  artikel,  aber  den  syn- 
copierten  in  v.  5  (2mal).  6.  7.  14  (2mal).  16.  18.  22.  24;  ebenso 
c.  39  ohne  conson.  artikel,  aber  syncopiert  in  v.  4.  14.  18  (3 mal). 
19.  20.  21.  —  Gewisse  normen  für  die  massorethische  vocalisation  hat 
Suckow  in  seinem  programm  s.  20 — 27  aufzustellen  versucht,  aber 
überall  treten  zahlreiche  ausnahmen  entgegen,  in  mehreren  stellen 
erscheint  die  massorethische  vocalisation  auch  metrisch  begründet, 
so  wäre  der  artikel,  wie  oben  bereits  erwähnt,  in  Ps.  1,  4  yifcs  als 
vollere  thesis  nach  tar^ ,  wodurch  zugleich  die  betonung  der  par- 
tikel  DN  (II  b)  bezeichnet  wäre,  ganz  in  der  Ordnung,  denn,  wenn 
auch  schon  eine  vorschlagssilbe  als  thesis  zwischen  zwei  tonsilben 
ausreicht  (vgl.  grundzüge  s.  29,  8.  leitfaden  s.  6  unten),  so  erscheint 
damit  noch  nicht  die  benutzung  des  artikels  zur  Verstärkung  der 
thesis  ausgeschlossen ,  wie  ja  auch  nach  langer  geschlossener  silbe 
der  artikel  als  thesis  eintritt,  obwohl  dieser  gerade  nicht  unumgäng- 
lich nötig  wäre,  ebenso  würde  in  1X2  Ps.  4,  2  der  artikel  sich  als 
vollerer  auftact  (II  d)  erklären  lassen,  allein  es  fehlt  hierbei  alle 
consequenz,  und  überdies  zeigt  es  sich  Uberall,  dasz  den  punctatoren 
alle  metrischen  kenntnisse  abbanden  gekommen  waren,  und  dasz  sie 
nur  nach  der  rituellen  recitation  accentuiert  haben,   daher  vom 
metrischen  Standpunkte  die  Untersuchung  über  den  gebrauch  des 
artikels  in  der  poesie  nur  vom  consonantischen  texte  ausgeben 
konnte. 

Mit  den  resultaten  dieser  abhandlung  wird  wiederum  der  ander- 
weitig geführte  beweis  (grundzüge  s.  10—16),  dasz  die  massore- 
thische vocalisation  und  silbenbe tonung  im  Charakter  der  spräche 
wohl  begründet  und  im  groszen  und  ganzen  als  zutreffend  zu  be- 
zeichnen sei,  bestätigt,  dasz  sie  aber  durch  Unkenntnis  der  metrik 
wie  des  poetischen  Sprachgebrauchs,  wie  durch  einführung  eines  der 
ursprünglichen  spräche  ganz  fremden  accentuationssystems,  welches 
der  in  späterer  zeit  in  der  Synagoge  entstandenen  cantillation  an- 
gepasst  worden  ist,  im  einzelnen  beeinträchtigt  worden  ist  und  der 
Verbesserung  bedarf. 

Anderseits  erhält  das  vom  verf.  ausgeführte  System  der  rmetrik 
der  hebräischen  poesie'  nicht  nur  eine  neue  aus  dem  consonanten- 
text  gewonnene  bestätigung,  sondern  auch  manche  noch  schwankende 
bestimmungen  über  die  betonung  der  partikeln,  des  status  constr. 


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Die  griechischen  lyriker  in  den  oberen  classen. 


415 


erhalten  eine  festere  grundlage.  nach  diesen  bestimmungen  sind  im 
texte  des  leitfadens  bzw.  des  vulgären  textes  zu  verbessern:  leit- 
faden  s.  3  Ps.  8,  2  musz  betont  werden  D^aün  b*  tpin  mn— itttt , 
wodurch  auch  die  apharese  des  i  in  mn  erklärlich  ist  (II  bj. 

s.  13  Ps.  25,  12  lies  ^b*)*  nw  (vgl.  s.  411,  4). 

s.  19  Ps.  29,  3  lies  TpM  b«  fc-ra^b*  mm  Vjp 

s.  19  Ps.  29,  9  lies  löK  rrnnb  (vgl.  s.'349). 

s.  22  Ps.  33,  5  lies  -pari  rr«b72  (II  a). 

8.  22  Ps.  33,  7  lies  D-?n'^  (II  a). 

s.  22  Ps.  33,  16  lies  -fb72"pN  (vgl.  s.  411  unten). 

s.  23  Ps.  34,  9  lies  in  noni  na^n  -»TOM  (II  a). 

s.  23  Ps.  34,  13  lies  niü  rnfcnb-ttTNH  "»tt  (II  a). 

s.  23  Ps.  34,  23  lies  ■D-tPDinn      (II  b). 

Marburg  an  der  Lahn.  Julius  Let. 


39. 

DIE  GRIECHISCHEN  LYRIKER  IN  DEN  OBEREN  CLASSEN. 


Das  lyrische  gedieht  ist  das  zarteste  gebilde  des  dichterischen 
geistes.  in  ihm  wird  die  empfindung  wort  und  das  wort  musik;  und 
so  knapp  und  kurz,  gleichsam  hingehaucht,  das  stimmungslied,  diese 
höchste  art  der  lyrischen  gattung,  sein  kann:  es  vermag  doch  die 
gröste  kraft  des  schöpferischen  genius  zu  offenbaren,  wie  die  sonne 
sich  im  tautropfen  spiegelt;  denn,  rätselhaft  im  innersten  der  seele 
geboren,  musz  es  nicht  nur  die  im  gemüte  klingende  empfindung  in 
rhythmischem  wohllaut  wiedergeben  und  mit  dem  gehalt  zugleich 
auch  die  form  in  organischem  processe  gewinnen,  sondern  auch  in 
geheimnisvoller  durchdringung  von  innen-  und  auszenwelt,  von  idee 
und  Wirklichkeit,  von  phantasie  und  leben  individuell  und  typisch 
zugleich  sein:  es  musz  das  einzelerlebnis  dessen,  was  flüchtig  ist, 
entkleiden  und  zu  einem  allgemeinen  umprägen,  es  musz,  was  ver- 
gänglich die  lebensvolle  gelegenheit  in  die  seele  des  dichters  senkte, 
emporheben  in  die  Sphäre  des  schönen  Scheins,  aber  fern  von  künst- 
licher reflexion  und  rhetorischem  pathos,  musz  es  die  Wirklichkeit 
durch  die  phantasie  in  ein  bild  umwandeln  und  den  gedankengang 
in  empfindung  untertauchen. 

So  schrieb  der  grosze  feinsinnige  lyriker  Theodor  Storm  in 
seiner  das  tiefste  kunstverständnis  neben  dem  höchsten  lyrischen 
talente  bekundenden  vorrede  zu  seinem  köstlichen  'hausbuch  aus 
deutseben  dichtem  seit  Claudius' :  'wie  ich  in  der  musik  hören  und 
empfinden ,  in  den  bildenden  künsten  schauen  und  empfinden  will, 
so  will  ich  in  der  poesie,  wo  möglich,  alles  drei  zugleich,  von  einem 
kunstwerk  will  ich,  wie  vom  leben,  unmittelbar  und  nicht  erst  durch 
die  Vermittlung  des  denkens  berührt  werden :  am  vollendetsten  er- 


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416 


Die  griechischen  lyriker  in  den  oberen  classen 


scheint  mir  daher  das  gedieht,  dessen  Wirkung  zunächst  eine  sinn- 
liche ist,  aus  der  sich  dann  die  geistige  von  selbst  ergibt,  wie  aus 
der  blüte  die  fruebt.  der  bedeutendste  gedankengehalt  aber,  und  sei 
er  in  den  wohlgebautesten  versen  eingeschlossen,  hat  in  der  poesie 
keine  berechtigung  und  wird  als  ein  toter  schätz  am  wege  liegen 
bleiben,  wenn  er  nicht  zuvor  durch  das  gemut  und  die  phantasie 
des  dichters  seinen  wog  genommen  und  dort  wärme  und  färbe  und 
womöglich  körperliche  gestalt  gewonnen  hat.  die  kunst  «zu  sagen, 
was  ich  leide»,  ist  nur  wenigen  und  selbst  den  meistern  nur  in  seltenen 
augenblicken  gegeben.' 

Aber  so  selten  nun  ein  echtes  lied  ist,  das  ganz  empfindung, 
ganz  rhytbmus,  ganz  bewegte,  in  worte  umgegossene  musik,  das 
sinnlich  und  geistig  zugleich  und  doch  nicht  von  des  gedankens 
blässe  angekränkelt  ist,  so  selten  scheint  auch  die  fähigkeit  zu  sein, 
das  Verständnis  solches  liedes  zu  erschlieszen ;  denn  verstehen  beiszt 
in  der  weit  des  schönen  nichts  anderes  denn  nachschaffen,  und  in 
wem  nicht  selbst  etwas  vom  künstler  steckt,  dem  wird  die  kunst 
immer  ein  buch  mit  sieben  siegeln  bleiben ;  wer  nicht  eine  das  leben 
umbildende  phantasie  besiUt,  wird  mit  dem  kühlen,  nüchternen  ver- 
stände nicht  in  das  innere  wesen  eines  lyrischen  liedes  eindringen; 
und  wie  leicht  ist  aller  schmelz  von  einem  so  duftigen  gebilde  dahin, 
wenn  rauhe,  ungeschickte  hand  es  packt  und  zerlegt! 1 

Auf  unsern  gymnasien  kommt  keine  dichtungsart  so  sehr  zu 


1  der  beispiele  bietet  unsere  schullitteratur  genug,  denn  hier  scheitert 
alle  Schablone  der  normalstufen,    aber  das  crasseste  liegt  gegenwärtig 
vor  in  dem  entsetzlich  voluminösen  buche  rlyrik  und   lyriker'  von 
R.  M.  Werner  (638  Seiten  groszoctav,  Hamburg  1890,  Leop.  Voss),  das 
werden  des  gedichtes  wird  wie  ein  physiologischer  process  —  in  der 
jetzt  modernen  coquetterie  mit  den  naturwissenschaften  —  als  keimen, 
befruchtung,  wachsen,  geburt  (fehlgeburt,  zwillingsgebart  usw.)  zer- 
gliedert; drei  schwindelerregende  tubollen  weisen  546  möglichkeiten  der 
lyrischen  gattungen  auf!!  jeder  entsinnt  sich  dabei  des  wortes  Mommsens 
(röm.  gesch.  III  603):  'etwas  kindischeres  gibt  es  kaum  als  Varros  Schema 
der  sämtlichen  philosophien,  das  erstlich  alle  nicht  die  beglückung  des 
menschen  als  letztes  ziel  aufstellenden  Systeme  kurzweg  für  nicht  vor- 
handen erklärt  und  dann  die  zahl  der  unter  dieser  Voraussetzung  denk- 
baren philosophien  auf  288  berechnet' !!  —  Zerfasernde  grübelei  nach 
dem  rauster  Hebbels  und  die  Schablone  der  Schererschen  poetik  sind  für 
Werner  verhängnisvoll  geworden,    nur  ein  paar  moderne  lyriker  werden 
behandelt,  die  antike  lyrik  ist  ihm  fremd.  Pindar  begegnet  zweimal  d.  h. 
in  demselben  citat  aus  Goethe,  einmal  Sappho  d.h.  die  Grillparzerscbe ; 
von  den  Römern  wird  Catullus  flüchtig  gestreift;  die  psalmen,  Waltber 
von  der  Vogelweidc  usw.  werden  in  diesem  buche,  das  aus  Vorlesungen 
viel  zu  früh  erwachsen  ist,  nicht  in  betracht  gezogen,  obgleich  dasselbe 
aich  r lyrik  und  lyriker'  nennt,    wie  verlottert  nicht  nur  die  ästhetische 
kritik ,  sondern  auch  die  ästhetischen  begriffe  in  unserer  'naturwissen- 
schaftlichen* zeit  geworden  sind,  zeigt  der  umstand,  dasz  dies  buch, 
das  nicht  nur  jedes  philosophischen,  sondern  auch  historischen  sinnes 
baar  ist,  bereits  von  recensenten  gelobt  werden  konnte,    einer  ausführ- 
lichen kritik  unterwarf  ich  es  im  'Hamburger  correspoudeuten'  26  und 
27  april  d.  j. 


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Die  griechischen  lyriker  in  den  oberen  classen.  417 

kurz  wie  die  lyrik.  die  scheu,  die  1  yrik  der  antiken  litteratur  auszer 
Horaz  'darzubieten',  überwiegt  noch  immer;  ja  der  immer  weiter 
um  sich  greifende  mangel  an  freier  bewegung  beschränkt  selbst  den 
darin,  der  einer  so  schweren,  aber  auch  so  schönen  und  wirkungs- 
vollen aufgäbe  sich  unterziehen  möchte,  und  doch  ist  es  in  unserer 
phantasiearmen  zeit  so  unendlich  wichtig,  die  seele  des  schülers 
zu  öffnen  für  das  tiefste  empfinden,  wie  es  in  der  lyrik  vorliegt,  für 
dies  verschmelzen  von  innen  weit  und  auszenwelt,  für  das  schöpfe- 
rische umgestalten  der  Wirklichkeit  und  für  den  sinnlichen  ausdruck 
desselben  im  wort,  in  der  metapher,  in  vers  und  reim,  es  bleibt 
eitel  Stückwerk,  immer  in  erster  linie  auf  den  verstand  zu  wirken 
und  das  gemüt  leer  ausgehen  zu  lassen;  es  bleibt  eitel  Stückwerk, 
in  der  griechischen  dichtung  neben  dem  epos  und  der  tragödie  die 
lyrik  den  obern  gymnasialclassen  vorzuenthalten,  welches  volk  hat 
den  träum  des  lebens  schöner  geträumt  als  die  Griechen?  und  wel- 
ches volk  ist  phantasiereicher,  aber  auch  zugleich  in  seiner  auffas- 
sung  und  ausprägung  des  schönen  maszvoller  und  bei  aller  lebens- 
wahrheit idealer  gewesen  als  die  Griechen?  wo  begegnet  uns  eine 
so  geschlossene  entwicklung,  eine  in  form  und  inhalt  jede  dichtart 
so  organisch  ausbildende  kunst,  als  bei  den  Griechen?  aus  dem  epos 
entwickelt  sich  die  elegie,  die  noch  von  gleichnissen  und  bildern  des 
Homer  durchwoben  ist,  aus  der  elegio  das  immer  subjectiver  sich  ent- 
faltende lied,  aus  dem  liede  die  tragödie,  und  in  der  hellenistischen 
zeit  wird  das  epigramm  zum  gelegenbeitsgedicbt,  das  idyll  zum 
träger  elegischer  Sentimentalität,  und  das  greisenalter  bekundet  der 
roman.  so  ist  die  hellenische  lyrik  unendlich  wichtig  für  die  er- 
kenntnis  des  griechischen  geistes,  aber  auch  für  die  des  römischen, 
die  römische  poesie  ist  ein  nachhall  der  griechischen ;  in  der  lyrik 
ragt  bei  anfänglicher  abhängigkeit  von  den  Griechen  der  liebens- 
würdige Veroneser,  C.  Valerius  Catullus,  durch  die  unmittelbarkeit 
seines  empfindens,  durch  die  lebensfrische  seines  wesens  hervor,  und 
nur  unter  groszer  verkennung  der  vieltönigkeit  und  des  innern  wertes 
der  römischen  elegie,  wird  der  groszen  mehrzahl  unserer  schüler  das 
tiefpackende  und  schöne,  was  Catullus  seiner  Lesbia,  seinem  bruder, 
seinen  freunden  und  seinen  feinden  gesungen,  was  der  weiche,  zärt- 
liche Tibullus,  der  leidenschaftliche  Propertius  und  endlich  was  der 
geist-  und  witzsprühende,  aber  nicht  gemütsarme  Ovidius  in  der  Ver- 
bannung, von  bitterm  heimweh,  von  innigster  Sehnsucht  nach  seiner 
gattin  und  seinen  freunden  gedichtet  hat,  noch  immer  vorenthalten. 

Man  hat  den  Horaz  den  griechischsten  der  römischen  dichter 
genannt,  und  man  hat  ihn  damit  nicht  blosz  in  seinem  grundwesen 
charakterisieren,  sondern  ihm  auch  das  höchste  lob  erteilen  wollen, 
wie  will  man  aber  dies  den  schülern  verständlich  machen,  wenn  sie 
von  den  griechischen  lyrikern  so  gut  wie  nichts  erfahren?  —  Horaz 
ist  er  selbst,  so  wie  er  leibt  und  lebt,  vor  allem  in  den  satiren  und 
episteln;  aus  ihnen  gewinnt  man  den  eindruck  eines  liebenswerten 
mannes ,  eines  trefflichen  Charakters ,  der  seine  Selbständigkeit  auch 

N.  Jahrb.  f.  phil.  n.  päd.  II.  abt.  1891  hft.8  u.  9.  27 


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418  Die  griechischen  lyriker  in  den  oberen  classen. 

den  mächtigen  gegenüber  behauptet  (epist.  I  7),  der  die  innigste 
pietät  dem  andenken  seines  vaters  weiht  (sat.  I  6),  der  ein  dankbares, 
bescheidenes  gemüt  bei  allem  sinnesfrohen  lebensgenusz  und  vor 
allem  ein  tiefes,  elegisches  gefühl  für  die  ländliche  idylle,  für  die 
un verkünstelte  natur  besitzt  (sat.  II  6,  epist.  I  10.  16).  in  den  oden 
begegnet  man  auf  schritt  und  tritt  der  anempfindung ,  der  nach- 
ahmung,  der  innigsten  beziehung  zu  den  griechischen  lyrikern.  und 
diese  dürfen  dem  primaner  nicht  blosze  namen,  nicht  blosze  Schemen 
bleiben,  er  hört  von  Archilochischer ,  Asklepiadeischer,  Alc&ischer, 
Sapphischer,  Alkmanischer  strophe,  es  wird  ihm  der  begriff  der  epode 
entwickelt,  und  er  begegnet  beständig  den  groszen  namen  der  über- 
schwänglich  vom  dichter  verehrten  Griechen,  und  das  sollen  gerippe 
ohne  fleisch  bleiben?  das  soll  nicht  lebendige  anschauung  werden? 
interpretiere  ich  IV  2  mit  seiner  prächtigen  Schilderung  der  Pinda- 
rischen muse,  seiner  hymnen  und  päane,  seiner  epinikien  und  threnoi, 
oder  IV  9  die  Strophen : 

non,  si  priores  Maeonius  tenet 
sedes  Hörnern«,  Pindaricae  latent 
Ceaeqne  et  Alcaei  minaces 
Steaichorique  gravea  camenae; 

nec  siquid  olim  lusit  Anacreon, 
delevit  aetas;  spirat  adhuc  amor 
vivuntque  conmwsi  calores 
Aeoliae  fidibus  puellae, 

so  drängt  doch  alles  darauf  hin ,  die  peYaXoirp^Treia  des  Pindaros 
und  den  schwung  des  Simonides  zu  charakterisieren ,  das  epitbeton 
minaces  durch  die  CTCtciUJTiKd  des  Alkaios,  und  das  graves  durch  die 
mythographische  darstellungsweise  des  Stesichoros  (qui  epici  car- 
minis  onera  lyra  sustinuit) ,  das  ludere  des  Anakreon  und  die  glut 
der  Sappho  an  den  Hedem  selbst  zu  illustrieren  und  zu  individua- 
lisieren, und  daneben  halte  man  die  zeilen  II  13,  24: 

Aeoliiß  fidibus  querentem 

Sappho  puellis  de  popularibus, 

et  te  son.intem  plenius,  aureo 

Alcaee  plectro,  dura  navis, 

dnra  fagae  mala,  dura  belli,  vgl.  I  32,  6. 

dies  musz  doch  mit  leben  gefüllt  werden  und  musz  an  liedern  selbst 
leibhaftige,  greifbare  gegen  wart  werden !  man  musz  dem  Alkaios  in 
seinen  waffensaal  folgen  (fr.  56),  auf  die  see  inmitten  des  sturmes 
(fr.  6)  und  den  liebeserklärungen  der  Sappho  lauschen,  sei  es  nun 
ihrer  ode  an  Aphrodite  (fr.  1)  oder  dem  <pcuv€TCU  HOi  ktjvoc  Xcoc 
Gcoiciv  (fr.  2),  sowie  ihren  schönen  vergleichen  und  bildern. 

Der  ganze  stolz  des  Horaz  ist,  princeps  Aeolium  Carmen  ad 
Italos  deduxisse  modos  (III  30),  sein  erster  wünsch  und  sein  höchstes 
streben,  dasz  Maecenas  ihn  den  griechischen  lyrikern  beigeselle 
(I  1),  sein  triuraph  Bomae  .  .  dignatur  suboles  inter  amabilis  vatum 
ponere  me  choros  (IV  3,  13).   ganze  gediente  des  Horaz  wie  III  2 


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Die  griechischen  ljriker  in  den  oberen  classen.  419 

und  III  12  sind  direct  unverständlich,  wenn  man  nicht  seine  art, 
von  den  Griechen  zu  entlehnen  und  reminiscenzen  aus  ihnen  zu  con- 
taminieren,  des  nähern  beleuchtet,  er  gehört  nicht  zu  jenen  lyrikern, 
denen  im  freien  schaffensdrange  sogleich  bild  und  wort  sich  ergibt, 
denen  sogleich  der  gedanke  in  empfindung  umschmilzt;  sondern  oft 
mühsam  fügt  sich  vers  an  vers,  so  dasz  er  nicht  dem  adler  Pindaros 
gleich  zu  den  wölken  strebt  oder  wie  der  mächtige  ström  jenes 
liedesmeisters  in  vollen  tönen  sein  lied  daherbrausen  lassen  kann 
(TV  2),  sondern  der  kleinen  biene  ähnlich  den  honig  von  den  blumen 
herbeiträgt,  freilich  bietet  er  keine  nachweisbare  Übersetzung  eines 
ganzen  gedientes,  wie  sie  z.  b.  bei  Catullus  in  c.  66  vorliegt,  wohl 
aber  kittet  er  verwandte  gedanken,  bilder,  ausdrucksweisen  zusam- 
men, ahmt  im  stil  nach  —  wie  Catullus  so  meisterlich  in  c.  64  die 
Alexandrinische  technik  im  ganzen  wie  im  einzelnen  wiederspiegelt, 
aus  bekannten  griechischen  aecorden  setzt  Horaz  neue  melodien  zu- 
sammen, freilich  nicht  ohne  zu  individualisieren,  ohne  kleine  römische 
züge  hinzuzufügen,  aber  das  lyrische  lied  der  Hellenen  ist  eine  solche 
unabweisbare  macht  in  der  dichtung  des  Horaz,  dasz  man  an  der  hand 
seiner  lieder  eine  geschichte  der  griechischen  lyrik  entwickeln  kann: 
da  klingt  Kallinos  fr.  1  (Bergk- Hiller  *)  v.  12  an  in  carra.  III  2, 14,  Tyr- 
taios  fr.  8  in  III  2, 13,  Solon  fr.  7  in  1 2,  fr.  12,29  in  III  6,  Archilochos 
tiberall  in  den  epoden,  fr.  53  in  I  34,  12,  Theognis  v.  667  ff .  in  1 14, 
v.  869  in  III  3,  7,  Simonides  fr.  48  in  III  2,  14,  fr.  49  in  III  2,  25, 
Bakchylides  fr.  18  in  III  21,  13,  fr.  19  in  II  18,  Alkaios  fr.  6  in 
I  14,  fr.  8  in  I  37,  fr.  16  in  I  9,  fr.  80  in  III  12,  fr.  46  in  I  18, 
Sappho  fr.  88  in  III  12,  3,  fr.  3  in  I  12,  46,  fr.  4  in  III  4,  7,  Ana- 
kreon  fr.  70  in  III  11,  9,  fr.  52  in  I  23,  Pindar  Olymp.  II  in  I  12 
usw.  —  Horaz  sättigt  sich  an  den  brosamen ,  die  von  den  reichen 
tischen  der  griechischen  dichtung  fallen;  neben  Homer  musz  man 
die  griechischen  lyriker  kennen,  um  ihn  beurteilen  zu  können.  — 
Dasz  eine  Sammlung  aus  den  letzteren  in  händen  der  schüler  sich 
befinde,  wo  sie  sämtliche  nachweisbare  originalstellen,  welche  Horaz 
umklangen  bei  der  compositum  seiner  gedichte,  innerhalb  des  histori- 
schen Gesamtbildes  der  griechischen  lyrik  finden,  scheint  mir  ein  un- 
widerleglicher schlusz  aus  dem  dargelegten  zu  sein,  wenn  man  nicht 
eine  der  säulen  des  gymnasiums  beseitigen  will,  nemlich  die  strenge, 
wissenschaftliche  forderung,  zu  den  quellen  zu  führen.  —  Die  grie- 
chischen lyriker  sind  aber  ferner  auch  trefflich  geeignet,  den  Unter- 
richt in  der  griechischen  ge schichte  und  die  leetüre  der 
griechischen  historiker  (Xenophon,  Herodotos,  Thukydides) 
zu  beleben,  um  markig  einzusetzen  an  passender  stelle  mit  den  poli- 
tischen liedern ,  welche  heiliger  Patriotismus  den  edlen  sängern  ein- 
gab, denn  als  die  patriarchalische  einfachheit,  die  uns  die  Homerischen 
gedichte  schilderten ,  allmählich  abstarb ,  als  das  durch  heroen  ge- 
heiligte königtum  zusammenbrach,  da  entspann  sich  auf  dessen 
trümmern  ein  heiszer  kämpf  um  die  gewalt,  der  teils  zur  herschaft 
weniger,  teils  zur  herschaft  des  adels  führte,  es  war  eine  wildbewegte 

27* 


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420  Die  griechischen  ljriker  in  den  oberen  clabsen. 

zeit,  in  der  die  nachbarvölker  und  -städte  sich  in  hartnäckigen  kriegen 
befehdeten,  in  solchen  kämpf  zwischen  Ephesos  und  Magnesia  führt 
uns  das  kriegslied  des  Kallinos,  voll  der  edelsten  auffassung  des 
bUrgerberufes  und  der  bürgerehre,  in  solchen  kam pf  zwischen  Chalcis 
und  Eretria  Archilochos,  zwischen  Messeniern  und  Spartanern 
Tyrtaios,  dieser  held  mit  köpf  und  herz  auf  dem  rechten  fleck, 
der  nicht  nur  kriegstüchtigkeit  selbst,  sondern  vor  allem  die  kunst 
besasz,  im  begeisternden  liede  den  mut  zu  entflammen  und  so  zum 
siege  zu  führen,    unsterbliche  hymnen  des  schlacbtenmutes  sind 
fr.  8  und  9  und  10.   und  da  sollte  dem  secundaner  nicht  das  herz 
schwellen,  da  sollte  mit  solchen  klängen  des  reinsten,  hehrsten  enthu- 
siasmus  für  ehre  und  Vaterland  nicht  ein  nachhall  zu  wecken  sein, 
so  dasz  der  funke  des  Patriotismus  sich  in  die  junge  seele  senke,  um 
einst  in  lauterer  glut  emporzuschlagen?  —  Und  wie  persönlich  nahe 
tritt  uns  Solon  in  seinen  elegien,  gleich  grosz  als  gesetzgeber  und 
als  dichter,  sie  sind  hinterlassenschaften  eines  hervorragenden  Poli- 
tikers, der  an  den  begebenheiten  seiner  zeit  den  allerunmittelbarsten 
anteil  hatte,  er  sucht  die  herschaft  des  volkes  einzuschränken,  aber 
auch  zugleich  den  adel  in  seine  grenzen  zurückzuweisen  (fr.  3  und  4); 
bei  aller  besorgnis  bewahrt  er  sich  den  glauben  an  die  ewige  stadt 
Athen ,  aber  er  ist  auch  der  ernste  warner ,  der  die  tyrannis  voraus- 
sieht (fr.  11  und  7).   doch  der  leidenschaftlichste  politische  sanger 
war  Alkaios.    seine  lieder  sind  nicht  declamationen ,  sind  nicht 
graue  theorie ,  sondern  frisches ,  farbiges  leben :  alles  ist  gegen  wart, 
Htimmung  des  augenblicks,  die  elegie  wird  zum  momentliede  sub- 
jectiver  empfindung.   mitten  in  die  wirren  auf  Lesbos  werden  wir 
versetzt,  und  see  und  krieg  sind  die  beiden  demente,  in  denen  er 
sich  am  wohlsten  fühlt;  den  kriegsgott  Ares,  den  Würger,  der  feinde 
schrecken,  nennt  er  seinen  vertrauten  freund;  ihm  zu  ehren  ver- 
wandelt er  sein  prunkzimmer  in  einen  waffensaal.  aus  den  geringen 
fragmenten  spricht  ein  feuriger  geist,  schnell  entschlossen,  mit 
scharfem  wort  und  scharfem  schwert,  treu  seiner  partei,  treu  seinen 
zielen  und  seinem  hasse. 

Ins  Zeitalter  der  Perserkriege  und  zugleich  in  die  politischen 
Unruhen  auf  Megara  führen  uns  die  Theognidea;  die  feuerzeichen 
künden  krieg  (v.  549),  aber  Zuversicht  schwellt  des  dichters  brüst 
(v.  757),  die  Perser  nahen  heran  (v.  773).  der  dichter  wird  ver- 
bannt (v.  1197),  inniges  heimweh  erfüllt  seine  seele  (v.  783). 

Doch  den  begeistertsten  und  beredtesten  Sänger  fanden  die  frei- 
heitskriege  der  Griechen  in  Simonides;  seine  elegie  auf  die  bei 
den  Thermopylen  erschlagenen  und  seine  zahlreichen  epigramme  auf 
die  gefallenen  beiden  und  auf  sein  sieggekröntes  volk  vergegen- 
wärtigen die  wucht  der  ereignisse  und  den  schwung  der  damahgen 
Stimmung  sicher  weit  anschaulicher  und  lebendiger  als  lange  nüch- 
terne auseinandersetzungen  in  der  geschichtsstunde.  man  entzünde 
also  diese  flamme  patriotischer  begeisterung  und  wärme  die  seelen 
der  jünglinge  an  ihr! 


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Die  griechischen  lyriker  in  den  oberen  classen. 


421 


Aber  auch  im  deutschen  der  prima,  das  ja  überhaupt  berufen 
ist,  das  geistige  band  zwischen  der  antiken  lectüre,  dem  geschieh ts- 
unterricht  und  der  vaterländischen  litteratur  zu  bilden  und  von  hoher 
warte  weite  blicke  zu  eröffnen,  geben  die  griechischen  lyriker  anlasz  zu 
wichtigen  auseinandersetzungen  und  anregungen :  sei  es  nun  bei  der 
systematischen  betrachtung  der  lyrik  selbst  oder  gelegentlich;  z.  b. 
bei  Klopstock  wird  es  sich  nicht  abweisen  lassen,  den  begriff  der 
ode,  des  hymnus  und  des  dithyrambus  an  den  alten  mustern  zu  er- 
örtern und  die  Weiterentwicklung  der  antiken  dichtungsarten  in  der 
neuern  zeit  zu  beleuchten ,  oder  bei  Lessings  abhandlung  über  das 
epigramm  die  inschriftlichen  und  litterarischen  epigramme  der  Hel- 
lenen in  ihrer  allmählichen  entwicklung  von  der  einfachen  inschrift 
bis  zum  stimmungsbilde  zu  betrachten ,  oder  bei  Herder  und  seiner 
Charakteristik  des  Volksliedes  auch  die  griechischen  Volkslieder  und 
skolia  heranzuziehen,  oder  bei  Schillers  'Spaziergang'  das  wesen  der 
elegie  im  anschlusz  an  die  griechischen  meiste r  zu  entwickeln,  oder 
bei  der  politischen  lyrik  der  befreiungskriege  und  des  groszen  jahres 
1870  auf  die  helden  der  alten  hinzuweisen,  die  auch  die  leier  schlugen 
und  zugleich  das  schwert  schwangen,  und  den  unterschied  klarzu- 
legen, welcher  zwischen  bloszer  rhetorik,  künstlichem  pathos  (Her- 
wegh  in  der  revolutionszeit!)  und  jener  —  einleitend  charakteri- 
sierten —  lyrik  besteht ,  in  der  die  phantasie  nicht  das  mittel  des 
gedankens  ist,  sondern  der  gedanke  sich  gar  nicht  anders  äuszert, 
als  nur  verhüllt  in  ihr  und  durch  sie  und  getrennt  von  ihr  weder 
dem  dichter  selbst  noch  dem  zuhörer  zum  bewustsein  kommt;  'der 
politische  dichter  —  sagtVischer—  wird  zum  rhetoriker,  wenn  alle 
poetische  Stimmung,  alle  naivität,  jenes  unbe wüste  innere  singen 
und  klingen  auseinandergezogen  und  verzehrt  wird/ 

Wie  überhaupt  der  gesamte  fremdsprachliche  unterriebt  unserer 
gymnasien  auf  der  Wechselbeziehung  zwischen  der  eignen  und  den 
fremden  sprachen,  auf  der  vergleichenden  betrachtung  vor  allem  des 
antiken  und  des  deutschen  denkens  und  empfindens  beruht,  so  gilt 
es  besonders  doch  im  deutschen  der  prima,  fruchtbare  gesichtspunkte 
zur  kennzeichnung  der  Verschiedenheit  antiker  und  moderner  an- 
schauungsweise  zu  gewinnen,  und  das  nicht  nur  hinsichtlich  des 
epos  (z.  b.  Homer  und  Goethes  Hermann  und  Dorothea)  und  der 
tragödie  (Iphigenie  bei  Euripides  und  Goethe  u.  ä.) ,  sondern  auch 
hinsichtlich  der  lyrik.  was  hat  man  alles  seit  Jean  Paul  mit  den 
begriffen  objectiv  und  subjectiv,  plastisch  und  romantisch  für  unfug 
getrieben !  'die  plastische  sonne  leuchtet  einförmig  wie  das  wachen, 
der  romantische  mond  schimmert  veränderlich  wie  da*  träumen', 
heiszt  es  in  der  Vorschule  der  ästhetik.  und  was  soll  man  dazu  sagen, 
wenn  z.  b.  Emil  ßosenberg  in  seinem  manigfach  anregenden ,  aber 
doch  vieles  gar  künstlich  heranzerrenden  buche  über  'die  lyrik  des 
Horaz',  bei  vergleichung  von  Hör.  carm.  II  6,  das  er  ein  'klausner- 
lied*  nennen  möchte,  und  der  '  antik  -  herben '  Bandusiaode  s.  110 
sagt:  'zeigte  II  6  anklänge  an  den  romanticismus(!),  so  zeigt  dies 


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Die  griechischen  lyriker  in  den  oberen  classen. 


gedieht  die  genaueste  plastik.   wäre  die  gestaltungskraft  (sie!  — 
gemeint  ist  die  kraft  der  phantasie,  plastisch  abgerundete,  fest  um- 
rissene  bilder  vor  die  anschau ung  zu  zaubern)  diejenige  eigenaebaft, 
die  dem  lyriker  den  rang  anwiese,  so  würde  dieses  gedieht  zu  den 
besten  zählen  müssen  —  und  doch  ist  es  fllr  unser  geftihl  unlyrisch, 
das  bild  des  modernen  lyrikers  hat  keinen  festen  pla- 
stischen halt;  es  schwebt  nur  auf  den  wogen  der  em- 
p  findung.  denn  der  plastik  ist  seit  dem  tief  innerlichen 
Christentum  die  azt  an  die  wurzel  gelegt'!!  ist  denn  etwa 
Goethe  auch  herb-antik,  kühl  in  seinen  Hedem,  bei  denen  man  doch 
sonst  gerade  die  plastik,  'die  gestaltungskraft'  zu  bewundern  pflegt? 
sind  es  nicht  vollkommen  anschauliche,  fest  um  rissene  bilder,  die  er 
uns  vorführt,  wenn  er  z.  b.  in  den  sehnsuchtsliedern  der  Mignon 
singt:  'kennst  du  das  land,  wo  die  citronen  blühn'  usw.?  oder  ist 
es  nicht  ein  anschauliches ,  greifbares  abendlied,  das  er  in  'willkom- 
men und  abschied'  entwirft  usw.  usw.?  —  Und  umgekehrt,  ist  es 
nur  plastische  anschauung,  nur  betrachtung  der  auszenwelt ,  wenn 
unter  den  griechischen  lyrikern  z.  b.  Ibykos  (fr.  1)  neben  das  holdeste 
frühlingsbild :  'frühling  ward  es,  und  wieder  blüht,  vom  sanft 
strömenden  bach  getränkt,  der  kydonische  apfelbaum.    und  die 
blüte  der  rebe  schwillt  unter  schattendem  weinlaub '  —  seine 
eigne,  heftig  auf  und  ab  wogende'  empfindung  contrastierend  hin- 
stellt: 'wie  thrakischer  wintersturm,  widerleuchtend  von  blitzes- 
schein  fällt  Kyprias  wilder  söhn  mit  blind  sengender  wut  mich 
an  und  erschüttert  gewaltsam  mir  die  grundvesten  des  herzens* 
oder  wenn  Simonides  in  der  Danaeklage  das  brausen  des  meeres  und 
des  sturmes  mit  dem  frieden  des  schlafenden  knaben  contrastiert  und 
zugleich  in  dem  aufruhr  der  demente  die  unglückliche  ein  echo  ihrer 
eignen  angst  finden  läszt,  um  endlich  äuszeres  und  inneres  zusammen- 
klingen zu  lassen  in  dem  echt -modern -lyrischen  empfindungstone 
einer  doppelten  beseelung:  KeXo^ai  b*  €ube  ßpeqpoc,  eübeiw  ot 

7TÖVTOC,  CUÖ^TUJ  b*  CtjLl€TpOV  KOKOV !  ? 

Es  sind  überhaupt  flüssige  begriffe,  die  in  einander  überspielen, 
antik  und  modern ;  das  subjective  bricht  in  der  antiken  lyrik  kräftig 
und  machtvoll  durch  bei  den  Aeoliern ;  und  die  heiterkeit  und  Har- 
monie des  griechischen  geistes,  die  naivität  gehört  wohl  dem  Home- 
rischen Zeitalter  an  (obgleich  auch  hier  schon  rationalismus  in  den 
glaubensanschauungen  sich  geltend  macht,  wie  Erwin  Rhode  meister- 
lich dargethan  hat),  schwindet  aber  nach  und  nach  immer  mehr. 
Vischer  sagt  freilich:  'die  zwei  flüsse,  natur  und  geist,  giengen  im 
altertum  vereinigt  in  einer  Strömung,  das  Christentum  risz  sie  aus 
einander,  um  sie  höher  zu  versöhnen,  wir  schiffen  auf  dem  einen 
und  blicken  sehnsüchtig  nach  den  ufern  des  andern  hinüber,  was 
Schiller  sentimental  nennt.'  aber  nicht  nur  die  philosophische  re- 


1  auch  dies  bild  selbst  ist  nicht  etwa  unantik,  vgl.  z.  b.  Pindar 
fr.  100  8c  fxf|  iröGiu  Ku^aCvexai. 


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Die  griechischen  lyriker  iu  den  oberen  classen. 


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flexion,  die  sophistik  zerstörte  den  holden  träum,  jene  harmonie  von 
geist  und  natur,  sondern  auch  die  griechische  lyrik  beweist  das  auf- 
keimen und  blühen  der  Sentimentalität  —  jedoch,  wenn  wir  auch  nicht 
mehr  in  allem  Schillers  bahnbrechender  abhandlung  'über  naive  und 
sentimen talische  dichtung'  beistimmen  können,  um  so  anregender 
läszt  sich  ihre  lectüre  für  die  schule  gestalten. 

In  meinem  buche  'die  entwicklung  des  naturgefühls  bei  den 
Griechen  und  Römern*  habe  ich  ausführlich  nachgewiesen,  wie  auch 
das  naturgeftihl,  das  so  oft  den  alten  abgesprochen  ist3,  nur  graduell 
von  dem  modernen  verschieden  war.  auch  die  griechischen  lyriker 
lieben  es,  natur  und  seelenstimmung,  sei  es  in  harmonie  oder  im 
contrast  gegenüberzustellen  und  die  natur  zu  beseelen :  und  gerade 
hierauf  beruht  ja  vor  allem  in  der  lyrik  der  wesentliche  reiz,  das  ist 
ja  gerade  der  kern,  die  'lyrische  seele'  des  naturliedes,  dasz  natur 
und  geist,  subject  und  object  zusammenrinnen. 4  —  Denken  wir  uns 
nun  eine  deutsche  stunde  in  prima,  wir  behandeln  die  perle  Goethe- 
scher  naturlyrik  'über  allen  gipfeln  ist  ruh*,  wir  machen  auf  die 
melodie  der  worte,  auf  die  unübersetzbarkeit  aufmerksam;  wir  em- 
pfinden nach:  die  abendliche  stille,  das  verstummen  aller  wünsche, 
die  schönste  auflösung  aller  misklänge  in  den  vollendeten  einklang 
der  natur  —  und  das  alles  wie  hingehaucht!  alles  so  echt  Goethisch  ! 
unvergleichlich!  und  da  lesen  wir  in  dem  ungeheuerlichen  buche 
von  Werner,  ein  gewisser  Hermann  Wenzel  habe  nachgewiesen,  dasz 
dies  unsterbliche  lied  entlehnung  sei,  denn  den  'keim'  habe  Goethe 
dem  Alkman  (fr.  60)  entnommen! 

€öbouctv  o*  öp^iuv  Kopuqxxt  tc  Kai  (pdpatrec, 
irpujoWc  tc  Kai  xapaopai  .  .  . 

ja,  was  ist  gemeinsam?  die  schöne,  stimmungsvolle  beseelung: 
über  allen  gipfeln  ist  ruh  .  .  .  eübouciv  b'  dp^uJV  KOpuqpai  .  . .  aber 
die  beseelung  'ruhen,  schlafen*  von  naturerscheinungen  ist  ganz  all- 
gemein, nicht  nur  bei  den  Griechen  und  Deutschen,  sondern  in  der 
ganzen  weltlitteratur;  dasz  Goethe  den  Alkman  gekannt  habe,  liesze 
sich  schwerlich  nachweisen;  aber  an  eine  anlehnung  an  ihn  zu  denken, 
wäre  ebenso  unsinnig  (von  der  Versündigung  gegen  den  Goetheschen 
geist  ganz  zu  geschweigen!),  als  den  anfang  des  schönen  Paul  Ger- 
hardschen  kirchenliedes  'nun  ruhen  alle  wälder'  auf  Alkman  zurück- 
zuführen, aber  was  ist  nun  der  unterschied?  wir  haben  bei  dem 
griechischen  dichter  nur  ein  fragment,  nur  rahmen  (aber  von  plastik 


3  Roaenberg  sagt  freilich  a.a.O.  s.  104:  'man  hat  eigentlich  niemals 
Griechen  und  Römern  natursinn  abgesprochen»!  man  vergleiche  damit 
die  eiuleitung  meines  buches,  das  übrigens  Rosenberg  noch  nicht  be- 
nutzen konnte,  aber  vor  einem  solchen  satz,  wie  8.  106:  'wenn  wir 
nun  zu  den  Römern  im  speciellen  übergehen,  so  ist  es  an  und  für 
sich  schon  ganz  unmöglich,  ihnen  naturgeftihl  abzusprechen'  hätte 
er  Bich  doch  hüten  sollen  wie  vor  mancher  andern  schlimmen  phrase. 

4  vgl.  meine  kleine  Schrift  über  'das  metaphorische  in  der  dichte- 
rischen phantasie',  Berlin  1887  (A.  Haack). 


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Die  griechischen  lyriker  in  den  oberen  classen. 


können  wir  wegen  der  '  malerischen  '  musikalischen '  [nach  Jean 
Paul]  beseelung  nicht  reden),  und  bei  Goethe  ist  am  schlusz  der 
bezug  zum  geistigen  das  so  wunderbar  wirksame:  'warte  nur,  balde 
ruhest  du  auch ! '  und  so  fallt  aus  der  weit  des  geistes  zurück  auf 
die  natur  in  ihrem  abendfrieden  jener  schein  einer  höhern,  ewigen 
weit  und  verklärt  das  landschaftsbild  durch  die  tiefe  seelische 
Sympathie. 

Und  wie  läszt  auch  Sappho  gemüt  und  natur  zusammenklingen, 
dasz  es  uns  selbst  durchschauert  und  durchrieselt,  dasz  wir  nach- 
empfinden das  rauschen  des  kühlen  regens  durch  die  blinkenden 
blätter  —  'es  ist  wundersam,  wie  das  uns  träumen  macht',  sagt 
Storm  —  in  den  wunderbaren  zeilen : 

änq>l  b*  ööujp 
OiyöÖev  yuxpov  »ceAdbei  bi'  öcbwv 
paXivujv,  alGuccouivuiv  b£  (puXXwv 
Ktöfia  Kcrrappet. 

Aber  die  griechischen  lyriker  dienen  nicht  nur  andern 
Unterrichtsfächern ,  wie  dem  Horaz ,  der  geschiente ,  der  leetüre  der 
historiker  und  dem  deutschen,  als  Stützpunkte  und  zur  belebung  und 
Vertiefung,  sondern  sie  haben  auch  ein  volles  recht  auf 
einen  selbständigen  räum  in  der  griechischen  leetüre 
selbst  neben  dem  epos  und  der  tragödie. 

Doch  da  gilt  es  zunächst,  zwei  einwände,  denen  man  immer 
begegnet,  zu  beseitigen,  man  sagt,  in  der  griechischen  lyrik  wandle 
man  nur  auf  einem  trümmerfelde,  es  seien  nur 'fetzen' uns  überliefert 
worden,  so  schmerzlich  dies  auch  ist,  wo  es  zutrifft,  so  trifft  es  doeb 
im  wesentlichen  nicht  die  elegie  eines  Kallinos  (trotz  der  lücke !),  des 
Tyrtaios,  des  Solon,  Xenophanes,  Theognis,  es  trifft  nicht  zu  bei 
Pindar,  bei  dem  epigramm,  bei  den  skolien  und  Anakreonteen; 
eigentlich  bleiben  nur  der  iambus  und  das  lied  übrig,  von  denen 
man  sagen  kann,  es  seien  nur  —  'bruchstücke'.  aber  was  den  erstem 
betrifft,  so  hat  die  'Aenvcuuuv  TToXrma  des  Aristoteles  wichtige  er 
gänzungen  geliefert,  und  auch  die  stücke  des  Archilochos  (fr.  53. 
62.  71)  geben  einen  klaren  inhalt,  nicht  minder  das  des  Semonides 
üj  ticu  t^Xoc  fi£v  Zeuc  £x€l-  auch  Sappho  bietet  die  ode  an  Aphro- 
dite (fr.  1)  und  das  q>cuv€TOU  uoi  Krjvoc  von  ansehnlicher  Voll- 
ständigkeit, und  wer  aus  ihren  und  den  bruchstücken  des  Alkaios, 
Simonides,  Stesichoros,  Ibykos  und  Anakreon,  welche  in  betracht 
kommen  können,  vermittelst  seiner  phantasie  sich  kein  bild  gestalten 
kann,  sei  es  von  der  persönlichkeit  des  dichters  oder  von  dem  gehalt 
des  gedichtes,  dem  ist  freilich  nicht  zu  helfen. 

Sodann  sollen  die  griechischen  lyriker  zu  schwierig  für  das  for- 
male Verständnis  sein,  nun,  die  elegie  bietet  das  schönste  und  leich- 
teste griechisch,  das  wir  lesen  können;  auch  das  epigramm  zeigt 
keine  haufung  besonderer  Schwierigkeiten,  und  in  wie  fern  auch  die 
schwersten  fragmente  des  melos,  z.  b.  des  Simonides,  ja  selbst  die 
oden  desPindaros  noch  schwerer  sein  sollen  wie  Sophokles  mit  seinen 


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Die  griechischen  lyriker  in  den  oberen  classen.  425 


chorliedern ,  das  ist  mir  unerfindlich,  freilich  winkt  nur  dem  fleisz 
die  kröne,  und  nicht  immer  ist  es  mühelos,  die  köstliche  perle  aus 
der  widerstrebenden  schale  zu  lösen. 

Aber  sind  es  überhaupt  perlen?  reihen  sich  die  lyriker  eben- 
bürtig einem  Homer,  einem  Sophokles,  einem  Piaton  an?  stricte 
dies  zu  jedem  beweisen ,  ist  bei  der  Verschiedenheit  der  Individuali- 
täten (man  sollte  aber  diesen  Spielraum  gewähren,  sie  nicht  ein- 
schränken durch  ganz  subjective  geschmacksurteile)  schwierig,  denn 
—  was  du  nicht  fühlst,  wirst  du  auch  nicht  erjagen,  aber  wir 
sahen  bereits  in  anderm  zusammenhange,  welch  glühender  Patriotis- 
mus ,  welche  tiefe  auffassung  der  bürgerehre  und  der  mannespflicht 
in  den  elegien  und  epigrammen  sich  ausspricht  und  welch  inniger, 
gemütvoller  natursinn  in  den  Hedem  zum  ausdruck  gelangt. 

Aber  es  ist  auch  ferner  hochwichtig,  dasz  den  schülern  das 
eigentliche  wesen  der  lyrik,  d.  h.  neben  der  typischen  entwicklung: 
elegie,  lied,  epigramm  der  Charakter  der  verschiedenen  lyrischen 
arten,  des  mehr  objectiven  oder  subjectiven  gedientes ,  dann  des  ge- 
legenheitsgedichtes  im  Goetheschen  sinne,  jenes  Stimmungsbildes, 
in  welchem  die  schöpferische  phantasie  das  einzelne  zum  allgemeinen 
umprägt,  der  gedanke  ganz  anschauung  und  empfind ung,  das  wort 
melodie  wird,  an  den  köstlichen  perlen  der  hellenischen  lyrik  er- 
schlossen wird,  und  wie  deckt  sich  mit  dem  inhalte,  organisch  ver- 
schmelzend, die  form  in  der  elegie,  im  iambus,  im  melos,  im  epi- 
gramm! welche  architektonik  in  den  scheinbar  freien  rbythmen, 
welch  feines  unvergleichliches  Stilgefühl  1 

Aber  die  griechische  lyrik  bietet  uns  auch  hochwichtige  cultur- 
historische  bilder;  ich  erinnere  nur  an  die  Schilderung  und  auffas- 
sung eines  Symposion  bei  Xenopbanes  (fr.  1),  an  die  Schilderung 
und  auffassung  der  spiele  bei  ebendemselben  (fr.  2),  an  die  Zeitbilder, 
die  Solon  entwirft,  wenn  der  demagoge  spricht  (fr.  29)  und  wenn 
der  gesetzgeber  spricht  (fr.  28),  an  die  Steigerung  der  empfindsam- 
keit  in  der  lebensansebauung  von  Mimnermos  ab  bis  zu  den  spätem 
dichtem  der  anthologie,  an  die  Sentimentalität  des  naturgefühls,  das 
immer  mehr  idyllisch  -  elegisch  wird,  aber  auch  die  tief  religiösen 
anschauungen  der  Griechen  finden  hier  ihren  erhabensten  ausdruck, 
ich  denke  an  Solon  fr.  12  bis  v.  32  die  sühnende  gerech tigkeit  des 
Zeus  darstellend  und  v.33  f.  an  das  wort  Goethes  erinnernd:  Schick- 
sal des  menschen,  wie  gleichst  du  dem  wind!'  ich  denke  an  die 
herlichen  adespota  fr.  79  die  Tyche,  fr.  80  die  Parzen,  welch  tiefes 
ethos  durchdringt  des  Theognis  preis  der  hotin  ung  (v.  1135),  sein 
gedieht  'der  mensch  denkt,  gott  lenkt*  (v.  133),  'was  die  Schickung 
schickt,  ertrage'  (v.  1029),  des  Semonides  betrachtung  'des  menschen 
sinnen  ist  eitel'  (fr.  1)  und  die  köstlichen  lieder  des  Simonides :  'das 
menschliche  streben  ist  Stückwerk'  (fr.  3),  'das  leben  ist  eitel  mühsal* 
(fr.  18),  'der  tod'  (fr.  20),  'der  steile  pfad  der  tugend'  (fr.  41),  des 
Sophokles  'die  nichtigkeit  des  daseins'  (fr.  532  und  535)  usw. 

Aber  nicht  nur  tiefe  religiosität,  erhabene  lebensweisheit,  ernst 


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426  Die  griechischen  lvriker  iu  den  oberen  claesen. 

und  vvehmut  und  klage  verraten  uns  diese  edelsten  geister  der  Grie- 
chen ,  sondern  auch  heitern,  frohen  sinn,  harmlosen  lebensgenusz  in 
den  trinkliedern  (Theognis  v.  879,  Alkaios,  Anakreon  usw.),  im 
liebesliede  (Sappho),  in  der  tändelnden  dichtung  der  Anakreonteen, 
in  den  scbalkigen  Volksliedern. 

Genug,  das  menscbenwesen ,  in  griechischer  beleuchtung,  tritt 
uns  in  allen  seinen  wesentlichen  formen  lebendig  und  anschaulich 
in  der  griechischen  lyrik  entgegen,  und  einen  solchen  born  der 
Schönheit  und  der  erhabenheit,  der  tiefe  und  innigkeit  im  denken 
und  empfinden  sollen  wir  unserer  jugend  nicht  erschlieszen?  mit 
ihm  sollen  wir  sie  nicht  rein  baden  in  einer  zeit,  wo  es  so  doppelt 
wichtig  ist,  auf  phantasie  und  gemüt  zu  wirken,  auf  dasz  das  innere 
erstarke  zum  kämpfe  wider  die  feindlichen  mächte  des  materialis- 
mus  und  des  naturalismus  in  allen  arten,  sei  es  in  der  kunst  oder 
in  der  Wissenschaft? 

Und  gerade  die  lyrik,  diese  spräche  des  herzens,  ist  wie  keine 
andere  dichtungsart  dem  jugendlichen  sinne  verständlich  und  ver- 
mag die  jugendliche  seele  mit  begeisterung  für  alles  gute  und  schöne 
zu  füllen.  — 

Nur  im  interesse  einer  so  edlen  sache  (es  sei  gesagt,  damit 
man  nicht  wähne,  ich  habe  pro  domo  gesprochen)  ist  das  vorstehende 
geschrieben  und  ist  die  Sammlung  griechischer  lyriker  veranstaltet 
worden,  welche  ich  im  anschlusz  an  die  im  vorigen  jähre  erschie- 
nenen römischen  elegiker  demnächst  bei  G.  Freytag  in  Leipzig 
herausgebe. 

Kiel.  Alfred  Biese. 


40. 

DIE  ANTIKE  SAGE  IN  SEXTA. 


In  den  meisten  gymnasiallehrplänen  ist  der  sexta  die  einftlh- 
rung  in  die  antike  sage  zuerteilt,  wir  fragen  uns  zunächst,  ob  sich 
dieses  pensum  für  die  sexta  empfiehlt,  ob  es  für  diese  classe  be- 
rechtigt ist. 

Werfen  wir  den  blick  auf  den  gesamten  geschichtsunterricht 
des  gymnasiums,  so  finden  wir,  dasz  man  im  allgemeinen  die  ein- 
führung  in  die  eigentliche  geschiebte  erst  in  quarta  beginnt  der 
natürliche  grund  hierfür  ist  der,  dasz  das  Verständnis  und  die  er- 
lernung  der  geschiebte  gewisse  Vorübungen  und  Vorkenntnisse  voraus- 
setzt, die  erworben  und  angeeignet  sein  wollen,  ehe  die  beschäftigung 
mit  der  geschiente  in  fruchtbarer  weise  ihren  anfang  nehmen  kann, 
es  ist  klar,  dasz  der  same  der  geschichtlichen  lehrstoffe  von  einem 
unvorbereiteten  geiste  nicht  zur  entwicklung  gebracht  werden  kann, 
die  gesebichte  führt  uns  in  die  Vergangenheit  zurück;  unmöglich 
aber  kann  jemand  vergangenes  auffassen,  der  das  gegenwärtige  nicht 


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Die  antike  sage  in  sexta. 


427 


kennt,  was  früher  war,  existiert  jetzt  nur  noch  in  unsern  gedanken  ; 
unser  denken  musz  es  wieder  erzeugen ,  in  unserer  phantasie  musz 
es  sich  gestalten,  anders  als  sie  es  vorstellt,  hat  es  überhaupt  kein 
dasein,  infolge  dessen  ist  es  unmöglich,  einem  kinde  auch  nur 
das  geringste  von  der  Vergangenheit  zum  bewustsein  zu  bringen, 
das  die  es  umgebenden,  die  ihm  gegenwärtigen  und  wahrnehmbaren 
dinge  noch  nicht  zu  erkennen,  noch  nicht  zu  benennen  weisz. 

Der  allgemeine  anschauungsunterricht  ist  deshalb  die  unerläsz- 
liche  Vorstufe  zu  jedem  geschichtsunterricht.  jener  nun  beginnt  be- 
kanntlich schon  in  der  kinderstube,  schon  beim  Säugling  in  den 
armen  der  mutter.  was  dem  kinde  gezeigt  werde,  worauf  man  auch 
seine  aufmerksamkeit  lenke,  was  man  ihm  zu  schmecken,  zu  tasten,  zu 
riechen,  zu  hören,  zu  sehen  gebe,  alles  dient  dazu,  ihm  anschauungen 
zu  liefern,  ihm  das  Verständnis  der  es  umgebenden  dinge  zu  eröffnen. 

Der  eigentliche  anschauungsunterricht  aber  beginnt  erst,  wenn 
man  dem  kinde  die  namen  der  wahrgenommenen  dinge  beibringt, 
was  nun  das  haus  in  dieser  weise  beginnt,  das  setzt  die  schule  auf 
der  elementarstufe  einfach  fort  der  wesentliche  teil  des  ersten 
Schulunterrichts  ist  Unterricht  in  anschauung.  hierzu  dient  alles, 
was  der  lehrer  dem  kinde  zeigt  und  sagt,  hierzu  dient  vorzüglich 
der  erste  Unterricht  im  lesen  und  schreiben,  denn  dadurch  lernt  es 
die  Wörter,  die  es  zuerst  nur  nachsprach,  genauer  kennen,  es  lernt 
die  spräche  mit  Überlegung  anwenden,  es  lernt  die  Wörter  in  ge- 
regelter weise  mit  einander  verbinden,  es  lernt,  indem  es  erfahrt, 
dasz  man  gut  und  schlecht,  falsch  und  richtig  sprechen  oder  schreiben 
kann,  zugleich ,  dasz  man  die  dinge  falsch  uud  richtig  benennen, 
gut  und  schlecht  von  ihnen  sprechen  kann. 

Der  anschauungsunterricht  beschäftigt  sich  zuerst  mit  dem  wirk- 
lich gegenwärtigen  und  wahrnehmbaren,  aber  nur  klein  ist  der 
schritt  von  hier  zu  der  erinnerung  des  gewohnten  und  bekannten, 
so  bald  die  Wahrnehmung  erwacht,  erwacht  auch  diese  für  die  Wahr- 
nehmung selbst  unentbehrliche  geistesthätigkeit.  ja  sie  äuszert  sich 
bei  dem  kinde  mit  solcher  macht,  dasz  es  dasjenige,  was  ihm  in  der 
erinnerung  aufsteigt,  vielfach  mit  der  gleichen  lebhaft  igkeit  aulfaszt, 
als  wenn  es  seine  sinne  träfe,  diese  so  kräftige  kinderphantasie  ist 
daher  ein  günstiger  boden  für  die  aufnähme  auch  solcher  dinge,  die 
den  sinnen  nicht  unmittelbar  dargeboten  werden  können,  die  es 
durch  sprachliche  mitteilung,  sei  es  durch  erzählung  oder  durch  lesen, 
empfängt,  hierbei  leisten  abbildungen  eine  wesentliche  hilfe;  aber 
das  Verständnis  der  bilder  geht  dem  kinde  nicht  unmittelbar  auf, 
sondern  es  bedarf  des  helfenden  Wortes,  des  zeigens,  der  erzählung, 
welche  die  darbietung  des  bildes  begleitet,  die  begleitende  erzählung 
bringt  leben  in  das  tote  bild,  sie  gibt  der  einbildungskraft  des  kindes 
den  ersten  anstosz.  dazu  kommen  nun  die  erzählungen,  welche 
ohne  hilfe  von  bildern  an  solche  dinge,  die  im  erfahrungskreise  des 
kindes  liegen,  anknüpfen,  die  Vorstellung  von  diesen  dingen  er- 
wecken ,  und  hierdurch  die  erinnerung  anregen,   der  erfolg  solcher 


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Die  antike  sage  in  sexta. 


erzählungen  ist  eine  bereicherung  der  bilder  von  den  dingen,  die  das 
kind  bereits  kennt,  und  sie  bereiten  allmählich  auf  die  aufnähme  von 
dingen,  zuständen  und  geschehnissen  vor,  welche  dem  erfabrungs- 
kreise  des  kindes  ferner  und  ferner  liegen. 

Das  erste,  was  von  derartigen  Stoffen,  wenn  man  von  biblischen 
ge&ch i chten  absieht,  dem  kinde  gemeiniglich  zugeführt  wird,  sind 
märchen.  sie  sind  der  wichtigste  gegenständ,  der  in  den  classen  vor 
sexta  den  spätem  geschichtsunterricht  vorbereitet,  sie  führen  von 
allem,  was  das  kind  sonst  liest  oder  erfährt,  am  weitesten  aus  der 
ihm  sinnlich  gegebenen  weit  heraus,  sie  machen  es  zuerst  mit  wesen 
bekannt,  deren  Verständnis  durch  die  einbildungskraft  fast  aus- 
schlieszlich  bewirkt  werden  musz.  denn,  wenngleich  der  anschauung 
der  personen  und  mancher  Situationen  des  märchens  mit  bildern  ein 
wenig  nachgeholfen  werden  kann,  so  musz  doch  das  meiste  dazu  die 
blosze  einbildungskraft  thun,  ohne  welche  die  lebendige  Vorstellung 
der  ereignisse  des  märchens  überhaupt  unmöglich  ist. 

Die  frage  ist  nun,  ob  vom  märchen  ohne  weiteres  der  Übergang 
zur  geschichte  gemacht  werden  kann,  die  antwort  musz  verneinend 
ausfallen,  zwischen  märchen  und  geschichte  breitet  sich  noch  ein 
gebiet  aus ,  das  den  Übergang  von  jenem  zu  dieser  vermittelt  un- 
natürlich würde  es  sein,  es  zu  überspringen  oder  es  zu  umgehen, 
dieses  gebiet  ist  die  sage,  welche  das  märchen  mit  der  geschichte 
verbindet,  als  die  eigentliche  Vorbereitung,  als  die  Propädeutik  des 
geschichtsunterricht s  musz  also  der  Unterricht  in  der  sage  eintreten, 
mit  vollem  rechte  ist  dieselbe  deshalb  als  pensum  denjenigen  classen 
zugewiesen,  welche  in  unserm  gymnasium  der  quarta  vorangehen, 
sexta  und  quinta  sind  der  sagengeschichte  bestimmt. 

Es  ist  nun  gebräuchlich,  in  sexta  antike,  in  quinta  deutsche 
sage  zu  lehren,  es  fragt  sich ,  ob  diese  Verteilung  auf  die  beiden 
classen  richtig  ist.  man  könnte  auch  fragen ,  ob  nicht  noch  andere 
Sagenkreise  in  den  Unterricht  hineingezogen  werden  sollten,  oder  ob 
vielleicht  nur  die  deutsche  oder  nur  die  antike  sage  gelehrt  werden 
sollte,  doch  diese  letztern  fragen  bedürfen  kaum  weiterer  erwägung. 
die  deutsche  sage  auszuschlieszen  ist  unstatthaft,  weil  es  unziemlich 
ist,  dasz  ein  deutscher  knabe  wohl  von  den  göttern  und  helden  der 
Griechen  und  Römer  bescheid  weisz,  von  denen  des  eignen  volkes 
aber  nicht,  die  antike  sage  hingegen  auszuschlieszen  verbietet  sich 
durch  das  wesen  des  gjmnasiums,  wie  es  einmal  ist,  durch  den  um- 
stand, das/,  einerseits  das  Studium  der  alten  Schriftsteller  immer  die 
kennt n is  der  sage  voraussetzt,  anderseits  der  auf  dem  gymnasium 
einen  so  breiten  räum  einnehmende  Unterricht  in  der  alten  geschichte 
seine  natürliche  Vorbereitung  in  der  alten  sage  findet,  hingegen  be- 
darf die  frage  nach  der  Verteilung  der  beiden  Sagenkreise  auf  die 
beiden  classen  einer  genaueren  erwägung.  auf  den  ersten  blick  nem- 
lieh  scheint  es  sich  zu  empfehlen,  in  sexta  deutsche  sagen  zu  lehren, 
der  knabe  hat  in  der  Vorschule  bisher  deutsche  märchen  kennen  ge- 
lernt,  wie  vortrefflich  knüpfen  sich  an  die  gestalten  des  märchens 


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Die  antike  sage  in  sexta. 


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die  der  sage !  es  ist  nicht  zu  verkennen ,  dasz  der  Übergang  vom 
deutschen  märchen  zur  deutschen  sage  äuszerst  leicht  sein  würde, 
es  besteht  ja  zwischen  den  gestalten  jener  und  dieser  eine  ursprüng- 
liche Verwandtschaft,  die  sagen  sind  gleichsam  märchen,  welche  an 
bestimmte  personen  anknüpfen,  sie  würden  dem  kinde  nur  als  eine 
besondere  art  von  märchen  erscheinen,  sie  bedürften  keiner  beson- 
dern Vorbereitung  und  einfuhrung. 

Aber  nicht  nur  knüpft  die  deutsche  sage  in  sexta  leicht  und 
bequem  an  das  märchen  der  septima  an,  sondern  auch  nach  oben 
hin  bietet  sich,  wie  es  scheint,  ein  ähnlicher  vorteil:  der  Unterricht 
in  der  antiken  geschiente  in  quarta  würde  durch  die  antike  sage  in 
quinta  unmittelbar  vorbereitet  werden,  die  Vorzüge  dieser  anord- 
nung  sind  nicht  zu  verkennen;  denn  es  ist  von  groszer  bedeutung 
für  den  erfolgreichen  aufbau  der  Unterrichtsstoffe,  dasz  die  einzelnen 
stufen  des  Unterrichts  in  gehörigem  zusammenhange  stehen. 

Hiergegen  läszt  sich  freilich  einwenden,  dasz  auch  auf  eine  ge- 
wisse abwechslung  in  den  Stoffen  rücksicht  genommen  werden  müsse, 
man  kann  davon  sprechen,  dasz  die  eintönigkeit  in  den  dargebotenen 
Stoffen  ermüde,  dasz  die  abwechslung  das  interesse  reize  und  belebe, 
aber  dieser  grund  ist  nicht  sehr  vielsagend,  gewis  kann  eintönigkeit 
schädlich  werden;  sie  ist  jedoch  offenbar  beim  übergange  vom  mär- 
chen zu  den  deutschen  sagen  gar  nicht  vorhanden,  ebenso  wenig  wie 
bei  dem  übergange  von  der  antiken  sage  zur  alten  geschichte.  bei 
diesen  gegenständen  entrollt  jede  stunde  ein  anderes  bild ;  die  helden- 
thaten  eines  Siegfried  können  unmöglich  deshalb,  weil  sie  auf  deut- 
schem boden  spielen,  weniger  anziehend  sein,  als  die  eines  Achill; 
im  gegenteil,  sie  müssen  an  sich  notwendig  ein  gröszeres  interesse 
erwecken,  in  ähnlicher  weise  könnte  der  grund  der  abwechslung 
angeführt  werden  mit  einem  hin  weis  darauf,  dasz  von  quarta  an  ein 
regelmäsziger  Wechsel  zwischen  antiker  und  deutscher  geschichte 
gemeiniglich  eingeführt  sei.  denn  in  tertia  wird  gewöhnlich  deutsche 
geschichte  gelehrt ,  in  secunda  wieder  wie  in  quarta  alte ,  in  prima 
wieder  deutsche,  diesem  Wechsel  würde  nun  antike  sage  in  sexta, 
deutsche  in  quinta  entsprechend  sich  anschlieszen. 

Aber  diese  abwechslung  ist  etwas  zu  äuszerliches,  als  dasz  man 
ihr  zu  liebe,  wenn  weiter  nichts  dagegen  spräche,  den  trefflichen 
beiderseitigen  Zusammenhang  nach  unten  und  nach  oben,  der  mit 
der  Verteilung  der  antiken  sage  auf  quinta,  der  deutschen  auf  sexta 
verbunden  ist,  aufgeben  sollte,  es  kommt  noch  hinzu,  dasz  die 
deutsche  sage  in  sexta  sich  leicht  und  zweckmäszig  in  Verbindung 
setzen  läszt  mit  der  heimatkunde,  wenigstens  an  sehr  vielen  orten, 
auszerdem  aber  der  gewichtige  gesichtspunkt ,  dasz  gar  nicht  früh 
genug  des  knaben  geist  und  gemüt  von  vaterländischen  dingen  und 
angelegenheiten  erfüllt  werden  kann. 

Trotzdem  ist  es  richtig,  dasz  in  sexta  antike  sage  gelehrt  werde, 
und  zwar  aus  folgenden  gründen,  es  ist  nemlich  auszer  dem  zu- 
sammenhange der  verschiedenen  classenpensa  desselben  faches,  also 


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Die  antike  sage  in  sexta. 


in  unserm  falle  dem  zusammenhange  des  gescbiebtsunterrichts  in 
sämtlichen  classen,  noch  ein  anderer  zu  beobachten,  der  von  gleicher, 
wenn  nicht  von  gröszerer  Wichtigkeit  ist,  als  jener,  ich  meine  den 
Zusammenhang  der  verschiedenen  Unterrichtsgegenstände,  welche  in 
derselben  classe  neben  einander  betrieben  werden,   dasz  auch  die 
verschiedenen  facher,  aus  denen  sich  der  gesamte  lehrplan  einer  classe 
zusammensetzt,  nicht  nur  neben  einander  betrieben  werden  dürfen, 
sondern  dasz  sie  mit  einander  in  Verbindung  stehen  müssen,  ist  eine 
forderung,  deren  berechtigung  zwar  jeder  wohl  zugeben  wird,  deren 
tragweite  aber  häufig  tibersehen  wird,  die  deshalb  auch  nicht  immer 
gehörige  erfüllung  findet  und  infolge  dessen  in  der  praxis  und  theorie 
des  Unterrichts  nicht  Uberall  genügend  beachtet  wird,  was  es  mit 
dieser  forderung  für  eine  bewandtnis  hat,  wird  am  besten  klar  wer- 
den durch  die  specielle  erörterung  der  Stellung,  welche  der  antiken 
sage  im  lehrplan  der  sexta  zukommt,   aus  dieser  erörterung  wird 
völlig  deutlich  hervorgehen,  dasz  die  antike  sage  nicht  nur  mit  vollem 
rechte  in  diese  classe  gehört,  sondern  dasz  selbst  in  einem  veränder- 
ten lehrplan  die  antike  sage  für  die  altersstufe,  welche  der  sexta 
entspricht ,  ein  durchaus  angemessener,  ja  notwendiger  lehrgegen- 
stand  ist. 

Wenn  wir  den  lehrplan  der  sexta  ins  auge  fassen ,  wie  er  zur 
zeit  auf  dem  deutschen  gymnasium  beschaffen  ist,  so  tritt  als  das 
hervorragendste  unter  den  lehrfächern  dieser  classe  das  latein  hervor, 
der  lateinische  Unterricht  beginnt  in  ihr;  die  grundlagen  dieser 
spräche ,  deren  betrieb  trotz  neuerer  Verminderungen  noch  immer 
die  gröste  Stundenzahl  unter  allen  fächern  des  gymnasiums  in  an- 
spruch  nimmt,  werden  in  sexta  gelegt;  sie  verdient  daher  vor  allen 
andern  den  namen  der  lateinclasse. 

Fragen  wir  nun  nach  dem  zweck  des  lateinischen  Unterrichts 
in  sexta,  so  kann  derselbe  hier  offenbar  kein  wesentlich  anderer  sein, 
als  im  gymnasium  überhaupt,  er  ist  ein  zwiefacher,  einerseits  ein 
formaler,  anderseits  ein  sachlicher  oder  stofflicher,  jenem  dient  vor- 
züglich die  lateinische  grammatik,  sodann  die  sprach- ,  rede-  und 
schreibübungen,  welche  mit  der  erlernung  der  spräche  notwendig 
verbunden  sind,  in  stofflicher  hinsieht  aber  vermittelt  die  erlernung 
der  lateinischen  spräche  die  kenntnis  römischer  Schriften  und  Schrift- 
steller, sodann  römischer,  Uberhaupt  antiker  dinge,  zustände,  ereig- 
nisse,  endlich  auch,  um  dies  nicht  zu  vergessen,  die  erkenntnis  und 
empfindung  antiker  kunst  und  Wissenschaft,  antiken  geistes,  antiker 
gesinnung,  antiker  tugend. 

Diesem  zwiefachen  zweck ,  dem  formalen  und  dem  stofflichen, 
dienen  aber  nicht  ebenso  getrennte  mittel,  die  formen  der  spräche 
können  nicht  erlernt  werden  ohne  einen  inhalt,  und  wenn  sie  es 
könnten,  so  dürften  sie  es  nicht,  weil  der  besitz  bloszer  formen  ohne 
inhalt  völlig  wertlos  sein  würde,  es  scheint  zwar,  als  ob  bei  der 
erlernung  der  grammatik,  der  aneignung  der  Wörter,  der  einübung 
der  wortformen  und  der  regeln  der  satzbildung  vom  inhalt  abgesehen 


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Die  antike  sage  in  serta. 


431 


werden  müste.  aber  es  hat  sieh  längst  herausgestellt,  dasz  dies  nur 
bis  zu  einem  gewissen  grade  geschehen  darf,  wenn  man  über  diesen 
hinausgeht,  wenn  man  den  inhalt  völlig  vernachlässigt,  wenn  man 
z.  b.  Wörter  lernt,  die  man  nicht  versteht,  wenn  man  die  formen 
lernt  auszer  ihrem  zusammenbange  in  Sätzen,  wenn  man  sätze  bildet 
mit  einem  verkehrten  oder  unpassenden  inhalt,  so  stärkt  man  da- 
durch nicht  das  vermögen  und  die  fertigkeit  des  richtigen  gebrauches 
der  Wörter  und  formen,  sondern  schwächt  sie.  deshalb  ist  es  auch 
längst  das  bestreben  der  methodiker  des  lateinischen  Unterrichts,  die 
einübung  der  formen  der  spräche  an  passenden  inhalt  anzuknüpfen, 
so  läszt  man  denn  auch  überall,  wo  in  deutschen  schulen  latein  ge- 
lehrt wird,  die  schüler  die  wörter  und  wortformen ,  mit  deren  erler- 
nung  ja  der  Sprachunterricht  stets  beginnen  musz,  möglichst  früh 
in  Sätzen  anwenden,  ja  manche  methodiker  gehen  noch  weiter  und 
versuchen,  den  schüler  von  vorn  herein  in  eine  zusammenhängende 
erzählung  einzuführen,  der  vorteil  dieses  Verfahrens  soll  darin  be- 
stehen, dasz  einerseits  die  erlernung  der  spräche  von  anfang  an  durch 
das  interesse,  welches  ein  zusammenhängender  inhalt  gewährt,  selbst 
ein  höheres  interesse  bekommt,  anderseits  dadurch  erleichtert  wird, 
dasz  die  erinnerung  an  den  inhalt  das  behalten  der  Wörter  und  formen 
unterstützt. 

Ob  diese  vorteile  wirklich  so  außerordentlich  erheblich  sind, 
wie  die ,  welche  sie  preisen ,  es  glauben ,  lassen  wir  vorläufig  dahin- 
gestellt, eins  aber  ist  sicher:  mag  man  das  latein  von  vorn  herein 
an  zusammenhängenden  stücken  lernen  oder  an  einzelnen  Sätzen, 
der  inhalt,  der  in  den  lateinischen  Worten  dem  schüler  geboten  wird, 
darf  ihm  nicht  unverständlich  sein ,  oder  wenigstens ,  er  darf  ihm 
nicht  unverständlich  bleiben. 

Man  hat  nun  die  wähl,  ob  man  diesen  inhalt  der  erfahrung  des 
Schülers  entnehmen  will ,  wie  er  sie  bereits  in  die  sexta  mitbringt, 
oder  ob  man  ihm  in  der  neuen  spräche  zugleich  neue  inhalte  zuführen 
will,  oder  ob  man  den  stoff  der  lateinischen  sätze  aus  einem  gebiete 
nimmt,  das  mit  dem  latein  zugleich  ein  Unterrichtsgegenstand  der 
sexta  ist.  was  hier  als  das  beste  zu  erwählen  sei,  ist  nicht  gar 
schwierig  zu  entscheiden,  wenn  die  sätze  nur  gewöhnliches,  alltäg- 
liches und  bekanntes  enthalten ,  so  fehlt  ihnen  eben  jeder  reiz ,  wie 
sehr  sie  auch  verständlich  sein  mögen,  der  Unterricht,  der  wegen 
der  vielen  auswendig  zu  lernenden  vocabeln  und  der  vielen  einzu- 
übenden formen  an  sich  schon  trocken  ist,  wird  dadurch  noch  weit 
trockener,  bringt  hingegen  jeder  satz  einen  inhalt,  der  dem  schüler 
neu  ist,  so  geht  sehr  viel  zeit  verloren  über  erklärung  des  inhaltes, 
die  eben  unerläszlich  sind,  um  den  grösten  schaden,  das  kramen  mit 
unbegriffenen  Worten  und  Sätzen,  zu  vermeiden,  geringer  ist  der 
Zeitverlust,  wenn  der  inhalt  des  lateinischen  Unterrichts  neu  aber 
zugleich  zusammenhängend  ist,  weil  alsdann  dieser  stoff  für  sich 
dem  schüler  zu  eigen  gemacht  werden  kann ,  so  dasz  er  als  solcher 
angeeignet  nachher  im  gewande  der  fremden  spräche  die  erlernung 


432 


Die  antike  sage  in  sexta. 


derselben  fördert  und  unterstützt  und  zugleich  selbst  wieder  genauer 
bekannt,  fester  angeeignet  wird,  das  interesse  fehlt  in  diesem  falle 
nicht,  aber  ein  Zeitverlust  bleibt,  der  in  keinem  falle  unbeträchtlich 
ist.  denn  das  alter  des  seztaners  lernt  nichts  neues  sehr  schnell, 
alles  was  man  ihm  bietet,  musz  sorgfältig,  genau,  langsam,  in  durchaus 
elementarer  weise  dargeboten  werden ,  wenn  es  vollkommen  aufge- 
nommen und  verdaut  werden  soll,  deshalb  erscheint  als  das  richtigste 
verfahren,  dasz  das  latein  in  sexta  mit  den  andern  fächern  dieser 
classe  dadurch  in  eine  innere  Verbindung  gebracht  werde,  dasz  man 
den  lateinischen  wort  und  redeschatz  den  das  latein  begleitenden 
lehrfächern  der  classe  entnimmt,  je  mehr  man  sich  mit  diesem  ver- 
fahren befreundet,  um  so  mehr  wird  sich  seine  richtigkeit  und  seine 
fruchtbarkeit  herausstellen,  es  ist  in  Wahrheit  das  einzig  vernünftige 
und  infolge  dessen  das  ersprieszlichste.  es  ist,  wie  sich  weiterhin 
herausstellen  wird,  mit  solcher  leichtigkeit  durchführbar,  da9z  sich 
kaum  irgend  ein  bedenken  gegen  dasselbe  dürfte  erheben  lassen. 

Es  soll  also  eine  gemeinsamkeit  des  Inhaltes  zwischen  dem  latei- 
nischen und  den  andern  fächern  der  sexta  hergestellt  werden,  welche 
inhalte  sind  nun  aus  diesen  für  jenes  brauchbar?  in  sexta  wird 
gemeiniglich  religion ,  deutsch ,  bisweilen  französisch  (so  am  prote- 
stantischen gyrnnasium  in  Straszburg),  ferner  geschiente  (sagen- 
geschichte),  geographie,  naturkunde,  rechnen  gelehrt,  vielerlei  Stoffe 
also  werden  dem  sextaner  zugeführt,  aber  nur  wenig  davon  kann 
für  das  lateinische  nutzbar  gemacht  werden,  die  Übungsbücher,  die 
in  sexta  dem  lateinischen  Unterricht  zu  gründe  gelegt  werden ,  ent- 
halten nicht  selten  (so  z.  b.  das  so  sehr  verbreitete  Übungsbuch  von 
Ostermann)  Wörter  und  sätze  aus  allen  diesen  gebieten,  auszerdem 
aber  noch  zahlreiche  moralische  gemeinplätze  und  sätze ,  die  Über- 
haupt keinem  Wissensgebiet,  sondern  dem  täglichen  leben  angehören, 
wollte  man  in  der  auswahl  der  Wörter  sorgfältiger  zu  werke  gehen, 
wollte  man  rücksicht  nehmen  auf  das,  was  der  sextaner  in  den  nicht- 
lateinischen stunden  lernt,  so  würden  diese  ja  gewis  ohne  Schwierig- 
keit im  stände  sein ,  für  jenen  zweck  sogar  mehr  zu  liefern  als  mit 
rücksicht  auf  das  vocabel-  und  formenpensum  gebraucht  werden 
kann,  man  denke  nur  an  die  vielen  namen  des  naturkundlichen 
Unterrichts,  der  geographie,  auch  an  die  begriffe  aus  der  religion. 
man  könnte  darauf  verfallen,  aus  jedem  dieser  fächer  die  wichtig- 
sten namen,  die  vornehmsten  begriffe  zusammenzustellen,  ihre  zahl 
würde  sehr  beträchtlich  sein  und  für  alle  abschnitte  der  formenlehre, 
deren  erlernung  ja  die  hauptaufgabe  des  lateinischen  in  sexta  ist, 
passende  beispiele  in  reichlicher  menge  bieten. 

Der  vocabelschatz,  den  man  auf  diese  weise  erhielte ,  samt  den 
daraus  zu  bildenden  Sätzen  würde  immer  noch  den  Vorzug  vor  man- 
chen vocabelsaramlungen  haben,  die  man  dem  sextaner  zumutet, 
dasz  wenigstens  nicht  nur  die  endungen,  der  grammatische  abschnitt, 
die  paradigmata  und  regeln  der  grund  ihrer  auswahl  und  Zusammen- 
stellung wären,   aber  eine  wahrhafte  auswahl,  ein  wirklich  orga- 


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Die  antike  sage  in  sexta. 


433 


nisches  ganze  würde  so  nicht  entstehen,  es  bliebe  diese  Zusammen- 
stellung immerhin  ein  allerlei,  ohne  innern  Zusammenhang,  ohne 
verbindenden  faden,  ohne  innere  beziehungen. 

Hierzu  kämen  noch  besondere,  sehr  erhebliche  misstände:  da 
die  Sachkenntnis,  welche  in  den  nichtlateinischen  stunden  erworben 
werden  soll,  der  erlernung  der  lateinischen  Wörter  vorausgehen 
musz,  so  dürften  streng  genommen  in  den  lateinstunden  immer  nur 
solche  Wörter  vorkommen,  deren  gegenstände  bereits  bekannt  sind, 
dadurch  würde  der  lateinische  Unterricht  dazu  verurteilt  sein,  in 
ganz  seltsamer  weise  den  andern  stunden  nachzuhinken,  dies  ist 
aber  unmöglich  und  unstatthaft,  wenn  einer  es  dennoch  durchzu- 
führen suchte. 

Ein  ferneres  bedenken  gegen  das  angeführte  princip  der  Wörter- 
und  stoffauswahl  für  das  lateinische  aber  ergibt  sich  aus  einem 
gründe,  der  zugleich  einen  positiven  wert  hat,  weil  er  den  fingerzeig 
gibt,  diese  auswahl  in  einer  durchaus  gesunden  und  förderlichen 
weise  in  Übereinstimmung  mit  den  bisher  entwickelten  gesichts- 
punkten  zu  treffen,  es  darf  offenbar  nur  solcher  stoff  für  das  latei- 
nische benutzt  werden,  dem  das  römische  gewand  passt.  es  darf  dem 
seztaner  kein  buntes  durcheinander  von  allerlei  modernen  namen 
für  neuere  länder  und  dinge,  von  Sätzen  über  neuere,  den  alten  Un- 
bekannteverhältnisse und  ereignisse  gegeben  werden,  vom  römischen 
Standpunkte  aus  betrachtet  sind  moderne  ausdrücke,  mögen  sie  dem 
gebiete  der  geographie  oder  der  naturkunde  oder  der  religion  oder  der 
deutschen  vorzeit,  der  mittlem  und  neuern  deutschen  geschiente  oder 
gar  dem  leben  der  gegen  wart  entnommen  sein,  barbarisch,  kein 
mönchslatein,  kein  gelehrtenlatein  soll  der  sex  taue  r  lernen;  auch 
sollen  ihm  die  lateinischen  Wörter  nicht  ein  Spielzeug  sein,  masken, 
Verkleidungen  moderner  dinge  in  fremde  namen.  mag  er  daran  ge- 
legentlich eine  kindliche  freude  haben,  in  fremder  spräche  bekanntes 
zu  sagen  und  zu  vernehmen:  wenn  ihm  dies  als  der  hauptzweck  der 
erlernung  dieser  spräche  erscheint,  so  wüste  ich  nicht,  wie  das  kind 
sich  den  zweck  dieser  beschäftigung  abgeschmackter  und  thörichter 
vorstellen  könnte,  so  kommen  wir  zu  der  Überzeugung,  dasz  man  in 
antiker  spräche  nichts  nichtantikes  lernen  und  lehren  soll,  es  ist  dies 
ja  auch  längst  anerkannt,  die  bessern  lehrbücher  unter  den  neuem 
vermeiden  mit  einer  bis  zur  Übertreibung  gehenden  Sorgfalt  jeden 
barbari8mus.  den  pädagogischen  gesichtspunkt  hat  man  dabei  aus 
den  äugen  verloren,  den  philologischen  an  seine  stelle  gesetzt  und 
mit  ängstlicher  vorsiebt  den  assischen  Sprachgebrauch'  zum  princip 
erhoben,  dasz  dies  eine  verirrung  ist,  die  aus  der  richtigen  absieht, 
das  nichtantike  zu  vermeiden,  ohne  in  trivialitäten  zu  fallen,  her- 
vorgeht, wird  sich  sogleich  herausstellen,  wenn  wir  in  behutsamer 
weise  unsere  Untersuchung  fortsetzend,  nun  fragen,  woher  denn  dem 
sextaner  der  antike  stoff  kommen  soll,  der  seinem  lateinischen 
Sprachunterricht  zu  gründe  liegen  musz. 

Die  Verfasser  der  Übungsbücher  sind  da  zumeist  gar  nicht  in 

N.  jfthrb  f.  phil  u.  päd.  II.  abt.  1891  hft.  8  u.  9.  23 


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Die  antike  sage  in  serta. 


Verlegenheit,  aus  dem  reichen  inhalt,  den  geschiebte  und  schrift- 
steiler des  altertums  darbieten,  greifen  sie  ohne  sich  viel  zu  besinnen 
diesen  oder  jenen  gegenständ  heraus  und  formen  so  Übersetzungs- 
beispiele für  formenlehre  und  grammatik.  hier  und  da  geben  sie 
auch  kleine  erzähl  ungen ,  die,  wie  es  sich  gerade  trifft  ,  eine  fabel 
enthalten  oder  ein  stück  aus  griechischer  und  römischer  sage  und 
geschichte.  sie  erztfhlen  ohne  viele  scrupeln  in  diesen  Sätzen  bald 
von  römischen  königen,  bald  von  persischen,  bald  von  Nu  um  Porn- 
pilius ,  bald  von  Alexander  dem  groszen ,  nicht  selten  auch  von  der 
Vaterlandsliebe  des  Cicero,  der  strenge  des  Cato,  der  gesetzgebung 
des  Solon ,  den  reisen  des  Herodot,  der  Weisheit  des  Plato ,  von  den 
Scythen,  Babyloniern,  den  Karthagern,  Spaniern,  Britten,  wozu  hier 
dies  weiter  ausführen?  die  Übersetzungsbeispiele,  in  welchen  den 
Schülern  nichts  unclassisches  geboten  wird ,  sind  ein  buntes  allerlei, 
das  der  zufall  zusammengeführt  hat,  dessen  ordnungsprineipe  die 
declinationsart,  die  conjugationsformen ,  der  grammatische  Schema- 
tismus sind,  wer  im  Unterricht  auf  derartige,  auszerordentlich  ver- 
breitete Übungsbücher  angewiesen  ist,  hat  beim  übersetzen  ihrer 
sätze  fast  unaufhörlich  sich  zu  entscheiden,  ob  er  entweder  seine  zeit 
damit  verlieren  will ,  den  Schülern  die  namen  und  ereignisse  zu  er- 
klären, die  genannt  werden  oder  auf  die  angespielt  wird,  und  sich 
damit  bald  über  orientalische,  über  römische,  über  griechische  ge- 
schichte, dann  wieder  über  die  litteratur,  dann  Uber  die  kunst,  dann 
über  geographie,  bisweilen  sogar  über  philosophie  und  mathematik, 
nicht  selten  über  staats-  und  privataltertümer  zu  verbreiten,  oder 
ob  er,  den  inhalt  der  sätze  einfach  als  nicht  vorhanden  betrachtend, 
den  grammatischen  erscheinungen ,  für  deren  illustrierung  sie  be- 
stimmt sind,  seine  und  der  schüler  aufmerksamkeit  zuwendet,  das 
letztere  verfahren  ist  das  gewöhnliche,  weil  es  allein  ermöglicht,  in 
jeder  stunde  die  nötige  anzahl  von  Sätzen  zu  Übersetzen,  im  zwange 
dieser  Übungsbücher  verlernen  schüler  und  lehrer  allmählich,  dasz  die 
sätze,  die  sie  lesen  und  übersetzen,  einen  inhalt  haben;  sie  sind  nur 
Schemata  für  satzconstruetionen ,  die  Wörter  gesteile  für  endungen. 

Wem  diese  thatsachen  recht  deutlich  werden,  wer  die  bedauer- 
lichen folgen  bedenkt,  die  sie  für  die  ausbildung  des  geistes  haben 
müssen,  der  wird  leicht  von  der  Überzeugung  erfüllt  werden,  dasz 
diese  art  und  weise,  der  alten  spräche  antiken  inhalt  zu  geben,  ihren 
zweck  so  sehr  verfehlt,  dasz  man  geneigt  sein  möchte,  auf  das  ent- 
gegengesetzte verfahren  wieder  zu  verfallen,  welches  darin  besteht, 
dasz  man  ausschlieszlich  daran  denkt,  dem  kinde  einen  ihm  verständ- 
lichen stoff  darzubieten,  in  diesem  bestreben  werden  dann  allerlei 
sätze  erdacht,  gegen  deren  inhalt  vom  pädagogischen  Standpunkte  aus 
nichts  einzuwenden  ist,  die  aber  ebenso  gut  beim  französischen  oder 
englischen  Sprachunterricht  gebraucht  werden  könnten  wie  beim 
lateinischen. 

Der  fehler  derartiger  erfindungen  ist  im  gründe  genommen 
genau  derselbe,  wie  der  ist,  welcher  bei  der  Zusammenstellung  aller 


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Die  antike  sage  in  sexta. 


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möglichen  sütze  mit  antiquarischem  inhalte  gemacht  wird,  in  diesem 
wie  in  jenem  falle  ist  ein  methodisches  princip,  das  an  sich  richtig 
ist,  nicht  mit  methodischer  consequenz  durchgeführt,  sondern  durch 
Willkür  verunstaltet,  ohne  zweifei  ist  es  richtig,  dasz  den  kindern 
verständlich  sein  musz,  was  sie  lernen  und  übersetzen,  womit  sie  so 
viele  stunden  aufs  gründlichste  beschäftigt  werden,  ohne  zweifei  ist 
es  auch  richtig,  dasz  man  die  lapidare  spräche  römischer  geschicht- 
schreiber  und  redner  nicht  misbrauchen  soll ,  um  kleinigkeiten  des 
täglichen  lebens,  moralische  gemeinplätze  oder  allerlei  neuere  dinge 
und  ereignisse  in  künstlicher  und  geschraubter  weise  auszudrücken, 
wie  man  sich  nun  hier  richtig  zu  verhalten  hat,  das  lernt  man  am 
leichtesten,  wenn  man  die  alten  selbst  fragt,  wie  sie  es  machten, 
was  ein  alter  römischer  Schulmeister  seine  kinder  lesen  liesz,  damit 
sie  lesen  und  schreiben  lernten,  das  war  offenbar  sowohl  ihrem  Ver- 
ständnis angemessen,  als  auch  römisch,  antik,  classisch.  stellen  wir 
die  fibel  der  römischen  schnlknaben  wieder  her,  so  haben  wir,  was 
wir  für  unsere  kinder  brauchen,  diese  arbeit  ist  gewis  nicht  schwierig ; 
wir  werden  angeben,  wie  es  zu  machen  ist. 

Zuerst  musz  der  antike  stoflf  da  sein ,  der  dem  kinde  mitgeteilt 
werden  soll,  gut  denn!  teilen  wir  ihm  denselben  in  unserer  spräche 
mit.  der  römische  lehrer  hat  gewis  erst  seinen  knaben  von  Achill 
und  Odysseus  erzählt ,  ehe  er  über  sie  lesen  liesz.  wenn  er  es  nicht 
that,  so  hatten  es  eitern,  geschwister  oder  der  hauspädagoge  gethan. 
das  gleiche  können  wir  auch  in  unserer  schule  ohne  mühe  erreichen, 
lassen  wir  unsere  kinder  erst  einen  zusammenhängenden  stoff  aus 
dem  altertum  in  deutscher  spräche  lesen,  machen  wir  ihnen  den- 
selben recht  zu  eigen,  so  dasz  sie  ihn  selbst  wieder  erzählen  können, 
erklären  wir  ihnen  dabei  alles,  was  zu  erklären  ist,  so  dasz  ihnen 
nichts  unverständlich  davon  sei,  so  werden  sie  alsdann  einen  antiken 
stofT  besitzen,  nun  können  sie  ihn  auch  in  antiker  spräche  kennen 
lernen,  wie  grosze  vorteile  dies  haben  musz  für  die  beschäftigung 
mit  der  lateinischen  spräche,  liegt  auf  der  hand.  und  auch  umgekehrt 
kann  die  fremde  form  der  gründlichen  erfassung  der  inhalte  nur 
förderlich,  nicht  schädlich  sein,  jede  lateinische  vocabel,  die  der 
knabe  nun  erfährt,  ist  für  ihn  sogleich  verknüpft  mit  einem  be- 
stimmten gedankenkreise.  der  geringste  hinweis  des  lehrers  auf  die 
stelle  in  der  antiken  sage,  zu  der  das  lateinische  wort  passt,  genügt, 
dasz  der  schüler  gleich  das  für  seinen  verstand  genügende,  ja  ein 
reiches  Verständnis  des  Wortes  erlange,  denn  reicher  und  vollkom- 
mener kann  ein  knabe  ein  wort  nicht  verstehen,  als  wenn  es  für  ihn 
ein  stück  ist  aus  einem  vollkommen  angeeigneten  und  begriffenen 
vorstellungskreise.  wie  sehr  dadurch  das  behalten  der  Wörter  er- 
leichtert  wird,  ist  ebenfalls  völlig  augenscheinlich,  der  hauptvorteil 
dieses  Verfahrens  aber  möchte  wohl  darin  bestehen,  dasz  jetzt  das 
bilden  von  Sätzen,  der  zusammenhängende  gebrauch  der  Wörter  wie 
von  6elbst  den  knaben  zufällt,  ein  neuerer  methodiker  hat  in  vor- 
trefflicher weise  gezeigt,  wie  man  schon  in  der  allerersten  stunde 

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Die  antike  sage  in  sexta. 


die  knaben  kann  sätze  mit  lateinischen  Wörtern  bilden  lassen,  in- 
dem man  die  lateinischen  Wörter  mit  deutschen  zusammenstellt  zu 
deutseben  Sätzen,  in  denen  jene  sich  wie  fremdwörter  ausnehmen, 
bei  dem  hier  von  uns  dargestellten  verfahren  wird  das  gleiche,  aber 
auf  eine  feinere  und  geistigere  art  geleistet,  denn  bildung  eines 
satzes,  urteilsthätigkeit  kann  auch  stattfinden,  ohne  dasz  der  satz 
ausgesprochen  wird,  die  satzbildung  in  gedanken  musz  sogar  dem 
aussprechen  des  satzes  vorangehen,  bei  unserer  art  würde  diese  ge- 
dankliche satzbildung  sogleich  von  statten  gehen,  sobald  der  knabe 
die  vocabel  lernt,  weil  er  schon  gedanken  über  den  gegenständ, 
dessen  lateinischen  namen  ihm  die  vocabel  mitteilt,  besitzt,  infolge 
dessen  kann  der  lehrer  es  sich  ersparen,  jene  etwas  Beltsam  klingen- 
den sätze  aus  deutschen  und  lateinischen  worten  bilden  zu  lassen, 
an  dem  aussprechen  solcher  sätze  kann  mit  recht  anstosz  genommen 
werden,  sie  sind  auf  jeden  fall  etwas  künstliches,  und  es  ist  besser, 
wenn  man  derartige  künstliche  lernmittel  selten  oder  gar  nicht  an- 
wendet, ohne  dasz  ich  also  diesen  Vorschlag  jenes  methodikers  ver- 
werfen wollte,  dessen  prineip  mir  vielmehr  ganz  vortrefflich  er- 
scheint, möchte  ich  nur  darauf  hinweisen,  wie  einfach  und  natürlich 
sich  die  innere  aneignung  der  vocabeln  vollzieht,  wenn  man  den 
boden  so  vorbereitet  hat,  wie  es  von  uns  vorgeschlagen  wird,  die 
vorteile  dieses  Verfahrens  aber  machen  sich  nicht  nur  bei  der  vocabel- 
aufnahme  geltend,  sondern  bei  jedem  weiteren  schritt  des  Unter- 
richts; insbesondere  bei  der  bildung  lateinischer  sätze  und  bei  dem 
übersetzen  lateinischer  sätze  ins  deutsche  und  umgekehrt,  ich  musz 
es  mir  an  dieser  stelle  versagen ,  diese  vorteile  ins  gehörige  licht  zu 
setzen,  auch  ohne  dies  wird  es  einleuchten ,  dasz ,  wenn  alle  solche 
sätze  einen  festen  gemeinsamen  grund  haben,  sie  so  zu  sagen  von 
selbst  aus  diesem  boden  hervorsprieszen,  nachdem  die  vocabeln  an- 
geeignet sind  und  mit  leicht igkeit  wurzeln  schlagen,  und  am  ende 
dem  schüler  eine  freie  beherschang  der  fremden  spräche  ermöglichen, 
wie  er  sie  auf  andere  weise  gar  nicht  erlangen  kann. 

Dasz  aber  das,  was  wir  hier  vorschlagen,  dasz  die  fundamen- 
tierung  des  ganzen  elementarunterrichts  im  lateinischen  auf  einen 
in  deutscher  spräche  erlernten  antiken  sagenstoff  nicht  nur  ein  aus- 
gedachter entwurf  ist,  sondern  ganz  unmittelbar  in  die  praxis  ein- 
geführt werden  kann,  das  geht  sofort  aus  einem  blick  auf  den  lehr- 
plan der  sexta  hervor,  in  jeder  neuen  sexta  kann  deshalb  sogleich, 
wenn  nur  der  lehrer  vorbereitet  ist,  dieses  verfahren  eingeführt 
werden,  die  schüler  sind  völlig  vorbereitet,  geläufig  lesen  haben 
sie  bereits  in  den  vorclassen  gelernt;  ein  pensum  von  sagengeschichte 
ist  für  die  sexta  allgemein  vorgesehen,  nach  unserer  auseinander- 
setzung  versteht  es  sich  jetzt  von  selbst,  dasz  dieses  pensum  der 
antiken  sage  zu  entnehmen  ist.  die  antike  sage  ist  also  ein  notwen- 
diger lehrgegenstand  der  sexta.  alle  gegenstände  werden  durch  den 
groszen  und  wichtigen  gesiebtspunkt ,  dasz  diese  sage  dazu  dienen 
soll,  dem  hauptgegenstande  der  sexta,  dem  lateinischen,  das  zugleich 


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Die  antike  Bage  in  sexta.  437 

ein  h au pt gegenständ  des  gymnasiums  ist,  seine  grundlage  zu  geben, 
überwunden. 

Wie  könnten  überhaupt  solche  bedenken  vielen  wert  haben, 
wenn  man  nur  erwägt,  wie  viele  positive  vorteile  schon  an  sich  die 
beschäftigung  des  sextaners  mit  der  antiken  sage  hat.  sie  ist  durch- 
aus seinem  geistigen  Standpunkte  angemessen,  sie  schlieszt  sich  so 
vortrefflich  an  die  märchenweit  an,  in  die  er  vorhereingeführt  wurde, 
sie  tritt  in  die  innigste  und  leichteste  Verbindung  mit  dem  deutschen 
unterrichte,  wenn  sie,  wie  dies  ja  thatsächlich  der  fall  ist,  im  lesebuche 
aufnähme  gefunden  hat.  als  lesestoff  ist  sie  für  die  sexta  ganz  und  gar 
passend,  infolge  dessen  wure  es  sogar  möglich,  sie  selbst  dann  dem 
lateinischen  zu  gründe  zu  legen,  wenn  man  durchaus  für  den  ge- 
schichtsunterricht  einen  andern  gegenständ  haben  möchte,  wenn  sie 
im  lesebucbe  ihren  platz  hat,  so  kann  sie  in  den  deutschen  stunden  ge- 
lesen, von  den  kindern  zu  hause  wiederholt,  im  einzelnen  durchgenom- 
men und  überhaupt  so  behandelt  werden,  wie  die  neuere  methodik  die 
behandlung  des  lesestückes  verlangt,  es  kommt  noch  hinzu,  dasz  die 
antike  sage  auch  mit  vorteil  zur  geographie  und  naturkunde  in  be- 
ziebung  gesetzt  werden  kann,  namentlich  zu  jener,  denn  die  einfüh- 
mng  in  die  geographie  würde  sich  erleichtern,  wenn  die  namen  der 
örtlichkeiten  durch  eine  bekannte  geschichte  zuvor  mit  inhalt  erfüllt 
sind,  die  geographischen  bestimmungen  machen  einen  wichtigen 
unterschied  der  sage  vom  märchen  aus;  namentlich  die  griechische 
sage  spielt  an  bestimmten  örtern,  sie  knüpft  ihre  zeitlichen  ereig- 
nisse  stets  in  bestimmter  weise  an  das  räumliche  an.  dieser  umstand 
musz  für  die  behandlung  der  sage  sowohl,  als  wie  der  geographie 
nutzbar  gemacht  werden,  und  in  weiterer  folge  also  auch  für  das 
lateinische,  bei  so  bewandten  dingen  dürfte  es  kaum  noch  nötig 
sein,  daraufhinzuweisen,  dasz  zur  Unterstützung  und  bereicherung 
dieses  ganzen  vorstellungskreises,  in  dessen  mittelpunkt  die  antike 
sage  steht,  der  frühere  deutsche  Unterricht  des  sextaners,  der  reli- 
gionsunterricht  und  endlich  die  ganze  Weisheit  des  täglichen  lebens 
und  der  das  kind  umgebenden  weit  in  der  ungezwungensten  weise 
ihre  beiträge  liefern,  jene  ergänzen  und  zu  den  vielfältigsten  ver- 
gleichungen  und  parallelen  tiberreichliche  gelegenheit  geben. 

So  erhalten  wir  denn,  wenn  wir  der  antiken  sage  nicht  nur 
einen  platz  in  der  sexta  anweisen,  sondern  sie  geradezu  in  den  mittel- 
punkt des  lehrplans  dieser  classe  stellen,  die  schönste,  innigste  und 
natürlichste  Verbindung  aller  lehrgegenstände  dieser  classe  unter 
einander,  das  latein,  das  die  sexta  sonst  so  fremd,  so  grundver- 
schieden von  den  vorclassen  zu  machen  scheint,  tritt  jetzt  als  gewand 
der  antiken  sage  dem  märchen  und  allem,  was  sonst  des  Schülers 
geist  bisher  erfüllt,  nahe,  die  Verbindung  des  lateinischen  mit  der 
sage  aber  erweckt  die  schönsten  und  verlockendsten  aussiebten,  ist 
sie  doch  in  der  that  der  anfang  einer  wirklichen  altertumskunde, 
einer  solchen,  die  das  al  turtum  nach  form  und  inhalt,  nach  ort  und 
zeit  ,  nach  spräche,  geschichte,  leben  und  treiben,  kurz  nach  jeder 


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Altertum  und  gcgenwart  im  Unterricht 


hinsieht  zu  erfassen  strebt,  ja,  es  musz  selbst  dem  kinde  schon  ver- 
ständlich werden,  weshalb  es  mit  dem  lateinischen  beschäftigt  wird, 
wenn  es  erfährt,  dasz  in  dieser  spräche,  die  es  nun  erlernt,  Schrift- 
steller und  dichter  in  schönster  form  diese  und  viele  andere  schöne 
dinge  überliefert  haben,  die  es  dereinst  zu  seiner  freude  in  der  Ur- 
sprache lesen  und  kennen  lernen  wird. 

Dl  EDENHOFEN  IN  LOTHRINGEN.  WlLHELM  EnOCH. 


41. 

ALTERTUM  UND  GEGENWART  IM  UNTERRICHT, 
ein  Vortrag,  gehalten  am  27  januar  1890  im  gymnasium  zu  Weimar. 


Hochgeehrte  festversammlung! 

Im  leben  des  einzelnen  menschen  und  im  leben  eines  ganzen 
volkes  kommen  tage,  die  anlasz  geben,  auf  geschehenes  zurückzu- 
blicken, ein  solcher  tag  ist  heute  für  das  deutsche  volk  erschienen, 
deutlicher  und  klarer  als  sonst  steigen  in  unserer  erinnerung  be- 
kannte bilder  aus  der  Vergangenheit  empor:  die  heldenthaten  des 
groszen  krieges  im  leuchtenden  glänze  unvergänglichen  ruhmes  wie 
das  für  unser  volk  nicht  minder  bedeutungsvolle  und  segensreiche 
wirken  im  innern  des  neuerstandenen  reichs ;  unter  den  edlen  ge- 
stalten aller,  deren  bild  wir  in  dankbarer  erinnerung  in  der  seele 
tragen ,  ragt  unser  greiser  heldenkaiser  hervor  mit  seinen  ehrwür- 
digen zügen ,  für  uns  alle  ein  ewig  unvergeszlich ,  teures  bild.  mit 
der  ihm  eignen  demut,  aber  zugleich  voll  froher  Zuversicht  und  hoff- 
nung  in  seinem  festen  gottvertrauen  trat  er  an  die  erfüll  u  ng  der  ihm 
gestellten  aufgäbe  heran. 

auch  des  menschen  thun 
ist  eine  aussaat  von  Verhängnissen, 
gestreuet  in  der  zukunft  dunkles  land, 
den  schicksalsmächten  hoffend  übergeben. 

diese  worte  Schillers,  die  er  noch  als  prinz  von  Preuszen  nach  einem 
besuche  des  Schillerhauses  in  Weimar  niederschrieb,  spiegeln  sein 
inneres  empfinden  wieder,  seine  aussaat  hat  für  sein  haus,  für  sein 
land,  für  das  deutsche  volk,  ja  für  die  ganze  menschheit  die  schönste 
und  reichste  frucht  getragen,  und  wenn  Herder  sagt: 

Ein  edler  held  ist,  der  fürs  vaterland, 

ein  edlerer,  der  für  des  landes  wohl, 

der  edelste,  der  für  die  menschheit  kämpft. 

so  sehen  wir  in  kaiser  Wilhelm  den  edlen  beiden,  der  sich  diesen 
dreifachen  ehrenkranz  erkämpft  hat.  ein  hört  unseres  Vaterlandes, 
ein  vater  seines  volkes,  ein  wohlthäter  der  menschheit  ist  er  dahin- 


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Altertum  uud  gegenwart  im  Unterricht. 


439 


gegangen,  uns  allen  ein  vorbild  und  lehrer,  zumeist  seinem  enkel, 
der  in  unermüdlicher  pflichttreue  und  selbstloser  fürsorge  für  sein 
volk  seinem  leuchtenden  beispiele  nachahmt,  die  harte  schule  des 
lebens  und  leidens  mit  seinen  prüfungen  ist  unserm  jugendlichen 
kaiser  nicht  erspart  geblieben,  mit  stiller  wehmut  gedenken  wir 
der  schmerzensreichen  tage  des  trauerjahres  1888,  da  wir  zwei  kaiser 
zu  grabe  trugen,  den  begründer  des  deutschen  reiches  und  seinen 
heldenhaften,  schwergeprüften  söhn,  den  viel  geliebten,  aufs  tiefste 
betrauerten  kaiser  Friedrich,  und  auch  in  diesem  jähre  ertönte  der 
glocken  dumpfer  ton  wieder  von  türm  zu  türm  durchs  land:  der 
treuen  lebensgefahrtin  kaiser  Wilhelms  galt  ihr  trauergeläute ,  der 
ersten  deutschen  kaiserin,  die  Weimars  edlem  fürstenhause  ent- 
sprossen ist.  ein  reich  gesegnetes  leben  ist  mit  kaiserin  Augusta 
erloschen:  ein  auge  bat  sich  für  immer  geschlossen,  das  sonst  so 
treu  wachte  Uber  unserm  volk  und  mit  klarem  blicke  die  leiden  der 
menscbheit  erkannte ;  ein  mund  ist  verstummt,  der  weithin  das  hohe 
evangelium  edelster  menschenliebe  verkündete,  eine  band  erstarrt, 
die  nicht  müde  ward,  die  frommen  werke  der  barmherzigkeit  zu 
üben,  wunden  zu  heilen  und  segen  zu  spenden. 

Mehr  als  ein  und  ein  halb  jähr  sind  seit  dem  regierungsantritte 
Wilhelms  des  zweiten  verstrichen,  mit  gerechtem  stolze  blicken 
wir  heute  zurück  auf  die  erfolge,  die  er  in  friedlicher  arbeit  errungen 
hat:  auf  die  denkwürdige  eröffnung  des  reichstages  im  juni  1888, 
als  die  fürsten  Deutschlands  sich  um  unsern  kaiser  scharten  und  der 
weit  zeigten,  dasz  sie  in  unverbrüchlicher  treue  fest  zu  kaiser  und 
reich  stehen,  auf  seine  fahrten  an  fast  alle  höfe  Europas,  auf  die 
fürsten  besuche  in  Berlin,  auf  seine  reisen  in  Deutschland,  da  auch 
wir  ihm  zujubeln  konnten  und  in  Straszburg  zum  ersten  male  ein 
deutscher  kaiser  die  kaiserpfalz  betrat,  von  der  schon  Rückert  pro- 
phetischen geistes  gesungen  hat,  auf  seine  rastlose  thätigkeit  bei 
den  groszen  Übungen  unseres  heeres,  kurz  auf  sein  ganzes  wirken 
und  schaffen,  hatte  die  weit  nicht  ohne  besorgnis  dem  Zeitpunkte 
entgegengesehen,  wo  der  jugend-  und  thatkräftige  Hohenzollern- 
sprosz  das  seepter  ergreifen  würde,  so  ist  es  ihm  inzwischen  ge- 
lungen, der  weit  zu  beweisen,  dasz  die  zwei  ziele,  die  er  unab- 
lässig im  auge  hat,  die  Wehrkraft  Deutschlands  möglichst  schlag- 
fertig zu  erhalten  und  dabei  doch  zugleich  die  bürgsebaften  für 
den  frieden  zu  verstärken,  sich  nur  scheinbar  widersprechen,  in- 
folge der  politischen  Verhältnisse  Europas  sich  sogar  aufs  engste 
berühren. 

Was  kaiser  Wilhelm  vermöge  seiner  thatkraft  und  unerschrocken 
heit,  durch  freundliches  entgegenkommen  und  Offenheit  für  Deutsch- 
lands machtstellung  und  für  die  erbaltung  des  friedens  gewirkt  hat, 
läszt  sich  in  gegenwart  wohl  ahnen,  aber  noch  nicht  hinreichend  er- 
messen, dankbar  aber  wollen  wir  es  zumeist  seiner  thätigkeit  zu- 
schreiben,  dasz  das  gewölk,  das  noch  bis  vor  kurzem  drohend  am 
himmel  stand,  sich  mehr  und  mehr  zu  lichten  beginnt,  und  mit  ihm 


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Altertum  und  gegenwart  im  Unterricht 


vereint  voll  innigen  dankes  und  Zuversicht  aufblicken  zu  gott ,  der 
sein  bemühen  bisher  mit  erfolg  gekrönt  hat. 

Aber  wie  der  friede ,  so  erfreuen  sich  auch  alle  die  kostbaren 
gtiter  des  friedens  seiner  förderung  und  pflege  und  nicht  zum  letzten 
die  schule,  darum  sei  es  mir  gestattet,  Ihre  aufmerksamkeit  jetzt 
auf  einen  gegenständ  zu  richten,  der  dem  weiten  gebiete  des  unter- 
richts  angehört,  zumal  ja  doch  die  teilnähme  an  schule  und  er- 
ziehung  uns  bei  der  heutigen  feier  gerade  in  diesem  räume  zusammen- 
geführt hat. 

Schon  seit  langer  zeit  ist  for  den  Unterricht  der  grundsatz 
maszgebend,  dasz  die  verschiedenen  Unterrichtsgebiete  sowohl  im 
allgemeinen,  als  auch  ganz  besonders  wieder  auf  jeder  stufe  und  in 
jeder  classe  in  möglichst  enge  bezieh ung  zu  einander  gesetzt  werden 
müssen,  und  dasz  es  nicht  nur  aufgäbe  des  lehrplanes,  sondern  auch 
aufgäbe  eines  jeden  lehrers  ist,  dafür  sorge  zu  tragen,  dieser  grund- 
satz hat  für  den  Unterricht  im  gymnasium  infolge  der  änderungeu, 
welche  vor  wenigen  jähren  der  lehrplan  erfuhr,  dadurch  nur  noch 
an  bedeutung  gewonnen,  dasz  er  in  den  alten  lehrplanen  von  selbst 
mehr  zum  ausdruck  kommen  konnte,  als  in  den  neuen,  wie  nun 
diesem  gesiebt spunkt  im  einzelnen  rechnung  getragen  werden  kaun, 
wie  sich  das  neue  und  unbekannte  an  altes  und  bekanntes  anschlieszen, 
letzteres  zur  erklärung  von  ersterem  verwerten  und  das  Verständnis 
für  beides  durch  gegenseitiges  vergleichen  vertiefen  läszt ,  dies  an 
einigen  beispielen  zu  zeigen,  soll  meine  aufgäbe  sein,  da  die  quelle, 
aus  der  ich  hierbei  schöpfe,  die  eigne  erfahrung  ist,  werde  ich  mich  auf 
die  griechische ,  lateinische  und  deutsche  litteratur  und  spräche  be- 
schränken und  in  losem  zusammenhange  solche  beispiele  anführen, 
wie  sie  sich  beim  Unterricht  in  secunda  ganz  von  selbst  ergeben. 

Ich  beginne  bei  Homer. 

Bei  dem  fest  mahl ,  welches  der  Phäakenkönig  Alkinoos  seinem 
fremden  gaste  zu  ehren  veranstaltet,  singt  der  blinde  sänger  Demo- 
dokos  von  den  kämpfen  der  Griechen  vor  Troja  ein  lied,  das  den 
Achill  und  Odysseus  verherlicht. 

aber  Odysseus 
faszte  mit  kräftiger  band  den  pnrpnrfarbenen  rnantel, 
zop  ihn  über  das  hanpt  und  verhüllte  sein  herliches  antlitz, 
dasz  die  Phäaken  nicht  sähen  die  quellende  thrän'  aus  den  wimpern. 

dies  bild  des  Homer  hat,  wie  bekannt,  unserin  Schiller  im  Graf 
von  Habsburg  als  vorbild  gedient;  daher  die  worte: 

und  verbirgt  der  thränen  stürzenden  qnell 
in  des  mnntels  purpurnen  falten. 

weniger  bekannt  dürfte  sein,  dasz  auch  Gustav  Freytag  im  ersten 
bände  seiner  Ahnen  ein  ganz  ähnliches  bild  gezeichnet  hat.  die 
beiden  ersten  capitel  seines  Ingo,  die  ankunft  des  beiden  beim 
Thüringerfürst  Answald  und  das  fest  mahl,  erinnern  fast  auf  jeder 
seite  an  Homer;  ganz  besonders  gilt  dies  von  Ingos  erster  begegnung 


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Altertum  und  gegenwart  im  Unterricht 


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mit  Irmgard,  dem  herrenkind,  die  wie  Nausikaa  in  dem  umhergetrie- 
benen  fremdling  alsbald  den  sprosz  aus  edlem  geschlechte  erkennt, 
von  seiner  aufnähme  beim  forsten  und  dem  brauch  des  gastrechts, 
von  der  ftirstin ,  die  an  klugem  rat  der  Arete  nicht  nachsteht  und 
dem  gastfreunde  feines  gewand  aus  den  eignen  truhen  spendet,  von 
den  kampfspielen,  der  aufforderung  an  Ingo  sich  zu  beteiligen  und 
der  Verspottung  durch  einen  edlen  des  landes,  den  er  im  wettkampf 
ruhmvoll  besiegt;  kurzum  wer  tiefer  zu  blicken  versteht,  entdeckt 
eine  ganze  reihe  von  bildera,  die  selbst  in  ihrer  aufeinanderfolge 
den  Homerischen  gleichen,  das  letzte  in  dieser  reihe  zeigt  uns  den 
Sänger,  wiederum  preist  sein  lied  den  helden,  ohne  dasz  die  zuhörer 
ihn  inmitten  der  festversammlung  vermuten ;  wiederum  wird  durch 
die  innere  erregung  des  helden  seine  erkennung  herbeigeführt,  neu 
ist  bei  Freytag,  dasz  der  sänger  dem  helden  zugleich  seine  rettung 
verdankt;  eine  ähnliche  beziehung  hat  aber  schon  Schiller  dadurch 
zwischen  beiden  hergestellt,  dasz  er  in  freier  Verarbeitung  seiner 
quelle  den  priester,  dem  der  graf  den  edlen  dienst  erwiesen  hat,  beim 
krönungsmahle  des  grafen  im  talare  des  sängers  auftreten  läszt.  fflr 
eine  Nausikaa  war  in  der  ballade  von  Schiller  kein  räum;  wohl  aber 
hat  Freytag  seine  Irmgard  der  phäakischen  köuigstochter  nach- 
gebildet, an  dem  tage,  da  Ingo  das  land  der  Thüringe  betritt,  ist 
sie,  von  ihren  mägden  begleitet,  mit  dem  gespann  vom  herrenhof 
abgefahren,  zwar  nicht  wie  Nausikaa  zu  den  waschgruben,  um  die 
w&schü  zu  besorgen  —  denn  dies  motiv  würde  hier  aus  naheliegen- 
den gründen  nicht  passen  — ,  aber  doch  zu  ähnlicher  arbeit,  nach 
dem  gehöft  des  rinderhirten ,  um  nach  der  herde  zu  sehen  und  den 
gewinn  der  milchkammer  zum  herrenbofe  zu  fahren.  Mu  kennst  sie 
leicht  heraus',  sagt  der  Wächter,  der  Ingo  führt,  und  ebenso  beiszt 
es  bei  Homer  von  der  Nausikaa:  'sie  ist  leicht  unter  allen  erkenn- 
bar.' mit  den  gleichen  worten  rühmt  bei  Goethe  Hermann  den 
freunden,  dem  pfarrer  und  apotheker,  die  vertriebene  Dorothea,  für 
die  sich  sein  herz  so  rasch  entschieden  hat: 

'und  ihr  werdet  sie  bald  vor  allen  andern  erkennen.' 

schon  vorher,  im  zweiten  gesange,  wo  Hermann  den  zug  der  ver- 
triebenen und  die  jungfrau  schildert:  'wie  sie  die  beiden  gewaltigen 
stiere  am  wagen  mit  langem  stabe  und  klüglich  leitete',  werden  wir 
an  Nausikaa  erinnert,  die  auf  der  fahrt  zur  stadt  'gut  lenkte  und 
die  geiszel  mit  klugbeit  schwang',  doch  da  ich  von  Nausikaa  rede, 
musz  ich  vor  allem  der  Nausikaafragmente  Goethes  gedenken,  sein 
entwurf  zu  einer  tragödie  Nausikaa  bietet  in  der  vortrefflichen  be- 
arbeitung  von  Scherer  dem  lehrer  bei  der  erklärung  Homers  ein 
hilfsmittel  von  höchster  bedeutung  und  unvergleichlicher  Wirkung, 
der  plan  entsteht  1786  in  Italien,  wächst  und  reift  im  frühjabr  des 
folgenden  jahres  auf  Sicilien,  dessen  prangende  gestade  Goethe  — 
so  wie  Odysseus  das  liebliche  eiland  der  Phäaken  —  nach  heftigem 
stürme  glücklich  erreicht,  in  einem  briefe  an  Fritz  von  Stein  schreibt 


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Altertum  und  gegenwart  im  Unterricht. 


er:  'ich  wünschte  dir,  dasz  du  die  blumen  und  bäume  sähest  und 
wärest  mit  uns  überrascht  worden,  als  wir  nach  einer  beschwerlichen 
überfahrt  am  ufer  des  meeres  die  gärten  des  Alkinous  fanden.'  gleich 
nach  seiner  ankunft  auf  Sicilien  kauft  er  sich  einen  Homer  und 
schreibt  nur  wenige  tage  später  (am  16  april  1787)  über  seine 
Nausikaa:  'ich  verzeichnete  den  plan  und  konnte  nicht  unterlassen, 
einige  stellen,  die  mich  besonders  anzogen,  zu  entwerfen  und  aus- 
zuführen/ und  am  7  mai  bemerkt  er  in  seinem  reise tagebuche:  rund 
so  sasz  ich,  [es  war  am  meere  unterhalb  des  theaters  von  Taormina] 
den  plan  zu  Nausikaa  weiter  denkend.' 

Wie  aber  der  aufenthalt  an  den  Homerischen  gestaden  in  Goethe 
jene  köstliche  frucht  seines  geistes  wachsen  und  gedeihen  liesz ,  so 
hörte  ihr  weiteres  Wachstum  auch  wieder  auf,  als  er  die  küsten  ver- 
liesz,  an  denen  später  Preller,  dem  beispiele  seines  groszen  gönners 
folgend,  gleichfalls  reiche  nahrung  für  seine  darstellung  der  Odyssee 
fand,  die  erhaltenen  fragmente  Goethes  stehen  in  engster  beziehung 
zum  Homer,  vor  allem  der  zweite  auftritt,  der  mit  den  Worten  des 
Odysseus  beginnt: 

Was  rufen  mich  für  stimmen  aus  dem  schlaf? 
wie  ein  geschrei,  ein  laut  gespräch  der  frauen 
erklang  mir  durch  die  dämin'rung  des  erwachens?  — 

sodann  der  dritte  auftritt,  in  welchen  der  träum  der  Nausikaa  ver- 
woben ist ,  und  der  vierte,  in  dem  Nausikaa  den  garten  ihres  vaters 
schildert,  das  schöne  gleichnis  bei  Homer  am  ende  des  fünften  ge- 
sanges  ist  fast  wörtlich  übersetzt: 

Und  wie  der  arme  letzte  brand 

von  groszer  herdesglut  mit  asche 

des  abends  überdeckt  wird,  dasz  er  morgens 

dem  hause  feuer  gebe,  lag 

in  blätter  eingescharrt  —  (ich  hier  auf  unbekannter  erde). 

ein  anderes  fragment  ist  dem  elften  gesange  entnommen,  nur  mit 
dem  unterschiede,  dasz  die  worte,  welche  im  epos  Alkinous  an  den 
Odysseus  richtet,  um  ihn  seines  unbedingten  Vertrauens  zu  ver- 
sichern, im  drama,  soweit  sich  dies  wenigstens  vermuten  läszt,  Nau- 
sikaa sprechen  sollte;  das  fragment  lautet: 

Du  bist  nicht  von  den  trüglichen , 
wie  viele  fremde  kommen,  die  sieb  rühmen 
und  glatte  worte  sprechen,  wo  der  hörer 
nichts  falsches  ahnet  — . 

Aber  auch  die  kurzen  andeutungen  Goethes  Uber  die  motive,  die 
er  benutzen  wollte,  sind  nicht  ohne  wert  für  das  Verständnis  und  die 
erklärung  des  epos;  so  läszt  sich  z.  b.  das  innere  empfinden  der 
Nausikaa  bei  ihrer  aufforderung  an  Odysseus ,  ihr  nicht  zur  stadt 
zu  folgen,  'um  unholdes  geschwätz  im  volke  zu  meiden',  kaum  kürzer 
und  treffender  zum  ausdruck  bringen  als  mit  folgenden  Worten 


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Altertum  uud  gegenwart  im  Unterricht. 


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Goethes,  die  sich  in  einem  spätem  berichte  über  seine  Nausikaa 
finden:  'die  bedenklichkeit,  den  fremden  nicht  selbst  in  die  Stadt 
zu  führen,  wird  schon  ein  verböte  der  neigung.'  auf  welche  weise 
Goethe  den  tragischen  conflict  herbeiführen  und  den  Untergang  der 
Nausikaa  motivieren  wollte,  kann  ich  hier  fUglich  übergehen;  aber 
erwähnen  will  ich  noch  eine  bailade  von  Geibel,  die  sich  an  die  dra- 
matische bearbeitung  Goethes  von  selbst  anschlieszt,  da  sie  den  tod 
der  Nausikaa  behandelt,  als  das  PhäakenschifF  mit  Odysseus  fern 
im  abendrot  verschwunden  ist,  schreitet  Nausikaa  kummerschweren 
sinnes  zum  tempel  des  Poseidon  den  felsen  hinan,  lauscht  bangend 
hinaus  in  das  dumpfe  branden  des  meeres  und  fleht  zu  dem  gotte, 
des  alten  grolls  zu  vergessen,  wieder  gedenkt  sie  jener  stunde  am 
Strand : 

Da  der  sturmverschlagne  mann 
gleich  ihr  ganzes  herz  gewann, 

jenes  abends,  da  sie  mit  durstigem  ohr  seiner  rede  wohllaut  ver- 
schlungen, und  ihres  schönen  tranmes,  der  zerstoben,  'als  er  sich 
Odysseus  nannte*,  mit  schrecken  sieht  sie,  dasz  ihr  flehn  keine  er- 
hörung findet,  dasz  Poseidon,  noch  immer  unversöhnt,  dem  schwer- 
geprüften pilger  verderben  droht;  da  ruft  sie  aus: 

Wenn  dich,  erdumfasser, 
nur  ein  opfer  sühnen  kann, 
nimm  dies  haupt,  o  fürst  der  w asser, 
für  das  seine  nimm  es  an! 

ein  donner  aus  der  tiefe  ruft  ihr  gewährung  zu,  lächelnd  springt  sie 
in  den  tod,  und  der  alte  fluch  ist  gebrochen,  des  gottes  zorn  gestillt: 

Bei  des  mondesaufgangs  helle 
schimmernd  liegt  die  tiefe  da 
und  den  dulder  trägt  die  welle 
sanft  im  schlaf  nach  Ithaka. 

Im  folgenden  will  ich  mehrere  einzelne  stellen  der  Odyssee  mit 
ähnlichen  stellen  aus  andern  diebtungen  in  aller  kürze  vergleichen, 
als  Odysseus  lange  jähre  von  der  Kalypso  zurückgehalten  wird,  sitzt 
er  des  tags  am  strande  'auf  das  verödete  meer  hinschauend,  thränen 
vergieszend',  und  verlangt  nur  'einmal  noch  den  rauch  empor  von 
der  heimischen  erde  steigen  zu  sehn  und  zu  sterben',  so  klagt  bei 
Goethe  Iphigenie  auf  Tauris : 

Denn  ach!  mich  trennt  das  meer  von  den  geliebten, 

und  an  dem  ufer  steh'  ich  lange  tage, 

das  land  der  Griechen  mit  der  seele  suchend. 

mit  recht  hat  deshalb  Preller  den  Odysseus  in  jener  für  ihn  geradezu 
typisch  gewordenen  Stellung  auf  dem  bilde  dargestellt,  wo  ihn 
Kalypso  entsendet. 

Im  achten  gesange  der  Odyssee  überreicht  Euryalos,  einer  der 
edelsten  Phäaken ,  dem  gekränkten  helden ,  um  ihn  zu  versöhnen, 


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Altertum  und  gegenwart  im  Unterricht 


sein  eignes  schwert  mit  den  worten:  'ward  ein  kränkendes  wort  ja 
hingeschwatzt,  schnell  mögen  hinweg  es  raffen  die  winde.'  dasz  der 
sprichwörtliche  ausdruck  'die  winde  mögen  es  forttragen'  auch  bei 
den  Römern  üblich  war,  ergibt  sich  aus  einer  ode  des  Horaz,  die 
also  beginnt: 

Ein  freund  der  Musen  will  ich  verdrusz  und  furcht 
den  ungestümen  winden  ins  Kretermeer 
eu  tragen  geben. 

auch  uns  ist  jener  bildliche  ausdruck  nicht  fremd;  so  singt  Heine: 

Ich  wollt',  meine  schmerzen  ergössen 
sich  all'  in  ein  einziges  wort, 
das  gilb'  ich  den  lustigen  winden, 
die  trügen  es  lustig  fort. 

Zu  der  Schilderung  der  Charybdis  bei  Homer  finden  wir  bei 
Schiller  im  Taucher  ein  allbekanntes  gegenbiid ,  zu  der  vision  des 
sehers  Theoklymenos ,  der  den  freiem  bei  ihrem  letzten  schmause 
das  drohende  unheil  verkündet,  in  Wallensteins  tod.  bevor  Theokljr- 
menos, der  gast  des  Telemach,  den  saal  und  die  lärmende  Versamm- 
lung der  frechgesinnten  freier  verläszt,  bricht  er  in  die  worte  aus: 

Schattenbilder  erfüllen  die  flur,  erfüllen  den  rorhof, 
die  zum  Erebos  eilen  in  finsternis. 

eine  ähnliche  vision  hat  Thekla,  ehe  sie  den  mauern  der  festung  ent- 
flieht, um  zur  gruft  des  geliebten  zu  eilen: 

Nicht  ruhe  find'  ich,  bis  ich  diesen  mauern 
entronnen  bin  —  sie  stürzen  auf  mich  ein  — 
fortstoszend  treibt  mich  eine  dunkle  macht 
von  dannen  —  was  ist  das  für  ein  gefühl! 
es  füllen  sich  mir  alle  räume  dieses  hauses 
mit  bleichen,  hohlen  geisterbildern  an  — 
ich  habe  keinen  platz  mehr  —  immer  neuel 
es  drängt  mich  das  entsetzliche  gewimmel 
aus  diesen  wänden  fort,  die  lebende! 

Wie  von  Goethe,  so  kann  man  auch  von  Schiller  sagen,  dasz 
sich  sein  dichterischer  genius  an  den  Griechen,  vornehmlich  an  Homer 
genährt  hat.  dasz  dies  auch  in  der  äuszern  form ,  in  der  spräche, 
bei  Schiller  zum  ausdruck  kommt,  dafür  möge  eine  kleine  blumen- 
iese zum  beweise  dienen.  Homer  sagt:  'das  liegt  im  schosze  der 
götter',  Schiller  in  der  Glocke : 

Ihm  ruhen  noch  im  zeitenschosze 
die  schwarzen  und  die  heitern  lose. 

und  in  der  Braut  von  Messina: 

Krieg  oder  frieden!    noch  liegen  die  lose 
dunkel  verhüllt  in  der  zukunft  schosze. 

der  Homerische  ausdruck  'jener  ist  mir  verhaszt  gleichwie  des  Hades 
pforten'  kehrt  bei  Schiller  in  der  form  wieder:  'und  werd'ihn  hassen 


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Altertum  und  gegenwart  im  unterriebt 


445 


wie  der  hölle  pforten.'  ebenso  wird  man  an  folgenden  stellen  ohne 
weiteres  die  nachahmung  Homerischer  redeweise  erkennen : 

Des  edeln  Ibergs  tochter  rühm'  ich  mich, 
des  vielerfahrnen  manne  — 

Komm  du  hervor,  du  bringer  bittrer  schmerzen!  — 

Nur  jetzt  noch  halte  fest,  du  treuer  sträng, 

der  mir  so  oft  den  herben  pfeil  beflügelt!  — 

Und  drinnen  waltet 

die  züchtige  hausfrau  — 

und  füllet  mit  schätzen  die  duftenden  laden,  — 
und  sammelt  im  reinlich  geglätteten  schrein 
die  schimmernde  wolle,  den  schneeigen  lein. 

Der  rinder  breitgestirnte,  glatte  scharen  kommen  brüllend. 

'nebelig*  heiszt  bei  Schiller  das  meer,  im  epos  rj€poeibr|c;  und  das 
vielbesprochene,  weil  dunkelsinnige  bei  wort  des  meeres  örrpurCTOC 
wüste  ich  nicht  besser  zu  übersetzen  als  mit  'ewig  bewegt*  nach 
jener  stelle  aus  der  Braut  von  Messina: 

Oder  wollen  wir  uns  der  blauen 

göttin,  der  ewig  bewegten,  vertrauen  —  ? 

Aus  Homer  stammt  auch  der  ausdnick  'könig  Rudolphs  heilige 
macht';  freilich  ist  jetzt  fast  allgemein  anerkannt,  dasz  in  den  ent- 
sprechenden ausdrücken  bei  Homer  für  iepöe  nicht  die  abgeleitete 
bedeutung  'heilig',  sondern  die  ursprüngliche,  mehr  sinnliche  be- 
deutung  'mächtig,  stark,  rüstig'  anzunehmen  ist.  hieraus  ergibt 
sich  für  folgende  stellen  eine  enge  beziehung  zu  Homer : 

Schön  ist  der  mutter 
liebliche  hoheit 

zwischen  der  söhne  feuriger  kraft, 
zu  ihm  hinauf  gesandt  hab'  ich  alsbald 
des  raschen  boten  jugendliche  kraft. 

Wenn  wir  jetzt  Homer  verlassen,  um  zu  Xenophon  und  seiner 
Anabasis  tiberzugehen,  so  betreten  wir  ein  ganz  anderes,  von  jenem 
weit  verschiedenes  gebiet :  dort  sagenhafte  handlung,  hier  wahrhafte, 
glaubwürdig  überlieferte  ereignisse,  dort  typische  Charaktere  als 
träger  der  handlung,  hier  geschichtliche  persönlichkeiten,  dort  die 
natur  im  reichgeschmückten  gewande  der  phantasie,  hier  im  treuen 
bilde  der  Wirklichkeit,  mit  einem  worte  dort  dichtung,  hier  Wahr- 
heit unter  führung  und  leitung  des  liebenswürdigen,  feingebildeten 
Atheners,  dessen  seelenadel,  feldherrnruhm  und  geistige  bedeutung 
noch  beute  nach  mehr  als  zweitausend  jähren  im  hellsten  lichte 
strahlt,  nehmen  wir  teil  an  dem  zuge  des  griechischen  Söldnerheeres, 
durchwandern  einen  groszen  teil  Kleinasiens  und  lernen  dabei  land 
und  leute,  sitten  und  gebräuche  kennen. 

Da  nun  unser  lehrplan  für  die  secunda  auch  die  leetüre  der  rede 
Ciceros  ansetzt,  in  welcher  der  berühmte  redner  den  Pompejus  als 


446 


Altertum  und  gegenwart  im  Unterricht. 


oberfeldheim  im  kriege  gegen  den  pontischen  könig  Mithridates 
empfahl,  trifft  es  sieb,  dasz  wir  fast  dreiundeinhalb  jahrhundert  nach 
Xenopbon  wieder  Kleinasien  betreten  zu  einer  zeit,  als  Rom  die  weit 
beherschte.  und  als  einen  ganz  besondern  glücksumstand  für  uns 
möchte  ich  es  bezeichnen,  dasz  der  gröste  Stratege  der  neuzeit,  unser 
Moltke,  mehrere  jähre  (1835 — 39)  in  einfluszreicher  Stellung  in  der 
Türkei,  besonders  in  Kleinasien  zugebracht  und  seine  beobachtungen 
und  erfahrungen,  entdeckungen  und  Unternehmungen  in  einem  an- 
ziehend geschriebenen,  überaus  lehrreichen  buche  veröffentlicht  hat. 

In  welcher  weise  sich  die  beziehungen ,  welche  zwischen  den 
drei  erwähnten  Schriftwerken,  besonders  zwischen  der  Anabasis  des 
Xenophon  und  den  briefen  Moltkes  bestehen,  für  den  Unterricht  ver- 
werten lassen ,  will  ich  an  einigen  beispielen  andeuten. 

Im  ersten  buche  seiner  Anabasis  erzählt  Xenophon,  wie  die 
Soldaten  des  Kyros  nach  beschwerlichen  märschen  durch  die  wüste 
Mesopotamiens  aus  der  stadt  Charandre,  die  am  rechten  ufer  des 
Euphrat  liegt,  während  das  heer  das  linke  fluszufer  entlang  zieht, 
auf  scblauchflöszen  lebensmittel  und  proviant  herüberholen,  das- 
selbe berichtet  er  im  zweiten  buche  von  den  Soldaten  des  Tissa- 
pherne8,  als  die  Griechen  auf  dem  rückzuge  unter  fühmng  des  treu- 
losen Persers  der  stadt  Känä  gegenüber  am  östlichen  ufer  des  Tigris 
lagern,  und  am  ende  des  nächsten  buches  lesen  wir,  wie  ein  Rhodier 
dem  feldherrn  der  Griechen  den  Vorschlag  macht,  mittelst  2000 
Schläuchen  eine  brücke  über  den  Tigris  herzustellen  und  so  das  heer 
Uber  den  flusz  zu  setzen. 

Gewis  wird  jeder,  der  die  Anabasis  liest,  mit  interesse  hören, 
dasz  noch  heutzutage  die  bewohner  Mesopotamiens  auf  schlauch- 
fiöszen, welche  sie  keleks  nennen,  oft  schwere  lasten  den  Euphrat 
und  Tigris  stromabwärts  fortschaffen,  aber  mit  doppeltem  interesse 
wird  ein  schüler  eines  deutschen  gymnasiu ms  es  vernehmen,  dasz 
der  spätere  generalfeldmarschall  Moltke  auf  einem  solchen  flosz  die 
Stromschnellen  des  Euphrat  in  der  bis  dahin  noch  unbekannten 
gegend  seines  Taurusdurchbruchs  und  den  noch  ebenso  wenig  er- 
forschten obcrn  lauf  des  Tigris  von  Diarbekir  bis  Mosul  befahren 
hat,  und  dasz  ihm  dann  auch  der  versuch  gelungen  ist,  auf  keleks  ge- 
schtitze  und  munitionswagen  für  die  türkische  armee  zu  befördern, 
auch  die  armenischen  dörfer,  in  deren  unterirdischen  räumen  sich 
die  zehntausend  Griechen  von  den  Strapazen  des  harten  winters 
wieder  erholten,  fehlen  bei  Moltke  nicht:  in  dem  einen  briefe  er- 
zählt er  von  einer  Ortschaft,  Uber  welche  ihre  ganze  karawane  im 
fröhlichen  trabe  geritten  sei,  und  bald  darauf  von  einem  dorfe,  dessen 
zweihundert  häuser  unter  einem  dache  oder  vielmehr  unter  einer 
einzigen  terrasse  sich  befanden. 

In  seinen  berichten  über  die  zustände  im  ottomanischen  reiche 
bebt  Moltke  des  unwesen  der  Steuer  Verpachtung  hervor;  er  schreibt: 
'der  verkauf  der  ämter  bleibt  die  grosze  hauptquelle  der  staats- 
einnahme.  der  candidat  borgt  den  kaufschilling  zu  hohen  procenten 


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Altertum  und  gegenwart  im  Unterricht. 


447 


bei  einem  armenischen  handelshause,  und  die  regierung  überläszt 
diesen  generalpächtern,  ihre  provinzen  auszuplündern,  wie  sie  wollen, 
um  zu  ihren  kosten  zu  kommen,  die  provinzen  wissen  im  voraus, 
dasz  der  neue  pascha  komme,  um  zu  rauben;  sie  waffnen  sich  daher, 
es  werden  Unterhandlungen  gepflogen;  wo  kein  abkommen  getroffen 
wird,  ist  krieg,  und  wo  es  gebrochen  wird,  aufruhr.'  setzen  wir  für 
den  pascha  den  römischen  Statthalter  ein,  so  passt  diese  Schilderung 
fast  wort  für  wort  auf  die  traurigen  zustände,  die  einst  unter  römi- 
scher herschaft  in  den  provinzen  bestanden;  und  mit  ganz  ähnlichen 
worten  schildert  Cicero  in  der  genannten  rede  die  bedrückungen, 
welche  sich  die  römischen  beamten  in  Kleinasien  zu  schulden  kom- 
men lieszen,  um  zu  beweisen,  dasz  man  in  jene  so  ausgeplünderten 
länder  einen  mann  von  der  enthaltsamkeit  und  mäszigung  des  Pom- 
pejus  schicken  müsse,  ferner  erwähnt  Moltke,  dasz  die  Pforte  in 
weiten  1  änderstrecken  des  reiches  gar  keine  autorität  besitze,  und 
berichtet  von  seiner  teilnähme  an  kriegszügen  gegen  die  Kurden,  die 
vor  allen  volksstämmen  der  Pforte  trotzen,  diese  worte  passen  wieder 
auf  die  einstigen  zustände  im  Perserreiche,  wie  sie  Xenophon  aus 
eigner  erfabrung  kennen  gelernt  hat;  unter  andern  gebirgsvölkern 
haben  auch  die  Karducben,  die  wir  wohl  als  die  vorfahren  der  heuti- 
gen Kurden  ansehen  dürfen,  gegen  die  Perser  ihre  freiheit  gewahrt, 
und  die  gefangenen  der  Griechen  wissen  dem  Xenophon  davon  zu 
erzählen,  dasz  einst  ein  königliches  heer  von  120  tausend  mann 
in  den  bergen  der  Karduchen  bis  auf  den  letzten  mann  vernichtet 
worden  sei. 

Wenn  wir  uns  nun  die  frage  vorlegen ,  wie  es  die  zehntausend 
Griechen  erreicht  haben,  sich  den  durchzug  durch  das  alpenland  der 
Karduchen  zu  erzwingen  und  ebenso  alle  bindernisse  und  Schwierig- 
keiten, die  ihnen  auf  dem  rückzuge  in  den  weg  traten,  siegreich  zu 
überwinden,  die  beere  der  Perser  wie  die  Streitkräfte  kriegerischer 
volksstämme ,  hohe  gebirgszüge,  schneebedeckte  hochebenen  und 
reiszende  ströme,  unwetter,  eisige  kälte  und  winterstürme,  hunger 
und  not  und  entbehrungen  aller  art,  so  wird  auf  diese  frage  keine 
andere  antwort  zulässig  sein  als  die,  dasz  dies  unvergängliche  ver- 
dienst in  erster  linie  dem  Xenophon  gebührt,  freilich  er  selbst  würde 
uns  in  frommer  demut  auf  die  götter  hinweisen,  als  deren  Werkzeug 
er  sich  betrachtete,  dieser  tief  religiöse  sinn  des  kampfesfreudigen, 
nie  verzagenden  kriegshelden  leuchtet  uns  aus  allen  seinen  thaten, 
aber  auch  aus  seinen  worten  hervor,  mehrfach  begegnen  uns  in 
seiner  Anabasis  gedanken  und  aussprüche,  die  an  bekannte  bibel- 
stellen erinnern,  ich  erwähne  nur  folgende,  aus  dem  zweiten  buche: 
'wer  sich  bewust  ist,  die  eidschwüre  bei  den  göttern  verletzt  zu  haben, 
den  möchte  ich  nimmermehr  glücklich  preisen,  und  wäre  er  noch 
so  schnell,  der  räche  der  götter  könnte  er  nicht  entfliehen;  welche 
finsternis  könnte  ihn  bergen,  wie  eine  feste  ihn  schützen?'  aus  dem 
dritten  buche:  'die  götter  sind  im  stände,  die  groszen  schnell  zu  er- 
niedrigen und  die  geringen  selbst  aus  groszen  nöten  leicht  zu  er- 


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448 


Altertum  und  gegenwart  im  Unterricht 


retten.'  aus  dem  sechsten  buche:  'es  ist  wohl  eine  fügung  dergott- 
heit  und  ihr  wille,  jene  für  ihren  hochmut  zu  demütigen,  uns  aber, 
die  wir  alles  mit  den  göttern  anfangen,  vor  jenen  zu  ehren.' 

Ich  stehe  am  ende  meiner  betrachtung.  nicht  ohne  absieht  habe 
ich  bei  Homer  den  so  nahe  Hegenden  vergleich  mit  Vergil  bei  seit« 
gelassen,  da  es  mir  vor  allem  darauf  ankam,  die  beziehungen  zur 
deutschen  litteratur  und  zur  gegenwart  hervorzuheben. 

Noch  einmal  sei  es  mir  gestattet,  bis  in  das  altertum  zurück- 
zugehen. Herodot  berichtet  wiederholt  von  der  Verehrung,  welche 
die  Griechen  ihren  landesheroen  erwiesen,  und  von  der  frommen 
sitte,  sie  in  Zeiten  der  not  um  beistand  anzurufen,  die  Spartaner 
führten  auf  ihren  heereszügen  die  bilder  der  beiden  Tyndariden 
Kastor  und  Pollux  mit,  zum  zeichen,  dasz  diese  in  ihren  reihen 
stritten,  die  Delphier  erzählten,  dasz  die  barbarenschar,  welche 
nach  der  schlacht  bei  Tbermopylae  auszog,  um  das  berühmte  heilig- 
tum  zu  plündern,  von  den  göttern  durch  furchtbares  unwetter  und 
von  ihren  landesheroen  unter  gewaltigen  Schwertstreichen  vertrieben 
worden  sei.  vor  der  schlacht  bei  Salamis  beschlossen  die  Griechen, 
zu  den  göttern  zu  beten  und  die  Äakiden  als  mitstreiter  im  kämpfe 
gegen  die  barbaren  anzurufen,  diese  fromme  sitte  der  Griechen 
liegt  uns  näher,  als  mancher  wohl  denkt,  spricht  nicht  die  gleiche 
ansebauung,  der  gleiche  glaube  aus  Körners  begeisterten  versen  in 
seinem  'auf ruf*  von  1813? 

Die  märtyrer  der  heilten  deutschen  sache, 
oft  ruft  sie  an  als  genien  der  räche , 
als  gute  engel  des  gerechten  kriegs! 
Luise  ,  schwebe  segnend  um  den  gatten! 
geist  unsere  Ferdinand,  voran  dem  zng! 
und  all'  ihr  deutschen  freien  heldenschatten, 
mit  uns,  mit  uns  und  unsrer  fahnen  Aug! 

und  als  knapp  vor  zwei  jähren  kaiser  Wilhelm  eingegangen  war  zu 
seinen  vätern  und  die  deutschen  dichter  unserer  zeit  ihre  trauer- 
umflorte  lyra  ertönen  lieszen ,  da  sang  Wildenbruch : 

Und  wenn  die  trommeln  rufen 
die  männer  zum  gewehr, 
dann  geht  der  alte  kaiser 
lebendig  vor  uns  her. 

und  Scherenberg: 

Es  lebt  dein  bild,  es  lebt  dein  wort 
und  wirkt  durch  unermess'ne  Zeiten: 
du  wirst  als  lichter  held  und  hört 
fortan  in  unsern  reihen  streiten. 

Also  auch  wir  haben  unsere  heroen.  ihr  altar ,  ihr  bild  ist  in 
unserer  erinnerung,  in  unserm  herzen,  in  friedlichem  zuge  sehen 
wir  sie  am  heutigen  tage  aus  ihren  lichten  höhen  nahen  und  segnend 
die  hand  erheben  über  dem  haupte  des  dritten  deutschen  kaisers.  wir 


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Putsche-Schottmüller:  lateinische  schulgrammatik. 


449 


aber  wollen  bittflehend  die  hände  znm  allmächtigen  emporheben: 
'möge  er  unsern  kaiser,  Wilhelm  den  zweiten,  samt  seinem  ganzen 
hause  auch  fernerhin  in  seinen  mächtigen  schütz  nehmen,  mit  Weis- 
heit ihn  rüsten ,  mit  starker  hand  führen  und  alle  seine  werke  in 
gnaden  gedeihen  lassen!' 

Mit  dieser  bitte  wollen  wir  das  gelübde  verbinden,  unser m 
kaiser  und  unserm  landesfürsten  die  treue  zu  wahren  und  sie  da- 
durch zu  bethätigen,  dasz  wir  ein  jeder  nach  besten  kräften  treu 
unsere  pflichten  erfüllen,  dies  gelübde  wollen  wir  in  die  worte  zu- 
sammenfassen : 

Mit  gott  für  fürst  und  Vaterland ! 
Mit  gott  für  kaiser  und  reich ! 
Weimar.  Redslob. 


42. 

Putsche  -  Schottmüllers  lateinische  schulgrammatik. 
dreiundzwanzigste  auflage.  unter  mitwirkung  von  dr. 
Fr.  Heü8sner  neu  bearbeitet  von  dr.  B.  Heil  und 
dr.  H.  Schmitt.  Hannover  1889.  norddeutsche  verlagsanstalt 
0.  Goedei.  VIII  u.  278  s.  8. 

Vorliegende  grammatik  will  nicht  eine  einfache  wiederauflage 
des  alten  werkes  sein,  sondern  eine  'gänzliche  Umarbeitung'  nach 
gesichtspunkten,  welche  auch  der  unterzeichnete  für  richtig  hält. 1 

Wie  in  andern  neueren  grammatiken  haben  die  verf.  nur  das 
wichtigere  und  häufiger  vorkommende  aufgenommen  auf  grund  einer 
thunlichst  sorgfältigen  feststellung  des  Sprachgebrauchs  Caesars  und 
Ciceros.  sie  hätten  jedoch  meines  erachtens  noch  mehr  ausscheiden 
können ;  namentlich  Stegmann ,  doch  auch  Harre  ist  ihnen  an  kürze 
und  knappheit  überlegen,  ferner  haben  sie  —  ebenfalls  in  Überein- 
stimmung mit  andern  grammatiken  —  die  lehraufgaben  für  die  ein- 
zelnen classen  durch  den  druck  geschieden,  aber  wie  unübersicht- 
lich ist  dadurch  für  den  sextaner  die  formenlehre,  für  den  quartaner 
die  Satzlehre  geworden !  auf  ganzen  seiten  sind  zuweilen  nur  zwei 
bis  drei  zeilen  zu  lernen,  andere  Seiten  müssen  ganz  tiberschlagen 
werden,  auch  mitten  im  satze  oder  im  regelverse  wird  abgebrochen, 
z.  b.  s.42  gehört  der  satz  'iste  und  ipse  folgen  der  declination  von 
ille'  von  dem  worte  ipse  an  der  sexta,  bildet  also  für  den  sextaner 
nicht  einmal  eine  richtige  construetion.  der  regelvers  'adaequo, 
sequor,  fugio  —  deficio,  iuvo,  adiuvo  —  ulciscor,  sector, 
imitor  —  adulor  sowie  aemulor'  ist  bis  ulciscor  einschliesz- 


1  vgl.  das  3e  heft  der  Schriften  des  einheitsschulvereins,  welches 
auch  die  verf.  selbst  anführen,  und  die  lehrproben  und  lehrgUnge  heft  20 
und  22. 

N.  jahrb.  f.  phil.  a.  pid.  II.  »bt.  1891  hft.  8  a.  9.  29 


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450 


Putsche-Schottmüller:  lateinische  achulgrammatik. 


lieh  der  quarta  zugeteilt,  entbehrt  also  für  den  quartaner  des  rhythmi- 
schen abschl as8e8.  überhaupt  wird  die  grammatik  durch  den  ver- 
schiedenen druck  so  bunt,  dasz  an  benutzung  des  ortsgedächtnisses 
kaum  zu  denken  ist.  sollte  es  nicht  richtiger  sein,  dem  schüler  über- 
haupt nicht  eine  grammatik  für  die  ganze  schule  in  die  band  zu 
geben,  sondern  sie  in  zwei  stufen  zu  zerlegen,  eine  untere,  die 
wesentlich  lernbuch  sein  und  das  nötigste  in  der  knappen  fassung 
enthalten  müste ,  welche  für  die  classen  bis  ober tertia  angemessen 
ist,  und  eine  obere  für  secunda  und  prima,  die  teils  wiedtrholungs- 
buch ,  teils  nachschlagebuch  wäre  ?  beide  m listen  natürlich  genau 
derselben  anordnung  folgen  und  die  zweite  den  te*t  der  ersten  ganz 
wiedergeben,  nur  mit  Zusätzen  und  erläuterungen.  dann  würde  der 
schüler  in  der  gTammatik  besser  heimisch,  als  wenn  er  nur  ein  buch, 
aber  eines,  das  ihn  anfangs  stets  verwirrt,  durch  alle  classen  benutzt. 

Doch  dies  ist  etwas  äuszerliches.  viel  tiefer  greift  in  das  wesen 
der  beabsichtigten  reform  die  anordnung  des  gesamten  Stoffes 
ein,  welche  die  Verfasser  gewählt  haben,  ich  finde  darin  einen  nicht 
geringen  fortschritt.  um  über  die  meist  noch  übliche  nach  der  lateini- 
schen form  geordnete  Zusammenstellung  von  regeln  zu  einer  möglichst 
wissenschaftlichen  Satzlehre  fortzuschreiten,  ist  der  syntaktische  teil 
derPutsche-Schottmüllerscben  grammatik  gänzlich  umgearbeitet  und 
einer  lehre  vom  gedanken  und  seinem  ausdruck  im  satze 
nahe  gebracht,  die  einteilung  ist  die  nach  den  Satzarten  und  Satz- 
teilen; zuerst  kommt  in  abschnitt  III  der  Satzlehre  der  einfache  satz, 
und  zwar  A.  die  teile  des  einfachen  satzes  und  B.  die  arten  des- 
selben, dann  im  vierten  abschnitt  die  lehre  von  der  beiordnung  und 
im  fünften  die  lehre  vom  zusammengesetzten  satze.  dagegen  enthält 
der  zweite  abschnitt  der  Satzlehre  eine  lehre  vom  verbum  und  seiner 
bedeutung  für  den  satz  (d.  h.  eine  moduslehre ,  tempuslehre  usw.), 
und  die  zusammenfassenden  Übersichten  s.  145  und  s.  148  geben 
eine  lehre  vom  gebrauche  des  genitivs  und  ablativs.  darin  liegen 
anfange  zu  einer  lehre  von  der  bedeutung  und  dem  gebrauche 
der  formen,  welche  von  der  eigentlichen  Satzlehre  ganz  getrennt 
und  mit  der  lehre  von  der  bildung  der  formen  vereinigt  werden 
sollte,  wie  unnatürlich  die  gegenwärtig  in  den  grammatiken  durch- 
geführte Scheidung  dieser  beiden  teile  ist,  verrät  sich  darin,  dasz 
häufig  doch  wieder  vieles  aus  der  sogenannten  syntax  in  der  formen* 
lehre  vorweggenommen  zu  werden  pflegt,  man  vgl.  z.  b.  die  für- 
worter in  Knebel- Probsts  französischer  grammatik.  Heil  hat  mit 
recht  weit  mehr,  als  sonst  zu  geschehen  pflegt,  von  der  bedeutungs- 
lehre  in  die  formenlehre  aufgenommen ,  z.  b.  im  musterbeispiel  für 
die  conjugation  8.  48  ff.  und  den  Vorbemerkungen  dazu  s.  45,  bei 
den  Zahlwörtern  s. 38,  ferner  s.  62  und  63.  97.  98  usw.;  umgekehrt 
ist  die  form  der  conjunetionen  in  der  Satzlehre  erörtert,  z.  b.  s.  223. 
226  usw.  so  ist  die  unnatürliche  trennung  der  formenlehre  von  der 
bedeutungslehre  wenigstens  teilweise  aufgehoben,  es  wäre  nun  zu 
wünschen,  dasz  in  einer  folgenden  aufläge  diese  richtung  weiter  ver- 


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Putsche-Schottmüller:  lateinische  schulgrammatik.  451 


folgt  und  die  einteiluDg  in  wort-  und  Satzlehre  ersetzt  würde  durch 
die  unseres  er  achtens  allein  richtige  dreiteilung:  lehre  von  den  lauten 
und  ihrer  Schreibung,  lehre  von  der  bildung  und  der  bedeutung  der 
formen,  lehre  von  dem  gedanken  und  seinem  ausdruck  im  satze. 
über  die  begründung  dieser  einteilung  habe  ich  eingehend  in  den 
schriften  des  einheitaschulvereins  heft  III  8.  35  ff.  und  lehrproben 
heft  20  s.  67  ff.  gesprochen,  in  dem  mittleren  teile  kann  man  ent- 
weder bei  jeder  hauptgruppe  der  formen  deren  bedeutung  und  ge- 
brauch gleich  mit  behandeln,  wie  es  z.  b.  Peters  in  seiner  kleinen 
französischen  grammatik  gethan  hat,  oder  erst  die  bildung  aller  for- 
men darlegen  und  dann  in  derselben  reihenfolge  die  gesamte  be- 
deutungslehre  folgen  lassen,  vielleicht  ist  die  zweite  möglichkeit 
wenigstens  für  jetzt  vorzuziehen,  weil  sie  gestattet,  der  üblichen 
anordnung  ziemlich  nahe  zu  bleiben,  die  grammatik  zerfiele  dann 
also  in:  I.  laut  und  schrift,  II.  formenbildung,  III.  bedeu- 
tungslehre,  IV.  lehre  vom  gedanken  und  seinem  aus- 
druck im  satze  (satzlehre).  nur  bei  dieser  oder  einer  ähnlichen 
einteilung  würden  die  Vorzüge  der  von  Schmitt  gewählten  anord- 
nung der  satzlehre  gewahrt  und  zugleich  die  von  ihm  selbst  hervor- 
gehobenen nachteile  der  zerreiszung  der  genitiv-  und  ablativregeln, 
der  infinitiv-,  particip-  und  gerundiumregeln,  der  regeln  über  die 
pr&positionen  und  über  quod7  vermieden  werden  können. 

Als  höheren  gewinn  erwarten  die  verf.  mit  recht  von  der  neuen 
anordnung  der  satzlehre  die  'allmähliche  erkenntnis  der  mittel,  durch 
welche  das  deutsche  und  lateinische,  bald  übereinstimmend,  bald 
abweichend  von  einander,  im  satze  den  gedanken  zum  ausdrucke 
bringen';  auszerdem  werde  'durch  die  vergleichende  behau  dl  ung  der 
deutschen  und  lateinischen  grammatik  ein  fester  bestand  von  gram- 
matischen kategorien  gewonnen,  welche  für  alle  schulsprachen  gelten, 
und  so  der  weg  zu  einer  parallelgrammatik  aller  schul- 
sprachen gebahnt'. 

In  diesen  gedanken  liegt  der  kern  der  von  den  verf.  erstrebten 
neugestaltung  des  grammatischen  Unterrichts,  denn  wenn  wir  der 
grammatik  ihre  achtung  erhalten  bzw.  zurückgewinnen  wollen,  so 
kann  dies  nur  dadurch  geschehen,  dasz  wir  den  grammatischen  Unter- 
richt seines  mechanischen  und  äußerlichen  Charakters  entkleiden  und 
ihn  zu  einer  Werkstatt  des  denkens  erheben,  von  den  einzelerschei- 
nungen  müssen  wir  zu  den  darin  waltenden  allgemeinen  begriffen 
und  gesetzen  aufsteigen,  möglichst  viele  einzelregeln  auf  die  ihnen 
zu  gründe  liegenden  principien  zurückführen,  soweit  möglich  sollen 
nur  diese  gelernt ,  alles  übrige  in  so  sichere  Verbindung  damit  ge- 
bracht werden,  dasz  die  Schüler  es  vorkommendenfalls  selbst  wieder 
daraus  abzuleiten  vermögen,  eine  solche  allgemeinsprachliche  bil- 
dung wird  aber  am  leichtesten  gewonnen,  wenn  man  mehrere  spra- 

*  auch  die  tempns-  und  moduslehre  ist  nirgends  zusammengefaszt, 
die  zeitbedeutung  der  infinitive  und  participien  ist  »ehr  unvollständig 
dargestellt 

29* 


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452         Putsche-Schottniüller:  lateinische  schulgrammatik 


chen  vergleicht,  zunächst  das  deutsche  und  das  lateinische,  dann  die 
übrigen  schulsprachen  mit  jenen  und  unter  einander,  die  Verfasser 
haben  überall  danach  gestrebt,  das  Verhältnis  des  deutschen  zum 
lateinischen  hervortreten  zu  lassen ;  so  auch  in  abschnitt  I  der  Satz- 
lehre (=  grammatisch  stilistische  Vorbemerkungen),  der  übrigens 
teilweise  wohl  nicht  in  eine  grammatik,  sondern  in  eine  stillehre  ge- 
hört, dabei  scheint  mir  mehrfach  das  streben,  die  Vorzüge  des  latei- 
nischen deutlich  zu  machen,  zur  Ungerechtigkeit  gegen  das  deutsche 
zu  führen,  wenn  z.  b.  bei  Caesar  pontem  fecit  =  'Caesar  liesz 
die  brücke  schlagen'  die  kürze  des  lateinischen  gelobt  wird,  warum 
dann  nicht  die  kürze  des  deutschen,  sondern  die  genauigkeit  des  latei- 
nischen bei  Caesar  animos  militum  confirmavit  =  'Caesar 
ermutigte  die  Soldaten'?  auch  wird  die  anlehnung  an  das  deutsche 
keineswegs  immer  ganz  ausgenutzt,  ich  wähle  eine  regelgruppe,  bei 
der  sich  auszerdem  noch  der  doppelte  mangel  zeigt,  dasz  das  zu 
gründe  liegende  allgemeine  princip  nicht  hervorgehoben  ist,  und 
dasz  sie  ihre  rechte  stelle  im  System  noch  nicht  gefunden  hat.  beide 
fehler  teilt  übrigens  die  vorliegende  grammatik  mit  allen  andern 
mir  bekannten,  überall  nemlich  wird  der  schein  erweckt,  als  sei  die 
sog.  congruenz  etwas  eigentümlich  lateinisches,  tiberall  werden 
eine  menge  unnötiger  einzelregeln  gegeben ,  überall  nicht  gehörig 
an  das  deutsche  angeknüpft3,  überall  bildet  die  congruenzlehre  einen 
ersten  teil  der  syntax,  ohne  dasz  ihr  Verhältnis  zu  den  übrigen  deut- 
lich würde,  in  der  oben  gegebenen  anordnung  der  grammatik  würde 
sie  ihren  richtigen  platz  leicht  finden,  nemlich  am  schlusz  der  dritten 
abteilung  (=  bedeutungslehre) ;  denn  sie  enthält  eine  gesamtbedeu- 
tung ,  welche  alle  declinations-  und  conjugationsformen  noch  neben 
der  jeder  einzelnen  eigentümlichen  besitzen,  das  allgemeine  sprach- 
liche gesetz,  welches  den  einzelnen  congruenzregeln  zu  gründe  liegt, 
läszt  sich  etwa  so  ausdrücken :  die  Zusammengehörigkeit  auf  einander 
zu  beziehender  Satzteile  wird  in  allen  sprachen,  soweit  es  möglich  ist, 
durch  Übereinstimmung  der  form  ausgedrückt,  dieses  princip  müste 
an  die  spitze  der  congruenzlehre  treten  und  dann  durch  eine  reihe 
von  beispielen  erläutert  werden ,  in  welchen  die  hauptanwendungen 
hervorträten,  diese  sind  im  lateinischen :  die  Zugehörigkeit  des  prä- 
dicats  zum  subject,  des  attributs,  auch  des  prädicativen ,  zu  seinem 
beziehungswort,  des  selbständigen  pronomens  (relativs,  demon- 
strativs,  Personalpronomens  usw.)  zu  dem  wort,  worauf  es  deutet4, 
auch  des  hervorgebrachten  objects  zu  dem  leidenden  in  Sätzen  wie 
Laelium  facit  admirantem.  weiter  wäre  dann  hinzuzufügen: 
deutsch  und  latein  stimmen  in  der  anwendung  dieses  gesetzes  im 
ganzen  tiberein;  doch  kann  1)  das  lateinische  die  zusammengehörig- 

8  vgl.  Waldeck  fdie  didaktische  formgebang  in  der  altsprachlichen 
grammatik',  lehrproben  heft  17  s.  8  ff. 

4  nebenbei  bemerkt:  ein  neuer  grund,  weshalb  man  pronomen  gut 
durch  deutewort  übersetzt,  vgl.  weiter  unten  über  die  Verdeutschung 
der  grammatischen  kunstsprache. 


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Putsche-Schottmüller:  lateinische  schulgrammatik. 


453 


keit  häufiger  und  genauer  durch  formengleichheit  bezeichnen,  und 
2)  richtet  sich  ein  pronomen  als  subject  nach  dem  prädicatssub- 
stantiv ,  auf  welches  es  hindeutet ,  während  es  im  deutschen  in  das 
neutrum  sing,  tritt,  das  lateinische  verfahrt  also  dem  princip  ge- 
mäsz;  denn  in  Sätzen  wie  haec  est  mensa  mea  deutet  das  demon- 
strativ auf  den  im  prädicatsnomen  genannten  gegenständ  hin;  das 
deutsche  dagegen  durchbricht  das  allgemeine  gesetz.  3)  endlich 
richtet  sich  die  person  des  verbs  im  relativsatze  nach  der  person, 
anf  welche  das  relativ  zurückweist  (wie  im  französischen),  hier  sub- 
stituiert sich  dem  deutewort  (pronomen)  unwillkürlich  die  Vorstel- 
lung, auf  welche  es  hindeutet,  und  danach  richtet  sich  dann  das  verb. 
am  schlusz  der  congruenzlehre  könnten  vielleicht  noch  einige  an- 
merkungen  folgen,  z.  b.  über  id  quod  und  sätze  wie  quid  est 
libertas? 

So  wie  in  der  congruenzlehre  mtiste  überall  auf  die  Überein- 
stimmung oder  abweichung  des  lateinischen  und  deutschen  von  ein- 
ander hingewiesen  werden,  damit  der  schüler  bei  der  aneignung  des 
neuen  vom  bekannten  ausgehe  und  nicht  das,  was  er  aus  seiner  eignen 
spräche  schon  weisz,  als  etwas  der  fremden  spräche  eigentümliches 
noch  einmal  lerne,  nur  durch  solche  vergleichende  behandlung  läszt 
sich  mit  einer  bedeutenden  Vereinfachung  der  grammatik  zugleich 
eine  Vertiefung  der  sprachlichen  bildung  erreichen,  nur  so  kann  die 
erlernung  fremder  sprachen  für  eine  klare  erkenntnis  der  mutter- 
sprache  völlig  ausgenutzt  werden,  in  vielen  regelgruppen  wird  die 
vergleichung  ebenso  wie  in  der  congruenzlehre  keine  gesonderte  Zu- 
sammenstellung des  deutschen  Sprachgebrauchs  nötig  machen,  bis- 
weilen jedoch,  namentlich  in  schwierigen  abschnitten,  sollte  man 
sich  auch  davor  nicht  scheuen,  so  hat  Hugo  Weber  in  seiner  latei- 
nischen syntax  dem  abschnitt  über  die  abhängige  rede  die  regeln 
über  deren  gebrauch  im  deutschen  vorausgeschickt,  und  in  meiner 
vergleichenden  tempuslehre  habe  ich  im  22n  hefte  der  lehrproben 
ebenfalls  eine  deutsche  tempuslehre  als  grundlage  für  die  behand- 
lung der  übrigen  sprachen  an  die  spitze  gestellt. 

Um  auch  die  erlernung  der  laut-  und  formenlehre  nach  mög- 
lichkeit  des  mechanischen  Charakters  zu  entkleiden,  hat  Heil  in  dieser 
die  wichtigsten  sicheren  ergebnisse  der  neueren  sprach- 
wissenschaftlichen forschung  berücksichtigt,  dadurch  ist 
es  viel  leichter  geworden ,  die  so  fruchtbare  vergleichende  behand- 
lung der  schulsprachen  auch  auf  diese  teile  der  grammatik  anzu- 
wenden. 

Vor  allem  hat  die  lautlehre  vor  grammatiken  wie  die  von  Harre 
oder  Stegmann  den  vorzug  gröszerer  wissenschaftlichkeit,  sie  beruht 
vorzugsweise,  zum  teil  mit  wörtlicher  anlehnung,  auf  Seelmanns 
ausspräche  des  lateinischen ,  geht  jedoch  in  dem  abschnitt  Über  die 
Silbentrennung  (vgl.  Seelmann  s.  139)  für  die  schule  zu  weit,  silben- 
teilungen  wie  do-ctrina  lassen  sich  schwerlich  einüben,  und  wenn 
es  möglich  sein  sollte,  so  lohnte  es  jedenfalls  der  mühe  nicht  es  ist 


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Putsche-Schottmüller:  lateinische  schulgrammatik. 


schon  sehr  viel  gethan ,  wenn  man  das  in  §  3  geforderte  und  eine 
richtige  ausspräche  der  Sprechdauer  («—  quantität)  der  vocale  in 
nicht  positionslangen  silben  wirklich  erreicht,  sehr  zu  billigen  ist 
die  einteilung  der  laute  nach  ihrer  hervorbringung  (§  2),  welche 
auch  den  vergleich  mit  den  andern  sprachen  leicht  macht;  nur 
würde  ich  das  h,  ch,  ph  und  th  ganz  aus  der  Übersicht  entfernt, 
nicht  blosz  eingeklammert  und  mit  Vietors  phonetik1  s.  128  den 
aus  druck  mittellaute  und  noch  mehr  dessen  gleichsetzung  mit 
liquidae  gemieden  haben,  das  gaumen - n  gehört  mit  m  und  n  zu 
den  nasalconsonanten ,  r  und  1  sind  teilschlieszlaute.  statt 
klapplaute  ist  ein  bezeichnenderer  ausdruck  sprenglaute;  auch 
für  reibelaute  wäre  zwänglaute  treffender,  leider  ist  aber 
ersterer  ausdruck  schon  sehr  gebräuchlich  geworden  und  schwer  zu 
verdrängen.8 

Die  benutzung  der  sicheren  ergebnisse  der  Sprachwissenschaft 
hat  weiter  zu  einer  besseren  anordnung  der  declination  geführt, 
welche  auch  die  vergleichung  mit  dem  griechischen  sehr  erleichtert, 
auf  die  a  - declination  folgt  die  e- declination,  die  u- declination  ist  vor 
die  consonantische  und  i-declination  getreten,  noch  mehr  würde  es 
freilich  der  im  lateinischen  allmählich  durchgeführten  ausgleichung 
der  declinationen  entsprechen,  wenn  die  u -declination  ebenso  wie 
die  i-declination  mit  der  consonantischen  ganz  zu  einer  gruppe  ver- 
einigt wäre,  damit  wäre  auch  eine  fast  vollständige  Übereinstim- 
mung der  griechischen  und  lateinischen  declination  erreicht,  wie  ich 
in  den  Schriften  des  deutschen  einheitsschulvereins  heft  III  s.  29  ff. 
ausgeführt  habe,  namentlich  die  genitive  bewirken  ja  eine  Schei- 
dung der  gesamten  lateinischen  declination  in  zwei  gruppen :  die  a- , 
e-  und  o-declination  auf  der  einen,  die  consonantische,  i-  und  u-decli- 
nation  auf  der  andern  seite.  sieht  man  von  den  wenigen  pluralen 
der  e-declination  ab,  welche  der  zweiten  und  ersten  gruppe  zugleich 
angehören,  so  trifft  hiermit  auch  die  Verschiedenheit  der  bildung  des 
nominativs  und  des  dativ-ablativs  pluralis  zusammen,  wissenschaft- 
lich ohne  grund  und  unzweckmäszig  scheint  mir  die  Scheidung  der 
declination  der  adjective  von  der  der  Substantive ;  Harre  vereinigt 
mit  recht  beide  Wortarten  unter  den  einzelnen  declinationen. 

Die  regel  über  die  bildung  der  steigerungsformen  von  Wörtern 
wie  acer  und  den  fünf  Wörtern  facilis  usw.  verleiten  den  schüler 
ohne  not  zu  dem  fehler,  den  Superlativ  vom  nominativ  des  positiv  8 
zu  bilden,  die  regeln  sollten  lauten:  fünf  adjective  auf  -i Iis  hängen 
im  Superlativ  -limus  (statt  -issimus)  an  den  wortstock,  die  ad- 
jective auf  -er  und  vetus  hängen  -rimus  an  den  wortstock,  wenn 
aber  der  wortstock  auf  r  mit  einem  consonanten  davor  ausgeht ,  so 
wird  zur  erleichterung  der  ausspräche  ein  e  vor  dem  r  eingeschoben, 
z.  b.  wortstock  acr-,  Superlativ  ac-e-r- rimus. 


5  zu  den  oben  gegebenen  namen  für  r  nnd  1,  die  matae  and  spirantes, 
vgl.  naturwiis.  wocheoschr.  1889  nr.  32  s.  253. 


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Putsche-Schottmüller :  lateinische  schulgrammatik.  455 


Die  lehre  von  der  conjugation  zeigt  ebenfalls  in  der  gruppierung 
der  formen  wie  in  der  erklärung  ihrer  bildung  den  einflusz  der  Sprach- 
wissenschaft ;  doch  fällt  auf,  dasz  der  supinstamm  auf  o  statt  u  (z.  b. 
laudäto-)  angegeben  und  präsensformen  nicht  mit  dem  von  Perthes 
eingeführten  richtigeren  namen  durativ  oder  dauergruppe,  son- 
dern mit  präsensstammgruppe  bezeichnet  sind,  auch  wären  falsche 
Übersetzungen  wie  die  des  inf.  fut.  act.  durch  "loben  werden'  (statt 
'wollen')  und  des  inf.  fut.  pass.  durch  'werden  gelobt  werden'  zu 
beseitigen;  ebenso  in  den  ersten  personen  umschreibender  formen 
(z.  b.  laudätus,  a,  cm  s um)  die  neutralform  des  partieips. 

Der  letzte  bedeutende  grundsatz,  dessen  durchfahrung  Heil  und 
Schmitt  anbahnen  wollen,  ist  der  der  Verdeutschung  der  gram- 
matischen kunstsprache.  von  einer  folgerechten  ersetzung 
aller  lateinischen  benennungen  durch  deutsche  haben  sie  allerdings 
mit  recht  abstand  genommen ,  auch  haben  sie  oft  die  lateinischen 
Wörter  noch  neben  den  deutschen  angewendet  denn  es  gilt,  allmäh- 
lich an  das  neue  zu  gewöhnen ;  wollte  man  alles  auf  einmal  erreichen, 
so  würde  man  wahrscheinlich  gar  nichts  gewinnen,  welche  fremd- 
sprachlichen ausdrücke  man  nun  ausscheiden,  welche  wenigstens  vor- 
läufig behalten  soll ,  wird  im  einzelnen  immer  dem  personlichen  er- 
messen überlassen  bleiben  müssen,  ich  gestehe  aber,  daaz  mir  auch 
einige  allgemeinere  gesichtspunkte  in  der  vorliegenden  grammatik 
nicht  genügend  beachtet  scheinen. 

So  sollten  doch  vor  allem  fremdsprachliche  kunstausdrücke 
weggelassen  werden,  die  überhaupt  überflüssig  sind,  wozu  z.  b. 
substantiva  mobilia,  commünia  und  epicoena (s.6),  abun- 
dantia,  indeel  I  näbil  ia,  defectlvamit  ihren  Unterabteilungen 
und  anömala  (s.  17),  singuläria  tantum,  plürälia  tantum 
(s.  18)?  ferner  sind  leicht  übersetzbare  lateinische  kunstwörter  fest- 
gehalten ,  auch  wenn  die  Verdeutschungen  schon  häufig  genug  ge- 
braucht werden,  so  z.b.  s.  145  ablativus  separativus,  causae, 
mensurae,  modi.  wichtiger  aber  ist,  dasz  der  grundsatz,  zunächst 
nur  solche  Verdeutschungen  anzunehmen,  die  die  Sache 
besser  bezeichnen  als  das  lateinische  wort,  ziemlich  häufig 
verletzt  ist.  wo  das  deutsche  wort  nicht  mindestens  ebenso  klar, 
scharf  und  treffend  ist,  wie  das  fremde,  erfüllt  es  ja  gerade  den  von 
den  Verfassern  hervorgehobenen  zweck  nicht,  den  schüler  zu  lehren, 
dasz  er  'beim  gebrauche  der  grammatischen  kunstausdrücke  mehr 
als  bisher  an  den  sinn  derselben  denke',  also  behalte  man  die  frem- 
den kunstwörter  überall  bei ,  so  lange  man  noch  kein  einwandfreies 
deutsches  wort  dafür  hat.  ich  will  an  einigen  beispielen  zeigen,  dasz 
dieser  grundsatz  nicht  selten  von  den  Verfassern  vernachlässigt  ist, 
und  verbinde  damit  auch  einige  den  inhalt  der  grammatik  betreffende 
bemerkungen,  welche  sich  leicht  an  die  namen  anschlieszen  lassen. 

Grundlegend  ist  für  die  gesamte  grammatische  namengebung 
die  bezeichnung  der  Wortarten,  Satzteile  und  Satzarten,  sehr  zu 
billigen  ist  die  einführung  von  gegenstände  wort  für  Substantiv 


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Putsche-Schottmüller:  lateinische  schulgrammatik. 


(schriften  des  einheitsschulvereins  III  s.  19),  zumal  dieses  wort  auci 
die  beziehung  des  Satzteiles  zur  wortart  durch  sein  Verhältnis  za 
Satzgegenstand  («=  subject)  deutlich  macht;  dagegen  wäre  v erb 
besser  beibehalten  statt  zeit  wort,  da  dieser  ausdruck  weder  dis 
wesen  der  wortclasse  noch  die  beziehung  zum  Satzteil  richtig  be- 
zeichnet in  beiden  rücksichten  scheint  mir  die  einzig  angemessene 
Verdeutschung  von  verbum  aussagewort,  d.h.  das  eine  sati- 
aussage  bildende  wort,  zu  sein.6  auch  pronomen  würde  ich  nicht 
durch  für  wort  ersetzen,  sondern  so  lange  beibehalten,  bis  der  das 
wesen  treffender  bezeichnende  ausdruck  deutewort  sich  einge- 
bürgert hat.  die  Zusammenfassung  der  gegenstands-  und  besehaffen- 
heits Wörter  in  der  gröszern  gruppe  der  nomina  ist  vielleicht  über- 
haupt Uberflüssig,  wenn  man  pronomina  nicht  durch  fürwörter  ver- 
deutscht;  jedenfalls  darf  aber  nicht  der  nur  wörtlich  übertragende 
ausdruck  nenn  w  o  rt  an  stelle  von  nomen  gesetzt  werden,  dagegen 
würde  ich  die  Zahlwörter  nicht  mit  Heil  als  einen  f an bang  zu  den 
nomina1  geben,  weil  sie  der  form  nach  teils  adjective  oder  Substan- 
tive, teils  aber  auch  adverbien  sind,  sondern  auch  hier  folgerichtig 
nach  dem  sinn  der  wortclassen  ihre  benenn ung  und  ihre  Stellung 
im  grammatischen  System  bestimmen,  dann  aber  zeigt  sich,  dasz 
sie  als  formwörter  (im  gegensatz  zu  den  vollwörtern,  wenn 
der  ausdruck  erlaubt  ist)  mit  den  deutewörtern  (pronomina)  zu 
einer  gröszern  gruppe  zusammengehören,  über  die  weitere  ein- 
teilung  der  deute  Wörter  und  Zahlwörter  habe  ich  in  den  schriften 
des  einheitsschul Vereins  heft  III  gesprochen;  dort  habe  ich  mich 
auch  für  einordnung  des  artikels  unter  die  deute  Wörter  bzw.  Zahl- 
wörter erklärt  und  werde  auch  durch  Lyons  ausftihrung  im  pro 
gramm  der  Annenschule  zu  Dresden  1890  nicht  davon  überzeugt, 
dasz  dies  unrichtig  sei.  übrigens  würde  ich  statt  ein  teil  ungs- 
zahlen  bei  Heil  lieber  Verteilungszahlen  oder  vielleicht  noch 
richtiger  wiederholungszahlen  sagen,  jedenfalls  aber  nicht  die 
weitere  einteilung  der  Zahlwörter  teils  nach  dem  sinn,  teils  nach  der 
form  machen;  also  nicht  neben  grund-,  ordnungs-  und  einteilungs- 
zahlen  als  vierte  classe:  Zahladverbien,  sondern  v  er  viel  • 
fachungszahlen.  erst  innerhalb  dieser  vier  classen  müste  nach 
der  form  weiter  geteilt  werden ;  dann  würde  alles  zusammengehörige 
deutlich  als  solches  hervortreten,  Zahladverbien  wie  primum, 
iterum  würden  als  zweite  spalte  zu  den  Ordnungszahlen,  zahl- 
adjectiva  wie  simplex,  duplex  als  erste  spalte  zu  den  verviel- 
fachungszahlen  treten,  ein  besonderer  paragraph  wie  43  über  die 
einteilung  der  Zahlwörter  wäre  neben  der  Übersicht  ganz  unnötig. 

In  der  Verdeutschung  der  Satzteile  (§  148)  nimmt  Schmitt 
eine  unklare  mittelstellung  zwischen  Kerns  auffassung  und  der  bis- 
her üblichen  ein.  will  er  den  kunstausdruck  subjectswort  in  Kerns 

6  daneben  könnte  meines  erachtens  höchstens  noch  thätigkeits- 
wort  gewählt  werden,  aber  nicht  Zeitwort,  schriften  des  einheitsschnl- 
vereins  III  s.  19  mit  aum.  16. 


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Putsche- Schottmüller:  lateinische  schulgrammatik.  457 


sinne  anwenden,  so  kann  er  nicht  das  subject  entweder  in  der 
verbalform  enthalten  sein  oder  durch  ein  besonderes  subjectswort, 
bestimmt  sein  lassen,  sondern  es  ist  stets  in  der  verbal  form  ent- 
halten und  kann  auszerdem  noch  durch  ein  subjectswort  bestimmt 
werden  oder  nicht,  auch  bleibt  Schmitt  nicht  folgerichtig  bei  der 
§  148  gewählten  namengebung;  z.  b.  §  151  müste  es  beiszen:  als 
subjectswort  (nicht  als  subject)  stehen  in  beiden  sprachen  häufig 
infinit  ive.  wenn  er  sodann  statt  object  ergänzung  einführt,  so 
bin  ich  durchaus  einverstanden,  aber  es  ist  nicht  richtig,  dafür 
prädicatsergänzung  einzusetzen;  denn  objecto  können  auch  zu 
verbalformen  treten,  die  nicht  prädicat  sind,  auch  musz  Schmitt 
infolge  dieses  fehlers  der  sache  nach  gleiches  noch  mit  einem  zweiten 
namen,  nemlich  als  begriffsergänzung  bezeichnen  (§  186).  die 
ergänzung  steht  zu  den  verben  in  demselben  Verhältnis  wie  die  sog. 
begriffsergänzung  zu  den  sinnverwandten  adjectiven;  beide  mtisten 
also  zusammen  behandelt  und  mit  gleichem  namen  bezeichnet  wer- 
den, es  ist  ferner  nicht  zu  billigen ,  dasz  der  ausdruck  ergänzung 
über  die  notwendigen  bestimmungen  des  verbs  (bzw.  adjectivs) 
auch  auf  die  freiwilligen  ausgedehnt  wird,  die  letzteren  würde 
ich  erweiterungen  nennen;  wie  beide  arten  z.  b.  in  der  lehre 
vom  accusativ  unterschieden  werden  können,  habe  ich  schriften  des 
einheitsschulvereins  III  s.  63  für  das  griechische  ausgeführt,  diese 
Unterscheidung  ist  um  so  fruchtbarer,  als  die  häufigen  Ubergänge 
der  erweiterungen  in  ergänzungen  und  umgekehrt  zu  betrachtungen 
nötigen,  welche  sehr  lebendig  und  tief  in  das  wesen  der  spräche  und 
ihrer  entwicklung  einführen,  zum  schulmäszigen  ausdruck  solcher 
Übergänge  sowie  des  Verhältnisses  der  Satzglieder,  d.  h.  der  teile 
eines  mehrfachen  satzes,  zu  den  Satzteilen  empfiehlt  sich  sehr  der 
z.  b.  in  Sonnenscheins  lateinischer  grammatik  angewandte  ausdruck 
equivalent,  oder  auf  deutsch:  Vertreter,  ein  schönes  beispiel 
für  die  möglichkeit  solcher  Vertretungen  bieten  die  verben  der  ge- 
mütsstimmung.  alle  thätigkeitsvorstellungen  enthalten  die  Vorstel- 
lung eines  seelenzustandes ;  alle  verben  können  deshalb  ergän- 
zungslos  gedacht  werden,  auch  dann,  wenn  ihr  sinn  notwendig 
die  beziehung  auf  einen  von  der  thätigkeit  getroffenen  gegenständ 
(eine  zielergänzung)  voraussetzt,  so  ich  lese  neben  ich  lese  das 
"b  u  c  h ;  so  auch  d  o  1  e  o  usw.  ohne  zielergänzung.  zu  d  o  1  e  o  in  diesem 
sinne  kann  man  dann  eine  Umstandsbestimmung  (adverbial) 
hinzufügen:  doleo  (de)  aliqua  re,  d.  h.  ich  bin  in  schmerzlicher 
Stimmung  von  irgend  einem  gegenstände  her.  aber  derselbe  gegen- 
ständ kann  auch  als  derjenige  gedacht  werden,  welchen  meine 
schmerzliche  empfindung  trifft;  er  tritt  daher  auch  in  die  form  der 
accusativergänzung  (doleo  aliquid  =  ich  betrauere  etwas), 
und  es  ist  dann  auch  persönliche  passivconstruction  möglich ,  die  in 
omnibus  rebus  desperatis  wirklich  vorliegt,  mit  der  accusativ- 
ergänzung ist  dann  wieder  die  dativergänzung  nahe  verwandt; 
statt:  meine  Verzweiflung  trifft  oder  betrifft  den  gegenständ  kann 


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458         Putsche- Schottmüller:  lateinische  achulgrammatik. 

ich  auch  sagen :  sie  gilt  dem  gegenstände  (ist  dem  gegenstände  za- 
ge wandt);  darum  gibt  es  auch  die  construction :  milites  despe- 
rant  saluti  suae.  so  können  also  nicht  allein  mehrere  arten  der 
ergänzung  einander  vertreten,  sondern  sogar  eine  erweiterung  kann 
an  die  stelle  von  ergänzungen  treten  und  so  die  Wirkung  einer  not- 
wendigen Satzbestimmung  erhalten. 

Unter  berücksichtigung  dieser  gedanken  und  mitbenntzung  des 
von  Schmitt  eingesetzten  ausdrucks  der  begriffsergänzung  (natür- 
lich in  anderm  sinne  als  bei  Schmitt)  liesze  sich  also  der  §  148  etwa 
so  fassen: 

1.  Notwendige  best  and  teile  des  einfachen  satzes  sind:  satz- 
gegenstand  (subject)  und  aussage  (prädicat). 

Die  aussage  ist  entweder  einfach,  wenn  sie  nur  aus  einer 
personalform  des  aussage  Wortes  (verbs)  besteht,  oder  zusammen- 
gesetzt, wenn  sie  aus  einer  form  des  aussageworts  mit  einer  be- 
griffsergänzung besteht  (vgl.  Schriften  des  einheitsschul Vereins  III 
s.  20). 

Eine  begriffsergänzung  tritt  zu  dem  aussage  wort  hinzu ,  wenn 
dieses  eine  so  umfassende  und  abgeblaszte  bedeutung  hat ,  dasz  es 
allein  für  eine  wertvolle  aussage  zu  farblos  ist.  begriffsergänzungen 
werden  bezeichnet  durch  den  aussagenominativ  (prädicatsnomi- 
nativ).  Vertreter  desselben  sind :  die  begriffsergänzungen  im  genitiv, 
dativ  und  ablativ. 

Der  satzgegenstand  (das  subject)  wird  entweder  nur  an- 
gedeutet oder  bezeichnet,  jenes  geschieht  durch  personalendung 
des  aussage wortes  (verbs)  oder  durch  ein  deutewort  (pronomem), 
dieses  durch  ein  gegenstandswort  (substantiv)  oder  ein  zum  gegen« 
standswort  erhobenes  anderes  wort  im  nominativ. 

2.  Dem  satzgegenstande  und  der  aussage  als  den  hauptsatz- 
teilen stehen  gegenüber  die  Satzbestimmungen  als  die  den  ge- 
danken des  satzes  weiter  ausführenden  Satzteile. 

Satzbestimmungen  sind : 

a)  zum  aussagewort  tretende: 

et)  ergänzungen :  Zielergänzungen  im  accusativ  oder  genitiv 
und  dativergänzung.  Vertreter  sind  ergänzungen  im  ablativ  oder 
mit  Verhältniswörtern  (präpositionen). 

ß)  erweiterungen :  umstände  des  ortes ,  der  zeit  usw. 

b)  zum  gegenstandswort  tretende:  beifagungen,  nnd  zwar 
beigefügtes  gegenstandswort  in  gleichem  casus  (apposition) ,  beige- 
fügtes beschaffenheitswort,  beigefügter  genitiv,  ablativ,  beigefügtes 
Verhältniswort  mit  casus ,  beigefügtes  Umstandswort. 

c)  die  ergänzungen  und  erweiterungen  des  aussagewortes  können 
zum  teil  auch  zum  beschaffenheitswort  (adjectiv)  und  zum 
Umstandswort  (adverb)  treten. 

3.  Ein  satz,  der  nur  die  hauptsatzteile  bat,  heiszt  nackter 
satz,  ein  mit  Satzbestimmungen  versehener  satz  heiszt  beklei- 
deter satz. 


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Putsche-Schottmüller:  lateinische  schulgram matik. 


459 


4.  Auszerhalb  der  satzftigung  (construction)  stehen  die  anreden 
(im  rufcasus  [vocativ])  und  die  empfindungswörter  (interjectionen). 

Die  von  Schmitt  in  den  abschnitten  IV  (s.  194)  und  V  (s.  204) 
gegebene  lehre  vom  mehrfachen  satz  würde  ich  auch  in  der  Über- 
schrift einheitlich  bezeichnen  und  den  ausdruck  Satzglied  auf  die 
teile  des  mehrfachen  sataes  beschränken,  während  ich  die  teile  des 
einfachen  satzes  Satzteile  nennen  würde,  wenn  ich  nicht  irre,  in 
Übereinstimmung  mit  dem  gewöhnlichen  sprachgebrauche,  für  den 
mehrfachen  satz,  dessen  glieder  nur  durch  bei  Ordnung  verbunden 
sind,  bietet  sich  das  treffende  wort  'satz verein',  für  den  durch 
Unterordnung  gebildeten  mehrfachen  satz  rsatzgefüge'.  die  arten 
der  nebensätze  können  ihrer  bedeutung  nach  als  Vertreter  von 
Satzteilen  des  einfachen  satzes  bezeichnet  und  danach  benannt  wer- 
den ,  wie  bei  Schmitt. 

Unter  den  kunstausdrücken  der  flexionslehre  würde  ich 
casus  nicht  durch  fall  verdeutschen  und  auch  die  einzelnamen  für 
die  casus  lateinisch  lassen;  für  genera  verbi,  sowie  für  activ  und 
passiv  sind  die  Übersetzungen  bei  Heil :  zustandsformen,  thätigkeite- 
und  leideform  ebenfalls  keine  Verbesserung,  während  sich  die  modi 

gruppe  und  perfectstammgruppe  dauergruppe  und  vollendunggruppe, 
bzw.  durativ  und  perfectiv  vorziehe,  habe  ich  schon  erwähnt,  statt 
verbalstamm  würde  ich  gesamtstamm  sagen,  und  aus  demselben 
zwei  gruppenstämme,  den  d  au  er  stamm  und  den  vollendung- 
s tarn m,  ableiten;  die  nominalformen  schlieszen  sich  zum  teil  eben- 
falls an  diese  an,  zum  andern  teil  werden  sie  von  einem  unmittelbar 
aus  dem  gesamtstamm  abgezweigten  supinstamme  gebildet,  ein 
fehler  aber  ist  es  meines  er  achtens,  auch  die  umschriebenen  formen 
des  passivs  alle  zur  supinstammgruppe  zu  rechnen;  Umschreibung 
und  ableitung  darf  man  nicht  so  zusammenwerfen,  übrigens  sollten 
alle  diese  arten  von  stammen  in  einer  für  die  unteren  classen  be- 
stimmten grammatik  überhaupt  nicht  vorkommen.  Heil  hat  nem- 
lich  wie  Harre  den  von  Perthes  erfundenen  ausdruck  cw  or  ts  to  c  k'  in 
seine  grammatik  eingeführt,  gewis  mit  recht,  zumal  wenn  Waldecks 
ratschläge  für  den  ersten  Unterricht  in  der  formenlehre  im  22n  hefte 
der  lehrproben  zweckmäszig  sind,  aber  der  ganze  pädagogische  vor- 
teil dieser  neuerung  geht  verloren ,  wenn  man  daneben  dann  doch 
von  Wortstämmen  spricht  und  diese  bei  der  formbildung  auch  be- 
nutzt, die  Wirkung  wird  sicher  unaufhörliche  Verwirrung  in  den 
köpfen  der  schüler  sein,  da  ist  doch  der  Engländer  Sonnenschein  in 
meiner  lateinischen  grammatik  praktischer  und  consequenter.  nicht 
allein  die  ganze  declination  und  conjugation ,  sondern  auch  die  be- 
stimmung  des  geschlechts  der  gegenstände  Wörter  gründet  er  auf  den 
wortstock,  ebenso  verwirrend  ist  es ,  dasz  Heil  den  veränderlichen 
teil  des  wortes  endung,  nicht  wie  z.  b.  Ahrens  aus  gang  nennt; 
denn  wir  sind  nun  einmal  gewohnt,  stamm  und  endung  einander 
gegenüberzustellen.  Heil  selbst  bleibt  sich  daher  nicht  einmal  gleich 


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460         Putsche-Schottmüller:  lateinische  schulgrammatik. 


im  gebrauch  dieses  wortes.  §  57  sagt  er:  hinsichtlich  der  Bildun- 
gen unterscheiden  sich  die  vier  conjugationen  nur  in  einigen  for- 
men der  präsensstammgruppe.  aber  wie  viele  formen  sind  denn 
gleich?  in  der  ersten  und  dritten  conjugation  die  le  pers.  sing.  ind. 
präs.  act.  und  pass. ,  in  der  zweiten  und  dritten  das  ganze  imperfect 
des  activs  und  passivs.  soll  also  endung  so  viel  bedeuten  wie  aus- 
gang,  so  ist  Heils  behauptung  falsch;  richtig  ist  sie  nur,  wenn  man 
annimmt,  er  habe  endung  im  sinne  von  flexionszeichen  genommen, 
eine  weitere  Verwirrung  entsteht  durch  Übersetzung  des  ausdrucks 
raverbo'  mit  'Stammformen',  die  sache  wird  dadurch  mangelhaft 
bezeichnet;  in  welchem  sinne  z.  b.  der  inf.  praes.  act.  eine  Stamm- 
form sein  soll ,  ist  nicht  abzusehen,  es  ist  daher  nicht  zu  verwun- 
dern, dasz  Heil  selbst  das  wort  an  anderer  stelle  (§  68)  in  einer  an- 
dern bedeutung  anwendet ,  für  die  es  in  der  that  besser  passt,  nem- 
lich  für  die  gruppenstämme ,  in  welche  sich  der  gesamtstamm 
des  verbs  spaltet:  den  dauerstamm,  vollendungstamm  und  supin- 
stamm.  auch  hier  bleibt  besser  das  fremd  wort,  so  lange  noch  keine 
wirklich  treffende  Verdeutschung  gefunden  ist.  eine  solche  liegt  nun 
freilich  recht  nah.  denn  das  averbo  enthält  ja  die  formen,  die  man 
sich  merken  musz,  um  das  verb  richtig  conjugieren  zu  können,  die 
uns  beim  conjugieren  leiten,  d.  h.  die  merk  formen  oder,  wenn 
man  Ose.  Brenners  mittelhochdeutscher  grammatik  s.  17  folgt,  die 
leiteformen  des  verbs. 

Schon  aus  dem  gesagten  erhellt,  dasz  ich  die  musterbeispiele 
für  die  conjugation  in  mehreren  punkten  anders  gestalten  würde  als 
Heil;  ich  füge  noch  hinzu,  dasz  meines  erachtens  1)  die  Übersetzung 
der  conjunetive  bei  Heil  nicht  ausreicht,  und  bei  den  indicativen 
Vermittelnde'  Übersetzungen  zur  bezeichnung  der  entwicklungsstafe 
der  handlung  hinzuzufügen  wären,  2)  die  mittelformen  in  der  Über- 
sicht nicht  ganz  von  den  personal  formen  getrennt  werden  sollten, 
3)  die  einteilung  der  formen  nach  einem  gesichtspunkt,  dem  der 
bedeutung,  ganz  durchgeführt  und  die  umschriebenen  passiv- 
formen demgemäsz  als  vollendunggruppe  des  passivs  bezeichnet 
werden  müsten. 

Hiernach  würde  das  musterbeispiel  der  zusammengezogenen 
ä-conjugationT  nebenstehende  gestalt  erhalten. 

Gestaltet  man  das  musterbeispiel  in  dieser  weise,  so  musz  natür- 
lich noch  eine  anweisung  über  die  bildung  der  zum  supinstock  ge- 


7  statt  in  langvocalische  und  kurzvocalische  conjugation  (§  57)  würde 
ich  die  lateinische  Verbalflexion  lieber  in  zusammengezogene  und  nicht 
zusammengezogene  conjugation  teilen,  denn  dasz  die  ausgänge  der 
ä-,  e-  und  I-conjugation  durch  zusammenziehnng  eines  a,  e  und  i  mit 
denen  der  sog.  dritten  conjugation  entstanden  sind,  läszt  sich  anch  dem 
sextaner  deutlich  machen ;  damit  wird  aber  von  vorn  herein  eine  rich- 
tigere Vorstellung  von  dem  Verhältnis  der  lateinischen  conjugationen 
zu  einander  gewonnen  und  zugleich  der  grund  gelegt,  um  später  das 
Verhältnis  der  lateinischen  verbalflexion  zu  der  griechischen  klar  zu 
machen. 


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Putsche-Schottmüller:  lateinische  schulgrammatik.  461 

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462 


B.  Born :  bemerkungen  zu  einigen  oden  des  Horaz. 


hörigen  mittelformen  folgen,  auch  sind  die  formen  der  bevorstehen- 
den handlung ,  von  denen  ich  einige  in  klammern  der  dauergruppe 
eingefügt  habe ,  noch  in  besonderer  Zusammenstellung  zu  geben. 

Ich  schliesze  hiermit  meine  so  schon  allzu  lang  gewordene  be- 
sprechung.  wer  sich  sein  ziel  so  hoch  steckt,  wie  die  Verfasser  der 
vorliegenden  grammatik,  wird  selbst  nicht  erwarten,  dasz  er  es  beim 
ersten  versuch  vollständig  erreicht ;  in  der  that  liesze  sich  auch  ab- 
gesehen von  dem  oben  bemerkten  noch  manche  einzelheit  beanstan- 
den, aber  das  verdienst  bleibt  den  Verfassern  unverkümmert ,  den 
rechten  weg  betreten  zu  haben,  dem  wir  nur  weiter  zu  folgen  brau- 
chen, um  eine  wirkliche  reform,  nicht  blosz  eine  äuszerliche  Verkür- 
zung unserer  schulgrammatiken  zu  erreichen,  möge  den  Verfassern 
vergönnt  sein ,  noch  in  einer  reihe  von  auflagen  an  der  schwierigen 
und  gerade  im  gegenwärtigen  augenblick  so  wichtigen  aufgäbe  weiter 
zu  arbeiten ! 

Hannover.  F.  Hornemann. 

48. 

BEMERKUNGEN  ZU  EINIGEN  ODEN  DES  HORAZ  MIT  BESONDERER  BE- 
RÜCKSICHTIGUNG der  Wortstellung  von  B.  Born,  programm 
des  königl.  domgymnasiums  zu  Magdeburg.  1891. 

Der  Verfasser  stellt  hauptsächlich  mit  benutzung  der  abhand- 
lungen  von  Eggers  'de  ordine  et  figuris  verborum  quibus  Horatius 
in  carminibus  usus  est',  Lovanii  1877,  Oesterlen  'komik  und  hnmor 
bei  Horaz',  Kiessling  'philologische  Untersuchungen  II',  Ebeling  rde 
imperativi  usu  Horatiano',  Wernigerodae  1870,  Rosenbergs  ausgäbe 
der  oden,  sowie  der  bekannteren  arbeiten  von  Meineke,  Peerlkamp, 
8chtitz,  Nauck,  Lehrs,  L.  Müller  und  Dillenburger  unter  steter 
berücksichtigung  der  anmerkungen ,  welche  die  herausgeber  ihren 
arbeiten  beigefügt  haben ,  eine  anzahl  feiner  beobachtungen  bezüg- 
lich der  Wortstellung,  welche  Horaz  in  den  oden  anwendet,  auf.  er 
beweist  mit  überzeugender  gewisheit,  dasz  die  vom  dichter  beliebte, 
von  der  herkömmlichen  oft  sehr  abweichende  Wortstellung  nicht, 
wie  früher  vielfach  irrtümlich  angenommen  wurde,  auf  rein  ftuszer- 
lichen  metrischen  gründen  beruht,  vielmehr  meist  durch  innerliche, 
d.  h.  den  sinn  betreffende  gründe  bedingt  ist.  insofern  hat  die  arbeit 
einen  hervorragenden  pädagogischen  wert,  indem  sie  dem 
lehrer  des  lateinischen  in  prima  zahlreiche  winke  gibt,  den  schülern 
zu  zeigen,  dasz  Horazens  oft  angezweifelte  dichterische  bedeuttmg 
in  den  oden  nicht  lediglich  auf  einer  vollendeten  metrischen,  sondern 
wesentlich  auch  auf  einer  geistig  durchdachten,  d.  h.  dem  in  halt 
in  geschickter  weise  angepassten  form  beruht. 

An  den  auf  s.  1 — 14  behandelten  oden  I  1.  4.  5.  6.  7.  9  weist 
der  Verfasser  mit  groszem  geschick  nach,  dasz  Horaz  häufig  das  Sub- 
stantiv an  das  ende  eines  verses  und  das  dazu  gehörige  adjectiv  zu 


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B.Born:  bemerkungen  zu  einigen  oden  des  Horaz.  463 


anfang  des  folgenden  verses  oder  umgekehrt  setzt  oder  dieses  ver- 
fahren auf  den  schlnsz  des  ersten  halbverses  und  den  anfang  des 
zweiten  überträgt,  ferner,  dasz  er  die  anaphora  desselben  wortes  auch 
da  anwendet,  wo  er  ein  wort  seinem  begriffe  nach  durch  ein  anderes, 
gleichgestelltes,  untergeordnetes  oder  entgegengesetztes  wiederholt, 
sowie  dasz  er  den  imperativ  und  seine  stellvertretenden  aussage- 
formen entweder  an  das  ende  des  verses  oder  halbverses  oder  an 
den  anfang  desselben  stellt,  jedoch  unter  der  bedingung,  dasz  zu- 
weilen ein  einsilbiges  wort  vorhergeht,  unter  'stellvertretenden  aus- 
sageformen des  Imperativs'  versteht  Born  die  modale  ausdrucksweise 
und  das  futurum,  auch,  was  Ebeling  in  seinen  cirenmlocutiones  nicht 
beachtet,  im  weitern  sinne  das  gerundium  und  gerundivum. 

Dieser  teil  ist  der  glanzpunkt  der  ganzen  arbeit,  zumal  er  die 
anführungen  von  Eggers  und  Ebeling  wesentlich  bereichert,  im 
weitern  verlanfe  der  arbeit  polemisiert  Born  mit  groszem  geschick 
vielfach  gegen  Lehrs'  willkürliche  erklärungen ,  wird  jedoch  dabei 
nie  seinem  eigentlichen  thema  untreu,  s.  17  zeigt  er,  dasz  non  ego 
eine  dem  dichter  geläufige  Verbindung  überhaupt  war,  die  er  nicht 
nnr  in  alcäischen,  sondern  auch  in  andern  versen  anwendet,  s.  31 
verlangt  er  mit  L.  Müller  und  Schütz  hinter  non  in  ode  II  14,  5 
eine  interpunction,  irrt  jedoch,  wie  ich  meine,  wenn  er  frustra  in 
III  7,  21.  m  13,  6  und  durum  in  I  24,  19  vergleichsweise  heran- 
zieht, da  non  an  erstgenannter  stelle  nicht  den  ganzen  vorher- 
gehenden negativen  gedanken  zusammenfaszt,  wohl  aber  frustra  und 
darum  an  den  letztern.  es  steht  daher  mit  recht  in  den  meisten 
ausgaben  hinter  frustra  und  durum  ein  Semikolon ,  hinter  non  nur 
ein  komma. 

Im  allgemeinen  ist  die  arbeit  als  ein  sehr  dankenswerter  bei 
trag  zur  Horazkritik  zu  bezeichnen. 

Dresden.  Löschhorn. 


44. 

BEMERKUNGEN    ZUM    KUNST  UNTERRICHT    AUF    DEM    GYMNASIUM  VON 

H.  Guh rauer.  programm  des  gymnasium«  zu  Wittenberg.  1891. 

Der  Verfasser  stellt  auf  grund  der  bekannten  arbeiten  von 
R.  Menge  'gymnasium  und  kunst'  in  den  pädagogischen  Studien  von 
W.  Bein,  heft  12,  'der  kuntunterricht  im  gymnasium',  Langensalza 
1879,  rwie  l&szt  sich  der  Unterricht  im  gymnasium  anschaulicher 
gestalten?'  in  diesen  jahrbüchern  1881  s.  133  ff.  und  s.  161  ff.,  Ein- 
führung in  die  antike  kunst'  (Leipzig,  Seemann,  2e  Aufl.  1885), 
A.  Baumeister  'gymnasial reform  und  ans c hauung  im  classischen 
Unterricht',  München  1889,  sehr  gesunde  und  dabei  höchst  einfache 
grundsätze  zwecks  einführung  des  'kunstunterrichts'  in  unsere  gym- 
nasien  auf,  um  mit  hilfe  desselben  die  erklärung  der  alten  classi- 


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464      H.  Guhrauer:  bemerkungen  zum  kunstunterricht  auf  dem  gymn. 

sehen  schriftsteiler  zu  beleben,  er  behauptet  mit  vollem  recht,  dasz 
weder  kunstgeschichte  noch  ästhetik  oder  archäologische  kritik  in 
die  schule  gehöre,  es  vielmehr  lediglich  darauf  ankommen  müsse, 
dasz  die  schüler  lernen  antike  kunstwerke  —  denn  um  diese  bandelt 
es  sich  selbstredend  nur  —  verständig  zu  betrachten  und  ihre  un- 
vergänglichen Schönheiten  zu  begreifen,  gerade  auf  diese  weise  wer- 
den nach  des  Verfassers  ansieht,  der  jeder  einsichtige  lehrer  unbe- 
dingt zustimmen  wird,  die  schüler  zur  erkenntnis  geführt,  dasz  die 
griechische  weit  stets  die  lehrerin  der  menschheit  auf  allen  gebieten 
des  wahrhaft  schönen  bleiben  wird. 

Man  kann  sagen,  dasz  der  Verfasser  durch  Veröffentlichung  dieser 
arbeit  einen  sehr  dankenswerten  beitrag  zur  gymnasialpädagogik 
geliefert  hat.  nach  seiner  meinung  —  und  dieselbe  ist  nur  zu 
billigen  —  sollen  zunächst  photographische  abbildungen  antiker 
kunstwerke,  auch  torsen  rzu  längerer  betrachtung  im  classenzimmer 
aufgehängt  werden',  ja  schon  das  blosze  auslegen  der  bilder  genügt 
in  der  hauptsache  den  absiebten  des  vom  Verfasser  bezweckten  kunst- 
unterrichts.  der  lehrer  soll  alsdann  zunächst  kurz  über  entstehungs- 
zeit  und  inhalt  des  kunstwerks  reden,  alsdann  zeigen,  dasz  die  com- 
Position  des  ganzen  auf  dem  harmonischen  zusammenwirken  der  teile 
beruhe  und  hierbei  über  die  sogenannten,  von  den  meistern  aufge- 
wandten kunstmittel  sprechen,  von  den  schülern  ist  als  höchste 
leistuug  auf  diesem  gebiete  mit  recht  eine  kurze,  rein  sachliche  be- 
schreibung  eines  durchgesprochenen  bildwerkes  nach  des  Verfassers 
und  Baumeisters  ansieht  zu  verlangen. 

Um  die  richtige  auswahl  unter  den  antiken  bildwerken  zu  treffen, 
empfiehlt  der  Verfasser  die  in  Menges  feinführung  in  die  antike  kunst' 
aufgestellten  grundsätze,  der  architektur  weist  er  im  gegensatz  zu 
A.  Conze  nur  eine  nebenrolle  im  kunstunterricht  zu.  er  verwirft 
daher  mit  recht  die  forderung  Bruno  Meyers,  A.  Springers  und 
Knokes,  dasz  die  lehre  von  den  baustilen  mittelpunkt  des  kunst- 
unterriebts  sein  solle,  und  zeigt  dem  lehrer,  insbesondere  dem  der 
geschichte ,  des  griechischen  oder  deutschen  in  secunda  und  prima, 
wie  er  in  zweckmäsziger  weise  am  anfang  oder  schlusz  der  Unter- 
richtsstunden sich  über  die  ausgehängten  Photographien  mit  den 
schülern  unterhalten  könne. 

Um  zur  anlegung  einer  für  die  schüler  bestimmten  kunstsamm- 
lung  die  mittel  zu  gewinnen,  rät  der  Verfasser  sich  an  abiturienten 
um  gewährung  kleinerer  geldbeiträge,  an  städtische  oder  königliche 
behörden  um  pecuniäre  Unterstützung  des  Unternehmens  zu  wenden 
oder  erträge  öffentlicher  Vorträge  u.  a.  zu  dem  gedachten  zwecke  zu 
verwerten. 

Dresden.  Löschhorn. 


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ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜB  GYMNASIALPlDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT  AUSSCHLUSS  OKR  CLASSISCHBN  PHILOLOOIK 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  DR.  HERMANN  MASIUS. 


45. 

LEBENS-  UND  GLAUBENSANSICHTEN  DES  REISE- 
BESCHREIBERS  PAUSANIAS. 


Wer  den  Pausanias  einen  nachahmer  des  Herodot  in  spräche 
und  Ansichten  nennt,  hat  recht  und  unrecht,  er  hat  recht,  wenn  er 
mit  dem  worte  nachahmung  sagen  will,  der  reisebeschreiber  habe  in 
aus druck  und  anschauungen  manches  von  Herodot  entlehnt,  dabei 
aber  weder  in  jenem  noch  in  diesen  seine  Selbständigkeit  und  eigen- 
tümlich keit  aufgegeben;  er  hat  aber  unrecht,  wenn  er  ihn  in  ein 
sklavisches  abhängigkeitsverbältnis  zu  seinem  vorbilde  setzt,  denn 
wie  Pausanias  sich  mit  bewustsein  einen  eignen  kunstvollen  stil  ge- 
schaffen, der  wesentlich  verschieden  ist  von  dem  des  Herodot,  von 
dem  des  Thukydides,  so  sind  auch  seine  lebens-  und  glaubensansichten 
ihrem  kern  und  wesen  nach  nicht  ein  fremdes  gut,  das  er  mühsam 
und  auf  ganz  mechanischem  wege  sich  angeeignet,  etwa  um  damit 
seine  nüchternen  commentare  zu  würzen;  sie  sind  sein  eigenstes, 
mit  seiner  individualität  verwachsenes  eigen  tum. 

Betrachten  wir  zuerst  seine  politischen  ansichten. 

L 

Wenn  man  erwägt,  ein  wie  gewaltiger  unterschied  zwischen 
der  zeit  des  Pausanias  und  der  zeit  Herodots  obwaltet,  wie  im  lauf 
der  Jahrhunderte  das  verfassungsieben  der  Völker  durchweg  geändert, 
das  freie  Griechenland  längst  seiner  politischen  grösze,  seiner  frei- 
beit  verlustig  und  dem  römischen  weitreich  einverleibt  war,  wie 
allmählich  zugleich  mit  der  freiheit  das  bewustsein  aller  republika- 
nischen formen  erlosch  und  ein  allmächtiger  wille  die  weit  regierte, 
so  wird  es  begreiflich,  dasz  Pausanias  nicht  gleich  Herodot,  ein  be- 
geisterter lobredner  der  republikanischen  staatsform  und  politischen 
gleicbberechtigung  sein  konnte,    freilich  den  ausdruck  iayfopta 

N.jahrh.  f.  phil.a.  päd.  Il.mbt.  1S91  hfl.  10.  30 


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466  Lebens-  und  glaubensansichten  des  reisebeschreibers  Pausanias. 

finden  wir  auch  bei  ihm  \  nirgend  jedoch  eine  äuszerung  ähnlich  der 
Herodots,  dasz  sie  doch  eine  herliche  Sache  sei.*  wir  sehen  ihn  viel- 
mehr ungünstig  Uber  die  brjjiOKpaTia  urteilen  an  einer  stelle,  wo  er 
von  den  Epiroten  erzählt,  es  sei,  als  die  königsherschaft  bei  ihnen 
aufgehört,  die  menge  plötzlich  in  Übermut  und  ungehorsam  gegen 
die  behörden  verfallen  und  infolge  dessen  der  staat  eine  beute  der 
benachbarten  Illyrier  geworden,  ou  T<*P  TTU)  —  fährt  er  dann  fort  — 
brmoKpcrriav  icuev  äXXouc  f)  'Aenvaiouc  auErjcaviac  •  'AOrivaioi 
Yäp  rrporixöncav  iit\  iitfa  an*  aurflc  ■  cuve'cei  fäp  oweia  tö  'EXXtj- 
viköv  uTtepeßriXXovro  Kai  vö>oic  toic  Ka8€crr|KÖciv  dXdxicra  i^7T€i- 
Gouv.3  also  nur  der  staat  der  Athener  hat  nach  seiner  ansieht  infolge 
der  demokratie  sich  gedeihlich  entwickelt  und  hoch  emporgeschwun- 
gen, aber  auch  er  nur  auf  grund  einer  gröszeren  folgsamkeit  gegen 
die  bestehenden  Satzungen  und  einer  eignen  tieferen  einsieht,  welche 
Pausanias  seinen  bürgern  beilegt,  soweit  äuszert  er  sich  über  Ver- 
fassung. 

Völlige  zurückgezogenheit  von  politischer  Wirksamkeit  scheint 
ihm  ferner  weiser  und  wünschenswerter  als  eine  eifrige  teilnähme 
an  der  Staatsverwaltung.4  er  erzählt  die  Schicksale  des  Demosthenes  ; 
zweimal  verbannt  gab  er  sich  den  tod;  dabin  sei  dem  Demosthenes 
nur  sein  zu  groszes  wohlwollen  gegen  die  Athener  ausgeschlagen, 
es  scheine  ihm  daher  ein  wahres  wort,  dasz  ein  mann,  der  rücksichts- 
los auf  die  politik  sich  werfe  und  das  vertrauen  des  volkes  für  sicher 
halte,  nimmer  ein  gutes  ende  nehme:  Ar|)iOc9^V€i  )itv  f)  Trpöc  'AStj- 
vaiouc  ärav  euvoia  ic  toöto  ixibpr]cw  cu  bi  moi  XeX^xOai  boxet 
ävbpa  ätpeibüjc  darecövTa  ic  TToXndav  Kai  meid  frmcdjuevov  Td 
toö  br|jaou  nrjTTOTe  koXüjc  TeXeuirjcai.5  dagegen  findet  Isokrates 
seine  anerkennung ;  er  nennt  dessen  politische  enthaltsamkeit  ein 
sehr  verständiges  werk :  cwropov^craiov  öri  TroXueiac  dnexopevoe 
bi^ycive  Kai  Td  KOivd  ou  TToXu7TpaTMOVuJV.<  und  hat  nicht  ein  solches 
urteil  in  dem  geiste  der  zeit,  der  unser  schriftsteiler  angehört,  seine 
hinlängliche  motivierung? 

Gleich  wie  Herodot  ist  er  aber  ein  feind  der  gewaltherschaft, 
ein  feind  aller  derer,  die  sich  in  Staaten  von  freier  Verfassung  der 
tyrannis  mit  list  oder  gewalt  bemächtigt  haben,  wenigstens  läszt 
sich  dies  aus  dem  lobe  schlieszen ,  das  er  den  Unterdrückern  solcher 

1  z.  b.  II  19,2;  'Apreloi  dxe  iorfopiav  Kai  tö  aürövouov  äY<nrü>vT€C 
iK  iraAmxäTou  usw. 

*  t\  Icrrfopin.  üjc  Ict\  xP^ua  ciroubaiov  Her.  V  78. 
8  IV  35,  3. 

4  und  nicht  nur  die  zurückgezogenheit  vom  politischen  leben,  son- 
dern überhaupt  die  völlige  abkehr  von  dem  leben  und  treiben  der  men- 
schen, die  einsamkeit,  ist  nach  seiner  ansieht  die  bedingung  eines 
glücklichen  lebens.  Timon  allein  habe  eingesehen,  dasz  es  keinen 
andern  weg  zur  glückseligkeit  gebe,  als  wenn  man  die  andern  menschen 
fliehe:  uövoc  €l6ev  nn&^va  Tpöirov  eubaiuova  elvai  Y€vk6ai  TrXfjv  touc 
äMouc  (peOYOvra  ävepdmouc  I  30,  4. 

»  I  8,  4. 

•  I  18,  8. 


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Lebens-  und  glaubensansichten  des  reisebeschreibers  Pausanias.  467 


gewaltherscbaften  in  reicblicbem  masze  zollt.  Thrasybulos  gilt  ihm 
von  allen  namhaften  Athenern  als  der  vorzüglichste,  weil  er  die 
tyrannis  aufgehoben  und  frieden  und  freiheit  den  Athenern  wieder- 
geschenkt habe.7  über  Aratos,  der  die  Sikyonier  vom  tyrannen  be- 
freit und  die  republikanische  Verfassung,  das  tt  Tcou  7TO\iT€U€C9ai, 
hergestellt,  urteilt  er,  derselbe  habe  unter  den  Hellenen  seiner  zeit  die 
grösten  thaten  vollbracht.8  und  dem  spartanischen  konig  Pausanias 
rühmt  er  nach,  er  habe  nicht  runheiliger  mftnner  tyrannis  vermehren 
und  so  dem  spartanischen  volke  die  scheuszliche  scbmach  zuziehen 
wollen' :  urjb^  o\  fjpece ,  dvoriujv  dvbpwv  xupavviba  auEovra  im- 
CTrdcacGai  irj  CTTapirj  tö  aicxicrov  öveibujv.* 

Treffende  urteile  fällt  er  über  wesen  und  Charakter  einzelner 
hellenischer' Völkerschaften,  hellenischer  —  sage  ich;  denn  der  be- 
griff des  barbarenturas,  welcher  bei  Herodot  stets  in  so  scharfen 
gegensatz  zu  dem  begriff  des  Griechentums  tritt,  konnte  für  eine 
zeit,  wie  die  des  Pausanias,  nicht  mehr  seine  ursprüngliche  geltung 
haben,  der  reisebeschreiber  thut  daher  der  ßdpßapoi  in  ihrem  Ver- 
hältnis zu  den  "GXXrjvec  keine  erwähnung,  eine  einzige  stelle  aus- 
genommen, wo  die  anführung  und  beschreibung  des  äuszerst  kunstvoll 
gefertigten  sauromatischen  panzers  ihm  anlasz  gibt  zu  der  äusze- 
rung:  wer  auf  den  panzer  blicke,  der  müsse  den  barbaren,  was  die 
äuszeren  künste  betreffe,  nicht  weniger  Weisheit  zugestehen  als  die 
Hellenen  besitzen :  ic  toutöv  Tic  Ibwv  oubfcv  fjccov  toOc  ßctpßdpouc 
<pr|cei  coqpouc  de  rdc  xdxvac  elvai. 10 

Die  Griechen  scheinen  ihm  auszerordentlich  ehrliebend  und  be- 
sonders, wenn  es  die  ehre  der  götter  gelte,  nichts  weniger  als  filzig 
zu  sein  —  haben  sie  doch  für  ihre  bildsäulen  aus  Indien  und  Äthio- 
pien elfenbein  sich  herbeigeschafft:  cpiXÖTijjoi  ic  Td  MdXicrd  |iOi  Kai 
ic  GeOuv  Tipfjv  ou  ©eibuuXoi  xpnMdTWV  revecOai  boKoüciv  ol  °€XXr|- 
vec,  ok  fk  Ttapd  'Ivbüjv  rjY€TO  Kai  LI  AiGiomac  £Xe<pac  ic  TToinav 
dYaXudTUJV.11  —  Eine  gewisse  Vorliebe  verrät  er  —  und  auch  diese 
erinnert  uns  an  Herodot  —  für  den  Charakter  der  Athener,  dasz  er 
ihnen  eine  eigne  einsieht,  durch  welche  sie  über  allen  Hellenen  stehn, 
vindiciere  und  gröszere  politische  mäszigung  nachrühme,  ist  bereits 
erwähnt,  auszerdem  sind  es  zwei  eigenschaften,  die  er  an  ihnen  vor- 
nehmlich hervorhebt,  die  humanität  und  die  gottesfurcht:  toutoic 
—  sagt  er  —  ou  Td  ic  (piXav8pujmav  mövov  KaSecrnKev,  dXXd  Kai 
ic  Geouc  euceßeiv  dXXuuv  TiXeov.12  und  später  heiszt  es  im  rückblick 
auf  diese  äuszerung:  XdXeKiai  uoi  Kai  rrpöiepov  ujc  'AGrivaioic 

7  Tdqpoi  OpacußouXou  ävbpdc  tüjv  t€  öcTcpov  xal  ßcoi  irpö  aüroö 
TCTÖvaciv  'Aenvcuoic  XÖYipoi  -ra  irdvTa  äpicTou  —  Tupawiöa  yäp  Snaucev 
TUIV  TpldKOVTa  ku,\ouulviuv  usw.  1  29,  3. 

9  ripüjöv  icnv  'Apdxou  ^lificta  '€\Xr)viuv  ip-racajievou  xwv  lep*  £auTOÜ 
II  8,  2.    vgl.  §  3  CiKuiuvfoic  bi  än&bvjK&v  il  tcou  iroXnreüecBai. 

»  III  5,  2. 

10  I  21,  7. 
«  V  12  fin. 
»  I  17  in. 

30  • 


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468  Lebens-  und  glaubensansichten  des  reisebeschreibers  Pausanias. 

TiepiccÖTepöv  ti  f\  xoic  dXXoic  de  Td  OeTd  den  CT^oubf^c.,,  wie  ihre 
humanität  sich  ihm  unter  anderem  darin  zu  zeigen  scheint,  dasz  sie 
nicht  nur  freien  leuten,  sondern  auch  sklaven,  welche  sich  um  den 
Staat  Verdienste  erworben  haben,  die  ehre  des  öffentlichen  begräb- 
nisses  und  der  namensinschrift  gewahren  u,  so  ersieht  er  ihre  auszer- 
ordentliche  frömmigkeit  einerseits  aus  ihren  zahlreichen  und  zum 
teil  sehr  kostbaren  anstalten  für  die  götterverehrung,  anderseits  be- 
sonders aus  dem  umstände,  dasz  bei  ihnen  mehr  götter  verehrt  wer- 
den als  anderwärts,  wie  sie  denn  z.  b.  dem  Eleos,  diesem  'auf  das 
menschliche  leben  und  den  Umschwung  der  dinge  so  einfluszreichen' 
gott,  allein  von  allen  Hellenen  Verehrung  zollen.15 

Die  Lacedämonier  stellt  er  hinsichtlich  der  ängstlichen  beach- 
tung  himmlischer  anzeichen,  biocrjjieiai,  den  Athenern  gleich:  Aa»c€- 
oainovtoic  ndXicxa  'GXXtjvujv,  dicauTwc  Kai  'AOrjvaioic  bei^a  ai 
bioameicu  TrapeixovTo";  keineswegs  aber  hinsichtlich  des  streben s 
nach  humanität  und  geistesbildung.  sie  scheinen  ihm  am  wenigsten 
von  allen  menschen  empfänglich  zu  sein  für  die  poesie  und  das  lob, 
das  von  ihr  ausgeht:  öokoöci  bk  01  drap-nuicn  u°l  irouiciv  Kai 
frraivov  töv  dir'  autfle  fixicra  dvGpumiuv  öaupdcai. 17 

An  die  politischen  ansichten  des  Pausanias  knüpfen  wir  noch 
einige  seiner  allgemeinen  lebensanschauungen  an,  und  die  xuxn  soll 
uns  dann  auf  die  betrachtung  seiner  moralischen  und  religiösen  an- 
sichten überführen. 

II. 

Unter  den  vielen  leidensebaften ,  die  der  natur  des  menschen 
innewohnen  und  seinen  sinn  zum  unrecht  verleiten,  schreibt  er  der 
gewinnsucht  die  gröste  macht  zu:  dv  xrj  dvGpcuTrivrj  qpucei  Kai  äXXiuv 
dvövTUJV  dm'  olc  ßiaZö^eöa  äbiKOi  vevdcGai,  rd  Kdpbr)  neYiCTriv 
dvdYKrjv  dx€i.,s  einem  menschen,  der  immer  nur  dem  gewinne  nach- 
jagt, gelte  das  göttliche  weniger  als  der  erwerb:  dvGpumuj  droo- 
püjvn  de  K€pboc  Td  GeTa  uorepov  XrinndTUiv.1"  dasz  aber  auch  eine 
andere  leidenschaft,  die  liebe,  göttliche  und  menschliche  Satzungen 
zu  verletzen  vermöge  und  darum  den  menschen  die  quelle  vielen 
Unglücks  werde20,  bestätigt  sich  ihm  durch  zahlreiche  beispiele.  so 
nimmt  Lysimachos  in  spätem  alter  die  Arsinoe  zur  gemahlin.  diese 
bewegt  ihn  in  den  tod  seines  sohnes  aus  früherer  ehe,  des  Agathokles, 


"  I  24,  3. 

14  I  29,  6:  t^v  bk  dpa  xal  6r)uou  Mxaiov  ßouXeuna,  el  bt\  xal  'A9rj- 
valoi  nex^öocav  boüXoic  bn,uoc(a  Taq>f)vai  Kai  Td  övönaTa  £YYPa(P^vcu- 

15  I  17  in.  '€X^ou  ßtuuöc,  tp  udXicxa  Gcüöv  etc  dvGpi/jmvov  ßlov  xal 
ucxaßoXdc  TrpaYudTiuv  öti  Ukd^Xiuoc,  uövoi  nude  '6XXnvu>v  Wuouci. 

>•  III  5,  8. 
17  III  8,  l. 
»  IV  4,  4. 
«•  III  23,  2. 

10  VII  19,2:  u^recTiv  £pum  xal  dv8pumu)v  cuTX^al  v6|uina  xal  äva- 
CTp^vpai  6€ü>v  xiudc.  und  I  10,  3:  tiiOüuciv  dv6pumoic  <pü€c8ai  Öl'  £purra 
TroXXal  cujiq>opa(. 


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Lebens-  und  glaubensanBichten  des  reisebeschreibers  Pausanias.  469 

zu  willigen.  Agathokles  wird  ermordet;  seine  gattin  entflieht  zu 
Seleukos.  es  kommt  zwischen  Seleukos  und  Lysimacbos  zu  einer 
Schlacht,  in  welcher  der  letztere  fällt. w  —  So  ist  es  ebenfalls  die 
liebe ,  welche  den  ursprünglichen  anlasz  zu  dem  verrat  von  Ithome 
gab."  —  So  geschieht  es  aus  liebe  zu  Melanippos ,  dasz  Komaitho, 
die  priesterin,  der  unbefleckten  jungfrau  heiligtum  zu  entweihen 
wagt  und  unheil  über  sich  selbst  und  über  das  land  heraufführt." 

So  grosz  ist  diese  im  menschen  wohnende  macht  der  leiden- 
schaft.  doch  kennt  Pausanias  eine  noch  gröszere,  welche  auszer  und 
über  dem  menschen  waltet  —  die  macht  der  XUXH-  er  weisz ,  dasz 
die  Tyche  im  menschenleben  eine  bedeutende  rolle  spielt,  dasz  aller 
Wechsel  und  Umschwung,  zu  welchem  die  menschlichen  dinge  ihrer 
natur  nach  bestimmt  sind*1,  von  ihr  bewirkt  wird,  und  diesen  Wechsel 
drückt  er  mit  dem  begriffe  ort  uvöpujn eiai  ruxoti  *5  aus.  den  Wechsel- 
fällen  des  glücks  unterworfen,  musz  der  mensch  die  erfabrung  machen, 
dasz  es  oft  anders  kommt  als  er  gedacht  und  gewollt:  ou  irdvTa 
dvöpübmu  leXetiai  Kord  YvwjLirrv. w  dies  ist  die  Tuxrj  irapaboEoc 
die  als  freundliche  oder  feindliche,  immer  jedoch  als  unvorher- 
gesehene, unerwartete  macht  über  den  menschen  kommt,  durch  sie 
wird  Aristomenes  aus  der  grübe,  wo  er  dem  sicheren  tode  verfallen 
schien,  glücklich  gerettet,  durch  sie  aber  wird  auch  Aratos  in  die 
notwendigkeit  versetzt  aus  dem  erbittertsten  feinde  der  Makedonier 
deren  bundesgenosse  zu  werden.*8  —  Wenn  diese  unvorhergesehene 
Tuxn  dem  menschen  als  ein  ungltick  kommt,  das  er  seinen  hand- 
lungen,  seinem  Charakter  nach  nicht  glaubt  verdient  zu  haben,  dann 
ermangelt  er  am  meisten  der  mäszigung:  TremuKaci  be  ttujc  o\  öv- 
epumoi  näXicxa  äicpctToic  tyw  Tipöc  Td  irap'  d£iav.29 

Ist  nun  aber  die  Tuxn  wirklich  so  ungerecht,  wie  sie  dem  men- 
schen bisweilen  erscheint?  unser  reisebeschreiber  antwortet  'keines- 
wegs', wenn  er  bei  der  gelegenheit,  da  er  die  gottesfurcht  der  Athener 
lobt,  ttuszert,  es  sei  ganz  offenbar,  dasz  denen,  die  mehr  frömmig- 
keit  als  die  andern  bewiesen,  in  entsprechender  weise  auch  die  tuxh 
Xpr)CTr| ,  das  gute  glück ,  zur  seite  stehe :  br)\d  T€  dvapYwc ,  öcoic 
irA^ov  ti  £ripuuv  euceßeCac  jli^tcctiv,  Tcöv  cqpict  Ttctpov  tOxtic 
Xpr)CTnc30;  wenn  er  ferner  an  dem  beispiel  der  Komaitho  darthut, 
wie  der  unheiligkeit  unausbleiblich  auch  unheil  folge,  ist  es  dann 
nicht  unleugbar,  dasz  seine  Vorstellung  von  der  Tyche  in  engem  zu- 


«  I  10,  3. 
n  IV  20,  3. 
"  VII  19,  2. 
"  IV  29,  3. 
"  IV  36,  4. 
«•  II  8  fin. 
"  IV  18,  4. 
W  II  8  fin. 
*»  IV  11,  2. 

30  der  aasdruck  Tüxi  XP^I^H  findet  sich  auch  IV  35,  3:  Tüxnc  u^v 
Xpr)cxf)c  cVvcko  Kai  biä  AauirpÖTTyra  SpfOuv. 


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470  Lebens-  und  glaubensansichten  des  reisebeschreibers  Pausanias. 

sammenhange  mit  seinen  religiösen  und  moralischen  ansichten  steht, 
dasz  er  sie  nicht  als  einen  blinden  zu  fall,  sondern  als  eine  gerechte 
Schicksalsfügung  und  götterschickung  betrachtet?  so  geht  der  be- 
griff der  Tuxn  in  den  der  biKrj  über. 

Pausanias  schildert  die  greuelthaten  des  königs  Philippoa :  wie 
er  durch  die  maske  der  freundschaft  die  einfluszreichsten  der  Phil- 
hellenen ,  den  Aratos ,  den  Eurykleides ,  den  Mikon  heranlockt  und 
die  arglosen  durch  gift  aus  dem  wege  räumt;  wie  dann  sein  jüngerer 
söhn ,  in  des  vaters  fusztapfen  tretend ,  den  älteren  bruder  vergiftet 
und  den  vater  selbst  der  kummer  darüber  verzehrt:  rrapebriXujca 
be  idbe,  heiszt  es  zum  schlusz,  dmbüjv  ic  to  'Hciöbou  cüv  0etu 
7T€iroirjja^vov  töv  dir*  äXXov  ßouXeüovra  äbiica  de  auTÖv  TTpüjTov 
irp^TT€iv.sl  diese  sentenz  des  dichters,  welche  nach  Pausanias  meinung 
ein  gott  ihm  eingegeben,  stellt  das  wesen  der  bitcr)  dar.  das  unrecht, 
das  man  gegen  andere  ersinnt,  musz  gegen  den  Urheber  selbst  sich 
wenden,  von  Cleopatra,  welche  aus  hasz  gegen  ihren  ältesten  söhn 
Ptolemais  dem  jüngeren  den  thron  von  Ägypten  verschafft,  von 
diesem  aber  ermordet  wird ,  sagt  daher  unser  schriftsteiler,  die  bitcr) 
sei  über  sie  gekommen,  KXeoTTcrrpav  TrepirjXSev  f|  bucrj";  und  des 
nemlichen  ausdrucks  bedient  er  sich  bei  der  erzählung  vom  tode  des 
Skiron ,  den  Theseus  in  eben  dasselbe  meer ,  in  welchem  jener  so 
vielen  fremden  den  tod  bereitet  hatte,  hinabwirft. " 

Wo  ein  direct  oder  indirect  gegen  die  gottheit  gerichtetes  ver- 
brechen begangen  ist,  da  folgt  notwendig  das  prjviya,  der  götter- 
zorn,  und  die  damit  verbundene  strafe,  wenn  daher  das  übermütige 
barbarenheer  bei  seiner  landung  auf  Marathon,  bevor  es  den  feind 
besiegt,  schon  Siegeszeichen  errichtet,  so  wird  es  von  dem  zorne  der 
Nemesis,  dieser  'allen  übermütigen  unerbittlichen'  gottheit,  welche 
bei  Marathon  ihren  tempel  hatte,  dafür  aufs  schwerste  betroffen.34 
noch  weiter  als  das  persische  heer  geht  in  seinem  übermute  Meno- 
phanes,  der  feldherr  des  Mithridates ;  er  verwüstet  Delphi  mit  feuer 
und  schwort,  er  wirft  das  bild  Apollons  Otto  üßpeujc  in  das  meer. 
wie  kann  ein  solcher  frevler  dem  zorn  des  gottes  entgehen?  tö 
Hr|vi|na  £k  toö  6eoö  bi€<pirrev  outc  Mnvorpdvrjc  oötc  autöc  MiÖpi- 
bdTr|C.  auch  auf  Mithridates  erstreckt  sich  also  der  götterzorn,  den 

31  II  9,  4. 
11  I  9,  3. 

83  I  44,  2.  —  Eiuen  ähnlichen  sinn  bat  der  ausdrnck  r)  NcoirroX^- 
jieioc  tCcic,  welchen  Pausanias  als  tö  iraöeiv  önolöv  Tic  Kai  fbpacc  er- 
klärt, so  sagt  er  von  den  Lacedämonicrn,  die  im  raessenischen  kriege 
zuerst  den  feind  durch  bestechung  seiner  bnndesgenossen  zu  bewältigen 
suchten,  später  jedoch,  da  der  persische  könig  dasselbe  cöcpiQia  gegen 
sie  anwandte,  ihrer  eroberungen  in  Asien  verlustig  giengen:  ti€pif)X6ev 
aüTOOc  f\  NeoTrxoX^ueioc  KaAouu^vn.  Tiac  IV  17,  3. 

34  Neu£c€ujc  knv  l€pöv  f\  Qewv  uäAiara  äv6pi£nroic  ößptcraic  £ctiv 
äTrapaixrjToc  •  boxe!  bi  xal  toTc  ätroßäciv  tc  MapaGujva  tüjv  ßapßdpuiv 
diravrfjcai  urjviua  tx.  ir\c  Ö€o0  Taurrjc  KaTaq>povr)cavT€c  y&p  cqpiav  Ip- 
ttoöujv  etvai  räc  'AGnvac  dXriv  Ai8ov  TTdpiov  ujc  Itc*  elprctcu^voic  t\fov 
£c  xpoTraiou  iro(nciv. 


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Lebens-  and  glaubensansichten  des  reiaebeschreibers  Pausanias.  471 

dessen  feldherr  heraufbeschworen,  wie  dieser  auf  seiner  rück  fahrt 
meuchlings  ermordet  wird,  so  bringt  jenen  der  gott  in  die  läge  sich 
selbst  zu  töten,  toutoic  —  endet  Pausanias  seine  Schilderung 
—  TOiaÖTCt  ÖTtT)VTTjC€V  dceßricaa. 85 

Indirect  auf  die  gottheit  bezügliche  vergehen  sind  gewaltthätig« 
keiten  gegen  personen,  die  unter  dem  besonderen  schütze  des  gottes 
stehen,  gewalttbätigkeiten  also  gegen  schutzflehende,  priester  und 
herolde.  auch  auf  ihnen  lastet  das  ^rjvijua.  so  sieht  Pausanias  Syllas 
schreckliche  krankheit  nicht  als  eine  folge  seiner  gegen  Athena  be- 
wiesenen grausamkeit,  sondern  als  iKeciou  nr|Viya  an,  da  er  den 
Aristion,  der  sich  in  das  heiligtum  der  Athena  geflüchtet  hatte, 
herausschleppen  und  ermorden  liesz.M  die  ephoren,  auf  deren  befehl 
die  verurteilten  Lacedämonier,  welche  sich  nach  Tainaron  in  Posei- 
dons schütz  begeben  hatten,  vom  altare  hin  weggerissen  und  mit  dem 
tode  bestraft  wurden,  ziehen  durch  diesen  frevel  den  Spartanern  den 
schweren  zorn  des  Poseidon  zu,  ihre  Stadt  wird  von  grund  aus  ver- 
nichtet :  CTTapTiöVraic  tv  ouöevl  Xöyiu  Ge^voic  touc  kfrac  dnrjv- 
tt)C€v  €k  TToceiowvoc  urivina,  Kai  ccpiav  ic  £baqpoc  tt|v  ttöXiv 
TTäcav  KcrreßaXev  6  Qeoc."  —  Weil  Hippotes  einen  Weissager  er- 
mordet, fällt  auf  ihn  und  das  dorische  heer  der  zorn  Apollons,  dessen 
beschwichtigung  erst  durch  opfer,  welche  man  dem  getöteten  (ndviic 
bringt,  bewirkt  wird.1"  —  Und  dasz  endlich  auch  gewaltthfttigkeiten 
gegen  die  geheiligte  person  des  herolds  den  zorn  der  götter  zur  folge 
haben,  sehen  wir  an  dem  beispiel  des  Anthemokritos.  'an  ihm'  — 
erzählt  unser  Schriftsteller  —  'haben  die  Megarenser  das  unheiligste 
werk  gethan;  denn  da  er  als  herold  kam,  auf  dasz  sie  in  zukunft 
nicht  das  heilige  land  bebauten,  bringen  sie  ihn  um.  und  wegen 
dieser  that  ruht  auf  ihnen  bis  auf  den  beutigen  tag  der  groll  der 
eleusinischen  göttinnen,  da  ja  auch  Hadrian  ihnen  allein  von  allen 
Hellenen  zu  keinem  gröszeren  gedeihen  verbalf."* 

Die  beigebrachten  beispiele  von  dem  göttlichen  nrjviua,  welche 
keineswegs  die  einzigen  sind,  vermehren  wir  nur  um  eins,  um  das 
beispiel  von  dem  Spartaner  Kleomenes;  auf  ihn  nemlich  ist  nach 
der  meinung  des  reisebeschreibers  der  zorn  von  heroen  und  göttern 
zugleich  gefallen  —  xd  unviMaTct  £k  T€  fjpujujv  öjioö  Kai  6eu>v  ic 
TO  auTÖ  KXeofidvei  cuveXr|Xu8ÖTa  —  der  zorn  von  heroen,  weil  er 
den  hain  des  Argos  samt  den  darin  schütz  suchenden  Argeern  ver- 


35  III  23,  2  und  3. 

36  I  20, 4:  Ikcciou  unviya,  öxi  KaTa<puY6vxa  kc  t6  xf\c  'Aenväc  Updv 
dn€KT€iv€v  dirocirdcac  'ApiCTiwva. 

"  IV  24,  2. 
»J  III  13,  8. 

*  I  86,  3:  ic  toOtov  McrapcOdv  icxiv  SpYov  dvc^it&raTov  oi  KfauKa 

4A6ÖVTa   ÜJC   M>1   TOO   XOITTOO  TT1V   %Ü)paV  €TT€pTd2:0lVT0  KTClvOUClV  'Av9€- 

uÖKprrov  Kai  ccpici  TaöTa  öpdcaci  irapau^vei  Kai  ic  xö&e  un.viua  £k 
toIv  6colv*  ok  ovbt  'Aöpiavöc  ö  ßaciXcuc,  dicre  Kai  £irauEn6f)vai  jnövotc 
€TrnpK6C€v  '€XXnvu>v. 


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472  Lebens-  und  glaubensansichten  des  reisebeschreibers  Pausanias. 


branut,  den  zorn  von  göttern ,  weil  er  einen  den  eleusischen  göttern 
geweihten  ort  verheert  und  das  delphische  orakel  bestochen  hatte.40 

Mit  diesen  religiösen  ansichten  des  Pausanias  steht  seine  Vor- 
stellung von  dem  Schicksal  im  engen  Zusammenhang,  wir  haben 
oben  erwähnt,  er  lasse  den  Aristomenes  aus  der  grübe  Kaiadas  durch 
die  ivxr\  gerettet  werden,  wer  aber  ist  es  anders ,  der  diese  Tuxn 
herauffuhrt,  als  der  baifjwv,  das  walten  des  Schicksals?  so  sagt  er 
denn  auch  an  der  nemlichen  stelle:  l^eXXe  be  dpa  Kai  aüröGev  6 
baijiuuv  ££obov  ä7T09cuveiv  aurif».41 

Wenden  wir  uns  nun  zu  einer  näheren  betrachtung  dieses  be- 
griffes ! 

m. 

Für  den  begriff  des  Schicksals  gebraucht  der  reisebeschreiber 
mannigfache  bezeichnungen ;  f|  TT€Trpuuy€*vr|>  h  MOipa  und  tö  XP*wv 
nennt  er  es,  wenn  er  seine  notwendigkeit,  6  bcuuujv  und  tö  baiuö- 
viov,  wenn  er  sein  walten  bezeichnen  will,  wie  seine  auf  das  Schicksal 
bezüglichen  ausdrücke  oft  an  Herodot  anklingen 42,  so  stimmen  auch 
seine  ansichten  Über  dasselbe  meist  mit  den  ansichten  Herodots 
überein.  ir\v  Tr€7Tpuuji^vr|V  noipctv  —  sagt  Herodot  —  abuvoTCt 
ddiv  drroopuTeeiv4'  und  an  einem  andern  orte:  öti  bei  YevecOdi  Ik 
toö  6eoö  d|ir|xavov  dnoTpe'ujai  dvGpumiu.44  Pausanias  urgiert  eben- 
falls diesen  begriff  der  unabwendbarkeit;  es  gebe  für  den  menschen 
kein  mittel,  dem,  was  der  gott  verhängt,  aus  dem  wege  zu  gehen: 
oubek  TTÖpoc  dcxlv  dvGpuuTriy  Trapaßfjvai  tö  Ka6fjicov  Ik  toö  Öeoö.4* 
eine  stelle,  welche  mit  dieser  ansieht  unseres  Schriftstellers  in  schein- 
barem widersprach  steht,  dient  ihr  bei  näherer  betrachtung  vielmehr 
zur  bestätigung.  die  einnähme  Ei  ras  ist  vom  Schicksal  bestimmt; 
die  Messenier,  männer  und  weiber,  kämpfen  mit  so  verzweifeltem 
mute,  dasz  sie  das  Verhängnis  hätten  abwenden  können,  wenn  nicht 
der  gott  durch  unaufhörlichen  regen,  durch  häufigen  blitz  und  donner 
sie  erschreckt  und  entmutigt  hätte  —  ü)CT€  xetv  TrapeXGeiv  n,buvr|- 
Gncav  tö  TieTrpujjuevov  *  dXXd  ö  Geöc  tö  übwp  enrprarev  dGpöov 
uäXXov  neTd  icxupoö  tujv  ßpovTwv  UJÖcpou  Ka\  touc  öcpGaXuoüc 
auTuiv  evavTiaic  tcuc  dcrpaTraTc  e&TtXnTTe.46  was  kann  diese  stelle 
anderes  sagen  als :  die  Messenier  hätten  das  ihnen  bestimmte  Schicksal 
abwenden  können,  hätte  nicht  eben  die  göttliche  macht,  die  es  ihnen 
bestimmt  hatte,  sie  daran  gehindert;  sie  hätten  es  abwenden  können, 
wäre  es  überhaupt  abwendbar  gewesen ;  ihr  heldenmut  freilich  hatte 


40  III  4,  5. 

41  IV  18,  4. 

«*  ich  meine  ausdrücke  wie  £n£Xa߀  tö  XP*wv,  KCtxeXaße  tö  ircirpiü- 
u£vov  u.  ä. 
«»  I  91. 
««  IX  166,  3. 
«  I  5,  4. 
«  IV  21,  4. 


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Lebens-  und  glaubensansichten  des  reisebeschreibers  Pausanias.  473 

ein  besseres  Schicksal  verdient,  doch  muste  er  an  der  unabwendbar- 
keit  des  einmal  bestimmten  Verhängnisses  scheitern. 

Die  geheimnisvollen  wege  des  Schicksals  sind  dem  sterblichen 
oft  verborgen,  'wenn  ein  mensch  sich  zu  einer  uneigennützigen  that 
entschlieszt,  so  verhüllt  die  TreTTpirnj^vri  nicht  selten  den  andern 
seine  edlen  motive,  wie  der  schlämm  des  flusses  die  steinchen  tief 
im  gründe  verbirgt.'  dieses  ist  meiner  ansieht  nach  der  gedanke, 
dem  Pausanias  folgenden  ausdruck  gibt :  tu  b€  civOpuuTiuu v  Kai  oux 
f^Ktcia  tö  TrpöGuuov  f)  TTeirpiu^vri  Korrä  rauid  dTUKpumei  Kai  ei 
yjriqnba  dmXdßoi  IXuc  TrorajLioö.47 

Mit  Uerodot  teilt  er  auch  die  Vorstellung  von  dem  neide  des 
bcujiöviov.  als  manner ,  die  unter  diesem  neide  und  der  misgunst 
der  götter  zu  leiden  hatten,  erwähnt  er  den  Demosthenes  und  Homer, 
diesen  habe,  nachdem  er  erblindet,  drückende  armut  auf  der  ganzen 
erde  als  bettler  umhergetrieben,  während  jener  in  spätem  alter  noch 
die  bitterkeit  der  Verbannung  kosten  und  auf  so  gewaltsame  art  hat 
endigen  müssen :  Kai  uoi  tö  baiuöviov  —  sagt  er  —  bei£ai  udXicra 
inX  toutou  (toO  An.uoc8€vouc)  ookei  Kai  'Oun.pou  irpöiepov  ibc 
ein,  ßdcKavov  ci  bf)  "Ourjpov  uev  Trpobieq>6apu^vov  touc  öcpBaX- 
Hotic  im  tocoutw  koklu  kokov  beüiepov  irevia  m&ouca  im  Tiäcav 
-friv  TTTiuxeOovTa  ffl-ev  Aruioce^vei  bi  eputne  t€  cuv^irecev  iv  rnpa 
Aaßeiv  treipav  xai  6  Gdvatoc  iilveio  outuj  ßiaioc.48  —  Es  fragt 
sich  schlieszlicb,  in  welchem  Verhältnis  sich  Pausanias  die  götter  zu 
dieser  uoipa  denke,  einigen  aufschlusz  hierüber  gibt  die  stelle ,  wo 
er  ein  bild  des  Zeus,  über  dessen  haupt  die  heroen  und  moiren 
schweben,  erwähnt  und  deutend  hinzufügt:  bf|\a  be  Trdci  Tnv  TTe- 
Tcpuju^vriv  uövuj  oi  TrciGecOai/9  an  einer  andern  stelle"0  erklärt  er 
den  ausdruck  Moipcrf da ,  den  er  als  aufschrift  auf  einem  altar  ge- 
funden, für  ein  bei  wort  des  Zeus,  weil  dieser  die  menschlichen 
Schicksale  kenne,  welche  die  moiren  verleihen  und  alles,  was  den 
sterblichen  nicht  bestimmt  ist:  bfjXa  oüv  textv  ^mKXrjciv  eivai 
Aiöc,  öc  Td  dvGpüJTrujv  olbev,  Öca  biböaciv  al  Moöcai  Kai  öca  uf| 
TT6TrpujTöi  cqpici.  also  Zeus  allein  ist  der  poTpa  nicht  unterworfen, 
vielmehr  ist  er  lenker  des  Schicksals,  von  welchem  die  übrigen  alle 
—  götter  wie  menschen  —  gelenkt  werden. 

ANHANG. 

Die  naturanschauungen  des  Pausanias. 

Nur  wenig  läszt  sich  über  die  naturanschauungen  des  Pausanias 
sagen,  eine  ansieht  über  die  beschaffenheit  der  einzelnen  weltkörper 
und  ihr  Verhältnis  äuszert  er  nirgends,   es  sind  merkwürdige  oder 


n  IV  19,  4. 
«'  II  33,  3. 
«»  I  40,  3. 
*  V  16,  4. 


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474  Lebens-  und  glaubensansichten  des  reisebeschreibers  Pausanias. 

groszartige  naturphänomene,  es  sind  wunderbare  gebilde  in  der  tier- 
und pflanzenweit,  für  die  er  ein  besonderes  interesse  zeigt  und  deren 
erwähnung  ihn  wohl  zu  allgemeineren  betrachtungen  veranlagt. 

So  knüpft  er  an  die  beschreibung  des  indischen  tigers,  wie  sie 
ihm  Ktesias  bot,  die  betrachtung,  dasz,  wer  bis  zu  den  äuszersten 
grenzen  Libyens,  Indiens  oder  Arabiens  gehen  wollte,  um  dort  all 
die  tiere ,  welche  in  Hellas  sind ,  zu  finden ,  manche  von  ihnen  gar 
nicht,  manche  in  ganz  anderer  gestalt  antreffen  würde,  denn  die 
beschallen huit  des  klimas  und  des  landes  erzeuge  ja  nicht  nur  unter 
den  menschen,  sondern  im  ganzen  naturreich  bedeutende  unterschiede 
der  färbe  und  der  gestaltung:  bOKÜJ  bk  €1  Kai  Aißürjc  Tic  f\  Trjc'lvbuiv 
'Apäßuuv  v\c  dTrepxoiTO  id  IcxaTa  dGeXiuv  Grjpia  ouöca  Ttap* 
"EXXrjciv  d£eupeiv  xd  fifev  ovbk  dpxrjv  auTÖv  cupricciv,  id  bk  ou 
xaxd  xauTd  Ix^iv  cpaveicGai  oi*  ou  rdp  bi\  ävGpujTroc  uövov  öuoö 
toi  äipi  Kai  ttJ  rr)  biaqpöpoic  oua  bidqpopov  KTäTai  Kai  to  eiboc 
dXXd  Kai  id  Xomd  tö  av>TÖ  dv  Ttdcxoi  touto  (IX  21,  4).  so  seien 
die  Aspissch langen  in  Ägypten  und  Libyen  von  derselben  färbe,  in 
Äthiopien  aber  gleich  den  menschen  schwarz.  —  Daher  soll  jeder, 
wo  er  von  seltenen  und  befremdlichen  naturerscheinungen  vernimmt, 
dem  gerüchte  weder  zu  bereitwillig  beistimmen  noch  mit  völligem 
mistrauen  begegnen  —  outuj  xpn  Trdvia  Tivd  jur|T€  diubpouov  ttjv 
fVUJ^r]V  |nr)T€  dmcxiuc  Ix*™  &  *d  CTravituiepa.  dies  ist  überall  die 
maxime  des  reisebeschreibers.  wo  ihn  die  eigne  erfahrung,  der  eigne 
anblick  nicht  überzeugt  hat,  glaubt  er  an  merkwürdige  naturgebilde 
nur  dann ,  wenn  die  analogie  ihm  für  die  möglichkeit  ihrer  existenz 
spricht,  wenn  Ktesias  ihm  den  tiger  als  ein  ungetüm,  das  in  jedem 
backen  drei  reihen  zäbne  und  auf  der  spitze  des  Schwanzes  pfeil- 
artige  stacheln  habe,  beschreibt,  so  hält  er  diese  beschreibung  für 
unwahr,   denn  wo  hätte  er  von  einem  ähnlichen  tier  gehört,  ein 
ähnliches  monstrum  gesehen?  fein  genug  erklärt  er  für  den  grund 
der  falschen  Vorstellung  von  jenem  tiere  die  furcht,  welche  die  Inder 
vor  ihm  empfanden :  Taurrjv  oük  äXrjGr]  ttjv  opn^riv  oi  'Ivboi  b€£a- 
c0ai  boKoöci  yoi  irap*  dXXr)Xujv  uttö  toö  dTav  Ic  t6  Gnpiov  bei- 
juaTOC.  —  Wenn  er  dagegen  von  geflügelten  schlangen  hört,  so  glaubt 
er,  hat  er  gleich  keine  solche  gesehen,  dennoch  an  ihre  existenz,  weil 
er  ein  analoges  tier,  einen  skorpion  mit  heuschreckenartigen  flügeln, 
gesehen  hat:  direi  toi  ko\  £yuj  Tmpurroüc  öqxic  ou  Geacduevoc 
TreiGoMai,  biön  dvr)p  OpuH  rjYaYev  de  'Iwviav  CKOpnlov  xaic  dxpiciv 
öuoiÖTaia  7TT€pd  Ixovxa. 

Das  göttliche  walten  offenbart  sich  nach  der  anschauung  des 
Pausanias  in  der  natur  ganz  in  derselben  weise  wie  in  dem  menseben- 
leben,  denn  wie  sonst  überall  pflegt  der  gott  auch  bei  ungewöhn- 
lichen naturereignissen  mahnende  zeichen  vorauszusenden:  Trpocrj- 
jiaiveiv  Kard  Td  auid  ibe  dTrinav  €iuj0€.  er  kündet  erdbeben  durch 
häufigen  regen  oder  auffallende  dürre,  durch  heftige  stürme  oder 
feurige  Sternschnuppen,  durch  auffallende  bildungen  der  gestirne 
und  andere  Vorzeichen  an,  und  es  ist  als  ein  beweis  seines  furcht- 


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Über  die  m  et  ho  de  der  griechischen  schullectüre  in  prima.  475 


baren  zornes  anzusehen,  wenn  diese  vorboten  —  wie  bei  dem  erd- 
beben  von  Teos  —  fehlen :  xd  juev  ouv  dXXct  im  xoTc  ce icfio ic  irpo- 
ccrjucuvcv  6  Geöc  Kctxd  xd  auxd  tue  ^ttittov  cTwee*  f\  Tdp  dTropßpiai 
cuvcxeic  f|  auxMOi  Trpö  xüjv  ceicutliv  cuußcuvouciv  im  xpövov 
irXeiova  .  .  dXXa  xe  TroXXd  ö  Geöc  im  xoic  ßiatoic  xüjv  ccicm&v 
^Xei  irpobeiKVuceai  (VIII  24,  5.  6). 

Gümbinnen.  Adolf  Bieder. 


46. 

ÜBER  DIE  METHODE 
DER  GRIECHISCHEN  SCHULLECTÜRE  IN  PRIMA. 

Vortrag  gehalten  in  der  altclassischen  abteilung  der  ersten  Versammlung 
des  sächsischen  gymnasiallehrervereins  im  april  1891. 


M.  h.  h.!  in  den  unser  volk  bewegenden  erörterungen ,  die  in 
den  beiden  letzten  Jahrzehnten  geführt  worden  sind  und  geführt 
werden  über  die  frage,  ob  unsere  gymnasien  den  an  sie  gestellten 
anforderungen  noch  genügen,  bildet  einen  hauptangriffspunkt  der 
griechische  Unterricht  und  die  leetüre  der  griechischen  schriftsteiler; 
viele  der  gegner  des  gymnasiums  reden  von  der  Unfruchtbarkeit 
dieses  Unterrichts  wie  von  einer  feststehenden  thatsache.  gestatten 
Sie  mir  die  hauptsächlichsten  ausstellungen,  die  gegen  den  betrieb 
dieses  Unterrichts  erhoben  wurden,  kurz  zu  besprechen,  um  die  frage 
daran  zu  knüpfen ,  ob  in  ihnen  etwa  berechtigte  vorwürfe  enthalten 
sind ,  und  ob  wir  vielleicht  gewinn  aus  ihnen  zu  ziehen  vermögen 
nach  dem  Spruche: 

Teuer  ist  mir  der  freund ,  doch  auch  den  feind  kann  ich  nützen: 
zeigt  mir  der  freund,  was  ich  kann,  lehrt  mich  der  feind,  was  ich  soll. 

Unsere  sächsische  lehr-  und  Prüfungsordnung  für  die  gymnasien 
vom  8  juli  1882  sagt:  'der  Unterricht  in  den  altclassischen  sprachen, 
lateinisch  und  griechisch,  ist  es,  welcher  den  gymnasien  ihr  eigen- 
tümliches und  unterscheidendes  gepräge  im  vergleiche  mit  den  übri- 
gen höheren  Unterrichtsanstalten  gibt,  ihre  gründliche  erlernung 
bleibt  daher  hauptaufgabe  der  gymnasien  und  sie  bilden  den  mittel- 
punkt  des  gymnasialunterrichts.'  diesem  Unterricht  fällt  als  haupt- 
aufgabe zu  in  den  geist  und  das  leben  des  classischen  altertums  ein- 
zuführen, im  besondern  bezweckt  nach  der  lehr-  nnd  Prüfungsordnung 
rdie  erlernung  der  griechischen  spräche  neben  der  allgemeinen  geisti- 
gen gymnastik  durch  den  altclassischen  Sprachunterricht  die  hebung 
der  geistigen  schätze  und  bildungsmittel,  welche  in  der  classischen 
hinterlassenschaft  der  Griechen  enthalten  sind',  wenn  hier  noch  ein 
doppelter  zweck  des  griechischen  Unterrichts  genannt  ist,  so  hat  in 
den  jähren  seit  dem  erscheinen  der  lehr-  und  Prüfungsordnung  ein 
zurücktreten  des  ersten  hinter  dem  zweiten,  des  formalen  hinter  dem 


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476    Über  die  methode  der  griechischen  schullectüre  in  prima. 


inhaltlichen ,  stattgefunden,  das  hohe  kgl.  ministerium  hat  seitdem 
die  sächsischen  gymnasien  zu  verschiedenen  malen ,  namentlich  in 
der  generalverordnung  vom  5  juli  1890  daraufhingewiesen,  dasz 
'der  Schwerpunkt  des  griechischen  Unterrichts  auf  der  obersten  stufe 
noch  weiter  als  bisher  von  der  formalen  seite  nach  der  inhaltlichen 
gerückt  werden  soll  in  erfüllung  einer  forderung,  welche  von  Jahr- 
zehnt zu  jahrzehnt  gebieterischer  an  das  gymnasium  herantritt', 
völlig  im  einklang  mit  dieser  auffassung  haben  sich  die  mitglieder 
der  Berliner  schulconferenz  im  december  vorigen  jahres  ausgespro- 
chen, der  ministerialcommissar  geheimrat  Stauder  formulierte  die 
beiden  ziele  des  lateinischen  und  griechischen  Unterrichts  so  (s.  210) : 
das  lehrziel  'ist  für  das  lateinische:  logische,  historische  Schulung, 
verbunden  mit  gründlicher  lectüre,  für  das  griechische  ein  eindringen- 
des sachliches  Verständnis  der  für  die  menschheit  und  unsere  nation 
wichtigsten  griechischen  classiker'.  von  keinem  der  mitglieder  der 
conferenz,  mochte  seine  Stellung  diesem  Unterrichtszweige  gegenüber 
die  des  angreift,  rs  oder  des  Verteidigers  sein,  ist  ausgesprochen  wor- 
den, dasz  die  gymnasien  aus  irgend  einem  andern  gründe  griechisch 
zu  lehren  hätten,  als  um  die  kenntnis  der  griechischen  litteratur  und 
damit  des  griechischen  altertums  zu  ermitteln,  diese  einheitlichkeit 
und  einfachheit  des  Zweckes  und  zieles  beim  griechischen  Unterricht 
ist  es  gewesen,  die  mich  bewogen  hat  die  folgenden  ausführungen 
nur  an  das  lesen  der  griechischen  Schriftsteller  anzuknüpfen  und 
den  lateinischen  Unterricht  und  die  lateinische  lectüre,  wo  vieles  an- 
ders liegt,  nicht  mit  unter  dem  gleichen  gesichtspunkt  zu  behandeln, 
dasz  manches,  was  von  der  griechischen  lectüre  zu  sagen  ist,  von 
der  lateinischen  in  gleichem  masze  gilt,  wird  Ihnen  nicht  entgehen, 
auszerdem  habe  ich  bei  meinen  bemerkungen  Uber  die  behandlung 
der  griechischen  lectüre  an  die  classen  vornehmlich  gedacht,  in 
denen  die  grammatikalische  erlernung  der  spräche  als  für  die  schule 
abgeschlossen  betrachtet  werden  soll,  also  an  die  beiden  primen. 
für  die  secunden  werden  diejenigen  einschränkungen.zu  machen  sein, 
die  sich  aus  dem  lehrplan  und  dem  geistigen  stand  dieser  classen 
von  selbst  ergeben. 

Bei  dem  genannten  zweck  des  griechischen  unterrichte  würden 
die  gegner  seines  gymnasialen  betriebes  den  wuchtigsten,  ja  geradezu 
vernichtenden  schlag  gegen  ihn  führen  können,  wenn  es  ihnen  ge- 
länge nachzuweisen  oder  wenigstens  glaublich  zu  machen ,  dasz  die 
griechische  litteratur  geringwertig  und  ihr  Studium  für  die  gymna- 
siasten  bedeutungslos  oder  ungeeignet  sei.  aber  von  dieser  behaup- 
tung,  mag  sie  früher  auch  einmal  in  der  hitze  des  gefechts  gewagt 
worden  sein,  hört  man  nichts  mehr:  in  der  Wertschätzung  der  grie- 
chischen litteratur  und  in  der  anerkennung  ihrer  bedeutung  für  die 
höhere  bildung  besteht  eine  geradezu  erstaunliche  Übereinstimmung 
der  meinungen  auch  in  den  reihen  derer,  die  unser  gymnasium,  wie 
es  heute  ist,  heftig  angreifen,  prof.  Virchow  äuszerte  sich  in  der 
schulconferenz  über  den  altclassischen  Unterricht  in  den  gymnasien 


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Über  die  methode  der  griechischen  achullectüre  in  prima.  477 

sehr  abfällig,  er  sagte  (s.  122):  'die  altsprachlichen  Studien  laufen 
darauf  hinaus,  dasz  der  einzelne  damit  wenig  anfangen  kann,  dasz 
er  sich  nicht  einmal  darüber  klar  wird,  was  er  eigentlich  damit 
machen  soll';  dasz  er  aber  nicht  die  altclassischen  Studien  an  sich, 
sondern  nur  ihren  heutigen  betrieb  tadelnswert  findet,  sprach  er 
deutlich  an  einer  andern  stelle  aus  (abgeordnetensitzung  vom  6  märz 
1889,  8.  conf.  s.  167),  wo  er  sagte:  'ich  schwärme  nicht  für  die 
realschulen.  wenn  ich  ein  humanistisches  gymnasium  herstellen 
könnte,  welches  die  classischen  Studien  in  einer  solchen  Vollständig- 
keit leistete,  wie  sie  einstmals  geleistet  worden  sind  auf  unsern  ge- 
lehrten schulen,  so  dasz  die  sprachen  wirklich  gelernt,  die  alten  das- 
siker  mit  bequemlichkeit  gelesen  würden,  dasz  wirklich  der  geist  der 
alten  in  der  form  und  stärke  ihrer  eignen  worte  hinüberströmte  in 
unsere  jugend  —  dann  würde  ich  sehr  dafür  sein,  dasz  wir  das 
humanistische  gymnasium  mit  voller  festigkeit  verteidigten.'  prof. 
Paulsen  sagte  in  der  conferenz  (s.  229):  'ich  bin  verdächtig  kein 
freund  des  classischen  Unterrichts  zu  sein,  wenigstens  verdächtigt 
worden,  in  Wahrheit  habe  ich  nie  aufgehört,  ein  freund  des  alter- 
tums  und  des  classischen  Unterrichts  zu  sein ,  nur  bin  ich  nicht  ein 
ebenso  groszer  be wunderer  derer,  die  in  unserer  zeit  als  lobredner 
des  classischen  altertums  auftreten.'  die  zahl  der  griechischen  stun- 
den wünscht  er  auf  keinen  fall  herabgesetzt,  verlangt  aber  mehr  Übung 
in  der  leetüre  (s.  232).  freiherr  v.  Schenckendorff  äuszerte  ebenda 
(s.  336):  'wir  wünschen,  dasz  dem  deutschen  volke  das  gymnasium 
erhalten  bleibe,  dasz  es  nach  wie  vor  die  idealen  güter  pflegen  möge 
und  dasz  die  classische  bildung,  die  Vertiefung  in  die  antike  sowie 
der  echte  religiöse  sinn  immer  und  für  alle  zukunft  lebendig  bleibe.' 

Diese  grosze  Übereinstimmung  in  der  Wertschätzung  der  antiken, 
vorzüglich  der  griechischen  litteratur  als  erziehungsmittel  ist  es,  die 
uns  mit  froher  hoflnung  für  die  zukunft  des  gymnasiums  erfüllt, 
aber  wir  dürfen  uns  auch  anderseits  nicht  darüber  täuschen,  dasz 
über  die  art  und  weise,  wie  in  den  gymnasien  jetzt  der  altclassische 
Unterricht  erteilt  wird,  in  weiten  kreisen  Unzufriedenheit  herscht, 
auch  bei  denen,  die  den  altertumsstudien  an  sich  freundlich  gesinnt 
sind,  man  glaubt  zu  bemerken,  dasz  unsere  schüler  diesen  Studien 
nicht  lust  und  liebe  mehr  entgegenbringen,  prof.  v.  Helmholtz  sagte 
in  der  conferenz  (s.  205):  'ich  habe  den  eindruck  empfangen,  dasz 
in  der  relativ  alten  zeit,  in  welche  meine  gymnasialerfahrungen  zu- 
rückreichen, wir  damals  aus  unserm  gymnasium  mit  mehr  lust  an 
den  alten  Schriftstellern  hervorgegangen  sind,  als  sie  bei  der  gegen- 
wärtigen jugend  zu  finden  ist.  indessen,  es  war  ein  wesentlicher 
unterschied  im  Unterricht,  man  bestrebte  sich  uns  viel  lesen  zu 
lassen  und  schlieszlich  konnten  wir  die  schriftsteiler,  für  die  wir 
etwas  eingeübt  waren,  mit  leichtigkeit  lesen.'  andere  behaupten 
geradezu,  die  meisten  der  griechischen  classiker  seien  für  unsere 
gymnasiasten  zu  schwer,  zu  hause  bei  der  sogenannten  präparation 
würden  eben  nur  vocabeln  aufgeschlagen,  dann  gehe  in  der  schule 


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478    Über  die  methode  der  griechischen  schullectüre  in  prima. 

bei  der  Übersetzung  das  radebrechen  los  und  unter  beständigem 
kämpf  mit  grammatik  und  lexikon,  unter  fortwährendem  dazwischen- 
treten und  weiterschieben  von  seiten  des  lehrers  haspele  sich  die 
lectüre  trocken  und  freudlos  zeile  um  zeile,  vers  um  vers  von  an- 
fang  bis  zum  schlusz  der  stunde  weiter.  Paulsen  fragt  in  seiner  ge- 
schiente des  classiseben  Unterrichts  (s.  776  f.) :  'findet  ein  lesen  der 
Griechen  wirklich  statt?  stellt  sich  nicht  zwischen  den  lehrer  und 
den  schuler  mit  peinlichster  hemmung  die  unkunde  der  spräche? 
bleibt  nicht  das  lesen  oft  ein  kümmerliches  buchstabieren  und  sind 
nicht  die  stunden  der  classischen  lectüre  oft,  statt  stunden  der  er- 
holung,  stunden  der  pein  und  lange  weile?  vielleicht  wäre  es  für 
nicht  wenige,  die  das  gymnasium  hinter  sich  haben,  eine  der  schreck- 
lichsten aussichten,  nochmals  dazu  verurteilt  zu  werden  täglich  stun- 
den lang  dem  sogenannten  tibersetzen  der  mitschüler  zuzuhören,  so 
wenig  Übersetzungen  in  anderer  hinsieht  geeignet  sein  mögen  die 
originale  zu  ersetzen,  so  möchte  ich  doch  beinahe  glauben,  dasz  ihre 
gemeinsame  lectüre,  indem  sie  diese  art  der  behandlung  der  alten 
Schriftsteller  unmöglich  machte,  im  ganzen  wohlthuendere  eindrücke 
hinterliesze.'  dieser  Vorschlag,  die  griechischen  Schriftsteller  in  der 
schule  nicht  in  den  originalen,  sondern  in  deutschen  Übersetzungen 
zu  lesen,  ist  ausgegangen  von  den  Vorkämpfern  für  die  völlige  gleich- 
stellung  der  realgymnasien  mit  den  gymnasien;  sie  wollten  den  real- 
gymnasien  die  kenntnis  der  griechischen  litteratur  vermitteln  ohne 
das  erlernen  der  griechischen  spräche  ihnen  zuzumuten,  auszerhalb 
dieser  kreise  hat  der  genannte  Vorschlag  sehr  wenig  anklang  ge- 
funden, man  wies  mit  recht  darauf  hin ,  wie  die  Übersetzung,  wenn 
es  darauf  ankomme  in  den  geist  des  altertums  einzudringen,  eben 
diesem  geiste  empfindlich  abbruch  thue,  wie  sie  eben  ein  anderes 
gebe  statt  des  Originals  und  auf  schritt  und  tritt  bei  eingehenderer 
beschäftigung  zum  heranziehen  des  Originals  nötige.  —  Andere 
wollten  die  Schwierigkeit  der  lectüre  wenigstens  dadurch  den  Schü- 
lern erleichtert  sehen,  dasz  bei  der  häuslichen  präparation  die  be- 
nutzung  einer  deutschen  Übersetzung  gestattet  werde ,  wie  in  man- 
chen gymnasien  ja  bereits  die  benutzung  des  Voss  bei  der  Homer- 
präparation gestattet  sei.  ich  glaube  auch  hier  Ihrer  Zustimmung 
sicher  zu  sein,  wenn  ich  mich  gegen  diese  erlaubnis  ausspreche,  wäre 
anzunehmen,  dasz  die  schüler  zunächst  den  griechischen  text  lesen 
würden  und  nur  an  schwierigeren  stellen  sich  in  der  Übersetzung 
rats  erholten,  so  möchte  es  gehen ;  aber  in  neunundneunzig  von  hun- 
dert fällen  wird  der  schüler,  wenn  er  bei  der  präparation  die  deutsche 
Übersetzung  neben  dem  griechischen  text  liegen  hat,  jeden  satz  erst 
in  der  Übersetzung  lesen,  um  ihn  im  text  nachher  rasch  zu  über- 
fliegen und  allenfalls  die  unbekannten  Wörter  nachträglich  aufzu- 
schlagen, das  wird  ihn  zur  Oberflächlichkeit  und  leichtfertigkeit  im 
lesen  verführen,  und  ihn  dauernd  im  gefühl  der  Unselbständigkeit 
und  hilfsbedürftigkeit  niederhalten,  während  der  unterriebt  und  die 
erziehung  zur  Selbständigkeit  und  freiheit  führen  soll. 


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Über  die  methode  der  griechischen  schullectüre  in  prima.  479 

Aber,  so  sagt  man,  bei  dem  gewöhnlichen  verfahren  kommt  die 
schullectüre  zu  langsam  vom  fleck,  die  schüler  lernen  zu  wenig 
kennen,  der  blick  wird  zu  wenig  auf  den  Zusammenhang,  das  inter- 
esse  zu  wenig  auf  das  kunstwerk  als  ganzes  gerichtet,  weil  man  gar 
zu  intensiv  sich  mit  den  einzelheiten  beschäftigt,  die  das  kleine 
bruchstück,  das  in  der  stunde  Übersetzt  wird,  bietet,  die  lectüre 
wird  zu  oft  unterbrochen  durch  grammatische  und  antiquarische 
notizen,  und  die  Übersetzung  wird  dem  schüler  dadurch  peinlich  ge- 
macht, dasz  man  ihn  auch  da,  wo  er  den  sinn  verstanden  hat,  auf 
den  ausdruck  allzu  lange  knöchelt.  —  Haben  die  leute,  die  so  reden, 
völlig  unrecht? 

Ich  spreche  zunächst  von  der  Schwierigkeit,  die  dem  primaner 
die  griechischen  Schriftsteller  bei  der  präparation  bereiten. 

Homer ,  apologie  und  Kriton ,  ein  groszer  teil  der  historischen 
abschnitte  des  Thukydides  verursacht  dem  fleiszigen  primaner  nicht 
erhebliche  Schwierigkeiten,  gröszere  anforderungen  stellen  an  ihn 
die  eigentlich  philosophischen  dialoge  Piatons,  so  ist  z.  b.  in  dem 
gern  gelesenen  Prot  ago  ras  der  abschnitt,  der  von  der  erklärung  des 
Simonideischen  gedichtes  handelt,  einem  schüler  kaum  verständlich, 
grosze,  zum  teil  unübersteigliche  Schwierigkeiten  bereiten  ihm  die 
reden  und  die  reflectierenden  partien  bei  Thukydides;  schwer  fällt 
ihm  auch,  wenigstens  im  anfang,  dem  gedankengang  Demostheni- 
scher  logik  genau  zu  folgen  und  die  zahlreichen  beziehungen  seiner 
mhaltreicben  sätze  klar  zu  sehen,  in  den  tragödien  bilden  die  dia- 
loge keine  allzu  schwierige  aufgäbe,  obgleich  manche  partien,  wie 
z.  b.  die  stichomythien  mit  ihren  verschränkungen  der  sätze  und 
ihrer  schlag  auf  schlag  folgenden  fecbtweise,  scharfes  aufmerken  er- 
fordern, die  Schwierigkeiten  steigern  sich  aber  bei  den  lyrischen 
teilen ;  von  den  Sophokleischen  chören  sind  die  meisten  für  primaner 
bei  der  präparation  kaum  zu  bewältigen. 

Nun,  dafür  ist  ja  der  Unterricht  da,  pflegt  man  zu  sagen;  da 
wird,  was  dem  schüler  bei  der  präparation  unklar  geblieben  ist,  vom 
lehrer  erklärt,  und  den  jungen  schadet  es  nichts,  wenn  sie  sich  an 
harten  nüssen  die  zäbne  ausbeiszen.  ich  glaube  doch,  dasz  es  be- 
denklich ist,  wenn  man  den  schülern  aufgaben  stellt,  die  voraussicht- 
lich auch  bei  angewandtem  fleisze  der  gröszere  teil  nicht  lösen  kann, 
erfolglose  mühe  erzeugt  leicht  überdrusz  und  erschlaffung;  in  der 
stunde  aber  bewirkt  es  Zeitverlust,  wenn  man  bei  der  Übersetzung 
solcher  abschnitte  erst  die  durchgängigen  misverständnisse  und  Irr- 
tümer der  schüler  aufzudecken  und  zurückzuweisen  hat,  ehe  man 
dazu  kommt  den  richtigen  weg  des  Verständnisses  zu  zeigen. 

Das  übersetzen  des  präparierten  abschnittes  in  der  stunde 
pflegt  so  gehandhabt  zu  werden,  dasz  die  aufgerufenen  schüler  ihren 
abschnitt  erst  griechisch  lesen,  dann  möglichst  wörtlich  übersetzen, 
diese  erste  Übersetzung  oder  'vorÜbersetzung'  wird  vom  lehrer  unter 
heranziehung  der  schüler  verbessert  und  erklärt,  und  auf  grund 
dieser  Verbesserungen  wird  entweder  in  derselben  stunde  nach  ab- 


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480    Über  die  methode  der  griechischen  schullectüre  in  prima. 

schlusz  der  erklärung  oder  am  anfang  der  folgenden  stunde  eine 
zweite  Übersetzung,  die  sogenannte  'nachÜbersetzung'  gegeben,  bei 
der  auf  cor rec ten  und  geschmackvollen  deutschen  ausdruck  das  äugen- 
merk  zu  richten  ist.  zuweilen  werden  auch  gröszere  zusammen- 
gehörige abschnitte,  wie  z.  b.  reden,  wenn  sie  zu  ende  gelesen  sind, 
noch  einmal  im  zusammenhange  von  anfang  bis  zu  ende  'durch- 
übersetzt'. 

Die  erklärung  wurde  früher  verschieden  gehandhabt,  je  nach- 
dem man  rstatarische'  oder  kursorische'  lectüre  vornahm,  jetzt  hat 
man  diesen  unterschied,  wo  man  nicht  etwa  den  ausdruck  'curso- 
rische' lectüre  auf  das  extemporierte  übersetzen  überträgt,  meist 
aufgegeben,  man  pflegt  sich  auf  Nägelsbachs  ausspruch  dabei  zu 
berufen:  'cursorisch  wenn  möglich,  statarisch  wenn  nötig',  wobei 
freilich  die  begriffe  'möglich'  und  'nötig'  sehr  verschieden  gefaszt 
werden. 

Grammatische  Übungen  werden  in  der  that  noch  an  man- 
chen orten  auf  kosten  der  lectüre  vorgenommen,  ich  weise  z.  b.  auf 
den  aufsatz  Dettweilers  hin:  'eine  Demosthenesstunde  in  unterprima' 
im  zehnten  beft  der  Frick  -  Meierschen  'lehrproben  und  lehrgange' 
(Halle  1887).   da  wird  empfohlen,  am  anfange  der  stunde,  wenn 
auch  nicht  regelmäszig,  aus  dem  zu  übersetzenden  abschnitt  die 
grammatisch  bemerkenswerten  thatsachen  zusammenzustellen,  etwa 
alle  aus  der  casuslehre ,  für  die  der  schüler  aus  seinen  syntaktischen 
Sammlungen  bereits  ein  bei  spiel  weisz,  oder  aus  der  moduslehre, 
oder  aus  irgend  einem  andern  gebiete  der  grammatik;  oder  der  lehrer 
möge  eine  stelle  aus  dem  textabschnitt  nennen,  an  der  ein  genetiv 
der  fülle,  ein  inneres  object,  ein  potential  und  dergleichen  vorkom- 
men, um  sich  von  dem  schüler  sofort  das  in  den  syntaktischen  Samm- 
lungen gelernte  musterbeispiel  dafür  angeben  zu  lassen;  auch  die 
formenlehre  möge  in  diesen  sprachlichen  Übungen  gelegentlich  be- 
rücksichtigt werden,    bei  der  eigentlichen  lectüre  empfiehlt  Dett- 
weiler  in  demselben  lehrgang  die  erziehlichen  momente  aus 
dem  stoff  herauszuheben  und  durch  angliederung  an  schon  vorhan- 
dene gruppen  zu  behandeln,  z.  b.  bei  der  Demostheneslectüre  den 
begriff  der  nationalen  ehre;  über  solche  'baupteoncentrationsbegriffe' 
hätten  dann  bei  gröszeren  abschnitten ,  z.  b.  am  schlusz  einer  rede, 
mündliche  vortröge  und  schriftliche  darlegungen  einzutreten,  man 
empfiehlt  wohl  auch  collectaneenhefte  anlegen  zu  lassen,  damit 
die  schüler  die  aus  der  lectüre  gewonnenen  urteile  und  begriffe,  oder 
anderseits  die  bei  der  lectüre  besprochenen  'realien'  eintragen  und 
systematisch  ordnen  könnten,  es  pflegt  dann  allerdings,  wo  solche 
Sammlungen  geführt  werden,  eine  gewisse  neigung  sich  einzustellen, 
sie  zu  bereichern;  und  damit  drängt  sich  von  einer  andern  als  der 
grammatischen  seite  das  beiwerk  wieder  vor  in  die  lectüre.  bei  der 
erklärung  des  prologs  der  Antigone  behandelt  Richter  (Jena)  im 
siebenten  und  zehnten  heft  der  'lehrproben  und  lehrgänge'  den  bau 
des  trimetersso  ausführlich,  dasz  er  z.  b.  die  frage  einer  bespre- 


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über  die  methode  der  griechischen  schullectüre  in  prima.  481 

chung  mit  seinen  primanern  unterzieht,  ob  der  trimeter  richtiger 
aufzufassen  sei  als  eine  Verbindung  von  drei  jambischen  metren  oder 
als  eine  Verbindung  von  drei  trochäischen  dipodien,  zwei  akatalek- 
tischen  und  einer  katalektischen,  mit  dem  vorschlage  der  anakrusis. 
in  der  parodos  der  Antigone  läszt  er  die  versmasze  zergliedern; 
es  sollen  die  kola  und  periodender  strophe  aufgezeigt,  die  rhythmen 
eingeübt  werden  durch  vorsprechen  und  chormäsziges  nachsprechen, 
die  von  Richter  mitgeteilte  interpretation  der  60  verse  langen  parodos 
würde  in  der  von  ihm  ausgeführten  art  mit  allen  ihren  sprachlichen 
und  sachlichen  erklärungen,  ihrer  ausführlichen  darlegung  der  in- 
haltlichen gliederung,  der  stofflichen  elemente,  des  ideengehaltes, 
der  angewandten  bilder  und  contraste  usw. ,  abgesehen  von  der  be- 
sprechung  der  metra,  mindestens  drei  stunden  in  anspruch  nehmen. 

Angesichts  einer  solchen,  gewis  gründlichen,  gewis  auch  viel- 
fach anregenden  und  nutzbringenden  behandlung  der  griechischen 
lectüre  wird  doch  die  klage  über  das  zerpflücken  der  das- 
siker  und  den  zu  langsamen  gang  des  lesens,  bei  dem  das 
interesse  für  den  gegenständ  erlahme,  uns  verständlich.  —  Die  grie- 
chischen tragödien  z.b.  sind  edle  Schöpfungen  der  Dichtkunst,  höchst 
geeignet  in  das  wesen  der  dramatischen  poesie  den  schüler  einzu- 
führen, seinen  verstand  zu  beschäftigen,  sein  herz  zu  ergreifen;  aber 
die  handlung  in  einer  griechischen  tragödie  ist  einfach,  viel  ein- 
facher als  in  den  meisten  der  modernen  dramen,  und  wenn  nun  in 
den  40  oder  gar  in  60  der  dichterlectüre  in  oberprima  gewidmeten 
stunden  eines  halben  jahres  eine  einzige  tragödie  gelesen  wird,  und 
der  schüler  dieses  halbe  jähr  hindurch  nur  auf  die  eine  handlung 
den  blick  zu  richten  hat,  wie  Antigone,  weil  sie  den  leichnam  ihres 
bruders  bestattet  bat,  durch  Kreons  spruch  den  tod  erleidet,  oder 
wie  Oedipus  entdeckt,  dasz  er  seinen  vater  getötet  und  seine  mutter 
geheiratet  hat  und  darauf  an  sich  selbst  die  strafe  der  blendung  voll- 
zieht, so  kann  ich  es  nicht  unbegreiflich  finden,  wenn  sich  einmal 
ermüdung  bei  den  schülern  einstellt,  der  heldengrösze  einer  Anti- 
gone, die  unbeirrt  von  todesfurcht  allein  der  inneren  stimme  folgt 
und  gott  mehr  gehorcht  als  menschenworten ,  bringen  auch  unsere 
schüler  bewunderung  entgegen  und  fühlen,  dasz  ihr  handeln  edel 
war  und  geloben  sich  im  herzen  edel  selbst  zu  handeln ;  wenn  aber 
das  hin-  und  herreden  über  die  berechtigung  der  that  Antigones  ein 
halbes  jähr  lang  fortgesetzt  wird,  da  kühlt  sich  auch  die  wärmste 
begeisterung  ab. 

Wenn  der  griechische  Unterricht  in  prima  lediglich  zum  zweck 
hat  die  hebung  der  geistigen  schätze  und  bildungsmittel,  die  in  der 
griechischen  litteratur  uns  vorliegen,  so  erscheint  eine  möglichst 
umfassende  lectüre  der  griechischen  classiker  wünschenswert, 
je  mehr  von  ihnen  der  schüler  liest,  desto  besser  liest  er  sich  in  sie 
hinein;  je  mehr  einzelzüge  ihrer  geistigen  persönlichkeiten  er  aus 
ihren  werken  kennen  lernt,  um  so  deutlicher  und  vertrauter  tritt 
ihm  das  bild  der  individualität  eines  jeden  vor  äugen;  je  mehr  feste 

N.jahib.f.phil.o.päd.  Il.abt.  1891  hfl.  10.  31 


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482     über  die  methode  der  griechischen  schulleetüre  in  prima. 

punkte  er  im  gebiet  der  griechischen  litteratur  gewinnt,  um  so  zahl- 
reicher lassen  sich  die  föden  nerüber  und  hinüber  ziehen,  die  Deutsch- 
tum und  Hellenentum  verbinden. 

Bei  uns  wie  in  Preuszen  —  die  tragikerlectüre  mag  wieder  als 
maszstab  dienen  —  werden  in  oberprima  gewöhnlich  zwei  tragödien 
gelesen,  in  jedem  semester  eine,  hat  man  nun  drei  stunden  wöchent- 
lich für  diesen  Unterricht  zur  Verfügung,  so  halte  ich  es  für  thunlich 
in  diesen  mindestens  100  Unterrichtsstunden  in  oberprima  wenig- 
stens vier  tragödien  zu  lesen  ohne  einer  oberflächlichen  be- 
Handlung  sich  schuldig  zu  machen  und  ohne  die  schtiler  zu  über- 
bürden. 

Ehe  ich  an  die  lectüre  eines  dramas  gehe  —  ich  bleibe  bei  dem 
beispiel  der  tragikerlectüre,  um  mein  verfahren  zu  erläutern — , 
teile  ich  das  stück  in  verschiedene ,  ich  will  sagen  in  20  abschnitte 
für  20  Unterrichtsstunden,  und  bemerke,  welche  dieser  abschnitte 
die  schüler  zu  präparieren  und  zu  Ubersetzen  haben,  und  welche  ab- 
schnitte ich  übersetzen  werde,   im  allgemeinen  teile  ich  die  dialog- 
partien  den  schülern  zu  und  behalte  die  lyrischen  mir  vor.  die  ab- 
schnitte der  schüler  sind  ein  jeder  ungefähr  60—70  verse  lang,  die 
schüler  übersetzen  sie  in  der  stunde  so  wörtlich,  als  der  geist  der 
deutschen  spräche  es  gestattet,  der  Wortstellung  des  griechischen  so 
lange  folgend,  als  unsere  dichterische  spräche  es  erlaubt,  wie  sie  zu 
tibersetzen  haben ,  das  sollen  sie  an  den  Übersetzungen  des  lehrers 
lernen,   so  hat  das  verfahren  Übersetzungen  des  lehrers  abwechseln 
zu  lassen  mit  den  Übersetzungen  der  schüler  einen  dreifachen  erfolg: 
es  erleichtert  dem  schüler  die  lectüre,  indem  es  ihm  die  präparation 
besonders  schwieriger  stellen  erspart,  es  ermöglicht  der  lectüre  einen 
rascheren  gang  zu  geben,  und  es  gibt  dem  schüler  fUr  sein  eignes 
übersetzen  ein  eindrucksvolles  vorbild.  die  schüler  haben  darauf  zu 
achten,  dasz  sie  die  von  ihnen  präparierten  abschnitte  in  der  stunde 
flieszend,  ohne  stocken  und  steckenbleiben  übersetzen  können;  wer 
aufgerufen  wird  und  die  stelle,  die  er  übersetzen  soll,  nicht  ver- 
standen hat,  gibt  dies  an  und  wird  darauf  von  der  Übersetzung  dieses 
Stückes  dispensiert,  bei  schwierigeren  stellen  werden  diejenigen  auf- 
gefordert sich  zu  melden ,  die  es  sieh  getrauen  gut  zu  übersetzen, 
erklär ungen  der  sprachlichen  form  treten  nur  da  ein,  wo  die  Über- 
setzung ihrer  bedarf;  sachliche  erläuterungen  nur  da,  wo  das  Ver- 
ständnis des  Zusammenhangs  sich  nicht  ohne  sie  erreichen  läszt  — 
bei  den  abschnitten,  die  ich  mir  vorbehalten  habe  zu  Übersetzen, 
lese  ich  zuerst  satz  für  satz,  strophe  für  Strophe  im  griechischen  text 
laut  den  schülern  vor,  mache  bei  den  lyrischen  partien  auf  die  her- 
schenden  rhythmen  aufmerksam  und  suche  an  geeigneten  fällen  Ver- 
ständnis für  die  klangwirkung  der  rhythmen  zu  erzielen,  darauf 
werden  die  Wörter  erklärt,  die  constructionen  erläutert,  kurz  den 
schülern  in  knapper  form  gezeigt,  wie  man  präparieren  müsse;  dann 
wird  Ubersetzt,   die  schUler  haben  am  anfang  der  folgenden  stunde 
zu  zeigen ,  dasz  sie  der  erklärung  und  Übersetzung  des  lehrers  auf- 


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Über  die  methode  der  griechischen  schullectüre  in  prima.  483 


merksam  gefolgt  sind,  rtickblicke,  Charakterisierungen,  Zusammen- 
fassungen erfolgen  am  Schlüsse  der  dramen. 

Die  systematischen  darstellungen  einiger  gebiete  aus  der  litte- 
raturgescbichte  und  den  altertümern,  die  zum  Verständnis  der  lectüre 
notwendig  sind ,  ein  kurzer  abrisz  der  vorsokratischen  philosophie 
für  Piaton,  ein  Überblick  über  die  politischen  Verhältnisse  und  einiges 
aus  der  athenischen  Verfassung  für  Demosthenes,  eine  darstellung 
der  entwicklung  des  dramas  für  die  tragiker,  das  gebe  ich  nicht  in 
den  fünf  lectUrestunden,  von  denen  in  oberprima  zwei  dem  prosaiker, 
drei  dem  dichter  gehören,  sondern  in  der  siebenten  griechischen 
wochenstundo,  die  auszerdem  dem  extemporierten  übersetzen  aus- 
gewählter abschnitte  aus  den  griechischen  lyrikern  dient,  das  ex- 
temporieren findet  in  der  weise  statt ,  dasz  ich  selbst  den  schülern 
den  griechischen  text  vorlese  mit  hinzugefügter  erklärung  der  selte- 
nen Wörter,  und  am  ende  jedes  abschnitts  frage,  wer  von  den  schülern 
das  vorgelesene  stück  gut  zu  übersetzen  sich  getraut. 

M.  h.  h.!  misdeuten  Sie  es  nicht,  das/  ich  in  diesem  letzten 
teil  so  viel  von  mir  und  wie  ich  es  mache,  gesprochen  habe,  ich 
habe  es  nicht  gern  gethan.  ich  muste  es  aber  thun,  wenn  ich  zeigen 
wollte,  wie  ich  die  Ihrer  freundlichen  beachtung  empfohlene  art 
griechische  schriftsteiler  in  der  schule  zu  lesen,  in  praxi  durch- 
geführt habe. 

M.  h.  h. !  ich  bin  tief  überzeugt  davon,  dasz  der  beruf,  dem 
wir  unser  leben  geweiht  haben,  eine  edle  kunst  ist,  und  dasz  es 
der  geist  ist,  der  den  künstler  macht,  ich  weisz,  wie  äuszerlich 
und  handwerksmäszig  gegenüber  diesem  geiste  das  wesen  der  dinge 
ist,  die  ich  zur  spräche  brachte,  der  eine  liest  fast  ein  halbes  jähr 
hindurch  mit  den  schülern  die  leichenrede  des  Perikles  und  die 
schüler  werden  von  ihm  zu  lebhaftem  interesse  und  zur  bewunde- 
rung  der  herlichkeit  hellenischen  geistes  emporgehoben,  ein  anderer 
liest  zwei  tragödien  in  derselben  zeit  und  die  schüler  haben  lange- 
weile.  ich  gebe  jedem  recht,  der  da  sagt:  vom  umfang  der  lectüre 
hängt  nicht  das  heil  dieses  Unterrichts  ab.  gewis,  das  ist  das 
alte  lied : 

grau,  teurer  freund,  ist  alle  theorie, 
und  grün  des  lebens  goldner  bäum. 

Aber  die  dem  wahren  künstler  von  gott  verliehene  kraft,  die 
ihres  erfolgs  bei  jeder  tecbnik  sicher  ist,  die  läszt  sich  nicht  in  worte 
fassen,  nicht  mitteilen,  nicht  ablernen,  wohl  aber  die  handwerks- 
mäszige  behandlung,  und  wenn  auch  von  der  der  alte  satz  gilt: 
multiplex  ratio  est,  so  sind  doch  nicht  alle  rationes  gleich  probat, 
möchten  Sie  die  von  mir  empfohlene  freundlich  prüfen,  und,  wenn 
sie  Ihnen  des  Versuches  wert  erscheint,  versuchen. 

Leipzig.  Richard  Meister. 


31* 


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484    Erläuternde  bemerkungen  zu  Cicero  de  officiis  cap.  32.  33.  42. 


47. 

ERLÄUTERNDE  BEMERKUNGEN 
ZU  CICERO  DE  OFFICIIS  CAP.  32.  33.  42. 


Wenn  es  eine  hauptaufgabe  des  altclassiscben  Unterrichts  auf 
unseren  humanistischen  gymnasien  ist,  den  scbülern  das  altertum 
als  die  wichtigste  Vorstufe  der  modernen  cultur  zum  Verständnis  zu 
bringen,  so  kann  diese  aufgäbe  nur  dann  in  befriedigender  weise 
gelöst  werden ,  wenn  der  sittlichen  seite  des  antiken  lebens  die  ge- 
bührende beachtung  geschenkt  wird,  denn  das  sittliche  gebiet  bildet 
den  mittelpunkt  des  antiken,  wie  eines  jeden  Volkslebens,  wir  müssen 
es  daher  Cicero  dank  wissen,  dasz  er  uns  in  seinen  officien  einen 
abrisz  der  Sittenlehre  gegeben  hat,  wie  er  und  seine  zeit  sie  ver- 
standen, ob  freilich  dieses  buch  überall  mit  dem  interesse,  welches 
die  hohe  bedeutung  des  in  demselben  behandelten  gegenständes  mit 
recht  beanspruchen  darf,  von  unseren  scbülern  gelesen  wird,  möchte 
von  mancher  seite  vielleicht  bezweifelt  worden,  hätte  L.  Döderlein 
(reden  und  aufsätze,  zweite  Sammlung  s.  243)  mit  seiner  behauptung 
wirklich  recht,  dasz  jünglinge  durch  historische  classiker  sich  an- 
gezogen und  begeistert,  durch  reflectierende  dagegen  meistens  kalt 
gelassen  oder  abgestoszen  fühlen,  so  wäre  es  überhaupt  vergebliche 
mühe,  unsere  primaner  für  Ciceros  officien  erwärmen  zu  wollen, 
aber  Döderleins  urteil  ist  einseitig:  in  jedem  normal  angelegten 
jüngling  darf  neben  dem  sinn  für  das  thatsächliche  zugleich  ein  leb- 
haftes interesse  für  die  tiefsten  fragen  des  menschenlebens  von  vorn 
herein  vorausgesetzt  werden,  warum  sollte  gerade  das  ethische,  wel- 
chem doch  unter  den  höheren  lebensgebieten  neben  dem  religiösen 
die  erste  stelle  gebührt,  nicht  ebenfalls  im  stände  sein,  die  teilnähme 
der  reiferen  jugend  zu  erregen  ?  es  müste  ihr  denn  in  einer  geradezu 
abstoszenden  form  dargeboten  werden,  nun  wird  freilich  behauptet, 
dasz  Ciceros  darstellung  in  den  officien  wenig  geeignet  sei,  den 
jugendlichen  geist  zu  fesseln,  'der  inhalt  des  buches  ist',  so  meint 
man,  fim  allgemeinen  so  trivial,  dasz  es  nicht  der  mühe  lohnt,  unsere 
primaner  mit  seiner  lectüre  zu  befassen,  heiszt  es  nicht  gleichgültig- 
keit  gegen  den  inhalt  des  gelesenen  geradezu  herausfordern ,  wenn 
man  sachen  mit  ihnen  liest,  die  allen  längst  bekannt  sind?*  —  Dasz 
manches  in  den  officien  trivial  ist,  soll  keineswegs  bestritten  werden, 
aber  auch  das  triviale  kann  das  interesse  des  schülers  erregen,  wenn 
es  ihm  in  der  rechten  beleucbtung  gezeigt  wird.  Wahrheiten,  welche 
heute  von  den  dächern  gepredigt  werden,  sind  der  menschheit  einst 
unbekannt  gewesen,  meist  haben  sich  dieselben  aus  der  tiefe  des 
allgemeinen  bewustseins  allmählich  emporgearbeitet,  nicht  selten 
sind  sie  als  Offenbarungen  einzelner  erhabener  geister  zum  ersten 
male  an  das  licht  getreten  und  erst  in  jahrhundertelanger  entwick- 
lung  zu  allgemeinerer  anerkennung  gelangt,  wer  dieses  nicht  weisz, 


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Erläuternde  bemerkungen  zu  Cicero  de  officiis  cap.  32.  33.  42.  485 

ißt  geneigt,  dergleichen  ohne  weiteres  für  abgethan  oder  gar  abge- 
schmackt zu  erklären,  die  historische  betrachtung  dagegen  wird 
auch  trivialitäten ,  insofern  sie  ein  moment  in  der  entwicklungs- 
geschichte  der  menschheit  bilden,  gebührend  zu  würdigen  wissen, 
auf  diesen  Standpunkt  der  beurteilung  müssen  wir  auch  unsere 
schüler  zu  erheben  suchen,  übrigens  darf  nicht  vergessen  werden, 
dasz  durchaus  nicht  alles,  was  uns  in  Ciceros  officien  geboten  wird, 
trivial  ist.  es  findet  sich  darin  eine  reiche  fülle  von  sittlichen  an- 
scbauungen,  welche  von  den  unsrigen  durchaus  abweichen;  vor  allem 
ist  die  grundlage  der  antiken  ethik  eine  von  der  unsrigen  ganz  ver- 
schiedene, und  gerade  dieser  umstand  ist  von  besonderer  bedeu- 
tung,  weil  die  schüler  dadurch  zu  einem  nachdenkenden  vergleich 
zwischen  antiker  und  modern-christlicher  lebensau ffassung  angeregt 
werden,  indem  sie  auf  diese  weise  ihre  einsieht  in  das  wesen  des 
menschen  überhaupt  erweitern  und  vertiefen,  gewinnen  sie  an  wahrer 
bildung,  welche,  wie  die  weisen  aller  zeiten  von  jenem  unbekannten 
Griechen,  der  das  yvujöi  cüutöv  ersann ,  bis  auf  Goethe  uns  gelehrt 
haben,  ihren  letzten  grund  nicht  in  dem  Studium  der  natur,  sondern 
in  dem  Studium  des  menschen  hat. 

Es  sind  nur  wenige  capitel  des  ersten  buches,  mit  denen  dieser 
aufsatz  sich  beschäftigen  soll;  doch  scheinen  dieselben  um  ihres  be- 
deutsamen inhalts  willen  einer  eingehenderen  erörterung  wohl  wert 
zu  sein:  denn  die  frage  nach  der  bedeutung  des  berufs  hängt  aufs 
innigste  mit  der  frage  nach  dem  inhalt  und  wert  des  lebens  über- 
haupt zusammen. 

Cicero  beschäftigt  sioh  in  cap.  32  zunächst  mit  der  wähl  des 
berufs  und  macht  darüber  die  treffendsten,  noch  für  unsere  zeit 
gültigen  bemerkungen.  die  entscheidung  Uber  den  einzuschlagenden 
lebensweg,  so  schreibt  er,  sei  für  den  jüngling  besonders  schwierig: 
er  müsse  wählen  in  einem  lebensalter,  in  welchem  seine  einsieht 
geringe,  sein  urteil  noch  unreif  sei.  daher  lieszen  sich  die  einen 
durch  den  einflusz  der  eitern,  andere  durch  die  mode  bestimmen,  nur 
wenige  fänden,  sei  es  durch  einen  glückszufall,  sei  es  durch  eigne 
tüchtigkeit  das  richtige,  doch  wir  wollen  hier  nicht  den  inhalt  des 
ganzen  abschnitts  recapitulieren;  ein  jeder  leser  wird  gewis  überrascht 
sein  durch  die  scheinbar  vollständige  Übereinstimmung  zwischen 
antiken  und  modernen  anschauungen.  da  nun  Cicero  die  Schwierig- 
keiten bei  der  berufswahl  so  eingehend  behandelt,  so  scheint  man 
mit  recht  voraussetzen  zu  dürfen,  dasz  dem  römischen  jüngling  eine 
so  grosze  zahl  von  berufsarten  zur  auswahl  stand,  dasz  es  ihm  schwer 
wurde,  sich  für  die  richtige  zu  entscheiden,  aber  so  viel  wir  auch 
suchen  mögen,  finden  wir  doch  nur  drei  lebenswege,  welche  er  nach 
Cicero  einschlagen  konnte :  ius  civile,  eloquentia,  res  militaris,  oder 
was  dasselbe  ist:  causas  defensitare,  populum  contionibus  tenere, 
bella  gerere.  jene  umfangreiche  anweisung  für  die  richtige  wähl  des 
berufs  steht  zu  dieser  geringen  zahl  der  überhaupt  möglichen  berufe 
in  einem  merkwürdigen  contrast,  zumal  wenn  wir  erwägen,  dasz 


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486    Erläuternde  beinerkungen  zu  Cicero  de  officiia  cap.  32.  33.  42. 

dieselben  damals  durchaus  nicht  so  schroff  von  einander  geschieden 
waren  wie  heute,  und  der  Übergang  aus  dem  einen  in  den  andern 
sich  ohne  besondere  Schwierigkeit  vollzog,  im  anfange  von  cap.  32 
findet  sich  übrigens  auch  noch  das  Studium  der  philosophie  als  zu- 
lässiger lebensberuf  genannt,   aber  aus  andern  stellen  des  ersten 
buches  geht  deutlich  hervor,  dasz  Cicero  weit  entfernt  ist,  dasselbe 
der  praktischen  bethUtigung  irgendwie  gleichzustellen,  ohne  die  zwin- 
gendsten gründe,  so  schreibt  er  cap.  21,  dürfe  niemand  dem  Staats- 
dienst fernbleiben:  iis,  qui  habent  a  natura  adiumenta  rerum  geren- 
darum  abiecta  omni  cunctatione  adipiscendi  magistratus  et  gerenda 
res  publica  est.  wissenschaftliche  be^chäftigung  als  lebensberuf  kann 
nach  ihm  höchstens  entschuldigt,  nicht  aber  empfohlen  werden, 
wenn  demnach  alle,  welche  die  nötigen  fähigkeiten  besaszen,  sich 
dem  Staatsdienst  zu  widmen  verpflichtet  waren,  so  blieb  ihnen  nur 
die  freiheit,  das  eine  oder  das  andere  gebiet  des  staatslebens  zum 
besonderen  felde  ihrer  thätigkeit  zu  wählen,  da  aber  der  Staatsdienst 
unbesoldeter  ehrendienst  war,  so  waren  offenbar  nur  diejenigen  in 
der  läge  sich  mit  demselben  zu  befassen,  welche  durch  ein  hinreichend 
grosses  vermögen  der  sorge  für  ihre  materielle  existenz  enthoben 
waren,  dieses  war  nur  eine  bevorzugte  minderzahl,  die  aristokratie. 
nur  der  aristokrat  hat  nach  Cicero  einen  wirklichen  lebensberuf: 
indem  er  dem  Staate  dient,  erfüllt  er  zugleich  die  aufgäbe  des  men- 
schenlebens  überhaupt,  wie  steht's  nun,  fragen  wir,  mit  denjenigen 
thätigkeiten,  welche  dazu  bestimmt  sind,  dem  erwerb  des  lebens- 
unterbalts  zu  dienen?   diese  behandelt  Cicero  bezeichnender  weise 
an  einer  ganz  andern  stelle,  nemlich  in  dem  capitel  de  artificiis  et 
quaestibus ,  qui  liberales ,  qui  sordidi  habendi  sint  (cap.  42).  beruf 
(genus  vitae)  und  erwerb  (quaestus)  fielen  für  die  römische  anschau- 
ung  auseinander,   dasz  der  beruf  seinen  mann  nähre  und  dasz  der 
arbeiter  seines  lohnes  wert  sei,  war  im  bereiche  des  Staatsdienstes 
ein  dem  römer  fremdartiger  gedanke ,  —  wir  reden  hier  natürlich 
nur  von  normalen  Verhältnissen,  nicht  von  der  späteren  eorruption 
—  ja  es  galt  ihm  im  allgemeinen  überhaupt  für  gemein,  zu  arbeiten, 
um  sich  zu  nähren,   daher  sind  Cicero  alle  quaestus  bis  auf  einen, 
weiter  unten  zu  besprechenden,  im  gründe  sordidi,  gemein,  um  nun 
zu  den  einzelnen  arten  des  erwerbs  überzugehen ,  so  spricht  Cicero 
zunächst  mit  besonderer  Verachtung  von  der  gewöhnlichen  lohn- 
arbeit:  illiberales  et  sordidi  quaestus  mercennariorum  omnium,  quo- 
rum  oporae,  non  quorum  artes  emuntur;  est  enim  in  illis  ipsa  merces 
auetoramentum  servitutis.  nach  dieser  äuszerung  durfte  man  ein 
milderes  urteil  über  das  handwerk  erwarten,  zumal  Cicero  auch  die 
künstler  zu  den  bandwerkern  rechnet  (tuscul.1 34  wird  sogar  Phidias 
unter  den  opifices  genannt);  aber  nicht  minder  wegwerfend  heiszt 
es  auch  von  ihnen:  opifices  omnes  in  sordida  arte  versantur;  nec 
enim  quiequam  ingenuum  habere  potest  officina.   gemein  sind  auch 
die  klein  kau  fleute,  fleischer,  fischhändler,  köche  usw.;  der  grosz- 
handel  ist  nicht  besonders  tadelnswert,  doch  war  er  bekanntlich  den 


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Erläuternde  bemerkungen  zu  Cicero  de  officiis  cap.  32.  33.  42.  487 


Senatoren  verboten,  die  mehr  geistigen  berufe  ist  Cicero  geneigt  in 
gewissen  grenzen  als  berechtigt  anzuerkennen:  quibus  autem  in 
artibus  aut  prudentia  maior  inest  aut  non  mediocris  utilitas  quae- 
ritur,  ut  medicina,  ut  architectura,  ut  doctrina  reruni  honestaruni, 
eae  sunt  iis,  quorum  ordini  conveniunt,  honestae,  d.  h.  sie  sind  für 
einen  aristokraten ,  insofern  er  davon  seinen  leben9unterhalt  haben 
soll,  nicht  anständig,  zur  ausfüllung  der  musze  natürlich  gestattet, 
volle  billigung  findet  nur  der  ackerbau.  diese  von  den  unsrigcn  so 
stark  abweichenden  ansiebten  über  den  sittlichen  wert  der  dem  er- 
werb  dienenden  berufsarten  finden  in  den  ethischen  grundanschau- 
ungen  des  altertums  ihre  erklärung:  die  Verachtung  der  handarbeit 
und  des  handwerks  ist  dem  ganzen  altertum  gemeinsam,  auch  die 
Griechen  dachten  bekanntlich  darüber  nicht  anders  als  Cicero  und 
seine  landsleute  (vgl.  Schmidt  ethik  der  Griechen  II  s.  436  ff.),  der 
begriff  des  ßdvaueoe  sagt  genug,  finden  sich  abweichende  ansebau- 
nngen  namentlich  in  den  mehr  demokratischen  Staaten,  so  sind  die- 
selben auch  hier  nicht  allgemein,  dasz  die  philosophen  dieser  mis- 
achtung  der  niederen  beschäftigungen  noch  mehr  nahrung  gaben, 
war  natürlich,  diesen,  welche  in  der  weit  des  gedankens  lebten, 
muste  es  als  des  menschen  nicht  würdig  erscheinen,  tag  für  tag  in 
harter  arbeit  um  seine  existenz  zu  ringen  und  im  schweisze  des  an- 
gesichts sein  brot  zu  essen,  der  schwere  druck  eines  solchen  lebens 
muste  nach  ihrer  auffassung  allmählich  die  edleren  fähigkeiten  und 
triebe  im  menschen  ersticken.  Plato  und  Aristoteles  stimmen  darin 
tiberein,  dasz  durch  die  banausischen  beschäftigungen  die  menschen 
'an  leib  und  seele  verkümmern  und  keinerlei  persönliche  tüchtigkeit 
erlangen'  (Zeller  philosophie  der  Griechen  II  1  s.  Ö71)  und  so  un- 
fähig werden  dem  Staate  den  schuldigen  dienst  zu  leisten,  dasz  mit 
der  niedrigkeit  der  äuszeren  lebensstellung  sich  in  der  regel  gemein- 
heit  der  gesinnung  verbinde,  war  überhaupt  eine  den  alten  geläufige 
Vorstellung,  auf  welche  die  schüler  hinzuweisen  die  leettire  oft  genug 
Gelegenheit  bietet,  so  z.  b.  bei  Tacitus,  aber  auch  bei  Livius.  jene 
bittere  bemerkung  de9  letzteren  (XXII  25)  Uber  die  niedrige  Her- 
kunft des  consuls  C.  Terentius  Varro  wird  schon  dem  secundaner 
auffallen. 

Mit  jener  Verachtung  der  niedrigeren  lebensberufe  contrastiert 
bei  Cicero  in  auffallender  weise  das  begeisterte  lob  des  ackerbaus. 
da  der  landmann  im  allgemeinen  viel  schwerer  arbeitet,  als  etwa  der 
handwerker,  so  scheint  sich  Cicero  hier  selbst  zu  widersprechen, 
folgerichtiger  scheinen  daher  Plato  und  Aristoteles  dem  ackerbau 
dieselben  entnervenden  Wirkungen  zuzuschreiben  wie  dem  bandwerk 
und  mit  recht  in  dem  vollkommenen  Staate  auch  den  bauer  von  allen 
staatsbürgerlichen  rechten  auszuschlieszen.  die  Römer  aber  dachten 
praktisch  genug,  um  die  bedeutung  des  ackerbaus  für  den  bestand 
des  Staates  richtig  abzuschätzen,  sie  hatten  ein  lebhaftes  bewustsein 
davon,  dasz  ein  tüchtiger  bauernstand  die  festeste  grundlage  des 
ganzen  gemeinwesens  bilde,  wer  denkt  hier  nicht  an  den  anfang  von 


488    Erläuternde  bemerkungen  zu  Cicero  de  officiis  cap.  32.  33.  42. 

Cato  de  ro  rustica:  virum  bonum  cum  laudabant  maiores  nostri,  ita 
laudabant:  bonum  agricolam  bonuraque  colonum.  amplissime  lau- 
dari  existimabatur,  qui  ita  laudabatur.  ex  agricolis  et  viri  fortissimi 
et  milites  strenuissimi  gignuutur  usw.  in  der  harten  schule  des  land- 
lebens  erwuchsen  jene  bauerjungen  (rustici  adulescentes),  aus  denen 
sich  die  legionen  rekrutierten,  von  welchen  Cicero  den  Cato  sagen 
läszt,  dasz  sie  oft  freudigen  und  erhobenen  mutes  dahin  marschiert 
seien,  von  wo  sie  überzeugt  waren,  niemals  zurückzukehren  (Cicero 
Cato  maior  cap.  XX).  freilich  redet  Cicero  hier  von  längst  vergan- 
genen zeiten.  auch  jenes :  nihil  est  agricultura  melius,  nihil  uberias, 
nihil  dulcius,  nihil  bomine  libero  dignius  galt  damals  nicht  mehr. 
Italien  trug  so  wenig,  dasz  es  nicht  einmal  die  hauptstadt  zu  er- 
nähren im  stände  war  und  statt  freier  bauern  bearbeiteten  sklaven- 
herden  die  meilenweit  sich  erstreckenden  latifundien  der  groszen. 
aber  in  der  besten  zeit  der  republik  war  es  allerdings  so  gewesen, 
wie  Cicero  es  hier  und  besonders  im  Cato  maior  geschildert  hat.  wie 
stehen  wir  nun  diesen  urteilen  Ciceros  und  des  ganzen  altertums 
über  den  sittlichen  wert  der  berufsarbeit  gegenüber? 

Nach  unserer  anschauung  macht  keine  arbeit  den  menschen  ge- 
mein, mag  sie  auch  noch  so  niedrig  sein,  wenn  sie  nur  ehrlich  ist. 
'arbeit  schändet  nicht'  und  'wer  nicht  arbeitet,  soll  auch  nicht  essen*, 
d.  h.  arbeit  ist  ehre  und  ist  pflicht  eines  jeden,  welcher  arbeits- 
fähig ist.  müszig  gehen  und  sich  von  andern  füttern  lassen  ist  pflicht- 
vergessenheit  und  schände  zugleich,  so  dachten  freilich  jene  hundert- 
tausende römischer  btirger  nicht,  welche  in  den  letzten  zeiten  der 
republik  und  in  der  kaiserzeit  sich  vom  Staate  ernähren  lieszen:  was 
wir  für  eine  schände  halten,  das  sahen  sie  für  ein  ihnen  gebührendes 
recht  an.  sociale  unterschiede  gibt  es  allerdings  auch  heute  und 
wird  es  immer  geben ,  sie  müsten  denn  einmal  in  dem  allgemeinen 
brei  des  socialdemokratischen  zukunftsstaats  verschwinden,  aber 
sociale  Stellung  und  sittliche  Schätzung  des  einzelnen  sind  wohl  aus- 
einanderzuhalten, wir  können  vor  einem  ehrlichen  bauer  oder  einem 
tüchtigen  band  werksmeister,  die  in  den  salons  der  vornehmen  gesell- 
schaft  selbstverständlich  keinen  zutritt  finden ,  um  ihrer  sittlichen 
eigenschaften  willen  eine  viel  grössere  hochachtung  hegen,  als  vor 
manchen  leuten,  die  dort  aus-  und  eingehen,  ja,  auch  grosze  Staats- 
männer und  feldherren  müssen  es  sich  gefallen  lassen,  nach  dem- 
selben sittlichen  maszstab  gemessen  zu  werden,  wie  andere  sterb- 
liche, um  so  höher  aber  schätzen  wir  die  tüchtigkeit  des  Charakters, 
je  niedriger  die  lebenssphäre  ist,  in  der  sie  uns  begegnet,  was  er- 
greift uns  denn  an  jenem  bekannten  gedieht  von  CbamUso  'die  alte 
waschfrau' so  tief?  ist  es  nicht  die  lebhafte  empfindung,  dasz  dieses 
arme  weib  unter  den  drückendsten  Verhältnissen  die  sittliche  auf- 
gäbe des  lebens  gelöst  hat,  dasz  sie  in  dem  to  engen  kreise,  der 
ihrem  arbeiten  und  schaffen  gezogen  war,  alle  jene  fugenden  bewährt 
bat,  welche  dem  leben  seinen  tiefsten  gehalt'und  seinen  höchsten 
wert  verleihen?  darum  wünscht  der  dichter  mit  recht,  er  hätte  einst 


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Erläuternde  bemerkungen  zu  Cicero  de  officiis  cap.  32.  33.  42.  489 


am  abend  seines  lebens  diesem  weibe  gleich  das  erfüllt,  was  er  er- 
füllen sollte  in  seinen  'grenzen  und  bereich'.  dasz  es  auch  im  alter- 
t  um  an  tüehtigen  menschen  in  den  niederen  ständen  nicht  gefehlt 
hat,  möchten  wir  nicht  in  abrede  stellen,  dasz  sie  aber  nicht  gobüh- 
rend  geschätzt  wurden,  ist  gewis.  für  das  aitertum  hatte  eben  nur 
diejenige  thätigkeit  sittlichen  wert,  welche  sich  unmittelbar  in  den 
dienst  des  Staates  stellte:  hier  war  das  feld,  wo  die  tugend  sich 
tummeln  und  sich  zeigen  konnte:  campus.  in  quo  excurrere  virtus 
cognoscique  posset.  nach  unserer  meinung  ist  dem  menschen  auf 
jedem  lebensgebiet,  mag  es  auch  noch  so  klein  und  unscheinbar  sein, 
die  möglichkeit  zur  bewährung  tugendhafter  gesinnung  gegeben, 
wir  fassen  die  aufgäbe  des  menschenlebens  in  weiterem  und  in  tiefe- 
rem sinne  auf  als  das  aitertum,  und  dieses  haben  wir  von  dem 
Christentum  gelernt. 

Für  einen  reiferen  schtiler  ist  es  gewis  lehrreich ,  sich  einmal 
den  eindruck  zu  vergegenwärtigen,  welchen  das  Christentum  auf 
einen  Griechen  und  Römer  machen  muste,  dasselbe  gewissermaszen 
mit  den  äugen  des  antiken  menschen  zu  betrachten,  für  das  bewust- 
sein  des  altertums  war  das  Christentum  die  gröste  paradoxie.  ihm 
muste  jene  forderung  geradezu  als  Wahnsinn  erscheinen,  in  einem 
juden  niederen  Standes,  der  von  seinen  eignen  an  sich  verächtlichen 
Volksgenossen  verworfen  und  dem  schimpflichsten  tode  überliefert 
worden  war,  die  erfüllung  des  sittlichen  ideals,  die  darstellung  gottes 
in  der  menschheit  zu  verehren.  Christus  war  dem  so  verachteten 
handwerkerstande  entsprossen;  sein  ganzes  leben  war  in  niedrigkeit 
dahingegangen,  seine  jünger  waren  männer  geringen  Standes,  sein 
täglicher  verkehr  die  armen  und  verachteten  im  volke,  'die  Zöllner 
und  sünder'.  aber  in  diesem  äuszerlich  so  unscheinbaren  leben  offen- 
barte sich  eine  alle  menschliche  erfahrung  Übersteigende  sittliche 
hoheit  und  als  sein  lebenswerk  betrachtete  er  es,  auch  in  den  gering- 
sten das  bewustsein  ihrer  menschenwürde  und  ihrer  ewigen,  gött- 
lichen bestimmung  zu  erwecken  und  sie  ebenso  wie  alle  übrigen  zur 
niitarbeit  an  der  erfüllung  der  höchsten  aufgäbe  der  menschheit,  an 
dem  bau  des  gottesreichs  auf  erden  aufzurufen  und  zu  begeistern, 
damit  waren  auch  die  socialen  unterschiede  wenigstens  auf  dem 
religiös-sittlichen  gebiet  prineipieli  überwunden  und  der  unendliche 
wert  auch  des  verachtetsten  menschenlebens  für  immer  festgestellt, 
seinen  allgemeinen  men9chenberuf  kann  und  soll  nun  ein  jeder  er- 
füllen, und  zwar  mit  und  in  seinem  besonderen  beruf,  wie  enge  sich 
in  dem  christlichen  bewustsein  beide  aufgaben  verbanden,  beweisen 
zahlreiche  stellen  der  Paulinischen  briefe  (das  nähere  vgl.  bei  Uhl- 
horn die  christliche  liebesthätigkeit  in  der  alten  kirche  s.  76  ff.),  in 
Übereinstimmung  damit  sagt  Luther  in  seiner  schritt  an  den  christ- 
lichen adel :  'ein  schuster,  ein  schmied,  ein  bauer,  ein  jeglicher  seines 
hand werks  amt  oder  werk  hat,  und  doch  alle  gleichgeweihte  priester 
und  bischöfe;  und  ein  jeglicher  soll  mit  seinem  amt  oder  werk  den 
andern  nützlich  und  dienstlich  sein,  dasz  also  vielerlei  werk  in  eine 


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490    Erläuternde  bemerkungen  zu  Cicero  de  officiis  cap.  32.  33.  42. 

gemeine  gerichtet  sind,  leib  und  seele  zu  fördern,  gleichwie  die  glied- 
masze  des  körpers  alle  eins  dem  andern  dienet.* 

Thun  wir  aber  dem  altertum  nicht  unrecht?  wüsten  die  alten 
nicht  auch  schon  von  der  einheit  und  gemeinschaft  des  ganzen  «Men- 
schengeschlechts, von  allgemeinen  menschenpflichten  und  einer  allen 
menschen  gemeinsamen  lebensau fgabe?  C.L.Roth  (in  seinem büch- 
lein:  von  alter  und  neuer  rhetorik  s.  16)  geht  offenbar  zu  weit,  wenn 
er  behauptet,  das  Vorhandensein  eines  berufs  des  menschen  als  mensch 
hätten  im  altertum  kaum  die  erleuchtetsten  sich  als  möglich  gedacht 
und  eine  anerkennung  allgemeiner  menschenrechte  und  menschen- 
pflichten sei  überall  da  unmöglich  gewesen,  wo  die  höchsten  mensch- 
lichen güter  als  Privilegien  des  einen  teils  der  bevölkerung  betrachtet 
wurden  und  der  andere  zahlreichere  teil  keinen  anspruch  an  dieselben 
hatte,  ist  es  doch  eine  thatsache,  dasz  die  grtlndung  des  macedo- 
nischen  und  in  noch  höherem  masze  die  des  römischen  Weltreichs 
und  die  damit  verbundene  allmähliche  abschwächung  der  nationalen 
gegensätze,  welche  durch  das  aufkommen  einer  weltcultur  noch  ge- 
fördert wurde,  die  auffassung  der  menschheit  als  eines  ganzen  an- 
gebahnt haben,  im  stoicismus  fand  dieselbe  ihren  philosophischen 
ausdruck.  die  stoiker  waren  kosmopoüten,  sie  lehrten  die  einheit 
des  menschengeschlechts  und  predigten  die  tugend  der  allgemeinen 
menschenliebe  nicht  wesentlich  verschieden  vom  Christentum,  auch 
Cicero  weisz  von  einer  societas  universi  generis  humani  und  den 
daraus  für  den  einzelnen  sich  ergebenden  pflichten,  freilich  sind  seine 
darauf  bezüglichen  anweisungen  ziemlich  dürftig  und  reichen  nicht 
an  das  heran,  was  von  einem  höheren  Standpunkt  sittlicher  einsieht 
die  stoiker  der  kaiserzeit  gelehrt  haben,  dasz  übrigens  die  Philo- 
sophie einen  veredelnden  einflusz  auf  weitere  kreise  der  gebildeten 
ausgeübt  hat,  ist  unbestreitbar:  aber  eine  Umgestaltung  der  socialen 
Verhältnisse  hat  sie  nicht  herbeizuführen  vermocht,  in  ihrer  Selbst- 
genügsamkeit verspürten  jene  philosophen  gar  keine  neigung  diese 
riesenarbeit  zu  Ubernehmen,  ihre  allgemeine  menschenliebe  war  im 
gründe  nur  philosophische  theorie,  nicht  zur  that  drängende  leiden- 
schaft.  wenn  ihnen  jeder  affect  als  etwas  vernunftwidriges  und 
krankhaftes  erschien ,  woher  hätte  ihnen  der  trieb  kommen  sollen, 
ein  werk  zu  übernehmen,  das  ohne  die  tiefste  und  mächtigste  er- 
regung  des  gemüts  zu  beginnen  nicht  möglich  war?  der  stoicismus 
hat  den  'beweis  des  geistes  und  der  kraft'  nicht  zu  liefern  vermocht 
nicht  die  apathie  der  stoischen  philosophen,  sondern  das  feuer  des 
glaubens  und  der  liebe,  wie  es  in  den  ersten  Christen,  vor  allem  in 
dem  apostei  Paulus  glühte,  hat  die  erneuerung  der  alten  weit  an- 
gebahnt, diesem  ist  es  freilich  nicht  eingefallen,  die  Sklaven  zur 
selbstbefreiung  aufzurufen  und  die  misachteten  niederen  stände  gegen 
die  aristokratie  der  geburt  und  des  besitzes,  oder  gar  gegen  die 
obrigkeit  aufzureizen,  vielmehr  empfahl  er  jedem  in  seinem  stände 
und  berufe  zu  bleiben  und  innerhalb  desselben  seine  religiösen  und 
sittlichen  pflichten  zu  erfüllen,  aber  dadurch,  dasz  das  Christentum 


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Erläuternde  bemerkungen  zu  Cicero  de  officiis  cap.  32.  33.  42.  491 


die  religiöse  Stellung  des  menschen  von  grund  aus  änderte  und  einen 
jeden  seiner  bekenner  mit  dem  lebendigen  bewustsein  seines  ewigen 
wertes  und  berufes  erfüllte,  hat  es  allmählich  auch  auf  die  übrigen 
lebensgebiete  einen  umgestaltenden  einflusz  ausüben  müssen,  die 
bewegung  aber,  welche  es  in  die  menschbeit  gebracht  hat,  ist  noch 
heute  nicht  abgeschlossen,  hat  denn  nicht  die  regierung  des  deutschen 
reiches  bei  der  einbringung  der  gesetze,  welche  der  socialen  not  der 
gegenwart  abhelfen  sollen,  ausdrücklich  erklärt,  zu  diesem  bedeut- 
samen schritt  durch  die  rücksicht  auf  die  sittlichen  forderungen  des 
Christentums  bestimmt  worden  zu  sein?  übrigens  ist  dieses  der  beste 
beweis  dafür,  dasz  der  staat,  trotzdem  er  heute  nicht  mehr  wie  im 
altertum  die  erste  stelle  in  dem  bewustsein  der  menschbeit  einnimmt, 
durch  das  Christentum  an  sittlichem  gehalt  nicht  verloren,  sondern 
vielmehr  erheblich  gewonnen  hat. 

Dieser  aufsatz  berührt  sich  in  seinen  resnltaten  mit  dem  früher 
in  dieser  Zeitschrift  erschienenen  aufsatze  über  das  somnium  Sci- 
pionis.  von  welcher  seite  wir  auch  in  ein  tieferes  Verständnis  der 
antiken  ethik  einzudringen  suchen ,  so  kommen  wir  zuletzt  auf  jene 
grundlegende  bedeutung,  welche  der  staat  im  leben  des  altertums 
hatte,  auf  dieses  unterscheidende  merkmal  antiker  lebensanscbau- 
ung  die  scbüler  hinzuweisen ,  erscheint  unerläszlich.  indessen  sind 
solche  erörterungen  nur  sparsam  und  mit  bedacht  anzustellen,  ge- 
wissermaszen  auf  den  höhepunkten  der  lectüre.  man  kann  auch  in 
dieser  beziehung  des  guten  zu  viel  thun.  wer  es  aber  ganz  unter- 
läszt,  auf  den  tieferen  historischen  Zusammenhang  zwischen  altertum 
und  Christentum  hinzuweisen,  der  verzichtet  auf  ein  wesentliches 
mittel,  den  sittlichen  gehalt  der  antiken  schriftsteiler  dem  gedanken- 
leben der  schüler  nahe  zu  bringen. 

Hemel.    Paul  Salkowski. 

48. 

DIE  LATEINISCHE  CASUSSYNTAX 
AUF  GRUNDLAGE  VON  CAESAR  (BELL.  GALL.  I— VII) 

UND  NEPOS. 


So  lange  auf  den  gymnasien  lateinische  aufsätze  angefertigt 
werden,  so  lange  wird  man  nicht  von  der  forderung  ablassen  können, 
dasz  der  schüler  nach  den  besten  mustern  schreibt,  d.  h.  nach  Cicero 
und  Caesar,  mit  recht  wird  daher  in  letzter  zeit  in  den  lateinischen 
grammatiken  ausschlieszlich  die  prosa  dieser  beiden  männer  berück- 
sichtigt, mit  der  casuslehre  wird  der  11 — 12  jährige  quartaner,  der 
kaum  noch  seine  lateinische  formenlehre  sicher  beherscbt,  in  die 
syntax  eingeführt,  der  quartaner  lernt,  dasz  persuadere  den  dativ 
regiert,  man  versucht,  'diese  fremdartige  erscheinung  der  con- 
struction'  dem  schüler  dadurch  'leicht  verständlich*  zu  machen, 
dasz  man  ihm  sagt,  persuadere  bedeute  eigentlich  'etwas  durchaus 


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492    Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 

annehmbar  machen,  mit  erfolg  raten',  vgl.  z.  b.  Schiller  pädagogik* 
s.  428.  ob  wirklich  durch  eine  derartige  deutung  viel  gewonnen  ist, 
möchte  ich  wenigstens  bezweifeln,  immerhin  lobe  ich  das  bestreben, 
den  schülern  Schwierigkeiten  aus  dem  wege  zu  räumen;  dieses  be- 
streben ist  sicherlich  die  folge  der  wahren  erkenntnis,  dasz  die  casus- 
lehre aus  einer  groszen  Sammlung  von  'oft  sehr  wenig  verbundenen 
einzelbeiten'  besteht,  das  zum  teil  rein  gedächtnismäszige  wissen 
aller  einzelheiten  kann  unmöglich  schon  von  einem  quartaner  ver- 
langt werden,  eine  beschränkung  ist  doch  wohl  sehr  geboten  und, 
ich  will  es  hinzufügen,  in  der  praxis  auch  bereits  durchgeführt:  es 
gibt  ja  bekanntlich  grammatiken,  in  denen  die  einzelnen  para- 
graphen  den  verschiedenen  classen  zugeteilt  sind,  ich  wünsche  eine 
consequente  durchfÜhrung  dieses  princips.  was  die  beschränkung 
anbetrifft,  so  ist  ausschlaggebend  in  erster  linie  die  didaxis.  daneben 
ist  in  letzter  zeit  auch  gefordert  worden,  dasz  die  augenblickliche 
lectüre  berücksichtigt  wird;  ich  verweise  namentlich  auf  Heynachers 
schrift  über  den  Sprachgebrauch  Caesars,  diese  forderung  wird  frei- 
lich nicht  allseitig  anerkannt,  nur  vielseitig;  ich  unterschreibe  sie 
gerne.  Heynacher  will,  dasz  der  gesamte  lernstoff  für  die  mittleren 
classen  lediglich  aus  Caesars  beil.  Gall.  I— VII  gewonnen  wird,  den 
Sprachgebrauch  des  Nepos  hat  Heynacher  völlig  unberücksichtigt 
gelassen,  doch  wohl  nur  aus  dem  gründe,  weil  Nepos  nicht  zu  den 
classikern  gehört,  aber  der  Nepos  genuinus  bildet  doch  fast  aus- 
schlieszlich  auf  den  preuszischen  gymnasien  die  lectüre  der  quarta; 
bearbeitungen  scheinen  weniger  beliebt  zu  sein;  ich  verweise  auf 
Eichner  'über  die  lateinische  lectüre  in  quarta',  progr.  des  gymn.  zu 
Meseritz  1890.  in  der  that  verlangte  bereits  Kleist  in  derzeitschr. 
für  das  gymnasial we6en  1883  s.  121  die  berücksichtigung  des  Sprach- 
gebrauchs des  Nepos.  was  den  lernstoff  der  quarta,  also  die  casus- 
syntax,  anbetrifft,  so  stimme  ich  hrn.  Kleist  vollkommen  bei.  frei- 
lich ist  Nepos  kein  classiker;  eben  deshalb  darf  aber  auch  der 
quartaner  nicht  lornen ,  dasz  praesto  neben  dem  dat.  auch  den  acc. 
regieren  kann;  beide  constructionen  finden  sich  bekanntlich  bei 
Nepos.  indessen  derartige  abweichungen  vom  classischen  Sprach- 
gebrauch finden  sich  nicht  gar  zu  viele,  wie  ich  mir  eine  beider- 
seitige berücksichtigung  des  Sprachgebrauchs  in  der  casussyntax 
denke,  mögen  folgende  proben  zeigen. 

doceo,  edoceo  mit  dem  doppelten  acc.  kommen  bei  Caesar  gar 
nicht  vor;  edoceo  nur  1  mal  bei  Nepos  in  der  praefatio,  die  nicht 
gelesen  werden  sollte,  also  wird  die  construction  dieser  verben  erst 
auf  der  Oberstufe  gelernt,  das  verbum  praesto  c.  dat.  findet  sich  bei 
Caesar  im  bell.  Gall.  I— VII  nur  1  mal.  demgemäsz  weist  Heynacher 
die  construction  dieses  verbums  der  Oberstufe  zu ,  verweist  für  die 
mittelstufe  auf  supero,  vinco.  in  diesem  punkte  stimme  ich  Heynacher 
nicht  zu.  dasz  praesto  in  die  grammatik  gehört,  ist  selbstverständ- 
lich ,  da  es  sich  bei  Cicero  oft  findet,  ich  möchte  praesto  aber  auch 
in  den  lernstoff  der  mittelstufe  aufnehmen,  denn  es  findet  sich  bei 


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Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos.  493 


Nepos  7 mal,  allerdings  5 mal  mit  dem  acc,  nur  2 mal  mit  dem  dat.; 
immerhin  kommt  dem  sehüler  dieses  verbum  einigemal  zu  gesicht, 
wenn  auch  nicht  immer  7  mal,  denn  alle  vitae  können  in  einem  jähre 
nicht  gelesen  werden,  wer  dem  princip  Heynachers  huldigt,  wird  zu 
einer  recht  beträchtlichen  beschränkung  gelangen  müssen,  letztere 
dürfte  kaum  auf  allseitigen  beifall  rechnen  können,  denn  ein  fort- 
laufendes ergänzen  und  ausfüllen  von  lücken  in  den  oberen  classen 
hat  gewis  seine  Schattenseiten,  die-  es  wäre  aber  die  folge  einer  con- 
sequenten  durchführung  der  inductiven  methode,  wie  sie  vielfach 
auch  auf  die  grammatik  angewandt  wird,  ich  meinerseits  möchte 
eine  Zweiteilung  vorschlagen,  was  speciell  die  casussyntax  anbetrifft, 
und  zwar  das  lernpensum  der  m ittelstufe  aufbauen  auf  grundlage 
von  Nepos  und  Caesar  bell.  Gall.  I— -  VII.  —  Für  den  accusativ  der 
ausdehnung  im  räum  bei  den  adjectiven  altus  usw.  bietet  Nepos  kein 
beispiel,  wohl  aber  Caesar:  also  weise  ich  diesen  paragraphen  erst 
der  tertia  zu.  dasz  diese  construction  den  Schülern  der  quarta 
keinerlei  Schwierigkeit  bietet,  weisz  ich  sehr  wohl,  nur  wünsche 
ich,  dasz  ein  gewisses  princip  obwaltet,  ich  wünsche  aber  auch, 
dasz  endlich  einmal  über  die  zu  lesenden  viten  des  Nepos  eine 
einigung  erzielt  würde;  nur  die  als  lesenswert  empfohlenen  viten 
müsten  dann  berücksichtigt  werden,  eine  neue  Würdigung  der  ein- 
zelnen viten  des  Nepos  steht,  wenn  ich  recht  erinnere,  von  hrn. 
Bäbnisch  in  Glogau  in  aussieht,  in  der  folgenden  arbeit  habe  ich 
natürlich  sämtliche  viten  berücksichtigen  müssen;  wenn  ich  mir  ge- 
legentlich gestattet  habe,  mein  urteil  über  einzelne  viten  durch- 
blicken zu  lassen,  so  weisz  ich  sehr  wohl,  dasz  meine  ansieht  nicht 
maszgebend  ist.  sollten  einige  lehrercollegien  mit  meinem  princip 
im  allgemeinen  einverstanden  sein,  so  bliebo  denselben  nur  die  auf- 
gäbe, eine  auswahl  der  zu  lesenden  viten  zu  treffen,  auch  die  ge- 
legensten viten  bieten  schon  einen  genügenden  lernstoff.  was  zu- 
nächst den  Sprachgebrauch  in  der  casussyntax  bei  Nepos  anbetrifft, 
so  liegt  die  dankenswerte  und  vollständige  Zusammenstellung  Köhlers 
vor  (Gotha  1888).  ich  konnte  und  muste  mich  begnügen,  im  allge- 
meinen die  resultate  zu  geben,  oft  in  zahlen  ausgedrückt,  auf  diese 
schrift  verweise  ich  hiermit,  wer  wissen  will,  in  welcher  oder  wel- 
chen viten  diese  oder  jene  spracherKcheinung  sich  findet,  der  musz  die 
Köhlersche  schrift  zu  rate  ziehen;  ich,  dieses  wiederhole  ich,  gebe 
im  allgemeinen  nur  die  resultate.  diese  resultate  habe  ich  im  folgen- 
den mit  den  aus  Caesar  gewonnenen  ergebnissen  zusammengestellt, 
vielfach  habe  ich  mir  gestattet,  nach  dem  Vorgang  Heynachers  so- 
genannte 8chluszbetrachtungon  den  einzelnen  paragraphen  zuzu- 
fügen; selbstverständlich  sind  dieselben  eben  nur  subjectiver  art ; 
über  mancherlei  punkte  wird  stets  verschieden  geurteilt  werden 
können,  doch  wie  dem  auch  sei ,  gerade  auf  dem  gebiete  der  casus- 
syntax hielt  ich  eine  beschränkung  für  durchaus  wünschenswert; 
ich  wünsche,  dasz  diese  beschränkung  von  einem  bestimmten  princip 
aus  vorgenommen  wird. 


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494    Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 

In  gewisser  beziehung  bin  ich  über  die  durch  meine  aufgäbe 
gesteckten  grenzen  hinausgegangen,  ich  hoffe  nemlich,  dasz  es  man- 
chem lehrer  erwünscht  ist,  zu  erfahren,  in  welcher  ausdebnung  etwa 
eine  bei  Nepos  oder  Caesar  gar  nicht  oder  sehr  selten  zu  belegende 
spracherscheinung  bei  Cicero  sich  findet;  auch  Livius  habe  ich  zu- 
weilen berücksichtigt,  zu  diesem  zwecke  habe  ich  eine  reichliche 
litteratur  benutzt,  auf  die  ich  an  den  betreffenden  stellen  verwiesen 
habe,  so  stellte  es  sich  heraus,  dasz  manche  einzelheiten  überhaupt 
aus  der  lateinischen  grammatik  gestrichen  werden  können,  was 
dieses  weitergehende  masz  der  beschränkung  betrifft,  so  stimme  ich 
im  allgemeinen  mit  der  vorzüglichen  grammatik  von  Stegmann 
überein;  dieser  grammatik,  die  bereits  an  mehr  als  30  gymuasien 
eingeführt  ist,  folge  ich  in  der  reihenfolge  der  paragraphen. 

Heynachers  schrift  liegt  bereits  in  zweiter  aufläge  vor.  Hey- 
nacher  selber  gesteht,  dasz  er  die  anfange  der  lexica  Caesariana  noch 
nicht  benutzt  habe,  so  kam  mir  der  entschlusz,  das  betreffende 
capitel  dieser  schrift  auf  grund  eigner  lectüre  gleichsam  zu  revi- 
dieren, alsbald  erschien  das  lexicon  von  Menge -Preuss.  an  der 
hand  dieses  lexicons  controllierte  ich  zuletzt  meine  Zusammenstel- 
lung, so  hoffe  ich,  dem  begriffe  der  Vollständigkeit  möglichst  nahe 
gekommen  zu  sein ;  sollte  mir  dennoch  gelegentlich  eine  stelle  ent- 
gangen sein ,  so  möge  es  entschuldigt  werden,  namentlich  habe  ich 
in  weit  ausgedehnterem  masze  als  Heynacher  die  handscbriften- 
classe  ß  berücksichtigt  so  bin  ich  gelegentlich  zu  andern  resultaten 
gelangt,  wie  weit  auch  sonst  meine  schrift  sich  von  dem  betreffen- 
den capitel  in  Heynachers  schrift  unterscheidet,  möge  der  gütige 
leser  selber  beurteilen,  im  übrigen  wurde  auch  mir  gleich  Heynacher 
bald  klar,  dasz  grosze  'philologische  lorbeeren*  bei  meiner  arbeit 
nicht  zu  pflücken  waren,  das  meiste  verdanke  ich  dem  trefflichen 
lexicon  von  Menge-Preuss.  auch  ich  bitte,  meine  Zusammenstellung 
'lediglich  vom  pädagogischen  Standpunkt  aus'  betrachten  zu  wollen. 

Zum  schlusz  gebe  ich  die  abkürzungen  für  die  am  meisten 
citierten  aufsätze  usw. 

Draeger  =  Draeger  historische  syntax  der  lat.  spräche  I*.  — 
Kühner  =  Kühner  ausführliche  lat.  gramm.  II  1  (1878).  —  Harre 
=  Harre  lat.  schulgramm.  2r  teil.  —  Ell.-Seyff.  =  Ellendt-Seyffert- 
Fries  lat.  gramm.30;  nachträglich  habe  ich  noch  die  34e  aufl.  ver- 
glichen. —  Haase-Peter  Haase-Peter  Vorlesungen  über  lat.  Sprach- 
wissenschaft II  band.  —  Stegmann  =  grammatik.  —  Heynacher 
«=  Heynacher  'was  ergibt  sich  aus  dem  Sprachgebrauch  Caesars  im 
bell.  Gall.  für  die  behandlung  der  lat.  syntax  in  der  schule".  — 
Köhler  =  Köhler  der  Sprachgebrauch  des  Cornelius  Nepos  in  der 
casussyntax.  —  Kr.-Dtt.  =  Caesarausgabe  von  Kraner-Dittenberger14. 
—  Db.-Di.  =  Caesarausgabe  von  Doberenz-Dinter*.  —  M.  =  Caesar- 
ausgabe von  Menge3.  —  M.-Pr.  =  lex.  Caes.  von  Menge-Preuss.  — 
Fischer  =*  Fischer  casuslehre  bei  Caesar,  progr.  der  lat.  hauptschule 
zu  Halle  1853.  1854.  —  Schmalz  A.  =  antibarbarus  von  Krebs- 


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Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos.  495 


Allgayer-Schmalz.  —  Fügner  =  Fügner  Livius  XXI — XXIII.  — 
Richter  =  Richter  kritische  beraerkungen  zu  Caesars  comm.  VII  de 
bello  Gallico,  progr.  des  gymn.  zu  Stargard  in  Pommern  1889.  — 
Neitzert  =  Neitzert  bemerkungen  zur  lat.  gramm.  usw.,  progr.  des 
gymn.  zu  Weimar  1886.  —  Gaede  =  Gaede  die  lat.  schulgramma- 
tiken  von  Ellendt-Seyffert  und  von  Stegmann,  programm  vonDanzig 
1889.  —  Bähnisch  =  Bähnisch  sämtliche  sätze  des  Cornelius  Nepos 
usw.,  Leipzig,  Teubner,  1890.  —  JGW.  «=  Berliner  Jahresberichte 
in  der  Zeitschrift  für  das  gymnasialwesen  (=  ZG W.).  —  JP. 
Masius  jahrb.  f.  pfid.  —  N.  =  Nepos;  C.  —  Caesar  bell.  Gall.  I— VII. 
eine  einfache  zahl  hinter  N.  und  C.  gibt  an ,  wie  oft  eine  sprach- 
erscheinung  bei  Nepos  oder  Caesar  (bell.  Gall.  I — VII)  sich  findet. 

Nachträglich  verweise  ich  noch  auf  Plochmann :  Caesars  Sprach- 
gebrauch in  bezug  auf  die  syntax  des  casus  (Pr.-Schweinfurt  1891). 
die  schritt  von  Heynacher  ist  dem  Verfasser  ganz  unbekannt  ge- 
blieben; die  lex.  Caesariana  sind  nicht  benutzt,  um  kritik  hat  sich 
PI.  fast  gar  nicht  gekümmert,  auf  Vollständigkeit  will  die  schrift 
keinen  anspruch  machen ;  im  übrigen  ist  sie  lesenswert. 

A.  Accusativns. 

§i. 

adaequare 1  aliquid  alicuius  C.  4  z.  b.  cursum  navium.  —  iuvare 
C.  4,  N.  2;  adiuvare  C.  3  (absolut  noch  2),  N.  9.  —  fugere  aliquid 
C.  nur  VII  30,  1,  N.  nur  Att.  15,  3.  —  effugere  C.  2,  N.  6.  merke 
eff.  mortem,  periculum,  invidiam.  —  subterfugere  C.  N.  0.  —  de- 
fugere  C.  1.  —  aliquid  me  deficit  C.  4;  deficere  ab  aliquo  und  aliqua 
re  z.  b.  amicitia  C.  3  (3  noch  absolut),  N.  3  (absolut  noch  2);  animo 
deficere  nur  C.  VII  30,  1.  —  ulcisci  iniuriam  C.  1,  N.  1  (Att.  11,  5 
erg.  iniuriam);  u.  aliquem  (pro  aliqua  re)  C.  3.  —  sequi  C.  18* 
(4  =  verfolgen),  N.  13.  —  consequi  C.  3  einholen  (aliquem),  7  er- 
reichen, erlangen  z.  b.  auctoritatem,  libertatem;  verfolgen  III  19,  4; 
sich  anschlieszen  VI  38,3;  N.  17  (meistens  =  erlangen).  —  exsequi 
nur  C.  I  4,  3.  —  insequi  verfolgen  C.  10  (VII  80,  8,  wird  richtig 
insecuti  gelesen  mit  codd.  «;  consecuti  codd.  ß),  N.  nur  Att.  9,  2.  — 
persequi  C.  7  (5  =  verfolgen3;  I  53,  5  persequentem  die  editt. 

1  aeqnare  nliquem,  aliquid  CO;  ans  Cic.  ist  Schmalz  (vgl.  «ntib.  8.  v.) 
kein  beispiel  bekannt;  nequare  Sali.  O;  aber  vgl.  Liv.  23,  46,  12  (Fügner 
8.  21)  u.  a.  N.  bat  nur  das  wenig  gebräuchliche  aequiperare  (Thenn,  6,  1. 
Ale.  11,  3).  vgl.  Schmalz  A.  8.  v.  fman  vermeide  das  wort  wenigstens  in 
der  schule,.  Harre  8.  12  unterscheidet  adaequare  aliquam  rem  und  alicui 
parem  ease'faliqna  re).  C.  VI  12,  7  soll  nach  Kr.-Ditt.,  Db.-Dt.,  M.  Aeduos 
als  personenobject  ergänzt  werden,  also  adaequare  aliquem  aliqua  re? 
Schmalz  A.  8.  v.  adaequare  alicui  «liqua  re  oder  aliquill  alicuius. 

*  Caes.  VII  87,  4  equitum  partem  sequi  .  .  .  iubet  (Caesar);  so 
Nipperdey,  Menge  nacb  er;  Kr.-Ditt.,  Db.-Dt.  richtig  mit  ß  se  sequi, 
weil  Caesar  stets  so  sagt,  vgl.  Richter  8.  32. 

8  'verfolgen*  =  persequi;  erst  bei  gelegenheit  der  Caesarlectüre 
braucht  insequi  gemerkt  zu  werden:  speciellere  bedeutung  hat  bei  Caesar 
prosequi;  vgl.  auch  Schmalz  A.  s.  v.  prosequi. 


496    Die  lat.  oasussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 


mit  er;  inseq.  die  cod.  TLUH),  N.  15,  meistens  =  verfolgen;  merke 
aliquem  bello  persequi  C.  N.  6.  —  prosequi  aliquem  verfolgen  C. 
II  11,  4  (multa  milia  passuum);  V  9,  8  (longius);  abs.,  jedoch  mit 
dem  zusatz  longius  IV  26,  5;  V  52,  1.  also  C.  gebraucht  prosequi 
nicht  gleichbedeutend  mit  persequi;  vgl.  noch  II  5,  1  p.  aliquem 
liberaliter  oratione;  N.  2  pros.  aliquem  «=  jemandem  das  geleit 
geben.  —  subsequi  C.  9 ,  N.  0.  —  sectari  nur  C.  VI  35,  8  (prae- 
dam).  —  consectari  aliquem,  eifrig  verfolgen  C.  6,  N.  2.  —  imitari 
aliquid  C.  2,  N.  1  (Dion  3,  1  aliquem  in  aliqua  re). 

Anm.  consolari,  gratulari,  minari  aliquid  (Ell.-Seyff.)  C.  N.  0. 
—  aemulari  aliquem  N.  1  (Cicero  aemulari  alicui;  aliquid  an  weni- 
gen stellen,  vgl.  Schmalz  A.  s.  v.).  —  adulari  alicui  N.  Att.  8,  6 
(Cic.  ad.  aliquem  ,  selten). 

Resultat. 

adaequo,  iuvo,  adiuvo,  fugio  (V) ,"  effugio,  deficio  (aliquem  und 
ab  aliquo),  ulciscor,  sequor,  imitor. 

§2. 

decet,  dedecet;  fallit,  fugit,  praeterit  C.  0;  Nep.  hat  nur  decet 
im  Att.  6,  4 ;  fugit  im  Dion  2,  1 ;  fallit  3  mal:  Ale.  8,  6,  Dion  5,  5, 
Ages.  3,  5  (aliqua  res  z.  b.  opinio  me  fallit,  täusche  mich  in  etwas; 
fallo  transitiv  wie  das  deutsche  'täuschen',  also  gehört  die  wendung 
aliquid  me  fallit  nicht  in  die  grammatik,  sondern  in  eine  phrasen- 
sammlung. 

§3. 

Die  transitiv  gebrauchten  verben  des  affects. 

Die  gebäuchlichsten,  bei  Cic.  vorkommenden  verben  des  affects 
8.  Draeger  s.  358  f.,  Kühner  s.  196  f.  Nep.  indignari  Dion  4,  2; 
tacere  ebd.  2,  5;  mirari  Hann.  11,  3;  admirari  =  bewundern  4(5); 
sich  wundern  über4  Epara.  6,  3;  vgl.  Con.  3,  l  neque  id  erat  miran- 
dum  u.  ä.;  Köhler  s.  8  f.  Caes.  tacere  I  17,  1;  horrere  I  32,  4; 
extimesco  II  13,  9;  miserari  beklagen  (also  gleiche  construetion  im 
deutschen  und  lateinischen)  I  39,  4;  VII  1,  5.  mirari  sich  wundern 

V  54,  5;  admirari  bewundern  VII  52,  3;  V  52,  2.  —  In  betracht 
kommen  nur  queri  und  desperare :  queri  bei  Caes.  mit  acc.  und  de 
in  den  bedeutungen  1)  klagen  über,  sich  beschwerden  I  20,  6; 

VI  42,  1;  IV  8,  3.  2)  klagen  über,  bejammern  I  39,  4;  VII  63,  8; 

VII  1,  4.  desperare  trans.,  jedoch  stets  in  der  constr.  des  abl.  abs.5, 

4  kein  unterschied  ist  zwischen  mirari  und  admirari.  v.  Kobilinski 
vorwort  zu  einer  neuen  Zusammenstellung  der  gebräuchlichsten  lat. 
synonymen,  gymn.-progr.  Königsberg  i.  Pr.  1890  s.  3.  bei  miror  finden 
sich  altitudinem,  moderattonem  patientiamque,  vas;  bei  admiror:  artem 
et  malitiatn,  audaciam. 

s  Cic.  gebraucht  desperare  trans.  nicht  ausschliesslich  in  der  con- 
struetion des  abl.  abs.  vgl.  Lael.  90,  Mar.  43,  Cat.  II  19,  MiL  56  u.  a. 
IJarre  ZGW.  1889  s.  664. 


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Die  lat.  casu.ssyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos.  497 

bei  C.  11  mal  z.  b.  salute  desperata;  ähnlich  auch  Nep.  vgl.  C. 
VII  3, 1  desperatis  hominibus.  sonst  desperare  de  aliqua  re  bei  C.  6 
(so  auch  Nep.).  vgl.  desp.  sibi  C.  VII  50,  4;  suis  fortunis  III  12,  3. 
für  die  mittelclasaen  empöehlt  sich  folgende  fassung  der  regel: 
'einige  verben  werden  sowohl  transitiv  als  auch  intransitiv  ge- 
braucht, z.  b.  despero,  queror  rem  und  de  re.'  so  Harre,  der  nur 
noch  lugeo  hinzufügt. 

§  4. 

Viele  intransitiva,  welche  eine  bewegung  oder  ein  verweilen 
im  räum  ausdrücken,  werden  durch  Zusammensetzung  mit  präposi- 
tionen  transitiv. 

a)  circum,  per,  praeter,  trans.  vgl.  Draeger  s.  378  ff. 

C.  4  circumire*,  N.  6  (4  feindlich,  umgehen).  C.  21  circum- 
venire  (feindlich)  umzingeln,  3  in  die  falle  locken  (pass.).  N.  nur 
Cato  4,  3.  C.  6  circumsistere  (feindlich)  umringen,  2  sich  herum- 
stellen um  jemanden  IV  5,  2;  VII  8,  4.  N.  1  circumvehi,  1  circum- 
sedere.  —  N.  1  peragrare.  —  praeterire  aliquid,  unerwähnt  lassen 
C.  2,  N.  3.  —  transcendere  nur  C.  VII  70,  5j  transgredi  C.  3; 
transire  C.  41,  N.  7.  —  Harre  lat.  wortkunde  usw.  vorrede  IV  2: 
'die  ganze  regel  über  die  composita  mit  circum  usw.  ist  nichts  wert.' 
für  die  schüler  der  mittelclassen  dürfte  genügen  die  vocabelmliszige 
kenntnis  der  verba  circum  venire  (-sistere,  -ire)  umzingeln,  praeterire 
unerwähnt  lassen,  transire  (-gredi,  oft  Liv.,  vgl.  Fügner  s.  21)  über- 
schreiten. 

Anm.  copias  flumen.7  traducere  u.  ä.  C.  6.  —  traicere  N.  Ages. 
4,  4.  —  transportare  nur  C.  IV  16,  6.  —  transmittere  C.  VII  61,  2 
(erg.  flumen),  vgl.  VI  24,  1  trans  Rhenum  colonias  mitterent.  dasz 
bei  gleichzeitiger  angäbe  des  zieles  trans  stehen  musz,  scheint  Kr.- 
Di  1 1.  nur  aus  C.  I  35, 3  geschlossen  zu  haben.  Schmalz  A.  s.  v.  tra- 
ducere. aus  Cic.  ist  Eichler  (ZGW.  1887  s.  421)  kein  beispiel  be- 
kannt, für  die  mittelstufe  genügt  die  kenntnis  von  traducere. 

b)  Intransitiva  der  bewegung  werden  oft  in  der  Zusammen- 
setzung mit  den  präpositionen  ad,  con,  in,  sub,  ob  transitiv,  aller- 
dings meist  in  übertragener  bedeutung.  vgl.  Draeger  s.  377  ff.  414, 
Kühner  s.  199  ff. 

Sehen  wir  ab  von  verben  wie  aggredi,  angreifen  (so  nur  Caes.), 

8  circutnire,  umzingeln,  mit  personetiobject  findet  sich  im  bell.  Gall. 
nur  in  dem  manche  Singularitäten  enthaltenden  Tu  buch  cap.  67  §  6 
(circnmirentur  a;  ist  mit  ß  eircumvenirentur  zu  schreiben?),  anders 
III  25,  2;  VII  87,  4;  V  2,  2.  allerdings  bell.  civ.  I  44,  3  circumiri  sese 
ab  aperto  latere. 

7  die  Verbindung  flumine  exercitum  traducere  ist  mit  Sicherheit  bei 
Caes.  nirht  nachzuweisen,  denn  VII  53,  4  wird  eo  (so  a;  pontem  ß)  an- 
gezweifelt, vgl.  Kr.-Ditt.  krit.  anhang;  Meusel  JGW.  1885  p.  192  f., 
Richter  s.  18.  C.  Schneider,  Walther,  Prammer  lesen  mit  ß  pontem  für 
eo.  allerdings  heiszt  es  bell.  civ.  III  37,  1  Scipio  .  .  .  exercitum  vado 
traducit,  aber  vado  =  an  einer  seichten  stelle,  vgl.  bell.  Gall.  VI  9,  3 
supra  eum  locura,  quo  .  .  .  exercitum  traduxerat. 

W.  jahrb.  f.  phil.  a.  pid.  11.  abt.  1891  hfl.  10.  32 


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498    Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 

adoriri,  ascendere  u.  a.,  so  kommen  für  C.  in  betracht  adire,  con- 
venire,  inire,  insistere,  subire,  obire. 

adire  loca,  nationes  u.  8.  II  7,  3  (quo  ß,  Kr.-Ditt,  M.;  quos 
Db.-Dt.,  Schneider),  III  7,  1;  11,  2;  IV  20,  2;  21,  8;  VI  35,  6; 
VII  71,  2;  86,  3;  adire  aliqnem  sich  wenden  an  VII  4,  3;  adire  ad 
local  4.  Nep.  4  adire  ad ;  vgl.  Timoth.  4,  3  capitis  periculum  adire, 
ähnlich  Timol.  5,  2  (vgl.  Seyffert-Mueller  zum  Laelius  s.  167;  adit 
periculum,  wer  die  gefahr  aufsucht,  subit,  wer  sich  der  vorhandenen 
unterzieht;  übrigens  gehören  die  obigen  zwei  vitae  zu  den  weniger 
gelesenen);  convenire  aliquem  treffen,  nur  C.  II  27,2;  aliqnid 
convenit  inter  II  19,  6,  abs.  I  36,  5;  convenire  bei  N.  in  verschie- 
denen constructionen  (vgl.  Köhler  s.  10) :  aliquid  convenit  alicui  rei 
praef.  2,  Ages.  5,  3,  Eum.  11,  3  (in  betracht  kommt  wohl  höchstens 
nur  Ages.  5,  3);  aliquid  c.  in  aliquem  nur  Ale.  3,  4;  aliquid  c.  inter 
nur  Paus.  4,  2  (abs.  Hann.  6,  3);  mihi  convenit  cum  aliquo  überein- 
kommen, nur  Ages.  2,  3;  conv.  aliquem  antreffen,  nur  Dat.  5,  1 
(Dat.  vielfach  ausgeschlossen  als  leetüre) ;  c.  aliquem  besuchen  Epam. 
4,  1 ;  Dion  8,  3  u.  9,  3 ;  Ale.  9,  5 ;  abs.  Paus.  3,  3.  —  inire  consilium 
C.  13  (abs.  oder  mit  de,  contra)  plan  fassen,  vgl.  VI  12,  4  nihil  se 
contra  Sequanos  consilii  inituros;  VII  9,  4  si  quid  ...  de  sua  saiute 
ab  Aeduis  iniretur  consilii;  IV  5,3  de  summis  rebus  consilia ineunt; 

V  27,  6;  VII  1,  3;  43,  3;  43,  5  (folgt  indirecter  fragesatz);  con- 
silium inire  =  c.  capere  (vgl.  VI  20,  2  de  summis  rebus  c.  capere; 
Menge-Preuss  lex.  Caes.  s.  v.),  allerdings  findet  sich  bei  Caesar  nie 
(auch  im  bell.  civ.  nicht)  c.  inire  cum  infin.8   vgl.  inire  gratiam 

VI  43,  5;  rationem,  numerum  VII  24,  4;  76,  3.  N.  4  inire  (con 
silia,  gratiam,  rationem).  —  insistere  rationem  C.  III  14,  3.  —  in- 
vadere  N.  2  trans.  gegen  den  classischen  gebrauch  (Schmalz  A.  s.  v.; 
Cic.  inv.  in,  Caes.  überhaupt  nicht).  —  subire  periculum  C.  I  5,3; 
VI  30,  4,  vgl.  N.  Epam.  8,  2  poenam ;  anders  C.  subire  trans.  local 
II  27,  5  (vgl.  VIII  15,  1),  I  36,  7;  s.  condicionem  VII  78,  2.  - 
obire  =  administrare  C.  V  33,  3;  N.  Dion  1,  4  legationes;  —  diem 
supremum  obire  N.  5,  ohne  supr.  Dion  10,  3.  nach  Schmalz  A.  s.  v. 
obire  ist  classisch  nur  mortem  obire;  Ell.-Seyff. ,  Stegmann  führen 
diem  supremum  obire  an  (Sali.  Liv.  0). 

Der  schüler  lerne  folgende  Wendungen :  adire  terras  usw.  auf- 
suchen; convenire  aliquem  besuchen;  aliquid  convenit  inter  überein- 
kommen V  consilium  inire  (tertia);  subire  pericula  sich  unterziehen. 

Anm.  adire  ad  local;  societatem  coire  nur  N.  Con.  2,  2;  Sali. 
Liv.  0;  Cic.  oft. 

Die  verba  des  Übertreffens. 

anteire  C.  0;  N.  Thras.  1,  3;  Chabr.  4,  1  (beide  vitae  seltener 
gelesen);  antestare  N.  Arist.  1,  2  c.  dat.  dersache  (Cic.  nur  de  inv. 
II  1,  2;  vgl.  Schmalz  A.  s.  v.);  ante-  excellere  C.  N.  0;  praecedere 


Nep.  Lys.  III  1  iniit  consilia  reges  Lacedaemoniorum  tollere. 


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Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos.  499 

■ 

N.  0  (Cic.  0  nach  Schmalz);  Caes.  nur  I  1,  4;  antecedere  c.  acc.  C. 
HI  8,  1;  VE  54,  2;  abs.  VI  12,  3;  27,  1;  N.  7;  Cic.  antecedere 
c.  dat.;  Seyffert  (vorrede  zur  5n  aufl.  der  gramm.  VII  weist  hin  auf 
das  sehwanken  der  hss.,  hält  es  für  möglich,  dasz  Cic.  antecedere 
c.  acc.  schrieb;  praesto  hat  Nep.  5 mal  mit  dem  acc.  gegen  den 
strengclassischen  Sprachgebrauch,  2  mal  der  dativ,  Chabr.  4,3;  Ages. 
3,  3;  bei  Liv.  steht  bald  der  dat.,  bald  der  acc;  Cic.  stets  der  dat., 
so  auch  Caes.  I  2,  2 ;  abs.  III  13,  7,  vgl.  II  15,  1.  Schmalz  A.  s.  v. 
Heynacher  s.  129  will,  dasz  der  schaler  bis  II*  sich  mit  superare, 
vincere  aliquem  aliqua  re9  behilft,  beide  verben  finden  sich  häufiger 
bei  Caes.  Nep.  auch  antecedere  c.  acc.  scheint  mir  nicht  unwichtig 
zu  sein;  praestare  c.  dat.  ist  vielleicht  zu  entbehren,  zumal  der 
Chabrias  zu  den  seltener  gelesenen  viten  gehört. 

§5. 

a)  Die  figura  etymologica  C.  0,  denn  in  ausdrücken  wie  tridui 
viam  progressi  IV  4,  5 ,  VI  25,  4  u.  a.  ist  tr.  v.  ein  acc.  der  raum- 
bestimmung,  wie  z.  b.  magnum  spatium  abesse  II  17,  2  u.  a.  Nep. 
sicher  nur  Hann.  5,  1  hac  pugna  pugnata.  Timol.  4,  2  iumentis 
iunctis.  vgl.  übrigens  Pretzsch:  zur  Stilistik  des  Nepos,  Spandau 
progr.  1890  s.  45—47. 

Die  verba  oleo,  redoleo,  sitio,  sapio,  resipio  C.  N.  0.  über  diese 
verben  bei  Cic.  vgl.  Stegmann  JP.  1885  s.  231 :  die  hier  angeführten 
stellen  beziehen  sich  fast  alle  auf  Schriften  philosophischen  inhalts. 

b)  hoc  gaudeo,  id  studeo,  illud  te  rogo  C.  0;  sehr  wenige  falle 
bei  N.,  vgl.  Köhler  s.  9. 

§6. 

Der  acc.  adverbialis. 

multum  =  sehr,  bei  confidere,  adiuvare,  difierre  8,  z.b.  III  9, 3 ; 
V  1,  3;  14,  1;  vgl.  noch  IV  1,  8;  m.  =  oft  IV  1,  8;  3,  3;  m.  = 
lange  V  47,  3;  m.  posse  2;  m.  valere  2;  m.  abesse  bildlich  V  2,  2 
(räumlich  longe  abesse).  —  plus  posse  I  17,  1 ;  pl.  valere  I  40,  14 
(plus  zu  lesen  mit  /?,  vgl.  Schneider  JGW.  1885  s.  157,  Meusel  ebd. 
s.  195);  plus  proficere  VII  82,  1  (proficere  der  bedeutung  nach 
intrans.,  vgl.  bell.  civ.  III  23,  3  adeo  .  .  .  profecit,  ut;  pr.  nihil  2; 
parum  1;  quid  1).  —  plurimum  posse,  valere  10.  —  nihil  durchaus 
nicht;  sicher  8,  denn  V  34,  4  streicht  Paul  ZGW.  1881  s.  283  levi- 
tate  —  posse;  die  worte  eingeklammert  Kr.-Ditt. ;  V  36,  2  non 

9  nach  Schultz  lat.  Synonymik"  1879  8.  67:  f vincere  setzt  immer 
einen  feind  oder  gegner  und  daher  einen  kämpf  voraus,  durch  welchen 
der  sieg  erlangt  wird,  daher  z.  b.  in  bezug  auf  schlachten  und  pro- 
cesse  vincrre,  in  bezug  auf  die  Überlegenheit  des  talents  usw.  superare 
das  bezeichnende  wort  ist.'  dagegen  v.  Kobilinski  a.  o.  vincere  bestias 
icnmanitate,  Cic.  Sext.  Kose.  63;  ingenio,  venustate  artificio,  Quinct.  70; 
prudentia  consilioque.  Verr.  III  16;  stultitia  omnis,  Phil.  II  19.  —  vgl. 
Nep.  Eum.  1,  3  vincebat  enim  omnes  cura,  vigilantia,  patientia,  calli- 
ditate  et  celeritate  ingenii  u.  ö. 

32» 


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500    Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepoe. 


codd.  ß]  nonnihil  III  17,  5.  —  paulum  18;  paululum  sicher  nur 
II  8, 3.  —  minimum  posse  I  20, 2.  —  plerumque  15;  aliquid  1 40,5; 
(ali)quid  3;  quid?  5;  tantum  posse  u.  a.  8;  =  nur  soweit  II  8,  3; 
VI  27,  4;  quantum  distare  2;  q.  posse,  valere  5;  tantum  —  quan- 
tum  2;  aliquantum  V  10,  2;  maximam  partem  IV  1,  8.  ausdrücke 
wie  potius,  minus,  facile  u.  a.  lasse  ich  unerwähnt,  der  acc.  ad?, 
bei  Nep.  häufig,  vgl.  Köhler  e.  17. 

Der  schüler  merke  multum,  plus  usw.  posse ;  paulum  z.  b.  pro- 
gredi;  nihil  durchaus  nicht;  plerumque  meistens;  auch  multum, 
viel,  sehr? 

§7. 

Der  doppelte  accusativ. 

I.  Bei  den  verben  machen ,  wählen  zu  etwas  usw. 

1)  facere,  efficere,  reddere.  —  facere  I  36,  3;  36,  4;  IV  3,  4; 

V  1,  2—3;  N.  21;  aliquem  certiorem  facere  C.  25  (de  aliqua  re, 
nicht  gen.),  N.  6  (nie  mit  de  oder  gen.) ;  efficere  C.  I  38„6 ;  III  24,5; 

V  33,  5;  VI  7,  9.  N.  0;  reddere  C.  activisch  mit  prädicatsadjectiv 
II  5,  5;  N.  8. 

Anm.  am  gebräuchlichsten  ist  facere  (mit  prädicatssubstantiv 
und  -adjectiv;  Cic.  aliquem  consulem,  heredem  facere;  facere  mit 
adj.  bei  Cic.  nach  Hildebrands  Zählung  150  mal,  efficere  und  reddere 
50 mal;  reddere  bei  Liv.  nur  lmal);  efficere  aliquem  consulem  usw. 
kann  nach  Schmalz  A.  s.  v.  'gut  lat.  nicht  gesagt  werden;  efficere 
wird  nemlich  von  allem  dem  gesagt,  an  dessen  entstehung  langsam, 
aber  consequent,  natürlich  oft  mit  mühe,  oft  aber  auch  ohne  mühe 
gearbeitet  wird*,  dieser  bedeutung  entsprechen  obige  stellen  bei 
Oaes.  durchaus;  vgl.  z.  b.  auch  b.  civ.  III  9,  6  cum  diuturnitas 
oppugnationis  neglegentiores  Octavianos  effecisset,  III  84,  2  quae 
res  in  dies  confirmatiorem  eius  exercitum  efficiebat  u.  a.  Liv.  hat 
efficere  selten,  es  dürfte  sich  empfehlen,  den  scbüler  der  raittel- 
classen  in  der  anwendung  sich  auf  facere  und  reddere  (im  act.)  be- 
schränken zu  lassen.  —  Für  reddere  hat  C.  redigere  II  27, 5 ;  IV  3,4 ; 
vgl.  Kr.-Ditt.  zu  II  27,  5. 

2)  creare  usw.  creare  C.  VII  33,  3  und  I  16,  5 ;  N.  Thras.  3, 1. 
Schmalz  A.  s.  v.  creare ,  wählen  zu  einem  amte ,  nicht  etwa  aliquem 
amicum  creare  für  deligere ;  deligere  C.  III  23,  5  (ducem,  so  N.  4), 
IV  19,  3;  constituere  aliquem  regem  C.  IV  21,  7;  V  54,  2;  eligere, 
declarare ,  designare  C.  N.  0. 

3)  appellare  usw.  C.  28  appellare  (benennung  von  personen, 
Völkern,  inseln,  tieren  usw.;  vgl.  noch  besonders  VI  36,  2  qui  illius 
patientiam  paene  obsessionem  appellabant).  N.  19.  —  dicere  C. 
b.  Gall.  0  (sonst  3 mal);  N.  Milt.  8,  3,  Att.  9,  1.  —  Zu  vocare  vgl. 
C.  V  21,  3  oppidum  .  .  .  Britanni  vocant,  cum  Silvas  impeditas  vallo 
atque  fossa  munierunt;  N.  7  (=  sogenannt).  —  nominare  C.  VII 
73,  9;  N.  2 mal.  Schmalz  A.  s.  v.  nominare  wird  meistens  da  ge- 
braucht, wo  es  'einen  namen  von  etwas  (ex)  erhalten'  bedeutet,  ist 


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Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepoe.  501 

dies  nicht  der  fall,  so  wird  appellare,  dicere,  vocare  gebraucht.  — 
Am  häufigsten  ist  jedenfalls  bei  C.  N.  appellare.10  vgl.  ferre  C. 
VI  17,  1. 

4)  halten  für:  an  zahlreichen  stellen  stehen  die  verba  puto, 
existimo  usw.  nur  anscheinend  mit  dopp.  acc.  verbunden,  vgl.  C. 
III  21,  1  cum  Sontiates  ...  in  sua  virtute  totius  Galliae  salutem 
positam  putarent;  ähnlich  V  34, 1  (posita  a;  posita  esse  ß),  VII  25, 1 ; 

V  44,  10;  [eine  Übersetzung  mit  'halten  für'  würde  ungelenk  sein. 
—  putare,  halten  für,  aber  mit  infin.  als  object  V  12,  6,  VI  23,  9 
(fas  non  putant),  VII  8, 1  (periculosum  putabat;  hingegen  VII  33,1 
detrimentosum  esse  existimabat).  N.  10  putare  mit  dopp.  acc.  — 
existimare  mit  dopp.  acc.  bei  C.  I  39,  6,  VI  21,  2,  VII  19,  3  (erg. 
Gallos),  IV  16,  4;  vgl.  VII  40,  5  (interfectos  für  tot),  III  7,  1;  N. 
existimare  5.  —  arbitrari  (fehlt  in  den  meisten  grammatiken)  C. 
II  28,  1  (cum  victoribas  nihil  impeditum,  victis  nihil  tu  tum  arbi- 
trarentur),  IV  24,  4;  VII  27,  1;  esse  fehlt  V  44,  10;  VII  25,  1; 
N.  4  mal  (vgl.  Köhler  s.  14  oben).  Schmalz  A.  s.  v.  für  die  class. 
Verbindung  zweier  accusative  ohne  esse  bei  diesem  verbum,  die  man 
vielleicht  leugnen  konnte,  diene  Cic.  Fam.  V  12,  6:  non  eos  magis 
. . .  invidos,  quam  eos,  qui  laudant,  assentatores  arbitrari.  —  ducere 
halten  für,  mit  infin.  als  obj.  VI  18,  3  (turpe  ducunt);  ducere 
glauben ,  mit  acc.  c.  inf.  I  3,  2 ;  IV  30,  2.  N.  ducere  4  mal ;  ducere 
halten  für,  rechnen  zu  (in)  numero  alicuius  ducere  aliquem  C. 

VI  21,  2;  23,  8;  32,  1.  N.  0.  auch  sonst  ducere  in  numero  ge- 
bräuchlicher, Schmalz  A.  s.  v.  —  habere  halten  für,  activ.  Cic.  3 
mit  adj.:  V  33,6;  VI  23,9;  VII  19,5  (vgl.  auch  z.  b.  b.  civ.I  8,3); 
N.  3;  einigemal  auch  Cic,  vgl.  Schmalz  A.  s.  v.  I  585.  hauptsäch- 
lich allerdings  steht  habere  in  dieser  bedeutung  pass.  C.  6,  N.  5.  vgl. 
aber  habere  aliquem  (in)  numero ,  loco  alicuius  C.  7  (I  26,  6 ;  28,  2 
»  behandeln);  N.  4 mal;  vgl.  noch  C.  I  44,  11  (aliquem  pro  amico 
habere),  VI  5,  3;  VII  42,  2. 

Also:  die  verba  des  glaubens,  puto,  existimo,  arbitror,  sowie 
habeo,  duco  regieren  in  der  bedeutung  'halten  für'  den  dopp,  acc. 
merke  (tertia?)  aliquem  ducere,  habere  (in)  numero,  (in)  loco; 
habere  pro. 

5)  habere  mit  dopp.  acc.  «==»  haben  zu,  als  C.  6,  N.  20;  iudicare 
erklären  ftir  C.  I  30,  3;  V  36,  3  (aliquem  hostem),  VII  77,  13.  N.  6 
(einigemal  aliquem  hostem) ;  numerare  C.  N.  0. 

6)  C.  7  relinquere  (vgl.  Heynacher  s.  18)  z.  b.  VII  25,  4  locum 
vacuum;  N.  9.  seltener  finden  sich  bei  C.  folgende  verba:  dare  2 
(I  31,  7  u.  8  aliquem  obsidem),  poscere  I  31,  12;  adsciscere  aliquem 
sibi  socium  I  5,  4,  III  9,  10;  adducere  II  5,  1;  probare  VII  43,  6; 


10  J.  H.  Heinr.  Schmidt  handbuch  der  lat.  und  griecb.  Synonymik 
8.  18.  appellare  und  vocare  bezeichnen  das  nennen  als  die  form  der 
anrede  an  eine  person  oder  als  das,  wie  man  zu  einem  gegenstände 
sagt,  wenn  man  die  rede  anf  ihn  lenkt,  vgl.  Schultz  Synonymik6  s.  33. 
diese  definitionen  sind  nicht  zutreffend;  v.  Kobilinski  a.  o.  s.  8. 


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502    Die  lat  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepoa. 

mittere  I  7,  3;  accipere  II  13,  1;  VI  12,  4;  VII  54,  4;  profiteri 

V  38,  4;  cognoscere  VII  77,  15;  V  6,  1.  mit  unrecht  zieht  Fischer 
I  s.  5  und  6  hierher  I  19,  2  und  V  4,  3.  für  Nep.  vgl.  Köhler  s.  14. 
(Nepos  macht  einen  ausgedehnten  gebrauch  von  dieser  construction, 
z.  b.  dare  3,  cognoscere  5,  adiungere  2,  sumere  1 ,  reperire  2,  in- 
venire  1  u.  a.) 

Die  termini  technici  wie  aliquem  dictatorem  dicere  C.  bell. 
Gall. ,  N.  0. 

7)  se  praestare  C.  N.  0;  se  praebere  nur  N.  Ages.  6, 1 ;  se  gerere 
mit  adv.  N.  6,  aber  C.  0;  Cic.  selten. 

II.  Der  doppelte  acc.  bei  den  verben  doceo  usw.,  posco  usw., 
oro  usw. 

1)  docere,  edocere  weder  C.  b.  Gall.  noch  b.  civ.,  N.  nur  edocere 
in  der  praef.  1 ;  ed.  Cic.  0,  vgl.  Neitzert  s.  10;  imbui,  instrui,  erudiri 
aliqua  re  C.  0;  N.  einigemal  erudire  (i),  Att.  1,  12;  2,  4;  Epam. 
1,  4;  Iphicr.  2,  4;  Tbem.  10,  1;  docere  aliquem  de  C.  nur  VII  10,3. 
N.  0.  —  celare  mit  dopp.  acc.  C.  0,  N.  Ale.  ö,  2  (id  Alcibiades 
diutius  celari  non  potuit). 

2)  poscere  mit  dopp.  acc.  C.  N.  0"j  reposcere  aliquid  ab  C. 

V  30,  2;  postulare  aliquid  (satz  mit  ut)  ab  I  35,  2;  34,  1;  N.  0; 
flagitare  mit  dopp.  acc.  C.  1 16,  1.  vgl.  Heynacher  8.  129  *die  verba 
«fordern»  construiere  wie  im  deutschen'. 

3)  oro,  rogo  mit  dopp.  acc.  C.  0;  nur  bloszer  acc.  der  sache 
I  11,  2;  VII  5,  2  (auxilium,  subsidium  rogatum),  sonst  ut,  ne.  Nep. 
nur  Att.  15,  1  quidquid  rogabatur;  precari  aliquid  ab  Nep.  Timol. 
5,  3.  wichtig  für  die  schüler  der  mittelclassen  ist  nur  petere  ah 
aliquo  aliquid  C.  I  32,  1;  IV  8,  3;  II  13,  3;  IV  27,  5;  vgl.  peto  ab 
aliquo  ut  usw.  M.-Pr.  lex.  s.  v.  Nep.  petere  aliquid  ab  aliquo  8  (ut, 
ne  8).  petere  aliquem,  aliquid  oft  C.  N. 

rogare,  interrogare  mit  dopp.  acc.  C.  N.  0;  percontari,  sciscitari 
C.  N.  0;  oft  quaerere  ex  (C.  6),  ab  aliquo  (C.  3) :  es  folgt  acc.  eines 
Substantivs  oder  pronomens  VI  37,  6;  VII  44,  2;  I  18,  2;  18,  3; 
folgt  indir.  fragesatz  4  mal.  N.  hat  quaerere  ab  mit  abhängigem 
fragesatz  5,  ebenso  ohne  ab  6. 

Resultat,  wichtig  nur  petere  aliquid  ab  aliquo  und  quaerere  ali- 
quid ex  (ab)  aliquo. 12 

§8. 

Der  acc.  in  ausrufungen  fehlt  bei  C.  N. 

11  poscere  mit  dopp.  acc.  nach  Draeger  s.  374  selten  bei  Cic;  jedoch 
führt  v.  Kobilinski  (ZQW.  1886  s.  16)  noch  an:  Verr.  17;  I  44;  I  86; 
I  127;  II  119;  II  143;  IV  82.  vgl.  Haase -Peter  s.  90;  v.  Kobilinski 
(ZGW.  1889  s.  446):  in  Ciceros  reden  posco  2 mal  mit  a.  9 mal  mit  dopp. 
acc.    reposcere  mit  dopp.  acc.  Verr.  IV  17;  IV  113. 

,s  am  gebräuchlichsten  nach  den  verben  des  fragens  überhaupt 
wohl  ein  indir.  fragesatz.    aliquem  sententiam  rogare  C.  N.  0. 

(fortsetzung  folgt.) 
Schwerin.  K.  Brinker. 


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Zur  geschiente  des  geogr.  unterrichte  auf  den  gymnasien.  503 

49. 

EIN  BEITRAG  ZÜR  GESCHICHTE  DES  GEOGRAPHISCHEN 
UNTERRICHTS  AUF  DEN  GYMNASIEN. 


Im  Zeitalter  der  reformation  wurden  die  grundlagen  mittelalter- 
licher bildung  auf  allen  gebieten  erschüttert ,  die  fesseln  des  geistes 
wurden  beseitigt,  wie  die  menschheit  ihre  religiöse  freiheit  wieder 
erhielt,  so  durchbrach  auch  der  forschungstrieb  die  schranken  des 
geschichtlichen  und  geographischen  wissens.  die  Wiederbelebung  des 
classischen  altertums  besiegte  die  Unwissenheit,  in  welcher  die  kirche 
des  mittel  alters  die  menschheit  gelassen  hatte,  der  geographische 
gesichtskreis  wurde  bedeutend  erweitert,  die  groszen  entdeckungen 
eines  Christoph  Columbus  in  Amerika  und  eines  Vasca  de  Gama  in 
Indien,  nicht  minder  die  durch  Fernando  Magellan  begonnene,  wenn 
auch  von  ihm  nicht  zu  ende  geführte  Weltumsegelung  führten  eine 
reform  geographischer  Vorstellungen  herbei,  die  stellang  der  erde 
im  Universum  wurde  durch  den  deutschen  astronomen  Nicolaus  Co- 
pernicus  entdeckt;  die  Copernicanische  lehre  von  der  drehung  der 
erde  um  die  sonne  begründete  eine  ganz  neue  anschauung  vom  weitall. 
zu  diesen  entdeckungen  kamen  noch  die  erfindungen  des  compasses 
und  des  fernrohrs ,  durch  welche  erst  die  transatlantische  fahrt  und 
astronomische  beobachtungen  ermöglicht  wurden,  das  interesse  an 
der  erdkunde  wurde  hierdurch  allgemein  geweckt;  auch  Deutsch- 
land nahm  an  dieser  Strömung  regen  anteil. 

Man  könnte  sich  fragen,  warum  bei  dem  lebhaften  interesse  an 
der  geographie  während  des  reformationszeitalters  diese  nicht  auch 
in  den  Schulunterricht  aufgenommen  wurde,  der  grund  hierfür  ist 
darin  zu  suchen ,  dasz  die  erdkunde  zu  jener  zeit  noch  keine  selb- 
ständige fertige  Wissenschaft  bildete ,  und  dasz  in  der  schule  noch 
immer  die  religion  alle  andern  diseiplinen  in  den  hintergrund  drängte. 
Luther  und  Melanchthon  legten  nur  wert  auf  die  Unterweisung  in 
der  religion  und  den  classischen  sprachen ;  alle  übrigen  fach  er  musten 
dagegen  zurücktreten,  bei  einer  solchen  auffassung  gelehrter  bil- 
dung kann  es  nicht  befremden,  dasz  die  erst  aufblühende  geographie 
keinen  platz  fand  im  lehrplan  der  deutschen  schule. 

Während  des  16n  jahrhunderts  bildete  demnach  die  erdkunde 
noch  keinen  Unterrichtsgegenstand;  in  den  reformationsschulen über- 
wog noch  ganz  das  kirchliche  interesse;  die  realien  fanden  so  gut 
wie  keine  berücksieb tigung.  und  wo  wirklich  das  Zeitalter  der  ent- 
deckungen einen  einflusz  auf  die  gestaltung  des  lehrplans  auszuüben 
schien,  da  war  es  weniger  geographie  als  astronomie  und  astrologie, 
welche  gelehrt  wurde,  die  astrologie  gehörte  zu  den  damaligen  mode- 
studien  und  wurde  vielfach  in  den  Gymnasien  getrieben,  so  war  sie 
auch  in  die  von  Johannes  Sturm  1538  verfaszte  Ordnung  des  Strasz- 
burger  gymnasiums  aufgenommen  worden,  indem  der  höchsten  classe 
die  elemente  der  astrologie  gelehrt  werden  sollten,  wo  man  sich 


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504     Zur  geschiente  des  geogr.  Unterrichts  auf  den  gymnasicn. 

von  dieser  damals  sehr  beliebten,  aber  doch  recht  wertlosen  be- 
schäftigung  fernhielt,  war  es  die  astronomie,  welche  einen  ersatz  für 
die  erdkunde  bilden  muste.  in  der  regel  wurden  nur  in  der  höch- 
sten classe  und  hier  auch  nur  die  am  weitesten  fortgeschrittenen 
scbüler  in  den  anfangsgründen  der  astronomie  unterrichtet.1 

Auch  in  der  folgezeit  wurde  auf  den  gymnasien  geographischer 
Unterricht  noch  nicht  erteilt;  einzelne  zweige  desselben,  wie  pbysik 
und  astronomie  wurden  wohl  gelehrt;  aber  von  einer  speciellen  erd- 
kunde war  noch  nicht  die  rede,  erst  um  die  mitte  des  lTnjahr- 
hunderts  erscheint  diese  häufig  im  lehrplan  höherer  schulen,  wenn 
auch  meist  die  berichte  über  geographischen  Unterricht  äuszerst 
knapp  und  dürftig  sind  und  sich  nur  schwer  die  ziele  desselben  er- 
kennen lassen,  so  ist  derselbe  doch  um  diese  zeit  in  den  gelehrten 
schulen  der  verschiedensten  städte  Deutschlands  nachzuweisen,  schon 
sehr  früh  ist  dieser  in  der  Nicolaischule  zu  Leipzig  eingeführt  ge- 
wesen, da  nach  der  Schulordnung  von  1611  für  die  gesamte  prima 
die  bestimmung  getroffen  war,  die  schüler  gelegentlich  auch  in  ge- 
schiente und  geographle  zu  unterweisen,  weil  beide  Wissenschaften 
in  jeder  hinsieht  den  grösten  vorteil  gewährten.2  das  Nicolaigymna- 
sium zu  Leipzig  war  hierin  den  meisten  andern  schulen  weit  voraus, 
bei  denen  die  geograpbie  erst  um  1650  und  oft  noch  später  im  lehr- 
plan erscheint. 

Nicht  ohne  einflusz  auf  den  geographischen  Unterricht  war  die 
läge  der  stadt,  in  welcher  das  gymnasium  sich  befand,  bemerkens- 
wert in  dieser  beziehung  sind  die  lectionsverzeichnisse  des  Danziger 
gymnasiums  aus  den  jähren  1665  und  1687.  nach  dem  ersten  lehrte 
der  professor  der  mathematik  die  demente  der  astronomie  und  mathe- 
matische geographie;  nach  dem  zweiten  unterrichtete  er  die  schüler 
der  beiden  höchsten  classen  über  handel  und  Seeschiffahrt  und  ver- 
band mit  seiner  mathematik  die  lehre  vom  globus,  von  den  mächtig- 
sten fürsten  und  Staaten,  vom  handel  des  morgen-  und  abendlandes. 
da  zu  dieser  zeit,  wie  auch  noch  im  18n  und  dem  grösten  teile  des 
19n  jahrhunderts  die  erdkunde  noch  keine  Wissenschaft  war,  welche 
auf  der  Universität  studiert  werden  konnte,  und  demnach  geogra- 
phisch gebildete  lehrer  nicht  vorhanden  waren,  so  ist  es  besondere 
anzuerkennen,  dasz  der  geographische  Unterricht  nicht  einem  cantor 
oder  philologen  anvertraut  wurde,  welche  durch  ihre  thätigkeit  oder 
ihre  Studien  dieser  Wissenschaft  ganz  fern  standen,  vielmehr  lag  hier 
die  Unterweisung  in  der  erdkunde  demjenigen  professor  ob,  welcher 
durch  seine  beschäftigung  mit  mathematik  und  mathematischer  geo- 
graphie noch  am  meisten  dazu  berufen  war.  wie  hier  in  Danzig,  so 

1  so  war  dies  besonders  auch  in  der  sächsischen  Schulordnung  von 
1580  vorgeschrieben:  codex  Angustus  oder  neu  vermehrtes  corpus  iuris 
Saxonici  von  J.  Chr.  Lüniz  bd.  I  s.  475  ff.  (1724);  vgl.  Zober  urkundL 
geschiebte  des  Stralsunder  gymnasiums  1660—1860  (Schulordnung  von 
1591  für  das  Stralsunder  gymn.). 

*  Dohmke  fdie  Nicolaischule  zu  Leipzig  im  siebzehnten  Jahrhundert', 
progr.  des  Nicolaigymnasiums  zu  Leipzig  1874. 


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Zur  geschichte  des  geogr.  unterrichte  auf  den  gymnasien.  505 

legte  man  auch  anderweit  mehr  und  mehr  wert  auf  die  beschäftigung 
mit  der  geographie.  in  den  gymnasien  zu  Frankfurt,  Bayreuth, 
Wolfenbüttel  usw.  fand  dieselbe  eingang.  in  Bayreuth  ordnete  der 
herzog  an,  dasz  in  seinem  gymnasium  die  rdisciplinae  instrumentales 
et  reales  systematice  docirt'  würden:  absonderlich  sollte  auch  auf  das 
Studium  der  mathematik  und  geographie  fleiszig  gesehen  werden. 3 
Diese  der  geographie  immerhin  günstige  Strömung  hielt  auch 
während  des  18n  jahrhunderts  an  und  wurde  vor  allem  durch  die 
pietistische  schule  gefördert,  freilich  musz  man  bedenken ,  dasz  an 
vielen  orten  die  lehrstunden  des  gymnasiums  in  öffentliche  und  pri- 
vate getrennt  waren  und  dasz  diese  Unterscheidung  keinen  andern 
zweck  hatte  als  eine  erhöhung  der  schulgelderträge,  die  geographie 
wurde  dann  meist  in  privaten  stunden  gelehrt,  so  dasz  dieser  Unter- 
richt für  die  schüler  durchaus  nicht  allgemein  war  und  wohl  nur  die 
wenigsten  an  demselben  teil  genommen  haben  dürften,  der  wert  des 
geographischen  Unterrichts  war  zudem  auch  noch  ein  sehr  geringer, 
da  es  nur  auf  mechanische  gedächtnisübung  ankam  und  vor  allem 
diese  stunden  von  lehrern  erteilt  wurden,  welche  weder  mit  der 
geographie  sich  beschäftigt  hatten  noch  besondere  fähigkeiten  für 
den  Unterricht  in  derselben  besaszen.  merkwürdig  ist,  dasz  sehr  oft 
der  cantor  die  erdkunde  lehrte,  gerade  diejenige  lehrkraft  in  der 
schule,  welche  die  wenigste  Vorbereitung  für  diesen  gegenständ 
gehabt  haben  wird,  als  dann  während  des  18n  jahrhunderts  in 
mehreren  classen  geographischer  Unterricht  erteilt  wurde,  schien 
der  cantor  immer  noch  die  geeignete  persönlichkeit,  der  jugend  die 
*rudimenta  geographiae'  beizubringen,  er  wurde  dann  meist  in  den 
unteren  classen  beschäftigt,  während  der  rector  und  der  conrector 
den  älteren  schülern  einige  anleitung  in  der  erdkunde  zu  geben  ver- 
suchten. 

Einen  fortschritt  machte  die  pietistische  schule  am  anfang  des 
18n  jahrhunderts,  indem  sie  die  geographie  als  besondere  disciplin 
in  den  unterrichtsplan  einführte,  in  der  lateinischen  schule  des 
Franckeschen  Waisenhauses  und  im  pädagogium  zu  Halle  wurde 
die  erdkunde  regelmäszig  gelehrt,  zwar  blieb  auch  jetzt  noch  der 
Unterricht  recht  dürftig,  wie  dies  besonders  aus  der  Ordnung  für  das 
pädagogium  vom  jähre  1702  erhellt,  denn  die  grundlage  für  die 
geographie  bildeten  Hübners  geographische  fragen,  durch  welche 
ohne  Zusammenhang  den  schülern  eine  grosze  reihe  namen  von  län- 
dern,  flüssen  und  Städten  beigebracht  werden  sollten,  die  Ordnung 
von  1702  schrieb  vor,  diese  fragen  von  anfang  bis  ende  durchzu- 
gehen, nur  bei  dem  gelobten  lande  sollte  man  sich  etwas  länger  auf- 
halten, bei  erklärung  der  einzelnen  namen  würde  man  am  besten 
die  geschichte  heranziehen,  die  bibel  sollte  aber  dabei  fleiszig  auf- 
geschlagen werden,  und  die  historien,  welche  sich  an  jeglichem  ort 
begeben,  dazu  erzählet  werden,  sonst  wird  nur  noch  verlangt,  dasz 


s  Vormbaum  evangelische  Schulordnungen  bd.  II  8.  627  ff. 


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506    Zur  geschiente  des  geogr.  Unterrichts  auf  den  gymnasien. 

man  auf  die  Verhältnisse  in  Deutschland  etwas  näher  eingehe,  aber 
auch  hier  zeigt  die  lehrordnung,  wie  vollständig  man  die  aufgäbe 
und  das  ziel  der  erdkunde  und  erdbeschreibung  verkannte,  indem 
man,  statt  die  schüler  mit  bodenbeschaifenheit,  pflanzen-  und  tier- 
weit bekannt  zu  machen,  es  für  hinreichend  fand:  eines  jeglichen 
kreises  directorem  zu  zeigen  und  etwas  hinzuzuthun  von  der  genea- 
logie  der  vornehmsten  häuser!  besondern  wert  legte  man  darauf, 
den  schülern  die  lateinischen  namen  eines  jeden  ortes  geläufig  zu 
machen,  eine  bestimmung  verdient  noch  hervorgehoben  zu  werden, 
um  so  mehr,  da  sie  in  der  folgezeit  ganz  allgemein  wird:  die  neuig- 
keiten  aus  der  zeitung  während  der  geographischen  stunde  mitzu- 
teilen, nicht  selten  kam  es  auch  vor,  dasz  den  schülern  die  ganze 
zeitung  vorgelesen  wurde,  das  mag  freilich  für  den  präeeptor  recht 
bequem  gewesen  sein,  da  dies  keiner  weiteren  Vorbereitung  bedurfte, 
um  jedoch  hierbei  einen  gröszern  vorteil  zu  erzielen,  wird  in  der 
Franckeschen  lehrart  von  1702  die  kleine  einschränkung  hinzu- 
gefügt:  es  sollten  wohl  die  deutschen  Zeitungen  tractiert  werden, 
aber  der  lehrer  möchte  sie  zuvor  durchlesen  und  am  anfang  der 
lection  die  vornehmsten  punkte  erzählen,  damit  während  der  stunde 
nicht  zu  viel  zeit  entgehe. 

Ein  solcher  geographischer  Unterricht  konnte  natürlich  lust  und 
liebe  zur  erdkunde,  begeisteiung  für  dieselbe  nicht  erwecken;  das 
buch  der  natur  blieb  den  schülern  unverständlich,  weil  ihre  lehrer 
selbst  weit  entfernt  waren ,  die  bedeutung  und  den  wert  der  geo- 
graphie  zu  verstehen,  anstatt  mit  offenem  auge  in  die  weit  zu  schauen 
und  wenn  das  fernerliegende  nicht  bekannt  war,  zur  beobachtung 
der  heimat  und  des  Vaterlandes  anzuleiten,  beschäftigte  man  sich 
während  des  geographischen  Unterrichts  mit  geschiente,  den  historien 
der  bibel  oder  höchstens  einer  politischen  einteilung  des  landes ;  durch 
genealogie  der  vornehmsten  häuser  sollte  die  Unterweisung  in  der 
geographie  vervollständigt  werden! 

Bei  allem  mangel  der  ausfuhrung  war  jedoch  die  gute  absieht 
vorhanden  gewesen,  dieser  bisher  so  vernachlässigten  und  doch  so 
unendlich  wichtigen  diseiplin  etwas  aufzuhelfen,  bei  der  erneuerten 
Ordnung  des  pädagogiums  von  1721  sind  wenigstens  mehrere  be- 
sonders verfehlte  bestimmungen  weggelassen  und  ist  die  consideratio 
geographica  nach  den  grenzen  und  flüssen  eines  landes  als  die  baupt- 
aufgabe  des  Unterrichts  bezeichnet,  vor  allem  wird  auf  die  grosze 
bedeutung  der  geographie  für  die  historie  hingewiesen,  indem  fest- 
gesetzt ist,  dasz  zur  geschiente  niemand  zugelassen  werden  solle,  der 
nicht  zuvor  in  der  geographie  seine  Schuldigkeit  gethan  habe;  denn 
man  könne  ohne  diese  in  jener  nicht  fortkommen. 

Diese  richtige  erkenntnis,  dasz  man  beim  Studium  der  geschiente 
die  geographie  nicht  entbehren  könne,  verbreitete  sich  in  der  ersten 
hälfte  des  18n  jahrhunderts  mehr  und  mehr,  man  hätte  glauben 
sollen,  wenn  nun  einmal  die  Überzeugung  von  der  bedeutung  der 
geographie  vorhanden  war,  dasz  der  Unterricht  in  diesem  fache  nun 


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Zur  geschiente  deB  geogr.  Unterrichts  auf  den  gymnasien.  507 

auch  sachgemäszer  erteilt  worden  wäre,  leider  blieb  es  im  allge- 
meinen bei  der  Wertschätzung  derselben;  nur  wenige  ausnahmen 
zeigen,  wie  kläglich  sonst  tiberall  die  erdkunde  bedacht  war. 

Die  Franckeschen  schulen  waren  vielen  andern  voraus ;  denn 
während  in  Halle  die  geographie  bereits  ein  fester  lehrgegenstand 
war,  wurde  sie  an  vielen  gymnasien  nur  gelegentlich  berührt,  zu- 
meist im  geschichtsunterricht,  welcher  immer  rücksicht  nehmen 
sollte  auf  geographie,  genealogie  und  Chronologie,  früher  war  sie 
häufig  nur  in  der  obersten  classe  gelehrt  worden,  aber  beim  beginn 
des  I8n  Jahrhunderts  machte  sich  die  auf fassung  geltend,  dasz  schon 
die  jüngeren  schüler  den  anfang  mit  der  geographie  machen  müsten, 
weil  dieselbe  sowohl  ein  iucundum  Studium,  als  auch  res  memoriae 
sei.  eine  besondere  erwäbnung  verdient  hier  die  Hirschbergische 
Schulordnung  von  1713,  welche  die  geographie  als  die  schöne  Wissen- 
schaft bezeichnet,  wie  man  aus  denlandkarten  und  erdbeschreibungen 
klimata,  Situation  und  connexion  der  teile  der  weit,  dero  provinzen, 
städte  usw.  begreifen  solle,  zwar  bilden  auch  hier  Hübners  geogra- 
phische fragen  die  grundlage  des  Unterrichts,  das  wichtigste  aber 
ist,  dasz  sich  hier  bereits  ein  anfang  des  karten  Zeichnens  findet,  denn 
weil  nicht  alle  schüler  die  raappas  geographiae  antiquae  sich  an- 
schaffen könnten,  sollte  ihnen  hiervon  ein  abrisz  an  der  tafel  gegeben 
werden ,  'damit  solche  Wissenschaft  desto  besser  durch  die  äugen  in 
das  gedächtnis  fallen  möge'. 

Dasz  Hübners  geographische  fragen  für  eine  zweckmäszige  Unter- 
weisung in  der  erdkunde  unbrauchbar  seien,  dafür  erhoben  sich  zwar 
schon  manche  stimmen ,  aber  nur  an  wenigen  orten  wurde  man  da- 
durch bewogen,  einen  neuen  weg  einzuschlagen,  eine  eigenartige 
Stellung  nahm  hier  das  coliegium  Carolinum  zu  Braunschweig  ein, 
in  welchem  man  die  geographie,  soweit  sie  nur  die  grosze  der  länder, 
deren  abteilungen,  grenzen  und  fiüsse  betrachtete,  für  eine  zu  trockene 
Wissenschaft  und  deshalb  nicht  hinreichend  fruchtbar  für  die  zwecke 
dieser  anstalt  hielt,  es  wurde  daher  bestimmt,  dasz  hier  über  alle 
diese  dinge  mit  hinzufügung  dessen,  was  aus  der  mathematik,  physik 
und  andern  Wissenschaften  nötig  sei,  ein  coliegium  unter  dem  namen 
rstaatsgeographie'  gelesen  werde,  bei  jedem  land  sollten  seine  natür- 
lichen vorteile  und  nachteile  bemerkt,  dabei  auch  die  politischen  Ver- 
hältnisse berührt  werden,  die  zuverlässigsten  reisebeschreibungen 
und  die  staatszeitungen  dürften  nicht  auszer  acht  gelassen  werden, 
bei  der  erneuerten  Ordnung  des  coliegium  Carolinum  vom  jähre  17744 
scheint  an  stelle  der  staatsgeographie  ein  sogenanntes  zeitungscolleg 
getreten  zu  sein,  in  welchem  der  lehrer  jederzeit  die  neuesten  und 
interessantesten  staatsbegebenheiten  aus  den  öffentlichen  nachrichten 
anzeigte  und  zu  besserem  Verständnis  das  nötigste  aus  der  geographie 
und  staatsgeschichte  hinzufügte,  ob  dieser  Unterricht  die  schüler 
besser  in  die  erdkunde  einführte  als  Hübners  geographische  fragen, 

4  beide  Ordnungen  sind  abgedruckt:  Monumenta  Germaniae  paeda- 
gogica  bd.  I  (Berlin  1886)  8.  236  ff.  und  401  ff. 


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508     Zur  geschiente  dee  geogr.  Unterrichts  auf  den  gymnasien. 

soll  hier  nicht  untersucht  werden;  nur  die  eine  bemerkung  sei  ge- 
stattet, dasz  man  im  collegium  Carolinum  einen  versuch  machte, 
dasz  dieser  versuch  aber  gänzlich  verfehlt  war,  weil  die  Unterweisung 
in  der  staatsgeographie  hauptsächlich  das  politische  betonte  und 
später  das  zeitungscolleg  nur  gelegentlich  die  erdkunde  streifte. 

Etwas  besser  erscheint  hierin  der  entwurf  einer  Ordnung  für 
die  groszen  schulen  der  stadt  Braunschweig  1755,  welcher  zunächst 
geographischen  Unterricht  für  alle  classen  von  quarta  aufwärts 
empfahl  und  dann  vor  allem  doch  einigermaszen  systematisch  den 
stoff  zu  verteilen  suchte. 

Die  etwa  20  jähre  später,  1773  erlassene  Schulordnung  für  das 
kurfürstentum  Sachsen5  berücksichtigt  nur  wenig  die  geographische 
disciplin.  für  die  drei  kursächsischen  fürstenschulen  wird  nur  ge- 
fordert, dasz  die  schüler  die  läge  der  reiche,  republiken  und  be- 
rühmter städte  kennen  lernen  sollen,  kenntnis  der  politischen  Ver- 
hältnisse auf  der  erde  ist  das  einzige  ziel,  welches  erstrebt  wird, 
damit  sich  die  schüler  dann  bei  dem  historischen  Unterricht  besser 
zurechtfinden  möchten,  für  die  übrigen  lateinschulen  wurde  wöchent- 
lich eine  stunde  als  hinreichend  erachtet;  dem  lehrer  war  es  anheim- 
gestellt, geographie  in  öffentlichen  oder  in  privaten  stunden  zu 
lehren,  damit  aber  war  die  erdkunde  als  ein  zur  bildung  nicht  not- 
wendiges fach  behandelt,  was  nützte  die  bestimmung,  dasz  die  kna- 
ben  schon  in  früher  jugend  zur  kenntnis  der  natur,  der  gewöhnlichen 
erscheinungen  des  himmels,  der  bescbaffenheit  der  erde  und  ihrer 
gewächse  angeleitet  werden  sollten,  wenn  die  erdkunde  nicht  ein 
fester  und  öffentlicher  lehrgegenstand  war?  die  privatstunden  waren 
allerorts  nicht  sehr  zahlreich  besucht,  und  so  wird  wohl  auch  hier  die 
jugend  mit  geographischen  Übungen  nicht  überbürdet  gewesen  sein. 

Während  des  17n  und  18n  Jahrhunderts  war  die  geographie  in 
den  unterrichtsplan  der  gymnasien  aufgenommen  worden;  im  17n 
mehr  vereinzelt,  im  18n  allgemeiner,  die  Unterweisung  aber  in  dieser 
so  wichtigen  disciplin  war  jeder  wissenschaftlichen  auffassung  bar, 
und  nicht  mit  unrecht  konnte  man  sagen,  dasz  'die  erdkunde  zu 
einem  trockenen  namensverzeichnisse  von  ländern,  flüssen  und  städten 
sich  verknöchert  hatte',  in  dieser  zeit  hielt  Herder  seine  rede  Won 
der  annehmlichkeit,  nützlichkeit  und  notwendigkeit  des  Studiums 
der  geographie';  mit  begeisterten  worten  schilderte  er  die  fülle  ihres 
lebens,  eindringlich  hinweisend  auf  ihre  bedeutung  für  die  völker- 
geschichte ;  sie  sei  ebenso  wenig  trocken  wie  die  Ilm  oder  das  grosze 
Weltmeer,  geschiente  und  geographie  gehörten  untrennbar  zusam- 
men; sie  seien  der  Schauplatz  und  das  buch  der  haushaltung  gottes 
auf  unserer  weit:  die  geschiente  das  buch,  die  geographie  der  Schau- 
platz, in  jeder  Wissenschaft  der  akademie  müsse  ein  studierender 
zurückbleiben,  wenn  er  diese  grundwissenschaften,  beinahe  die  mate- 
rialien  zu  allem,  nicht  von  schulen  mitbringe,  'glücklich,  wer  sie 


5  Vormbaum  III  613  ff. 


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Zur  geschiente  des  geogr.  Unterrichts  auf  den  gymnasien.  509 

r 

auf  denselben  in  einer  schönen,  reizenden  gestalt  sah!  glücklich, 
wem  ihre  Unterhaltung  nicht  das  gedächtnis  füllte,  sondern  die  seele 
bildete  und  den  geist  aufscblosz!' 

Die  worte  Herders  fanden  freilich  kein  vielstimmiges  echo ;  nur 
wenig  beherzigte  man  seinen  mahnruf;  im  allgemeinen  blieb  alles 
beim  alten,  das  ende  des  18n,  der  anfang  des  19n  jahrbnnderts 
brachte  keine  änderung;  die  kriegsstürme  der  Napoleonischen  zeit 
lieszen  überhaupt  das  interesse  für  schulen  und  Schulunterricht  sin- 
ken, statt  einer  besserung  trat  eher  eine  Verschlechterung  ein,  so 
dasz  der  geographische  Unterricht  fast  überall  in  Deutschland  ganz 
stiefmütterlich  bedacht  war.  das  wenige,  was  bei  der  Unterweisung 
in  der  erdkunde  geboten  wurde,  war  mehr  eine  elende  noraenclatur 
als  eine  anleitung,  den  Schauplatz  der  geschichte  des  menschen- 
geschlechts  kennen  zu  lernen;  das  ziel  des  Unterrichts,  eine  ent- 
sprechende geographische  bildung  vorzubereiten,  wurde  dabei  sicher 
nicht  erreicht. 

'  Durch  Alexander  von  Humboldt  und  Karl  Ritter  trat  die  geo- 
graphische Wissenschaft  in  ein  neues  Stadium  ihrer  entwicklung; 
wenn  auch  Humboldt  zunächst  die  naturwissenschaftliche  und  Ritter 
die  geschichtliche  richtung  der  geographie  betonte,  so  waren  doch  in 
der  hauptsache  ihre  ansichten  dieselben;  durch  beide  haben  sich  die 
aufgaben  der  erdkunde  bedeutend  erweitert.  Karl  Ritter  ist  der  be- 
gründer  der  vergleichenden  erdkunde;  durch  ihn  wurde  zum  ersten 
mal  das  Verhältnis  der  geographie  zur  geschichte  wissenschaftlich 
untersucht  und  der  natürliche  Zusammenhang  beider  klargelegt,  ein 
groszer  teil  der  beziehungen  zwischen  der  erde  und  dem  menschen 
gehöre  zweifellos  dem  naturwissenschaftlichen  gebiete  an,  aber  'die 
geographische  Wissenschaft  kann  nicht  des  historischen  elementes 
entbehren,  wenn  sie  eine  wirkliche  lehre  der  irdischen  räum  verhält- 
nisse  sein  will  und  nicht  ein  abstractes  machwerk,  durch  welches 
zwar  der  rahmen  und  das  fachwerk  zur  durchsieht  in  die  weite  land- 
sebaft  gegeben  sind,  aber  nicht  die  raumerfüllung  selbst'. 

Wie  die  geographische  Wissenschaft  durch  Humboldt  und  Ritter 
einen  ungeahnten  aufschwung  erhielt,  so  wurde  auch  seit  dieser  zeit 
unsere  kenntnis  der  erdoberfläche  bedeutend  erweitert;  denn  um  die 
mitte  unseres  jahrhunderts  hat  ein  neues,  ein  zweites  Zeitalter  der 
entdeckungen  begonnen,  welches  durch  seinen  idealen  forschungs- 
trieb  glänzend  sich  abbebt  von  der  zeit  der  kühnen  Seefahrten  und 
entdeckungen.  die  schätze  und  erzeugnisse  ferner  länder  zu  erringen, 
eroberungsgelüste  sind  nicht  mehr  in  erster  linie  der  grund,  unbe- 
kannte gegenden  zu  betreten ;  das  streben  nach  möglichst  umfassen- 
der kenntnis  der  erdoberfläche  ist  es,  welche  heute  männer  begeistert, 
fremde  gebiete  zu  erforschen,  jedes  jähr  und  jeder  monat  erweitert 
noch  unsere  kenntnis ;  die  erdkunde  ist  dadurch  zu  einer  selbständigen 
Wissenschaft  emporgewachsen;  ihre  berührungspunkte  mit  geschichte 
und  naturwissensebaft  sind  zwar  sehr  zahlreich,  aber  die  auffassung, 
dasz  sie  nur  ein  anhang  beider  diseiplinen  sei ,  ist  eine  veraltete. 


510    Zur  geschiebte  des  geogr.  Unterrichts  auf  den  gymnasien. 

Welchen  einflusz  hatte  nun  dieser  aufschwung  der  erdkunde  auf 
den  geographischen  Unterricht  in  der  schule,  in  den  gymnasien? 

Bei  lebzeiten  Ritters  und  Humboldts  trat  eine  änderung  nicht 
ein,  so  dasz  an  vielen  orten  klagen  über  die  Vernachlässigung  der 
real  Wissenschaften  laut  wurden,  tiberall,  wo  eifrige  philologen  das 
schulruder  regierten,  sei  Sprachfertigkeit  das  masz,  womit  des  Schü- 
lers fortschritt  und  fähigkeit  gemessen  werde;  die  kenntnisse  in  den 
realfächern  kämen  dabei  nicht  in  anschlag.  geographie  erscheine 
ganz  geringfügig,  als  etwas,  das  man  kurzweg  behandeln  könne,  wo- 
gegen oft  ein  einziger  Horazischer  vers  eine  ganze,  ja  mehrere  lehr- 
stunden wegnehme,  das  studium  der  alten  classiker  betrachtete  man 
deshalb  nicht  als  nutzlos;  aber  aus  dem  groszen,  uralten  werke  der 
natur  liesze  sich  noch  viel  mehr  erleuchtung  für  die  geistige  bildung 
gewinnen,  der  geogr.  Unterricht  sei  geradezu  erbärmlich,  indem  man 
die  namen  der  länder  und  städte  einfach  auswendig  lernen  lasse.* 

Diese  von  Guts  Muths,  dem  ausgezeichneten  lehrer  Karl  Ritters, 
hingeworfenen  bemerkungen  über  den  geographischen  Unterricht 
seiner  zeit  werfen  ein  grelles  licht  auf  die  un Vollkommenheiten  des- 
selben während  der  ersten  hälfte  unseres  Jahrhunderts,  und  wenn 
aus  den  sechziger  jähren  ein  urteil  über  die  erdkunde  als  unterrichts- 
gegenstand,  welches  von  keinem  geringeren  als  Oskar  Peschel  aus- 
gesprochen worden  ist,  hier  gleich  noch  hinzugefügt  werden  soll,  so 
mögen  folgende  worte  Pescheis  über  Hübners  geographische  fragen 
hier  platz  finden:  'mit  dieser  gedankenlosen  gedächtnisquälerei  ist 
die  deutsche  jugend  mishandelt  worden,  im  allgemeinen  hat  es  sich 
heute  höchstens  noch  verschlimmert.' 7 

Die  regulative  freilich  und  die  lehrordnungen  für  die  gymnasien 
gaben  immerhin  noch  eine  aufgäbe  und  erstrebten  ein  ziel ,  welches, 
wenn  es  erreicht  worden  wäre,  befriedigende  erfolge  hätte  aufweisen 
müssen ;  dasz  man  dasselbe  aber  auch  nicht  im  entferntesten  erreichte, 
beweisen  die  worte  Pescheis  aus  dem  jähre  1868.  . 

Als  lehrziel  war  zumeist  bezeichnet,  die  schüler  mit  der  allge- 
meinen natürlichen  beschafifenheit  der  bekannten  teile  der  erde  und 
ihrer  bewohner  vertraut  zu  machen  und  ihnen  einige  kenntnisse  in 
der  mathematischen  geographie  beizubringen,  das  ziel  sollte  in  der 
tertia  des  gymnasiums  erreicht  sein,  dieser  unterriebt  konnte  aber, 
seitdem  die  geographische  Wissenschaft  einen  solchen  aufschwung  ge- 
nommen ,  selbst  geringen  ansprüchen  nicht  genügen,  denn  die  erd- 
kunde muste  von  lehrern  behandelt  werden,  welche  keine  gelegen- 
beit  gehabt  hatten,  durch  Universitätsstudien  die  nötige  Vorbildung 
sich  zu  erwerben,  dieser  tibelstand  blieb  jahrzehnte  lang  und  konnte 
einen  Peschel  noch  im  jähre  1868  zu  dem  so  abfälligen  urteil  über 
den  geographischen  Unterricht  seiner  zeit  berechtigen. 

6  Guts  Muths  versuch  einer  methodik  des  geographischen  Unter- 
richts.   Weimar  1835. 

7  Oskar  Peschel  'die  erdkunde  als  unterrichtsgegenstand,l  deutsche 
vierteljahrsschrift  18G8  hft.  2  s.  103  ff. 


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Zur  geschichte  des  geogr.  Unterrichts  auf  den  gymnasien.  511 

Erst  um  die  mitte  des  vorigen  jahrzehnts  hat  eine  neue  epoche 
begonnen:  durch  begründung  geographischer  professuren  auf  den 
meisten  Universitäten  Deutschlands,  nachdem  Sachsen  und  Bayern 
vorangegangen,  folgte  man  1876  in  Preuszen  nach,  ein  wissenschaft- 
liches Studium  der  geographie  ist  dadurch  erst  möglich  geworden, 
jetzt  erst  wird  man  daran*  denken  können ,  die  fortschritte  der  geo- 
graphischen Wissenschaft  für  den  Unterricht  in  der  schule  nutzbar  zu 
machen,  nachdem  lehrkräfte  vorhanden  sind,  welche  die  anleitung 
in  der  erdkunde  von  andern  grundlagen  her  zu  geben  befähigt  sind. 

Schon  alt  sind  die  klagen  über  einseitigkeit  der  lehrziele  in  den 
gymnasien;  es  läszt  sich  nicht  ableugnen,  dasz  die  geographische 
disciplin  höchst  unzweckmäszig  betrieben  wurde,  ja  sogar  dasz  man 
nicht  tiberall  von  ihrer  bedeutung  durchdrungen  war  und  sie  für 
minder  notwendig  für  eine  gelehrte  bildung  hielt,  wiederholt  ist 
auch  schon  die  forderung  erhoben  worden,  allen  classen  des  gymna- 
siums  geographischen  Unterricht  zu  teil  werden  zu  lassen;  gewis 
nicht  ohne  berechtigung  bei  dem  mangel  an  geographischen  kennt- 
nissen ,  welchen  man  bei  schülern  der  mittleren  und  oberen  classen 
findet,  der  gröste  fehler  dieses  lehrgegenstandes  wird  überhaupt 
darin  gesehen,  dasz  der  'Schwerpunkt  desselben  nahezu  ganz  in  die 
untersten  classen  verlegt  worden  ist,  so  dasz  der  schüler  genötigt 
ist,  den  grösten  teil  des  Stoffes  in  sich  aufzunehmen,  wo  ihm  noch 
ganz  und  gar  die  geistige  reife  fehlt,  wo  ihm  alles  lernen  noch  reine 
gedächtnissache  ist.  besonders  führt  dies  F.  Junge  aus  in  seinem 
aufsatz:  'über  ziel  und  methode  des  Unterrichts  in  der  geographie 
auf  gymnasien.'  er  verkennt  auch  nicht  die  hohe  bedeutung  der 
geographischen  Wissenschaft,  unklar  bleibt  aber,  warum  für  das 
gymnasium  der  grundsatz  weiter  geltung  behalten  soll,  dasz  die  geo- 
graphie der  geschichte  hilfswissenschaft  sei,  wenn  sonst  in  der  ge- 
lehrten weit  die  auffassung  durchgedrungen  ist,  dasz  diese  eine 
selbständige  disciplin  sei.  und  weiter  scheinen  auch  folgende  ge- 
danken  in  genanntem  aufsatz  nicht  glücklich  zu  sein :  der  geogra- 
phische Unterricht  spiele  seiner  natur  nach  am  gymnasium  immer 
nur  eine  untergeordnete  rolle  und  könne  keine  andere  spielen ;  denn 
alle  fticher  könnten  nicht  hauptföcher  sein,  wenn  früher  dieser  Unter- 
richt von  untergeordneter  bedeutung  erschien,  so  könnte  als  ent- 
schuldigung  gelten ,  dasz  die  geographische  Wissenschaft  selbst  erst 
noch  im  entstehen  war.  sollen  aber  die  fortschritte  unseres  jahr- 
hunderts,  besonders  der  letzten  jahrzehnte  keinen  einflusz  auf  die 
gestaltung  des  lehrplans  unserer  gymnasien  gewinnen,  um  so  mehr, 
da  unsere  lehranstalten  doch  nicht  allein  philologische,  sondern  eine 
allgemeine  humanistische  bildung  erstreben?  recht  bequem  kann 
man  die  erdkunde  bei  seite  schieben,  wenn  man  sagt,  alle  fächer 
könnten  nicht  hauptfacher  sein,  wenn  nun  einmal  die  geographische 
Wissenschaft  einen  solchen  aufschwung  genommen  hat,  der  sich  nicht 
wegleugnen  läszt,  warum  soll  dann  der  Unterricht  in  diesem  fache 
in  seiner  alten  Stellung  belassen  werden?  ob  hauptfach  oder  nicht, 


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512    Zur  geschiente  des  geogr.  unterrichte  auf  den  gymnasien. 


er  soll  jedenfalls  auf  der  höhe  des  sonstigen  gymnasial  Unterrichts 
stehen. 

Gegenwärtig  freilich  ist  die  forderung,  geographie  bis  zur  prima 
zu  lehren,  noch  nicht  erfüllt,  die  letzten  Verordnungen  für  die  gymna- 
sien :  die  revidierten  lehrpläne  für  die  höheren  schulen  Preuszens  von 
1882,  die  lehrordnung  für  die  sächsischen  gymnasien  aus  demselben 
jähre  ordnen  nur  von  sexta  bis  untersecunda  einen  vom  geschicht- 
lichen getrennten  geographischen  Unterricht  an.  besonders  betont 
wird  nur,  jedes  übermaaz  von  gedächtnisaufgaben  zu  vermeiden,  die- 
selben vielmehr  auf  das  dringend  notwendige  zu  beschränken ,  um 
so  die  unentbehrliche  kenntnis  der  wichtigsten  daten  und  namen 
desto  sicherer  zu  erreichen. 

Das  beste,  was  der  Unterricht  in  der  schule  zu  erreichen  ver- 
mag, ist  lust  und  liebe  zum  gegenstände,  dasselbe  gilt  auch  von  der 
erdkunde ;  denn  die  aufgäbe,  die  erde  mit  ihren  Stoffen  und  kräften 
als  wohnort  der  menschen  zu  betrachten,  wird  immer  einem  akademi- 
schen Studium  vorbehalten  bleiben  müssen,  die  höheren  lebranstalten 
erstreben  natürlich  ein  weiteres  ziel  als  die  elementarschulen ;  das- 
selbe kann  aber  weniger  erreicht  werden,  wenn  der  geographische 
Unterricht  nur  in  unter-  und  mittelclassen  des  gymnasiums  erteilt 
wird,  die  gründe  hierfür  sind  schon  oft  dargelegt. 

Unter  den  arbeiten,  welche  sachgemäsz  die  notwendigkeit  einer 
reform  des  geographischen  Unterrichts  auf  unsern  gymnasien  begrün- 
den, ist  wohl  die  beste  die  gekrönte  preissebrift  von  Anton  Stauber: 
Förderung  des  geographischen  Studiums  und  Unterrichts,  in  und 
auszer  der  schule'  (Augsburg  1888).  Stauber  findet  zunächst  den 
grund,  dasz  die  erdkunde  so  lange  vernachlässigt  worden  ist,  darin, 
dasz  es  vor  drei  jahrhunderten  bei  Stiftung  der  gymnasien  noch  keine 
geographische  Wissenschaft  gab.  heute  aber  hätten  wir  eine  solche 
und  sie  verlange  ihre  rechte,  sie  sei  ein  lehrfach  und  zwar  ein  un- 
entbehrliches hauptfach,  dessen  gründliche  kenntnis  einen  integrie- 
renden teil  der  allgemeinen  bildung  ausmache,  drei  punkte  hebt  er 
besonders  hervor: 

Die  geographie  ist  ein  selbständiges  fach  und  kein  bloszer 
annei,  weder  der  natur Wissenschaften,  noch  der  geschiente;  beson- 
ders ist  dies  in  den  oberen  classen  zu  beachten. 

Der  geographieunterricht  soll  durch  alle  classen  der  mittel- 
schulen  als  selbständige  diseiplin  in  einigen  wochenstunden  erteilt, 
nicht  aber  schon  bei  den  schülern  der  tertia  abgebrochen  werden. 

Der  geographische  Unterricht  musz  durch  fachmännisch  ge- 
bildete lehrer  erteilt  werden. 

In  diesen  forderungen  ist  das  ziel  einer  verständigen  reform  dieses 
Unterrichtsgegenstandes  auf  unseren  gymnasien  enthalten,  möchte 
es  erreicht  werden  und  die  Überzeugung  immer  mehr  sich  verbrei- 
ten, dasz  eine  gründliche  kenntnis  des  Schauplatzes  unseres  ge- 
schichtlichen lebens  zur  wahren  bildung  unerläszlich  ist. 

Dresden.  Reinhold  Moses. 


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ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜR  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT  AUSSCHLUSS  DBB  CLA8SI8CHRN  PHILOLOGIE 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  DR.  HERMANN  MA8IÜ8. 


(48.) 

DIE  LATEINISCHE  CA  SUSSTNT AX 
AUF  GRUNDLAGE  VON  CAESAR  (BELL.  GALL.  I-VII) 

UND  NEPOS. 
(fortsetaung.) 


B.  Dativus. 

§1- 

Völlig  entbehrlich  ist  die  aufzähl ung  (vgl.  die  gramm.  von 
Ell.-Seyff.)  derjenigen  verben,  deren  lateinische  construetion  der 
deutschen  entspricht,  daher  werde  ein  verbum  wie  accidere  zu- 
stoszen  ausschlieszlich  als  vocabel  gelernt,  dasselbe  gilt  von  den 
adjectiven  nützlich,  passend  usw.  vgl.  Gaede  die  lat.  schulgramma- 
tiken,  progr.  Danzig  1889  s.  6.  für  Caes.  vgl.  Fischer  I  24—25, 
für  Nep.  Köhler  19—20. 

amicus  mit  dat.  Caes.  I  9,  3,  inimicus  II  31,  5;  familiaris  stets 
substantivisch  bei  C. ,  desgl.  propinquus  verwandter,  necessarius; 
aequalis  Omal  bei  C. ,  desgl.  affinis,  vicinus;  die  Superlative  von 
amicus,  inimicus ,  familiaris  subst.  C.  Omal;  finitimus  subst. ,  auch 
adj.  mit  dat.  öfter,  z.  b.  I  28,  4;  die  Verbindungen  amicus,  aequus 
u.  a.  erga,  ad  versus,  in  C.  0. 

sacer  C.  N.  0;  superstes  mit  dat.  Nep.  Att.  19,  1;  Epam.  10,2; 
par  alicui,  gleich ,  gewachsen  (C.  2,  N.  4)  =  dem  deutschen;  pro- 
prius  C.  VI  23,  2  mit  gen.,  N.  3  (Thras.  1,  5;  Pelop.  4,  1;  Lys. 
1,  5);  communis  c.  gen.  C.  N.  0;  aliquid  mihi  cum  aliquo  commune 
est  Nep.  z.  b.  Thras.  1,  4. 

similis  mit  dat.  C.  VII  77,4;  VII  43, 5;  47,4;  VI  7,9;  V  53,7; 
consimilis  mit  dat.  3;  verisimile  nur  III  13,  6.  N.  similis  5  mit  gen. 
(ähnlichkeit  mit  einer  person).  vgl.  übrigens  Schmalz  A.  s.  v.,  Haase- 
Peter  s.  134  — 142  (similis  mit  dat.  bei  personenähnlichkeit,  wenn 

N.jahrb.  f.  phtl.o.  pid.  H.abt.  1891  hfl.  11.  33 


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514    Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 

die  äbnlicbkeit  keine  wesentliche  [abbild ,  urbild] ,  sondern  be- 
schränkte, bedingte  ist,  vgl.  Cic.  acad.  2,  118:  Democritus  huic 
in  hoc  similis;  mei,  tui  usw.  similis  gewöhnlich,  keineswegs  aber 
durchgängig),  dissimilis  N.  2  mit  gen.  (personen). 

propior  C.  N.  0;  proximus  in  Verbindung  mit  esse  bei  C.  mit 
dat.  (I  1,  3;  6,  3;  II  3,  1;  12,  1;  III  11,  1;  VI  31,  3;  35,  5);  2mal 
mit  acc.  I  54,  1  (incolunt),  III  7,  2  (hiemarat).  N.  Pel.  4,  3  (per- 
sona proxima  Epaminondae);  propius  mit  acc.  bei  C.  öfter,  bei  an- 
näherung  an  sachen  und  personen,  z.  b.  V  37,  1 ;  IV  9,  1  (accedere, 
castra  movere  u.  a.).  N.  Milt.  7,  2  (propius  muros  accessit);  Hann. 
8,  3  (propius  Tiberi  quam  Thermopylis  .  .  .  dimicasset). 

Heynacher  8.  129:  'man  begnüge  sich,  wenn  die  schüler  proxi- 
mus und  similis,  dem  deutschen  folgend,  mit  demdativeonstruieren.* 
füge  hinzu:  similis  mit  gen.  von  personen  (so  Nep.,  dessen  Sprach- 
gebrauch Heyn  acher  unberücksichtigt  gelassen  hat). 

§2. 

supplico,  maledico  vaco,  nubo,  obtrecto,  operam  do  C.  0;  N. 
nubo  Cim.  1,  4;  Att.  2,  1;  5,  3;  Timol.  1,  4;  operam  do  Epam.  2,  4; 
Cato  1,  1;  Att.  4,  3  (Cato,  Att.  ausgeschlossen  als  leetüre).  —  in- 
video  C.  II  31,  5;  Nep.  Thras.  4,  2  (?  vgl.  Nipperdey  excurs  3): 
medeor  C.  V  24,  6;  N.  Pel.  1,  1;  faveo  C.  1 18,  8;  VI  7,  7;  N.  Phoc. 
3,  1;  Att.  2,  2.  vgl.  cupio  C.  I  18,  8.  parento  C.  VII  17,  7. 

Heynacher  8.  129:  *auf  IV  und  III  lasse  man  nur  lernen 
das  wichtige  persuadeo,  parco,  studeo.'  persuadeo  C.  18,  parco  6, 
studeo  15  (vgl.  Heynacher  s.  22,  26).  N.  persuadeo  11,  parco  6, 
studeo  3. 

Anm.  C.  III  2,  5  sibi  persuasum  habeant ;  vgl.  Stegmann  JP. 
1887  s.  269:  s.  p.  h.  verhält  sich  zu  sibi  persuaserant  wie  rem  cogni- 
tam  habebant  zu  rem  cognoverant;  sibi  persuasum  habere  vereinzelt  ; 
vermeide  persuasum  habere.  —  vaco,  maledico,  supplico,  nubo  bei 
Cic.  nicht  häufig;  Stegmann  JP.  1885  s.  232;  v.  Kobilinski  ZGW. 
1886  s.  706. 

§3. 

Composita  mit  ad,  ante,  con  usw.  (Zumpt.  gramm.'8  §  415). 

1)  ad:  für  C.  vgl.  M.-Pr.  lex.  die  verba  adire,  adequitare,  ac- 
cedere, accurrere,  adhaerescere,  adiacere,  assuescere,  adesse,  accidere, 
appropinquare;  adaequare,  addere,  adducere,  adhibere,  adicere,  afferre, 
adiungere,  affigere,  aggregare,  allicere,  applicare,  adsciscere,  ac- 
commodare,  attribuere. 

Die  mit  ad  zusammengesetzten  intransitiva  der  bewegung  oder 
ruhe  im  räum  wiederholen  in  localer  bedeutung  die  prfiposition, 
adire  ad  usw.;  allerdings  liest  Schneider  VI  33,  2  mit  ß  eam 
regionem,  quae  Aduaticis  adiacet,  indessen  a  und  die  edd.  mit  et 
wohl  richtig  ad  Aduatucos,  vgl.  b.  civ.  II  1,  2:  mare  quod  adiacet 
ad  ostium;  in  bildlichem  sinne  steht  der  dat.,  adesse  alicui  VII  62,  5, 


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Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos.  515 

helfend  zur  seite  stehen,  Kr.-Dtt;  II  7,  2  Remis  studium  pro- 
pugnandi  accessit;  oft  aliquid  mihi  accidit;  jedoch  VI  28,4  assuescere 
ad  homines;  vgl.  noch  I  19,  1:  cum  ad  has  suspiciones  certissimae 
res  accederent.  stets  appropinquare  mit  dat.  (b.  Gall.  11;  auch 
b.  civ. ;  zu  II  19,  2  (ad  nach  /3;  setze  den  dat.  ein)  vgl.  Anton  ZGW. 
1887  s.  560.  —  Die  mit  ad  zusammengesetzten  transitiva  haben  in 
örtlicher  beziehnng  meist  ad:  addere  zusätze  machen  VII  73,  2; 
adducere;  adicere  V  9,  7;  afferre  rumores  ad  II  1,  1 ;  äff.  aliquid  ad 
amicitiam  alicuius,  in  den  freundschaftsbund  mitbringen  I  43,  8; 
allicere;  se  applicare;  der  dat.  rein  local  III  14,  5  falces  afnxae 
longuriis.  in  bildlicher  beziehung  der  dat.  bei  den  verben  des  hinzu - 
fügens  addere,  adicere,  adiungere  III  2,  5,  vgl.  aliquem  sibi  ad- 
iungere  für  sich  gewinnen  VI  2,  2 ;  VII  4,  6 ;  ähnlich  2  mal  aliquem 
sibi  adsciscere;  attribuere  zuerteilen;  afferre  alicui  aliquid  3  (Heyn. 
8.  24);  adaequare  gleichmachen  III  12,3;  schwankende  construction 
adhibere  aliquem  ad  consilium  2,  consilio  1 ;  accommodare  naves  ad 
magnitudinem  fluctuum  III  13,  2  local?  vgl.  endlich  VII  77,  9: 
omnem  Galliam  perpetuae  servituti  addicere  (so  ß) ,  jedoch  die  edd. 
mit  a  subicere;  zu  aliquem  alicui  rei  addicere  könnte  verglichen 
werden  aliquem  morti  addicere;  Liv.  sagt  liberum  corpus  in  servi- 
tutem  addicere;  Georges  lex.5  aliquem  perpetuae  servituti  addicere, 
Caes. ;  alicui  raagistratum  assignare  VII  37,  1  ß,  jedoch  die  edd. 
mit  a  adiudicare,  vgl.  Liv.  assignare  alicui  ordinem  (centurionen 
stelle).  Gas.  sagt  afferre  aliquid  ad  amicitiam  alicuius  (I  43,  8),  se 
aggregare  ad  amicitiam  alicuius  (VI  12,  6),  adiungere  aliquem  ad 
amicitiam  b.  civ.  I  60,  5. 

2)  ante:  antecedere  aliquem  vorangehen  2,  auch  'übertreffen'  2; 
anteferre  aliquem  alicui  vorziehen  2,  anteponere  1;  antevertere  1. 

3)  con:  die  lat.  construction  entspricht  der  deutschen:  commen- 
dare,  committere  (anvertrauen);  concedere  weichen,  abtreten  usw., 
conciliare,  comparare  verschaffen;  aliquid  mihi  contingit;  collocare 
aliquem  alicui  verheiraten  I  18,  6;  mortem  sibi  consciscere  2;  vgl. 
aliquid  mihi  constat  VII  5,  6. 

Unberücksichtigt  lasse  ich  ausdrücke  wie  colloqui,  confligere, 
contendere  cum  aliquo  u.  a.  vgl.  Heynacher  s.  71. 

communicare  aliquid  cum  aliquo  6  (Heyn.  8.  71);  alicui  aliquid 
VI  13,  9;  23,  9. 

coniungere  cum  von  personen  8;  VII  5,  7  edd.  a  iunguntur, 
jedoch  iungi  rerlex.  C.  sonst  nicht,  deshalb  musz  mit  ß  se  coniungunt 
gelesen  werden,  vgl.  Meusel  JGW.  1886  s.  274.  auch  sonst  con- 
iungere cum:  V  11,5  (naves  cum  castris);  V  30,3;  IV  17,9;  I  38,6. 
vgl.  VII  33,  1  coniunetus  c.  dat.  =  befreundet.  —  conferre  aliquid 
cum  I  31,  11;  ebd.  comparare,  Db.-Dt.,  se  comparare  cum  aliquo 
VI  24,  6. 

4)  in:  in  localer  beziehung  steht  meist  in;  immittere,  inferre 
z.  b.  signa  in  hostem;  influere,  infodere,  insilire;  insistere  in  iugo 
IV  33,  3;  irrumpere  in  castra  u.  a.;  incidere  in  aliquem  stoszen  auf; 

38* 


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516    Die  lat  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 

der  dat.  local  III  14,  5  falces  insertae  longuriis;  insistere  iacentibus 
II  27,  3;  bildlich  steht  der  dat.  imponere  alicui  Stipendium  2;  in- 
dulgere  (dulcis)  2;  inferre  alicui  bellum  10;  calamitatem  usw.  7; 
inicere  alicui  metum  usw.  2 :  iniungere  alicui  servitutem  1 ;  aliquid 
alicui  innatum  est  VII  42,  2;  invidere  1;  bildlich  in:  incumbere  in 
bellum  VII  76,  2,  insistere  in  bellum  VI  5,  1. 

5)  inter:  örtlich  inter  bei  intercedere  (II  17,  2;  I  39,  6),  inter- 
icere  VII  80,  3;  interesse  I  15,  5;  VI  36,  2;  bildlich  der  dat.  ali- 
quid alicui  in tor cedit  cum  14 3,  6;  V  11,  9;  interdicere  alicui  aqua 
et  igni  VI  44,  3;  vgl.  I  46,  4 ;  VI  13,  6  erg.  ei;  VI  13,  7  erg.  sacri- 
ficiis;  interdicere  alicui,  ne  2;  interponere  alicui  fidem  1;  interesse 
proelio  u.  a.  3. 

6)  Die  mit  ob  zusammengesetzten  verben  regieren  den  dativ; 
obicere  2 ,  obsistere  1 ,  obtemperare  2 ,  obvenire  zu  teil  werden  3 ; 
occurrere  9;  offerre  alicui  aliquid  u.  ä.  6  mal. 

7)  postpono  abs.  V  7,  6;  VI  3,  4. 

8)  prae:  praecedere  aliquem  übertreffen  I  1,  4;  praeferre  ali- 
quem  alicui  vorziehen  II  27,  2:  V  54,  5;  praeficere  aliquem  alicni 
rei  20;  praeponere  =  praeficere  I  54,  3;  VI  40,  4.  praestare  alicui 
I  2,  2;  vgl.  praestare  alicui  aliquid  V  45,  2;  IV  25,  3;  VI  8,  4; 
praeesse  alicui  rei  17. 

9)  sub:  die  mit  sub  zusammengesetzten  verba  haben  den  dativ; 
subicere  3  (auch  VII  77,  9?);  subvenire  4;  succedere  4;  succum- 
bere  1 ;  succurrere  2 ;  submittere  aliquem  alicui  4 ,  subsidium  2 ; 
subministrare ,  supportare  alicui  aliquid  je  lmal;  aliquid  suppetit 
alicui  1 ;  hingegen  succedere  sub  aciem  I  24,  5.  —  II  6,  2  ist  über- 
liefert portas  succendunt;  so  lesen  Menge  u.  a.;  Nipperdey  u.  a. 
portas  succedunt,  freilich  succedere  cum  acc.  sonst  bei  Caesar  nicht; 
allerdings  Liv.  XXII  28,  12  succedere  tumulum;  Fügner  s.  22  hält 
auf  grund  dieser  stelle  bei  Liv.  die  conjectur  portas  succedunt  für 
richtig;  Kr.-Dtt.,  Db.-Dt.  [portas]  succedunt;  das  verbum  succedunt 
wird  wohl  als  richtig  bestätigt  durch  Kraners  hinweis  auf  Sali.  Jug. 
57,  4  pars  eminus  lapidibus  pugnare,  alii  succedere  ac  murum  suf- 
fodere,  vgl.  dazu  Caes.  II  6  §  2,  namentlich  testudine  facta  [portas] 
succedunt  murumque  subruunt.  hinweisen  möchte  ich  auch  noch 
auf  Sali.  Jug.  94,  3  testudine  acta  succedere.  demnach  ist  wohl  das 
überlieferte  portas  nur  als  späterer  zusatz  zu  betrachten. 

Resultat 

Die  mit  den  präpositionen  ad  ante  usw.  zusammengesetzten 
verba  wiederholen  bei  Caes.  b.  Gall.  I  — VII  meist  die  präp.  in  ört- 
licher beziehung;  in  bildlicher  bedeutung  steht  meist  der  dativ;  vgl. 
Haase- Peter  s.  125:  hauptsächlich  kommt  es  an  auf  die  aus  der  com- 
position  hervorgehende  bedeutung.  Harre  'die  ganze  regel  Über  die 
composita  mit  ad  ante  usw.  ist  nichts  wert',  beistimmen  kann  man 
wohl  Stegmann  JP.  1885  s.  233:  'für  die  schwankende  construction 
der  composita  mit  dem  dativ  ist  keine  durchgreifende  regel  mög- 


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Die  lat  caeussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos.  517 

lieh,  .  .  .  eine  schulgrammatik  wird  sich  auf  die  anflibrung  einiger 
der  üblichsten  phrasen  beschränken  müssen.'  für  Caes.  verweise  ich 
auf  Heynacher  s.  23,  für  Nepos  auf  Köhler  s.  18,  22  ff.  merke: 
afferre  alicui  aliquid  (C.  3,  voluptatem  u.  a. ;  N.  allerdings  in  wenig 
gelesenen  vitae:  Dion  10,  1,  Eum.  12,  3  vim;  Att.  2,  3  detrimen- 
tum  rei  familiari) ;  —  vorziehen  anteferre  (C.  2,  N.  4 mal ,  Tbem. 
1,  1;  Epam.  6,  3,  Ages.  4,6,  Tim.  1,  3),  praeferre  (C.  2,  N.  nur 
Thras.  1,1;  Ell.-Seyff.,  Stegmann  erwähnen  praeferre,  nicht  ante- 
ferre [auch  Cic.]),  anteponere  (C.  1,  N.  Epam.  1,  4;  2,  2;  Eum.  1,  3; 
Iphicr.  1, 1  erg.  ei);  communicare  aliquid  cum  aliquo  (nur  C);  con- 
iungere  cum,  auch  von  leblosen  gegenständen  (Caes.,  N.  so  aller- 
dings 0);  comparare  vergleichen  C.  2,  N.  Them.  5,3,  Iphicr.  1,  1 
(conferre  nur  C.  1,  N.  1  abs.);  inferre  alicui  bellum  C.  10,  N.  5; 
inferre  zufügen  C.  7;  inicere  einflöszen  C.  2,  N.  5  (beide  timorem 
usw.);  bellum  indicere  alicui  N.  7,  CO  (nur  concilium);  interesse 
teilnehmen  C.  3,  N.  Arist  2,  1,  Timol.  4,1,  Att.  13,  7:  merke 
i.  proelio;  praeficere  C.  oft,  N.  6;  praeesse  C.  oft,  N.  28;  verba  wie 
obsistere,  sub venire  lerne  schon  der  quintaner;  schon  der  quintaner 
werde  daran  gewöhnt,  in  localer  beziehung  und  bei  personen  im  all- 
gemeinen die  entsprechende  präposition  zu  setzen:  adducere,  acce- 
dere,  adire  ad;  irrumpere  in  hostes,  influere  in  usw.  die  verba  des 
verhöhnens  (Ell.-Seyff.)  CO,  N.  nur  je  lmal  illudo,  irrideo  Hann. 
10,  1;  11,  3. 

§4. 

consulere  alicui  (rei)  sorgen  für  C  9,  N.  5;  aliquem  nur  N. 
Milt.  1,  2;  prospicio  mit  dat.  C.  2,  N.  Phoc.  1,  3;  providere  mit  dat. 
C.  III  18,  6,  N.  0;  providere  frumentum  besorgen  C.  oft,  N.  Hann. 
9,  2  (nisi  quid  providisset  eine  vorsichtsmaszregel  treffen);  cavere 
mit  dat.  C.  N.  0;  cavere  aliquem,  ab  aliquo  C  N.  0;  timeo  mit  dat. 
C.  3,  N.  0;  metuo  C.  N.  0  (praemetuo  C.  VII  49,  1);  timere  ali- 
quem, aliquid  C  6,  N.  3;  metuere  aliquem  N.  Timol.  3,  4;  timere 
de  C.  III  3,  1 ;  V  37,  1,  vgl.  Stegmann  JP.  1886  s.  223;  timeo  de 
N.  Dion  8,  4;  vereri  C.  oft  mit  acc.  (periculum,  insidias  u.a.),  N.  0; 
vereri  c.  dat.  C.  V  9,  1  (navibus  veritus);  moderari,  temperare  mit 
dat.  C  N.  0;  nur  C.  I  33,4  mihi  non  tempero  quin ;  I  7, 6  temperare 
ab  aliqua  re  =  abstinere;  moderari  aliquid  zügeln  C.  2;  volo  tibi, 
constr.  von  manere  C  N.  0. 

Also:  consulere  (prospicere)  mit  dem  dat.  sorgen  für;  timere 
mit  dem  dat.  besorgt  sein  für. 

§5. 

Der  dativ  des  interesses  geht  sehr  weit,  da  man  die  meisten 
dative  dazu  rechnen  kann ,  er  lfiszt  sich  daher  in  keine  bestimmte 
regel  bringen,  vgl.  Haase- Peter  s.  146,  Kühner  s.  231,  Drägers.431. 
'beim  dat.  commodi  handelt  es  sich  um  ein  persönliches  interesse 
(interesse  für  eine  person  oder  persönlich  gedachte  sache).'  hierher 


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518     Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  vou  Caesar  und  Nepoe. 

gehören  z.  b.  die  verba  consulere,  timere,  nubere,  alicui  aliquid  re- 
linquere  u.  a. ;  adjectiva  wie  iniquus  (z.  b.  C.  V  33,  2  loco  nostris 
iniquissimo),  periculosus  u.a.  vgl.  für  Caesar  Fischer  Is.  24;  fürNepos 
vgl.  Köhler  s.  19.  aus  Caesar  führt  Heynacher  s.26  einige  besonders 
hervortretende  fälle  an  (V  20,  3;  II  11,  1 ;  4,  5;  31,  6;  V  53,  1;  VII 
34,  2).  ich  verweise  ferner  auf  VII  36,  2  quos  sibi;  I  33,  5;  VII 
52,  1;  10,1  quod  nulluni;  II  11,5  in  fuga  sibi;  153,2  sibi  salutem; 
Fischer  u.  a.  ziehen  hierher  condonare  alicui  aliquid  I  20,  5;  20,  6, 
vgl.  Db.-Dt.,  Kr  .-DU.;  Fischer  I  18  führt  noch  an:  I  31 ,  2  (alicui 
ad  pedes  se  proicere),  ähnlich  VII  15,  4;  —  alicui  in  contemptionem 
venire  III  17,  5;  V  49,  7;  vgl.  VI  12,  7  —  V33,  5  nostris  militibua 
spem  minuit;  V  35,  6  alicui  femur  traicitur,  ähnlich  V  44,  7;  VII 
25, 1 ;  45,6;  70,3.  wir  haben  hier  eine  freiere  anwendung  des  dativs 
für  den  genitiv,  vgl.  ad  pedes  alicuius  se  proicere;  VII  84,4  pugnan- 
tibus,  dafür  gen.  VII  62,  6;  ein  frei  gebrauchter  dativ  VI  25,  1: 
latitudo  Hercyniae  silvae  novem  dierum  iter  expedito  patet  (dativ 
des  localen  Standpunktes,  Haase- Peter  s.  157,  Kühner  s.  237.  vgl. 
die  gleiche  griechi&che  constr.;  Caes.  nur  noch  b.  civ.  III  80,  1). 

§  6- 

Der  von  Buttmann  benannte  dativus  ethicus  ist  von  ihm  alsein 
leiserer  dat.  commodi  bezeichnet  worden ;  andere  nannten  ihn  den 
überflüssigen  dativ;  Haase- Peter  s.  149:  es  ist  ein  gemütlicher  casu9, 
mit  dem  der  sprechende  je  nach  dem  Zusammenhang  bittend,  for- 
dernd, drohend,  hoffend  oder  vermöge  des  sensus  communis  vor- 
aussetzend eine  gewisse  rücksicht  auf  sich  oder  den  angeredeten 
andeutet.  Heynacher  s.  22  verweist  auf  I  3,  4  (sibi,  scharfe  hervor- 
hebung  des  subjectsbegriffes ,  Fischer);  mehr  commodaler  sinn  liegt 
in  sibi  I  5,3;  28,  1 ;  —  I  36,  3  Aeduos  sibi  stipendiarios  esse  factos, 
hier  steht  sibi  im  sinne  von  a  se;  Fischer  I  26  vergleicht  zu  diesem 
gebrauch  des  dativs  beim  passiv  VII  20,  7  quae  victoria  iam  esset 
sibi  atque  omnibus  Gallis  explorata,  indessen  exploratA  hat  hier  mehr 
adjectivische  bedeutung,  vgl.  III  18,  8  explorata  victoria,  ein  ge- 
wisser sieg.  vgl.  Draeger  s.427  §  189,  s.  429.  allgemein  gebräuch- 
lich iat  der  dat.  statt  der  präp.  ab  beim  gerund. ,  jedoch  auch  häufig 
beim  part.  perf.  pass.  Cic.  (oft  susceptus). 

Ein  ausdruck  der  Verwunderung  liegt  vor  I  44,  7  quid  sibi 
vellet.  Fischer  I  25.  für  Nep.  vgl.  Köhler  s.  20  —  21,  Bähnisch 
sämtliche  sätze  des  Corn.  Nepos,  1890  s.  26  ff. 

für  =  zum  schütze,  zu  gunsten  jemandes  II  14,  1;  14,  5;  VII 
19,  5;  39,  2;  N.  MUt.  7,  5;  Thras.  2,  4;  —  für  =  anstatt:  21mal 
bei  C,  vgl.  aliquid  pro  explorato,  pro  re  comperta  habere  u.  ä.; 
N.  6;  —  für  =  zum  lohn,  zur  Vergeltung  C.  14  z.b.  ulcisci  aliquem 
pro;  alicui  gratiam  habere  pro  meritis  u.a.,  Nep.  Them.  8,7,  Thras. 
4,  1 ;  —  für  =  gemäsz,  im  Verhältnis  zu:  15mal  bei  C,  N.  6.  — 
vgl.  M.-Pr.  lex.  Caes.  s.  v.,  Heynacher  s.  72—73;  Köhler  s.  39. 


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Die  lat.  casussyutax  auf  gruudlage  von  Caesar  und  Nepos.  519 

§7. 

Der  dat.  possess.  bei  esse  =  haben,  besitzen:  I  11,5  (sibi 
praeter  agri  solum  nihil  esse  reliqui),  VI  13,  2  (quibus  in  hos  eadem 
omnia  sunt  iura),  II  6,  3  (in  muro  consistendi  potestas  erat  nulli); 
VII  37,  3;  5,  5;  48,  4;  77,  8;  II  15,  4  und  16,  5  mihi  est  aditus  ad, 
ähnlich  IV  2,  1 ;  V  27,  4  u.  a.  Nep.  Lys.  1,  4;  Dion  2,  5;  8,  5. 

mihi  est  aliquid  (amicitia,  hospitium,  res  u.a.)  cumaliquo  C.  6, 
N.  5.  vgl.  C.  VII  39,  2  his  erat  inter  se  de  principatu  contentio. 

Anm.  habere  aliquid  cum  aliquo:  I  44,  9  (contentiones),  VII 
67,  7  (controversias) ;  vgl.  b.  civ.  16,  3  u.  ö.  (Harre  s.  33). 

aliquid  est  in  aliquo  C.  III  13,  8  (firmitudo  est  in  navibus); 
III  16,  2  (in  aliquo  est  aliquid  consilii  aut  dignitatis);  VI  12,  2 
(summa  auctoritas  erat  in  Aeduis);  VII  36,  4  (in  aliquo  est  aliquid 
animi  ac  virtutis);  38,  8  (si  quid  in  nobis  animi  est);  I  31,  14  (nisi 
quid  in  Caesare  .  .  .  sit  auxilii).  Heynacher  s.  78.  Nep.  9. 

meum  est  CO,  N.  0;  mihi  nomen  est  C.  N.  0.  vgl.  Neitzert 
bemerkungen  zur  lateinischen  grammatik,  gymn.-progr.  Weimar  1886 
8.  11 :  f  bei  nomen  (cognomen)  est,  datur  u.  ä.  setzt  Cic.  den  namen 
regelmäszig  als  apposition  zu  nomen  (cognomen).  der  dativ  wird 
nur  an  einer  stelle  gelesen,  Verr.  3,  74  cui  Pyagro  cognomen  est.' 
vgl.  dagegen  Stegmann  JP.  1887  s.  261  (name  im  nom.  und  dat.). 
Schmalz  A.s.  v.  nomen  'bei  Cic.  ist  der  nominativ  des  namens  regel, 
ausnahmen  nur  Rose.  Am.  17,  Verr.  3,  74  und  5,  16. 

§8. 

Der  dativ  des  Zweckes  und  der  Wirkung. 

[In  einer  redensart  wie  aliquid  est  mihi  calamitati  drückt  der 
dativ  die  Wirkung  aus,  vgl.  Eichler  in  ZGW.  1887  s.  442.] 

1)  esse  mit  dem  dopp.  dativ.  Heynacher  s.25:  'usui  esse  12  mal 
an  stelle  des  fehlenden  passivs.'  unterscheide  das  einfache  usui  esse 
ohne  dativ  der  person  (=  passiv  zu  utor:  I  38,3;  II  12,3;  IV  29,4; 
31,  2;  V  1,  4;  VII  11,  5)  von  alicui  magno  esse  usui,  von  nutzen 
sein,  gute  diensto  leisten  II  9,  5;  IV  20,  2;  25,  1;  VII  55,  7;  der 
dativ  der  person  fehlt  III  14,5;  VII 41, 3.  —  alicui  praesidio  esse  8; 
andere  dative  18 mal  noch  (curae,  saluti,  dolori  u.  a.).  N.  22  (prae- 
iuio,  malo,  perniciei,  opprobrio,  invidiae,  laetitiae  u.  a.). 

2)  anrechnen  zu:  dare,  vertere,  habere,  tribuere  C.  weder  im 
b.  gall.  noch  b.  civ.;  N.  nur  Epam.  8,  2  (crimini  dare),  Timol.  4,  2 
(superbiae  tribuere),  praef.  4  (laudi  ducere).  Cic.  vertere  nur  Farn. 
7,  6,  1,  tribuere  nur  Pam.  2,  16,  3.  Schmalz  A.  s.  v.  tribuere. 

3)  Merke  einzelne  Wendungen  wie:  relinquere  copias  (aliquem, 
aliquem  cum  copiis)  castris  (impedimentis,  navibus)  praesidio  C.  6. 
in  ausdrücken  wie  praesidium  castris  relinquere  (151,  1  u.  ö.)  ist 
castris  dativus  des  nutzens.  eine  Vermischung  beider  dative  z.  b. 
II  29,  4.  —  castris  locum  (idoneum)  detigere  II  18,  1;  VII  16,  1; 
I  49,  1,  II  17,  1,  VI  10,  2,  VII  35,5  u.ö.;  deligere  locum  colloquio, 


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520    Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 

domicilio  3;  diem  constituere  concilio,  colloquio,  pugnae  u.  a.  4; 
diem  dicere  colloquio  u.  a.  2 ;  aliquem  (alicui)  subsidio  mittere  6, 
auxilio  2;  submittere  aliquem  alicui  subsidio  1,  auxilio  1;  (alicui) 
subsidio  venire  3,  auxilio  2;  aliquem  auxilio  arcessere  1;  andere 
ähnliche  Wendungen  s.  Heynacher  s.25.  —  N.  je  lmal  auxilio  (sub- 
sidio) venire;  auxilio  (subsidio)  mittere;  auxilio  proficisci;  subsidio 
ire,  udducere;  subsidio  proficisci  2;  praesidio  proficisci  1.  —  nur  N. 
hat  3  muneri  dare  (Thras.  4,  2,  Hann.  12,  3,  Ages.  8,6),  muneri 
mittere  Paus.  2,  3,  Att.  8,  6.  [dono  statt  muneri  unclassisch.]  — 
vgl.  Att.  l  2,  5  alicui  curae  esse. 

Wichtig  also  1)  und  einzelne  Wendungen  aus  3)  auxilio  venire 
u.  ä.  —  castris  copias  praesidio  relinquere  u.  ä.  (tertia). 

C.  Genetivus. 
§1. 

Der  gen.  possess.,  esse  c.  gen.,  es  ist  eigentum,  sache  jemandes, 
gehören  zu  u.  a.  I  45,  1;  V  34,  1  —  III  23,  3;  V  7,  8;  V  5,  2; 
IV  16,  4;  17,  1;  -141,  3;  VI  30,  2;  IV  13,  2  -  I  21,  2 ;  VI  7,8; 
VII  77,  12;  V  11,  5  res  erat  multae  operae  ac  laboris,  nach  Kr.-Dtt. 
u.  a.  gen.  qualitatis;  hinzugefügt  ist  res  VII  38,  7  (das  subject  ist 
zu  entnehmen  aus  ut  sibi  consulat),  VII  45,  9  (occasionis  esse  rem, 
non  proelii,  subject  ist  das  gelingen  des  Unternehmens,  Db.-Dt.); 
vgl.  VI  23,  2  hoc  proprium  virtutis  (erg.  esse)  existimant.  —  N.  5. 
fieri  c.  gen.  C.  N.  0. 

§2. 

Der  gen.  obiectivus  excl.  gerund.  200  mal  bei  C.  nach  Heynacher 
s.  19;  N.  etwa  270,  vgl.  Köhler  s.  1,  Bähnisch  a.  a.  o.  s.  6 — 9. 

Ich  führe  aus  Caes.  nur  die  gebräuchlichsten  substantiva  mit 
folgendem  gen.  an:  opinio  virtutis,  iustitiae, bellicaelaudis  u.a.  (12); 
simulatio  5  (allerdings  liest  Menge  I  40, 10  statt  in  rei  frumentariae 
simulationem,  so  codd.,  in  —  subvectionem,  vgl.  VII  10,  1);  timor, 
metus  8;  cupiditas  6;  scientia  5;  potestas  vitae  necisque  3;  vgl. 
I  40,  8  sui;  principatus  5;  imperium  8;  inopia  16;  memoria  6; 
causa  8;  usus  6;  iniuria4;  initium  8;  am  häufigsten  spes.  vgl.  lexic. 
8.  v.  suspicio,  commutatio,  aspectus,  conspectus,  dilectus,  quaestus, 
odium,  Studium,  in  —  conscientia,  regnum,  mentio,  immunitas, 
notitia,  fiducia,  aditus,  occupatio,  quaestio,  vacatio,  dubitatio,  fides, 
finis,  Signum  und  andere  verbalsubstantiva  wie  oppugnatio  u.  a.; 
vgl.  bellum  der  krieg  mit  8  (I  30,  1  u.  a.),  für  den  gen.  steht  ein 
adjectivum  1 13,  2;  III  18,  6;  IV  16,  1 ;  20,  1;  21,4;  V  4,  1;  54,4; 
in  ähnlicher  weise  III  5,  2  Nervico  proelio;  VII  28,  4  lesen  wohl 
mit  recht  Paul,  Meusel  Cenabensi  caede  (so  ß)  statt  Cenabi  caede. 

Für  den  gen.  obiect.  stehen  die  präpositionen  in  usw.  bei  Sub- 
stantiven der  zu-  und  abneigung  (benevolentia  u.  a.)  und  Substan- 
tiven wie  beneficium,  meritum.   C.  animus  I6,3;V41,5;  4, 4; 


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Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos.  521 


benevolentia  V  25,  2;  VII  43,  4;  voluntaa  I  19,  2;  V  4,  3;  fides 
V  64,  4;  indulgentia  VII  63,  8;  beneficium  I  42,  3;  43,  4;  V  27,  2; 
meritum  VII  54,  3;  71,  3;  Studium  I  19,  2:  nur  V  54,  4  gebraucht 
C.  erga  [3  mal  b.civ.],  sonst  stets  in,  nie  adversus:  der  präpositional- 
ausdruck  steht  zwischen  attribut  (adj.,  pron.,  genetiv)  und  Substantiv 
z.  b.  I  43,  4  sua  senatusque  in  eum  beneficia  commemoravit;  auch 
VII  63,  8  hält  doch  wohl  mit  recht  Schneider  (vgl.  Richter  s.  37) 
die  lesart  von  ß  Caesaris  in  se  indulgentiam  für  besser  als  die  von  <* 
Caesaris  indulgentiam  in  se.  nach  Richter  abweichend  nur  b.  civ.  I 
7,  1  omnium  temporum  iniurias  inimicorum  in  se  commemorat.  — 
Nep.  adversus  0;  erga  einige  mal  unclassisch  im  feindlichen  sinne; 
im  freundlichen  sinne  nur  1 ;  in  2  mal.  für  Cic.  verweise  ich  auf 
Froehlich  de  grammaticae  latinae  locis  aliquot  controversis ,  gymn.- 
progr.  Hagenau  1889  s.  7 — 14.  Cic.  hat  adversus  in  den  reden  nie- 
mals, dagegen  oft  erga  und  in,  vgl.  Amic.  16, 56  (ut  nostra  in  amicos 
benevolentia  illorum  erga  nos  benevolentia  .  .  .  respondeat:  erga 
und  in),  die  präp.  steht  nur  von  personen  und  begriffen,  die  dem 
einer  person  gleichkommen  (patria  u.  a.),  bei  den  ausdrücken  des 
affects,  also  sage  nicht  amor  in  litteras  für  amor  litterarum  (Berger 
Stilistik8  §  55c.  anm.).  nicht  überall  finden  wir  bei  Cic.  zwischen- 
stellung  des  präpositionalausdrucks,  vgl.  z.b.Flacc.96  summi  amoris 
in  patriam.  —  adversus  gebraucht  Liv.  wenigstens  XXI  —  XXIII 
nicht,  vgl.  Fügner  s.  50—51 ;  Sali.  Oj  erga  von  freundlicher  gesin- 
nung  Liv. XXI — XXIII  3  mal;  Sali.  0;  am  gebräuchlichsten  ist  jeden- 
falls tiberall  in ;  vermeide  adversus. 

Vom  pron.  pers.  hat  C.  nur  folgende  gen.  obi.  IV  28,  2  (magno 
sui  cum  periculo;  Meusel  u.  a.  lesen  suo),  I  40,  8  (sui  potestatem 
facere) ;  V  29,  2  (contemptio  nostri).  N.  4. 

Der  genitiv  eines  Substantivs  bei  causa  »wegen  C.  etwa  35  mal, 
N.  9.  —  mea  causa  usw.  C.  0,  N.  1 ;  gratia  C.  0  (allerdings  VII 43,  2 
mit  gerund.),  N.  1  (5  mit  gerund.);  ergo  C.  0,  N.  1;  Cic.  nur  in 
formein,  vgl.  Schmalz  A.  s.  v.;  Stegmann  JP.  1885  s.  229;  instar 
C.  nur  II  17,  4,  N.  0. 

§3. 

Der  gen.  explicativus.  vgl.  Heynacher  8.  21.  Caes.  V  47,  5 
copiae  equitatus  peditatusque ,  ähnlich  VI  7,  1;  10,  1;  VII  5,3; 
76,  5;  —  VII  65,  1  praesidia  cohortium  duarum  et  viginti;  diese 
und  ähnliche  stellen  8.  unter  gen.  qualitatis.  Heyn,  führt  ferner  an 
III  10,  2;  8,  2.  bei  Cic.  oft  der  gen.  expl.  bei  genus,  vgl.  Caes.  VI 
13,  4;  15,  1;  28,  1. 

Classisch  ist  bekanntlich  urbs  Roma,  flumen  Rhenus  u.  a.,  vgl. 
Caes.  VII  56,  2  mons  Cevenna  (so  die  besten  hss.) ,  I  8,  1 ;  I  38,  4 
(flumen  Dubis)  u.  Ö. 

Andere  genetivi  expl.  C.  III  2,  5  obsidum  nomine;  VI  19,  1; 
VII  77,  3;  89,  5;  vgl.  II  27,  2  ut  turpitudinem  fugae  virtute  de- 
leren t. 


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522     Die  lat.  casusByntax  auf  grundlage  von  Caeaar  und  Nepos. 

» 

Aus  Nepos  fuhrt  Köhler  s.  1  17  beispiele  an;  unclassisch  urbs 
Syracusaruin  (Dion  5,  5);  Epam.  5,  3  nomen  otii,  Dion  1,  4  nomen 
tyranni  u.  a. 

Gleich  dem  dat.  ethicus  werde  auch  der  gen.  explic.  nur  bei 
gelegenheit  der  lectüre  besprochen,  am  durchsichtigsten  und  zahl- 
reichsten sind  fälle  wie  copiae  equitatus  peditatusque  und  nomen 
obsidum,  dotis,  praedae  u.  a. 

§*. 

Genetivus  partitivus. 

a)  bei  Superlativen,  Zahlwörtern  usw. 

1)  bei  comparativen  nur  VI  9,  7  und  VII  72,  3  (quarum  sc. 
fossarum  interiorem). 

2)  bei  Superlativen:  I  3,  6;  V  3,  1;  III  8,  1 ;  IV  1,  3;  I  7,  3 ; 
21,  2;  31,  7;  31,  10;  38,  1;  23,  1;  53,  6;  II  4,  7;  32,  4;  IV  16,  1; 

VI  24,  2;  29,  4;  42,  3;  VII  15,  4.  also  18  mal.  die  präp.  ex  steht 

I  30,  3;  V  14,  1;  30,  2;  I  41,  4;  VI  25,  5;  V  56,  2;  VI  28,  3; 

II  3,  1. 

3)  bei  cardinalzahlen;  oft  nach  milia;  auch  nach  ruille  I  25,  5? 
die  edd.  haben  auf  Dinters  Vorschlag  spatio  hinzugefügt;  bekanntlich 
ist  der  gen.  die  regel  neben  den  Verbindungen  unus  .  .  .  alius  .  .  . 
tertius  u.  ä.,  so  Cic;  auch  Caes.  I  1,  1 ;  VI  9,  1;  vgl.  auch  I  31,  3; 
53,  4;  V  27,  9;  VII  17,  2;  32,  4;  ex  nur  VI  3,  3;  V  24,  2.  vgl. 
Stegmann  JP.  1885  s.  248. 

Ausnahmsweise  heiszt  es  buch  VII  35,  3  unius  eorum  pontium. 
—  Häufig  steht  nach  cardinalzahlen  ex,  stets  nach  unus  (11  mal); 
femer  IV  32,  2;  36,  4;  VII  33,  3;  IV  12,  3;  VII  28,  5;  IV  1,  4; 

VII  68,  2;  I  29,  2;  VII  89,  5. 

4)  bei  Ordinalzahlen  V  15,  4;  II  11,  1;  27,  3;  primi  =  prin- 
cipes  II  3,  1;  13,  1;  vgl.  I  1,  1  unam  .  .  .  aliam  .  .  .  tertiam;  ex 

V  24,  2  ex  quibus  unam  .  .  .  alteram  .  .  .  tertiam;  ebd.  quartus. 

5)  bei  den  uneigentlichen  Zahlwörtern  multi,  nonnulli,  com- 
plures,  per-pauci,  tot,  quot,  aliquot  überwiegt  bei  weitem  das  attri- 
butive Verhältnis;  der  gen.  nur  V  22,  2;  VI  40,  7  (multi,  nonnulli 
mit  pronominalem  genetiv);  hingegen  ex:  complures  4,  multi  1,  plu- 
rimi  1,  nonnulli  2,  pauci  2,  perpauci  4.  Ciceros  Sprachgebrauch 
stimmt  mit  dem  Caesars  völlig  Überein,  Stegmann  a.  o.  o. 

6)  bei  folgenden  pronominibus:  nullus  IV  28,  2;  nemo  V  43,  6; 
VII  66,  6;  uter  VI  19,  2;  quisquam  VII  76,  5  (omnium  quisquam; 
Kratfert:  omnino);  VI  25,  4  (neque  q.  est  huius  Germaniae);  quis- 
que  IV  5,  2;  V  33,  6;  VII  31,  2 ;  32,  5;  48,  2;  71,  2  ;  uterque  eorum 
VII  32,  3;  oft  uterque  attributiv  bei  einem  Substantiv,  vgl.  plural. 
hit>  utrisque  (id  est  Atrebatibus  et  Virimanduis)  II  16,  2  und  haec 
utraque  sc.  tigna  IV  17,  6.  —  Die  präp.  ex  steht  nach  aliquis  147,  1; 

V  26,  4;  qui  I  39,  6;  IV  18,  4;  VI  23,  8;  36,  3;  quicunque  VII 
40,  3;  quidum  I  42,  6;  II  17,  2;  V  48,  3;  VI  30,  4 ;  ne  quis  ex 


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Die  lat.  casussyntax  auf  gruudlage  von  Caesar  und  Nepos.  523 

plebe  VI  11,  4;  ubi  quis  VI  23,  7;  vgl.  auch  V  23,  3;  VI  19,  1 ; 

I  54,  1;  V  61,  5;  III  6,2;  26,  6  —  VII  75,  1  certum  numerum 
cuique  ex  civitate  (Db.-Dt.),  Kr.-Dtt.  liest  richtig  mit  ß  cuique 
civitati. 

Anm.l.  die  präposition  de  steht  nur  VI  13,  3;  I  15,2;  V42,2; 
inter  II  4,  5  (plurimum  inter  eos  Bellovacos  valere) ,  V  4,  3 ;  hier 
tiberwiegt  mehr  die  locale  bedeutung  wie  VI  13,  8;  21,  4;  zu  II  4,  8 
vgl.  Db.-Dt.  vgl.  in  his  u.  ä. f unter  diesen*  I  16,  5;  53,  3;  II  25,  1; 

IV  12,  3;  V  4,  2;  53,  6;  VII  3,  1;  39,  1.  -  Zu  a  II  25,  1  und  2 
vgl.  Db.-Dt.,  Kr.-Dtt. 

Anm.  2.  Fischer  II  32  sagt :  'Caesar  pflegt  partitiven  adjectiven 
und  Zahlwörtern  das  pron.  poss.  mit  und  ohne  Substantiv  in  gleichem 
casus  statt  im  gen.  oder  einer  präposition  beizufügen.' 

I  52,  5  (reperti  sunt  complures  nostri  milites,  qui);  IV  12,  2; 
VII  47,  7  (tres  suos  nactus  manipulares). 13  dasz  hier  ein  partitives 
Verhältnis  vorliege,  leugnen  mit  unrecht  Db.-Dt.,  Kr.-Dtt.  zu  I  52,  5. 
Draeger  s.  458  führt  noch  an  V  14,  2  interiores  plerique  frumenta 
non  serunt.  vgl.  zu  plerique  mit  dem  gen.  Kühner  s.  313  anm.  3. 
beispiele  für  Wendungen  wie  quos  multos  finde  ich  nicht;  vgl.  Steg- 
mann JP.  1885  s.  248. 

Bekannt  ist  das  attributive  Verhältnis  in  ausdrücken  wie  multi 
alii,  plerique  omnes  u.  a.  vgl.  die  partitive  apposition  I  8,  4  (Hel- 
vetii  .  .  .  alii),  IV  26,  4  (hostes  .  .  .  plures  .  .  .  alii);  ein  das  ganze 
bezeichnende  Substantiv  ist  zu  ergänzen  IV  28,  2;  V  51,  4. 

Zum  gebrauch  der  präpositionen  bei  Cic.  vgl.  Froehlich  a.  o.  o. 
s.  1 5  ff.  ex  meist  nach  den  pluralischen  zahladjectiven  und  den  pro- 
nominibus,  nach  letzteren  auch  am  häufigsten  (ex  c.  40 mal,  de  c. 
20 mal);  inter  nur  abhängig  von  Superlativen  oder  worten  mit  super- 
lativischer bedeutung  wie  princeps;  zum  gebrauch  von  in  bemerkt 
Froehlich  s.  17:  ex  Ciceronis  libris  certum  huius  usus  exemplum 
quod  proferam  habeo  nullum.  nam  quod  in  nonnullis  libris  gram- 
maticis  invenio  allegatum  'Thaies  Milesius  sapientissimus  in  Septem 
fuit*  leg.  II  11,  26,  equidem  huc  nequaquain  rettulerim,  primum 
quia  dubitatio  mihi  affertur  adiecto  verbo  'fuit',  tum  quod  praepo- 
sitio  in  etiam  aliam  habet  explicationem. 

b)  bei  den  Substantiven  des  maszes  und  der  quantität. 

Sehr  oft  steht  der  gen.  part.  bei  pars,  numerus,  multitudo, 
copia ;  vis  nur  IV  1 7, 7 ;  VI  36,  3 ;  facultas  1  38,  3 ;  III  12,3;  acervus 

II  32,  4;  manus  V  27,  8;  29,  1 ;  I  37,  4;  II  5,  2;  VII  84,  3.  ver- 
einzelt steht  numerus  frumenti  VII  38,  9;  vgl.  numerus  pecudis 

V  21,  2;  12,  3;  21,  6;  VI  6,  1 ;  35,  6;  nichts  anstösziges  liegt  in 
numerus  equitatus  für  equitum  (dies  I  18,  5;  III  11,  3).  Nep. 
pars  17,  numerus  14,  multitudo  9;  manus,  modius,  pondus,  fre- 
quentia,  vis  je  1  mal. 

"  vgl.  b.  civ.  III  28,  2;  I  29,  2;  III  96,  4;  104,  3;  I  46,  4;  III  58,  2; 
II  27,  1. 


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524     Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepoe. 

c)  bei  den  substantivisch  gebrauchten  neutr.  sing,  der  pronomina  usw. 

hoc  1  (solacii  VH  15,  2);  id  1  (consilii  VII  5,5),  quod  4, 
quid?  9,  aliquid  3,  quid  6,  quicquam  3  (IV  16,  4  gehört  nicht  hier- 
her), quantum  6,  aliquäntum  1 ,  multum  1 ,  plus  1,  minus  2,  mini- 
mnm  1,  nihil  11. 

Anna,  quid  certi  VII  45,  4;  nihil  reliqui  I  11,  5;  II  26,  5;  sui 
I  43,  8;  quid  aliud  VII  77,  16;  quid  gravius  I  20,  1;  48,  6. 

Der  gen.  part.  bei  den  adverb.  loci  C.  N.  0;  vgl.  übrigens  Steg- 
mann JP.  1885  s.  248. 

affatim,  parum,  nimis  C.  N.  0;  nimis  nach  Stegmann  bei  Cic. 
nur  orat.  170,  dafür  nimium  c.  gen.;  parum  nur  Rose.  46,  49,  Cato 
m.  3,  Brut.  240.  327;  satis  Cic.  oft;  Caes.  nur  I  19,  1;  III  23,  7; 
Nep.  Cim.  2,  1 ;  Timoth.  3,  1 ;  Epam.  4,  2.  —  Caes.  hat  einigemal 
satis  magna  copia,  s.  magnus  numerus ;  Caes.  magnae,  maiores  tan  tae 
copiae  16  mal ;  einige  mal  auch  Nep. ;  magna  pecunia  Caes.  b.  Gall.  0, 
Nep.  4. 

Über  den  gen.  part.  bei  Nepos  vgl.  Köhler  s.  3  —  6:  inter  nur 
Ages.  2, 3  (qui  summum  imperium  inter  praefectos  habebat) ;  häufiger 
als  Caesar14  hat  Nep.  de  (lOmal). 

§5. 

Von  den  zahlreichen  bei  Zumpt  §  436  u.  a.  angeführten  adjec- 
tiven  mit  dem  gen.  obiect.  (adiectiva  relativa)  kommen  bei  Caes.  im 
b.  Gall.  I— VII  nur  folgende  vor:  peritus  3  (I  21,  4;  III  21,  3;  VII 
83, 1) ;  Nep.  6 ;  imperitus  C.  6  (1 44, 9 ;  V  27,  4 ;  VII  29,  2 ;  IV  22, 1 ; 
VI  39,  2;  IV  24,  4);  Nep.  1;  insuetus  C.  VII  30,  4  (laboris;  vgl. 
V  6,  3  navigandi);  N.  Dion  7,  3  (male  audiendi);  plenus  C.  VII  76,  5 
(fiduciae:  codd.  ß  fiducia;  der  abl.  auch  b.  civ.  I  74,  7,  hingegen  der 
gen.  II  5,  2;  41,  8;  37,  6;  III  32,  4;  69,  4);  Nep.  2;  cupidus  C.  4 
(I  18,  3;  V  6  1;  VI  35,  6;  I  2,4);  Nep.  4mal.  conscius  C.  I  14,  2; 
N.  1.  Nep.  hat  noch  studiosus  Epam.  3, 2  audiendi;  Cato  3,  5;  Att. 
1,  2;  rudis  Pelop.  1,  1;  prudens  Con.  1,  2;  memor  2;  expers  4; 
partieeps  3;  supplex  2. 

Vogt  (das  deutsche  als  ausgangspunkt  im  fremdsprachlichen 
Unterricht,  gymn.-progr. Neuwied  1886  s.6)  stelltauf  grund  psycho- 
logischer betrachtungen  folgende  regel  auf:  res  sollen  nicht  in  ein- 
und  derselben  regel  fälle,  in  denen  Übereinstimmung  mit  dem  deut- 
schen und  solche,  in  denen  abweichung  herscht,  bunt  durcheinander 
gewürfelt  werden.'  als  entbehrlich  führt  er  mit  recht  an  partieeps, 
expers,  compos,  potens,  memor,  immemor,  inops,  conscius.  wichtig 
demnach  sind  nur  peritus,  imperitus,  cupidus,  plenus. 

Participia  transitiver  verba  c.  gen.  C.  0;  nach  Stegmann  JP. 
1885  s.  230  nur  fugiens  laboris  im  b.  civ.  I  69,  3;  Cic.  meist  nur  in 
den  philosophischen  Schriften;  zu  den  von  Stegmann  angeführten 


"  Caea.  b.  civ.  steht  de  partitiv  nur  II  35,  1  Fabius  Paelignus  qui- 
dam  ex  infimia  ordinibua  de  exercitu  Curionis. 


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Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos.  525 

stellen  fügt  Gaede  a.  o.o.  8. 7  hinzu:  pro  Quinctio  39;  62;  de  imper. 
P.  7 ,  Plane.  5,  13.  —  Nep.  nur  veritatis  diligens  Epam.  3,  1.  — 
Diese  construetion  weist  Stegmann  mit  recht  einer  späteren  stufe 
zu.  nach  v.  Kobilinski  ZGW.  1886  s.  707  passt  diese  regel  ihrer 
einfachheit(?)  wegen  gerade  für  die  entwicklung  der  unteren  stufe. 

§6. 

Dasz  die  regel  Über  die  verba  des  erinnerns  im  laufe  der  zeit 
viele  änderungen  erfahren  hat,  bemerken  mit  recht  v.  Kobilinski 
ZGW.  1886  s.  19  und  Eichler  ebd.  1887  s.  435. 

Caes.  moneo,  ad  —  commoneo,  memini,  recordor,  mihi  in  men- 
tem  venit  0;  reminisci  c.  gen.  I  13,  4;  oblivisci  c.  gen.  I  14,  3;  VII 
34,  1.  Nep.  Ale.  8,  5  moneo  illud;  reminisci  c.  gen.  Phoc.  4,  1; 
hingegen  c.  acc.  Ale.  6,  3;  obliviscor  c.  gen.  Eum.  6,  2;  vgl.  Dat. 
11,3  quiddam.  nach  Schmalz  im  antib.  classisch  moneo  de;  admoneo 
de  und  gen.;  commoneo  de,  aliquam  rem,  gen.;  commonefacio  gen., 
aliquid;  memini  mit  gen. ;  recordari  von  Sachen  de  und  aliquam  rem, 
von  personen  de;  oblivisci  nur(!)  mit  acc.  der  sache,  nicht  mit  acc. 
der  person  (überall  id  usw.). 

Die  fassung  dieser  regel  (vgl.  z.  b.  Ell.-Seyff.34)  hat  allerdings 
etwas  verwirrendes  für  die  schüler. 

§7. 

Die  verba  absolvo,  libero,  damno,  arguo,  coarguo,  accuso,  in- 
cuso,  reum  facio  c.  gen.  C.  b.  ( t all.  0;  C.  hat  den  gen.  der  schuld  bei 
condemno  VII  19,  5;  aliquem  proditionis  insimulare  VII  20,  1; 
20,  12;  38,  2.  vgl.  die  ungewöhnliche  construetion  avaritiam  sc. 
eius  esse  convictam  I  40,  12. 

Nep.  ineuso,  insimulo,  coarguo,  convinco,  condemno,  absolvo  0; 
accusare  mit  gen.  3  (2  proditionis  Milt.  7,  5;  Timoth.  3,  5);  4  mal 
mit  abl.  crimine;  arguere  aliquem  crimine  Paus.  3,  7;  reum  facere 
c.  gen.  Ale.  8,  4;  damnare  4  mit  gen.  (2  proditionis,  Them.  10,  5; 
8,  2);  capitis  damnare  5;  c.  absolvere  2  (Milt.  7,  6;  Paus.  2;  6). 

Also :  anklagen  wegen  accusare,  insimulare ;  verurteilen  wegen 
damnare,  condemnare;  zum  tode  verurteilen 18  damnare;  freisprechen 
absolvere. 

multare  c.  abl.  C.  VII  54,  3  (agris,  zur  strafe  berauben);  N.  9 
(4  pecunia,  2  morte,  3  exsilio). 

Wendungen  wie  postulare  aliquem  de  repetundis  C.  N.  0. 

§8. 

Die  verba  des  schätzens:  C.  nur  I  20,  5  (tanti  esse),  IV  21,  7 
(magni  habere).  Nep.  10 mal,  allerdings  in  den  nicht  überall  ge- 
lesenen viten  Cato,  Iphicr.,  Dat.,  Eum.,  Timoth.,  Conon;  wohl  überall 


15  nach  Eichler  ZGW.  1887  s.  437  capitis  damnare  Cic.  0;  vgl.  capitis 
damnare  Caes.  b.  civ.  III  83,  3;  110,  3. 


526    Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 

gelesen  nur  Epam.  (10,  4).  es  finden  >ich  bei  aestimo,  facio,  esse 
die  genetive  magni ,  pluris,  piurirni;  parvi,  minoris;  tanti.  vgl.  zu 
den  verben  des  schätzen«  Stegmann  JP.  1890  s.  29  ff.  Cic.  an  über 
je  60  stellen  aestimo,  facio  (vgl.  Nep.);  puto  nur  8  mal  in  den  philo- 
sophischen Schriften,  briefen,  Flacc.  10,  4.  duco  nur  4;  habere  nur 
div.  1, 132;  pendere  0;  für  esse  gelten  führt  Stegmann  ca.  90  stellen 
an;  Caes.  1,  Nep.  4;  fieri  hat  Cic.  namentlich  oft  im  briefstil;  haberi 
nur  Caes.  1 ;  Cic.  Phil.  6,  10;  Verr.  4,  19.  für  plurimi  steht  maximi 
vereinzelt,  zum  teil  kritisch  unsicher. 

pro  nihilo  putare  C.  N.  0;  öfter  Cic.  pro  nihilo  putare,  habere; 
p.  n.  ducere  4.  der  gen.  nihili  sehr  selten. 

Heynacher  s.  128:  die  beiden  genetivi  des  wortes  bei  Caesar, 
in  365  Caesarstücken,  dem  maximum  der  zweijährigen  lectüre  auf 
lila  und  b,  lohnen  die  mühe  nicht,  welche  das  einüben  von  13  gene- 
tiven  des  wortes  kostet,  allerdings  kann  eingewandt  werden,  dasz 
Nepos  nach  Lupus'  Zählungen  10  genetivi  pretii  bietet,  doch  wird 
in  dem  einen  Schuljahr  der  IV  durchschnittlich  kaum  der  halbe  Nepos 
gelesen. 

§9. 

Caes.  nur  IV  5,  3  paenitet  me  alicuius  rei;  vgl.  pudet  absolut 
VII  42,  4.  Nep.  hat  3  paenitet  Cim.  3,  2,  Timoth.  4,  1;  Att.  15,  2 
(eum  suscepti  negotii  pertaesum  est);  vgl.  pudet  aliquem  c.  inf. 
praef.  6.  —  misereri  c.  gen.  C.  0,  N.  Phoc.  4,  1. 

Nach  Stegmann  JP.  1885  s.  230  sind  piget,  taedet  bei  Cic. 
kaum  zu  finden,  miseret  nur  Mil.  92,  Ligar.  14,  Phil.  2,  69.  90; 
misereri  entbehrlich,  nur  mit  dem  gen.  Verr.  2,  1,  72.  oft  paenitet 
und  pudet.  —  Sali.  Jug.  4,  9  me  civitatis  morum  piget  taedetque; 
miseret  0,  dagegen  misereri  c.  gen.  4 mal;  Liv.  XXI — XXIII  (vgl. 
Fügner)  s.  13  taedet  nur  21,  19,  7 ;  dagegen  7  mal  paenitet,  1  pudet, 
1  misereri.  wichtig  also  paenitet  und  pudet  (III). 

§  10. 

interest,  refert  N.  0;  Caes.  hat  nur  interest;  II  5,  2  quantopere 
rei  publicae  communisque  salutis  intersit  manus  hostium  distineri 
(für  communis  salutis  müste  man  erwarten  ad  communem  salutem, 
Db.  Dt.  u.a.);  V  4,  3  magni  interesse  arbitrabatur  eius  auctoritatem 
inter  suos  quam  plurimum  valere;  VI  1,  3  magni  interesse  etiam  in 
reliquum  tempus  ad  opinionem  Galliae  . . .  tantas  videri  Italiae  facul- 
tates;  VII  14,  8  neque  interesse  mit  doppelfrage  ne  .  .  .  ne. 

interest  Sali.  0;  Liv.  XXI — XXIII  nach  Fügner  s.  13  nur 
23,  43,  13;  häufig  Cic;  zu  refert  vgl.  Sali.  Cat.  52,  16.  Jug.  III  1. 
Liv.  XXI-XXIII  Omal. 

Die  besprechung  dieser  regel  fällt  erst  in  die  III. 

Nachträge. 

1)  zum  dativ  §  7.  mit  VI  13,  2  vgl.  V  27,  3  ut  non  minus 
haberet  iuris  in  se  multitud  o;  Caesar  sagt  auctoritatem  habere  VI  11,3; 


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Zur  gestaltung  der  lateinischen  lectüre  im  gymnasium.  527 


11,  4  ;  13,  8;  auctoritas  est  in  aliquo  VI  12, 2;  habere  controversiani 
V  44,  2;  VIT  67,  7;  VI  13,  10;  alicui  est  c.  VII  33,  2;  vgl.  spem 
habere  I  33,  1. 

2)  zum  genetiv  §  1.  esse  mit  dem  gen.  von  adjectiven  statt 
der  entsprechenden  substantiva  findet  sich  bei  Caesar  nicht,  vgl. 
Plochmann  s.  23.  ebendort  lesen  wir:  als  possessiv  in  weiterem 
sinne  ist  der  genetiv  auch  in  folgendun  auffallenden  Verbindungen 
anzusehen:  IV14,3  pristini  diei  perfidia;  IV  22,1;  VI  32,5;  V54,4 
u.  a. ,  auch  z.  b.  Lutetia  Parisiorum  VI  3.  4.  zu  esse  mit  dem  gen. 
eines  adj.  vgl.  Nepos  Att.  13,  4;  15,  1. 

3)  zum  gen.  explic.  III  13,6  onera  navium;  V58,2  contumelia 
verborum;  VI  21,  5  rhenonum  tegimentis.  Plochmann  s.  23. 

4)  zum  gen.  part.  b.  VI  22,  2  modus  masz;  turma  VII  45,  1. 
Plochmunn  s.  25. 

(schlnsz  folgt.) 

Schwerin.  K.  Brinker. 


50. 

ZUR  GESTALTUNG  DER  LATEINISCHEN  LECTÜRE 

IM  GYMNASIUM. 


In  der  dritten  sitzung  der  zur  beratung  Uber  fragen  des  höheren 
Unterrichts  einberufenen  conferenz  fiel  am  6  december  1890  von 
autoritativer  stelle  bezüglich  des  lateinischen  das  ebenso  wichtige 
als  richtige  wort:  'das  lehrziel  ist  für  das  gymnasium: 
logische,  historische  Schulung,  verbunden  mit  gründ- 
licher lectüre*  (geheimrat  dr.  Stauder,  Verhandlungen  s.  210). 
bedenkt  man,  wo  diese  worte  gesprochen  wurden,  und  wer  sie  sagte, 
so  dürfen  alle  freunde  des  humanistischen  gymnasiums  guten  mutes 
in  die  Zukunft  schauen;  es  ist  damit  auch  für  die  folgezeit  anerkannt 
worden,  dasz  im  gymnasium  die  lateinische  spräche  auch  fortan  noch 
die  grundlage  der  grammatischen  Schulung  bleiben  werde,  und  dasz 
dem  lateinischen  lehrziele  erhalten  werden  sollen,  welche  dasselbe 
des  betreibens  wert  machen:  an  ihm  soll  der  schüler  des  gymna- 
siums denken  lernen  und  durch  dasselbe  angeleitet  werden,  den  be- 
griff der  entwicklung  zu  verstehen  und  zu  erfassen,  da  die  spräche 
die  höchste  Schöpfung  des  menschengeistes  von  jeher  gewesen  ist  und 
noch  ist,  so  musz  sie  auch  als  das  geeignetste  mittel  gelten,  an  ihr 
das  zu  lernen,  was  des  menschen  höchstes  ist,  zu  denken;  und  keine 
spräche  ist  einerseits  so  scharf  nach  logischen  gesetzen  ausgeprägt 
wie  die  lateinische,  dabei  in  wort  und  satzform  so  klar  und  durch- 
sichtig ,  anderseits  aber  auch  so  ganz  anders  als  unsere  spräche  ge- 
artet, dasz  das  deutsche  gymnasium  keinen  dankbareren  und  wirk- 
sameren Unterrichtsgegenstand  finden  kann  als  das  lateinische,  die 


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528       Zur  gestaltung  der  lateinischen  lectüre  im  gymnasium. 

Unterweisung  in  ihm  zerfällt  aber  naturgemäsz  in  zwei  grosze  teile: 
in  grammatik  (im  weitesten  sinne  des  Wortes  genommen)  und  in 
lectüre.  wird  lateinische  grammatik  fernerhin  betrieben,  so  wird 
dies  geschehen,  wie  es  des  deutschen  gymnasiums  würdig  ist,  und 
es  wird  auch  in  zukunft  als  ziel  dieses  Unterrichts  erstrebt  werden 
müssen,  bei  festhalten  einer  ausreichenden  Stundenzahl1:  1)  eine 
ausreichende  menge  von  grammatischen  kennt  niesen,  die  jedoch 
auf  das  wichtigste  und  notwendigste  beschränkt  werden  müssen ,  so 
aber,  dasz  das  hertibersetzen  (um  die  trefflichen  bezeichnungen  von 
Rothfuchs  zu  gebrauchen)  kein  blindes  raten  werde,  das  hinüber- 
setzen richtiges  latein  liefere;  2)  kenntnis  der  synonymen  unter- 
schiede der  wichtigsten  Wörter,  damit  keine  verkehrten  Wortverbin- 
dungen gebraucht  und  die  wichtigsten  abtönungen  im  gebrauch  der 
Wörter  ausreichend  verstanden  werden ;  3)  kenntnis  der  wichtigsten 
stilistischen  regeln,  damit  Verständnis  der  eigentümlichkeiten  der 
lateinischen  spräche  erzielt  werde,  das  förderlichste  beim  Umtausch 
mit  deutschen  eigentümlichkeiten,  auch  wichtig  für  vertiefte  erkennt- 
nis  unserer  spräche;  endlich  4)  kenntnis  der  hauptvorschriften  der 
rhetorischen  technik,  um  eine  zusammenhängende  lateinische  d  Er- 
stellung, wenigstens  in  ihren  wichtigsten  gesetzen,  verstehen  und 
würdigen  zu  können,  im  besten  falle  auf  grund  eines  gegebenen 
deutschen  textes  eine  solche  nicht  zu  verfehlen,  dies  ist  ungefähr 
das  masz  der  kenntnisse,  welches  der  Verfasser  in  seinem  jüngst  er- 
schienenen büchlein  (vorlagen  zu  Übersetzungen  ins  lateinische 
für  die  prima  des  gjmnasiums,  Breslau  1891)  voraussetzt  und  auch 
fernerhin  zu  erstreben  anrät,  wenn  das  lateinische  des  betreibens  auf 
unseren  gymnasien  wert  sein  soll,  wichtiger  aber  wird  in  zukunft 
auf  den  gymnasien  das  andere  stück  des  lateinischen  Unterrichts,  die 
lectüre  werden,  welcher  wir  in  den  folgenden  Zeilen  eine  eingehen- 
dere, aber  zwanglose  betrachtung  widmen  wollen,  und  zwar  auf 
grund  langjähriger  erfahrungen  in  der  Vergangenheit  und  eingehen- 
den sorgenvollen  nachdenkens  bezüglich  der  zukunft,  wobei  wir  uns 
bewust  sind,  nicht  etwa  neue  oder  besondere  gedanken  vorzu- 
bringen, aber  es  gilt  für  das  bestehende  in  echt  conservativem  sinne 
einzutreten,  d.  h.  das  berechtigte  festzuhalten,  aber  neuen  un- 
abweisbaren forderungen  sich  nicht  nur  nicht  zu  verschlieszen, 


1  nach  unserer  Überzeugung  sollte  man  nicht  unter  das  masz  der 
jetzt  in  Preuszen  vorhandenen  lehrstunden  heruntergehen,  welche  wö- 
chentlich 9  stunden  in  VI  —  III,  8  stunden  in  II  und  I  betragen,  höch- 
stens kann  man  durchgehends  8  stunden  zulassen;  denn  wenn  man  troU 
aller  oft  schon  geltend  gemachten  bedenken  doch  noch  dem  lateinischen 
glaubt  stunden  wegnehmen  zu  dürfen,  so  möge  es,  wenn  es  unabwend- 
bar ist ,  in  den  unteren  und  mittleren  classen  geschehen,  wo  vielleicht 
durch  eine  noch  überlegtere  lehrweise,  peinlichstes  ausnutzen  der  lehr- 
zeit  und  beschränkung  de«  lehrstoffes  noch  etwas  hergegeben  werden 
kann,  während  der  gewaltige  Stoff  der  lectüre  in  den  oberen  classen, 
der  ja  eher  zu  vermehren  als  zu  verringern  ist,  eine  Verminderung  der 
stunden  widerrät,    wir  sprechen  de  lege  ferenda. 


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Zur  geötaltung  der  lateinischen  lectüre  im  gymnasium.  529 


sondern  das  gute  und  bewährte  alte  in  die  neuen  formen,  soweit  sie 
eben  als  berechtigt  allgemein  anerkannt  werden  müssen,  richtig 
hinüberzuleiten,  zum  nutzen  und  frommen  unserer  jugend,  und  da- 
mit zum  heile  unseres  heiszgeliebten  Vaterlandes,  freilich  können 
wir  dabei  auf  die  vorhandene  weitschichtige  litteratur  nur  geringe 
rücksicht  nehmen,  weil  dies  einerseits  die  gewollten  zwecke  nicht 
fördern  würde,  anderseits  unsere  ausführungen  dann  den  ihnen  ge- 
statteten räum  weit  überschreiten  würden. 

Bei  der  ersten  frage  nach  der  aus  wähl  der  lectüre  heischt  zu- 
nächst eine  allgemeine  betrachtung,  welche  freilich  bei  der  aus  wähl 
jeder  lectüre  für  die  schule  sich  gebieterisch  vordrängen  wird,  ihre 
erledigung.  sie  findet  dieselbe,  wenn  wir  als  obersten  und  allge- 
meinen grundsatz  hinstellen:  es  ist  nur  zu  lesen,  was  sowohl  dem 
verstände  als  dem  gemüte  frommt,  ein  grundsatz,  welcher  zwar 
dem  wesen  nach  allgemein  zugestanden  ist,  der  aber  in  der  aus- 
führung  so  oft  verletzt  wird,  dasz  seine  erwähnung  an  dieser  stelle 
gerechtfertigt  erscheinen  musz.  positiv  ausführen  läszt  er  sich  nur 
durch  darlegung  des  einzelnen,  aber  seine  grosze  bedeutung  beruht 
wesentlich  auf  der  negativen  seite,  auf  der  ab  Weisung  ungeeigneter 
Stoffe,  was  frommt  dem  verstände  unserer  jugend  ?  von  diesem 
Standpunkte  aus  musz  bei  der  auswahl  alles  fern  gehalten  werden, 
durch  dessen  kenntnis  das  wissen  unserer  jugend  nicht  in  hervor- 
ragendem masze  gefördert  wird:  nur  grosze  ereignisse,  edle  thaten 
und  gedanken  groszer  männer,  anderseits  auch  schwere  Unglücks- 
falle, gewaltige  unthaten  und  unheilvolle  laster  ganzer  Völker  und 
Verkehrtheiten  der  einzelnen,  sowie  deren  ahndung  und  bestrafung 
soll  sie  kennen  lernen,  mit  einem  worte,  das  walten  der  göttlichen 
Vorsehung  in  dem  geschichtlichen  und  culturellen  leben  der  antiken 
Völker  und  der  antiken  gesellschaft.  damit  verknüpft  sich  sofort, 
oder  ist  unauflöslich  damit  verbunden  die  andere  frage:  was  frommt 
dem  gemüte?  hierbei  kommt  die  betrachtung  zu  demselben  ergebnis 
wie  oben,  handelte  es  sich  jedoch  dort  darum,  was  mitgeteilt  wurde, 
so  ist  hier  bei  jedem  litteraturwerke  sorgsam  zu  beachten,  wie  das 
ganze  und  das  einzelne  gesagt  ist.  es  ist  dabei  nicht  zu  umgehen, 
dasz  die  jugend  auch  die  verirrungen  der  Völker  und  individuen 
kennen  lernt,  die  nachtseiten  des  Völker-  wie  des  einzellebens, 
namentlich  in  cultureller  beziehung,  aber  es  kommt  doch  dabei  vor 
allem  darauf  an,  wie  der  schriftsteiler  seinen  stoff  auffaszt  und  dar- 
stellt, ob  z.  b.  der  schüler  die  von  sittlichem  pathos  durchtränkten 
Schilderungen  des  Tacitus  liest  oder  etwa  (wovor  er  stets  behütet 
ist)  die  an  Jämmerlichkeiten  haftenden,  im  schmutze  wühlenden  und 
unterschiedslos  das  gräszüche  und  abscheulichste,  ich  möchte  fast 
sagen  mit  einem  gewissen  behagen  berichtenden  darstellungen  des 
Sueton  lesen  würde,  praktisch  wird  dieser  gesichtspunkt  unter  an- 
dern bei  der  lectüre  des  Ovid  und  Horaz.  denn  steht  unter  dem 
ersten  gesichtspunkte ,  dem  des  nutzens  für  den  verstand,  die  aus- 
wahl ganzer  werke ,  so  fordert  dieser  letztere  bei  der  lectüre  selbst 

f*.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1S91  hft.  11.  34 


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530       Zur  ge&taltung  der  lateinischen  lectüre  im  gymnasium. 


die  beachtung  einer  sorgsamen  auswahl  aas  den  werken,  weil  es  — 
wir  dürfen  es  nicht  verschweigen  —  viele  antike  werke  gibt,  bei  wel 
chen  eine  sehr  sorgfältige  auswahl  der  gelesenen  stücke  höchst  nötig 
ist  (sorgfältiger,  als  es  noch  vielfach  geschieht),  wenn  man  auf  das 
sorgsamste  den  grundsatz  befolgt:  puero  reverentia  debetur,  ohne 
dasz  wir  einer  kleinlichen  und  ungesunden  Überängstlichkeit  das 
wort  reden  wollen,  wir  werden  später  noch  hierauf  bei  der  einrich- 
tung  der  ausgaben  zu  sprechen  kommen,  also:  abdruck  der  werke, 
auswahl  durch  den  lehrer,  da  die  anschauungen ,  wo  hier  die  grenz- 
linien  zu  ziehen  sind,  stets  verschieden  bein  werden,  und  da  dem 
persönlichen  ermessen  des  lehrers,  weil  ja  persönliche  Verantwortung 
vorliegt,  auch  ein  möglichst  weitgehender  Spielraum  gelassen  wer- 
den musz. 

Nun  zum  einzelnen !  ehe  wir  jedoch  zu  den  litteraturwerken 
selbst  und  zu  den  classen ,  wo  lateinische  Schriftsteller  gelesen  wer- 
den, kommen,  müssen  wir  noch  einige  grundsätzliche  bemerkungen 
Über  die  Vorstufe  vorausschicken,  welche  die  zwei  untersten 
classen,  sexta  und  qujnta,  umfäszt;  in  ihnen  vertritt  das  lese- 
buch  die  stelle  der  litteraturwerke,  wenn  es  auch  natürlich  noch 
andere  aufgaben  als  das  lesen  der  sätze  hat.  die  bei  der  abfas- 
sung  des  lesebuchs  zu  beachtenden  grundsätze  müssen  nach  unserer 
meinung  folgende  sein:  1)  allgemein:  einzelsätze  können  und 
sollen  nicht  vermieden  werden  (so  auch  Waldeck  lehrproben  heft  25 
s.  25);  der  stoff  derselben  liege  im  gesicbtskreise  des  schülers,  be- 
handle also,  ohne  trivial  zu  sein,  inhaltlich  ihm  verständliche,  wo- 
möglich ihn  erfreuende  und  seine  aufmerksamkeit  weckende  oder 
wachhaltende  Verhältnisse,  der  stoff  habe  also  inhalt,  wenn  ich  so 
sagen  darf,  dann  mögen,  sobald  es  thunlicb  ist,  zusammenhängende 
stücke  folgen,  die  spräche  sei  gutes  latein,  in  den  deutschen  Sätzen 
lesbares  deutsch,  das  sich  in  ordentliches  latein  übertragen  läszt! 
wie  sehr  es  die  lesebücher  für  sexta  und  quinta  hieran  noch  fehlen 
lassen,  weisz  jeder  kundige,  obschon  es  allmählich  viel  besser  ge- 
worden ist.  dabei  darf  wohl  auch  die  erwartung  ausgesprochen  wer- 
den, dasz  der  lateinlehrer  auch  auf  dieser  stufe  (ich  möchte  nicht 
sagen,  gerade  auf  ihr,  da  es  überall  nötig  ist)  ein  geschulter  philolog 
sei,  der  schon  in  diesen  classen  durch  die  eigne  handhabung  der 
lateinischen  spräche  vorbildlich  wirken  kann;  kommt  dieses  doch 
bei  der  Übersetzung  fast  eines  jeden  deutschen  satzes  ins  lateinische 
zum  ausdruck,  und  was  der  knabe  in  frühester  zeit  lernt,  haftet  am 
festesten,  auch  ist  es  schlimm,  wenn  er  das,  was  er  in  sexta  und 
quinta  gelernt  bat,  später  umlernen  musz.  diese  worte  erscheinen,  ich 
kann  mir  das  im  voraus  denken ,  vielen  sicherlich  ganz  überflüssig, 
aber  die  praxis  lehrt:  sie  sind  es  nicht  1  —  2)  im  besonderen: 
das  lesebuch  für  sexta  beginne  mit  einzelsätzen,  nominal- und  verbal- 
lehre sei  in  einander  gearbeitet,  und  es  dürfen  möglichst  nur  regel- 
niäszige  formen  von  den  schülern  gefordert  werden;  letzteres  wird 
noch  viel  zu  oft  unbeachtet  gelassen,  denn  die  unregelmäszigkeiten 


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Zur  gestaltung  der  lateinischen  lectüre  im  gymuasium.  531 

kommen,  weil  ihr  vermeiden  nicht  selten  recht  unbequem,  ja  oft 
schwierig  ist,  noch  viel  zu  häufig  in  unseren  sextanerlesebüchern 
vor.  tiberall  mögen  kleine  erzählungen  und  fabeln  (freilich  mit 
Vermeidung  alier  seltenen  vocabeln !)  bald  folgen,  so  dasz  die  einzel- 
sätze  höchstens  die  hälfte  des  buche»  ausmachen;  lateinische  und 
deutsche  sätze  müssen  hier  einander  die  wage  halten,  dadurch  ist 
klar,  dasz  ich  nicht  auf  dem  Standpunkte  des  Verfassers  von  Pauli 
Sextani  Uber  oder  ähnlicher  blicher  stehe;  für  griechische lesebücher, 
welche  selbst  auf  der  untersten  stufe  des  Unterrichts  an  ganz  anders 
geförderte  schüler  sich  wenden,  stimme  ich  zu,  aber  nicht  für  latei- 
nische bücher.  —  Das  lesebuch  für  quinta  musz  vor  allem  schon 
einen  stufenweisen  fortgang  in  der  schwere  und  länge  der  sätze  be- 
achten ;  hier  müssen  die  lateinischen  sätze  bereits  die  breitere  masse 
in  der  gesamtheit  bilden,  die  Unregelmässigkeiten  müssen  viel  mehr, 
als  es  früher  geschah,  auf  das  unumgänglich  nötigste  und  wichtigste 
in  der  nominal-  und  verballehre  beschränkt,  auch  im  einzelfalle  nicht 
zu  sehr  gehäuft  werden,  einzelsätze  können  noch  nicht  ganz  entbehrt 
werden,  erscheinen  aber  in  immer  geringerem  umfange,  so  dasz  zu- 
letzt nur  zusammenhängende  stücke  vorhanden  sind,  die,  nament- 
lich zur  lectüre  der  letzteren  nötigen,  syntaktischen  regeln  stehen 
am  besten  in  einem  möglichst  knapp  gehaltenen  anhange,  damit  der 
lehrer  sie  heranziehen  kann ,  wo  und  wann  er  will.  —  Weitere  ins 
einzelne  gehende  bemerkungen  darf  ich  mir  wohl  ersparen:  sie  ge- 
hören mehr  in  eine  didaktische  Studie  über  den  betrieb  der  latei- 
nischen grammatik;  daher  werde  ich  auch  von  Übersetzungsbüchern 
in  quarta  und  den  folgenden  classen  schweigen,  für  sexta  und  quinta 
muste  aber  das  lesebuch  als  Vorstufe  der  lectüre  herangezogen 
werden. 

Quarta:  für  diese  classe  schlagen  viele  einsichtige  schulmänner 
ein  aus  zusammenhängenden  erzählungen  bestehendes  lateinisches 
lesebuch  bzw.  eine  Chrestomathie  vor.  würde  ein  derartiges  werk 
vorbanden  sein,  das  allen  anforderungen  genügte,  so  würde  ich  mich 
mit  diesem  vorschlage  gern  befreunden;  aber  die  versuche  aus  älterer 
zeit  (und  diese  waren  nach  meiner  meinung  die  besseren,  z.  b.  die 
jetzt  wohl  schon  ziemlich  vergessene  historia  romana  von  dem  treff- 
lichen Nordhäuser  director  Schirlitz)  wie  die  neueren  datums  können 
nicht  als  ausreichend  gut  angesehen  werden;  wir  werden  also  bis"  auf 
weiteres  bei  einem  leichten  römischen  historiker  verharren  müssen, 
in  erster  linie  bei  Cornelius  Nepos,  obschon  die  grammatischen  und 
sachlichen  bedenken  bei  ihm  wahrlich  nicht  gering  sind,  das  bre- 
viarium  des  Eutrop,  früher  in  quinta  gelesen,  dürfte  sich  nur  aus 
dem  gründe  nicht  empfehlen,  weil  es  zu  leicht  ist,  denn  sonst  erfüllt 
es,  was  lesbarkeit  des  textes  anlangt,  infolge  der  trefflichen  arbeiten, 
die  ihm  von  tüchtigen  forschem  gewidmet  sind,  alle  billigen  anfor- 
derungen, und  eine  Schulausgabe  nach  unseren  ideen  würde  sich 
leicht  herstellen  lassen,  den  Phaedrus  schon  in  quarta  zu  lesen, 
ist  man  in  neuerer  zeit  immer  mehr  abgekommen,   ich  glaube,  mit 

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532      Zur  gestaltung  der  lateinischen  lectüre  im  gymnasium. 

unrecht;  ebenso  urteilt  Maurer  programm  des  gymnasiums  zu  Gieszen 
1891.  denn  für  nichts  ist  das  kindliche  geinüt  empfänglicher  als  für 
die  stoffe  der  fabeln,  sprachliche  Schwierigkeiten  (von  der  metrik 
aber  sieht  man  wohl  bis  auf  die  kenntnis  der  thatsächlichen  gestal- 
tung  des  verses  gänzlich  ab)  kann  eine  entsprechende  ausgäbe  leicht 
aus  dem  wege  schaffen,  wie  die  Sachen  bei  uns  liegen,  sind  die  fabeln 
des  Phaedrus  die  einzigen  nichtdeutschen  fabeln,  welche  die  schüler 
zu  lesen  bekommen,  ob  französische  fabeln  gelesen  werden  —  natür- 
lich von  einzelnen,  in  die  Chrestomathien  eingestreuten  abgesehen  — 
ist  von  mir  weder  beobachtet  noch  mir  je  bekannt  geworden,  ebenso 
wenig,  was  ja  viel  besser  wäre,  griechische,  wohl  aber  habe  ich  in 
prima  häufig  deutsche  fabeln  ins  griechische  übersetzen  lassen,  auch 
die  fabeln  des  Phaedrus  als  grundlage  für  lateinische  Sprechübungen 
gebraucht,  es  wäre  auch  concentrierend  eine  gute  Vorbereitung  für 
die  behandlung  der  fabel  in  der  deutschen  litteraturgeschichte  in 
prima,  wenn  bei  der  Lessingschen  fabel  an  eine  frühere  lectüre 
angeknüpft  werden  kann;  bei  rechtzeitigem  und  geeignetem  hinweis 
wird  sich  jeder  schüler  sicher  seinen  Phaedrus  aufbewahren  und  in 
späteren  zeiten,  wenn  ihm  die  spräche  keine  Schwierigkeit  mehr 
macht,  sicherlich  oft  und  gern  hineinschauen. 

Tertia:  hier  wird  der  Caesar  wohl  seinen  platz  behaupten, 
gilt  auch  von  ihm,  dasz  man,  wie  Horaz  das  Schicksal  seiner  episteln, 
so  das  beklagt,  welches  diese  eigenartigen  und  sicherlich  nicht  für 
knaben  geschriebenen  tagebücher  betroffen  hat,  nemlich  das  pueros 
elementa  docere,  so  hiesze  es  doch  wasser  ins  meer  gieszen,  wollte 
man  die  gründe  aufzählen  oder  es  gar  verteidigen ,  warum  wir  diese 
lectüre  für  unsere  tertianer  für  passend  erachten,  in  obertertia 
komme  zum  bellum  Gallicum  das  bellum  civile  hinzu;  der  vielfach 
verdorbene  text  musz  sich  eben  den  anforderungen  fügen,  welche 
für  eine  Schulausgabe  maszgebend  sind,  empfehlenswert  ist  für 
obertertia  auch  Curtius.  der  kundige  lehrer  wird,  wie  späterhin  in 
prima  beim  Tacitus,  leicht  auf  die  abweichungen  vom  classischen 
sprachgebrauche  hindeuten,  so  dasz  hieraus  kein  schaden  für  die 
schüler  erwächst;  anderseits  machen  die  treffenden  Schilderungen 
der  erlebnisse  des  groszen  Macedoniers,  welcher  die  weiten  länder 
des  Ostens  der  griechischen  bildung  erschlosz  und  unterwarf  und 
diese  bildung  zu  einer  culturmacht  erhob,  welche  Jahrtausende  masz- 
gebend blieb  und  es  nie  aufgehört  hat  zu  sein,  ferner  die  packende 
Schilderung  der  wunder  des  Orients,  und  vieles  andere  den  Curtius  zu 
einer  recht  erfreulichen  lectüre  für  den  Obertertianer,  ebenso  wenig 
darf  die  farbenprächtige  märchen-  und  wunderweit  in  Ovids  meta- 
morphosen  fehlen;  hier  ist  ja  überall  schon  eine  entsprechende  Sich- 
tung des  Stoffes  getroffen;  ergänzt  werden  die  metamorphosen  im 
letzten  Vierteljahr  durch  eine  auswahl  aus  den  tristien,  welche  die 
hauptzüge  des  Ovidianiscben  lebens  und  sein  denken  und  fühlen  den 
schülern  nahe  bringen  soll,  namentlich  aus  der  unglücklichen  ver- 
bannungszeit  von  Tomi,  dessen  schaurige  öde  und  abgelegenheit 


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Zur  gestaltung  der  lateinischen  lectüre  im  gymnasium.  533 

ergreifend  von  dem  dichter,  wenn  auch  oft  mit  unmännlicher  Weich- 
lichkeit, geschildert  wird. 

Secunda:  in  dieser  classe  ist  die  aus  wähl  schon  reicher,  für 
untersecunda  würde  ich  leichtere  reden  von  Cicero  (pro  rege  Deio- 
taro,  pro  Ligario,  die  Catilinarischen  reden)  und  leichtere  stücke 
von  Livius  festsetzen,  und  zwar  so  geordnet,  dasz  die  aus  tertia  kom- 
menden schüler  erst  in  den  Cicero  eingeführt  werden,  dann  sich  fest 
in  den  Livius  während  4 — 5  monate  einlesen,  um  im  letzten  tertiale 
des  Schuljahres  zum  Cicero  zurückzukehren,  hei  dem  sie  dann  bleiben, 
poetische  lectüre  musz  in  untersecunda  Vergils  Aeneis  bleiben,  in 
obersecunda,  einer  classe,  in  welcher  der  schüler  nicht  mehr  für  die 
erlernung  grammatischen  Wissensstoffes  in  anspruch  genommen  wer- 
den darf,  wo  ferner  alle  diejenigen  schülerelemente  glücklicher- 
weise in  naher  zukunft  durch  das  sogenannte  freiwilligenexamen, 
wie  es  geplant  ist,  abgestoszen  sein  werden,  welche  im  gymnasium 
leider  nur  die  stätte  sehen,  an  welcher  man  die  berechtigung  zu 
den  schnüren  oder  zum  eintritt  in  den  subalternen  Staatsdienst  er- 
wirbt, —  in  dieser  classe  müssen  die  schüler  mit  leichtigkeit  die 
mittelschweren  reden  Ciceros  bewältigen  können  (pro  Archia  poeta, 
pro  Roscio  Amerino,  de  imperio  Cn.Pompei,  divinatio  in  Caecilium); 
auch  ist  dort  neben  Livius  Sallust  als  classenlectüre  passend,  nicht 
minder  die  zwei  leichten  und  ansprechenden  philosophischen  abhand- 
lungen  Ciceros  ftiber  das  alter'  und  'über  die  freundschaft*.  bezüg- 
lich der  poesie  möchte  ich  glauben,  dasz  der  Aeneide  Vergils  nur 
noch  das  kürzere  sommersemester  zu  widmen  ist,  von  Michaelis  ab 
aber  eine  Chrestomathie  aus  der  römischen  elegie  einzutreten  hat,  in 
welcher  ein  kurzer  anhang  aus  der  Anthologie'  nicht  fehlen  möge. 

Prima:  immer  voller  und  mächtiger  flieszt  nunmehr  der  ström, 
immer  mehr  kann  er  auf  seinem  breiten  rücken  tragen,  in  der  ersten 
classe  des  gymnasiums  dürfen  wir  uns  glücklicherweise  in  zukunft 
nur  solche  schüler  denken,  welche  der  Universität  zureifen ;  auf  andere 
elemente,  wenn  sie  sich  wirklich  noch  finden  werden,  ist  keine  rück- 
siebt zu  nehmen,  auch  ist  genügend  räum  für  die  lectüre  da.  denn 
ist  in  obersecunda  die  grammatische  Unterweisung  bereits  aufgegeben , 
so  hat  diese  classe  doch  noch  repetitionen  zu  veranstalten  und  den 
schülern  an  der  band  der  Schriftsteller  die  hauptlehren  der  Stilistik 
(die  in  prima  nur  feiner  ausgebaut  werden)  und  Synonymik  mitzu- 
teilen; in  prima  endlich  wird  die  lectüre  voll  und  ganz  das,  was  ihr 
im  gymnasium  der  zukunft  zugewiesen  werden  musz,  die  schüler 
culturhistorisch  in  das  antike  leben  in  allen  seinen  beziebungen 
und  äuszerungen  einzuführen,  mit  den  Römern  von  der  zeit  an  zu 
leben,  wo  ihre  mauern  entstanden,  das  volk  durch  alle  Wandlungen 
seiner  Schicksale,  vom  kleinen  städtischen  gemein wesen  bis  zur 
weltgebieterin,  zu  begleiten,  all  sein  glück  und  all  sein  leid  kennen 
zu  lernen,  bis  zur  Antoninenzeit.  —  In  der  prosa  ist  eine  reiche 
fülle  für  die  auswahl  vorhanden;  ich  stelle  alles  lesenswerte  zusam- 
men, die  auswahl  selbst  ist  dann  nach  zeit  und  ort  zu  treffen: 


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534      Zur  gestaltung  der  lateinischen  lectüre  im  gymnasium. 

reden:  Ciceros  schwerere  reden  (pro  Milone;  act.  IlinVerrem 
lib.  IV  und  V;  pro  Murena;  pro  Sulla;  pro  Sestio;  pro  Plancio;  die 
Philippiacben  reden); 

rhetorische  werke:  dogmatisch:  Cicero  de  oratore  und 
orator;  Quintilian  inst.  orat.  lib.  X;  historisch:  Cicero  Brutus,  Ta- 
citus(?)  dialogus  de  oratoribus; 

philosophische  werke:  Cicero  de  officiis,  disput.  Tuscul. 
(de  natura  deorum  erwähne  ich  nur  zaghaft),  Senecas  briefe  (vgl. 
unten) ; 

brieflitteratur,  welche  ich  gerade  vom  culturhistorischen 
Standpunkte  aus,  besonders  mit  hinblick  auf  das  privatleben,  für 
sehr  wichtig  halte  :  Cicero,  Seneca  (vgl.  oben),  Plinius  der  jüngere; 

historische  litteratur:  Tacitus,  und  zwar  musz  jeder 
deutsche  gymnasiast  entweder  die  unser  Vaterland  betreffenden  stel- 
len aus  den  'annalen*  oder  die  'Germania'  selbst  lesen ,  aber  nicht 
blosz  den  allgemeinen  teil  bis  zum  27n  capitel ;  ebenso  hängen  inner- 
lich zusammen,  so  dasz  sie  für  die  schule  auch  ein  'entweder  —  oder* 
bilden,  die  'historien'  und  die  lebensbeschreibung  des  Agricola: 
durch  sie  wird  der  schüler  in  die  blutigen  wirrsale  am  ende  des 
ersten  nachchristlichen  jahrhunderts  eingeführt  und  lernt  in  letzte- 
rem auch  die  eroberung  und  Verwaltung  einer  römischen  provinz 
kennen,  bis  er  durch  Plinius  (vgl.  oben)  zu  der  glücklichen  zeit 
Trajans  geleitet  wird. 

In  der  poesie  bleibe  Horaz  mittel punkt  als  die  beste  Verkör- 
perung römischen  wesens  auf  dem  höbepunkte  des  culturellen  leben« 
der  Römer,  namentlich  mit  berücksichtigung  dessen,  was  -die  Römer 
den  Griechen  verdanken ;  anderseits  lernt  der  schüler  durch  ihn  auch 
den  Übergang  zum  principat  und  dessen  berechtigung  und  m  it  wendig- 
keit im  spiegelbilde  einer  groszen  seele  begreifen,  welche  nur  schwer 
von  den  idealen  einer  schwärmerischen  Jugendzeit  sich  losrisz,  sach- 
lich aber  aus  reinster  Vaterlandsliebe  zuzustimmen  sich  entschlosz, 
wenn  der  dichter  auch  sich  persönlich  von  dem  neuen  herrn  der  weit 
fern  hielt.  —  Fortschreiten  ist  oft  nur  ein  sich-erinnern !  sollte  es, 
so  frage  ich,  unseren  primanern,  wenn  sie  von  allem  'wissensqualm* 
der  grammatik  befreit  sind,  weil  sie  dieselbe,  die  wesentlich  ver- 
einfacht ist,  in  dieser  beschrankung  gründlich  beherschen  gelernt 
haben,  nicht  wieder  möglich  werden,  wie  dieses  früher  geschah,  eine 
komödie  des  Terenz  zu  lesen,  namentlich  da  jetzt  die  hilfsmittel  der 
erklärung  ganz  andere  sind  als  ehedem?  ferner,  wird  man  ihnen  die 
für  die  kenntnis  des  socialen  lebens  der  kaiserzeit  so  Uberaus  wich- 
tigen späteren  Satiriker,  Persius  und  Juvenal,  vorenthalten  dürfen, 
freilich  ja  nur  in  einer  kurzen  und  geeigneten  au- wähl  ?*  discutabel 
ist  es,  aber  ich  würde  mich  aus  gründen  der  Wertschätzung  der  poesie 
im  allgemeinen  schwer  dazu  entschlieszen  können,  ob  man  nicht  auch 
eine  tragödie  Senecas  liest,  will  man  als  forderung  der  allgemeinen 


1  vpl.  auch  Vogel  in  diesen  Jahrbüchern  1891  8.  209  ff. 


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Zur  gestaltung  der  lateinischen  lectüre  im  gymnaeium.  535 

bildung  aufstellen,  die  entwicklung  der  tragödie  von  Aeschylus 
bis  Goethe  zu  kennen,  so  dürfte  freilich  dieses  eine,  wenn  auch 
noch  so  minderwertige  mittelglied  nicht  fehlen  (Racine  lernen  ja 
unsere  schuler  im  französischen,  Shakespeare  im  deutschen  unter- 
richte kennen),  aber  diese  forderung  zu  erfüllen,  ist  doch  nicht  sacbe 
des  lateinischen  Unterrichts,  der  besseres  kennen  lehren  musz;  höch- 
stens kann  die  nötige  anleitung  vom  lateinlehrer  gegeben  werden, 
die  lectüre  selbst  müste  sache  des  privatfleiszes  bleiben. 

Das  wäre  die  reiche  fülle  des  möglichen  Vorrates  an  lateinischer 
schullectüre!  die  aus  wähl  zu  treffen,  musz  freie  entschlieszung  der 
einzelnen  anstalt  und  der  einzelnen  lehrer  bleiben:  die  nötige  frei- 
heit,  welche  ja  dem  Unterrichtsbetrieb  an  den  höheren  leh  ran  stalten 
im  allgemeinen  in  aussieht  gestellt  ist  (vgl.  in  den  'Verhandlungen 
über  fragen  das  höhere  Schulwesen  betreffend'  unter  andern  besonders 
die  einstimmige  annähme  der  dabin  abzielenden  resolution  der  herren 
fürstbischof  dr.  Kopp,  geheimrat  dr.  Schräder  und  abt  dr.  Uhlhorn 
s.655),  wird  auch  hier  gewährt  werden  müssen  und  sicherlich  reiche 
flüchte  tragen. 

Es  läge  uns  jetzt  nun  ob,  über  die  betreibung  der  nach  ihrem 
umfang  festgestellten  möglichen  lectüre,  speciell  eingehender  Uber 
das  Verhältnis  der  statarischen ,  cursorischen  und  privatlectüre  auf 
den  einzelnen  stufen  und  nach  den  einzelnen  stoifen  zu  handeln, 
aber  bei  dieser  methodischen  auseinandersetzung  müste  uns  die  durch 
die  neuorganisation  des  gyinnasiums  im  einzelnen  dem  lateinischen 
zugemessene  zeit  bekannt  sein,  um  daher  nicht  ins  blaue  hinein  zu 
reden,  sehen  wir  von  dieser  erörterung  zur  zeit  ab,  obschon  die  hier- 
her gehörenden  auseinandersetzungen  eine  notwendige  ergänzung 
der  obigen  bemerkungen  bilden;  darüber  hoffentlich  später  einmal. 

Nicht  abweisen  können  wir  aber,  jetzt  schon  in  eine  nähere  er- 
örterung darüber  einzutreten,  wie  wir  uns  bei  dem  quantitativ  und 
qualitativ  einschneidend  veränderten  betriebe  der  lateinischen  lectüre 
die  ausgaben  denken,  welche  in  die  hände  der  schüler  zu  geben 
sind:  mit  der  richtigen  lösung  dieser  aufgäbe  steht  und  fällt  die 
möglichkeit  der  ausfuhrung  einer  solchen  lectüre.  nackte  texte  den 
Schülern  in  die  hände  zu  geben  (selbst  wenn  sie  mit  den  später  zu 
erwähnenden  kanones  ausgestattet  sind),  scheint  nicht  mehr  an- 
gängig zu  sein,  wie  man  wohl  überall  anerkennen  wird;  denn  wir 
müssen  hinfort  viel  lesen,  darum,  wo  es  möglich  ist,  zeit  ersparen, 
für  die  schüler  auch  arbeit,  und  deshalb  alles  überflüssige  vermeiden, 
aber  stets  alles  nötige  zur  hand  haben."  eine  solche  Schulausgabe 
herzustellen,  wie  wir  sie  uns  denken,  wird  wahrlich  keine  leichte 
aufgäbe  sein:  wissenschaftliche  tüchtigkeit,  pädagogische  einsieht, 
takt  und  praktisches  gesebick  musz  ein  solcher  herausgeber  in  hohem 

3  wir  berühren  uns  im  folgenden  mehrfach  mit  forderungen,  die 
auch  andere,  z.  b.  H.  Ziemer  (Rethwisch  jahresber.  für  «las  höhere  Schul- 
wesen 1  164;  IIB  76  f.  und  97;  III  13  100  f.),  stellen,  jedoch  nicht  ohne 
mehr-  oder  minHerforderungen. 


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536       Zur  geBtaltung  der  lateinischen  lecture  im  gymnasium. 

grade  vereinigt  besitzen,  mit  einem  gewissen  mute  der  entsagung 
wird  er  an  seine  aufgäbe  berangehen  müssen,  denn  wissenschaftliche 
lorbeeren  zu  erwerben,  wird  hierbei  nicht  möglich  sein,  und  das, 
was  er  nicht  schreibt,  wird  ihm  die  meiste  mühe  bereiten,  weil 
übermasz  hier  mehr  schadet  als  wegbleiben  einzelner  notwendiger 
bemerkungen ,  die  leicht  vom  lehrer  ergänzt  werden  können ,  kurz, 
hier  gilt  besonders  das  Perikleische  wort,  das  uns  Thukydides  auf- 
bewahrt hat:  äuaOict  u£v  Öpdcoc,  Xoficuöc  bfc  Ökvov  cpe'pei. 

Was  verlangen  wir  also  für  die  schüler  von  diesen  künftigen  aus- 
gaben lateinischer  autoren?  nur,  dasz  sie  wahre  Schulausgaben 
sind!  zu  dem  zwecke  müssen  «sie,  meine  ich,  folgendermaszen -ein- 
gerichtet sein,  jede  ausgäbe  beginne  mit  einer  e i  n  1  e i  t  u  n  g ,  welche 
das  notwendigste  über  den  betreffenden  schriftsteiler  im  allgemeinen 
mitteilt,  im  besondern  aber  das  beireffende  werk  hinsichtlich  seiner 
Stellung  in  der  lateinischen  litteralur  und  eventuell  innerhalb  der 
werke  seines  Schöpfers  darlegt,  an  diese  einleitung  müssen  sich  stets 
knappe  und  tibersichtliche  inhaltsübersichten  anschlieszen ,  damit 
man  mit  der  lectüre  bei  jedem  wichtigen  abschnitte  beginnen  kann, 
der  schüler  aber  im  stände  ist,  sich  sofort  selbst  inhaltlich  zurecbt 
zu  finden ;  das  gesprochene  wort  des  lehrers  verhallt  hier  nur  zu 
leicht  (da  ja  der  schüler  nicht  ausreichend  orientiert  ist),  ohne  das 
nötige  wissen  überall  erzielt  zu  haben,  und  vor  nachschreiben  in  der 
classe  müssen  wir  doch  unsere  schüler  möglichst  bewahren,  ferner 
sind  sogenannte  kanones  nötig,  diese  neuerung  halte  ich  für  sehr 
wichtig,  wir  werden,  wie  ich  schon  oben  sagte,  fernerhin  viel  und 
vielerlei  lesen  müssen,  viel  mehr  als  bis  jetzt  geschehen  ist;  das 
fordert  natürlich  eine  auswahl :  tiberall  soll  das  beste  herausgehoben 
werden,  das  herausgenommene  aber  läszt  sich  oft  nach  den  verschie- 
densten gesichtspunkten  gruppieren;  es  braucht  auch  nicht  immer 
alles,  auch  nicht  bei  der  wiedervornahme  desselben  Werkes  das  gleiche 
gelesen  zu  werden,  volle  texte  zu  geben,  ist  nötig,  da  der  lehrer, 
unterstützt  durch  die  qj)en  erwähnten  inhaltsangaben  vor  dem  texte, 
bei  getroffener  auswahl  das  dazwischenliegende  mehr  oder  minder 
eingehend  ergänzen  kann,  sich  auch  nicht  an  die  von  dem  eiuzelnen 
herausgeber  doch  immer  nach  subjectivem  ermessen  getroffene  aus- 
wahl in  den  kanones  gebunden  zu  fühlen  braucht:  er  möge  hinzu- 
thun  oder  weglassen,  was  er  will,  nach  eignem  geschmack  und  nach 
seinem  geftihle,  nach  seiner  didaktischen  einsieht  oder  nach  seiner 
besondern  kenntnis  des  betreffenden  Schriftstellers  oder  des  einzelnen 
Werkes  desselben,  denn  auch  hier  sei  das  losungswort  der  zukunft: 
unbedingte  freiheit  de*  lehrenden,  gebunden  nur  durch  sein  päda- 
gogisches gewissen. 

Betrachten  wir  unter  diesem  gesichtspunkt  einmal  die  werke 
des  jüngern  Plinius.  es  ist  mir  immer  unbegreiflich  gewesen,  warum 
das  gymnasium  diese  wertvollen  denkmfiler,  besonders  hinsichtlich 
des  privatlebens  der  Römer  am  ende  des  ersten  und  am  anfange  des 
zweiten  christlichen  jabrhunderts,  seinen  schtilern  vorenthalten  hat. 


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Zur  gestultung  der  lateinischen  Iectüre  im  gvmnasium.  537 


etwa  wegen  des  panegyricus?  derselbe  ist  ja  für  die  schule  durch- 
aus unbrauchbar,  obschon  eine  unbefangene  historische  kritik  dem 
einzelnen  nicht  wird  besonders  anrechnen  dürfen,  was  ein  gebrechen 
der  ganzen  zeit  war:  mehr  oder  minder  charakterlose  Schmeichelei,  — 
aber  für  die  schule  ist  ein  solches  werk,  wie  gesagt,  unbrauch- 
bar, die  briefe  des  Plinius  jedoch,  dieses  hochgebildeten  und  fein- 
sinnigen mannes,  dieses  warmherzigen  freundes  seiner  freunde  (zu 
denen  ja  auch  ein  Tacitus  zählt),  dieses  edlen  bürgers  und  guten 
unterthanen,  der  in  seinem  reichen  geiste  das  gesamte  culturleben 
der  damaligen  zeit  umspannt,  staat  und  Staatsverwaltung,  rechts- 
leben in  der  hauptstadt  und  in  der  provinz,  privatleben  in  gesell- 
schaft,  familie  und  haus,  die  litterarischen  und  sonstigen  kunst- 
bestrebungen  seiner  zeit  —  welche  dankbaren  stoffe  bietet  er  nicht 
für  eine  eingehende  Iectüre!  an  der  nicht  vollkommenen  classicität 
seiner  spräche  wird  doch  nur  der  ganz  crasso  Ciceronianer  anstosz 
nehmen}  thut  man  es  doch  auch  bei  Tacitus  und  Quintilian  nicht, 
und  zwar  würde  eine  Schulausgabe  nach  unsern  begriffen  hier  ebenso 
erfolgrefch  mit  kurzen  inbaltsangaben  gruppieren,  wie  es  z.  b.  schon 
längst  bei  Horaz  geschehen  ist,  wo  wir  zu  scheiden  gewohnt  sind 
und  unsere  auswahl  etwa  nach  folgenden  gesichtspunkten  treffen: 
persönliche  erlebnisse  und  Stellung  des  dichters,  sein  dichterberuf, 
des  dichters  Verhältnis  zur  natur  und  zur  gottheit,  seine  philosophi- 
schen ansichten,  seine  politische  Stellung,  wie  sie  sich  zeigt  in  seinem 
Verhältnis  zu  Augustus  und  in  seinem  urteile  über  politische  ereig- 
nisse  und  sociale  zustände,  sein  Verhältnis  zu  Maecenas  und  seinen 
sonstigen  freunden,  seine  anscbauungen  über  kunst  und  litteratur, 
sowie  über  litterarische  erscheinungen  und  Strömungen  der  früheren 
wie  seiner  zeit,  seine  ansichten  über  freundschaft,  liebe  und  frohen 
lebensgenusz,  besonders  bei  Sokratischem  becber. 

Was  den  text  angeht,  so  ist  lesbarkeit  desselben  die  erste  Vor- 
schrift, das  vorgehen  darf  jedoch  bei  der  ccnstituierung  desselben 
durchaus  nicht  unwissenschaftlich  sein,  denn  bei  jedem  Schriftsteller 
musz  der  auf  guter  kritischer  grundlage  aufgebaute  und  anerkannt 
beste  text  zu  gründe  gelegt  werden;  kritisch  unsichere  und  noch  nicht 
geheilte  stellen  aber  müssen  für  den  schüler  lesbar  gemacht  werden; 
aber  die  im  interesse  der  schüler  getroffenen  abänderungen  sind  stets 
in  einem  anbange  zu  verzeichnen  und  zusammenzustellen,  auch  die 
gründe  der  abänderung  dabei  kurz  anzugeben,  endlich  die  gewählte 
änderung  zu  verteidigen,  text  und  anhang  geben  so  für  das  nach- 
prüfende auge  der  Wissenschaft  stets  einen  kritisch  controllierbaren 
text,  der  als  genügend  bezeichnet  werden  musz,  wenn  er  das  Ver- 
ständnis der  stelle  ermöglicht.  —  Dabei  musz  der  text  recht  über- 
sichtlich gedruckt  werden ,  besonders  mit  reicher  interpunction  und 
in  absätzen;  ferner  bringe  man,  so  oft  es  thunlich  ist,  am  rande 
kurze  inhaltsangaben  an,  damit  der  schüler  sich  selbst  leicht  zurecht- 
finden kann,  die  forderung,  einen  vollständigen  text  zu  liefern,  ist 
schon  oben  aufgestellt  worden;  hier  fügen  wir  nur  noch  die  ein- 


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538      Zur  geataltung  der  lateinischen  lectüre  im  gymnasium. 


schränkung  hinzu,  dasz  nur  unbestritten  sittlich  anstösziges  fort- 
fallt, z.  b.  die  zweite  satire  des  ersten  buches  bei  Horaz. 

Die  erklärung,  welche  selbstredend  in  deutscher  spräche  ab- 
gefaszt  sein  musz ,  möge  doppelter  natur  sein,  zunächst  sei  sie  an- 
leitung  zum  guten  deutschen  ausdruck,  sowohl  im  allgemeinen  als 
auch  besonders  bei  wiedergäbe  besonderer  eigen tümlichkeiten  im 
lateinischen  ausdruck,  nach  dem  als  grundsatz  für  jede  Ubersetzung 
geltenden  gesetze:  cso  wörtlich  als  möglich,  so  frei  als 
nötig.'  die  zweite  und  hauptsächlichere  aufgäbe  der  erklärung 
aber  sei  sachlicher  art  durch  bemerkungen  historischen  und  anti- 
quarischen, philosophischen  oder  juristischen  inhalts  oder  was  gerade 
sachlich  nötig  ist,  jedoch  stets  mit  peinlichster  beschränkung  auf 
das  für  das  Verständnis  des  vorliegenden  unbedingt  nötige,  die 
grammatische  erklärung  ist  sache  des  lehrenden  und  gehört  in  die 
schule,  und  auch  hier  walte  die  gröste  Sparsamkeit,  damit  der  alte, 
aber,  gott  sei  dank,  meist  veraltete  Vorwurf  gegen  unsere  altsprach- 
liche gymnasiallectüre  endlich  einmal  verstumme,  dasz  die  Schrift- 
steller nur  der  grammatik  wegen  gelesen  werden,  nur  als  bei- 
spielsammlung  für  die  grammatischen  regeln  dienen,  sollte  eine 
grammatische  bemerkung  nötig  sein,  namentlich  mit  berticksicbti- 
gung  des  umstanden,  dasz  die  ausgaben  auch  für  die  privatlectüre 
brauchbar  sein  müssen,  so  darf  eine  solche  höchstens  auf  eine  auf- 
fallige oder  abweichende  Spracherscheinung  aufmerksam  machen 
oder  hinweisen  oder  als  eine  kurze  belebrung  (namentlich  für  die 
mittleren  classen)  dienen,  um  eine  schwerere  construcüon  zu  zer- 
legen. 

Am  Schlüsse  finde  sich  dann  der  anhang,  dessen  ersterteil 
der  gesamtwürdigung,  der  pädagogischen  fructificierung  des  ganzen, 
dient,  teils  durch  aufstellung  von  themen  für  deutsche  aufsätze,  wo 
es  angängig  ist,  oder  durch  eine  zusammenhängende  besprechung 
des  inhalts  des  ganzen  wie  einzelner  hauptteile ,  teils  durch  Zu- 
sammenstellung antiquarischer  einzelheiten ,  die  bei  der  erklärung 
zu  breiten  räum  gefordert  hätten  oder  besser  übersichtlich  zusammen- 
gestellt werden,  während  der  zweite  teil  jener  oben  besprochene,  den 
lesarten  gewidmete  kritische  abschnitt  ist. 

Wo  es  aus  irgend  welchen  gründen,  von  denen  die  rücksichten  auf 
sittlich  anstöszige  stellen  und  anderseits  die  ökonomischen  Verhält- 
nisse der  schüler  die  wichtigsten  sind,  notwendig  erscheint,  begnüge 
man  sich,  unter  Währung  aller  obigen  forderungen,  mit  auszügen, 
die  sachlich  eine  einheit  bilden,  etwa  nach  art  des  trefflichen  aus- 
zuges,  den  Valentin  Hintner  aus  dem  Herodot  unter  dem  titel 
'Perserkriege'  veröffentlicht  hat.  schlieszlich  würde  ich  einer  Ver- 
bindung von  auswahl  und  Zusammenstellung  das  wort  reden,  nicht 
blosz  auf  dem  gebiete  der  poesie,  für  die  ich  schon  solche  Samm- 
lungen kurz  berührt  habe,  sondern  auch  der  prosa,  wo  ich  z.  b.  schon 
lange  ein  corpus  epistularum  latinarum  in  usuin  scholaruua  col- 
lectum  schmerzlich  vermisse. 


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Zur  gestaltung  der  lateinischen  lecture  im  gymnasinm.  539 

Man  hat  nun  schon  seit  längerer  zeit  und  auf  verschiedenste 
weise  durch  gestaltung  der  ausgaben  die  zwecke  der  schule  zu  för- 
dern gesucht,  und  es  sind  vielfach  auch  schon  in  nutzbringender 
weise  die  richtigen  wege  eingeschlagen  worden  —  und  es  fuhren 
vielleicht  manche  zum  ziel  — ,  ich  erinnere  nur  an  die  achtungs- 
werten leistungen  der  bibliotbeca  Gothana,  an  die  bemüh ungen 
Freytags  u.  a. ;  aber  man  ist  auch  hier  schon  auf  abwege  geraten, 
namentlich  hat  man  teilweise  die  Schulausgaben  bereits  mit  bild- 
werken,  karten  u.  a.  zuthaten  zu  freigebig  ausgestattet,  aber  ihren 
preis  natürlich  dadurch  so  verteuert,  dasz  sie  nur  für  die  söhne 
der  aristokratie  und  der  plutokratie  erschwinglich  sind,  hingegen 
möchten  wir  dringend  anraten,  die  erklärung  der  lateinischen  Schrift- 
steller auf  immer  breitere  grundlagen  nicht  blosz  des  verbesserten 
antiquarischen  wissens  der  lebrer,  sondern  auch  reicherer  an- 
tchauungsmittel  zu  stellen,  welche  jede  schule  in  tadelloser  güte 
und  ausreichender  menge  besitzen  sollte,  warum  kann  nicht  für 
jedes  gymna8ium,  wie  es  sein  physikalisches  cabinet,  seine  natur- 
historischen Sammlungen  u.  a.  besitzt,  so  auch  ein  kleines  museura 
von  anscbauung8mitteln  kunstgewerblichen  und  rein  künstlerischen 
Charakters,  soweit  sie  für  den  Unterricht  im  weitesten  sinne  nötig 
sind,  allmählich  hergestellt  werden?  hier  ist  in  zukunft  noch  viel 
zu  thun  und  iäszt  sich  viel  thun,  wenn  nur  ausreichende  geldmittel 
flüssig  gemacht  werden. 

Ein  wort  sei  hier  auch  noch  gegen  die  viel  zu  weit  ausgedehnte 
litteratur  der  speciallexika  gesprochen,  diese  haben  als  wissenschaft- 
liche werke  ihre  hohe  bedeutung ,  wenn  sie  so  sind ,  wie  sie  vater 
Bitsehl  einst  in  seinen  Vorlesungen  so  dringend  anriet  zu  schaffen: 
für  die  schule  sind  sie  (die  classen  bis  tertia  nehme  ich  aus) 
nach  meiner  meinung  nur  ein  übel,  da  sie  den  Schülern  die  denk- 
arbeit  in  schädlicher  weise  erleichtern,  dasselbe  urteil  gilt  von  den 
jetzt,  wie  es  scheint,  mode  werdenden  'präparationen' ;  für  einzelne 
werke  oder  nur  einzelne  bücher  derselben ,  namentlich  für  solche, 
welche  beim  anfangsunterricht  gelesen  werden,  lasse  ich  sie  allen- 
falls noch  gelten ,  aber  was  sie  bieten ,  kann  und  musz  der  lehrer  in 
der  classe  leisten. 

Damit  nun  die  bisherigen  erörterungen  nicht  eitel  graue  theorie 
zu  sein  scheinen ,  will  ich  für  ein  werk  Ciceros  die  gestellten  anfor- 
derungen  durch  kurze,  fast  schematische  andeutungen  durchführen; 
ich  wähle  dazu  die  sogenannten  Philippischen  reden,  mit  dem 
nebenzwecke  noch,  da  bisher  blosz  die  von  Halm  u.  a.  edierte  erste 
und  zweite  rede  (selten  noch  die  vierzehnte,  vereinzelt  die  dritte 
oder  vierte)  in  der  schule  gelesen  werden ,  für  alle  in  derselben  das 
bürgerrecht  zu  erkämpfen. 

Die  Philippischen  reden  Ciceros  werden  unseres  erachtens  am 
besten  in  drei  heften  ediert,  von  denen  das  erste  die  allgemeine  ein- 
leitung  (zu  jeder  rede  würde  ja  nach  unsern  obigen  forderungen 
noch  eine  kurze  besondere  einleitung  nötig  sein)  nebst  rede  I  und  II 


540      Zur  geataltung  der  lateinischen  lectüre  im  gymnasium. 


enthält  (61  capitel),  das  zweite  heft  rede  III  — IX  (74  capitel),  das 
dritte  rede  X— XIV  (73  capitel);  jede  rede  musz  ihren  besondern 
anbang  bekommen. 

In  der  allgemeinen  einleitung  musz,  nach  einem  kurzen  capitel 
über  Ciceros  leben ,  die  historische  Situation  in  groszen  zügen  dar- 
gelegt werden,  man  beginnt  mit  den  blutigen  Iden  des  raärz  im 
j.  44  vor  Ch.,  schildert  das  zerfahrene  handeln  der  verschworenen, 
das  emporkommen  des  Antonius,  die  entfernung  Ciceros  von  Rom, 
Antonius'  thaten,  seine  reise  in  Italien,  ankunft  Octavians  in  Rom, 
Ciceros  rückkehr,  beginn  des  kampfes,  die  entfernung  der  ver- 
schworenen und  des  Antonius  aus  Rom,  die  belagerung  von  Mutina, 
die  provinzen  und  die  machthaber  daselbst,  kämpf  vor  Mutina,  die 
ferneren  ereignisse  bis  zum  zweiten  triumvirat  und  zum  tode  Ciceros, 
immer  mit  sorgsamer  beschränkung  auf  das,  was  für  die  erklärung  der 
reden  nötig  ist.  als  beigäbe  möge  sich  eine  genaue  Stammtafel  des 
Julischen  hauses ,  ebenso  eine  solche  von  dem  des  Antonius,  consul- 
tibersichten  vom  jähre  45 — 42,  Zusammenstellung  der  aufenthalts- 
orte  Ciceros  vom  5  april  44  bis  zum  21  april  43  (nach  den  briefen) 
anscblieszen.  themata  (vgl.  oben)  sind  z.  b. :  Caesars  ermordung, 
eine  unthat  oder  eine  groszthat?  oder:  warum  gehörte  Cicero  nicht 
zu  der  zahl  der  verschworenen?  oder:  ist  der  name  Thilippische 
reden'  richtig  gewählt  worden?  u.  ä. 

Rede  I  und  II  bilden  eine  gesonderte  einheit.  die  erste  rede 
(am  2  September  44  gehalten)  ist  gleichsam  der  prolog  der  ganzen 
reihe,  die  zweite  rede  eine  politische  schütz-  und  anklageschrift;  sie 
ist  nicht  gehalten ,  gibt  aber  eine  umfassende  darlegung  der  Sach- 
lage, auch  ist  sie  eine  offene  absage  an  Antonius:  Cicero  nimmt  den 
ihm  von  Antonius  hingeworfenen  Fehdehandschuh  auf  und  geht  gegen 
seinen  feind  aggressiv  vor,  den  er  nicht  blosz  politisch,  sondern  auch 
moralisch  zu  vernichten  strebt,  indem  er  die  ganze  persönlichkeit  des- 
selben nach  der  intellectuellen  wie  ethischen  seite  hin  schildert,  von 
da  an  ist  eine  Versöhnung  zwischen  Cicero  und  Antonius  nicht  mehr 
möglich ,  und  sie  haben  sich  ehrliche  feindschaft  gehalten ,  bis  der 
schwächere,  aber  ehrlichere  und  anständigere,  Cicero,  untergieng. 

Heft  II  enthält  die  specielle  rednerische  action  Ciceros  gegen 
Antonius,  aber  noch  in  kleinerem  persönlichen  maszstabe.  in  der 
dritten  rede,  eine  motivierte  abstimmung  im  Senate,  handelt  es  sich 
darum,  dasz  die  consuln  des  jahres  43,  Hirtius  und  Pansa,  ihr  amt 
zur  gesetzlichen  zeit  sicher  antreten  können;  deshalb  musz  Antonius 
unschädlich  gemacht,  d.  h.  für  einen  staatsfeind  erklärt  werden, 
dieses  erreicht  Cicero  in  der  dritten  rede  im  senat,  und  durch  die 
vierte  rede  wei9z  er  dieses  vorgehen  des  Senats  auch  dem  volke 
annehmbar  zu  machen;  beide  reden  sind  am  20  deceraber  44  ge- 
halten, die  fünfte  rede,  vom  1  januar  43,  ist  ebenfalls  eine  moti- 
vierte abstimmung  im  Senate;  sie  schlieszt  mit  einem  antrage,  die 
neuen  consuln  haben  über  die  läge  des  Staates  Vortrag  gehalten,  der 
senat  soll  sich  nun  erklären,  was  zu  thun  sei;  der  zuerst  befragte 


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Zur  gestaltuug  der  lateinischen  lectiire  im  gymnasium.  541 

Q.  Fufius  Calenus  beantragt,  eine  gesandtschaft  an  Antonius  zu 
schicken;  dagegen  wendet  sich  Cicero,  welcher  sofortigen  krieg 
gegen  den  übermütigen  friedensstörer  und  unbotmäszigen  beamten 
will;  Ciceros  meinung  wird  zuerst  im  senate  günstig  aufgenommen, 
nach  dreitägigen  Verhandlungen  im  Senate  (während  derselben  hält 
Cicero  noch  eine  rede  im  Senate ,  welche  nicht  mehr  vorhanden  ist, 
Appian  de  bell.  civ.  III  cap.  52  f.  gibt  davon  den  inhalt,  wie  sich  auch 
bei  Cassius  Dio  XLV  cap.  18 — 47  noch  eine  rede  Ciceros  mit  der 
antwort  des  Calenus  bei  Dio  XLVI  cap*  1 — 28  findet;  auf  eine 
weitere  rede  Ciceros  endlich  wird  bei  Dio  XLVI  cap.  29  hingedeutet) 
wird  jedoch  die  Gesandtschaft  beschlossen.  Cicero  gibt  in  der  sechsten 
rede  am  4  januar  43  dem  volke  sehr  erregt  hiervon  künde,  doch 
sieht  er  in  dem  beschlusse  immerhin  eine  demonstration  gegen  An- 
tonius, welcher  die  kriegserklärung  folgen  müsse,  die  siebente  und 
achte  rede  sind  ebenfalls  motivierte  abstimmungen  im  senate,  die 
letztere  schlieszt  wiederum  mit  einem  antrage,  anläszlich  längerer 
Verhandlungen  im  senate  spricht  sich  Cicero  (ende  januar  43)  noch- 
mals dafür  aus,  den  krieg  an  Antonius  zu  erklären  und  rasch  und 
energisch  gegen  ihn  vorzugehen,  die  früher  beschlossene  gesandt- 
schaft  (auf  welcher  Sulpicius  stirbt)  kehrte  unverrichteter  sache 
von  Antonius  zurück;  trotzdem  beschlieszt  man  (anfang  februar  43) 
keinen  krieg  gegen  ihn,  sondern  nur  tumultus.  als  am  folgenden 
tage  über  eine  depesche  des  Hirtius  und  einen  restitutionsantrag 
Massilias  verhandelt  wird,  spricht  sich  Cicero  bei  der  abstimmung 
im  senate  wiederum  für  energische  maszregeln  gegen  Antonius  aus, 
unter  heftigem  tadel  und  mit  ausfallen  gegen  seinen  Widersacher 
und  mit  hinweis  auf  einzelne  maszregeln.  die  neunte  rede  ist  im 
senate  improvisiert  (wohl  noch  ende  februar  gehalten)  und  schlieszt 
mit  dem  antrage,  dem  Sulpicius  eine  ehrensäule  und  ein  grabmal  zu 
errichten.  —  Der  einigende  gedanke  also  aller  dieser  reden  ist,  dasz 
Antonius  zum  staatsfeind  erklärt  werden  soll;  alle  hinhaltenden 
maszregeln  haben  nichts  geholfen,  wie  die  gesandtschaft  bewiesen 
hat,  die  nutzlos  verlaufen  ist;  die  ehren  für  Sulpicius  sollen  der  dem 
Antonius  feindlichen  gesinnung  an  maszgebender  stelle  in  Rom  aus- 
druck  verleihen. 

Heft  III  behandelt  das  vorgehen  Ciceros  gegen  Antonius  im 
groszen ,  staatsmännisch-politischen  stile.  die  zehnte  rede  (vom  an- 
fang märz  43),  ebenso  wie  die  elfte  und  zwölfte  rede  motivierte  ab- 
stimmungen im  senate,  ist  gegen  Calenus  eine  befürwortung  der 
gonehmigung  der  maszregeln  des  Brutus,  wie  dieselbe  von  Pansa 
beantragt  worden  ist.  der  senat  stimmt  zu.  die  elfte  rede  (am  ende 
der  ersten  hälfte  des  märz  43  gehalten)  empfiehlt,  dasz  gegen  den 
wegen  seiner  grausamkeit  und  wegen  der  ermordung  des  Trebonius 
znm  staatsfeinde  erklärten  Dolabella  nicht  der  nicht  im  amte  stehende 
Servilius,  auch  nicht  die  sehr  beschäftigten  consuln,  sondern  Cassius, 
dessen  maszregeln  nachträglich  vom  senate  genehmigt  werden  sollen, 
den  krieg  in  Syrien  führe.  Ciceros  bestreben  ist  klar:  er  will  durch 


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542       Zur  gestaltung  der  lateinischen  lectüre  im  gymnasium. 

diese  beiden  im  märz  43  gehaltenen  reden  Brutus  und  Cassius,  die 
tyrannenmörder,  wieder  in  den  Vordergrund  schieben,  denn  sie  sollen 
die  legitimen  heerführer  des  Senats  werden,  und  durch  sie  soll  An- 
tonius, wenn  sie  siegreich,  wie  einst  Caesar,  aus  dem  Orient  heim- 
kehren, mit  Waffengewalt  niedergeschlagen  werden,  allerdings  drang 
Cicero  mit  seinem  vorschlage  im  Senate  nicht  durch,  besonders  weil 
der  consul  Pansa  dagegen  war,  wohl  aber  stand,  wie  Cicero  in  einem 
briefe  an  Cassius  (ad  fam.  XII  7)  mitteilt,  das  volk  auf  seiner  seite 
(ea  sententia  dicta  productus  sum  in  concionem  a  tribuno  pl.  M.  Ser- 
vilio;  dixi  de  te,  quae  potui,  tanta  contentione,  quantum  forum  est, 
tanto  clamore  consensuque  populi,  ut  nihil  unquam  simile  viderim). 
waren  die  letzten  maszregeln  nur  mittelbar  gegen  Antonius  gerichtet, 
so  tritt  Cicero  mit  der  zwölften  rede  (nach  unserer  meinungam  abend 
des  19  märz  43  gehalten)  wieder  in  den  unmittelbaren  kämpf  gegen 
Antonius  ein,  indem  er  dem  senate  den  am  (morgen  des)  19  märz  43 
gefaszten  beschlusz,  eine  zweite  gesandtschaft  an  Antonius  zu  senden 
(zu  deren  mitglied  auch  Cicero  gewählt  ist),  wieder  aufzugeben  rät, 
wenigstens  seinerseits  die  teilnähme  ablehnt  wegen  der  gefahren, 
denen  er  sich  selbst  aussetze,  ohne  dem  Staate  zu  helfen,  welchem 
er  durch  seine  Wirksamkeit  in  der  stadt  viel  nützlicher  sein  könne, 
nach  längerer  stille  beginnt  also  der  stürm  wieder  loszubrechen :  es 
gibt  keine  Versöhnung  mit  Antonius  mehr,  darum  schlägt  die  (wohl 
am  20  märz  43  gehaltene)  dreizehnte  rede  wieder  vollere  accorde  an. 
aus  innerster  Überzeugung  wendet  sich  Cicero  gegen  die  meinung  des 
Lepidus  (dessen  hohe  Verdienste  er  aber  sonst  anerkennt),  dasz  man 
mit  Antonius  frieden  schlieszen  müsse;  das  sei  bei  dem  Charakter 
des  Antonius  unmöglich;  letztern  schildert  er  nun  in  der  weise,  dasz 
er  ein  Schriftstück,  welches  Antonius  an  den  consul  Hirtius  und  an 
Octavianus  gerichtet  hat,  bruchstückweise  vorliest  und  an  jede  stelle 
seine  bemerkungen  anknüpft,  doch  so,  dasz  im  ganzen  ein  Charakter- 
bild des  Antonius  entsteht,  wir  nähern  uns  dem  ende;  alles  drängt 
auf  die  entscheidung  los,  —  und  sie  fällt,  fällt  zu  Ungunsten  des 
Antonius;  aber  da  der  treulose  mann  mit  dem  noch  verschlageneren 
Octavianus  und  dem  schwachen  Lepidus  sich  später  verbindet,  miuz 
Cicero  diesen  letzten  und  grösten  erfolg  mit  dem  leben  büszen.  doch 
sein  letztes  wort,  das  er  öffentlich  sprach  —  wenigstens  soweit  es 
uns  erhalten  ist:  reden  aus  späterer  zeit,  und  ebenso  briefe  aus  noch 
spätem  tagen  sind  wohl  absichtlich  vernichtet,  wahrscheinlich  durch 
des  spätem  kaisers  Augustus  einflusz  und  bemühungen,  für  dessen 
treulosigkeit  sie  ja  ein  Schandmal  gewesen  wären  — ,  dieser  sein 
schwanengesang  ist  erhaben  und  erhebend,  gesprochen  am  21  april  43, 
also  am  gründungstage  Roms,  eine  merkwürdige  ironie  des  Schick- 
sals! nach  den  kämpfen  bei  forum  Galloruin  am  15  april  43,  wo 
Pansa  zwar  geschlagen  und  verwundet  war,  aber  Antonius  noch  an 
demselben  tage  von  Hirtius  geschlagen  wurde,  während  Octavianus 
das  lager  vor  Mutina  glücklich  gegen  L.  Antonius  verteidigte,  kamen 
erst  falsche  nachrichten  nach  Rom ,  auch  wurden  unwahre  gerüchte 


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Zur  gestaltung  der  lateinischen  lectüre  im  gymnasium.  543 

verbreitet,  z.  b.  Cicero  wolle  sich  zum  dictator  aufwerfen,  bis  end- 
lich die  Wahrheit  bekannt  wurde,  da  erhob  sich  allgemeine  begeiste- 
rung,  und  dieser  verleiht  Cicero  in  seiner  letzten  der  vierzehn 
Philippischen  reden  ausdruck.  er  verlangt,  dasz  Antonius  nun  aus- 
drücklich für  einen  staatsfeind  erklärt  werde  (was  auch  geschah), 
ferner  belohnungen  für  die  drei  siegreichen  feldherrn  Pansa,  Hirtius 
und  Octavianus,  ansetzung  eines  ftinfzigtägigen  dankfestes,  beloh- 
nungen für  die  siegenden  krieger,  errichtung  eines  ehrendenkmals 
für  die  gefallenen  und  sorge  für  ihre  hinterbliebenen ,  —  also  ein 
wahrer  Xötoc  dmTäquoc,  wie  ihn  einst  Thukydides  von  Perikles  auf- 
bewahrt hat,  mit  verherlichung  der  Vaterlandsliebe,  ein  würdiger 
schlusz  für  Cicero,  dem  man  vielleicht  staatsmännisches  geschick 
und  scharfen  politischen  blick  absprechen  darf,  bei  dem  aber  jeder 
edeldenkende  warme  liebe  zum  vaterlande  und  zur  grösze  und  frei- 
beit  desselben  als  in  hohem  masze  vorhanden  annehmen  musz,  ge- 
sinnungen,  die  um  so  höher  zu  preisen  sind,  je  weniger  dem  edlen 
manne  die  sonne  des  glückes  gelächelt  hat,  je  schwerer  die  gefahren 
waren,  denen  er  entgegengieng ,  je  trauriger  das  ende  war,  das  ihn 
bald  ereilen  sollte:  starb  doch  Cicero  noch  in  demselben  jähre,  am 
7  december  43,  von  der  hand  der  meuchelmörder,  welche  Antonius 
gegen  ihn  ausgesandt  hatte. 

Derartig  sind  die  Schulausgaben,  die  mir  als  künftig  notwendig 
vorschweben,  sie  lassen,  meine  ich,  dem  denkenden  lehrer  noch  viel 
Spielraum  für  eigne  arbeit  an  und  in  der  classe,  denn  jeder  wird, 
je  nach  seiner  eigenart,  sicherlich  noch  vieles  von  dem  seinigen  hinzu- 
thun,  namentlich  wird  er  sich  bei  der  freiheit,  die  ihm  geblieben  ist, 
angeregt  fühlen  müssen,  bei  gegebener  gelegenheit  die  erklärung, 
namentlich  auf  der  obersten  stufe  des  Unterrichts,  mit  eignem  sitt- 
lichen fühlen  zu  durchdringen  und  das  gebotene  mit  dem  adel  einer 
gereiften  Weltanschauung  zu  durchgeistigen;  nur  darf  von  ihm  nicht 
das  gelten,  was  ich  mit  Veränderung  eines  bekannten  Wortes  so  aus- 
sprechen möchte:  'weh  dem  lehrer,  an  dem  nichts  ist,  als  sein 
wissen.'  mit  solchen  ausgaben  wird  es  sich  auch  ermöglichen  lassen, 
das  früher  als  forderung  hingestellte  ziel  aller  lateinischer  lectüre 
zu  erreichen:  culturhistorische  einfuhrung  der  schüler  in  das  antike 
leben  nach  seinen  verschiedenen  äuszerungen.  viel  höher  als  die 
lateinische  litteratur  steht  ja  die  der  Griechen,  und  durch  die 
griechische  lectüre  erreicht  ja  das  gymnasium  noch  viele  andere 
und  höhere  ziele,  aber  nach  unserer  auffassung  fördert  auch  die 
lateinische  lectüre  an  ihrem  teile  unsere  schüler  geistig  in  befrie- 
digendster weise,  denn  wird  der  schüler  so  auf  der  vorbereitungs- 
stufe  in  klarer  und  lichter  darstellung  der  das  antike  leben  in  bezug 
auf  religion  und  Sittlichkeit  bestimmenden  momente  empfänglich 
für  die  tugenden  des  öffentlichen  wie  des  privaten  lebens  gemacht, 
so  wird  er,  wenn  er  später  in  stufenweisem  fortgange  immer  ein- 
gebender den  Patriotismus  und  die  bürgerlichen  tugenden  der  groszen 
männerRom8  kennen  und  schätzen,  anderseits  aber  auch  deren  gegen- 


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544    J.  H.  Schmalz  u.  C.Wugeoer:  lateinische  schulgrauimatik. 


bilder  verabscheuen  lernt,  wirkliches  Verständnis  für  antikes  denken, 
fühlen,  reden  und  handeln  bekommen,  und  dadurch  in  ihm  neben  der 
ausbildung  des  Verstandes  festigung  des  willens  auf  sittlichem  ge- 
biete und  erweckung  der  thatkraft  in  praktischer  hinsieht  durch  die 
richtige  betreibung  der  lateinischen  leetüre  erzielt  werden:  er  wird 
mit  durch  sie,  was  der  wahre  und  richtige  endzweck  aller  erziehung 
sein  musz,  zum  sittlichen  Charakter  gebildet  werden,  d.  h.  zu  einem 
menschen ,  der  das  sittliche  ideal  in  gedanken ,  Worten  und  werken 
anstrebt. 

Ratibor.  E.  Thiele. 


51. 

LATEINISCHE    SCHULGRAMMATIK  BEARBEITET  VON  J.  H.  SCHMALZ 

und  dr.  C.  Wagen  er.  Bielefeld  und  Leipzig,  Velhagen  und 
Klasing.   1891.   IV  u.  233  a. 

Viribus  unitis  —  an  sich  schon  ein  tüchtiges  wort,  wird  vom 
besten  klänge,  wenn  die  vires  solche  ersten  grades  sind,  die  sich  zu 
gemeinsamem  wirken  zusammengefunden  haben,  dasz  Carl  Wagener 
eine  autorität  auf  dem  gebiete  der  lateinischen  formenlehre  ist,  wissen 
alle  faebgenossen.  dasz  er  ferner  die  tausende  von  kleiuigkeiten  nicht 
nur  wissenschaftlich  systematisch  durchgearbeitet  hat,  die  wir  unter 
dem  begriff  der  formenlehre  zu  begreifen  pflegen,  was  bei  dem  ver- 
besserer der  Neueschen  formenlehre  der  lateinischen  spräche  der  Ver- 
sicherung nicht  bedarf,  sondern  dasz  er  auch  als  echter  gymnasial- 
lehrer  stets  die  Verwertung  seiner  studien  für  den  unterriebt  im  auge 
hat,  ist  uns  in  der  angenehmsten  weise  wieder  klar  geworden  durch 
die  Veröffentlichung  des  zweckdienlichen  vademecums  Hir  jeden  latei- 
nischen grammatiker:  'hauptschwierigkeiten  der  lateinischen  formen- 
lehre.' wenn  also  einer  berufen  war,  die  formenlehre  einer  schulgram- 
matik  zu  verfassen,  so  war  es  gewislich  Carl  Wagen  er  in  Bremen. 

Seine  arbeit  zeichnet  sich  in  den  beiden  hauptpunkten  aus,  die 
man  von  der  formenlehre  für  schulen  verlangen  darf  und  musz: 
kürze  und  genauigkeit.  die  ganze  formenlehre  füllt  nur  98  seiten, 
während  die  neueste  aufläge  von  Ellendt-Seyffert  bei  gedrängterem 
satze  noch  114  seiten  umfaszt,  wobei  dieser  die  partikeln  noch  auf 
1  seite  abthut,  während  Wagener  sie  aufzählt  und  ordnet  und  darauf 
mehr  als  3  seiten  verwendet,  der  räumliche  unterschied  zwischen 
beiden  grammatiken  liegt  nemlich  in  der  darstellung  des  verbums, 
beide  fangen  dieses  capitel  auf  s.  46  an  und  schlieszen  es,  Ellendt- 
Seyffert  auf  s.  102,  Wagener  auf  s.  89 ;  letzterer  spart  also  13  seiten. 
woran  liegt  dies?  hat  W.  etwa  den  räum  dadurch  beschränkt,  dasz 
er  die  Übersicht  über  den  bau  des  verbums  zu  kurz  gegeben,  an 
tabellen  und  ähnlichen  wichtigen  dingen  geknickert  hat?  das  trifft 
erfreulicherweise  nicht  zu.  Wagener  ist  mit  der  darbietung  des  regel- 
mäszigen  verbs  einschließlich  deponentia  und  semideponentia  auf 


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J.  H.  Schmalz  u.  C.  Wagener:  lateinische  schulgraramatik.  545 

s.  67  fertig,  E11.-S.  aufs.  73,  wobei  ich  es  noch  als  einen  vorzug 
W.s  ansehe,  dasz  er  die  deponentia  für  sich  behandelt  hat.  die  haupt- 
ersparnis  an  räum  liegt  in  der  aufzählung  der  wichtigsten  verben 
nach  ihrer  stammbildung,  die  bei  W.  14,  bei  Ell.-S.  aber  21  seiten 
beanspruchen,  freilich  bei  jenem  in  erster  linie  durch  kleineren  druck 
veranlasst .  es  ist  Uberhaupt  ein  übelstand  bei  W.,  dasz  alle  tabellen 
zu  klein  gedruckt  sind.  W.  überschreibt  diesen  abschnitt,  den  wir 
näher  betrachten  wollen:  1  Verzeichnis  der  gebräuchlichsten  verba  nach 
ihren  Stammformen.'  da  ist  Ell.-S.s  Überschrift:  'Verzeichnis  der 
wichtigsten  verba' usw.  noch  genauer,  gemeint  haben  beide:  Ver- 
zeichnis der  formell  bemerkenswerten  verba*  usw.  ein  anonymer 
gymnasialdirector,  dem  die  grammatik  vor  der  ausgäbe  vorgelegen 
hat,  jubelt,  dasz  diese  verba  nun  nicht  mehr  als  unregelmäszige  ge- 
brandmarkt werden,  der  'hervorragende*  anonymus  thut  damit  den 
neueren  grammatikern  unrecht,  und  sein  namenloser  beroldsruf  ist 
eine  des  buches  unwürdige  reclame.  wen  will  man  damit  locken, 
dasz  er  glauben  soll?!  beachtenswert  ist  hier  vor  allem  die  an- 
ordnung  der  masse.  Ell.-S.  wie  W.  ordnen  die  verba  der 
ersten  conjugation  nach  der  perfectbildung,  weichen  aber  darin  von 
einander  ab,  dasz  jene  scheiden:  1)  perf.  mit  reduplication,  2)  mit 
dehnung  des  stamm vocals,  3)  auf  vi  und  ui,  dieser  aber  1)  perf.  auf 
vi,  2)  auf  ui,  3)  mit  reduplication,  4)  mit  dehnung.  Wagener  steigt 
also  vom  häufigsten  zum  seltensten  hinab,  Ell.-S.  folgen  dem  histo- 
rischen verlauf  der  perfectbildung.  praktischer  ist  also  W.,  aber 
lehrreicher  und  wissenschaftlicher  unstreitig  in  diesem  punkte  Ell.-S. 
in  den  andern  conjugationen  wiederholt  sich  dasselbe.  W.  ordnet 
ferner:  laudare,  delere,  audire,  emere  (tribuere,  capere),  was  ja 
an  sieb  zu  billigen  ist,  aber  leicht  Verwirrung  hervorrufen  kann, 
da  die  Übungsbücher  nicht  gleichen  schritt  halten  dürften,  auch 
die  durchnähme  aller  vier  conjugationen  nach  den  tempusstämmen, 
ehe  laudare  fest  sitzt,  wird  sich  in  der  praxis  kaum  bewähren. 
—  Das  prineip,  nach  welchem  W.  ausgewählt  hat,  ist  mir  nicht 
ganz  genehm,  er  berücksichtigt  Wörter,  die  sonst  selten  oder  gar 
nicht  bei  schulschriftstellern  vorkommen,  wenn  sie  von  Cicero  ver- 
wendet worden  sind,  sonst  läszt  er  gern  die  Wörter  und  formen 
weg,  die  nicht  bei  Caesar  und  Cicero  zu  finden  sind,  ich  stehe  auf 
dem  Standpunkte,  dasz  in  erster  linie  diejenigen  Schriften  berück- 
sichtigung  finden,  die  in  der  regel  den  kanon  bilden  (Wichtigkeit  der 
kanonbildung!),  einzelheiten  aber  auch  dann  nicht  beachtet  zu  werden 
brauchen,  wenn  hie  nicht  typisch  oder  grammatisch  besonders  lehr- 
reich sind,  dasz  in  zweiter  reihe  die  schulschriftsteller  im  ganzen  ge- 
nommen zu  behandeln  sind,  natürlich  Caesar  und  Cicero  voran,  alles 
andere  hat  für  die  schulgram raatik  keinen  wert,  wenn  ich  nun  z.  b. 
opinatus  im  passiven  sinne  zwar  bei  Cicero  finde,  aber  nur  an  einer 
stelle  (Tusc.  IV),  die  den  wenigsten  schülern  zu  gesichte  kommt, 
aber  auch  von  denen  nicht  in  quinta  gelernt  zu  werden  braucht,  so 
meine  ich,  diese  einzelheit  ist  für  die  schulgrammatik  durchaus  ent- 

N.jahrb.f.phil.u.pid.  H.abt.  1891  hfl.  11.  35 


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546    J.  H.  Schmalz  u.  C.  Wagener:  lateinische  schulgrammatik. 


behrlich;  wenn  dagegen  depopulatus  =  vastatus  bei  Caesar  und 
Livius  sicher  von  dem  schüler  gelesen  werden  und  diese  angäbe 
neben  populatus  in  der  schulgrammatik  fehlt,  so  halte  ich  dies  nicht 
für  zweckmäszig.  wenn  ferner  iuvaturus  höchstens  bei  Sali.  lug.  an 
einer  stelle  für  den  schüler  existiert,  sonist  stets  adiuturus  dafür 
gesagt  wird,  so  stimme  ich  Ell.-S.  bei,  der  gleich  sagt:  fpart.  fut. 
ersetzt  durch  adiuturus',  und  wenn  endlich  refricare  zwar  bei  Cic. 
wiederholt  vorkommt,  freilich  fast  stets  in  übertragener  anwendung, 
sonst  aber  bei  fccbulschriftstellern  nicht,  so  halte  ich  die  er  wähnung 
desselben  für  weniger  notwendig  als  diejenige  anderer  composita, 
z.  b.  neben  accubare  noch  incumbere  u.  ä.  (reflexive  bedeutung  nach 
der  consonantischen  conjugation!) ;  blosz  abdo  anzuführen,  condo 
u.  a.  wegzulassen,  desgl.  praesto  ohne  obsto  u.  a.  erscheint  mir  nicht 
gerechtfertigt ;  sie  weichen  ja  alle  vom  simplex  ab  und  sind  gewis 
nicht  ungebräuchlich,  lichtvoll  und  kurz  sind  die  §§  81—83,  die 
stammbildung  der  verba,  deren  durchnähme  sich  am  besten  in  IV 
machen  dürfte  und  dann  nicht  nur  einen  lebendigen  Überblick  über 
den  bau  der  verba  liefert  ,  sondern  auch  für  das  griechische  in  III  b 
eine  willkommene  Vorübung  bildet,  auch  andere  teile  der  formen- 
lehre  verraten  das  praktische  geschick  des  Verfassers,  z.  b.  §  72  die 
pronomina  indefinita,  §  34  ff.  die  adjectiva  nach  der  dritten  decli- 
nation,  aber  die  anordnung  der  sub^tantiva  dritter  declination  nach 
den  stammauslauten  wird  den  sextanern  schwer  verständlich  sein, 
aus  dem  gesagten,  so  kurz  es  auch  gefaszt  werden  muste,  wird 
sich  so  viel  ergeben  haben,  dasz  wir  es  hier  mit  einer  formenlehre 
des  lateinischen  zu  thun  haben,  zu  der  jeder  lateinlehrer  Stellung  zu 
nehmen  sich  veranlaszt  fühlen  wird,  eine  gröszere  berücksicbtigung 
des  schülerstandpunkts  werden  wir  freilich  von  einer  zweiten  auf- 
läge des  buchet!  erhoffen  dürfen. 

Noch  mehr  eigenartiges  bietet  die  syntax  aus  Schmal?/  feder. 
sie  musz  im  zusammenhange  mit  der  program  m  bei  läge  ('erlfiute- 
rungen  zu  meiner  lateinischen  schulgrammatik',  Tauberbischofsheim 
1^90)  betrachtet  und  beurteilt  werden,  und  beide  zusammen  bilden 
eine  der  wichtigsten  erscheinungen  der  letzten  zeit  auf  dem  gebiete 
der  lat.  syntax.  ihr  genaues  Studium  ist  dringend  anzuempfehlen, 
mag  man  scblieszlich  auch  bedenken  tragen,  alle  worte  des  verf.  zu 
unterschreiben ,  ohne  groszen  nutzen  wird  niemand  Schmalz'  werk 
gelesen  und  durchdacht  haben,  nach  dem  betr.  programm  hat 
Schmalz  die  syntax  nach  folgenden  allgemeinen  gesichtsp unkten 
abgefaszt:  1)  kürze,  auf  120  Seiten,  recht  tibersichtlich  und  frei- 
gebig gedruckt,  ist  die  eigentliche  satzsyntax  nebst  einem  stili- 
stischen anhang  abgehandelt  (zur  vergleichung  diene:  Stegmann4 
144  s.,  Ell.-S. 31  146  s.,  Harre  173  s.,  Heraeus  186  s. ,  Lattmann 5 
232  s.).  dabei  bat  sich  Schm  von  der  Versuchung  freigehalten,  zu 
gunsten  der  Statistik  aus  den  schulschriftstellern  die  systematische 
gescblossenheit  zu  schädigen,  man  kann  ferner  durchaus  nicht  be- 
haupten, dasz  zu  wenig  mustersätze  gegeben  oder  sonst  nötige 


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J.  H.  Schnitilz  u.  C.  Wagener:  lateinische  schulgrammatik.  547 

durchblicke  unterlassen  wären,  mir  ist  trotz  längerer  prüfung  nicht 
aufgefallen,  dasz  der  dargebotene  stoff  an  irgend  einer  wichtigen 
stelle  nicht  genügte,  wohl  aber,  dasz  Schm.  oft  viel  mehr  bietet  als 
die  bisherigen  grammatiker.  darüber  weiter  unten  mehr,  nur  hier 
und  da  vermiszte  ich  eine  Verweisung,  z.  b.  §  222  auf  §  241 ,  denn 
man  sucht  nach  der  herkömmlichen  mode  die  erscheinung  spero  te 
rediturum  nicht  unter  den  'zeiten  des  indicativs'.  so  sehr  ich  auch 
meistens  hinsichtlich  der  disposition  auf  Seiten  des  verf.  stehe,  so 
dringendes  bedürfnis  erscheint  es  mir  doch,  die  einführung  in  die- 
selbe zu  erleichtern,  und  dazu  scheinen  kurze  Verweisungen  aus- 
zureichen. —  2)  psychologische  auffassung  der  sprach- 
erscheinung.  diese  zweite  forderung  an  die  schulgrammatik 
unserer  tage  hat  Schmalz  sich  mit  entscbiedenheit  angeeignet,  wenn 
er  gleich  mit  recht  betont,  dasz  das  gedruckte  buch  sich  auf  diesem 
gebiete  mit  andeutungen  und  Schlagwörtern  begnügen,  die  nähere 
ausführung  aber  dem  lehrer  überlassen  bleiben  müsse.  —  3)  w  issen- 
schaftlicher  Charakter,  die  weitgehendste  erfüllung  dieser 
dritten  forderung  verleiht  der  Scbmalzschen  syntax  ihr  eigentüm- 
liches gepräge  und  ihren  seltenen  wert,  eine  schule  der  logik 
soll  die  grammatik  sein,  verlangt  Schmalz  im  anschlusz  an  Lattmann. 
Wölfflin  drückt  sich  unter  der  vorrede  so  aus:  'vor  allem  müssen 
die  regeln  nicht  polizeivorschriften  gleichen,  deren  innere  begrün- 
dung  nicht  immer  sofort  in  die  äugen  springt,  sondern  die  ganze 
Sprachbehandlung  soll  sich  auf  klare  und  gesunde  grundsätze  stützen ; 
ist  doch  die  spräche  selbst,  die  ein  lebenskräftiges  volk  geschaffen, 
auch  eine  gesunde  .  .  .  die  historische  entwicklung,  welche  die  Wissen- 
schaft erforschte,  ist  zugleich  die  beste  erklärung  dessen,  was  für 
uns  classisch  geworden  ist/  ganz  entsprechend  lauten  die  grundsätze 
von  Schmalz  (progr.  s.  7) :  'die  grammatik  mu>z  schon  in  ihrer  ganzen 
anläge  eine  saubere  methode,  überall  eine  klare  disposition,  scharfe 
abgrenzung  nach  einleuchtenden  gesichtspunkten  zeigen  und,  wenn 
thunlicb,  die  grammatische  erscheinung  herleiten ;  wo  eine  allmähliche 
entwicklung  zu  tage  tritt,  musz  sie  diese  erkennen  lassen;  jedenfalls 
darf  sie  nicht  das  fert  ige  gesetz  der  spräche  unvermittelt  hinstellen.' 
wir  können  Schmalz  das  zeugnis  geben,  dasz  er  seinem  programm 
möglichst  treu  geblieben  ist  und  ein  werk  mit  'sauberer  methode' 
geliefert  hat,  von  dessen  einwirkung  auf  den  lateinischen  Unterricht 
wir  uns  bedeutendes  versprechen,  wir  können  nur  wiederholt  raten 
die  betr.  Seiten  in  Schmalz'  progr.  nachzulesen ,  auf  denen  er  von 
der  anläge  seiner  syntax  handelt,  wollte  gott,  alle  schulgrammatiken 
zeigten  eine  solche  geschlossenheit  des  Systems  und  eine  solche  durch- 
sichtigkeit  der  anläge,  dasz  der  schüler  'keinen  augenblick  außer- 
halb des  Systems*  weilt,  bei  der  ersten  durchnähme  wird  das  da- 
durch entstandene  gefühl  der  geborgenheit  beim  schüler  ein  un- 
bewusteres  bleiben,  um  desto  deutlicher  und  befriedigender  auf  der 
oberen  stufe  zu  wirken,  jeder,  der  nach  lebendiger  durchdringung 
des  grammatischen  gebäudes  im  Unterricht  gedreht  hat,  empfängt 

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548    J.  H.  Schmalz  u.  C.  Wagener:  lateinische  schuigramniatik. 

an  Schmalz  einen  kundigen  Wegweiser,  bei  solchem  betriebe  ist 
die  gefürchtete  langeweile  aus  dem  grammatischen  Unterricht,  die 
Öde  regelanhäufung  und  ausnah menaufzühlung  verbannt;  geblieben 
ist  die  Schulung  der  denkkraft,  die  zwar  ermattet,  aber  nicht  er- 
müdet, die  man  zwar  nicht  eine  ganze  stunde  lang  ununterbrochen 
verlangen,  wohl  aber  in  jeder  sprachstunde  mit  stets  willigen  schu- 
lern von  neuem  beginnen  kann,  dasz  die  spräche  ihre  eigne  logik 
hat,  wissen  wir;  dasz  die  gesetze  des  menschlichen  denkens  mit  den 
Sprachgesetzen  nicht  zusammenfallen,  ist  bekannt,  gibt  es  da  etwas 
geistbildenderes,  als  den  schüler  diese  teilweise  congruenz  und 
wiederum  divergenz  zwischen  spräche  und  logik  finden  oder  wenig- 
stens ahnen  zu  lassen?  was  aber  die  didaktische  geschicklich- 
k  e  i  t  des  verf.  anlangt ,  mit  der  er  seine  regeln  entwickelt,  so  diene 
dafür  ein  beispiel  für  viele:  §  267.  fragebauptsätze  (directe  fragen) 
werden  zu  fragenebensätzen  (indirecte  fragen),  indem  man  sie  von 
Sätzen  abhängig  macht,  deren  prädicat  für  sich  oder  in  Verbindung 
mit  bestimmungen  den  begriff  wissen  (nicht  wissen),  wissen  wollen 
oder  wissen  lassen  enthält,  dabei  werden  1)  conjunctivische  frage- 
sät ze  nach  den  regeln  der  cons.  temp.  angefügt  ,  z.  b.  quid  faciam? 
.  .  .  quaero,  quid  faciam,  quid  facerem  (n.  b.  ist  die-*  nach  den 
regeln  der  cons.  temp.?) ...  2)  indicativische  fragesätze  in  den  con- 
junctiv  (der  fremden  meinung,  den  Schmalz  coni.  subiectivus  nennt) 
gesetzt,  z.  b.  quid  facitis?  .  .  .  quaero  quid  faciatis  ...  es  stehen 
somit  alle  fragenebensätze  (indirecte  fragen)  im  conjunctiv.  — 
In  solcher  weise  erfolgt  die  ableitung  der  regel,  und  der  schüler 
sieht  nun  nicht  nur,  wie  der  Lateiner  indirecte  fragen  behandelt, 
sondern  auch  warum  er  so  und  nicht  anders  verfährt,  überhaupt 
ist  die  regelgebung  sehr  anerkennenswert  und  bei  aller  kürze  des 
Busdrucks  weit  von  der  orakelhaften  gesetzgebermanier  mancher 
grammatiker  entfernt,  diedisposition  der  Syntax,  die  unsere 
beachtung  in  erster  linie  verdient,  ist  folgende  (ein  inhaltsverzeichnis 
fehlt  leider):  satz  und  Satzarten  §  128 — 130.  vom  einfachen 
satz  §  131  —  230.  vom  subject  und  prädicat  §  131  — 134.  beziehung 
des  prädicats  auf  das  subject  §  135  — 137.  bestimmungen  zum  Sub- 
stantiv, apposition  und  attribut  §  138  — 144  (darunter  §  142  das 
attributive  particip,  §  143  der  genetivus  definitivus,  posse9Mvus, 
subiectivus  und  obiectivus,  derselbe  bei  adjectiven  und  participien, 
qualitatis  [und  abl.  qualitatis],  partitivus  und  endlich  attributive 
präpositionale  Wendungen),  prädicatsbestimmungen  durch  einen  ob- 
jectscubiis.  accusativ  §  145 — 153.  dativ  §  154  —  159.  genetiv 
§  160 — 163.  prädicatsbestimmungen  durch  einen  adverbialen  casus 
mit  oder  ohne  präposition.  der  ablativ.  der  sociative  ablativ  §  165 
— 172:  causae,  modi,  comitativus,  respectus  mit  dem  zweiten  supi- 
num,  raensurae,  pretii.  der  eigentliche  instru mentalis  §  173 — 178. 
der  ablativ  als  separativu9  §  179  — 183,  und  zwar  comparationie, 
aeparativus  ohne,  mit  oder  ohne,  mit  präposition  [eine  Übertreibung 
des  an  sich  richtigen  principe  der  schematisierung,  libero  ab  aliqua 


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J.  H.  Schmalz  u.  C.  Wagener:  lateinische  echulgrammatik.  549 

re  ist  mir  nicht  bekannt,  vgl.  §  181  anm.,  der  blosze  abl.  ist  beson- 
ders häufig  in  übertragener  bedeutung,  zu  §  182  senatu  movere  u.ä.]. 
vom  locativ  und  den  orts-  und  Zeitbestimmungen  Uberhaupt  §  184 
— 195.  prädicatsbestimmungen  durch  prädicativa.  veränderliches 
prädicativum  §  196  —  208  (und  zwar:  usus  est  magist  er  omnium 
rerum  §  196,  haec  est  pugna  Cannensis  §  197  rempublicam  consul 
servavi  u.ä.  §  198,  prüdicatives  particip  §  199,  subjectsprädicutivuin 
bei  sum  —  eligor  §  200,  dasselbe  beim  infinitiv  §  201,  abl.  abso- 
lutus  'ist  ein  mit  einem  subjectsprädicativum  versehener  ablativ* 
§  202 ,  objectsprädicativum  bei  video  —  me  praesto  §  203 ,  part. 
präs.  act.  als  solches  §  204,  pecunias  collocatas  habebant  §  205, 
pontem  faciendum  curavit  §  206,  acc.  des  ausrufs  §  207,  objects- 
prädicativum im  abl.  bei  utor  §  208).  das  unveränderliche  prädi- 
cativum  §  209 — 213:  der  genetiv  als  prädicativum,  der  abl.  quali- 
tativ, gen.  pretii,  prädicativer  dativ  (finaler  dativ).  vom  infinitiv 
(und  gerundium)  §  214 — 217.  der  infinitiv  als  object  (aec.  c.  inf.)  • 
§  218 — 225.  der  infinitiv  (bzw.  acc.  c.  inf.)  als  subject  §  226.  Zu- 
sätze §  227—230.  —  Die  satzbeiordnung  §  231—234:  asyn- 
deton.  einfache  beiordnende  conjunctionen.  desgleichen  correspon- 
dierende.  —  Die  Satzunterordnung  §  235  —  310.  modi  und 
tempora.  vcm  indicativ  §  235.  zeiten  des  indicativs  §  236  —  243. 
bezogener  gebrauch  der  zeiten  §  244  —  248  (aber  selbständige  zeit- 
gebung  bei  dum  und  ubi,  postquam  §  248).'  vom  conjunctiv.  der 
conjunctiv  in  hauptsätzen  §  250  (durchbrechung  des  einteilungs- 
princips!),  in  nebensätzen  §  251  ff.  consecutio  temporum  §  252 — 
260.  arten  der  nebensätze.  fragesätze.  fragehauptsätze  (ein fache 
Sätze!):  bestätigungsfragen  §  263,  Verdeutlichungsfragen  §  264, 
gegenfragen  §  265,  an  §  266.  fragenebensätze  §  267  f.  relativsätze 
§  269 — 276.  conjunctionalsätzo.  entstehung  derselben  (sehr  lehr- 
reich! aus  den  Wunschsätzen  abgeleitet),  ut,  ne,  quo,  quominus, 
quin  §  277—289.  quod  und  quia  §  290—297  (weg  vom  neutrum 
des  relativpronomens  bis  nihil  est,  quod).  quam  §  298.  dum  §  299. 
cum  300—303.  si  304  —  308.  oratio  obliqua  309  f.  —  Diesem  vor- 
züglich klaren,  zwar  im  umfangreichen  prädicativum  anfänglich 
etwas  verwirrenden,  aber  auch  hier  folgerichtig  durchgeführten  auf- 
bau  der  satzsyntax,  der  von  den  forderungen  der  logik  zu  gunaten 
der  Schulpraxis  nur  in  wenigen  punkten  (modi  und  tempora  die 
ersten  paragraphen,  fragehauptsätze)  abgeht,  schlieszt  sich  ein  gram- 
matisch-stilistischer anhang  an,  der  erstens  im  wesentlichen 
dasselbe  enthält  wie  das  bekannte  capitel  f  eigentüralichkeiten  im 
gebrauche  der  redeteile'  bei  Seyffert,  zweitens  aber  einen  abschnitt 
über  Wortstellung  und  drittens  vom  satzbau  (periode,  satzverschrän- 
kungen)  hinzufügt,  die  sich  im  Unterricht  sehr  gut  bewähren  dürften. 
—  Dazu  kommen:  anhang  I:  Verslehre,  bezeichnend  ist  die  weg- 
lassung einer  prosodie.  die  verf.  halten  dieselbe  für  entbehrlich, 
weil  in  der  formenlehre  jede  länge  (sogar  die  vocallänge  in  positions- 
längen)  sorgfältigst  als  solche  bezeichnet  ist,  ein  punkt,  der  als  vor- 


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550    J.  H.  Schmalz  u.  C.  Wagener:  lateinische  schulgrammatik. 

zug  der  formenlehre  hier  noch  nachgetragen  werden  mag.  anhang  II : 
der  römische  kalender.  anhang  III:  münze,  masze  usw.  fehlt  leider. 

Mit  der  darlegung  der  klaren,  einheitlichen  disposition  der 
Schmalzschen  syntax  und  mit  der  hervorhebung  der  praktischen  Ver- 
wendung der  inductiven  methode  neben  stetiger  berücksichtigung 
der  muttersprache  habe  ich  auf  die  charakteristischen  vorzöge  des 
buches  aufmerksam  gemacht. 

Desgleichen  bin  ich  in  der  hauptsache  mit  dem  Standpunkte 
des  verf.  in  den  fragen  zweiten  grades,  die  eine  schulgrammatik  be- 
treffen, einverstanden.  1)  die  grammatik  ist  in  erster  reihe 
berufen,  der  lectüre  zu  dienen  (progr.  s.  3).  es  ist  keine 
frage,  dasz  sie  deshalb  vor  allem  die  spräche  der  schulschriftsteller 
zu  berücksichtigen  und  zu  erläutern  hat.  auch  das  räume  ich  willig 
ein,  da&z  Caesar  den  vortritt  haben  musz  (die  dahin  zielenden  worte 
Andresens,  citiert  von  Schmalz  in  anm.  10,  sind  gelegentlich  einer 
•  besprechung  meiner  'Caesarsätze'  gefallen) ,  das/,  darauf  Cicero  das 
meiste  anrecht  hat,  die  schulgrammatik  zu  beherschen,  aber  doch 
kann  ich  mich  der  befürchtung  nicht  erwehren,  dasz  die  beschrän- 
kung  auf  diese  beiden  autoren  'den  Sprachgebrauch  zu  sehr  einenge' 
(Schmalz  a.a.O.  s.4)  und  dasz  dadurch  constructionen  als  unclassisch 
verpönt  werden,  die  vielleicht  zufällig  selten  oder  gar  nicht  in  den 
erhaltenen  Schriften  der  beiden  männer  vorkommen,  ich  bin  der 
meinung  (vgl.  den  lesenswerten  aufsatz  von  Theodor  Vogel  in  dieser 
Zeitschrift),  dasz  die  rigoristische  forderung,  nur  das  latein  zuzu- 
lassen ,  was  ein  paar  jahrzehnte  lang  in  Rom  geschrieben  ist ,  der 
Wertschätzung  unseres  lateinunterrichts  ungemeinen  abbruch  gethan 
hat,  ja  dasz  es  etwas  höchst  unnatürliches  ist,  die  schülerarbeiten  an 
der  band  eines  zweibändigen  Antibarbarus  verbessern  zu  sollen, 
wenn  man  lange  jähre  sich  mit  der  lateinischen  spräche  beschäftigt 
hat.  ich  stimme  in  gewissem  grade  Paulsen  (geschichte  des  gelehrten 
Unterrichts  s.27)  bei:  'wenn  barbarisch  reden  bedeutet:  anders  reden 
als  die  Römer  zu  Ciceros  Zeiten  redeten,  dann  ist  das  mittelalterliche 
latein  ohne  allen  zweifei  barbarisch,  nicht  viel  weniger  als  französisch 
und  deutsch,  wenn  man  dagegen  unter  barbarisch  reden  nicht 
diese  zufällige  abweichung  verstünde,  sondern  allgemein:  unan- 
gemessen zum  inhalt  reden,  ohne  Sprachgefühl  reden,  mit 
überallher  zusammengerafften,  an  diesem  orte  unpassenden 
und  sinnlosen  phrasen  reden,  dann  dürfte  der  Vorwurf  der  barba- 
rischen rede  den  humanisten  häufiger  zu  machen  sein,  als  den  mittel- 
alterlichen Philosophen  und  theologen.'  ist  nicht  den  arbeiten  unserer 
primaner,  wie  es  hier  mit  den  humanisten  geschieht,  nur  zu  häufig 
der  Vorwurf  einer  barbarischen  spräche  im  geschilderten  wortsinn 
zu  machen  gewesen?  selbstverständlich  befürworte  ich  nicht  die 
erlernung  des  mittelalterlichen  lateins  der  Scholastiker,  aber  ich 
möchte  dem  schüler  die  freiheit  gewahrt  wissen ,  seine  schulschrift- 
steller in  vollem  umfange  als  muster  seiner  latinität  anzusehen, 
es  ihm  z.  b.  nicht  zu  verargen  und  nicht  als  fehler  anzustreichen, 


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J.  H.  Schmalz  u.  C.  Wagener:  lateinische  schulgrammatik.  551 


wenn  er  das  part.  fut.  activi  selbständig  im  finalen  sinne  verwendet, 
hier  liegt  ja  auch  nach  Schmalz'  einsichtsvollen  worten  lediglich  eine 
'Weiterbildung'  vor,  durchaus  keine  entartung.  vor  allem  ihn  in 
manchen  dingen  vor  Livius  zu  warnen,  den  raeister  des  historischen 
stils,  den  die  alten  bewunderten,  halte  ich  für  bare  und  bedenkliche 
pedanterie.  —  2)  die  grammatik  hat  die  nötige  anleitung 
zum  hinübersetzen  zu  geben,  meine  soeben  geschriebenen 
worte  wird  Schmalz  mit  Kühnast  (Livianische  syntax  s.  8)  zurück- 
weisen, weil  ich  nach  ihnen  reine  mischspracbe  aus  verschiedenen 
culturphasen  der  entwicklung  des  latein  dulde',  aber  die  folgenden 
äuszerungen  von  Schmalz,  in  denen  er  sein  verfahren  bei  beurteilung 
der  lateinischen  stilübungen  in  prima  angibt,  beweisen  mir,  dasz  er 
es  so  gar  schlimm  nicht  meint,  denn  auch  er  läszt  die  nachclassischen 
Verbindungen  zu,  die  sich  'unmittelbar  aus  der  entwicklung  der 
spräche  ergeben',  und  damit  decken  sich  unsere  ansichten  so  gut 
wie  ganz,  über  den  begriff  des  unmittelbaren  ergebnisses  wird  zwar 
immer  ein  gewisses  halbdunkel  schweben,  aber  es  ist  höchst  erfreu- 
lich, dasz  damit  Schmalz  das  princip  des  starren  Caesaro-Ciceronia- 
nismus  verwirft.  —  3)  die  grammatik  soll  dem  schüler  ge- 
legenheit  zur  spontanen  thätigkeit  geben,  es  ist  klar, 
dasz  die  denkthätigkeit  des  schülers  und  seine  beschäftigung  mit 
der  zu  lernenden  spräche  um  so  mehr  angeregt  wird,  als  sie  ihm  in 
durchdachtem  lehrgebäude  nach  wissenschaftlichen  grundsätzen  vor- 
geführt wird,  und  um  so  fruchtbarer  wird  diese  durchdenkung  der 
grammatik  unter  verschiedenen  gesichts winkeln,  je  durchsichtiger  in 
ihren  teilen  und  abgeschlossener  als  ganzes  sie  vom  verf.  ausgestaltet 
ist.  die  manigfaltigsten  Zusammenstellungen  werden  in  den  ober- 
classen  als  Wiederholungen  vorgenommen  werden  können  (aber  wird 
dazu  noch  zeit  sein?!),  etwa  wie  ein  wohlgeordneter  park  die  schönsten 
durchblicke  und  fernsichten  gewährt,  aber  auch  die  anziehendsten  weg- 
variationen  je  nach  dem  ausgangspunkte  und  dem  ziele  ermöglicht. — 
4)  die  beispiele  einer  schulgrammatik  sollen  a)  kurz  sein,  b)  nicht 
vorgreifen,  c)  desto  häufiger  zurückgreifen,  d)  den  geistigen  besitz  des 
schülers  vermehren,  e)  leicht  lernbar  sein,  f)  vor  allem  sprachlich 
mustergiltiges  latein  enthalten.  Über  den  letzten  punkt  läszt  sich 
Schmalz  (progr.  s.  18)  weiter  aus.  er  hat,  als  er  es  schrieb,  in  Latt- 
mann6  noch  nicht  einsieht  nehmen  können,  woselbst  (einl.  s.  VII  vom 
märz  1890)  Hermann  Lattmann,  der  neue  herausgeber  des  trefflichen 
Ruches,  6ich  zu  dem  grundsatz  der  beispielauswahl  bekennt,  der  von 
Schmalz  a.  o.  angeregt  wird,  nemlich  die  mustersätze  der  induetiven 
methode  entsprechend  aus  der  jedesmaligen  classenlectüre  auszu- 
wählen. Schmalz  trägt  bedenken,  dem  tertianer  möglichst  nur  solche 
aus  Caesar  vorzulegen ,  er  hält  es  für  unpädagogisch ,  'toujours  per- 
drix'  zu  geben;  ich  musz  bekennen  (mit Theobald  Ziegler  bei  Schmalz 
a.  o.),  dasz  nach  meinen  erfahrungen  der  schüler  das  unpädagogische 
nicht  zu  fühlen  scheint  und  auch  nicht  über  toujours  perdrix  murrt, 
auch  auf  den  inhalt  bei  einem  grammatischen  beispiel  wenig  achtet 


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552    J.  H.  Schmalz  u.  C.  Wagener:  lateinische  schulgrammutik. 

und  froh  ist,  wenn  er  darauf  wenig  zu  achten  braucht,  weil  er  ihm 
im  wesentlichen  bekannt  ist,  ja  dasz  ihm  das  leichte  Verständnis  des 
inhalts  die  einsieht  in  den  grammatischen  bau  des  sattes  und  die 
vorliegende  grammatische  thatsache  wesentlich  erleichtert ;  ich  bin 
deshalb  mit  der  Verwendung  meiner  'Caesarsätze'  im  Unterricht  recht 
wohl  zufrieden  und  höre  dies  auch  von  anderer  seite,  während  die 
grammatische  belehruug  durch  manche  sätze  in  der  Ellendt-Seyrfert- 
schen  grammatik  viel  zu  sehr  gehemmt  wird  und  die  dadurch  her- 
vorgerufene ruhepause  in  der  grammatikstuude  mir  zu  teuer  erkauft 
scheint.  Lattmann6  hat  in  dem  pensum  für  IV  besonders  Nepos- 
sätze  verwendet,  in  dem  für  III  Caesar.*ätze ;  'Cicerosätze  werden  nur, 
wenn  sie  allgemein  verständlich  sind,  zur  notwendigen  ergänzung 
herangezogen.'  wenn  Lattmann  dann  fragt:  c ist  eine  solche  aus- 
wahl  der  beispiele  vom  pädagogischen  Standpunkte  aus  nicht  bei 
weitem  wichtiger  als  eine  beschränkung  auf  Cicero  und  Caesar?'  so 
tragen  wir  kein  bedenken,  ihm  mit  einem  kräftigen  ja!  zu  antworten, 
gerade  das  ist  auch  u.  a.  bei  Stegmann  als  vorzug  anerkannt,  dasz 
er  seine  beispiele  in  erster  linie  dem  Caesar  entnommen  hat.  unter 
diesem  gesichtspunkte  vertragen  die  beispiele  bei  Schmalz  wohl  eine 
nochmalige  durchsieht.  —  5)  die  fassung  der  regeln  soll  knapp, 
klar  und  bestimmt  sein,  dasz  Schmalz  diesem  punkte  die  gröste 
Sorgfalt  gewidmet  und  eine  glückliche  hand  dabei  gezeigt  bat  ,  ist 
im  verlauf  der  besprechung  öfter  schon  betont  und  braucht  deshalb 
an  einzelnen  fällen  nicht  genauer  bewiesen  zu  werden,  ausstellungen 
wären  ja  hier  und  dort  wohl  zu  machen,  aber  mit  recht  sagt  Schmalz 
gegen  Marg  (progr.s.  19),  dasz  tadeln  leichter  ist  als  besser  machen; 
die  praxis  wird  dem  buche  gewis  noch  diese  und  jene  ausfeilung  des 
ausdrucks  bringen,  wenn  wir  schlieszlich  noch  bemerken,  dasz 
Schmalz  die  reform  Vorschläge  Franz  Kerns  für  Vereinfachung  der 
Satzlehre  für  das  lateinische  in  fünf  punkten  verwertet  hat  (1.  satz- 
bildende kraft  des  verbum  fiuitum.  2.  Verwerfung  der  subjectlosen 
sätze.  3.  Scheidung  des  subjects Wortes  vom  subjecte.  4.  Zurück- 
weisung eines  logischen  subjects.  5.  beseitigung  der  copula),  so  thun 
wir  dies  nur,  um  unserseits  zustimmen  zu  können  und  dem  wünsche 
ausdruck  zu  geben,  es  möchten  die  übrigen  grammatiken  seinem  vor- 
gange bald  nachfolgen. 

Die  ausfübrlichkeit  dieser  anzeige  einer  lateinischen  schulgram- 
matik wird  demjenigen  nicht  mehr  auffallen,  der  sie  geprüft  hat, 
uud  ihre  absieht  ist  erfüllt,  wenn  die  herren  collegen  daraus  verj 
anlassung  nehmen ,  sich  näher  mit  dem  zum  mindesten  sehr  an- 
ziehenden und  lehrreichen  buche  näher  zu  beschäftigen,  höchst 
wahrscheinlich  hat  die  grammatik  von  Schmalz- Wagener  eine  glän- 
zende zukunft. 

Nienburg,  Weser.  F  Fügner. 


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W.  Ribbeck :  griechißche  achulgrammatik. 


52. 

GRIECHISCHE  SCHULGRAMMATIK.  FORMENLEHRE  DER  ATTISCHEN  PR08A 
NEBST  CASU8-  UND  MODUSREGELN,  BEARBEITET  VON  Wo  L  D  E  M  A  R 

Ribbeck.  Berlin  1891.  v  erlag  von  Leonhard  Simion. 

Das  den  neueren  griechischen  schulgrammatiken  ziemlich  ge- 
meinsame streben  nach  beschränkung  auf  das  notwendige  kündigt 
sich  in  dem  vorliegenden  buche  schon  auf  dem  titelblatte  an.  der 
verf.  hat  nicht  nur  alle  nichtattischen  formen  ausgeschlossen ,  son- 
dern auch  auf  eine  reihe  von  capiteln  der  syntax  verzichtet,  welche 
in  den  andern  neueren  schulgrammatiken,  selbst  in  den  'kurzge- 
faszten',  behandelt  sind,  dasz  in  der  formenlehre  auszer  den  Attikern 
nicht  wenigstens  Homer  berücksichtigung  gefunden  hat,  werden 
manche  bedauern,  denn  wenn  auch  die  Homerlectüre  mit  dem  texte 
selbst  zu  beginnen  hat  und  nichts  verkehrter  wäre,  als  eine  durch- 
nähme der  ganzen  Homerischen  formenlehre  vor  der  lectüre,  so 
empfiehlt  es  sich  doch,  eine  gedruckte  Homerische  formenlehre  in 
möglichst  knapper  form  —  Koch  in  seiner  kurzgefaszten  griechischen 
formenlehre  und  Wendt  in  seiner  griechischen  schulgram matik  schei- 
nen mir  hier  das  richtige  am  meisten  getroffen  zu  haben  —  den 
schillern  in  die  band  zu  geben,  damit  die  bei  der  lectüre  besproche- 
nen Spracheigentümlichkeiten  der  Homerischen  gedichte  von  zeit  zu 
zeit  zusammengefaszt  und  wiederholt  werden  können,  ohne  dasz  man 
zu  dem  mislichen  dictieren  von  regeln  seine  Zuflucht  nehmen  müste. 

Wenn  von  den  capiteln  der  syntax  die  lehre  vom  subject  und 
prädicat,  vom  artikel,  von  den  pronominibus,  von  den  generibus 
verbi,  von  den  temporibus  und  von  den  partikeln  fortgelassen  ist, 
so  musz  ja  zugegeben  werden,  dasz  diese  abschnitte  für  eine  schul- 
grammalik  die  verhältnismäßig  unwichtigeren  sind,  da  aber  einige 
regeln  daraus  dem  schüler  doch  beigebracht  werden  müssen,  wie  der 
verf.  selbst  zugibt,  wenn  er  im  Vorworte  sagt,  dasz  er  sie  dem  Unter- 
richt überlassen  wolle,  so  weisz  ich  nicht,  weshalb  er  nicht  auch 
diese  capitel  unter  beschränkung  auf  das  notwendigste  seiner  schul- 
grammatik  eingefügt  hat. 

Soviel  über  die  auslassungen  der  Ribbeckschen  schulgrammatik 
im  allgemeinen,  betrachten  wir  nunmehr  das  gegebene,  so  läszt  der 
verf.  hier  die  sonst  so  sichtbar  erstrebte  beschränkung  auf  das  un- 
erläszliche  vielfach  vermissen,  er  hat  den  regeln  manche  anmer- 
kungen  in  kleinerem  druck  hinzugefügt,  die,  wie  er  im  Vorworte 
selbst  sagt,  'bei  der  ersten  durchnähme  der  paragraphen  übergangen 
werden  können  und  müssen',  ist  letzteres  richtig  —  und  hinsicht- 
lich der  meisten  anmerkungen  wird  man  dem  verf.  beistimmen  — 
so  ist  nicht  recht  verständlich,  weshalb  er  diese  anmerkungen  nicht 
einfach  fortgelassen  hat.  jedenfalls  sind  die  meisten  derselben  für 
den  schüler  weniger  wichtig,  als  die  hauptregeln  der  von  dem  verf. 
ganz  ausgeschlossenen  syntaktischen  capitel. 


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554 


W.  Ribbeck :  griechische  schulgrammatik 


Eine  weitere  Verkürzung  hätte  das  buch  ohne  schaden  für  seine 
brauchbarkeit  erfahren  können,  wenn  derverf.  bei  den  syntaktischen 
regeln  auf  einige  wenige,  möglichst  kurze  beispielsätze  sich  be- 
schränkt hätte,  welche  auswendig  gelernt  werden  können,  dasz  er 
seine  überaus  zahlreichen  beispiele  sämtlich  auswendig  gelernt  wissen 
will,  ist  natürlich  nicht  anzunehmen;  allein  selbst  dazu  fehlt  es  an 
zeit,  dieselben  alle  übersetzen  zu  lassen,  wollte  er  aber  dem  ] obrer 
eine  gröszere  zahl  von  Sätzen  nur  zur  auswahl  stellen ,  so  hätte  er 
gut  gethan,  dieselben  mit  nummem  zu  versehen,  damit  die  von  dem 
lehrer  ausgesuchten  beispiele  von  dem  schüler  ohne  Zeitverlust  ge- 
funden werden  können. 

Endlich  waren  auch  die  gröszer  gedruckten  regeln  vielfach  kürzer 
zu  fassen,  auf  manches  seltener  vorkommende  verbum  und  nomen 
hätte  füglich  verzichtet  werden  können. 

Ich  wende  mich  nun  zu  der  besprechung  der  einzelnen  capitel. 

§  6  (accent Übungen)  enthält  eine  anzahl  jambischer  trimeter 
und  einzelner  worte,  ohne  accente  gedruckt,  die  aufgäbe  des  Schülers 
soll  nun  darin  bestehen,  von  jedem  einzelnen  worte  nachzuweisen, 
welche  der  überhaupt  möglichen  accentuationen  es  nach  seiner  be- 
sonderen beschaffenheit  haben  kann,  diese  Übung  läszt  sich  an  die 
Wörterverzeichnisse,  wie  sie  der  verf.  in  seiner  grammatik  wieder- 
holt bringt  (vgl.  z.  b.  §§  15.  18.  21)  und  an  die  den  syntaktischen 
regeln  beigefügten  beispielsätze  ebenso  gut  anknüpfen ,  wie  an  ein 
Verzeichnis  unaccentuierter  Wörter,  und  vergeblich  wird  man  sich 
fragen,  weshalb  dazu  jambische  trimeter,  von  denen  der  Untertertianer 
noch  gar  nichts  weisz,  herangezogen  worden  sind. 

In  §  27  wird  von  den  Wörtern  auf  €UC  gesagt,  dasz  sie  im  genetiv 
statt  des  Charakters  eu  den  vocal  e  vor  der  endung  haben,  also  nur 
im  genetiv?  gilt  dasselbe  nicht  von  allen  casus  mit  ausnähme  des 
nominativ  und  vocativ  singularis  und  dativ  pluralis?  abgesehen 
hiervon  aber  vermiszt  man  eine  erklärung  dafür,  wie  es  kommt,  dasz 
in  den  zuletzt  genannten  casus  die  Wörter  auf  €UC  einen  andern 
Stammcharakter  zu  haben  scheinen,  als  in  den  übrigen  fallen,  ohne 
eine  solche  erklärung  erscheinen  sie  dem  schüler  in  hohem  grade 
unregelmäszig  und  machen  ihm  Schwierigkeiten,  nun  wird  freilich 
die  erklärung  verschieden  gegeben.  6.  Curtius  in  seinen  erläute- 
rungen  zu  seiner  griechischen  schulgrammatik  hält  €u  für  den  eigent- 
lichen stammauslaut  und  nimmt  an,  dasz  in  demselben  vor  vocalen 
für  das  u  ein  digamma  eingetreten  und  dieses  dann  ausgefallen  sei. 
damit  stimmen  Müller-Lattmann  in  ihrer  griechischen  formenlehre 
im  wesentlichen  tiberein,  ebenso  die  späteren  herausgeber  von 
schulgrammatiken  Koch,  Kaegi  und  Wendt.  Hermann  dagegen  und 
Ehlinger  halten  den  stammauslaut  eF  für  den  ursprünglicheren,  ihnen 
schliesze  ich  mich  an,  und  indem  ich  ßoCc,  TP<*öc,  vauc  und  die  verba 
ttXeuj  ,  nveuj,  v('uj  (schwimme),  öe'uj ,  kXcuuj  und  kcuuj  mit  ihren 
Stämmen  ßoF,  tpaF,  vaF  (veF,  vr)F),  ttXcF,  ttvcF,  veF,  9eF,  kAoiF  und 
KaF  mit  berücksichtige,  pflege  ich  meinen  Schülern  die  regel  in 


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W.  Ribbeck:  griechische  scbulgrammatik.  555 


folgender  fassung  zu  geben:  Migamma  im  auslaut  von  nominal-  und 
verbalstämmen  fällt  aus,  wenn  es  in  der  flexion  oder  tempusbildung 
vor  einen  vocul  zu  stehen  kommt  (z.  b.  ßaciX&x,  ypaoc,  ßoi,  TrXeuu, 
tK(h]V ),  in  allen  andern  fällen  wird  es  zu  u  vocalisiert,  also  sowohl 
vor  consonanten  (z.  b.  ßaciXeuc ,  tpoöv,  tt^ttXcukq)  ,  als  auch  dann, 
wenn  der  stamm  keinerlei  zusatz  annimmt  (z.  b.  ßaciXeu,  YPOÖ,  ßoö).' 
diese  regel  beseitigt  aus  einer  reihe  von  häufig  vorkommenden  Sub- 
stantiven und  verben  alle  scheinbaren  Unregelmässigkeiten  mit  aus- 
nähme des  genetiv  singularis  auf  tue  bei  den  Wörtern  auf  €UC  und 
bei  vetüc  und  erleichtert  das  erlernen  derselben  den  schulern  wesent- 
lich, bringt  man  sie  in  der  obigen  form  in  der  lau tl ehre  unter,  so 
bedarf  es  bei  den  genannten  Substantiven  und  verben  nur  einer  hin- 
weisung auf  jenen  paragraphen  der  lautlehre.  wer  diese  regel  als 
richtig  und  zweckmäszig  anerkennt,  wird  natürlich  auch  demjenigen 
nicht  beistimmen  können,  was  der  verf.  über  den  vocativ  der  Wörter 
auf  €Üc  und  von  fpaöc  in  §  30,  2  a,  I  sagt,  wo  von  einem  abwerfen 
des  nominativischen  c  die  rede  ist;  ebenso  wenig  demjenigen,  was 
in  §  32,  1.  2  steht,  wo  die  Wörter  auf  €ÜC,  fpave  und  ßoöc  zu  den- 
jenigen gezählt  werden,  deren  stamm  auf  einen  vocal  ausgeht,  und 
dem  §  66,  11.  13,  wo  von  den  verben  veiu,  ttX&ju,  ttvcuj,  ö^uj, 
k6uj  und  kXcuuj  gesprochen  wird ,  die  der  verf.  für  unregelmäszige 
verba  hält. 

In  §  49,  7  vermisse  ich  eine  erklärung  der  präsensstammbil- 
dung  der  verba  impura,  insbesondere  die  erwähnung  des  iota  bei 
den  verben  auf  £w  und  ccuu  (ttuu)  und  den  verbis  liquidis.  ist  den 
scbülern  früher  der  comparativ  Güccuj v  (aus  xaxiwv)  erklärt  worden, 
so  macht  ihnen  idccu)  aus  Tdxjw  keine  Schwierigkeit  mehr,  und  sie 
behalten  die  auf  den  ersten  blick  seltsame  stamm  Veränderung  leichter, 
auch  das  in  die  Stammsilbe  überspringende  iota  der  verba  auf  v  und 
p  (z.b.  (peuvuj,  Ka0CUpw)  läszt  den  schtiler  diese  scheinbare  präsens- 
stammdehnung  von  der  aoristdehnung  (z.b.  £qpr)va,  dKdGrjpa)  besser 
unterscheiden,  und  auch  die  Verdoppelung  des  X  bei  Stämmen  auf  X 
(vgl.  ctcXXuj  aus  creXjuj)  wird  ihm  dadurch  klarer. 

In  §  98  sind  unter  den  verben  auf  vujlu  mit  vocalischen  Stäm- 
men auch  öXXum  und  ö(uivum  angeführt,  was  angefochten  werden 
musz.  der  eigentliche  stamm  ist  bei  diesen  beiden  verben  unzweifel- 
haft consonantisch  auslautend  und  heiszt  üX  bzw.  öfi.  dasz  für  einige 
tempora  noch  ein  vocalisch  auslautender  neben  stamm  öXt  und  öuo 
angesetzt  werden  musz,  berechtigt  nicht  dazu,  die  beiden  verba 
unter  die  verba  mit  vocalischen  Stämmen  zu  rechnen,  fast  alle  andern 
grammatiken  haben  sie  denn  auch  zu  den  consonan tischen  gezählt. 
Koch,  Kaegi  und  Wcndt  verzichten  auf  die  Unterscheidung  voca- 
lischer  und  consonantischer  stämmu  bei  den  verben  auf  vuui  gänz- 
lich, was  insofern  etwas  für  sich  hat,  als  man  bei  einigen  derselben 
in  der  that  in  zweifei  sein  kann,  in  welche  der  beiden  gruppen  man 
sie  einreihen  soll,  so  namentlich  bei  dpqpi€vvupi ,  das  Müller- Latt- 
mann und  Fritsche  wegen  der  ursprünglichen  Stammform  Fee  zu  den 


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556  W.  Ribbeck:  griechische  schul  Grammatik. 

verben  mit  consonantischem  stam mauslaute  rechnen,  während  die 
meisten  andern  grammatiker,  welche  die  beiden  gruppen  unter- 
scheiden, es  unter  den  verben  mit  vocalischem  stammauslaute  auf- 
führen, pädagogische  gründe  sprechen  für  das  letztere  verfahren, 
wissenschaftlich  richtiger  ist  das  erstere.  in  solchen  fällen  wird  die 
pädagogische  rticksicht  den  vorzug  verdienen;  doch  empfiehlt  es 
sich,  wie  gesagt,  in  einer  schulgrammatik  auf  jene  Unterscheidung 
ganz  zu  verzichten. 

Wende  ich  mich  nun  zu  den  einzelheiten  des  syntaktischen 
anhanges,  so  kann  ich  mich  wenigstens  mit  den  a ccusati  v regeln 
einverstanden  erklären,  nur  nr.  12  würde  ich  streichen,  denn  nicht 
wegen,  der  Zusammensetzung  mit  präpositionen ,  wie  der  verf.  be- 
hauptet, haben  die  verba  der  äuszeren  oder  inneren  (geistigen)  be- 
wegung  den  accusativ  bei  sich ,  sondern  der  Sprachgebrauch  der 
dichter  zeigt,  dasz  verba  der  bewegung,  auch  wenn  sie  simplicia  sind, 
zur  bezeichnung  der  richtung  oder  des  ziels  den  bloszen  accusativ 
bei  sich  haben  können,  diese  bedeutung  wohnt  also  dem  accusativ 
an  sich  schon  inne;  sie  wird  im  Sprachgebrauch  der  prosa  durch  die 
präpositionen  nur  noch  schärfer  hervorgehoben,  die  obige  regel 
wird  aber  auch  dem  schüler  insofern  nicht  recht  einleuchten,  als  sie 
ja  auch  mit  solchen  präpositionen  zusammengesetzte  verba  anführt 
und  anführen  musz  (vgl.  Trapaßcrivuj,  ii€Tilvai,  Trepuciapai,  urro- 
bOojiai),  welche  nicht  blosz  den  accusativ,  sondern  auch  andere 
casus  regieren,  soll  eine  regel  über  den  accusativ  bei  den  verben 
der  bewegung  gegeben  werden,  so  wird  man  mit  Godofredus  sagen 
müssen:  'der  accusativ  bezeichnet  auch  die  richtung,  wohin  sich 
etwas  bewegt',  ich  glaube  aber,  wie  gesagt,  dasz  eine  schulgrammatik 
am  besten  thut,  auf  eine  regel  hier  ganz  zu  verzichten,  zumal  da  die 
von  dem  verf.  angeführten  verba  sämtlich  durch  deutsche  transitiva 
wiedergegeben  werden  können ,  die  der  schüler  von  selbst  mit  dem 
accusativ  verbindet,  wenn  ihm  nicht  eine  andere  construction  aus- 
drücklich vorgeschrieben  wird. 

Aus  demselben  gründe,  der  in  erster  linie  gegen  die  12e  accu- 
sativregel  sprach,  musz  ich  mich  natürlich  auch  gegen  die  18e  du*  iv- 
regel  erklären,  wo  es  heiszt:  'wegen  der  Zusammensetzung  mit  prä- 
positionen steht  der  dativ  usw.'  die  alsdann  angeführten  verba  (z.  b. 
^ßdXXeiv,  £TTiK€ic6oa,  7r€pmrfX<iveiv  usw.)  gehören  auszerdem  fast 
sämtlich  zu  der  gruppe  der  verba  freundlicher  oder  feindlicher  an- 
näherung,  welche  in  nr.  3  und  4  schon  besprochen  sind,  wo  der  verf., 
wie  ja  auch  ganz  in  der  Ordnung  ist,  ein  verbum  (cuvoAXcnrecOai) 
schon  angeführt  hat,  welches  mit  einer  präposition  zusammengesetzt 
ist,  die  den  dativ  nach  sich  bat.  hielt  der  verf.  wegen  einiger  anderer 
verba,  die  er  in  nr.  10  anführt,  z.  b.  wegen  £veTvcu,  £jhjli^V€IV  eine 
regel  für  nötig,  so  muste  er  von  der  localen  bedeutung  des  dativs 
sprechen,  kraft  welcher  sie,  nicht  wegen  der  präposition,  mit  diesem 
casus  sich  verbinden,  es  führt  mich  dies  auf  ein  bedenken,  das  ich 
gegen  die  behandlung  des  dativs  und  genetivs  durch  den  verf.  tiber- 


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W.  Ribbeck:  griechische  Bchulgrammatik.  557 


haupt  geltend  machen  musz.  bedenkt  man,  dasz  die  griechische 
casuslehre  in  der  untersecunda  gelehrt  wird,  in  der  es  an  der  zeit 
und  am  platze  sein  dürfte,  die  schüler,  die  so  viele  jähre  schon  mit 
den  verschiedenen  casus  zu  thun  gehabt  haben,  über  die  eigentliche 
bedeutang  derselben  an  der  band  der  sichersten  ergebnisse  der  neue- 
ren Sprachwissenschaft  aufzuklären,  und  dasz  diese  ergebnisse  in  der 
that  geeignet  sind,  in  das  chaos  von  einzelheiten  der  casussyntax 
Ordnung  und  klarheit  zu  bringen ,  so  kann  man  es  nur  lebhaft  be- 
dauern ,  dasz  dieselben  bei  dem  verf.  keinerlei  berücksichtigung  ge- 
funden haben,  warum  soll  man  dem  secundaner  vom  instrumentalis 
und  localis  nichts  sagen?  warum  soll  er  nicht  erfahren,  dasz  im 
griechischen  der  dativ  die  functionen  dieser  ausgestorbenen  oder 
doch  im  aussterben  begriffenen  casus  übernommen  hat?  jedenfalls 
aber  musten  in  der  grammatik  die  dativregeln  nach  diesen  drei 
hauptpunkten  geordnet  werden:  1)  vom  eigentlichen  dativ,  2)  vom 
instrumentalen  dativ,  3)  vom  localen  dativ. 

Dementsprechend  hätten  natürlich  auch  die  genetivregeln 
eingeteilt  werden  müssen:  1)  in  die  regeln  vom  eigentlichen  genetiv, 
2)  in  die  regeln  vom  ablativischen  genetiv,  d.  h.  von  demjenigen 
genetiv,  welcher  den  verloren  gegangenen  woher- casus  (vgl.  Holz- 
weissig  griechische  syntax),  den  casus  des  ausgangspunktes  und  der 
trennung  (vgl.  Wendt  griechische  schulgrammatik)  vertritt. 

Die  lOe  genetivregel  würde  ich  streichen,  weil  sie  einen  dem 
schüler  selten  vorkommenden  gebrauch  betrifft  und  weil  das  am 
schlusz  derselben  erwähnte  frf€ic8cu  und  irpuJT€U€iv  an  eine  andere 
stelle  gehört. 

Die  lle  genetivregel  hängt  mit  der  lOn  nicht  zusammen,  son- 
dern handelt  von  einer  ganz  andern  art  des  genetivs,  nemlich  von 
dem  ablativischen,  dem  Vertreter  des  woher-casus.  als  solchen  erkläre 
ich  auch  den  genetiv  bei  den  verben  der  Wahrnehmung  (regel  13), 
welche  der  verf.  mit  den  verben  der  berührung  zusammenstellt. 

Der  genetiv  des  grundes  ist  nicht,  wie  der  verf.  in  der  22n  regel 
behauptet,  von  einem  fortgelassenen  inneren  object  abhängig,  son- 
dern als  eine  abart  des  woher  casus  direct  mit  dem  dabei  stehenden 
verbum  zu  verbinden,  vom  genetiv  bei  CrraMCti  und  6au^i䣀iv  ist 
an  zwei  stellen  die  rede,  in  der  6n  und  in  der  22n  regel.  erst  die 
anmerkung  zu  dieser  regel  gibt  einigen  aufschlusz  hierüber. 

Auch  die  verba  des  herschens  und  anführens  waren  jedenfalls 
in  einer  regel  unterzubringen,  bei  dem  verf.  sind  sie  zerstreut, 
einige  erwähnt  er  in  der  8n,  andere  in  der  lOn,  wieder  andere  in  der 
2 In  regel. 

Regel  30  dürfte  in  einer  schulgrammatik  zu  entbehren  sein, 
und  regel  31,  wo  es  heiszt  'wegen  Zusammensetzung  mit  Präpo- 
sitionen regieren  den  genetiv  usw.*,  ist  aus  demselben  gründe  zu 
verwerfen,  wie  die  12e  accusativ-  und  die  18e  dativregel,  von  wel- 
chen oben  die  rede  war. 

Während  die  casuslehre  mehr  enthält,  als  eine  kurzgefaszte 


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558  W.  Ribbeck:  griechische  schulgrammatik. 


Bchulgrammalik  bringen  sollte,  ist  die  modus  lehre  zu  knapp  be- 
handelt, so  weit  der  grosz  gedruckte  text  in  betracht  kommt,  die 
anmerkungen  enthalten  hier  manches,  was  regel  hätte  werden  müssen, 
so  z.  b.  die  anmerkungen  Uber  den  negativen  imperativ  (I  2  a  anm.  1), 
von  den  verben  des  fUrchtens  (I  2  a  anm.  2),  von  öttujc  nach  den 
verben  des  Sorgens  und  betreibens  (I  2  a  anm.  7),  von  £iuc  und  TTpiv 
(I  2  b  anm.  1.  2.  3). 

Was  die  anordnung  anbelangt,  so  würde  es  sich  empfohlen 
haben,  die  modusregeln  der  hauptsätze  von  denen  der  nebensätze 
scharf  zu  trennen,  und  dasjenige,  was  letztere  angeht,  so  zusammen- 
zustellen ,  dasz  die  modusverhältnisse  der  einzelnen  gattungen  der 
nebensätze  in  einer  regel  zusammenstehen,  während  aus  der  anord- 
nung des  verf.,  der  alle  einzelneren  den  beiden  abschnitten  con- 
junctiv  (1)  und  optativ  (II)  unterordnet,  der  übelstand  sich  ergebeu 
hat,  dasz  das  auf  dieselben  arten  von  nebensätzen  sich  beziehende 
an  verschiedenen  stellen  erscheint,  so  musz  der  schüler  das- 
jenige, was  er  über  die  finalsätze  wissen  musz,  unter  I  2a  und  unter 
II  2  c  suchen,  die  regeln  von  den  relativ-  und  zeitsätzen  der  Wieder- 
holung unter  I  2b  und  II  2b  usw. 

Nur  die  lehre  von  den  hypothetischen  perioden  hat  der 
verf.  in  einem  besonderen  abschnitt  V,  der  seltsamerweise  durch  die 
capitel  vom  infinitiv,  vom  participium  und  von  den  negationen  von 
der  moduslehre  getrennt  ist,  im  zusammenhange  bearbeitet,  nachdem 
er  einen  fall  derselben,  den  fall  der  potentialität,  bereits  beim 
optativ  (II  2  a)  angeführt  hat. 

Die  reibenfolge  der  einzelnen  fälle  der  hypothetischen  perioden 
ist  in  diesem  abschnitte  die  richtige,  insofern  der  verf.  die  fälle  der 
Wirklichkeit,  der  Wahrscheinlichkeit,  der  möglichkeit  und  der  nicht- 
Wirklichkeit  auf  einander  folgen  läszt,  wag  andern  grammatikern 
gegenüber  anerkannt  werden  musx,  allein  inV2  wäre  die  erwähnung 
des  opt.  c.  <Sv  besser  fortgeblieben ,  da  sie  den  schüler  leicht  ver- 
wirren könnte,  dasselbe  gilt  von  der  sehr  breiten  besprechung  der 
gemischten  hypothetischen  perioden  der  nichtwirklichkeit  in  den 
regeln  7  und  8;  auch  die  regeln  9.  10.  lt.  12.  13  halte  ich  für  über- 
flüssig, während  die  I4e  regel,  welche  mit  den  hypothetischen  perio- 
den nichts  zu  thun  hat —  sie  betrifft  die  regel  von  den  unerfüllbaren 
wünschen  —  mit  der  regel  der  andern  \vunscb>ätze  (II  la)  verbunden 
werden  muste. 

In  dem  abschnitt  III  des  syntaktischen  anbanges,  welcher  vom 
infinitiv  handelt,  finde  ich  folgendes  zu  bemerken: 

Die  regel  4  gehört  in  den  abschnitt  von  den  negationen  (s.  248), 
wo  denn  auch  von  den  negationen  beim  infinitiv  noch  einmal  die 
rede  ist.  die  trennung  der  ausdrücke  des  wollens  (regel  12)  von 
denen  des  forderns,  befehlens  usw.  (regel  11)  ist  nicht  zu  billigen, 
die  anmerkung  zur  regel  17  war  in  diese  selbst  hineinzuziehen,  der 
infinitiv  nach  den  conjunctionen  übe,  ujctc,  tcp1  ibie  (regel  18  und  19) 
war  in  der  lehre  von  den  modi  der  nebensätze  zu  behandeln,  welche, 


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W.  Ribbeck:  griechische  schulgramwatik.  559 


wie  oben  schon  gesagt  ist,  einen  besonderen  abschnitt  des  syntak- 
tischen anhangs  bilden  musten.  wenn  der  verf.  aber  die  conjunctio- 
nen,  welche  den  infinitiv  nach  sich  haben  können,  bei  diesem  behan- 
deln wollte,  so  ist  nicht  recht  einzusehen,  weshalb  er  hier  nicht  auch 
irpiv  besprochen  hat,  dessen  infinitivconstruction  bei  ihm  in  der 
lehre  vom  conjunctiv  erwähnt  wird. 

In  der  lehre  vom  participium  (abschnitt  IV)  ist  die  anmer- 
kung  zur  6n  regel  aus  der  zahl  der  anmerkungen  auszuscheiden  und 
als  regel  zu  geben. 

Der  besondere  abschnitt  über  die  negationen,  von  welchem 
oben  schon  die  rede  war,  hätte  alle  diejenigen  fälle,  in  denen  urj 
steht,  wie  es  z.  b.  Holzweissig  gethan  hat,  zusammenstellen  und 
auszer  der  schon  erwähnten  4n  infinitivregel  die  regeln  von  ou  ^irj 
und  von  \xr\  ou  bringen  müssen,  welche  der  verf.  teilweise  früher 
schon,  nemlich  in  der  lehre  vom  conjunctiv,  gebracht  hat. 

Abschnitt  VI  des  syntaktischen  anbanges  handelt  von  der 
oratio  obliqua.  er  wäre  überflüssig  gewesen,  wenn  der  verf.  die 
regeln  von  den  modi  in  nebensätzen,  nach  den  verschiedenen  arten 
dieser  letzteren  geordnet,  in  einem  besonderen  abschnitte  der  modus- 
lehre zusammengestellt  hätte,  in  diesem  hätten  dann  auch  die  aus- 
sagesätze  mit  übe  und  Öti  (regel  1)  und  die  indirecten  tragesätze 
(regel  3)  ihren  platz  gefunden,  und  die  regel  von  den  nebensätzen 
der  oratio  obliqua  (regel  4)  würde  einen  passenden  schlusz  für  diesen 
abschnitt  gebildet  haben,  wegen  der  infinitivsätze  der  oratio  obliqua 
bedurfte  es  eines  besonderen  abschnittes  über  diese  nicht,  denn  sie 
ergeben  >>ich  von  selbst  aus  früheren  regeln  vom  infinitiv,  und  zwar, 
soweit  sie  eine  aussage  enthalten,  aus  der  infinitivregel  7,  soweit  sie 
aufforderungssätze  sind,  aus  den  infinitivregeln  11  und  12. 

Der  regel  1  a  fügt  der  verf.  eine  bemerkuug  über  die  pronomina 
hinzu  und  erwähnt  hier  auch  das  personal pronomen  der  3u  person 
ou,  ol,  H.  dies  musz  auffallen,  weil  der  verf.  sonst  nur  die  attische 
prosa  berücksichtigt,  ou  und  £  aber  in  dieser  bekanntlich  sehr  selten 
vorkommen,  wie  die  regel  vom  optativ  in  finaUätzen  als  anmerkung  2 
der  4n  regel  in  die  lehre  von  der  oratio  obliqua  kommt,  ist  nicht 
einzusehen. 

Regel  5  und  6  halte  ich  für  entbehrlich. 

Den  schlusz  des  syntaktischen  anhanges  bilden  die  präpo- 
si  t  ionen.  hier  vermisse  ich  einerseits  die  für  eine  schulgrammatik 
sehr  praktische  bekannte  reimregel  der  Märkischen  grammatik,  ander- 
seits möchte  ich  d|i<pi  c.  gen.  gestrichen  wissen ,  weil  es  in  der  atti- 
schen prosa  fast  gar  nicht  vorkommt. 

Breslau.  Adolf  Moller. 


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560 


Über  das  correctum  der  schriftlichen  arbeiten. 


58. 

EINIGE  GEDANKEN  ÜBER  DAS  CORRECTUM 
DER  SCHRIFTLICHEN  ARBEITEN. 


Zu  den  lästigsten,  oft  auch  unfruchtbarsten  arbeiten  der  lehrer 
kann  die  durchsieht  der  Verbesserungen,  hier  und  da  wohl  correcta, 
emendationes,  emendata  genannt,  gerechnet  werden. 

Diese  sind  offenbar  dazu  bestimmt,  den  schüler,  nachdem  er 
bei  der  rückgabe  der  hefte  über  seine  fehler  vom  lehrer  gründlich 
aufgeklärt  worden  ist,  durch  die  nochmalige  häusliche  Überlegung 
derselben,  endgiltig  von  seinen  schwächen  zu  befreien. 

Es  läszt  sich  nun  die  frage  aufwerfen,  ob  die  meist  übliche  art, 
das  correctum  zu  behandeln,  auch  wirklich  den  angedeuteten  zweck 
erreicht. 

Wenn  sich  nun  die  amtsgenossen  über  die  erfolgreichste  ein- 
richtung  der  schriftlichen  arbeiten  wiederholt  in  den  Zeitschriften 
und  programmabhandlungen  ausgesprochen  haben,  so  kann  man 
sich  wohl  mit  recht  darüber  wundern ,  dasz  man  in  der  art  der  be- 
handlung  des  correctums  noch  nicht  zur  einigung  gekommen  ist. 

Über  diesen  punkt  des  Unterrichts  ist  meines  wissens  bisher 
nur  weniges,  und  zwar  zerstreut  den  fachgenosson  zur  prüfung  vor- 
gelegt worden. 

Ein  einheitliches  verfahren  hierbei  ist  kaum  an  einer  anstalt, 
geschweige  in  einer  provinz  oder  gar  im  ganzen  reiche  anzutreffen, 
und  doch  verdient  auch  diese  seite  des  Unterrichts  eine  gröszere 
beachtung. 

Stelle  ich  die  erinnerungen  aus  meiner  eignen  Schulzeit  und  die 
beobachtungen,  die  ich  an  mehreren  anstalten  meiner  heimatsprovini 
gemacht,  zusammen,  so  ergibt  sich  etwa  folgendes  bild ,  dem  das 
verfahren  der  collegen  in  anderen  provinzen  im  ganzen  ähnlich  sein 
dürfte. 

In  den  unteren  und  mittleren  classen  folgte  der  besprechung 
seitens  des  lehrer»*  eine  nachsebrift  der  von  diesem  ausgearbeiteten 
vorläge  gegen  ende  der  stunde,  eine  vollständige  abschrift  wurde 
von  den  schülern  verlangt,  deren  arbeiten  das  prädicat  mittelmäszig 
und  darunter  erhielten,  während  sich  die  lehrer  bei  besseren  arbeiten 
mit  der  abschrift  der  fehlerhaften  sätze  begnügten,  hiermit  war  die 
in  rede  stehende  arbeit  abgelhan  und  die  folgende  veranlaszte  ein 
gleiches  verfahren. 

Ganz  abgesehen  davon ,  dasz  die  kürze  der  zeit  zum  schnellen 
hinschmieren  verleitete  oder  der  schwächere  und  unaufmerksamere 
schüler  gar  nicht  nachkommen  konnte,  dürfte  die  nachschrift  in  der 
stunde  selbst  schwerlich  den  gewünschten  zweck  erreichen. 

Andere  dictierten  die  arbeiten  zunächst  ins  diarium  und  ver- 
langten alsdann  eine  sorgfältige  reinschrift  im  hefte,  wodurch  der 
schüler  allerdings  gelegenheit  bekam,  das  stück  nochmals  zu  dureb- 


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Über  das  correctum  der  schriftlichen  arbeiten. 


561 


denken;  doch  hat  nach  meinen  erfahrungen  die  mechanische  abschrift 
die  geistige  arbeit  in  den  meisten  fällen  ersetzt. 

Noch  andere  verlangten  auszer  der  abschrift  das  auswendig- 
lernen  des  correctums,  welches  verfahren  zu  billigen  ist,  voraus- 
gesetzt, dasz  der  fachlehrer  im  stände  ist,  ein  mustergiltiges  correc- 
tum zu  bieten. 

Einen  wie  geringen  wert  aber  die  in  der  stunde  nachgeschriebe- 
nen correcta  haben,  kann  man  daraus  erkennen,  dasz  die  nächste 
arbeit,  in  die  man  vorher  richtig  gestellte  dinge  von  neuem  ver- 
arbeitet hat,  die  früheren  fehler  wieder  zu  tage  fördert. 

Das  ist  ein  deutlicher  beweis  dafür,  dasz  der  schüler  seine 
fehler  nicht  gehörig  erkannt  und  die  gebotene  belehrung  nicht  ge- 
nügend verdaut  hat. 

Andere  collegen  begnügten  sich  mit  der  Verbesserung  am  rande, 
sobald  die  arbeit  mindestens  das  prädicat  ziemlich  befriedigend  er- 
halten hatte. 

Mir  persönlich  sind  solche  rand Verbesserungen  verhaszt.  man 
betrachte  nur  einmal  ein  solches  heft.  die  rote  correctur  des  lehrers 
verbindet  sich  mit  den  oft  nachlässigen  schriftzügen  des  schülers  zu 
einem  abstoszenden  gesamtbilde.  denn  dem  schüler  geht  meist  die 
fähigkeit  ab,  eine  gewisse  Symmetrie  herzustellen,  und  die  benutzung 
eines  lineals  ist  ihm  zu  beschwerlich. 

An  anderen  anstalten  herscht  der  gebrauch,  dasz  der  schüler 
das  correctum  nach  mündlicher  anleitung  des  lehrers  selbständig  zu 
hause  fertigt,  freilich  strotzen  solche  correcta  dann  oft  genug  von 
fehlem,  der  lehrer  ist  nur  zu  sehr  geneigt,  unüeisz  bei  den  schülern 
anzunehmen,  anstatt  zu  bedenken,  dasz  der  schüler,  in  dessen  köpf 
mehrere  stunden  oft  die  heterogensten  dinge  gepfropft  werden,  ein- 
fach das  richtige  längst  vergessen  hat,  ehe  er  zur  ausarbeitung  des 
correctums  schreitet. 

Will  sich  also  der  lehrer  unnötigen  ärger  ersparen  und  gerecht 
bleiben ,  so  müste  er  darauf  bedacht  sein ,  dasz  das  correctum  gleich 
am  nächsten  morgen  ihm  zur  durchsieht  überreicht  werde,  hierauf 
könnte,  braucht  aber  nicht  die  neue  arbeit  geschrieben  werden,  ob- 
wohl dies  das  wünschenswerteste  wäre,  da  wird  nun  mancher  er- 
widern, er  müsse  schreiben  lassen  an  den  tagen,  an  denen  er  zeit 
habe  zu  corrigieren:  das  sei  der  mittwoch-  und  sonnabend-nachmittag 
und  leider  auch  der  sonntag.  dies  verhindert  ihn  aber  keineswegs, 
die  correcta  am  folgenden  tage  von  den  schülern  einzufordern. 

Jedenfalls  haben  die  häuslichen,  selbständigen  correcta  der 
schüler  mehr  wert,  als  wenn  sie  nur  nachschriften  des  dictates  des 
lehrers  sind,  für  diesen  ist  es  allerdings  bequemer,  möglichst  rich- 
tige correcta  zu  durchfliegen,  als  den  selbständigen  arbeiten  der 
schüler  von  neuem  seine  kraft  zu  widmen;  erwächst  ihm  doch  hieraus 
gleichsam  eine  zweite  correctur,  die,  eben  weil  es  nur  correcta  sind, 
nicht  die  vorschriftsmäszige  zahl  der  schriftlichen  arbeiten  ver- 
mehren, doch  müssen  bequemlichkeitsrücksichten  seitens  der  lehrer, 

N.  jahrb.  f.  phil.  u.  pid.  II.  abt.  1891  hft.  11.  36 


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562  Über  das  correctum  der  schriftlichen  arbeiten. 

wenn  es  sich  um  die  förderang  der  schüler  dreht,  einfach  bei  seite 
geschoben  werden,  und  man  ist  berechtigt,  die  amtstreue  eines  lehrers 
auch  nach  der  art  der  correctur  der  correcta  zu  beurteilen. 

Unter  manchem  correctum  habe  ich  leider  schon  oft  ein  vidi 
gesehen,  wo  von  rechtswegen  ein  non  vidi  hätte  stehen  sollen. 

Lästig  mag  ja  die  durchsieht  des  correctums  sein,  doch  so  lange 
Verbesserungen  verlangt  werden,  müssen  wir  auch  bierin  unsere 
pflicht  voll  und  ganz  erfüllen,  man  hoffe  nicht  etwa,  dasz  der  schüler 
die  gleichgiltigkeit  des  lehrers  gegen  das  correctum  nicht  bemerke; 
im  gegenteil ,  sein  auge  ist  bei  solchen  dingen  oft  recht  scharf,  und 
er  behandelt  es  bald,  wie  sein  lebrer  damit  verfahrt. 

Ist  aber  eine  gleichgiltigkeit  des  lehrers  hiergegen  begründet? 

Das  correctum  gleicht  nach  meiner  auffassung  der  naebüber- 
setzung  bei  der  leetüre.  hat  der  schüler,  weil  er  ohne  Übersetzungen 
gearbeitet  hatte,  trotz  redlichster  bemühung  so  manche  stelle  des 
textes  nicht  herausbekommen ;  hat  dann  die  Unterrichtsstunde  durch 
die  arbeit  aller  schüler  das  richtige  zu  tage  gefördert  und  der  lehrer 
eine  allen  anforderungen  entsprechende  Übersetzung  geboten,  so  soll 
die  nachÜbersetzung  beweisen,  wie  viel  und  wie  der  schüler  die 
vorige  stunde  ausgenutzt  bat.  was  hier  mündlich  erstrebt  wird,  soll 
das  correctum  schriftlich  beweisen. 

Unter  diesem  gesictitspunkt  gehört  das  correctum  nicht  zu  den 
nebensachen  des  Unterrichts,  und  die  etwaige  gleichgiltigkeit  der 
lehrer  hiergegen  ist  zu  rügen. 

Anders  werden  die  schüler  das  correctum  behandeln,  wenn  der 
lehrer  sie  nochmals  corrigiert  und  womöglich  prädiciert. 

Doch  halte  ich  das  verfahren  derer  für  verfehlt ,  welche  die  im 
correctum  gemachten  fehler  zur  neuen  arbeit  hinzurechnen,  soll  jede 
arbeit  für  sich  ein  ganzes  sein ,  so  dürfen  offenbar  die  verstösze  im 
correctum  nicht  das  prädicat  der  arbeit  selbst  verschieben,  lieder- 
liche correcta  könnten  nur  dazu  dienen,  in  ihrer  summe  das  allge* 
meine  prädicat  des  fleiszes  in  der  quartalscensur  zu  beeinflussen, 
ebenso  ist  es  nicht  zu  billigen,  dasz  loderige  correcta  zur  mehr- 
maligen abschrift  aufgegeben  werden,  dies  liesze  sich  allenfalls  be- 
gründen, wenn  die  völlige,  vom  lehrer  gebotene  naebsebrift  rein 
äuszerlich  die  grösste  nachlässigkeit  verrät;  ist  das  correctum  aber 
vom  schüler  selbst  gefertigt ,•  so  müste  die  wiederholte  abschrift  in 
sorgfältiger  weise  gerade  die  fehler  im  schüler  befestigen,  was 
jedoch  der  absieht  des  correctums  widerspricht. 

Solchem  schüler  müste  man  eine  andere  arbeit  stellen,  die  ihn 
straft,  weil  er  arbeiten  musz,  die  ihn  aber  auch  fördert,  anstatt  ihn 
in  den  fehlem  zu  befestigen. 

Mit  allzu  groszem  eifer  gehen  die  schüler  erfahrungsgem&sz 
nicht  an  die  anfertigung  des  correctums.  für  sie  ist  die  fehlerzahl 
und  das  prädicat  der  arbeit  selbst  die  hauptsache;  interesse  fürs  cor- 
rectum musz  ihnen  erst  vom  lehrer  eingeflöszt  werden. 

Wird  das  correctum  nicht  für  den  folgenden  tag  verlangt,  so 


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über  das  correctum  der  schriftlichen  arbeiten. 


563 


ereignet  e&  sich  nicht  selten ,  daaz  der  schOler  die  anfertigung  des- 
selben vergiszt,  zuweilen  auch  erst  in  der  Zwischenpause  macht  oder 
den  rest  in  der  schule  nachträgt,  nachdem  er  den  anfang  zu  hause 
geschrieben ,  wie  man  dies  aus  der  verschiedenen  färbe  der  tinte  zu 
beweinen  vermag. 

Was  man  aber  vergiszt,  liegt  einem  nur  wenig  am  herzen,  und 
je  weiter  nach  oben,  desto  gröszer  wird  die  gleicbgiltigkeit  der 
schüler  gegen  das  correctum.  hier  genügt  die  bemerkung  des  lohrers : 
verbessere  i  c  h  das  correctum,  so  haben  Sie  die  pflicbt,  es  gewissen- 
haft zu  fertigen,  oft,  doch  nicht  immer,  um  eine  sorgfaltigere  be- 
handlung  des  correctums  zu  erzielen. 

Soll  die  schule  die  jugend  zur  Selbständigkeit  im  urteilen, 
wollen  und  handeln  heranbilden ,  so  ist  gewis  auch  die  selbständige 
abfassung  des  correctums  ein  wirksameres  mittel  hierzu ,  als  wenn 
der  schüler  das  correctum  mechanisch  ab-  oder  nachschreibt. 

In  diesem  falle  musz  man  freilich  verlangen,  dasz  das  gebotene 
sich  erstens  streng  an  das  original  hält  und  zweitens  einen  für  sich 
verständlichen  sinn  gibt,  wenn  man  auch  die  möglichste  kürzung 
durch  auslassung  des  richtigen  dem  schüler  gestattet. 

Liegt  also  der  fehler  im  nebensatze,  so  musz  unbedingt  auszer 
der  berichtigung  desselben  der  hauptsatz  iu  einer  an  sich  verständ- 
lichen, wenn  auch  möglichst  abgekürzten  form  erscheinen. 

Es  ist  nicht  gerade  leicht,  den  schüler  hierzu  zu  bringen,  ver- 
leitet wird  er  zur  auslassung  des  einen  für  den  sinn  unbedingt  nötigen 
gliedes  bei  der  correctur  einer  periode  meist  wohl  durch  eine  ge- 
wisse trägheit,  die  entschuldigt  werden  könnte,  wenn  der  weggelas- 
sene teil  im  original  von  ihm  richtig  gebildet  worden  ist,  anderseits 
dürfte  auch  das  verfahren  der  grammatiker  hierzu  verleiten,  wenig- 
stens bietet  die  grammatik  von  Ellendt-  Seyffert  trotz  ihrer  zahl- 
reichen auflagen  noch  eine  reihe  von  beispielen,  die  wegen  weg- 
las&ung  eines  für  das  Verständnis  nötigen  teiles  selbst  für  den  lehrer 
schwer,  für  den  schüler  aber  gar  nicht  verständlich  sind. 

Pädagogisch  richtig  ist  diese  darbietung  derartiger  beispiele 
gewis  nicht,  und  so  musz  auch  dem  das  correctum  durchlesenden 
lehrer  eine  periode  als  an  sich  verständliches  ganzes  geboten  werden, 
auf  dasz  nicht  der  gewissenhafte  lehrer  genötigt  werde,  an  solchen 
stellen  die  eigentliche  arbeit  zur  controlle  aufzuschlagen. 

Dreht  es  sich  um  fehler  der  formen  lehre  oder  der  syntax,  so 
genügte  allenfalls  die  richtige  form  und  construction,  ohne  dasz  ein 
ganzer  satz  im  correctum  geboten  werde. 

Benutzt  man  das  correctum  zur  befestigungder  kenntnisse  und 
als  mittel,  den  schüler  zur  gröszeren  Selbständigkeit  zu  führen,  dann 
musz  er  genötigt  werden,  zu  hause  seine  hilfsmittel  zu  benützen, 
dies  würde  erreicht,  wenn  man  von  ihm  verlangte,  nicht  blosz  den 
fehler  zu  berichtigen,  sondern  auch  zu  begründen,  die  begründung 
müste  natürlich  möglichst  kurz  gehalten  sein,  meist  genügte  die  an- 
gäbe des  paragraphen  in  der  grammatik. 

36* 


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5f>4 


Über  das  correctum  der  schriftlichen  arbeiten. 


So  wird  der  schüler  nicht  blosz  zur  erkenntnis  des  Öti,  sondern 
auch  —  und  das  ist  im  Unterricht  doch  wohl  die  hauptsache  —  zu 
der  des  biöxi  geführt,  aus  der  erkenntnis  der  gründe  seiner  fehler 
erwächst  aber  dem  schüler  erst  ein  sicheres  wissen. 

Es  braucht  nicht  erst  gesagt  zu  werden,  dasz,  so  lange  einmal 
die  durchsieht  der  correcta  von  amtswegen  gefordert  wird,  auch  alle 
gegenstände  mit  schriftlichen  arbeiten  correcta  aufweisen  müssen. 

Ist  der  lateinlehrer  in  den  obersten  classen  verpflichtet,  die  oft 
recht  schwere  correctur  des  correctums  zu  verrichten,  so  wäre  er 
bezüglich  seiner  arbeitslast  ungerecht  behandelt,  wenn  etwa  der 
lehrer  des  deutschen  oder  der  mathematik  auf  das  correctum  ver- 
zichten dürfte. 

Wie  die  durchsieht  der  correcta  nun  dem  lehrer  oftmals  lästig 
ist  und  doch  ein  prächtiges  mittel  bietet,  seine  amtliche  gewissen- 
haft i^keit  zu  erkennen,  so  ist  die  rückgabe  der  corrigierten  arbeiten 
einer  der  wichtigsten  gesichtspunkte ,  das  lehrgeschick  besonders 
jüngerer  lehrer  zu  beurteilen,  obwohl  letztere  dies  zuweilen  gar  nicht 
ahnen,  ist  es  mir  doch  unlängst  selbst  begegnet,  dasz  ein  jüngerer 
lehrer  mich  vom  hospitieren  in  seiner  stunde  dadurch  gleichsam  ab- 
zuschrecken suchte,  dasz  er  ja  nur  arbeiten  zurückgebe,  natürlich 
bei  mir  in  diesem  falle  ohne  erfolg. 

Ich  wage  es,  die  behauptung  aufzustellen,  dasz  die  correcta- 
stunden,  um  mich  so  auszudrücken,  die  fruchtbarsten  und  anregend- 
sten werden  können,  sobald  der  lehrer  pädagogisch  genügend  durch- 
gebildet  ist. 

Um  sie  fruchtbar  zu  machen,  musz  der  lehrer  freilich  sich  alle 
fehler  der  schüler  verzeichnen,  dieselben  dispositionsartig  gliedern 
und  aus  der  vollen  kenntnis  der  verstösze  das  correctum  bieten. 

In  der  oben  erwähnten  stunde  wurden  deutsche  hefte  in  der 
tertia  zurückgegeben. 

Aus  den  vom  fachlehrer  gebotenen  einzelheiten  stellte  ich  durch 
mein  eingreifen  in  den  Unterricht  mit  hilfe  der  schüler  fest,  dasz 
sich  folgende  gruppenbildung  ermöglichen  liesz:  es  wurden  l)  fehler 
gemacht,  die  auf  flüchtigkeit  beruhten,  2)  orthographische,  3)  gram- 
matische, 4)  stilistische,  5)  sachliche,  also  in  den  gebotenen  that- 
sachen,  und  6)  verstösze  gegen  die  logik. 

Wie  sich  nun  fürs  deutsche  correctum  die  fehler  gruppieren 
lassen,  so  natürlich  auch  für  die  fremdsprachlichen  arbeiten. 

Hierdurch  gewinnt  der  lehrer  nicht  nur  zeit,  sondern  seine 
gleichsam  statistischen  notizen  zeigen  ihm  aufs  klarste  die  lücken 
im  wissen  seiner  schüler,  wo  also  eine  gründliche  repetition  unum- 
gänglich nötig  ist. 

Auch  ist  es  pflicht  des  lehrers,  nicht  selbst  das  richtige  zu  bieten, 
sondern  die  schüler  dasselbe  aus  eignen  kräften  finden  zu  lassen; 
erst  wenn  die  von  ihm  gebotenen  stützen  zu  keinem  erfolge  geführt, 
darf  der  lehrer  das  richtige  selbst  angeben. 

So  kommt  in  diese  stunden  ein  reges  leben,  und  findet  der 


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Über  das  correctum  der  schriftlichen  arbeiten 


565 


schüler  erst  vernügen  an  ihnen ,  dann  wird  auch  das  correctum  er- 
freulichere erfolge  aufweisen. 

Betreibt  nun  der  lebrer  sein  fach  mit  der  nötigen  liebe,  besitzt 
er  obendrein  ein  gutes  gedächtnis,  so  dasz  er  auch  nach  mehreren 
tagen,  ja  wochen  noch  die  fehler  der  schüler  im  köpfe  hat,  so  wird 
die  leetüre  reichlich  gelegenheit  bieten ,  diesem  oder  jenem  schüler 
nochmals  seinen  einst  gemachten  fehler  an  der  vorliegenden  stelle 
zum  bewustsein  zu  bringen. 

Ob  man  dem  schüler  gleich  am  anfange  der  stunde  oder  erst 
am  ende  derselben  die  corrigierten  hefte  in  die  hand  geben  musz, 
wird  von  der  zeit  der  rückgabe  überhaupt  abhängen. 

Wer  aus  dem  vollen  arbeiten  will,  musz  die  arbeiten  womög- 
lich schon  am  nächsten  tage  abliefern,  in  diesem  falle  hat  der  schüler 
noch  frisch  im  gedächtnis,  was  er  geschrieben,  und  braucht  das  heft 
zur  correctur  nicht  vor  äugen  zu  haben. 

Seine  Ungeduld,  zu  erfahren,  wie  er  geschrieben,  kann  der 
lehrer  durch  angäbe  der  fehlerzahl  am  anfange  der  stunde  leicht  be- 
schwichtigen. 

So  wird  der  lehrer  auch  sich  selbst  die  rückgabe  erleichtern, 
denn  trotz  der  sorgfältigsten  aufzeichnung  verblaszt  auch  bei  ihm 
so  manches,  wenn  mehrere  tage  seit  der  correctur  verflossen  sind. 

Demnach  wage  ich  es,  den  fachgenossen  folgende  thesen  bezüg- 
lich des  correctums  zur  prüfung  vorzulegen :  a)  zwischen  der  rück- 
gabe der  hefte  und  der  neuen  arbeit  darf  nur  der  kürzeste  Zeitraum 
liegen ;  beziehungsweise  ist  auch  ohne  folgende  neue  arbeit  das  cor- 
rectum am  nächsten  tage  dem  lehrer  zu  überreichen;  b)  noch  besser 
erfolgte  am  nächsten  tage  eine  mündliche  repetition  des  bei  der 
rückgabe  besprochenen,  sowie  eine  nochmalige  abschlieszende  Über- 
setzung der  vorläge  seitens  der  schüler,  bevor  dieselben  zur  schrift- 
lichen anfertigung  des  correctums  schreiten. 

Eine  zeitvertrödelung  wird  nach  meiner  erfahrung  hierdurch 
nicht  ohne  weiteres  veranlaszt.  ist  es  doch  nicht  unumgänglich 
nötig,  dasz  man  sich  bei  den  correctis  nur  auf  die  wirklich  gemachten 
fehler  beschränke;  sie  sind,  allgemein  bezeichnet,  grammatische 
repetitionsstunden ,  so  dasz  der  lehrer  also  berechtigt  ist,  an  das 
vorliegende  verwandte  begriffsreihen  zu  knüpfen  und  ganze  abschnitte 
der  grammatik  in  fruchtbarer  weise  zu  repetieren. 

Zur  belebung  der  correctastunde  und  zur  klärung  des  Urteils 
trägt  besonders  in  den  oberen  classen  der  lehrer  auch  dadurch  bei, 
dasz  er  in  freundlicher  weise  seine  schüler  ermutigt ,  ihre  falsche 
auffassung  mit  ihren  gründen  zu  verteidigen;  die  mitschüler  oder 
der  lehrer  selbst  hat  die  unhaltbarkeit  jener  gründe  aufzudecken, 
ich  selbst  habe  mich  nie  geschämt,  eine  falsche  auffassung  meiner- 
seits den  schülem  gegenüber  offen  einzugestehen;  war  ich  doch  Über- 
zeugt, dasz  sie  mich  meinem  fache  für  gewachsen  erachteten,  habe 
dadurch  aber  manchmal  etwas  für  mich  selbst  gelernt. 

Mit  ganz  besonderem  eifer  habe  ich  auch  darnach  gestrebt, 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


dahinter  zu  kommen,  infolge  welcher  Vermischung  von  Vorstellungen 
der  schtller  zu  seinem  fehler  gelangt  ist. 

Diese  psychologische  erkenntnis  hat  dann  in  meinem  gesamten 
unterrichte  mich  zu  möglichster  klarheit  getrieben. 

Schliesslich  musz  der  lehrer  auch  ein  pessimist  sein,  wo  es  sich 
um  das  Verständnis  der  fehler  seitens  der  schaler  dreht. 

Auf  die  frage,  ob  sie  die  fehler  nunmehr  eingesehen,  antworten 
sie  gewis  ja.  doch  traue  man  dieser  antwort  nicht,  Oberzeuge  sich 
vielmehr,  ob  dieses  ja  der  Wahrheit  entspricht,  und  ermutige  die 
schttler  wiederholt,  sich  nichtverstandenes  nochmals  erklären  zu 
lassen. 

Langmut  und  Hilfsbereitschaft  schwachen  schalern  gegenüber 
bilden  ja  den  schmuck  des  echten  und  gewissenhaften  erziehers  der 
jugend. 

Mögen  diese  zeilen  dazu  beitragen,  das  correctum  nicht  mehr 
als  eine  lästige  und  unfruchtbare  arbeit  für  den  lehrer  zu  betrachten, 
sondern  es  als  ein  geeignetes  mittel  zur  förderung  der  scbüler  eifrig 
zu  benutzen. 

Kempen  in  Posen.  Paul  Mahn. 


54. 

KRITISCH  -  EXEGETISCHES  ZU  SCHILLER  UND  GOETHE.' 


1.  Wallensteins  tod,  act  IV  scene  10. 

Mit  groszer  Sorgfalt  hat  Schiller  in  seinen  meisten  dramen  die 
Zeitfolge  der  handlung  angegeben  und  festgehalten ,  mit  peinlicher 
genauigkeit  im  Fiesco,  wo  fast  bei  jeder  scenenreihe  sogleich  zu 
anfang  die  stunde  bezeichnet  wird',  in  allgemeinerer  weise,  aber 
doch  auch  klar  und  bestimmt,  in  Cabale  und  Liebe,  im  Don  Carlos, 
Wallenstein,  der  Maria  Stuart  und  Braut  von  Messina.  man  sieht, 
es  kam  ihm  darauf  an,  auch  in  dieser  mehr  äuszerlichen  beziehung 
den  pragmatischen  Zusammenhang  der  handlung  streng  durchzu- 
führen. 

Die  handlung  des  Wallenstein  verteilt  sich  in  folgender 
weise  auf  vier  tage  (ich  stelle  neben  die  in  den  drucken  befolgte 
acteinteilung  die  in  den  handscbriften  gegebene): 

1  Verfasser  hat  sich  auf  das  sorgfältigste  bemüht,  bei  den  einzelnen 
stellen  die  vorhandene  Ittteratur  heranzuziehen;  sollte  wider  erwarten 
doch  diese  oder  jene  beobachtung  schon  von  andern  vorweggenommen 
sein,  so  wird  dies  jeder  entschuldigen,  der  weis«,  wie  schwer  es  ist  bei 
dem  mangel  einer  zusammenfassenden  bibliographie  die  weit  zerstreuten 
und  zersplitterten  publicationen  zu  kennen  und  zu  erreichen.  —  Minor 
Schiller  bd.  II  war  bei  absendung  meines  aufsatzes  noch  nicht  erschienen. 

*  vgl.  meinen  aufsatz  in  der  Weimarer  vierteljahrschrift  für  litteratur- 
geschichte  bd.  III  hft.  4. 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schüler  und  Goethe.  567 

Piccolornini 

^  jj  J        =  Picc.  act  I    i.  d.  hdschr.  lr  tag  vormittag 

-  III  i  jt  ,  t  abend 

-  IV  i        -  -      •  11  -  •  •  ,r  -Lacht 

-  V  =  -  III  -  -  -  2r  -  morgendämmerung 
Wallenst.  Tod 

act  I            =  -  IV  -  -  -  2r  -  morgen 

-  II           =  -      -  V  -  -  -  2r  -  abend 

[vgl.ni7,  1611] 

-  1111-12=   W.T.-    I      -    -  -       in  Ä  ... 

13-23=    -   -  -  n  -  -  }3r  '  vormittag  u.  später 

-  IV  1-8   =    -    -  -  III  -  - 


: 

1.2]} 


9-14  =    -    -  -  IV  -  -       -     >4r  -  spät  abend 

[dazu  V 

-  V  «=    ...  V  -  -  4r  -  nacht 

jedes  der  beiden  dramen  umfaszte  also  ursprünglich  zwei  tage,  ein 
zeitmasz,  das  Schiller  auch  im  Fiesco  und  in  Cabale  und  Liebe3  fest- 
gehalten hat. 

Mit  dieser  klaren  und  übersichtlichen  gliederung  steht  die  er- 
Zählung  des  schwedischen  hauptmanns  von  Maxens  tod  IV  11  in 
schroffstem  Widerspruch,  vergegenwärtigen  wir  uns  genauer  die 
chronologischen  Voraussetzungen  des  vierten  actes. 

Wallenstein  hatte  am  ende  des  vorhergehenden  actes  Buttler 
befohlen,  dem  commandanten  von  Eger  zu  schreiben 

Durch  einen  eilenden,  er  soll  bereit  sein 
uns  morgen  in  die  festung  einzunehmen; 

beim  beginn  des  vierten  actes  ist  er  soeben  in  Eger  eingetroffen,  er 
hatte  zugleich  gehofft,  noch  an  diesem  tage  sich  mit  den  Schweden 
zu  vereinigen  (III  13,  1281): 

Morgen  stöszt 
ein  heer  zu  uns  von  sechzehntausend  Schweden. 

aber  Max  hat  sie  angegriffen,  um  noch  in  letzter  stunde  in  ver- 
zweifeltem kämpf  Wallensteins  Vereinigung  mit  ihnen  zu  hindern; 
dadurch  ist  ihre  ankunft  verzögert,  erst  am  morgen  des  folgenden 
(fünften)  tagen  werden  sie  vor  Eger  erscheinen  (IV  7,  2755  f.  2843, 
vgl.  V  3,  3392).  dieser  todesritt  der  Pappenheimer  cürassiere  ist 
nicht  lange  vor  Wallensteins  ankunft  in  Eger  zu  ende  gegangen : 


3  irrtümlich  nimmt  L.  Bellermann  Schillers  dramen  bd.  I  s.  162  drei 
tage  an.  act  III  spielt  nicht  am  zweiten  tage,  sondern  noch  am  abend 
desselben  tnges,  an  welchem  der  präsident  in  Millers  haus  eindrang, 
sonst  hätte  Luisens  frage  an  Wurm  (III  6)  'suchen  Sie  etwa  den  Prä- 
sidenten? er  ist  nicht  mehr  da%  gar  keinen  sinn,  auch  wäre  ein 
stillstand  der  handlung  gerade  hier  ganz  unerträglich. 


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568 


Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


IV  3,  2619 

Ein  starkes  schieszen  war  ja  diesen  abend 
znr  linken  hand,  als  wir  den  weg  hieher 
gemacht,    vernahm  man's  auch  hier  in  der  festnng? 
fwohl  hörten  wir's  .  .  . 

von  Neustadt  oder  Weiden  schien's  zu  kommen.' 
das  ist  der  wog,  auf  dem  die  Schweden  nahn. 

IV  4,  2646 

Eine  Schlacht  ist  vorgefallen 
bei  Neustadt,  und  die  Schweden  blieben  sieger.  .  .  . 
nach  Sonnenuntergang  hat's  angefangen, 
ein  kaiserlicher  trupp  von  Tachau  her 
ist  eingebrochen  in  das  schwed'sche  lager, 
zwei  stunden  hat  das  schieszen  angehalten. 

Endlich  scene  5: 

Die  Schweden  stehn  fünf  meilen  nur  von  hier, 

bei  Neustadt  hat  der  Piccolomini 

sich  mit  der  reiterei  auf  sie  geworfen  usw. 

mit  scene  9  verwandelt  sich  die  scene,  die  handlung  aber  erfährt  gar 
keine  Unterbrechung.  Thekla,  die  scene  ö  in  obnmacht  sank,  liegt 
noch  'bleich,  mit  geschlossenen  äugen  in  einem  sessel' ;  sie  erwacht 
mit  der  frage  nach  dem  boten,  fder  dieses  unglückswort  aussprach', 
auf  ihren  wünsch  musz  er  ihr  nun  scene  10  den  genaueren  bericht 
vom  tode  des  geliebten  geben,  er  beginnt  wieder  mit  der  Zeitangabe : 

Wir  standen  keines  Überfalls  gewärtig 
bei  Neustadt  dicht  verschanzt,  in  unserm  lager, 
als  gegen  abend  eine  wölke  staube« 
aufstieg  vom  walde  her. 

nachdem  so  dem  zuhörer  wiederholt  nachdrücklich  eingeprägt  ist,  dasz 
die  schlacht,  in  der  Max  seinen  tod  fand,  heute  abend  statt- 
gefunden hat,  nachdem  er  durch  die  rasch  aufeinander  folgenden, 
erst  unbestimmten,  dann  immer  genaueren  nachrichten  das  ereignis 
fast  unmittelbar  mit  durchlebt  hat,  jetzt  heiszt  es  plötzlich  am  schlusz : 

heut  früh  bestatteten  wir  ihn  .  .  . 
gewis  eine  seltsame  chronologische  Verwirrung,  denn  dasz  Max  nicht 
gestern  abend  gefallen  sein  kann,  ist  ausgeschlossen,  gestern 
schied  er  erst  spät  act  III  scene  23  aus  Pilsen,  auch  sagt  ja  Wallen- 
stein 2619  ausdrücklich:  diesen  abend  habe  er  das  schieszen  von 
Neustadt  her  gehört.  —  Der  schroffe  Widerspruch,  in  dem  die  letzte 
angäbe  des  schwedischen  hauptmanns  zu  den  früheren  steht,  musz 
auch  frühzeitig  bei  der  aufführung  aufgefallen  sein,  so  hatte  das 
Berliner  theatermanuscript  v.  2649  geändert  in 

Vor  Sonnenaufgang  hab'  es  angefangen, 
und  ebenso  stand,  wie  Hoffmeister  nachlese  III  226  berichtet,  in 
dein  nach  dem  Verluste  des  ursprünglichen  aus  der  erinnerung  her- 
gestellten Weimarer  tbeaterexemplar.  auch  Coleridge  übersetzte  — 
seine  vorläge  stand  dem  Berliner  mscr.  nahe; 

Soon  after  sunrise  did  the  fight  begin. 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


569 


natürlich  wird  durch  diese  correctur  der  Widerspruch  nur  verschoben, 
nicht  gehoben. 

Wie  läszt  sich  nun  in  einem  drama,  welches  die  Zeitfolge  sonst 
so  streng  durchführt,  dieser  chronologische  Widerspruch  erklären? 

Bekanntlich  hat  Schiller,  wie  R.  lioxberger  in  Schnorrs  archiv 
IX  563  nachwies,  bei  der  Schilderung  von  Maxens  bestattung  der 
bericht  von  Ewald  von  Kleists  begräbnis  vorgeschwebt,  charakte- 
ristische ztige,  wie  den,  dasz  der  fübrer  der  feinde  dem  toten  den 
eignen  degen  auf  den  sarg  legte,  hat  er  daher  entlehnt,  es  wäre 
denkbar,  dasz  Schiller  erst  nachträglich  durch  die  lecttire  jenes  be- 
richts  angeregt  wurde,  den  schluszabschnitt  der  erzählung  3062  — 
3072  einzuschieben ,  und  so  den  Widerspruch  nicht  bedachte,  in  den 
er  zu  dem  vorhergehenden  geriet,  die  verse,  welche  diesen  absatz 
einschlieszen,  scheinen  für  diese  Vermutung  zu  sprechen,  vers  3061 
fragt  Thekla,  nachdem  der  schlusz  des  kampfes  erzählt  ist: 

Und  wo  —  wo  ist  —  Sie  sagten  mir  nicht  alles  — 

nun  schiebt  sich  'nach  einer  pause'  die  erzählung  von  der  bestattung 
ein,  die  nicht  recht  zu  jener  frage  passt.  am  ende  derselben  nimmt 
daher  Thekla  diese,  14  verse  vorher  begonnene,  frage  mit  denselben 
worten  wieder  auf: 

Wo  ist  sein  grab? 

man  sieht,  die  verse  scblieszen  sich  lückenlos  zusammen,  wenn  man 
jenen  abschnitt  sich  fortdenkt,  sollte  hier  nicht  vielleicht  noch  die 
naht  zu  erkennen  sein? 

2.  Maria  Stuart,  act  V  scene  10  und  die  kerkerscene 

des  Fau 8 1. 

Daniel  Jacoby  hat  im  Goethe-jabrbuch  III  1882  s.  185  f.  eine 
abhängigkeit  des  Schillerschen  dramas  von  der  Gretchen  -  tragödie 
im  Faust  nachzuweisen  versucht,  was  er  über  die  ähnlichkeit  des 
grundgedankens  sagt,  wird  niemanden  überzeugen,  der  da  weisz, 
wie  tief  das  tragische  problem  der  Maria  Stuart  in  Schillers  tragi- 
schen anschauungen  wurzelt,  schwerer  scheint  eine  beobacbtung 
über  die  technik  Schillers  in  act  V  scene  10  zu  wiegen,  er  bemerkt 
darüber:  'für  den  schlusz  der  Maria  Stuart  ist  eine  scene  des  Faust 
von  höchster  bedeutung.'  Goethe  habe  Schiller  die  kerker- 
scene mitgeteilt,  dieselbe  habe  zu  eingehenden  erörterungen  anlasz 
gegeben :  *  im  hinblick  auf  den  zehnten  auftritt  des  letzten  aufzugs 
erfreuen  wir  uns  des  gewinnes,  welchen  Schiller  aus  so  be- 
deutsamen schriftlichen  wie  mündlichen  besprechungen  gezogen.' 
wie  Goethe  die  hinrichtung  Gretchens  den  äugen  des  Zuschauers  ent- 
rückte, indem  er  sie  dieselbe  nur  in  einer  vision  durchleben  lasse, 
genau  so  lasse  Schiller  den  grafen  Lester  die  hinrichtung  der  Maria 
Stuart,  die  unter  seinen  füszen  sich  abspielt,  durchleben;  wie  Goethe 
zeige  er  uns  also  das  furchtbare  nur  durch  seine  Spiegelung  in  der 
erschütterten  seele  der  handelnden  person. 


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570  Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 

Ich  sehe  ganz  davon  ab,  dasz  es  höchst  zweifelhaft  ist,  ob 
Schiller  wirklich  die  1808  erschienene  kerkerscene  gelesen  hat;  ich 
frage  einfach :  brauchte  Schiller  wirklich  diesen  'kunstgriff'  (um  mit 
Lessing  zu  reden)  erst  von  Goethe  zu  lernen?  derselbe  hat  eine  viel 
ältere  geschiente,  als  Jacoby  zu  ahnen  scheint. 

'Durch  das  mittel,  dessen  sich  die  antiken  dichter  bedienten, 
die  berichte  der  boten,  konnte  dem  zuschauer  nicht  mit  der  notwen- 
digen stärke  das  ereignis  zum  be wustsein  gebracht  werden.'  so 
Jacoby  8.  187.  dasz  schon  die  antiken  dichter  auch  andere  mittel 
kannten,  mag  ihm  die  Elektra  des  Sophokles  zeigen,  hier  sehen  wir 
die  heldin,  während  Orestes  und  Pylades  im  palast  die  that  voll- 
bringen ,  an  den  thüren  in  furchtbarer  erregung  verharren  und  den 
Vorgängen  drinnen  lauschen;  der  dichter  läszt  sie  auf  diese  weise 
den  mord,  den  sie  selbst  als  weib  nicht  begehen  kann,  mit  so  leiden- 
schaftlicher teilnähme  durchleben,  dasz  er  wie  ihre  eigne  that  er- 
scheint, flüchtig  hat  dieses  motiv  auch  Euripides  in  dem  gleich- 
namigen stück  aufgegriffen:  der  cbor  lauscht  auf  Elytämnestras 
weherufe  (1165  f.).  ähnlich  schon  Aischylos  im  Agam.  und  den 
Choeph. 

Hier  also  fand  Schiller  das  unmittelbarste  Vorbild,  um  ein 
gleichzeitig  hinter  der  bühne  sich  vollziehendes  furchtbares  Schick- 
sal dem  hörer  zu  vergegenwärtigen,  davon  ist  die  von  Goethe  ge- 
wählte vorwegnähme  der  bevorstehenden  katastrophe  durch 
eine  vision  wohl  zu  unterscheiden,  aber  auch  hierin  waren  ihm  schon 
längst  andere  dichter  voraufgegangen. 

Schon  Aischylos  läszt  im  Agamemnon  die  Kassandra  den 
Untergang  Agamemnons  und  ihren  eignen  vor  dem  grausenden  chor 
im  geiste  schauen  und  mit  entsetzen  durchleben,  vgl.  nament- 
lich 1125 

dd,  l6ou  Iboü'  dir€X€  Täc  ßoöc 
töv  TaOpov  £v  irlTrAotci 
ucXaTK^pH)  XaßoOca  unxavf^uaTi 
TÖTrrer  nirvci  o*  Iv  ivuöptp  t€üx«. 

Racine  wandte  dieses  mittel  in  seiner  Iphigenie  (1674)  an;  wo 
Euripides  in  der  Iphig.  Aul.  nur  den  botenbericht  von  Iphigenies 
Opferung  ihm  bot,  liesz  er  die  Cly temnestre ,  von  den  Wächtern  zu- 
rückgehalten, in  gedanken  das  blutige  Schauspiel  miterleben  (acte  V 
scene  4): 

Mais,  cependant,  ö  ciel!  6  mere  infortune'e! 

de  festins  odieux  ma  tille  couronne'e 

tend  la  gorge  aux  couteaux  par  son  per©  apprete's. 

Calchas  va  dans  son  sang  .  .  .  Barbares,  arretez; 

c'est  le  pur  sang  du  dien  qui  lance  le  tonnerre  .  .  . 

j'entends  gronder  la  foudre  et  sens  trembler  la  terre  usw. 

nach  Racines  drama  wurde  der  text  von  Glucks  zu  Goethes  zeit 
allbekannter,  1774  zuerst,  als  ein  musikalisches  ereignis,  in  Paris 
aufgeführter,  bis  1785  175  mal  gegebener  oper  Iphigenie  en  Aulide 
verfaszt  (Glucks  Iphigenie  en  Tauride  war  bekanntlich  auch  von  ein- 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


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flusz  auf  Goethes  Iphigenie),  hier  ist  diese  vision  der  Clytemnestre, 
welche  unter  den  trauen  zurückbleibt«  nachdem  Iphigenie  sich  von 
ihr  gerissen,  zu  einem  ganzen  recitativ  des  letzten  actes  ausgespon- 
nen, ans  dem  ich  (nach  der  Ubersetzung  von  Cornelius)  anführe: 

In  mein  mütterlich  herz  senket  mir  tief  den  stahl; 
am  altar,  der  von  grauen  umwoben, 
laszt  finden  ein  grab  meine  qual,  .  .  . 

die  tochter  .  .  .ja,  da  bist's  .  .  .  seht,  das  messer  schon  blinkt, 
geschliffen  dir  vom  vater,  znm  tode  dir  winkt, 
ein  priester,  zum  mord  gedrängt  von  dem  tobenden  schwärme, 
schwingt  um  dein  haupt  den  stahl  mit  dem  nervigen  arme  .  .  . 
ach!  da  strömet  dein  blut  .  .  .  und  er  lauscht  und  er  schaut 
in  dem  blut,  das  noch  glühet,  was  der  gott  ihm  vertraut! 
haltet  ein!  grause  mordgenossen!  erbebt!  usw. 

erst  später  folgt,  nach  einer  Verwandlung,  Iphigeniens  zug  zum  altar. 

3.  Maria  Stuart,  act  II  scene  3 

schlieszt  Burleigh  seine  rede  für  die  hinrichtung  der  Maria  mit  der 
wirkungsvollen  antithese: 

Ihr  leben  ist  dein  tod!    ihr  tod  dein  leben! 

der  aus  Goethes '  Wahrheit  und  dichtung*  bekannte  Leipziger  professor 
ClodiuB  hatte  1780  im  zweiten  teil  seiner  vermischten  schriften,  aus 
denen  jüngst  Sauer  auszüge  in  der  vierteljahrschrift  für  litteratur- 
geschichte  III  288  gegeben  hat,  auch  mitteilungen  über  sein  traner- 
spiel Conradin  gemacht ;  darunter  finden  sich  die  verse : 

Der  tod  des  Conradin  ist  Carl  des  königs  leben, 
das  leben  Conrad  ins  ist  Carl  des  königs  tod. 

ich  würde  das  eigentümliche  zusammentreffen  kaum  erwähnen,  wenn 
nicht  Streicher  Schillers  flucht  s.  192  erzählte,  dasz  Schiller  'schon 
in  Stuttgart  sich  vorgenommen  hatte,  Conradin  von  Schwaben  zu 
bearbeiten*,  der  plan  wurde  also  unmittelbar  nach  dem  erscheinen 
der  Ciodiusschen  vermischten  schriften  gefaszt.4 

Beiläufig  bemerke  ich,  dasz  man  vielleicht  auch  in  der  ersten 
hälfte  des  fünften  actes  nachklänge  der  jugendeindrticke  des  dichters 
finden  darf ;  mich  wenigstens  haben  sowohl  die  ausmalung  der  ganzen 
Situation  wie  einzelne  stellen  lebhaft  an  Wielands  jugenddrama 
Job  an  na  Gray  erinnert.  Lessings  schneidende  kritik  desselben 
im  63n  und  64 n  litteraturbriefe  brauchte  Schiller  nicht  abgehalten 
zu  haben ,  das  drama  in  seiner  jugend  mit  tiefer  teilnähme  in  sich 
aufzunehmen,  wie  tief  der  einflusz  Wielands  auf  Schiller  war ,  ist 
bekannt;  hier  will  ich  nur  erwähnen,  dasz  ganz  ähnlich  die  beiden 
ersten  acte  der  Alceste  auf  die  composition  und  den  ausdruck  der 
exodos  der  Braut  von  Messina  eingewirkt  haben*,  auch  hier  hat  ge- 
rade die  breite  ausmalung  dea  todesganges  bei  Wieland  ihn  gefesselt. 

4  auf  andere  anregungen  weist  Weltlich  Schiller  s.  669  hin. 

5  vgl.  meine  ausführungen  in  der  Zeitschrift  für  deutsche  philologie 
XVIII  264  f. 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


4.  Fiesco,  act  V  scene  5  und  10. 

Ist  es  Schillers  eigne  erfindung,  dasz  er  Leonore  in  Gianettinos 
kleidern  von  ihrem  gatten  töten  läszt,  der  in  ihr  seinen  feind  zu 
sehen  glaubt  ?  jedenfalls  hatte  er  dies  motiv  schon  in  dem  ihm  wohl 
bekannten 6  Ossian  (im  Fingal)  vorgefunden;  ob  ihm  dies  noch  be- 
wust  war,  mag  zweifelhaft  sein.  vgl.  Ossians  und  Sineds  lieder, 
Wien  1784  (die  erste  ausgäbe  war  schon  1768 — 69  erschienen)  1 47 : 

Aber  indessen  entschleuszt  sich  Galbina,  die  tochter  von  Conloch, 
ihren  buhlen  zu  prüfen,    die  niedlichen  glieder  bedecket 
mitdemgeschmeide  deskriegs  verläszt  sie  die  höhle,  nun  glaubet 
Co  mal  den  gegner  zu  sehn,   ihm  pochet  das  herz,  er  entfärbt  sich, 
finster  wird's  um  ihn  her.    er  belastet  den  bogen,    der  pfeil  zischt, 
ach  Galbina!  —  sie  sinkt  in  ihr  blut!    nun  stürzt  er  zur  höhle 
wütend  und  rufet  die  tochter  von  Conloch.  —  Die  einsamen  felsen 
starren  verstummt.  —  O  meine  geliebte  !  wo  bist  du?  —  Gib  antwort!  — 
endlich  erblickt  er  ihr  schlagendes  herz,    sein  pfeil  ist  darinnen  — 
Conlochs  tochterl  dich  hab'  ich  erlegt  —  und  vergeht  ihr  am  busen. 

auf  Macphersons  erzäblung  ist  offenbar  wiederum  die  sage  von  Cepha- 
lus  und  Procris,  Ovid.  Metam.  VII  796  f.,  von  einflusz  gewesen. 

5.  Räuber,  act  I  scene  2. 

Auf  Karl  Moors  worte :  '  feuchtohrige  buben  .  .  .  greinen  über 
die  siege  des  Scipio,  weil  sie  sie  exponieren  müssen'  wirft  Spiegel- 
berg ein:  'das  ist  ja  recht  Alexandrinisch  geflennt.'  Bellermann 
Schillers  dramen  I  96  bemerkt  dazu:  'bindeutung  auf  die  alexan- 
drinischen  gelehrten,  welche  den  groszen  geistern  der  vorzeit 
nicht  gleichkommen,  sondern  nur  «phrases  aus  ihnen  fischen»  und  sie 
«exponieren»  konnten.'  bei  dieser  erklärung  bleibt  ebenso  das  'ge- 
flennt' unberücksichtigt,  obwohl  doch  an  diesen  begriff  der  ganze 
vergleich  anknüpft,  wie  die  beziehung  auf  die  siege,  und  endlich 
Bebreibt  B.  ganz  willkürlich  'alexandrinisch'  mit  kleinem  anfangs- 
buchstaben. 

Schiller  spielt  vielmehr  offenbar  an  auf  die  bekannte  anecdote 
aus  Alexanders  jugend,  Plut.  vit.  AI.  c.  5,  2  ücükic  fovv  dTray- 
T€\8€in  OiXittttoc  f\  ttöXiv  £vbo£ov  rjpriKÜJC  f\  näxnv  TIVd  7T€pi- 
ßonjov  v€vncrjKUK,  ou  TT  dl  v  u  (poibpöc  fjv  ÖKOUUJV,  dXXdirpdc 
touc  rjXiKiurrac  IXerev  «uj  TtaTbec,  Travia  TrpoXr|UJ6Tai  ö  rcaifip, 
^jaol  b*  oub£v  dTroXeuyei  neO*  ujiwv  £ptov  dTrobe^acöai  ulfa  Kai 
XcuuTtpöv».  R  o  1 1  i  n ,  aus  dem  Schiller  diese  erzählung  —  direct  oder 
indirect  —  kennen  mochte,  steigerte  dies:  'toutes  les  fois  qu'on  lui 
apportait  la  nouvelle  que  son  pere  avait  pris  quelque  ville,  ou 
gagne  quelque  grande  bataille,  loin  de  s'en  rejouir  avec 
le  royaume,  il  disait  d;  un  ton  plaintif  aux  jeunes  gens  qui 
Gtaient  eleves  avec  lui :  mes  amis,  mon  pere  prendra  tout,  et  ne  nous 

6  eine  Ossianische  Situation  bietet  noch  die  Braut  von  Messtna  III  1; 
vgl.  a.  a.  o.  III  77  f  über  mir  erbraust  ein  bäum  .  .  .  o  meine  liebe! 
zeigte  sich  dein  wandeln  in  der  ebne!»  usw. 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


573 


laissera  rien  ä  faire.'  so  konnte  dann  Spiegelberg  in  derber  Über- 
treibung geradezu  von  einem  'flennen'  reden  und  mit  dem  schmerz 
des  antiken  beldenjünglings  über  die  vor  ihm  errungenen  siege 
ironisch  den  schmerz  der  heutigen  jugend  vergleichen. 

6.  Räuber,  act  III  scene  2 

wählt  sich  Kosinsky,  um  den  minister  zu  ermorden,  einen  'drei- 
spitzigen degen'.  Bellermann  Schillers  dramen  s.  106  bemerkt  dazu, 
er  wisse  nicht,  was  darunter  zu  verstehen  sei.  unzweifelhaft  ein  drei- 
schneidiger, wie  auch  die  tbeaterausgabe  seit  1798  und  ebenso  die 
dritte  aufläge  der  bucbausgabe  geradezu  in  den  text  gesetzt  haben; 
wenn  diese  änderung  selbstverständlich  auch  nicht  den  mindesten 
kritischen  wert  besitzt,  so  zeigt  sie  uns  doch,  wie  man  das  epitheton 
damals  verstand.  Schiller  gebrauchte  es  wohl  im  sinne  'von  drei 
Seiten  zugespitzt';  anderseits  werden  dreieckig,  dreikantig  und  drei- 
spitzig (vgl.  Grimm  wb.  II  1384.  1392)  promiscue  gebraucht.  — 
Eine  dreischneidige  watFe  aber  liesz  der  dichter  Kosinsky  wählen, 
um  dadurch  seinen  tötlichen  groll  zu  malen,  denn  dieselben  reiszen 
—  man  denke  an  unsere  alten  bajonets  —  gezackte  und  deswegen 
schmerzlichere  und  schwerer  zu  heilende  wunden.7 

7.  Fi  es co,  act  II  scene  17. 

Fiesco:  und  was  ist  wirklich  Ihres  pinsels  beschüftigung? 

Romano:  er  int  weggeworfen,  gnädiger  herr.  das  licht  des  genies 
bekam  weniger  fett  als  das  licht  des  lebens.  über  einen  gewissen  punkt 
hinaus  brennt  nur  die  papierne  kröne,    hier  ist  meine  letzte  arbeit. 

Dasz  unter  der  papiernen  kröne  die  papiermanchette  zu  ver- 
stehen ist,  in  der  das  licht  steht,  hat  zuerst  Mick  witz  in  diesen 
jahrbüchern  1873  s.  387  bemerkt  der  sinn  des  betreffenden  satzes 
ist  danach  offenbar:  'das  licht  des  genies  ist  (bei  mir)  dem  erlöschen 
nahe.'  was  aber  heiszt  im  vorhergehenden  satze  das  'licht  des  lebens'  ? 
zwei  erklärungen  sind  möglich,  entweder  bezieht  es  sich  auf  Roma- 
nos leben  oder  auf  das  leben  überhaupt,  im  ersteren  fall  würde 
er  sagen:  'meine  Schöpferkraft  ist  geringer  als  meine  lebenskraft; 
obwohl  ich  noch  in  der  blüte  meiner  jähre  stehe,  habe  ich  doch  schon 
mein  künstlerisches  können  erschöpft;  ich  habe  mich  selbst  über- 
lebt.' —  Im  zweiten  falle  würde  das  leben  die  reale  Wirklichkeit  be- 
zeichnen, und  es  würden  danach  das  schaffen  des  künstlerischen 
genies  und  die  schöpferischen  tbaten,  welche  das  leben  bietet,  in 
parallele  gestellt,  an  dem  licht  des  letzteren  soll  sich  —  so  könnte 
man  den  gedanken  mit  beibehaltung  des  bildes  ausführen  —  das 
licht  des  ersteren  entzünden  oder  nähren,    es  scheint  mir  kaum 


7  vgl.  auch  Wilh.  Raabe  Unseres  herrgotts  canzlei  II  103  (nach  einer 
Magdeburger  chronik)  fmit  einem  dreiecker  wurde  herzog  Georg  in 
die  lende  gestoszen'. 


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574 


Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


zweifelhaft,  dasz  wir  uns  für  diese  zweite  erklärung  entscheiden 
müssen,  nach  der  ersteren  würde  Romano  hier  eine  bemerkung 
machen,  die  für  die  scene  gar  keinen  zweck  und  in  der  art,  wie 
er  bisher  charakterisiert  ist,  gar  keine  begründung  hat.  er  ist  ja 
soweit  davon  entfernt ,  sich  selbst  für  invalide  zu  erklären ,  dasz  er 
'gegenwartig  ist,  die  grosze  linie  zu  einem  Brutuskopfe  zu  finden'!! 
und  gerade,  indem  er  in  Fiesco  ein  modell  für  das  ihm  vorschwebende 
ideal  sucht,  indem  er  ferner  sich  einen  maier  nennt,  fder  sich  vom 
diebstahl  an  der  natur  ernährt',  deutet  er  bereits  denselben  gedanken 
an,  den  ich  in  den  obigen  worten  fand,  und  damit  ergibt  sich  auch 
die  pointe  dieses  gedankens  im  zusammenbang  der  scene;  indem  er 
zu  Fiesco  sagt:  'ich  kann  nichts,  wenn  das  leben  mir  kein  vorbild 
bietet,  in  dir  suchte  ich  das  bild  eines  Brutus'  —  spricht  auch  er  an 
seinem  teile  indirect  die  mahnung  aus,  der  die  ganze  scene  nach 
Verrinas  wünsch  dienen  soll:  'sei  du  ein  Brutus,  der  du  allein  es 
sein  kannst' 

8.  Melancholie  an  Laura,  v.  91  —  94. 

Ach  die  kühnste  harmouie 
wirft  das  saitenspiel  zu  trümmer, 

und  der  lohe  ätherstrahl  genie 
nährt  sich  nur  vom  lebenslampenschimmer. 

Ich  setze  diese  stelle  der  anthologie  v.  1782  hierher,  weil  sie 
das  bild  in  anderer  weise  wendet,  in  den  beiden  ersten  versen  kann 
es  fraglich  erscheinen,  was  subject  ist.  Viehoff  Schillers  gedichte 
I6  85  (1887)  wollte  anscheinend  'barmonie'  als  solches  ansehen, 
wenn  man  dies  auch  aus  seiner  verschwommenen  Umschreibung  nicht 
klar  erkennen  kann  'die  allzu  kühnen  regungen  meines  genies  haben 
die  gesundheit  meines  körpers  untergraben',  da  er  dabei  beide  sätze 
vermischte.  Düntzer  Schillers  lyrische  gedichte  I*  343  (1874)  con- 
struierte  umgekehrt  und  erklärte:  'die  kühnste  harmonie  d.  h.  die 
groszartig  entworfene  Übereinstimmung  der  lebenskräfte ,  wird  zer- 
trümmert durch  das  saitenspiel  d.  h.  die  dichtkunst.'  ihm  schlosz 
sich  Weltl  ich  an  in  der  jüngst  erschienenen  zweiten  lieferung  seiner 
Schillerbiograpbie  s.465.  und  doch  wird  durch  diese  erklärung  das 
ganze  bild  —  wenn  man  überhaupt  noch  an  dem  bilde  als  solchem 
festhält  —  in  einer  geradezu  unerträglichen  weise  auf  den  köpf  ge- 
stellt! ein  saitenspiel  kann  wohl  durch  das  anschlagen  der  'kühn- 
sten harmonien',  durch  ein  leidenschaftliches,  wildes  spiel  zersprengt, 
'zu  trümmer  geworfen'  werden  —  das  umgekehrte  aber  ist  undenk- 
bar, übertragen  ist  der  dichtergei.st  ein  solches  saitenspiel,  welches 
durch  ein  übergewaltiges  künstlerisches  schaffen  sich  zerstört,  der 
vergleich  des  menschen  mit  dem  saitenspiel  ist  Schiller  geläufig,  so 
sagt  Don  Carlos  V  4,  4821  von  Posa: 

Die9  feine  saitenspiel  zerbrach  in  Ihrer 
metallnen  hand.    Sie  kounten  nichts,  als  ihn 
ermorden. 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


575 


und  auf  die  seele  speciell  wendet  er  ihn  an  ebd.  I  2,  199: 

[Die  natur,  die]  unsrer  Beelen  zartes  saitenspiel 
am  morgen  unsres  lebens  gleich  bezog. 

das  büd  geht  zurück  auf  die  bekannte  analogie  zwischen  der  seelen- 
tbätigkeit  und  den  Schwingungen  der  saiten,  auf  welche  Schiller  z.b. 
auch  seinen  Franz  Moor,  Räuber  V  1,  sich  beziehen  läszt. 

Das  abenteuerlichste  aber  bietet  Weltrichs  erklärung  der  letzten 
Strophe  v.  114  — 119: 

Brich  die  blume  in  der  schönsten  schöne, 
lösch,  o  jüngling  mit  der  trauermiene! 
meine  fackel  weinend  aus, 
wie  der  vorbang  an  der  trnuerbühne 
niederrauschet  bei  der  schönsten  scene, 

fliehn  die  schatten  —  uud  noch  schweigend  horcht  das  haus. 

Boxberger  hatte  in  diesen  jahrbüchern  1868  s.301  unten  daraufhin- 
gewiesen ,  dasz  Schiller  die  gestalten  der  bühne  als  die  schatten  des 
lebens  betrachtet,  ein  bild,  welches  um  so  geeigneter  ist,  wenn  man 
sich  den  augenblick  denkt,  wo  der  Vorhang  heruntergelassen  wird*; 
er  führte  dafür  den  prolog  zum  Wallenstein  v.  67  und  *an  Goethe, 
als  er  den  Mahomet  usw.'  v.  45  an.  dem  gegenüber  behauptete 
Weltrich,  diese  stellen  gehörten  Schillers  späterer  dichtung  und  be- 
trachtungsweise  an,  und  näher  läge  es  hier  an  die  gestalten  der 
Schauspieler  zu  denken,  deren  schatten  (!)  auf  die  rückseite  des  herab- 
fallenden, halbdurchsichtigen (!!)  Vorhangs  sich  abzeichnen,  eine  er- 
scheinung,  welche  bekanntermaßen  (?)  etwas  wunderliches,  die  naive 
phantasie  anregendes  habe,  ganz  abgesehen  von  dieser  höchst  wun- 
derlichen Vorstellung:  worin  sucht  denn  eigentlich  Weltrich  das 
tertium  comparationis?  Schiller  will  das  schnelle  dahinscheiden  in 
der  vollen  kraft  des  Schaffens  und  im  augenblick  der  höchsten  be- 
wunderung  malen  —  also  gerade  auf  das  plötzliche  verschwinden 
de3  Schattenbildes  unter  der  noch  fortdauernden  ergriflfenheit  der 
Zuschauer  kommt  es  bei  dem  bilde  an!  dasz  er  aber  auch  schon  in 
seiner  jugenddicbtung  die  bühne  als  ein  Schattenspiel  bezeichnet  — 
natürlich  nicht  im  sinne  seiner  späteren  ästhetischen  terminologie 
—  und  das  leben  in  der  flüchtigkeit  seiner  erscheiiiungen  mit  ihm 
vergleicht,  zeigt  Franzens  monolog,  Räuber  IV  2  "die  ganze  schatten- 
spielerei ist  verschwunden*,  ihre  parallele  finden  die  obigen  verse 
aus  der  'melancholie*  in  der  'resignation' : 

Der  stille  gott  —  o  weinet  meine  brüder  — 
der  stille  gott  taucht  meine  fackel  nieder, 
und  die  erscheinung  flieht. 

9.  Kabale  und  Liebe,  act  V  scene  1. 

'Ich  kann  dir  die  inesser  nehmen,  du  kannst  dich  mit  einer 
Stricknadel  töten.'  Schiller  schwebte  wohl  hier  die  äuszerung  der 
Emilia  Galotti  vor:  cvater,  mir  geben  Sie  diesen  dolch.'  —  Odoardo  : 
*kind,  es  ist  keine  haarnadel.'  —  Emilia:  fso  werde  die  haarnadel 


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576 


Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


zumdolche!  gleichviel.'  ebenso  läs/t  dann  Wagner  in  seiner 'kinder- 
mörderin'  (welche  bekanntlich  auf  die  Zeichnung  des  musikus  Miller 
und  seiner  frau  von  einflusz  war),  Evchen  H umbrecht  das  kind  mit 
einer  Stecknadel  töten,  dasz  Lessing  wohl  an  Hamlets  worte 
'with  a  bare  bodkin'  dachte,  in  denen  er  bodkin,  das  ebenso  wohl 
dolch  wie  nadel  heiszen  kann,  im  letzteren  sinne  nahm,  bemerkt 
R.  M.  Werner  Leasings  Emilia  Galotti  s.  74. 

Die  betreffende  stelle  der  Emilia  Galotti  klingt  noch  in  einer 
ähnlichen  Situation  einer  späteren  dichtung  Schillers  wieder,  als 
Mortimer,  anstatt  sich  an  dem  Verräter  Leicester  zu  rächen,  sich 
selbst  opfert,  gebraucht  er  dieselbe  Wendung  wie  Emilia  in  den  un- 
mittelbar vorhergehenden  worten:  'dieses  leben  ist  alles  was  die 
lasterhaften  haben'  sagt  Emilia,  als  sie  ihren  vater  entschlossen 
sieht,  den  prinzen  zu  töten;  und  ebenso  ruft  Mortimer  aus:  'das 
leben  ist  das  einz'ge  gut  der  schlechten'  (Maria  Stuart  IV  4).  wel- 
chen eindruck  Emilias  todesscene  auf  Schiller  gemacht  haben  musz, 
zeigt  auch  der  hinweis  auf  dieselbe  in  der  unterdrückten  vorrede  zu 
den  Räubern,  Goed.  II  6. 

In  derselben  scene  von  Kabale  und  Liebe  äuszert  Luise,  als  ihr 
vater  ihren  brief  an  Ferdinand  erbrechen  will:  'wie  er  will,  vater  — 
aber  er  wird  nicht  klug  daraus  werden,  die  buchstaben  liegen  wie 
kalte  leicbname  da,  und  leben  nur  äugen  der  liebe.'  Düntzer  in 
seinen  erläuterungen  bd.  16  (1878)  8.  210  erklärt  dies  in  folgender 
weise:  'sie  hat  gar  nichts  dagegen,  als  er  den  brief  erbrechen  zu 
wollen  erklärt,  wobei  sie  seltsam  genug  (!)  sich  einredet,  er  werde 
den  brief  nicht  lesen  können,  da  die  buchstaben  wie 
leichen  übereinander  lägen.'  wenn  hier  etwas  seltsam  ist,  so 
ist  es  Düntzers  erklärung.  Luise  will  natürlich  sagen,  dasz  die  buch- 
staben nur 'tote  zeichen'  —  wie  Recha  in  Nathan  dem  Weisen 
V  6  ganz  ähnlich  sich  ausdrückt  —  für  die  empfindung  seien,  und 
dasz  nur  derjenige,  welcher  dieselbe  empfindung  mitbringt,  sie  zum 
leben  erwecken  und  den  inhalt  des  briefes  völlig  mitfühlen  und  ver- 
stehen kann,  denselben  gedanken  spricht  Schiller  in  einer  von  ihm 
oft  citierten,  für  den  Don  Carlos  bestimmten,  aber  in  das  drama  nicht 
aufgenommenen  stelle  aus: 

Schlimm  dasz  der  gedanke 
erst  in  der  worte  tote  elemente 
zersplittern  musz,  die  seele  zum  gerippe 
verdorren  musz,  der  seele  zu  erscheinen. 

(so  lauten  die  verse  im  brief  an  Lotte  vom  24  juli  1789,  etwas  anders 
in  den  briefen  an  Körner  vom  15  april  1786  und  an  W.  v.  Humboldt 
vom  1  februar  1796.) 

(schlusz  folgt.) 

SOHULPPORTA.  GU8TAV  KETTNEB. 


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ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜR  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT  AÜB8CHLÜ8E  DEB  CLA8SI8CHBN  PHILOLOGIE 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  DR.  HERMANN  MaSIUS. 


55. 

DIE  DEHNUNG  DES  SYNTAKTISCHEN  UNTERRICHTS 
IN  DEN  ALTEN  SPRACHEN. 


Unter  den  vorwürfen,  welche  gegen  die  höheren  schulen  in  den 
letzten  jähren  laut  geworden  sind,  nimmt  ohne  zweifei  eine  hervor- 
ragende stelle  die  behauptung  ein,  der  altsprachliche  Unterricht 
werde  an  denselben  zu  grammatisch  erteilt,  und  zwar  sind  es 
nicht  blosz  die  umsturzmänner  auf  dem  gebiete  der  pädagogik, 
welche  sich  in  diesem  sinne  äuszern ;  auch  zahlreiche  Verteidiger  der 
bestehenden  schuleinrichtungen  haben  diesen  Vorwurf  erhoben  oder 
wenigstens  als  einen  bis  zu  einem  gewissen  grade  berechtigten  an- 
erkannt, es  ist  daher  wohl  angezeigt,  dieser  anklage  etwas  schärfer 
ins  gesicht  zu  sehen. 

Verfolgt  man  die  zur  erhärtung  derselben  vorgebrachten  be- 
gründungen,  so  stöszt  man  etwa  auf  folgende  sätze:  1)  es  wird  zu 
viel  an  grammatischem  stoff  geboten,  2)  die  schriftstellerlecttire  wird 
zu  grammatisch  betrieben,  3)  auf  die  einübung  der  grammatischen 
regeln  durch  schriftliche  Übungen  wird  zu  viel  zeit  und  kraft  ver- 
wendet, 4)  der  betreffende  Unterricht,  zumal  der  syntaktische,  wird 
ungebührlich  gedehnt. 

Der  ersterwähnte  Vorwurf  wird,  wie  die  Verhältnisse  neuer- 
dings liegen,  als  unbegründet  abzuweisen  sein,  die  zeit  der  dick- 
leibigen grammatiken  und  Stilistiken  ist  für  den  schulbetrieb  vorüber, 
dem  anfangsunterricht  in  beiden  alten  sprachen  werden  fast  allgemein 
kleine  hilfsbücher  zu  gründe  gelegt,  welche  fernliegendes  und  un- 
regelmäsziges,  soweit  möglich,  ganz  ausschlieszen  und  das  trockene 
regelwerk  auf  ein  geringes  masz  beschränken,  die  schulgrammatiken 
aber  werden  von  jähr  zu  jähr  gedrängter,  um  nicht  zu  sagen  dürftiger, 
hunderte  von  einzelheiten  der  formenlehre  und  syntax,  mit  welchen 
frühere  geschlechter  sich  unweigerlich  herumschlagen  musten,  sind 
aus  jenen  ganz  verschwunden,   damit  die  liebe  jugend,  welche  alle 

N.jahrb.  f.phil.a.  pid.  Il.tbt.  1891  hfl.  12.  37 


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578   Die  dehnung  des  syntaktischen  Unterrichts  in  den  alten  sprachen. 

weit  jetzt  als  so  schonungsbedürftig  hinzustellen  beliebt ,  ja  nicht 
ohne  not  strapaziert  werde ,  haben  fleiszige  gelehrte  sämtliche 
griechische  und  lateinische  rschulschriftsteller'  mit  rück  sieht  darauf 
durchgearbeitet,  welche  der  von  den  gangbaren  schulgrammatiken 
aufgeführten  grammatischen  besonderheiten  in  ihnen  gar  nicht  oder 
selten  vorkommen,  und  auf  grund  dieser  ermittel ungen  haben  die 
Verfasser  der  neuesten  schulgrammatiken  wetteifernd  sich  bemüht, 
bailast  auf  bailast  über  bord  zu  werfen,  sunt  certi  denique  fines. 
geht  man  weiter  auf  diesem  wege  fort,  so  hört  schlieszlich  aller 
gründliche  Schulunterricht  auf  oder  es  müssen  den  reiferen  schülern 
zu  ihrer  selbstbelehrung  nachschlagebücher  neben  den  eingeführten 
grammatiken  in  die  hand  gegeben  werden,  anstatt  vieler  beispiele 
nur  eins  aus  der  lateinischen  grammatik.  in  der  zehnten  aufläge  von 
Zumpt  (1850)  spukt  noch  die  alte  reimregel,  welche  38  masculina 
der  dritten  declination  auf  is  aufführt,  darunter  Wörter  wie  glis, 
mugilis,  follis,  scrobis,  um  schlimmeres  nicht  zu  erwähnen.  Holz- 
w  eis  8  ig  (1889)  und  Steg  mann  (1889)  haben  von  jenen  38  Wör- 
tern 22,  bzw.  23  gestrichen,  Landgraf  (1891)  bietet  nur  12, 
Waldeck  (1891)  sogar  nur  noch  6.  entsprechend  ist  bekanntlich 
in  allen  abschnitten  der  lateinischen  grammatik  neuerdings  stark 
'gelichtet'  worden,  und  im  griechischen  ist  es  nicht  anders,  als 
älterer  mann  schüttelt  man  schier  den  köpf,  wonn  formen  wie  otöiGi. 
rfcoucGrrv,  ityr|8nv,  cuveiXoxct,  £br|boKa,  die  einem  von  früher  her 
so  geläufig  sind,  von  mancher  neueren  grammatik  kaum  in  einer 
anmerkung  erwähnt  werden,  so  lange  der  schüler  von  seinen  lehrern 
gegängelt  wird  und  die  ausgetretenen  bahnen  der  gangbaren  schul- 
leetüre  verfolgt,  geht  es  ja  ganz  leidlich  mit  den  neumodischen  schul» 
grammatiken.  sowie  er  aber  einmal,  um  zunächst  vom  latein  zu 
reden ,  einen  schritt  über  den  bereich  der  schulschriftsteller  hinaus- 
thut,  in  einem  lateinisch  geschriebenen  buche  aus  der  zeit  unserer 
groszväter  blättert  oder  eine  lateinische  inschrift  an  einem  älteren 
gebäude  zu  entziffern  sucht,  dürfte  er  inne  werden,  wie  lückenhaft 
und  unsicher  sein  in  der  jetztzeit  erworbenes  grammatisches  wissen 
ist.  genug,  noch  weitere  stoffabwerfung  kann  unseres  erachtens  nur 
zur  bedenklichsten  ungründlichkeit  führen.* 

Der  zweite  Vorwurf,  dasz  die  schriftsteiler  zu  grammatisch  be- 
handelt würden ,  ist  in  der  letzten  zeit  bis  zum  überdrusse  erhoben 
worden,  die  höhere  schule  steht  ihm  gegenüber  ziemlich  wehrlos 
da.   denn  erstens  ist  nicht  ganz  klar,  was  damit  gemeint  ist,  und 

*  von  den  grundsätzlichen  gegnern  der  latein  und  griechisch  be- 
treibenden schulen  wird  aus  'taktischen*  gründen  natürlich  davon 
geschwiegen,  dasz  die  jetzt  gangbaren  schulgrammatiken  der  beiden 
alten  sprachen  nur  ein  zehntel  von  dem  lernstofie  bieten,  welcher  >  he - 
dem  der  lernenden  jugend  zugemutet  wurde,  und  doch  liegen  die  d  nge 
jetzt  so,  dasz  dem  gyranasiasten  fernliegende  einzelheiten  des  Sprach- 
gebrauchs leicht  viel  mehr  in  seiner  französischen  grammatik  entgegen- 
treten als  in  seiner  lateinischen  und  griechischen,  selbst  wenn  diese 
französische  grammatik  die  f kurzgef aszte'  von  K.Plötz  sein  sollte. 


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Die  dehnuüg  des  syntaktischen  Unterrichts  in  den  alten  sprachen.  579 

• 

dann  ist  niemand  vorhanden ,  der  die  berechtigung  jener  im  allge- 
meinen erhobenen  anklage  auf  grund  ausreichender  Sachkenntnis 
anzuerkennen  oder  abzuweisen  vermöchte,  klar  ist  von  vorn  herein, 
dasz  die  gründliche  behandlung  eines  Schriftstellers,  er  heisze  Caesar 
oder  Tacitus,  Ovid  oder  Horaz,  ohne  gelegentliche  herbeiziebung 
grammatischer  fragen  ebenso  undenkbar  ist,  als  eine  schulmäszige 
lectüre  von  Moliere  oder  Shakespeare  ohne  grammatik.  es  kann  sich 
somit  nur  um  den  grad  handeln,  in  dem  das  grammatische  beachtet 
und  betont  wird,  dasz  es  unter  den  lehrern  an  höheren  schulen,  wie 
unter  allerhand  menschen  sonst,  trockene  leute  gibt,  denen  das 
kleinste  und  kleinlichste  Uber  gebühr  freude  macht,  ist  von  vorn 
herein  anzunehmen,  aber  die  schulbehörden  von  ganz  Deutschland 
haben  zum  öfteren  seit  1870  sich  gegen  die  überwiegend  gramma- 
tische behandlung  der  schriftstellerlectüre  in  den  oberclassen  erklärt, 
die  jetzt  gangbaren  erklärenden  Schulausgaben  verführen  im  allge- 
meinen nicht  zu  einer  übermäszigen  betonung  des  grammatischen, 
nach  ausweis  der  schulprogramme  werden  heutzutage  von  den  schul- 
schriftstellern  ungleich  umfänglichere  abschnitte  als  früher  im  classen- 
unter nebte  bewältigt,  nach  alledem  kann  kaum  angenommen  werden, 
dasz  der  misbrauch  der  schriftstellerlectüre  zu  einseitig  gramma- 
tischen zwecken  in  dem  masze  besteht,  wie  man  dies  nach  der  schärfe 
der  dahin  gehenden  häufigen  anklagen  anzunehmen  verführt  sein 
könnte,  dasz  ältere  schüler  diesen  Vorwurf  gegen  ihre  lehrer  häufig 
erhoben  haben  und  bis  zur  stunde  noch  erheben,  glauben  wir  gern, 
eine  auslegung,  welche  auf  genauestes  Verständnis  der  einzelnen 
sprachlichen  Wendungen  wie  der  gedankenzusammenhänge  dringt, 
wird  dem  phantasievollen  Jüngling,  um  von  dem  blasierten  gar  nicht 
zu  reden,  immer  unbequem  sein,  sehr  leicht  wird  derselbe  daher 
über  trocken-philologische  behandlung  klagen,  auch  dann,  wenn  der 
Unterricht  bezüglich  des  genauen  erfassens  des  gelesenen  nur  durch- 
aus billige  anforderungen  stellt. 

Wesentlich  beachtlicher  erscheinen  mir  die  oben  unter  3  und 
4  aufgeführten  ein  Wendungen ,  welche  füglich  zu  einer,  wenigstens 
für  den  vorliegenden  zweck,  zusammengefaszt  werden  können,  indem 
ich  dies  ausspreche,  bin  ich  mir  bewust,  auf  strittiges  gebiet  meinen 
fusz  zu  setzen,  musz  auch  verschiedentlicher  misdeutungen  gewärtig 
sein,  der  ernst  der  läge,  in  der  sich  das  höhere  Schulwesen  jetzt 
befindet,  hilft  mir  aber  über  diese  bedenken  hinweg,  so  hoch  ich 
auch  den  wert  der  sprachlichen,  insbesondere  der  altsprachlichen 
schulstudien  veranschlage,  so  entschieden  hege  ich ,  und  zwar  schon 
seit  langen  jähren,  die  Überzeugung,  dasz  wir  Deutschen  dazu 
neigen,  die  bildende  kraft  des  grammatischen  Unterrichts  zu  über- 
schätzen, 'grammatik  ist  angewandte  iogik', f wer  gut  grammatisch 
geschult  ist,  hat  klar  denken  gelernt',  diese  und  ähnliche  sätze  hat 
man  noch  unlängst  im  schulstreite  von  hochachtungswerter  seite 
aussprechen  hören,  gern  gebe  ich  zu,  dasz  zur  allseitigen  Schulung 
und  geschmeidigmachung  des  geistes  nichts  wirksamer  sein  kann 

37* 


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580   Die  dehnung  des  syntaktischen  unterrichte  in  den  alten  sprachen. 

als  viele  jähre  lang  gründlich  betriebene  Übungen  im  übersetzen  aus 
einer  spräche  in  die  andere,  verbunden  mit  der  auslegung  bedeuten- 
der fremdsprachlicher  meisterwerke ;  nicht  minder  lege  natürlich  auch 
ich  einen  groszen  wert  auf  diejenige  einsieht  in  den  eigenartigen  bau 
einer  spräche,  welche  die  grammatik  vermittelt,  nur  soll  man  dieser 
letzteren  —  ich  spreche  nur  von  derauf  schulen  betriebenen  gram- 
matik —  nicht  mit  lobsprüchen,  wie  ich  sie  eben  angeführt  habe, 
einen  nimbus  geben  wollen,  den  sie  nicht  verdient,  indem  der 
mensch  denkt  und  seine  gedanken  zusammenhängend  äuszert,  voll- 
zieht er  unbewust  logische  processe.  er  sucht  seine  Vorstellungen 
zu  begriffen  abzuklären,  er  urteilt,  er  schlieszt,  er  verbindet  schlusz- 
reihen  zum  beweis  usw.  was  aber  die  grammatik  anbelangt,  welche 
der  spräche  ja  doch  gegenübersteht  wie  ein  herbarium  der  leben- 
digen pflanzenweit,  so  bin  ich  völlig  auszer  stand,  deren  logischen 
gehalt  sonderlich  hoch  zu  veranschlagen,  die  denkbezieh  ungen, 
welche  für  den  menschlichen  geist  bestehen  zwischen  ding  und  eigen- 
schaft,  dem  teil  und  dem  ganzen,  der  Ursache  und  Wirkung  usw. 
lassen  sich  selbstverständlich,  soweit  dies  die  mühe  lohnt,  auch  auf 
syntaktischem  gebiet  verfolgen ;  nichts  hindert,  die  b9sprechung  ge- 
wisser Spracherscheinungen  nach  den  Schablonen  der  logischen  Urteils- 
lehre  zu  ordnen,  wenn  man  dies  irgendwie  für  ersprieszlich  erachtet. 

Was  die  spräche  aber  beherscht,  sind  nicht  die  reinen  denk- 
formen, sondern  die  sinnlichen  grundanschauungen  und,  so 
weit  geistiges  zum  ausdruck  kommen  soll,  poetisch -bildliche  auf- 
fassungen.  den  einen  wie  den  anderen  nachzugehen  ist  ebenso 
interessant  als  vielseitig  bildend,  dadurch  erst  erhält  das,  was 
die  grammatik  unter  ihren  zusammenfassenden  trockenen  rubriken 
aufführt,  leben  und  rechtes  licht,  zieht  man  dazu  noch  die  wort- 
bildungslehre,  die  Sprachgeschichte,  die  Volkssprache  herbei,  so  erhält 
man  für  hunderterlei  dinge  befriedigende  erklärungen,  welche  sonst 
als  willkürlichkeiten  erscheinen  müssen,  dasz  die  dickleibigen  gram- 
matiken  früherer  zeit,  die  von  Zumpt,  Buttmann,  Thiersch 
u.  a.,  es  sich  angelegen  sein  lieszen ,  die  Spracherscheinungen  nicht 
nur  aufzuführen,  sondern  bis  zu  einem  gewissen  grade  aus  der  ge- 
schiente der  spräche  heraus  zu  erklären,  hat  dem  anfänger,  der  nach 
ihnen  unterrichtet  wurde ,  manche  herbe  pein  bereitet;  aber  solch* 
ein  buch  sorgfältig  durchgenommen  zu  haben  war  auch  ein  erheb- 
licher gewinn  für  die  ganze  geistige  entwicklung.  je  kürzer,  kate- 
chi  sinusartiger  unsere  schul  Grammatiken  werden,  je  mehr  (und  zwar 
aus  guten  pädagogischen  gründen)  das  leben  aus  ihnen  weicht,  wel- 
ches in  der  fülle  der  verschiedenartigen  einzelheiten  liegt,  um  so 
rascher  gelangt  einerseits  der  anfänger  zur  kenntnis  der  für  den 
nächsten  gebrauch  unentbehrlichsten  haupt-  und  grundregeln,  um  so 
geringer  wird  aber  anderseits  die  bildende  kraft  der  von  ihm  be- 
triebenen grammatischen  arbeit,  das  bekannte  wort :  'die  grammatik 
bietet  keine  gesetze,  sondern  nur  Zusammenfassungen  gleicher 
oder  ähnlicher  erscheinungen  und  daraus  gezogene  geböte  wie 


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Die  dehnung  des  syntaktischen  Unterrichts  in  den  alten  sprachen.  581 

verböte'  musz  voll  berechtigt  erscheinen  gegenüber  behandlungen 
der  hauptsächlichsten  Spracherscheinungen,  welche  es  in  erster  linie 
auf  kürze  und  bequeme  Übersichtlichkeit  anlegen,  wenn  in  einer 
lateinischen  syntax,  um  ein  beispiel  anzuführen,  unter  der  rnbrik 
'dasz-sätze'  oder,  wie  man  sie  sonst  bezeichnen  mag,  infinitiv,  parti- 
cipium,  quod,  ut,  quin,  quominus  nach  einander  aufgeführt  werden 
mit  den  erforderlichen  gebrauchsanweisungen,  so  wird  sich  vom 
praktischen  Standpunkte  aus  dagegen  nichts  einwenden  lassen,  aber 
jede  dieser  ausdrucksweisen  hat  ihre  eigenartige  entstehung  und  be- 
sondere geschichte.  dadurch,  dasz  sie,  so  zu  sagen,  als  synonyma 
neben  einander  aufgeführt  werden,  wird  das  wahre  wesen  jeder  ein- 
zelnen unleugbar  verdunkelt  und  schiefen  auffassungen  Vorschub 
geleistet. 

Man  könnte  sagen:  je  mehr  unsere  scbulgrammatiken  von  einzel- 
heiten,  insbesondere  von  ausnahmen  entlastet  werden,  um  so  maje- 
stätischer, nicht  von  Schnörkeln  entstellt,  tritt  dem  lernenden  der 
auf  bau  des  ganzen  entgegen,  um  so  mehr  kann  der  vereinfachte 
lernstofF  zu  denkübungen  aller  art  ausgenutzt  werden,  das  wäre 
sicher  richtig,  wenn  die  spräche  überwiegend  angewandte  logik 
wäre;  dies  aber  haben  wir  bereits  oben  in  abrede  gestellt,  ein 
systematiker,  der  die  absieht  verfolgt,  den  unsäglich  manigfaltigen 
und  dehnbaren  usus  einer  ausgebildeten  spräche  in  ein  regelwerk 
zu  zwängen,  musz  demselben  bis  zu  einem  ziemlichen  grade  ge  walt 
antbun,  je  kunstvoller  gegliedert  dieses  ist,  um  so  mehr,  wie  hat 
man  sich  bis  auf  diese  stunde  gemüht,  die  casus-,  tempus-  und 
moduslehren  der  verschiedenen  sprachen  aus  gewissen  einfachen 
grundgedanken  schematisch  herzuleiten  1  welchen  fund  meinte  man 
seiner  zeit  gethan  zu  haben,  als  man  für  die  nebensätze  die  getrennte 
aufführung  der  Substantiv-,  adjectiv-  und  adverbialsätze  ausgeklügelt 
hatte,  für  die  tempora  die  Unterscheidung  von  zeitart  und  zeitstufe, 
selbständigem  und  bezogenem  gebrauch  usw.  sowie  man  aber  daran 
gieng,  den  lebendigen  Sprachgebrauch  in  diese  netze  einzufangen, 
überzeugte  man  sich,  dasz  wesentliche  stücke  desselben  zwischen 
den  maschen  durchglitten,  was  ist  nicht  alles  gesammelt  und  theo- 
retisiert  worden  über  die  consecutio  temporum  im  lateinischen!  und 
noch  in  diesen  tagen  klagt  Landgraf  in  den  litteraturnach weisen 
zu  seiner  schulgrammatik  (s.  36),  dasz  kein  capitel  der  spräche 
proteusartiger  sei  als  dieses,  was  hat  man  für  aufhebens  aus  den 
bedingungssätzen,  zumal  im  griechischen,  gemacht,  als  handele  es 
sich  dabei  um  die  verschiedensten  und  schwierigsten  denkfragen, 
während  für  die  logik  sogar  die  beiden  grundformen  'wenn  A  ist, 
so  ist  B'  und  'wenn  A  wäre ,  so  wäre  B'  zusammenfallen ,  insofern 
hier  wie  dort  nichts  anderes  ausgesagt  wird,  als  das  bedingtsein  von 
B  durch  A. 

Alles  das  werde  beileibe  nicht  so  aufgefaszt,  als  sei  einsender 
den  grammatischen  Studien  abhold  oder  wisse  diese  nicht  gebührend 
zu  schätzen,   das  gegenteil  ist  der  fall,  aber  gerade  weil  er  sie  zu 


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582   Die  dehnung  des  syntaktischen  Unterrichts  in  den  alten  sprachen. 

schätzen  weisz  und  sein  lebelang  eifrig  betrieben  hat,  will  er  nicht, 
dasz  man  jede  kürzung  des  schulgranimatik-unterrichts  als  eine 
einbusze,  wohl  gar  gleich  als  eine  schwere  einbusze  ansehe,  welche 
die  lernende  jugend  erleide,  die  klage,  dasz  der  syntaktische  Unter- 
richt der  mittelclassen  in  beiden  alten  sprachen  zu  sehr  gedehnt 
werde,  ist  eine  oft  erhobene  und  meines  erachten*  eine  durchaus 
berechtigte. 

Welchen  nutzen  kann  es  bringen,  mit  dem  dürftigen  gerippe 
von  syntax ,  welches  unsere  neueren  schulgrammatiken  bieten ,  sich 
jahrelang  in  ein  paar  wochenstunden  herumzuschlagen?  eine  ein- 
sieht in  das  wesen  der  meisten  syntaktischen  erscheinungen  lfiszt 
sich  auf  grund  des  kärglichen  Stoffes,  welchen  jene  bücher  bieten, 
schlechterdings  nicht  erzielen,  dazu  müste  zurückgegangen  werden 
auf  die  anfange  der  spräche,  die  grundbedeutungen  der  Wörter,  müste 
volkstümliches,  dichterisches,  nachclassisches  herbeigezogen,  müste 
—  kurz  gesagt  —  alles  das  wieder  beigebracht  werden,  was  die 
neueren  Schulbücher  mit  mühe  ausgeschieden  haben,  oder  will  man 
philosophieren  über  die  grundanschauungen ,  auf  denen  die  casus-, 
tempus-,  moduslehre  ruht?  dabei  kommt  wenig  genug  greifbares 
und  für  die  jugend  nutzbares  heraus;  dazu  läuft  man  noch  beständig 
gefahr,  die  zu  behandelnde  spräche  in  ein  Prokrustesbette  zu  spannen. 

Dasz  die  unerläszliche  mündliche  und  schriftliche  einübung  des 
in  der  grammatikstunde  gelernten  ein  gewisses  masz  von  zeit  in 
anspruch  zu  nehmen  hat,  ist  selbstverständlich,  aber  dieses  musz 
im  Verhältnis  stehen  zu  dem  umfange  des  behandelten  grammatischen 
Stoffes,  etwas  anderes  ist  es  doch,  ob  im  griechischen  die  lehre  vom 
artikel,  vom  genus  verbi,  von  den  präpositionen  usw.  nach  K.  W. 
Krüger  oder  Härtel,  nach  Buttmann  oder  Gerth  behandelt 
worden  ist.  erforderlich  ist  freilich,  dasz  neben  kurzgefaszten  gram- 
matiken  auch  die  entsprechenden  Übungsbücher  im  gebrauche  sind, 
sonst  treten  durch  das  Übungsbuch  alle  die  knaupeligen  einzelheiten 
des  Sprachgebrauchs  an  den  anfänger  heran,  welche  der  Verfasser 
der  Schulgrammatik  aus  guten  gründen  demselben  hat  zunächst  er- 
sparen wollen. 

Man  wende  nicht  ein,  dasz  die  gründlichkeit  der  grammatischen 
Schulung  durch  eine  kürzung  und  beschleunigtere  durchnähme  der 
syntax  einbusze  erleide,  in  früheren  jahrzehnten  hat  man  es  erprobt, 
wie  viel  bei  einer  gedehnten,  alle  einzelheiten  gewissenhaft  mit- 
nehmenden behandlung  herauskommt  man  hat  sich  überzeugt,  dasz 
dem  lernenden  dabei  dumm  im  köpfe,  dasz  er  dabei  zudem  das 
bedrückende  geftihl  nicht  los  wird,  als  sei  er,  wohin  sein  blick  sich 
auch  wende ,  von  zahlreichen  engmaschigen  regelnetzen  umspannt 
dasz  man  diese  erfahrung  vielfältig  gemacht  hat,  wird  am  besten 
durch  die  thatsache  bezeugt  dasz  an  zahlreichen  schulen  schon  früher 
neben  den  umfänglichen  schulgrammatiken  kurze,  nur  wenige  bogen 
umfassende  Übersichten  über  die  syntax  —  geschrieben  oder  ge- 
druckt —  im  gebrauche  waren. 


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Die  dehnung  des  syntaktischen  Unterrichts  in  den  alten  sprachen.  583 

Jetzt  will  man  es  nun  anders  machen,  man  will  als  lernbücher 
kurze  abrisse  benutzen  und  ausführlichere  grammatiken  nur  als 
nachschlagebticher  in  den  händen  oberer  schüler  sehen,  der  zu- 
sammenhängende Unterricht  in  der  grammatik  soll  nur  das  unerläsz- 
liebste,  gleichsam  das  gerippe  geben,  die  fülle  der  einzelheiten, 
welche  sich  in  den  früheren  schulgram matiken  so  breit  machte,  soll 
—  so  weit  dies  im  einzelnen  falle  überhaupt  nötig  erscheint,  —  erst 
dann  zu  gelegentlicher  besprechung  kommen ,  wenn  ein  bestimmter 
anlasz  gegeben  ist. 

Will  man  dieses  verfahren  ungründlich  nennen,  so  thue  man 
es.  ich  finde  es  nur  vernünftig  und  saebgemäsz.  was  soll  dem  an- 
fanger, der  eben  erst  im  allgemeinen  orientiert  und  mit  den  nötigsten 
gebrauchs regeln  versehen  werden  soll,  der  hinweis  auf  einzelfälle, 
die  ihm  zunächst  ganz  fern  liegen,  auf  mögliche  Verwickelungen 
unter  den  oder  jenen  Voraussetzungen,  welche  erst  künstlich  an  ihn 
herangebracht  werden  müssen?  aber  auch  sachlich  ist  es  gerecht- 
fertigt, wenn  syntaktische  einzelheiten  erst  dann  besprochen  werden, 
sobald  ein  praktischer  anlasz  dazu  vorliegt,  d.  h.  vornehmlich  dann, 
wenn  sie  bei  der  classenlectüre  vorkommen,  treten  sie  doch  erst  dann 
in  das  rechte  licht,  manches  an  sich  befremdliche  erscheint  nicht 
auffällig  in  dem  oder  jenem  Zusammenhang,  findet  ausreichende  er- 
klärung  in  dem  gedachten  oder  ausgesprochenen  gegensatze,  in 
nebengedanken,  die  dem  schriftsteiler  vorschweben,  in  angleichun- 
gen  der  einen  ausdrucksweise  an  die  andere,  in  der  gewählten  stil- 
gattung,  in  einer  gewissen  manier  des  Schriftstellers  usw.  so  erklären 
sich  z.  b.  zahlreiche  Sonderbarkeiten  in  bezug  auf  tempus-,  modus- 
gebrauch ,  consecutio  temporum  usw. ,  welche  aus  dem  Zusammen- 
hang gerissen,  befremdlich  erscheinen  müssen,  ziemlich  leicht  in  und 
aus  demselben,  hier  verstattet  sich  der  Schriftsteller  mit  oder  ohne 
bewustsein  dichterische  freiheiten,  dort  beliebt  es  ihm  im  altertüm- 
lichen stil  oder  im  trocknen  geschäftsstil  zu  schreiben,  hier  wagt  er 
eine  ganz  ungewöhnliche  ausdrucksweise  um  einer  bestimmten  red- 
nerischen Wirkung  willen,  dort  verliert  er  den  faden  des  strengen 
satzbaus  oder  läszt  ihn  absichtlich  fallen ,  um  den  eindruck  volks- 
tümlicher zwanglosigkeit  zu  machen,  genug,  die  volle,  zutreffende 
erklärung  finden  die  meisten  grammatischen  curiosa  erst  im  zu- 
sammenhange der  rede,  die  persönliche  gepflogenheit  und  liebhaberei 
der  einzelnen  Schriftsteller  spielt  auch  in  syntaktischen  dingen  eine 
gröszere  rolle,  als  der  nicht-kenner  anzunehmen  geneigt  ist.  wie 
grosze  Verschiedenheiten  bestehen  unter  nahezu  gleichzeitigen  grie- 
chischen Prosaikern  bezüglich  des  gebrauchs  des  artikels,  der  prä- 
positionen,  der  genera  verbi!  fast  noch  mehr  gilt  dies  von  den 
römischen  Prosaschriftstellern,  was  conjunetivgebrauch  und  con- 
secutio temporum  anbelangt,  so  ist  man  bekanntlich  berechtigt,  von 
bestimmten  eigentümlichkeiten  der  Ciceronianischen  rede  zu  sprechen, 
gewisse  grenzlinien  in  bezug  auf  den  gebrauch  einzelner  pronomina, 
Präpositionen,  einzelner  infinitiv-  und  participialconstructionen  halten 


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584  Die  dehnung  des  syntaktischen  Unterrichts  in  den  alten  sprachen. 

nur  Cicero  und  Caesar  annähernd  gleich  streng  ein.  andere  syntak- 
tische gebrauchsweisen  finden  sich  vorhersehend  bei  Sallust,  Livius, 
Tacitus.  wenn  somit  das  meiste  von  dem,  was  die  älteren  gramma- 
tiken  in  ihren  reichlich  bemessenen  anmerkungen  zu  bieten  pflegten, 
erst  bei  behandlung  der  einzelnen  Schriftsteller  das  rechte  licht  er- 
hält, ist.  es  nicht  auch  sachlich  gerechtfertigt,  derartiges  im  anschlusz 
an  die  leetüre  zu  behandeln? 

Aber  verfällt  man  damit  nicht  aus  einem  übel  in  das  andere, 
wenn  man  die  zusammenhängende  grammatische  Unterweisung  be- 
schränkt und  dafür  die  leetüre  mit  grammatik  belastet?  wir  ver- 
kennen nicht,  dasz  dieser  einwand  gewichtig  ist  und  nicht  leichtbin 
zu  beseitigen,  er  verliert  aber  bedeutend  an  schärfe,  wenn  man 
unterscheidet  zwischen  der  ganzen  in  jeder  woche  für  die  schrift- 
stellerlectüre  zur  Verfügung  stehenden  zeit  und  den  halben  oder 
ganzen  stunden,  in  denen  zusammenhängend  übersetzt  wird,  die 
Übersetzung,  sobald  sie  einmal  im  gange  ist,  wünschen  auch  wir 
durch  nichts  fremdartiges  unterbrochen  zu  sehen,  durch  gramma- 
tische so  wenig  wie  durch  antiquarische ,  geschichtliche,  ästhetische 
und  sonstige  bemerkungen.  hat  der  schriftsteiler  einmal  das  wort, 
so  werde  er  gehört  ohne  Zwischenrufe  und  zwischenreden,  wird  aber 
ein  abschnitt  im  voraus  oder  nachträglich  besprochen  nach  inhalt, 
gedankenzusammenhang,  vorkommenden  sachlichen  und  sprachlichen 
einzelheiten,  so  ist  die  grammatik  wohl  ebenso  berechtigt  zu  worte 
zu  kommen  wie  mythologie,  altertümer  und  litteraturgesebichte. 
den  schreiern  auf  dem  markte  ist  das  natürlich  nicht  einleuchtend, 
soweit  diese  überhaupt  von  griechischer  und  römischer  schriftsteller- 
lectüre  noch  etwas  wissen  wollen,  vergönnen  sie  derselben  nur  in 
soweit  bis  auf  weiteres  das  gnadenbrot,  als  dieselbe  in  rden  geist 
des  alter  tu  ms  einführt',  politische,  nationalöconomische  und  ästhe- 
tische Weisheit  lehrt,  man  braucht  aber  nur  ein  paar  hundert  verse 
von  Sophokles,  einige  capitel  des  Tacitus  im  urtext  ordentlich  ge- 
lesen zu  haben,  um  zu  der  einsieht  zu  kommen,  dasz  keiner  der  be- 
zeichneten schätze  sich  ohne  scharfes  sprachliches  Verständnis  heben 
läszt,  dieses  aber  nicht  möglich  ist  ohne  einen  festen  grammatischen 
grund. 

Wir  täuschen  uns  darüber  nicht,  dasz  der  eben  ausgesprochene 
satz  von  der  unentbehrlichkeit  des  festen  grammatischen  grundes  so 
ausgebeutet  und  an  die  spitze  gestellt  werden  kann,  dasz  der  ganze 
unfug  vergangener  Zeiten  unter  dieser  losung  sich  wieder  einstellt, 
aber  welcher  pädagogische  satz  liesze  sich  nicht  gröblich  misver- 
stehen,  so  dasz  das  heil  zum  unheil  verkehrt  wird?  uns  kam  es  nur 
darauf  an,  der  neuerdings  so  oft  und  so  zuversichtlich  ausgesproche- 
nen bebauptung  entschieden  entgegenzutreten,  die  grammatik  — 
soweit  man  sie  Uberhaupt  noch  leiden  mag  —  sei  jedenfalls  mit  den 
mittelclassen  abzutbun,  so  dasz  die  oberclassen,  unbehindert  durch 
solche  fesseln,  im  geiste  der  autoren  schwelgen  könnten,  das  letztere 
erklären  wir  einfach  für  unmöglich,  wenn  man  nicht  unter  dem 


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Die  dehnung  des  syntaktischen  Unterrichts  in  den  alten  sprachen.  585 


'geist  der  autoren'  schöne  redensarten  über  diese  autoren  und  das 
von  ihnen  behandelte  versteht. 

Zum  glück  bedarf  es  aber  auch  für  einen  gereiften  schüler,  der 
im  regelmäszigen  spracbgebrauche  gut  geschult  ist,  nicht  langer,  ins 
einzelne  gehender  ausftthrungen,  sondern  nur  einzelner  wohlerwoge- 
ner winke ,  um  denselben  in  die  sprachliche  eigenart  eines  Schrift- 
stellers einzuführen,  es  ist  durchaus  nicht  nötig,  ja  nicht  einmal 
erstrebenswert,  dasz  dem  schüler  alles  neue,  was  bei  einem  schrift- 
steiler an  sprachlichen  erscheinungen  ihm  entgegentritt,  auch  klar 
bewust  wird,  sind  ihm  nur  einige  gesichtspunkte  gegeben ,  unter 
denen  er  die  eigenart  eines  autors  sich  zurecht  legen  kann,  so  ist 
ihm  im  wesentlichen  geholfen,  hat  er  seiner  zeit  achtsam  seinen 
Sali u. <t  und  Vergils  Aeneide  gelesen,  so  wird  er  bei  einigen  nach- 
helfenden winken  sich  ohne  zweifei  rasch  in  die  werke  des  Tacitus 
einlesen  und  diese  in  nicht  zu  langer  zeit  auch  nach  der  sprachlichen 
seite  genügend  zu  erfassen  wissen,  auch  in  die  abweichungen  der 
Homerischen  wie  der  Sophokleischen  syntax  von  der  der  attischen 
Prosaiker  pflegen  sich  erfahrungsmäszig  schüler  leicht  hineinzufinden, 
wenn  ihnen  nur  ein  dann  und  wann  eingestreutes  ttukvöv  £ttoc  des 
lehrers  den  rechten  weg  weist. 

Dazu,  dasz  die  lectürestunden  mit  grammatik  nicht  übermäszig 
behelligt  werden,  können  aber  auch  —  was  bis  jetzt  noch  gar  nicht 
erwähnt  worden  ist  —  die  schriftlichen  Übungen  erheblich  beitragen, 
es  ist  gar  nicht  anders  möglich,  als  dasz  aus  anlasz  derselben  vielerlei 
besprochen  wird,  was  über  den  bereich  der  schulgrammatik  hinaus- 
liegt, neben  lexikalischem,  synonymischem  und  stilistischem  musz 
dabei  auch  grammatisches  aller  art  zur  erörterung  kommen,  sicher 
aber  wird  es  sich  so  einrichten  lassen,  dasz  alles  für  Bchüler  nötige 
von  grammatischen  dingen,  was  die  schulgrammatik  nicht  bietet, 
bei  der  lectüre  und  bei  den  schriftlichen  Übungen  nach  und  nach 
zur  spräche  gebracht  wird,  ohne  dasz  die  idealen  aufgaben  des  latein- 
unterrichts  dadurch  beeinträchtigt  werden,  den  kreis  des  für  schüler 
nötigen  wird  man  zudem  erheblich  enger  ziehen  dürfen,  nachdem  in 
den  meisten  deutschen  Staaten  die  vielgeschmähten  freien  lateini- 
schen aufsätze  beseitigt  und  die  Übersetzungen  ins  griechische  er- 
heblich beschränkt  worden  sind ;  manches  wird  fortan  unbedenklich 
dem  Sprachgefühl  überlassen  werden  können,  was  bisher  durch- 
gesprochen und  eingeübt  werden  muste. 

Die  einsieht,  dasz  unsere  mittelclassen  —  alle  drei  fremd- 
sprachen  zusammengerechnet  —  bis  jetzt  mit  viel  zu  viel  grammatik 
gefüttert  worden  sind,  gewinnt  erfreulicherweise  auch  in  lehrerkreisen 
immer  mehr  boden.  das  gute  hat  wohl  die  Schulreformbewegung, 
welche  nach  anderen  Seiten  so  viel  unheil  gestiftet  hat,  gewirkt, 
dasz  man  zwischen  den  beiden  extremen,  dem  überladen  der  jugend 
mit  grammatik  und  dem  beiseiteschieben  aller  systematischen  gram- 
matischen Unterweisung  einen  verständigen  mittelweg  suchen  wird. 

Dresden.  Theodor  Vogel. 


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586    Die  lat  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 

(48.) 

DIE  LATEINISCHE  CASüSSYNTAX 
AUF  GRUNDLAGE  VON  CAESAR  (BELL.  GALL.  I— VII) 

UND  NEPOS. 
(schlusz.) 

D.  Ablativus. 16 

Der  eigentliche  ablativ  auf  die  frage  woher? 

1)  die  verba  der  trennung  abesse,  cedere  u.  a. 

abesse  a  (bei  personen;  Sachen  in  räumlicher  oder  zeitlicher  be- 
deutung;  in  übertragener  bedeutung  wie  VI  3,  5  ab  consilio  abesse 
sich  nicht  beteiligen  an)  28 mal;  in  toto  abessent  hello  ,  VII  63,  7 
ist  der  abl.  nicht,  wie  Heyn,  will,  abhängig  von  abesse,  sondern  abl. 
temporis.  zu  abesse  c.  dat.  (I  36,  5)  vgl.  Kr.-Dtt.  —  absistere  a  1; 
abire  e  conspectu  1 ;  abstinere  proelio  1 ,  a  mulieribus  VII  47,  5 
(a  fehlt  ß);  avertere  a  4;  abstrahere  a  III  2,  5;  abdere  (entfernen)  a 
VII  79,  2;  also  die  composita  mit  a  wiederholen  die  präposition, 
namentlich  örtlich ;  nur  abstinere  proelio ;  vgl.  Nep.  Ages.  2,  5  (se 
abstinere  cibo).  im  b.  civ.  averto  a  5;  abl.  III  21,  5. 

cedo  loco  1 ;  auch  b.  civ.  so  2 ;  cedere  ex  VII  80,  8.  —  III  5,  3 
commovere  se  ex  loco  (so  «);  jedoch  steht  bei  Caes.  commovere  nur 
in  übertragener  bedeutung,  fast  immer  im  passiv;  vgl.  Schneider 
JGW.  1885  s.  156;  also  lies  mit  ß  movere,  vgl.  b.  Gall.  II  31,  3; 
b.  civ.  III  92,  1;  II  17,  2;  17,  3.  —  continere  suos  a  proelio  1;  se 
convertere  ab  aliquo  1. 

Composita  mit  de:  decedere  de  örtlich  2;  decidere  equo  1;  de- 
currere  ex  montibus  III  2,  4;  deducere  örtlich:  de  V  51,  2  (TU  e 
vallo);  ex  I  44,  11;  IV  30,  2;  VII  81,  6;  87,  4;  87,  5;  deficere 
s.  beim  accusativ;  deicere  mit  abl.  3  örtlich,  3  bildlich  (spe  u.  a.); 
deligere  ex  7;  demigrare  de  1,  ex  1;  demittere  de  1;  bildlich  animo 
se  d.  VII  29,  1 ;  deminuere  de,  einer  sache  abbruch  thun  3  (de  bene- 
volentia,  voluptate,  iure);  depello  c.  abl.  3  local;  derivare  aquam  ex 
flumine  1 5  desilire  de  1;  ex  5  (equis,  navi,  essedis);  desistere  c.  abl. 


16  Heynacher  hat  den  ablativ  am  ausführlichsten  behandelt,  fast 
überall  gibt  er  eine  angäbe  der  einzelnen  stellen;  aus  rauraersparnis 
werde  ich  mich  also  kürzer  fassen  können,  im  allgemeinen  werde  ich 
mich  damit  begnügen,  in  zahlen  anzugeben,  wie  oft  die  einzelne  erschei- 
nung  bei  Caes.  sich  findet;  dennoch  bedarf  das  betreffende  capitel  bei 
Heynacher  mancher  ergänzungen  und  berichtigungen.  —  Die  ansichten 
über  eine  praktische  gruppierung  der  einzelnen  Unterarten  innerhalb 
des  dreigeteilten  ablativus  scheinen  vielfach  verschieden  zu  sein.  vgl. 
auszer  den  grammatiken  z.  b.  Lattmann,  progr.  Clausthal  1885  s.  36; 
v.  Kobilinski  ZGW.  1886  s.  714;  Fügner  JP.  1887  s.  113.  grundlegend 
ist  bekanntlich  Delbrücks  schrift  'ablativ,  localis,  instrumeutalis  im  alt- 
indischen' usw.   Berlin  1867. 


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Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos.  587 

bildlich  8  (VII  12,  1  ab  oppugnatione  ß,  vgl.  b.  civ.  II  12,  3);  de- 
terrere  ab  consilio  1 ;  detrahere  de  1 :  detrudere  c.abl.  örtlich  II  21, 5 
(ß  detrabenda) ;  statt  deturbare  de  VII  81,  2  (ß  auszer  TH)  ist  wohl 
mit  PBMH,  edd.  proturbare  zu  lesen,  darauf  weist  hin  perturbare 
BT;  deturbare  ex  VII  86,  5. 

Composita  mit  ex:  educere  copias  castris  2,  sonst  ex  castris 
(hibernis,  finibus,  oppido)  18 mal;  efferre  domo  I  5,  3;  egredi  c.  abl. 
local  5  (IV  21,  9  hat  TU  ex  nave),  ex  14 mal  (e  castris  u.a.);  eicere 
domo  1;  sonst  5 mal  se  eicere  ex  oppido  u.a.;  elabi  ex  proelioV37,  7 
(so  ß;  lapsi  or,  Nipperdey);  elicere  ex  1;  eligere  ex  1;  eminere  ex  1, 
vgl.  VII  73,  3  (ab  ramis);  emittere  c.  abl.  2,  ex  3;  eripere  ex  3 
(manibus,  periculo);  erumpere  ex  1;  evadere  ex  fuga  1;  evocare 
Tolosa  III  20,  2;  evolare  ex  2;  excedere  c.  abl.  örtlich  10  mal,  sogar 
GalliaVII  66,  3  (vgl.  b.  civ.  I  27,  2;  II  32,  3  Italia);  ex  6;  excellere 
ex  ceteris  VI  13^9;  excludere  a  re  frumentaria  VII  56,  9  (a  fehlt 
LTUV),  a  navigatione  V  23,  5  (a  fehlt  /?);  exire  domo  3;  ex  3; 
de  finibus  1 ;  expellere  c.  abl.  local  6;  ex  3;  exponere  ex  navibus  1 ; 
exstare  ex  aqua  1. 

intercluderealiquem  frumento,  reditu  u.a.  6;  intercludere  fugam 
alicuius  1;  itineribus  interclusis  2,  commeatu  intercluso  1;  i.  ab 
exercitu  1 ,  a  praesidio  1 ;  interdicere  alicui  aliqua  re  3  (1  aqua 
et  igni). 

labi  spe  1;  levare  aliquem  hibernis  1 ;  liberare  obsidione  u.a.  3. 
movere  ex  I  15,  1 ;  III  15,  3;  VII  8,  5. 

praecipitare  de  muro  VII  33,  1  (so  0;  muro  a);  procedere  ab 
Alesia  VII  80,  9 ;  procurrere  ex  V  44,  6 ;  prodire  ex  VI  38,  2 ;  pro- 
ducere  ex  VII  45,  2;  profugere  3;  progredi  ex  2;  prohibere  com- 
meatu, pugna  15;  pr.  aliquem  ab  iniuria  II  28,  3;  V  21,  1 ;  VI  23,  9 
(a  fehlt  T  L  H  S) ;  a  pugna  IV  34, 4 ;  ab  oppidis  vim  hostium  I  1,14; 
zu  VI  10,  5  vgl.  Kr.-Dtt.,  Db.-Dtt. ;  vgl.  defendere  aliquem  ab  in- 
iuria 2;  vgl.  VII  23,  5;  se  def.  ab  aliquo  2;  se  proicere  ex  1;  pellere 
ex  1;  proturbare  de  1. 

recedere  ex  V  43,  6;  reducere  a  V  26,  3;  VII  51,  4;  88,  5;  ex 
Britannia  IV  38,  1 ;  removere  ex  conspectu  1 ;  a  2;  repellere  ab  hac 
spe  1 ;  revocare  ab  agricultura  III  17,  4. 

solvere  ex  portu  IV  28,  1 ;  submovere  ex  1,  a  1. 

Composita  mit  dis  und  se:  differre  ab  5  (V  14,  1  und  VI  28,  5 
fehlt  a  in  a);  dimittere  aliquem  a  se*3;  ex  manibus,  ex  concilio  3; 
discedere  a  castris,  a  Rheno,  ab  officio  u.  a.  16 ;  oft  a  bei  personen; 
ex  castris  u.  a.  4;  discludere  a  VII  8,  2;  dissentire  ab  VII  29,  6; 
dividere  a  (bei  geographischen  bestimmungen)  7;  separare  a  1. 

Resultat. 

1)  die  composita  mit  a  wiederholen  die  präposition,  merke  ab- 
esse ;  nur  1  mal  abstinere  proelio  (Nep.  1). 

2)  selten  gebraucht Caes.  die  verba  simplicia  pello  (1  ex);  cedo 
(1  loco,  2  ex);  moveo  (1  ex). 


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588     Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 

3)  composita  mit  de  und  ex:  die  composita  mit  de  haben  im 
bildlichen  sinne  den  bloszen  abl. ,  merke  desistere  (8  mal),  örtlich 
steht  der  blosze  ablativ  8;  de  10 mal  (de  von  herab,  von  weg);  ex  2t 
(heraus ;  aber  auch  =  von  weg),  die  composita  mit  ex  haben  circa 
30  mal  den  bloszen  ablativ,  ca.  65  mal  ex.  also  die  composita  mit  de 
und  ex  wiederholen  häufiger  die  präposition.  Heynacher  s.  68:  'mit- 
hin wird  der  schüler  am  sichersten  gehen,  die  präposition  zu  wieder- 
holen, auszer  bei  expello,  excedo.'  es  ist  doch  wohl  nur  zufall,  dasz 
einem  10 maligen  excedere  c.  abl.  entgegensteht  6  maliges  excedere 
ex;  expello  c.  abl.  6;  3 mal  ex.  im  b.  civ.  4  expellere  ex;  6  blosze 
abl.;  excedere  ex  1;  blosze  abl.  öfter,  allerdings  excedere  auch  bei 
Cic,  Liv.  häufiger  blosze  abl.  als  ex,  vgl.  Schmalz  s.v.,  Kühner  s. 271 
expellere,  Schmalz  s.  v.  'wird  von  Cic.  und  Caes.  mit  abl.  oder  ex 
verbunden'. 

4)  die  composita  mit  dis  haben  a,  merke  discedere,  differre, 
divido;  separare  nur  1  mal. 

5)  andere  mit  prac ,  pro ,  sub,  re  zusammengesetzte  verba  wer- 
den nach  dem  sinne  mit  a,  de,  ex  verbunden. 

Für  Nep.  vgl.  Köhler  s.  33  ff. 

6)  merke  einzelne  Wendungen:  intercludere  aliquem  frumento, 
reditu  u.  a.  (intercludere  Nep.  0);  interdicere  alicui  aliqua  re  (C.  3, 
Nep.  Hann.  3,  2);  prohibere  aliquem  commeatu  hindern  an  (C.  oft, 
Nep.  Hann.  3,  4  transitu);  proh.  aliquem  ab  iniuria  schützen  vor; 
defendere  aliquem  ab  schützen,  verteidigen  vor  (C.  5,  Nep.  Them. 
7,  4;  Hann.  10,  5);  desistere  aliqua  re  (C.  8;  Nep.  Timoth.  2,  2  de 
aliqua  re);  liberare  obsidione  C.  3,  Nep.  7  (obsidione,  poena,  peri- 
culo) ;  deterrere  a  (C.  1 ,  Nep.  Milt.  7,  4  [a  deditione] ,  Dion  3,  3, 
Dat.  4,  5);  excludere  a  (C.  2,  N.  Them.  5,  1  reditu;  Cic.  blosze  abl. 
und  a). 

2)  bezeichnung  der  herkunft:  abstammend  von,  natus  meist  mit 
bloszem  ablativ  (sowohl  vom  vater,  als  auch  der  mutter),  seltener  ex 
(sowohl  vom  vater,  als  der  mutter);  ex  notwendig  beim  pronomen: 
also  Mercurius  Iove  et  Maia  natus  erat;  ex  nobis  natos  liberos  appel- 
lamus.  vgl.  Stegmann  JP.  1887  s.  257  —  8.  der  locus  classicus  für 
natus  mit  abl.  Cic.  nat.  deor.  3,  42 — 60  (mehr  als  40  belege),  für 
Caesar  vgl.  Heynacher  s.  45,  4;  für  Nep.  vgl.  Köhler  s.  27. 

ortus  a  bezeichnet  die  entferntere  abstammung;  zur  angäbe  des 
Standes  natus  (ortus)  genere  nobili. 

Anm.  natus  gebräuchlicher  als  ortus,  auch  bei  Caes.;  genitus 
kaum  classiscb,  Schmalz  A.  s.  v. 

3)  der  abl.  separationis  ohne  präposition  bei  den  verben  : 

a)  liberare  (C.  3,  N.  7).  C.  nur  noch  levare  V  27,  11 ,  N.  0; 
solvo,  ab-,  exsolvo  C.  N.  0. 

b)  berauben:  Heynacher  s.  44.  privo  C.  b.  Gall.  0,  N.  4;  spo- 
liare  C.  V  6,  5;  VII  66,  5;  N.  Thras.  2,  6;  Att.  9,  2;  de-,  exspoliare 
C.  je  1;  nudare  C.  3  (abs.  vom  lager  noch  II  23,  4;  VII  70,  7), 


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Die  lat.  caaussyntax  auf  grundiage  von  Caesar  und  Nepos.  589 

N.  Dat.  11,  1;  exuere  C.  4  (auch  IV  34,  5  vermutet  Menge  für  ex- 
pulissent  exuissent),  N.  0. 

Ell.-Seyff.'4  orbare,  privare,  spoliare,  nudare;17  Stegmann  fügt 
exuere  hinzu. 

c)  mangel  haben:  egeo  C.  VI  11,  4  c.  gen.  (b.  civ.  III  32,  4 
abl.);  N.  0;  indigeo  C.  0  (b.  civ.  II  35,  4  mit  abl.),  N.  4  mit  gen. 
(Cim.  4,  2;  de  reg.  3,  4;  Hann.  1,  3;  Thras.  2,  6),  3  mit  abl.  (Ages. 
7,  2,  Att.  9,  3;  21,  2).  Stegmann  JP.  1885  s.  235:  egeo,  indigeo 
c.  gen.  nur  vereinzelt;  Schmalz  A.  s.  v.  indigeo:  class.  abl.  seltener 
als  gen.  —  carere  C.  2,  N.  5;  vacare  C.  N.  0. 

muh is,  orbus,  inanis  C.  N.  0;  liber  ab  aliqua  re  C.  VII  56,  4, 
N.  Milt.  3,  4;  liber  ab  aliqua  re  nach  Stegmann  a.  o.  o.  s.  236  class. 
vereinzelt  (Cic.  off.  I  67);  vacuus  ab  aliquo  C.  II  12,  2;  VII  25,  4 
(ab  aliqua  re  b.  civ.  2,  auch  Cic.  nach  Stegmann),  N.  0. 

4)  opus  est:  mihi  opus  est  aliqua  re,  dagegen  haec,  multa  mihi 
opus  sunt.  vgl.  Stegmann  JP.  1887  s.  252.  vgl.  Caes.  I  34,  2; 
II  22,  1 ;  V  40,  6;  vgl.  I  42,  5  (si  quid  opus  facto  esset);  hingegen 
II  8,  5  quo  =  irgendwohin.  Nep.  Milt.  4,  3;  Epam.  4,  2;  Them. 
1,  3,  Att.  7,  1 ;  vgl.  Eum.  9,  1  (si  quid  opus  sit  facto). 

5)  ablativus  limitationis :  Heynacher  8.  34 — 35.  dieser  ablativ 
steht  a)  bei  den  verben  des  Übertreffens,  sich  auszeichnens,  vor- 
ziehens,  Vergleichens ,  gleichkommens :  superare  3,  antecedere  3, 
praestare  3,  praecedere  1,  excellere  VI  13,  9;  —  anteferre  1,  prae- 
ferre  V  54,  5 ;  —  comparare  VI  24,  6 ;  —  adaequare  VI  12,  7;  alicui 
parem  esse  V  34,  2;  VII  48,  4.  b)  nach  comparativen  ausdrücken: 

VI  28,  1  (uri  sunt  magnitudine  paulo  infra  elephantos);  VII  65,  4; 
I  43,  8 ;  3  mal  maior  natu,  c)  VI  15,  2  ut  quisque  est  genere  copiis- 
que  amplissimus;  VI  27,  1  alces  sunt  mutilae  cornibus;  VII  77,  15. 
oft  steht  ein  abl.  bei  posse,  valere,  derselbe  ist  meistens  instrumental 
aufzufassen  (z.  b.  I  9,  3;  20,  2;  II  17,  4;  VII  63,  2  u.  a.),  zuweilen 
ist  die  auffassung  als  abl.  limit.  zulässig,  II  17,  4;  III  20,  3  ;  V  3, 1; 

'  II  4,  5;  I  51,  1 ;  III  9,  6.  —  vgl.  ausdrücke  wie  aliquem  animo  con- 
firmare  V  49,  4;  II  21,  2;  VI  5,  3;  VII  30,  4  (confirmati  Nipp., 
Kr.-Dtt.;  consternati  codd.  Db.-Dt.  u.  a.)  —  animo  permoveri  VII 
31,1;  53,1;  animo  paraü  VII 19, 2;  19,5;  47,1.  d)  naturaVl3,l; 
iudicio  alicuius  VI  1 1,  3 ;  consensu  VII  77,  4  (modal  II  28, 2 ;  29,  5 ; 

VII  4,  6;  15,  1);  numero  7;  natione  1;  nomine  2.  e)  dignus  und 
indignus  3. 

Stegmann  rechnet  hierher  den  abl.  bei  den  verben  des  messens : 
C.  VI  18,  2. 

Nep.  Ages.  8,  1  Agesilaus  altero  pede  claudus  fuit  u.  a.  (Köhler 

17  die  anwendnng  der  verba  spoliare,  orbare,  nudare  ist  viel  allge- 
meiner als  meist  angenommen  wird:  spoliare  verbindet  Cic.  mit  bonis, 
copiis,  argento,  beneficio;  zu  nudare  vgl.  Verr.  V  184  (an  bedeckung, 
Schutz  nicht  zn  denken);  beim  seltenen  orbare  fehlt  der  begriff  des 
teuersten  bei  objecten  wie  militibus,  auxilio.  vgl.  v.  Kobilin.sk  i  progr. 
Königsberg  i.  Pr.  1890  s.  6. 


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590    Die  lat.  casussyntax  auf  gruudlage  von  Caesar  und  Nepos. 

s.  30.  35).  merke  nomine  3,  cognomine  4,  re  vera  3,  natione  2, 
genere  1,  natu  (maior,  maximus)  4  u.  a.;  opinione,  iudicio  je  1 ;  der 
abl.  limit.  bei  iudicare  praef.  3;  Paus.  3,  7,  Att.  13,  3;  metiri  tum. 
1,  1;  Att.  14,  3.  dignus  7  (poena,  laude,  memoria),  indignus  1. 

dignari  C.  N.  0;  auch  Liv.  Sali.  0;  nach  Stegmann  JP.  1885 
8.  236  bei  Cic.  nur  or.  3,  25;  de  inv.  2,  114.  161  (dafür  dignum 
putari  Mur.  16,  iudicari  Phil.  2,  32;  off.  2,  36). 

6)  der  abl.  comparationis  steht  bei  comparativen  für  quam  mit 
dem  nom.  und  acc. ;  zu  vermeiden  ist  der  abl.  statt  quam  mit  acc. 
nur  dann,  wenn  Zweideutigkeit  entstehen  würde.  Stegmann  JP.  1885 
8.  234  —  35;  1887  s.  264.  die  Stegmannsche  fassung  dieser  regel 
auch  Ell.-Seyff.-Fries84  (vgl.  hingegen  noch  die  fassung  in  der  30n 
aufl.).  vgl.  Caes.  IV  3,  3;  VI  26,  1—VII  19,  5;  VII  19,  1  (hier 
abl.  sogar  statt  des  accusativs  auf  die  frage  wie  breit?). 

Nach  plus,  minus,  amplius,  longius  fällt  bei  Caes.  b.Gall.I— VII 
quam  stets  weg  vor  zahl-  und  maszbestimmungen  (ohne  einflnsz  auf 
die  construction)  in  allen  casus:  V  8,  6;  VII  15,  1 ;  51,  4  —  I  38,  5; 
41,  4;  II  9,  3 —  II  16,  1;  IV  12,  1;  V  53,  7  —  06,  2;  II  7,  3; 

V  42,  5.  jedoch  setzt  Caesar  nach  amplius,  longius  statt  des  accu- 
sativs von  zeit-  und  räum  bestimm  ungen  (so  II  16,  1;  IV  12,  1; 

V  53,  7)  häufiger  den  ablativ:  I  15,  5;  23,  1;  II  7,  4;  IV  11,  1 ; 
VI  29,  4;  VII  73,  6;  III  5,  1  — I  22,  1;  IV  10,  2;  11,  4;  1,  7; 

VI  7,  2;  VII  9,  2;  79,  1. 

Anm.  von  Zeitbestimmungen  amplius  III  5,  1;  longius  IV  1,  7; 

VII  9,  2;  71,  4  (vgl.  Schmalz  A.  s.  v.  longe).  Fischer  I  44:  'longius 
stets  mit  einer  negation  verbunden.'  aber  auch  bei  amplius  steht 
einige  mal  die  negation,  z.  b.  I  15,  5 ;  I  23,  1  usw. 

Der  abl.  comp,  für  quam  qui  und  quam  quem  Caes.  nur  in  einem 
brief  ad  Att.  X  8  (fr.  143,  3).  Nep.  nur  Milt.  5,  5;  Dat.  6,  8;  Att. 
15,  2;  18,  4  (besprechung  dieser  construction  auf  der  mittelstufe 
unnötig). 

Einen  verkürzten  abl.  bat  C.  b.  Gall.  I— VII  nur  II  3, 1  (celerius 
omni  spe),  N.  0. 

Für  Nep.  vgl.  Köhler  s.  32 — 33.  Nep.  hat  nach  amplius  3  mal 
quam  (Thras.  4,  2;  Eum.  12,  4;  Att.  13,  6),  8mal  fehlt  quam;  im 
übrigen  der  abl.  comp,  statt  quam  mit  nom.  und  acc.  7  (auch  Thras. 
1,4?  Nipp.  «Lup.9  hic;  Fleckeisen  his;  Koch -Georges  lexic.6  hic). 

Der  ablativ  als  Vertreter  des  Instrumentalis. 

Der  abl.  instrumentalis  bezeichnet  das  'materielle  und  geistige' 
(Delbrück  s.  58)  Werkzeug,  mit  dem  ein  lebendes  wesen  eine  hand- 
lung  vollbringt,  dieser  ablativ  steht  demnach  in  erster  linie  bei 
transitiven  verben;  vgl.  die  zahlreichen  beispiele  bei  Heynacher  s.  30. 
häufig  sind  bei  Caes.  Wendungen  wie  vadis  11  innen  transire;  fuga 
salutem  petere,  se  recipere;  bello  persequi;  deterrere  aliquem  aliqua 
re,  castra  vallo  munire,  praemiis  (pollicitationibus  u.  ä.)  aliquem  ad 
se  allicere  u.  ä.,  consequi  aliquid  aliqua  re;  efficere;  aliquid  navibus 


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Die  lat.  casussyntax  auf  grondlage  von  Caesar  und  Nepos.  591 

vehere;  armis  confligere,  multum  posse  aliqua  re;  vincere  aliqua 
re  u.  a. 

Die  mittel8person  wird  durch  per  37  mal  umschrieben  (oft  ali- 
quid cognoscere,  comperire  per,  aliquem  certiorem  facere  per,  von 
mehreren  personen).  Nep.  11.  —  Umschreibung  mit  opera  alicuius  4 
(Nep.  8),  vgl.  II  14,  6;  beneficio  C.  I  9,  3;  53,  7;  V  52,  6;  VII 
20,  2;  41,  1;  I  43,  5.  Nep.  2  auzilio  alicuius. 

Insbesondere  steht  der  abl.  instrum.  bei  den  verben : 

a)  anfüllen:  C.  complere  10;  explere  4;  repleo  1.  Nep.  com- 
pleo  Hann.  9,  3;  oppleo  Hann.  11,  6.  impleo  C.  N.  0,  oft  Liv.  Cic. 
(vgl.  Schmalz  A.  s.  v.).  C.  N.  refercio,  onero,  cumulo  0.  ttberflusz 
haben  :  abnndare  C.VII  14,  3;  64,  2,  Nep.  Eum.  5,  2.  redundo  usw. 
C.  N.  0.  refertus,  onustus  C.  0;  onustus  Nep.  Ale.  5,  7.  also:  com- 
ex-  (im-?)  pleo  —  abundo. 

b)  unterrichten:  erudio,  imbuo,  instruo,  instituo  CO;  N.  eru- 
dio  ö  (Them.  10,  1;  Iphicr.  2,  4;  Epam.  1,  4;  Att.  1,2;  12,  4); 
impertio  Att.  1,  2.  also:  erudire  aliquem  aliqua  re.  ferner  exercere 
C.  3,  Nep.  2  im  Epam.  2,  5;  5,  4. 

ausstatten  usw.  C.  instruo,  inficio,  indueo  je  1 ;  ornare,  vestire 
je  2;  donare  I  47,  4;  jedoch  alicui  aliquid  VII  11,  9;  circumdare  4; 
assuefacere  2;  circumfundere  1;  afficere  11.  Nep.  ornare  4,  circum- 
dare 3,  aspergere  1,  impertire  Att.  1,  2;  donare  2  (alicui  aliquid  3), 
circumfundere  2;  afficere  6.  —  praeditus  C.  N.  0. 

lacessere  aliquem  proelio  n.  a.  C.  6;  equo  vehi  Nep.  Dat.  4,  5, 
vgl.  Timol.  4,  2 ;  cantare  tibiis  N.  2 ;  pedibus  C.  aditum  habere  III 
12,  1;  transire  V  18,  1,  vgl.  pedibus  contendere  V  16,  2;  proeliari 
IV  2,  3;  33, 1.  Nep.  0.  navibus  C.  VII  55,  8  (frumentum  avehere); 
III  12,  1;  navibus  flumen  transire  u.  iL  Nep.  1  navibus  proficisci; 
N.  2  classe  proficisci. 

In  dem  satze  deus  mundum  sole  illustrat  ist  sole  abl.  instru- 
menti;  also  auch  in  dem  satze  sole  mundus  illustratur?  vgl.  Hey- 
nacher  s.  28.  Zumpt13  §  451  spricht  in  letzterem  falle  von  einem 
abl.  rei  efficientis  (vgl.  Scheindler  lat.  gr.  §  137).  Delbrück  s.  66: 
fes  tritt  bei  passiver  construetion  in  den  instrumentalis ,  was  bei 
activer  construetion  subject  sein  würde.'  Fügner  s.  30:  'der  instru- 
mentalis kann,  darin  stimme  ich  Heynacber  bei,  ohne  künstelei  vom 
abl.  rei  effic.  nicht  streng  getrennt  werden,  und  für  die  schule  hat 
man  dies  noch  weniger  nötig.'  allerdings  berühren  sich  beide  ab- 
lativi  sehr,  indessen  für  das  deutsche  Sprachgefühl  dürften  ablative 
wie  timore  perterreri,  naufragio  interire  kaum  instrumentale  bedeu- 
tung  haben.  —  Das  naufragium  ist  nicht  mittel,  nicht  grund,  son- 
dern die  res  efficiens,  veranlassung.  der  abl.  rei  effic.  steht  bei 
passiven  verben  wie  aliqua  re  perterreri,  perturbari,  commoveri,  de- 
fatigari,  itnpediri,  premi,  sollicitari  u.  a.  in  dem  satze  ira  incensus 
amicum  meum  neeavi  ist  ira  die  res  effieiens,  ira  me  incendit;  der 
gesamtbegriff,  der  in  ira  incensus  liegt,  ist  der  grund,  weshalb  ich 
meinen  freund  tütete,   manche  intransitive  verben  haben  passiven 


4 


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592    Die  lat.  caaussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepoa. 

sinn,  desgleichen  manche  adjectiva,  also  ist  ein  abl.  rei  effic.  anzu- 
nehmen in  folgenden  Sätzen:  III  15,  4  vino  relanguescunt  animi, 
ähnlich  IV  2,  6;  V  32,  2  nonnullae  tempestate  deperierant  naves; 
tutus  IV  16,  7,  VII  14,  9;  defessus  I  25,  5,  vgl.  III  4,  3;  VII  88,  6. 
vgl.  zahlreiche  beispiele  bei  Heynacber  s.28  — 30  (die  Sammlung  ist 
ziemlich  vollständig),  auch  bei  transitiven  verben  steht  häufig  ein 
ablativ,  der  weniger  rein  instrumentale  bedeutung  bat,  sondern  die 
sache  bezeichnet,  durch  die  jemand  etwas  bewirkt,  erreicht  usw.; 
vgl.  C.  I  36,  4  magnam  Caesarem  iniuriam  facere,  qui  suo  adventu 
vectigalia  sibi  deteriora  redderet;  ich  verweise  noch  auf  I  19,  2 
(suppiicio);  I  53,  6  (calamitate);  IV  1,  9  (cibi  genere  ff.);  IV  33,  1 
(terrore);  V  31,  1  (dissensione);  43,  2  (magnitudine  venti);  58,  4 
(mora);  VII  50,  2  (similitudine);  70,  3  (multitudine);  77,  9  (stul- 
titia).  vgl.  efficere  mit  abl.  IV  1,  9;  35,  3;  33,  3.  V  19,  3,  VI  7,  8, 
VII  26,  2,  IV  2,  2;  proficere  VI  29,  4;  VII  82,  1  u.  dgl. 

An  zahlreichen  stellen  streift  der  abl.  rei  effic.  das  gebiet  des 
ablativs  der  äuszeren  veranlassung  ('infolge  von',  es  kann  vielfach 
propter  für  den  ablativ  eingesetzt  oder  ein  participium  wie  adductus 
hinzugefügt  werden),  also  der  sog.  abl.  causae,  abl.  des  äuszeren 
grundes,  d.h.  des  in  äuszeren  Verhältnissen  liegenden  grundes,  wegen 
dessen  etwas  geschieht  oder  nicht  geschehen  kann,  vgl.  Kühner 
s.  291,  13.  VI  9,  7  (communi  odio);  VII  39,  3  (consiliis);  III  21,  3 
(diligentia);  V34,  4  (levitate);  III  29,  2  (continuatione) ;  VII  15,  6 
(precibus);  IV  34,  1  (novitate);  VI  36,  1  (praeceptis) ;  VI  7,  4 
(temeritate) ;  I  48,  7  (exercitatione) ;  I  47,4  (consuetudine);  Vll 
17,  3  (tenuitate  usw.);  V  29,  7  (obsidione) ;  VII  59,  3  (commuta- 
tione);  VII  78,  1  (valetudine);  VII  77,  12  (aetate);  VI  32,  5  (reli- 
quis  rebus)  u.  a. ;  vgl.  die  causalen  abl.  abs.  III  12,  5;  V  42,  3; 
12,  6;  VI  34,  4;  VII  38,  3  u.  a.  für  den  abl.  causae  steht  propter 
19 mal  (vgl.  z.  b.  I  18,  8;  28,  4;  II  20,  4  usw.);  der  hinderungs- 
grund  wird  durch  prae  bezeichnet  nur  VII  44,  1  (b.  civ.  Omal),  oft 
durch  propter  (16),  z.  b.  I  20,  2  (cum  ille  minimum  propter  adu- 
lescentiam  posset),  II  12,  2;  III  13,  8  u.  a.;  auch  folgende  stellen 
können  hierher  gezogen  werden:  IV  17,  2  (etsi  summa  difficultas 
faciendi  pontis  propter  latitudinem  proponebatur),  IV  25,  3;  Vi,  2; 
VII  77,  2;  IV  1,  10;  III  13,  6;  IV  24,  2;  V  24,  1;  I  26,  5;  IV 38,  2. 
kein  hinderungsgrund  liegt  vor,  aber  auch  der  abl.  und  part.  ist  un- 
zulässig VI  25,  3;  I  18,  3;  VII  52,  2.  vgl.  III  9,  2  impeditis  hosti- 
bus  propter  ea,  quae  ferebant,  onera  (an  den  letzten  vier  stellen 
könnte  der  blosze  ablativ  stehen). 

Der  innere  beweggrund  wird  selten  durch  den  bloszen  abl.  be- 
zeichnet: VII  19,  2  (fiducia  loci);  38,  9  (fiducia  praesidii);  45,  8 
(studio  pugnandi  .  .  .  spe  praedae) ;  I  44,  5  (hac  spe).  propter  nur 
I  39,  7;  VII  20,  5. 

Sehr  oft  drückt  Caesar  den  äuszeren  beweggrund  zu  einer  hand- 
lung  aus  durch  einen  abl.  und  part.  perf.  pass.  [nicht  alle  von  Hey- 
nacher  s.  29  angeführten  stellen  gehören  hierher,  wie  z.  b.  VI,  28,  2 


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Die  lat.  casussyntax  auf  gnindlage  von  Caesar  und  Nepos.  593 

(captos),  I  38,  4  (circumductum),  II  30,  2;  III  13,  4;  II  4,  4;  VI 
16,  4;  19,  3-,  II  20,  3;  III  14,  6;  VII  60,  4;  8,  3;  VI  6,4;  V  8,  2; 
I  8,  4;  III  13,  5;  VII  82,  1;  62,  4;  I  53,  5;  VII  20,  6]. 

adductus  14;  afflictus  1;  captus  2;  coactus  3;  com  motu  s  4; 
confectus  9;  conflictatus  1;  contaminatus  1;  defatigatus  2;  de- 
feasus  2;  delatus  1;  exanimatus  2;  excitatus  1;  exclusus  2;  frac- 
tus  I ;  impulsus  2;  incitatus  3;  invitatus  2;  oppressus  1;  permotus  9; 
perterritus  12;  perturbatus  3;  prohibitus  1;  subactus  1;  sublatus  2; 
superatus  2. 

Substantiva  der  gemütsstimmung  und  part.:  impulsus  1;  ad- 
ductus 5;  inductus  2;  elatus  1;  exterritus  1;  oppressus  1;  perter- 
ritus 1  (merke  furore,  cupiditate,  invidia,  spe,  pudore,  timore, 
amentia). 

Am  häufigsten  adductus  (auctoritate,  fame,  inopia,  necessitate, 
precibus  u.  a.),  permotus  (adventu,  auctoritate,  defectione,  inopia, 
precibus  u.  a.).  C.  wechselt  ab  mit  den  participiis;  inopia  adductus 
(coactus,  permotus);  auctoritate  alicuius  adductus  (permotus);  ne- 
cessitate adductus,  coactus;  cupiditate  adductus  (inductus),  spe  ad- 
ductus (elatus,  inductus),  rebus  adductus  (per-,  commotus),  precibus 
adductus  (permotus);  timore  perterritus  (exterritus,  oppressus);  vul- 
neribus,  aetate  confectus. 

ob  eam  rem,  ob  eas  res,  quamobrem,  ob  eam  causam,  ob  eas 
causas  C.  15;  vgl.  die  causale  bedeutung  von  per:  II  16,  5  (qui  per 
aetatem  ad  bellum  inutiles  viderentur,  ähnlich  V  3,  4;  VII  71,  2; 
dafür  aetate  VII  77,  12;  78,  1),  III  9,  2. 

Der  abl.  causae  von  Verbalsubstantiven  der  4n  decl.  adventu  17, 
casu  8,  coactu  1,  concessu  1,  consensu  5,  discessu  7,  ductu  1,  inter- 
ventu  1,  impulsu  1,  iussu  1,  iniussu  2,  missu  2  (zuweilen  haben 
diese  ablative  temporale  oder  modale  bedeutung). 

Person ification1*  liegt  vor  V  34,  2  ab  duce  et  a  fortuna  desere- 
bantur;  öfter  a  bei  collectiven  wie  civitas,  equitatus,  multitudo;  zu 
VII  17,  1;  III  26,  2;  13,  9  vgl.  Db.-Dt. 

Für  Nep.  vgl.  Köhler  s.  27,  Bähnisch  s.  41  ff.  zur  angäbe  des 
äuszeren  beweggrundes  steht  abl.  und  part.  (ductus,  adductus,  per-, 
commotus,  impulsus,  perterritus,  coactus,  captus, perculsus,  elatus); 
am  häufigsten  captus  6,  commotus  5,  ductus  4,  perterritus  4.  innere 
gemütsstimmung,  abl.  und  part.  (Them.  8,  7  misericordia  captus; 
Cim.1,2  amore  ductus;  Ale. 5,1  caritate  patriae  ductus;  Att.  12, 13 
studio  ductus;  Lys.  3,  1  dolore  incensus;  Pelop.  5,  4  ira  incensus; 
Dion  8,  4  timore  perterritus).  in  beiden  fallen  steht  auch  der  blosze 
ablativ,  z.  b.  Milt.  1,  4;  Paus.  5,  5;  Ale.  3,  1 ;  Con.  3, 1;  Dion  6,  1 ; 
Chabr.  3,  1;  Dat.  11,  3;  Ages.  8,  5;  Eum.  8,  2;  Ham.  2,  1;  Hann. 
11,4;  Att.  11,1;  17,3;  15,3;  Dion  4, 2;  Timol.  2,  3.  —  propter  be- 
zeichnet 31  mal  den  äuszeren  grund,  2  mal  den  inneren  beweggrund, 


18  öfter  Cicero,  Vgl.  Draeger  s.  549,  namentlich  beim  passiv  der 
verba  des  verlassens. 

N.  jahrb.  f.  phil.  u.  pSd.  Il.abt.  1891  hft.  12.  38 


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594    Die  lat.  casuseyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 

Epam.  7,  1;  Eum.  11,  2.  Caes.  und  Nep.  stimmen  hinsichtlich  der 
bezeichnung  des  äuszeren  und  inneren  grundes  überein.  —  ob  15  mal 
(quam  ob  causam,  quas  ob  causas,  ob  eam  rem,  ob  quam  rem ;  vgl. 
Them.  8,  1  ob  eundem  timorem).  —  iussu ,  rogatu  je  3 ;  ductu  2 ; 
admonitu,  hortatu,  impulsu,  missu  je  1. 

laborare  C.  VII  10,  1  (duris  subvectionibus);  N.  0. 

Der  abl.  causae  bei  gaudeo,  laetor,  exsulto,  doleo,  maereo  CO; 
gaudeo  Nep.  Paus.  2,  5;  glorior  C.  144,4,  Nep.  Att.  17,1  acc.  hoc; 
acquiesco  C.  N.  Omal. 

niti  C.  I  13,  6;  N.  Milt.  3,  5.  —  contineri  beruhen  auf  C.  VTI 

2,  2;  Nep.  Lys.  1,5;  Dat.  10,  3.  —  contentus  C.  VII  64,2;  Nep.  7. 
—  fretus  C.  VI  5,  7;  III  21,  1,  Nep.  4.  —  constare  in  C.  VII  84,  4; 
N.  Dat.  14,  3  (Att.  13,  2  bloszer  abl.);  consistere  in  C.  II  33,  4; 

VI  21,  3;  22,  1;  VII  86,  3;  Nep.  Dat.  8,  3;  positum  esse  in  C.  VII 
32, 5 ;  V  34,  1 ;  48, 1 ;  III  14,8;  VII  10,1;  40,  2;  III  21,1 ;  V  29,6; 

VII  25,  1 ;  fidere  C.  b.  Gall.  0  (b.  civ.  III  111,  1  copiis);  confidere 
III  25,  1,  auxiliares,  quibus,  wohl  dat.;  142,5  legionis,  cui  maxime 
confidebat;  Paul  streicht  den  relativsatz  als  glossem;  I  40,  15  huic 
legioni  .  .  .  confidebat,  hier  könnte  an  sich  der  dativ  hervorgerufen 
sein  durch  das  dazwischen  stehende  verbum  indulserat;  da  Caes. 
niemals  confidere  absolut  gebraucht,  so  ist  VII  33,  1  mit  ß  quae 
minus  tibi  (fehlt  a)  confideret  zu  schreiben,  vgl.  Schneider  im  1  In 
jahrebbericbt  des  philol.  Vereins  s.  157. 196.  demnach  behaupte  ich 
gegen  Heyn.  s.  51,  dasz  die  von  Fischer  I  30  aufgestellte  regel  von 
bestand  bleibt,  nach  der  Caes.  confidere  mit  dem  dat.  von  personen 
und  persönlich  zu  fassenden  begriffen  (legio  u.  a.)  construiert;  vgl. 
Kleist  Z6W.  1883  s.  123  anm.  2.  im  b.  civ.  steht  der  dat.  sicher 

II  40,  1;  III  7,  2;  III  10,  7;  94,  5.  allerdings  b.  Gall.  VII  68,  3 
equitatu,  qua  .  .  .  parte  exercitus  confidebant.  die  Fischersche  regel 
trifft  auch  zu  auf  Cic.  und  andere  Schriftsteller.  Schmalz  A.  8.  v. 
confidere  aliqua  re  VII  50,  1 ;  III  9,  3 ;  confisus  mit  abl.  VI  14,  4 ; 
V  17,  3;  III  27,  2;  I  53,  2.  Cic.  hat  auch  von  Sachen  häufiger  den 
dat.  als  den  abl.,  vgl.  Schmalz.  Nep.  confido  0;  fido  mit  abl.  Lys. 

3,  5;  Chabr.  1,  2.  —  diffidere  mit  dat.  Caes.  VI  38,  2,  also  auch 
wohl  V  41,  5  (suis  rebus);  b.  civ.  c.  dat.,  so  auch  stets  Cicero. 

Zum  abl.  causae  gehören  noch  folgende  ablative :  consilio  I  30, 5 ; 

III  8,  3;  V  6,  6;  11,  8;  I  12,  6;  V  1,  7  (nihil  erani  rerum  publico 
factum  consilio);  V  54,3  (publico  consilio);  VII 43, 1;  demcausaien 
ablativ  rechne  ich  zu  eo  consilio  ut  (aus  dem  gründe ,  weil ;  in  der 
absiebt,  dasz)  I  30,  3;  48,  2 ;  II  9,  2 ;  V  49,  7;  VI  42,3;  VII  72,2; 
alio  c.  III  6,  4 ;  quo  c.  I  40,  1 ;  VII  76,  4  bis  delecti  attribuuntnr, 
quorum  c.  bellum  administraretur:  consilio  abl.  instrum.  oder  rei 
efficientis.  casu  hat  causale  bedeutung  (infolge  von;  casu  fit  ut; 
abl.  rei  effic.)  I  12,  6  (ita  sive  casu  sive  consilio  deorum  .  .  .  ea  sc. 
pars  prineeps  poenas  solvit);  II  21,  6;  V  48,  8;  VI  30,  2;  37,  1; 
VII  20,  6;  für  causale  bedeutung  (nicht  modale)  spricht  VI  27,  2 
(si  quo  afflictae  casu  conciderunt) ,  VI  36,  2.  —  indicio,  voluntate 


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Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos.  595 

V27,3  (neque  id  . .  .  aut  iudicio  aut  voluntate  sua  fecisse,  sed  coactu 
civitatis) ;  voluntate  nach  Heyn.  s.  37  modal ;  voluntate  alicuius  noch 
I  44,  2;  20,  4;  7,  3;  30,  4;  35,  3;  39,  3;  44,  4;  II  4,  7.  —  natura 
III  10,  3  (homines  natura  libertati  studere);  II  8,  3;  VII  14,  9; 

V  13,  1.  —  sua  sponte  I  9,  2;  44,  2;  V  28,  1;  VI  14,  2 ;  VII  65,  2. 

—  merito  alicuius  I  14,  1 ;  II  32,  1 ;  V  4,  3 ;  causal  lege  communi 

V  56,  2 ;  VII  32,  3  (legibus  eorum);  VII  33,2  (legibus  Aeduorum); 
iure  belli  I  44,  2;  VII  41,  1.  —  Causal  sind  die  ablative  more,  con- 
suetudine,  instituto,  exemplo  (vgl.  z.  b.  Db.-Dt.  zu  VI  27,5;  V26, 4 ; 
I  8,  3;  II  19,  2;  I  50,  1):  more  14 mal  (V  26,  4  streicht  Schneider 
suo  more;  Hartz  liest  sine  mora;  vgl.  VII  48,  3  more  Gallico,  sonst 
more  suo  oder  more  alicuius),  vgl.  Heyn.  8.  35;  consuetudine  ali- 
cuius 7  (vgl.  Db.-Dt.  zu  VI  27,  5);  exemplo  p.  Rom.  I  8,  3;  insti- 
tuto alicuius  I  50, 1 ;  VII  24,  5.  für  die  causale  natur  spricht  hinzu- 
gefügtes ex:  I  52,  4  (ex  consuetudine  sua;  vgl.  IV  32,  1 ;  V  58,  2); 
omnium  consensu  II  28,  2;  29,  5;  VII  4,  6;  15,  1;  77,  4,  vgl.  ex 
communi  c.  I  30,  4  (Db.-Dt.  zu  I  30,  4). 

Für  Nep.  vgl.  Köhler  s.  31 :  hoc  consilio,  ut  Milt.  5,  3;  ohne 
ut  Ham.  1,  5;  consilio  mit  attribut  (gen.,  adj.)  Them.  6,  1;  7,  4, 
Pelop.  1,  2  (idque  suo  privato,  non  publico  consilio  fecit);  casu  2; 
voluntato  2;  sua  sponte  7;  legibus  Them.  10,  5;  Paus.  3,  5  (legibus 
eorum  —  Cim.  1, 1),  Timol.  5,  2  (lege,  legibus),  Phoc.  3, 4  (legibus); 

—  communi  iure  gentium  Them.  7,  4 ;  Thras.  1 ,  4  suo  iure ;  — 
more  6  (ex  more  Con.  3,  2);  moribus  5  —  consuetudine  AU.  2,  3  — 
consensu  Dion  6,  3. 

Merke  also:  iure,  consilio,  voluntate,  lege(ibus),  more,  consue- 
tudine, nach  dem  recht,  der  absieht,  dem  willen,  der  sitte,  der  ge- 
wohnheit  jemandes;  eo  consilio,  ut  in  der  absieht,  dasz;  sua  sponte; 
casu;  omnium  consensu  einstimmig. 

Der  abl.  instr.  steht  bei  utor  usw.  utor  45  (IV  24, 4  utebantur, 
so  codd.;  Nipp.,  Schneider  nitebantur);  mit  hinzugefügtem  prädicats- 
ablativ  noch  7.  Heyn.  s.  41.  Nep.  39,  mit  2  ablativen  4.  Nep.  uti 
aliquo  familiariter  Eum.  4,4;  Phoc.  4,  3;  familiarius  Att.  8,  2; 
familiarissime  Ages.  1,  1;  intime  Att.  5,  4.  —  frui  C.  IH  22,  2 
(omnibus  in  vita  commodis);  Schmalz  A.s.v.  frui  zeigt  frohen  genusz 
an  (nicht  gleich  'haben');  Nep.  Cim.  4,  1;  Epam.  5,  4;  Att.  20,  2. 

—  fungi  munere  C.  VII  25,  3  =  Nep.  Paus.  3,  6 ;  vgl.  noch  Them. 
7,  3,  Con.  3,  4.  —  potior  C.  13 mal  mit  abl.,  z.  b.  imperio  totius 
Galliae  I  2,  2;  I  3,  8  heiszt  es:  totius  Galliae  sese  potiri;  Schneider 
ZGW.  1886  s.  429  —  30  will  mit  recht  schreiben  imperio  totius 
Galliae;  cod.  B  imperio  von  anderer  band  hinzugefügt  zwar  potiri 
c.  gen.  Cic.  ad  fam.  I  7,  5;  de  offic.  III  113;  fin.  I  18,  60.  dieser 
gebrauch  ist  vorzugsweise  Sallustisch.  'man  musz  Caesars  Sprach- 
gebrauch aus  seinen  eignen  Schriften  betrachten.'  Nep.  potior  6 
c.  abl.,  6  c.  gen.,  rerum  potiri  Nep.  Att.  9,  6;  Cic.  nur  Rose. 
Am.  70,  Fam.  1,  7,  5;  oft  Tac;  Liv.  XXI— XXIII  Omal.  —  vesci 
C.  N.  0. 

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596    Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 


Ablativua  mensurae. 

Für  C.  vgl.  Heynacher  s.  39—40,  für  Nepos  Köhler  s.  32. 

C.  III  13,  1  carinae  aliquanto  planiores;  V  13,2  dimidio  minor. 

Häufig  multo,  paulo,  nihilo,  hoc,  eo,  quanto,  tanto  vor  compa- 
rativen  und  ante,  post,  infra,  supra.  nur  VI  27,  1  paulo  vor  ante- 
cedere. 

multo  vor  comparativen  9;  paulo  vor  comparativen  15;  vor 
ante,  post  10;  vor  infra,  supra  3;  vor  antecedere  1;  nihilo  magis  1; 
nihilo  minus  3;  nihilo  setius  4;  eo  magis  u.  ä.  7;  eo  minus  1;  eo 
ecientius  1 ;  eo  —  quo  2;  hoc  vor  comparativen  8;  quo  —  hoc  1 ; 
quo  (=  ut  eo)  vor  comparativen  1;  quo  facilius  9;  quo  gravius  1; 
quo  maiore  1;  quo  minore  1;  quanto  —  tanto  1. 

aliquot  diebus  ante  IV  19,  3;  paucis  mensibus  ante  I  31,  10; 
anno  post  IV 1, 5;  VI  22,2;  biduo  post  I  47, 1  —  paucis  ante  diebus 
III  20,  1 ;  multis  (paucis)  ante  diebus  VII  9,  4 ;  1 18, 10 ;  VII 20,  9. 
vgl.  IV  9,  1  se  .  .  .  post  diem  tertium  ad  Caesarem  reversuros;  VI 
33,  4 ;  IV  28,  1  (post  diem  quartum  quam  «  quattuor  diebus  post 
quam).  Stegmann  JP.  1887  s.  258—259.  Nep.  hat  häufiger  ablative 
mensurae  vor  antecedere,  antestare,  praestare;  nihilo  setius  5,  nihilo 
minus  2;  Cic.  sagt  für  nihilo  minus  nnr  inv.  2,  132;  2,  170  nihilo 
setius;  C.  b.  civ.  nihilo  minus  2,  nihilo  setius  2;  quo  —  eo,  quanto 
—  tanto  Nep.  0,  nur  Hann.  1,  1  tanto  —  quanto;  ausdrücke  wie 
paucis  annis  ante  6  (7)  mal.  merke  postannum  quartum  quam  Arist. 
3,  3;  Cim.  3,  3;  Dion  5,  3;  10,  3;  vgl.  ante  aliquot  dies  Dat.  11,2. 

Vor  Superlativ  hat  Caesar  stets  (8)  longe;  vgl.  VI  12,  9  longe 
principe:? ;  Nep.  3  multo  vor  superl.,  Ale.  1,2;  Ages.3, 1 ;  Att.  12,4; 
Caes.  longe  alius  III  9, 7 ;  28,  1 ;  VII 14,  2 ;  59,  3 ;  Nep.  2  mal  multo 
aliter  (pr.  7,  Ham.  2,  1). 

Ablativus  pretii. 

C.  redimere  aliquid  parvo  pretio  1 18,3  (vgl.  I  44, 12;  I  37,2); 
Nep.  Dion  10,  2  aliquem  ab  Acherunte  suo  sanguine  redimere.  — 
Caes.  IV  2,  2  aliquid  impenso  pretio  parare,  Nep.  Att.  13,  4  pretio 
parare.  —  C.  VII  19,  4  victoria  constat  morte  alieuius.  —  Vgl.  C. 
VII  39,  3  aliquid  levi  momento  aestimare.  —  mercede  conducere 
Nep.  praef.  4.  —  condueo,  colloco,  loeo  selten,  vgl.  Stegmann  JP. 
1885  s.  235.  Fügner  s.  32 :  'die  allgemeinen  ausdrücke  magno  esse 
usw.  kommen  weder  bei  Caesar  noch  bei  Liv.  XXI— XXIII  vor.  den 
schtiler,  dem  diese  bekanntlich  nicht  leicht  fallen,  lasse  man  magno 
pretio  usw.  anwenden.'  Liv.  XXI— XXIII  hat  redimere  aliquid  pretio 
3  mal  (maiore,  minore,  quo  pretio). 

Ablativus  sociativus. 

C.  hat  una  cum  I  5,  4;  47,  4;  II  16,  2;  24,  1;  28, 1;  III  22,  2; 
23,  5;  IV  21,  7;  27,  2;  V  6,  1 ;  VI  14,  1;  31,  5;  VII  50,  4;  71,  3. 


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Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos.  597 


vgl.  Hellwig,  über  den  pleonasmus  bei  Caesar,  g.-pr.  Berlin  1889 
s.  9:  'wo  cum  von  Caesar  zur  bezeichnung  der  gemeinschaft  ge- 
braucht wird,  steht  es  bei  dingen,  deren  Zugehörigkeit  zu  einem 
anderen  naturgemäsz  und  notwendig  ist;  es  wird  darum  stets  ge- 
braucht bei  dem  heere,  den  truppen,  den  schiffen,  mit  denen  ein 
feldherr  marschiert,  fährt,  dem  eigentum,  das  jemand  mit  sich  führt, 
wo  das  Zusammensein  zweier  dinge  nur  ein  äuszerliches ,  zufälliges 
ist,  gebraucht  Caesar  una  cum,  das  dann  genau  einem  ipse  quoque 
entspricht,  von  dieser  regel  finden  sich  wenige  ausnahmen.  VI  8,8; 
VI  38,  1 ;  VII  71,  3  (richtig  una  cum  a ;  una  fehlt  ß).  —  cum,  ver- 
sehen mit,  VII  45,2  (muliones  cum  cassidibus);  vgl.  VI  19,2;  41,1 ; 
1,2  (cum  imperio);  I  24,  4  (cum  omnibus  suis  carris  secuti);  I  35,  1 
(Caesar  legatos  cum  his  mandatis  mittit). 

Die  militärische  begleitung  wird  durch  cum  ausgedrückt: 

copiae  9  (cum  omnibus  copiis  u.  a.);  cohortes  6;  equitatus  16; 
exercitus  3;  legio  35;  impedimenta  4;  naves  2;  praesidium(VI  38, 1 
fehlt  cum  o);  cum  parte  (numero)  equitatus,  copiarum  u.  a.  6;  — 
cum  stets  bei  pro  frei  sei  (b.  civ.  III  41,  3  omnibus  copiis)  21  mal; 
17  mal  bei  mittere  und  re-  praemittere;  die  andern  verba  sind  ire, 
venire,  pervenire,  contendere,  sub-  sequi,  occurrere,  progredi,  ac- 
cedere;  aliquem  relinquere  cum  — ;  VII  60,4  cum  tribus  legionibus 
eum  locum  petit:  cum  =  an  der  spitze  von. 

cum  fehlt  bei  militärischer  begleitung ,  bei  copiae  8  mal  (meist 
omnibus  copiis);  vgl.  die  verba  venire,  pervenire,  contendere,  sub- 
sequi ,  provolare ;  vgl.  ferner  V  8,  5  (accessum  est  ad  Britanniam 
omnibus;  dagegen  IV  23,2  cum  primis  navibus  Britanniam  attigit); 
VI  43,  6;  V  26,  2  (magna  manu  venerunt);  V  9,  3  (illi  equitatu 
atque  essedis  ad  flumen  progressi :  wir  erwarten  cum). 

Die  militärische  'begleitung'  (vgl.  obige  verba)  wird  meist 
durch  cum  ausgedrückt,  im  b.  Gall.  stets  bei  proficisci,  mittere  und 
compositis;  zuweilen  steht  der  blosze  ablativ  bei  allgemeiner  angäbe 
(omnibus  copiis  u.  ä.). 

Wiegt  die  instrumentale  bedeutung  vor,  so  steht  der  blosze 
ablativ:  agmen  novissimum  I  15,  3  (a  novissimo  agmine  Prammer 
n.  a.) ;  copiae  8  (V  49, 6  tantulis  copiis;  Schneider  mit  ß  cum  tantis) ; 
equitatus  7,  vgl.  noch  equitatu  aliquid  posse,  valere;  zu  VII  68,  3 
Db.-Dt. ;  exeubitores  1;  exercitus  2;  legatio  3;  manus  1;  multi- 
tudo  2;  legio  2;  milites  1;  obsides  2;  milia  1;  turmae  1.  vgl.  die 
verba  tenere,  obtinere,  circumvenire ,  opprimere,  persequi,  adoriri, 
superare,  eruptionem  facere  u.  a. 

Nep.  cum  bei  militärischer  begleitung  19  (proficisci  5,  mittere  4); 
3 mal  navibus,  classe  bei  proficisci.  truppen  als  sachliches  mittel  12; 
aliquem  cum  epistula  mittere  Paus.  2,  5;  vgl.  Paus.  3,  4;  Ale.  9,  2; 
Cim.  4,  2;  Epam.  4,  1;  Hann.  11,  1  (aliquem  mittere  cum;  venire 
cum  pondere  auri  u.  ä.).  vgl.  Epam.  8,  5  risus  omnium  cum  hilari- 
tate  coortus  est;  Eum.  3,  4  simul  cum  nuntio  dilabi;  vgl.  C.  V  46,2 
exit  cum  nnntio  Crassus. 


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598    Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 

Ablativus  modi. 

1)  körperliche  bestimmungen :  incredibili  celeritate  III  19,  2; 
vgl.  II  19,  7;  19,8;  31,2;  V  18,5;  40,2;  VII  20,  1;  magno  cursu 
contendere  III  19,  1 ;  auch  VII  48,  1  wollen  für  magno  concursu 
(a,  edd.)  Meusel,  Schneider  magno  cursu  (TLH)  contendernnt 
lesen;  vgl.  VI  37,  1;  passis  manibus  pacem  petere  (flere)  I  51,  3; 

III  13,  3;  VII  47,  5;  infestis  signis  VI  8,  6;  VII  51,  3;  summa  vi 
u.  ä.  III  19,  4;  15,  1;  VII  70,  1;  73,  1;  integris  viribus  III  4,  2; 
4,  3.  andere  beispiele  s.  Heyn.  s.  36.  —  VII  72,  1  fossam  pedum 
viginti  directis  lateribus  duxit;  nach  M.-Pr.,  Db.-Dt  abl.  qual.; 
I  21,  1  flumen  incredibili  lenitate  in  Rhodanum  infinit  (so  Heyn.); 
bei  anderer  interpunction  (M.-Pr.,  Db.-Dt.)  abl.  qual.;  Omnibus  pre- 
cibus  petere  (orare,  detestari)  V  6,  3;  VI  31,  5;  VII  26,  3;  78,  4, 
wohl  abl.  instr.;  ebenso  I  20,  5. 

2)  geistige  eigenschaften:  nullo  (summo)  studio  VII  17,  2; 

IV  31,  3  (hingegen  VI  9,  4;  VII  41,  5  abl.  rei  effic.  8.  causae); 
IV  24,4  ist  utebantur  zu  lesen.  —  aequo  animo  V  49,6;  VII  64,3; 
aequiore  animo  V52,6.  —  magno  (maiore)  animo  VII  10,3;  66,6; 
magno  dolore  ferre  VII  63,  8.  andere  beispiele  s.  Heyn.  s.  36  f. 

cum  steht  mit  attribut:  III  23, 4 ;  IV  1, 1 ;  V  58,2;  VII  54,4; 
VII  83,  1;  65,  3;  VII  15,  2;  I  20,  3;  V  44,  13;  III  1,  2  (cum  fehlt 
TU);  V  52,  3  (cum  fehlt  TU);  oft  bei  periculum:  I  10,  2;  17,  6; 
47,  3;  III  1,  2  (cum  fehlt  TU);  IV  28,  2;  V  16,  2;  19,  2;  29,  6; 
47,  5;  50,  3  (cum  fehlt  L);  52,  3;  VII  14,  7  (cum  fehlt  a);  an 
letzter  stelle  musz  mit  ß  cum  gelesen  werden,  tiberall  steht  cum 
zwischen1*  adjectiv  und  Substantiv;  demnach  musz  VI  36,  1  cum 
summa  diligentia  (a)  mit  ß  cum  gestrichen  werden,  vgl.  Meusel 
12r  Jahresbericht  d.  phil.  v.  s.  280.  es  bleibt  nur  VI  34,  7  cum 
aliquo  militum  detrimento. 

cum  steht  ohne  attribut:  V  45,  1;  VII  74,  2;  V  50,  5;  hin- 
gegen  VI  17,  5  steht  cum  wohl  nicht  modal. 

Nep.  Substantiv  und  attribut  mit  cum:  Milt.  7,  4;  Them.  4,  4; 
8,  2;  Timoth.  4,  1 ;  Harn.  1,  5;  Att.  7,  2;  ohne  cum  c.  50  mal. 

Der  blosze  abl.  bei  modus  C.  6  (tuli  modo;  oratoris  modo  u.  a.), 
N.  20;  ratio  C.  13,  N.  3;  aequo  animo  u.  ä.  C.  5;  N.  4  aequo  animo, 
sonst  noch  5 mal  (z.  b.  forti  animo  cedere);  inimica  mente  N.  1 
(5  mal  hac  mente) ;  condicione  C.  N.  je  1 ;  merke  vi  C.  2,  N.  3 ;  suo 
iure  N.  1 ;  iniuria  C.  1, N.  0;  ritu,  fraude,  cursu  C.  N.  0;  vitio  N.  1 ; 
dolo  N.  4;  ordine  N.  1;  silentio  C.  10,  N.  0. 

Das  modale  per  C.  VII  9,  1 ;  VI  20,  3;  II  31,  6 ;  IV  13,  1  (per 
dolum  et  insidias);  I  42,  4  per  insidias;  VII  20,  7;  4  mal  per  vim, 
z.  b.  III  11,  2;  —  I  4,  1;  46,  3.  Heynacher  s.  31  u.  60.  Nep.  nur 
per  littera8  (epistula)  Con.  3,  3 ;  Att.  7,  3. 


»  vgl.  M.-Pr.  lex.  s.  270  a.  19-27.  Livius  XXI— XXIII  settt  23mal 
das  modale  cum  dem  adjectiv  voran,  6 mal  nach.  Fügner  s.  39.  Nep. 
cum  2  voran,  4  nach.    Sallust  stellt  cum  voran. 


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Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepoa.  599 

'ohne*  ausgedrückt  durch  den  abl.  modi  und  nullo  (a,  is)  C. 
nur  II  11,  1  (nullo  certo  ordine),  VII  17,2  nullo  studio  (vgl.  b.  civ. 

II  26,  4;  38,  4  nullo  [is]  ordine  [nibus];  III  101,  1  nullis  custodiis 
neque  ordinibus  certis).  N.  0. 

Ablativus  qualitatis. 

Vgl.  Heynacher  s.  38  f.  der  abl.  qual.  steht: 
*  1)  attributiv:  I  7,  5;  18,  3;  38,  5;  47,  4;  II  6,  4;  18,  2; 

III  13,  4;  24,  3  (Kr.-Dtt.);  14,  5;  IV  1,  9;  VI  16,  4;  7,  5;  10,  5; 
18,  3;  26,  1;  VII  23,  5;  39,  1;  50,  2;  69,  5;  72,  3;  73,  ö;  73,  6; 
73,  2;  vgl.  noch  III  13,  4;  I  6,  3;  VII  50,  2;  I  28,  5;  V  13,  2 
(Db.-DL). 

2)  prädicativ:  V  41,  5;  4,  4;  II  15,  1;  V  14,  3;  VI  28,  1 ; 
I  39,  1;  VII  23,  1;  VI  13,  1;  13,  4;  12,  9;  V  40,  7. 


Genetivus  qualitatis. 

1)  attributiv:  V  35,  6;  54,  2;  VII  55,  4;  22,  1;  II  15,  5; 
27,  5;  30,  4;  31,  2;  VII  80,  3  —  II  10,  lj  24,  1;  VII  65,  4;  — 
II  30,  4;  III  5,  2;  II  29,  3;  III  16,  2;  V  49,  6;  VII  4,  1;  39,  1; 
5,  1;  32,  4;  22,  1;  53,  9;  22,  5. 

2)  prädicativ:  IV  2,  2;  V  11,  5;  VII  77,  3;  V  6,  1. 

Im  gen.  qual.  stehen  Zahlbestimmungen:  acies  legionum  IV 
Veteran o[a]rum  I  24,  2;  numerus  mit  folgendem  gen.  8 mal,  z.  b. 
I  15, 1 ;  —  den  gen.  non  pes  abhängig  von:  altitudo  I  8,  1;  II  18,  3; 
5,  6;  VII  8,  2;  69,  5;  73,  5  (wohl  mit  ß  triura  .  .  .  pedum  zu  lesen; 
Meusel  llr  Jahresbericht  d.  phil.  v.  193);  fos8a  II  5,  6;  V  42,  1; 
VII  36,  7;  72,  1;  intervallum  IV  17,  3;  17,  5;  latitudo  II  29,  3; 
longitudo  VI  29,  2;  VII  23,  1 ;  murus  VII  46,  3;  trabes  VII  23,  5; 
vallum  II  30,  2;  V  42,  1;  VII  72,  4;  spatium  I  38,  5  —  passuum 
abhängig  II  8,  3;  VI  7,  4;  I  25,  5  (vgl.  Kr.-Dtt.  krit.  anhang); 

V  13,  6;  ergänze  passuum  V  13,  5;  I  41,  4;  IV  14,  1 ;  III  17,  5; 

V  13,  7;  42,  4;  II  30,  2;  VII  3,  3  —  horarum  III  12,  1;  dierum 
IV  7,  2  (paucorum  dierum  iter);  VI  25,  1;  25,  4;  II  35,  4  (lies 
dierum  XV  supplicatio,  vgl.  IV  38, 5;  VII  90,8);  cohortium  VI  7,4; 
29,  3;  VII  65, 1 ;  tabulatorum  VI  29,3;  vgl.  tridui  via  u.  ä.  I  38, 1  ; 
IV  4,  4;  VI  7,  2;  IV  11,  4;  11,  3;  temporal:  I  5,  3  trium  mensum 
molita  cibaria;  VII  71,  4;  74,  2. 

Häufig  ist  der  gen.  qual.  von  modus,  genus:  eius  modi:  V  33,4; 
VI  36,  2;  III  13,  7;  V  29,  5;  VI  34,  7;  III  3,  3  (T ÜL;  sonst  über- 
liefert hui us  modi,  dieses  aber  nur  b.  civ.  3 mal);  III  29,  2;  12,  1; 

V  27,  3;  cuiusquemodi  VII  22,  1;  huius  (eius,  eiusdem,  cuiusque, 
omnis,  cuius)  generis:  IV  24,  4;  VII  73,  8;  V  16,  1;  VI  16,  5; 

V  2,  2;  IV  3,  3;  VII  74,  1;  VI  16,  3,  V  18,  3;  12,  5;  VII  41,  3 
(ß  omni  genere  tela) ;  V  2,  2. 


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600    Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Ncpos. 

Resultat. 

1)  Alle  Zahlbestimmungen  stehen  im  gen.  quäl. ;  vgl.  auch  aus- 
drücke wie  via  tridui  (5 mal);  Haase-Peter  s.  34. 

Der  gen.  qual.  steht  ferner  zur  bezeichnung  der  art  und  gat- 
tung;  eiusmodi,  huius  generis  u.  ä.;  hierher  gehört  nicht  VII  39,  1 
Viridomarus  .  .  .  genere  dispari;  nur  V  35,  7  Lucanius  eiusdem 
ordinis  primi  pili  centurio  (b.  civ.  einigemal  ordinis  senatorii, 
equestris);  hier  ist  die  qualitative  bestimmung  einem  eigennamen 
hinzugefügt  ohne  vir,  homo;  vgl.  II  6,4;  I  18,3,  VII  39, 1.  Haase- 
Peter  s.  33  anm.  1  und  s.  189.  ergänze  vir  (um)  bei  esse,  baberi, 
cognoscere  I  6,  3;  28,  6;  V  6,  1;  VII  60,  2;  77,  3.  Db.-Dt  zu 
I  18,  3. 

Der  gen.  qual.  steht  zur  bezeichnung  des  gewichts:  II  30,  4; 
29,  3 ;  VII  22,  5 ;  ein  genitiv  zur  bezeichnung  des  wertes  fehlt  bei 
Caes.  im  b.  Gall. ;  I  20,5  tanti  esse  apud  se  gratiam:  tanti  esse  wird 
in  den  grammatiken  zum  gen.  pretii  gerechnet;  vgl.  Haase-Peter 
34—35. 

Stegmann:  ralle  Zahlbestimmungen,  sowie  angaben  nach  gewicht 
und  wert,  art  und  gattung  stehen  im  genitivus  qualitatis,  jedoch  nur 
in  Verbindung  mit  einem  adjecti vischen  attribut.* 

2)  In  allen  anderen  fällen  überwiegt  nach  den  statistischen 
Untersuchungen  Stegmanns  (Cic.  und  Caes.)  der  ablativus  qualitatis. 
ßtegmann  hat  JP.  1885  s.  244  —  45;  1887  s.  265  —  67  aus  einer 
reihe  von  Schriften  Ciceros  445  beispiele  gesammelt  für  den  abl. 
qual.;  nur  27 mal  den  gen.  qual.;  St.  hat  nicht  benutzt  die  briefe 
und  folgende  reden :  pro  Quinctio,  pro  Rose,  com.,  post  red.,  de  domo, 
de  har.  resp.,  in  Vatic,  pro  Cael.,  prov.  cons.,  Corn.  Balb.,  Pis., 
Plane,  Rab.,  Post.;  Gaede  s.  7,  1  hat  untersucht  pro  Quinctio,  pro 
Rose,  com.,  post  red.;  er  findet  18 mal  den  abl.  qual.,  3 mal  den  gen. 
qual.,  eingerechnet  2  genetivi  pretii.  Stegmanns  aus  Cic.  Caes.  ge- 
wonnenes resultat  ist  auch  von  Seyffert- Fries31  adoptiert  worden, 
allerdings  findet  sich  bei  Caes.  der  gen.  qual.  häufiger  als  bei  Cicero. 
Caes.  altitudine  2,  altitudinis  1 ;  aetate  2,  aetaüs  1 ;  stets  levis  arma- 
turae;  auetoritate  1,  auetoritatis  5;  virtute  3,  virtutis  3;  audacia  1, 
audaciae  1;  gratia  3;  honore  2;  potentiae  3;  sollertiae  2;  nobili- 
tate  1;  forma,  figura  je  2;  magnitudine  4;  animo  4  (gesinnung), 
animi  1  (mut)  usw.  Stegmann  hat  richtig  beachtet,  dasz  bei  Caes. 
der  gen.  qual.  meist  attributiv  steht  und  namentlich  mit  den  attri- 
buten  magnus,  maximus,  summus,  tantus;  sonst  nur  levis  armaturae, 
gravioris  aetatis,  multae  operae  et  laboris;  so  nach  St.  auch  Cic. 
indessen  steht  bei  Caes.  auch  der  abl.  qual.  mit  magnus  (7  mal,  gegen 
20 mal,  wo  der  gen.  steht);  auch  bei  Cic.  finde  ich  in  den  von  St. 
angeführten  beispielen  ca.  85  mal  den  abl.  qual.  mit  obigen  adjectiven. 

Caes.  sagt  V  14,  3  capillo  promisso;  jedoch  II  30,  4  tantulae 
staturae  (körperliche  bestimmung).  im  ablativ  stehen  alle  bestim- 
mungen  mit  einem  attribut  im  genitiv:  Caes.  VI  26, 1  (cervi  figura); 
28,  1  (specie  —  tauri);  VII  73,  6  (feminis  crassitudine) ,  III  13,  4. 


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Die  lat.  casußsyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepoß.  601 


Ortsbestimmungen. 


Was  die  einzelnen  städte-  und  ländernamen20  bei  Caes.  betrifft, 
so  verweise  icb  auf  das  geographische  register  in  der  ausgäbe  von 
Db.-Dt. ;  vgl.  Heymacher  s.  46—47.  VII  90,  7  überliefert  in  allen 
codd.  Bibracte;  hingegen  VII  55,  4  Bibracti  mit  a;  indessen  hält 
Meusel  im  lln  Jahresbericht  des  philol.  Vereins  s.  191,  die  lesart 
von  |5,  Bibracte,  für  richtig:  'Bibracte  werden  durch  den  Constanten 
Sprachgebrauch  der  prosa  gefordert,  Neue  I*  232/  Kr.-Dtt.  Bibracte ; 
Db.-Dt.8,  Menge  Bibracti;  vgl.  Matascone  VII  90,  7.  nur  III  7,  1 
fehlt  in  ß  und  den  beiden  codd.  der  classe  or,  BM  in  vor  Illyricum; 
V  1, 5  überall  in  Illyricum  überliefert.  —  Nep.  Dat.  4, 1  Aegyptum 
proficisei.  —  Caes.  sagt  ad  (1  in)  oppidum  Avaricum  usw.  II  12, 1; 
13,  2;  VII  13,  3;  34,  2;  ex  oppido  Gergovia  u.  a.  VII  4,  2;  42,  5; 
79,  3.  Nep.  Cim.  3,  5  in  oppido  Citio;  Ale.  3,  2  in  oppido  Athen is. 

Zu  oppidum  in  der  apposition  vgl.  I  23,  1  quod  a  Bibracte, 
oppido  Aeduorum;  VII  9,  6  profectus  Gergobinam,  Boiorum  oppi- 
dum. wir  erwarten  nach  der  grammatik  die  Wiederholung  der  prä- 
position.  Nep.  Ale.  11,  2  Athenis,  splendidissima  civitate  natus. 

ad  bezeichnet  die  nähe,  umgegend  einer  stadt,  wo  etwas  ge- 
schieht: 17,2;  39,1;  VII  68, 2;  16,1;  52,2;  37,1;  42,1;  VII  75,1 
dum  haec  apud  Alesiam  geruntur  (a) ;  indessen  will  Meusel  mit  ß 
ad  Alesiam  lesen  («o  VII  68,  2;  b.  civ.  III  47,  6).  Richter  s.  25: 
'überhaupt  findet  sich  apud  bei  einem  städtenamen  in  Caesars 
schriften  sonst  nur  lmal:  b.  civ.  III  57,  1  haec  cum  in  Achaia 
atque  apud  Dyrrhachium  gererentur.  auffallend  ist  hierbei,  dasz  C. 
einige  capitel  vorher  (53,  1)  und  ebenso  einige  capitel  nachher 
(62,  3)  ad  Dyrrhachium  sagt,  weshalb  C.  auch  nicht  57,  1  ad  ge- 
braucht haben  sollte ,  da  dies  doch  die  gewöhnliche  ausdrucksweise 
ist,  begreift  man  nicht.'  Richter  will  lesen  ad  Alesiam.  nicht  un- 
erwähnt lasse  ich,  dasz  es  fr.  145,  2  heiszt:  quae  apud  Corfinium 
gesta  sunt.  —  ad  =  in  die  nähe:  I  7,  1;  VII  41,  1;  58,  5;  76,  5; 
79,  1. 

a  steht  zur  schärferen  hervorhebung  der  richtung  (abesse,  dis- 
cedere,  procedere):  VII  38,  1;  80,  9;  43,  5;  45,  4;  59,  1 ;  I  10,  5; 
23,  1;  VII  16,  1. 

domi  C.  6  ohne  attribut;  domum  C.  13,  vgl.  II  10,  4  domum 
suam  quemque  reverti;  domo  C.  9  ohne  attribut.  treten  attribute 
zu  domus,  so  stehen  präpositionen  (C.  b.  gall.  0,  denn  VI  11,  2  in 
[fehlt  in  a]  singulis  domibus  =  in  den  einzelnen  familien ;  b.  civ. 
II  21,  3  in  privat  am  domum);  nur  bei  attributen,  welche  den  be- 
sit/.er  anzeigen,  fehlt  die  präposition  (C.  b.  Gall.  II  10,  4;  jedoch 
b.  civ.  II  18,  2  in  domum  Galloni).  von  dieser  von  St  in  JP.  1887 
s.  255—56  auch  aus  Cic.  begründeten  regel  weicht  Nep.  an  ein- 
zelnen stellen  ab ,  vgl.  Köhler  s.  4 1. 


40  bei  Nep.  auch  Ortsbestimmungen  bei  Damen  von  inseln  und  balb- 
inseln,  .vgl.  Köhler  s.  40.  ^^^^^ 


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602    Die  lat.  casussyntax  auf  grandlage  von  Caeear  und  Nepoa. 

Formen  von  rus,  humi  fehlen  C.  N.  gänzlich;  domi  militiaeque 
u.  a.  C  0;  N.  Ale.  7,  1  domi  bellique. 

Der  abl.  loci  ohne  prüposition  bei  ortsbezeichnungen  mit 

1)  totus  10 mal,  Heyn.  s.  48  (totis  castris,  tota  Gallia  n.  a.). 
Nep.  4  mal. 

2)  locus  50 mal,  Heyn.  s.  47  (multis,  Omnibus  locis;  loco  idoneo, 
alieno,  iniquo,  bei  verben,  die  sonst  mit  in  c.  abl.  construiert  wer- 
den, collocare,  constituere  u.  a.;  uno  loco,  tribns  locis;  suo  loco, 
quodam,  alio  loco). 

Heyn.  s.  48:  'bei  locus  in  Verbindung  mit  qni,  is,  hic  wird  in 
der  regel  die  präposition  gesetzt.'  der  blosze  abl.  steht  VI  27,  4; 
I  27,  4  (in  eo  loco,  quo);  V  43,  6  (ex  eo,  quo  stabant,  loco);  VI  9, 3 
(supra  eum  locum,  quo);  VI  22,  2  quo  loco;  IV  14,  4  (quo  loco; 
TH  quorum  loco;  Heyn,  quo  in  loco?);  die  präposition  steht  an 
18  stellen.  Heynachers  bemerkung  ist  an  sich  richtig;  indessen  steht 
in  auch  sonst  einige  mal:  omnibus  in  locis  2;  uno  in  loco  1;  vgl. 
ferner  IV  33, 3;  VI  30,3;  VII  20,4;  V  53,4;  VI  13,10;  VII  79,2; 
18,3;  II  18,3;  VI  25,5;  III  6,2;  VII  28,1;  in  b.  civ.  8mal  bloszer 
abl.  bei  locus  und  is,  hic,  qui;  5  mal  nur  in.  also  stimme  ich  Fischer 

I  46  bei:  'seltener,  obgleich  immer  noch  häufig  genug,  wird  auch 
die  präposition  häufig  bei  locus  hinzugefügt,  ohne  wesentlichen  unter- 
schied vom  bloszen  ablativ.'  demnach  brauchen  wir  an  den  von 
Heyn.  8.  48  ß,  2  angegebenen  stellen  (IV  33,  3  usw.)  nicht  nach  be- 
sondern stilistischen  gründen  für  die  Setzung  von  in  zu  suchen. 
Nep.  hat  den  bloszen  abl.  32 mal;  in  nur  3 mal;  locus  und  hic,  is, 
qui,  idem  im  bloszen  abl.  18;  quibus  in  locis  Att.  20,  l. 

Nach  dem  Vorgang  von  Delbrück  nehmen  Heynacher  s.  49, 
Stegmann  8.  138  u.  a.  noch  in  zahlreichen  andern  ausdrücken  einen 
abl.  loci  an;  oft  parallelconstruction  mit  in.  nach  der  auffassung 
anderer  (vgl.  Seyffert-Fries)  abl.  instrum. 

considere  trinis  castris  VII  66,  3  (b.  civ.  III  76,  1  und  2:  in); 
hiemare  .  .  hibernis  V  33,  3;  aliquem  castris  continere  I  48,  4; 

II  11,  2  (in  IV  34,  4;  VI  36,  1);  colle,  oppido,  sedibus,  vallo  se 
continere  4;  munitionibus  c.  1;  castris  se  tenere  5  (vgl.  memoria 
tenere  2,  abl.  instr.?);  reeipere  aliquem  finibus,  tecto,  oppido  (is)  5; 
anders  se  reeipere  in  oppidum  usw.;  (se)  occultare  3  (in  VII  85,6); 
se  abdere  C.  örtlich,  in  c.  acc.  9;  in  c.  abl.  2;  27  proelio  bei  con- 
certare,  confligere,  congredi,  contendere,  decertare,  dimicare,  pellere, 
periclitari,  pugnare,  superare,  vincere,  superiorem  esse.  —  pugna  2; 
hello  4. 

Stegmann  unterscheidet  eo  proelio  Persae  victi  sunt  von  in 
eo  proelio  Cyrus  interfectus  est  (vgl.  C.  IV  12,  3);  I  12,  7.  —  ali- 
quem numero  alieuius  ducere  VI  21,  2;  habere  VI  6,  3;  13,  7;  ali- 
quem obsidum  numero  mittere  V  27,  2;  VI  13,  1  qui  (in  ß)  aliquo 
sunt  numero  atque  honore,  abl.  qual.;  in  numero  I  28,  2;  VI  23,  8; 
32, 1 ;  oft  in  numero  esse;  aliquem  honore  habere  V  54,4  (in  honore 
b.  civ.  I  77,  2;  III  47,  7).   über  den  abl.  animo  vgl.  abl.  limit.; 


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Die  lat.  casußsyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos.  603 

recta  regione  VI  25,  2;  VII  46,1;  hia  (diversis)  regionibus  V  19,1; 
VI  25,  3;  in  his  regionibus  z.  b.  IV  21,  7. 

Der  ablativ  steht  zur  bezeichnung  des  weges,  auf  dem  eine  be- 
wegung  stattfindet:  via  ire  I  9,  1;  vgl.  V  19,  2;  in  Wendungen  wie 
maximis  itineribus  proficisci  sprechen  einige  vom  abl.  instr.  (Steg- 
mann), andere  vom  abl.  loci  (Heynacher),  andere  (Menge)  vom  abl. 
modi.  Caeb.  sagt  niemals  in  magnis  itineribus  contendere;  der  abl. 
ist  wohl  instrumental  oder  modal  zu  fassen;  esse  in  itinere  II  16,3; 
in  eo  itinere  I  3,  4;  in  nach  Heyn.  s.  50  temporal,  vgl.  in  prin- 
cipatu:  oft  in  itinere  unterwegs,  die  locale  bedeutung  bei  iter  tritt 
mehr  hervor  III  26,  2  (cohortibus  longiore  itinere  circumductis); 
I  21,3;  III  3,3;  I  6,  1;  III  1,2;  VII  16,3;  V  37,7;  58,2;  1113,2; 
V  49,  8;  50,  3;  VII  41,  2  (Menge  will  in  hinzufügen);  VI  34,  4; 
andere  abl.  loci  vgl.  VII  45,  5;  45,  10;  50,  1 ;  VII  45,  3  longo  cir- 
cuitu  .  .  .  easdem  petere  regiones;  abl.  instrumenti?  vgl.  I  41,  4  ut 
milium  amplius  L  circuitu  locis  apertis  exercitum  duceret  —  VII  66,4 
(AO  in  agmine,  so  Kr.-Dtt.,  Menge,  Schneider  u.  a.);  in  agmine 
III  24,  3;  20,  3;  flumine  frumentum  subvehere  I  16,  3;  V  15,  1 
omnibus  partibus. 

Der  ablativ  bezeichnet  den  räum ,  über  den  hin  die  bewegung 
stattfindet:  III  26,6  quos  equitatus  apertissimis  campis  consectatus ; 
I  41,  4;  VII  45,  2;  45,  5;  IV  23,  6;  VII  61,  1;  I  39,  5;  V  34,  1; 
55,  3;  VI  37,  6;  VII  1,  1;  38,  10;  72,  4. 

qua  9;  hac,  ea  C.  b.  Gall.  Omal. 

Nepos;  vgl.  Köhler  s.  30  und  41.  zahlreiche  der  angeführten 
Wendungen  wie  castris  considere  u.  a.  begegnen  den  schülern  erst 
in  der  Caesarlectüre.  Nep.  hat  se  abdere  in  c.  acc.  Ale.  9, 1 ;  reeipere 
aliquem  in  patriam  Them.  7,  6;  in  fidem  Them.  8,  4  (vgl.  Caes. 
reeipere  in  fidem  II  15,  1;  IV  22,  2;  in  servitutem,  in  deditionem, 
condicionem  VII  78,  4;  III  21,  3;  I  28,  5);  teuere  in  potestate, 
obsidione,  ancoris  4;  se  tenere  domi,  uno  loco  in  castello  4:  bene- 
ficia  memoria  retinere  Att.  11,  5;  proelio  vinci  u.  ä.  Ale.  4,  7;  5,  5; 
Paus.  1,  2;  Conon  4,  4;  Ages.  4,  5  u.  a. ;  esse  in  numero  Dat.  9,  2; 
militium  numero  fuit  eorum  Dat.  1,  1  (abl.  qual.);  haberi  numero 
Thras.  4, 2;  Ag.  4,8;  Ep.  7,1;  der  weg  oder  die  strasze,  auf  welcher 
eine  bewegung  stattfindet,  nur  Eum.  3,  5;  8,  5;  Hann.  4,  3  (Nipp. 
Lup.9  hoc  itinere;  Fleckeisen  hoc  in  itinere) ;  in  itinere  unterwegs  Dat. 
5,  1;  Paus.  5,  1;  Dat.  9,  3;  Eum.  5,  2;  qua,  ea,  eadem,  hac  10 mal. 

in  c.  abl.  bei  den  verben  pono,  loco,  colloco  usw. 

ponere  C.  21  (merke  positum  esse  in  virtute,  celeritate  u.  a., 
urbs  posita  est  in  monte,  valle;  VII  69,  7  ponebantur  a;  disp.  0); 
ibi,  ubi  II  5,4;  8,3;  13,3.  Nep.  11.  —  dispono  Caes.  5.  —  deponere 
C.  2,  Nep.  Hann.  9,  3.  —  exponere  C.  1. 

loco  C.  überhaupt  nicht;  N.  0.  —  colloco  C.  17  (copias  in 
hibernis  u.  a.),  auch  II  30,  4?  vgl.  M.-Pr.  s.  189,  59  ff.;  ibi  4mal; 
vgl.  collocare  verheiraten  I  18,  7;  18,  6.  Nep.  2. 


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604     Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  und  Nepos. 

statuo  C.  überhaupt  nicht;  Nep.  Eum.  7,  2.  constituo  C.  10; 
Nep.  2. 

considere  C.  8;  hic,  ibi  u.  a.  4;  Nep.  2.  consistere  sich  auf- 
stellen, stehen  bleiben  u.  ä.  16;  beruhen  auf  4;  ibi  u.  a.  6;  vgl.  in 
orbem  V  33,  3.  Nep.  Dat.  8,  3  (beruhen),  insisto  C.  IV  33,  3. 

Anm.  imponere  in  c.  acc.  (oder  eo)  C.  142,  5;  51,3;  VII  58,4 
(impositis  |3;  inectis  a,  edd.).  Nep.  Dion  4,  2  in  naves. 

figo,  infigo,  insculpo,  inscribo,  incido,  iinprimo  C.  0;  nur  deßgo 

V  44,  7.  Nep.  incido  Ale.  4,  5 ;  inscribo  Ep.  8,  2  (Fleckeisen,  scri- 
berent  Nipp.  Lup.). 

in  c.  acc.  bei  den  verben  advenio  usw. 

advenio  C.  N.  0;  pervenio  C.  N.  oft;  con venire  8;  eo,  huc 
usw.  11;  Nep.  3  (quo,  eo).  coneurro  C.  3,  Nep.  Hann.  10,  5  (in 
unam  navem ,  angriffsweise),  congregari  C.  N.  0.  cogere  in  locum, 
eo  C.  6.  contrahere  C.  1,  Nep.  2  (eo,  illuc).  conferre  C.  8;  huc, 
eo  5;  Aduatucam  1 ;  Nep.  3.  nuntiare  in  Italiain  C.  1 ,  N.  0.  Be- 
vern C.  N.  0;  devertere  Nep.  Pelop.  2,  5;  Lys.  2,  2.  appelli  (C.  V 
13,  1 ;  VII  60,  4  quo),  N.  appellere  classein  ad  2. 

Raumbestimmungen. 

Der  acc.  steht  auf  die  frage  wie  lang,  breit  usw.  C.  longus  VII 
73,  9;  latus  VII  24,  1;  72,  3;  vgl.  VII  19,  1  palus  .  .  .  non  latior 
pedibus  quinquaginta  (=  quam  und  acc);  altus  VII  24,  1;  73,  2. 
im  b.  civ.  latus,  longus  nur  je  1  mal.  —  Vgl.  C.  III  19,  1  locus  erat 
castrorum  . . .  paulatim  ab  imo  aeclivis  circiter  passus  mille.  Nep.  0; 
nur  2 mal  den  gen.  qual.,  so  auch  Caesar;  vgl.  Db.-Dt.  zu  II  5,  6. 
obige  adjectiva  Liv.  XXI — XXIII  12  mal. 

C.  sagt  gern  in  longitudinem ,  latitudinem  patere  (esse)  c.  acc. 

I  2,  5;  II  7,  4  (amplius  c.  abl.  =  amplius  quam  c.  acc);  V  13,  6; 

VI  29,  4  (vgl.  II  7,  4) ;  VII  69,  3;  70, 1 ;  79,  2.  bei  anderen  verben 
zusatz  von  in  longitudinem  usw.  mit  gen.  qual.  VI  29,  2  (partem 
ultimam  pontis  ...  in  longitudinem  pedum  CC  rescindit)  18,1; 

II  5,  6;  III  13,  4;  VII  8,  2;  69,  5;  73,  5;  II  29,  3;  VII  23,  5.  — 
alieuius  rei  longitudo,  altitudo  est  c  gen.  qual.  V  13,  5;  II  18,  3. 
vgl.  noch  VII 46,  3 ;  VI  25,  1.  der  acc.  auf  die  frage  wie  weit?  noch 

VII  72,  2;  23,  5  (pedes  quadragenos  .  .  .  revinetae,  so  codd.  edd.; 
Menge:  gen.)  II  18,  2;  17,  2;  I  49,  1;  I  22,  6  milia  passuum  trium 
ab  eorum  castris  castra  ponit;  IV  3,  2;  V  11,8;  VII  16,  1;  121, 1; 

V  47,  5;  VII  66,  2;  V  13,  1;  153,  1;  V  47,  1;  IV  23,  6;  V  9,  2; 
49,  5;  VII  40,  4;  60,  1;  II  11,  4;  —  VI  25,  4  cum  dierum  iterLX 
processerit;  I  38,  1 ;  V  10,  2;  VII  45,  5;  IV  24.  3;  I  50,  1;  VII 
49,  3;  61,  5;  IV  4,  4.  häufig  bei  distare  und  abesse:  IV  17,  6;  VII 
72,  1;  23,  1;  72,  4;  73,  8;  II  17,  2;  V  27,  9;  IV  7,  2;  I  49,  3; 
II  6,  1 ;  13,  2 ;  V  46,  1 ;  53,  1 ;  VII  38,  1 ;  46,  1 ;  der  abl.  steht  nur 
I  41,  5;  43,  5;  vgl.  den  abl.  noch  I  25,  5  (Kr.-Dtt.  krit.  anhang); 


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Die  lat.  casussyntax  auf  grundlage  von  Caesar  and  Nepos.  605 

III  17,  5;  II  23,  4;  IV  17,  5;  I  43,  2;  ist  der  ort,  von  dem  aus  die 
entfernung  berechnet  ist,  nur  aus  dem  Zusammenhang  zu  erschlieszen, 
so  steht  a:  II  7,  3;  V  32,  1;  VI  7,  3;  IV  22,  4;  1130,3.  Nep.  Milt. 

4,  2,  Hann.  6,  3  (abesse  a  und  acc.). 

Ell.-SeyfiV0  §  180  anm.  1 :  spatium  und  intervallum  stehen  nur 
im  ablativ.  —  Diese  anm.  fehlt  in  der  34n  aufl.  wohl  in  rücksicht 
auf  C.  II  17,  2  magnum  spatium  abesse. 

Zeitbestimmungen. 

1)  der  ablativ  steht  auf  die  frage  wann?  und  innerhalb  wel- 
cher zeit? 

Bei  tempus  wann?  44;  innerhalb  I  40,  11;  VI  1,  3;  VII  24,  1 
(brevi,  toto  tempore). 

Bei  annus  wann  9  (proximo,  superiore  anno  usw.);  innerhalb: 

I  31,  11  (paucis  annis). 

Bei  aestas  4  (superiore,  inita,  una);  vgl.  II  35,  2  inita  proxima 
aestate,  so  edd.  und  a;  TUL  (teil  von  ß)  initio  proximae  aestatis; 
für  et  spricht  II  2,  1  inita  aestate.  —  hieme  2.  —  vere  primo  1 ; 
autumno  0. 

Bei  dies  76  mal  (innerhalb  II  2,  5;  IV  18,  1 ;  I  48,  4  u.  a.). 
tri-biduo  innerhalb  5. 

prima  luce  11  mal,  prima  nocte  usw.  19;  nocte  allein  II  17,  2; 
noctu  16  (V  17,  6  noctu;  nocte  nur  TU);  innerhalb  z.  b.  IV  4,  5; 
vigilia  und  zahl  wort  6. 

Bei  hora  4  (innerhalb  VI  35,  8). 

Bei  spatio  innerhalb  III  12,  1 ;  VI  36,  3;  VII  81,  1. 

memoria  nostra  u.ä.  II  4,  7;  III  22,  3;  VI  3,5;  1 12,5;  40,  5; 

II  4,  2 ;  perpetua  vita,  innerhalb,  während  I  40,  13 ;  initio  orationis 
I  43,  4;  proximis  comitiis  VII  67,  7;  proelio(iis),  während,  im  ver- 
lauf I  26,  2;  III  5,  2;  IV  2,  3;  VI  58,  1;  bello  I  13,  2;  40,  13; 
44,  9;  IV  20,  1;  VII  77,  12.  sowohl  bello  als  proelio  verbunden 
mit  attribut;  quintis  castris  VII  36,  1;  solis  occasu  I  50,  3;  sole 
Oriente  VII  3,3;  Tencterorum  transitu  V  55,  2;  tumultu  servili 
I  40,  5;  imperio  pop.  Rom.  I  18,  9;  imperio  nostro  II  1,  4;  ad- 
ventu  5;  discessu  3. 

inter,  während  I  36,  7;  intra  vor  ablauf  VI  21,  5. 

in  im  verlauf,  während,  bei:  VI  42,  1 ;  V  33,  1;  III  26,  4;  IV 

5,  3;  V  25,  2;  VI  1,  3;  VII  29,  3;  I  46,  3;  46,  4;  I  35,  2;  I  44,  9; 

V  44,  14;  Vü  52,  2;  39,  2;  I  53,  4;  53,  5;  V  16,  1;  VII  17,  4; 

VI  23,  5;  IV  24,  4;  33,  3;  VII  88,  1 ;  V  14,  2;  33,  2;  III  22,  2: 
in  bello,  proelio,  vita,  fuga,  colloquio  u.  a. 

2)  der  accusativ  steht  auf  die  frage  wie  lange?  I  40,8 ;  V53, 3; 

IV  34,  4;  VII  17,  3;  32,  1;  V  13,  3;  IV  34,  4;  I  48,  3;  VI  36,  1 ; 
I  39,  1;  IV  19,  1;  VII  5,  4;  I  15,  5;  VI  38,  1;  VII  77,  11;  42,  6; 
I  3,  4;  I  18,  3;  31,  4;  II  29,  6;  in  23,  5;  IV  1,  2;  4,  1;  V  25,  3; 
VI  14,  3;  VII  17,5;  32,  3;  III  12,  5;  VII  35,2;  IV  4,7;  VII 10, 1; 
I  26,  5;  V  7,  3;  I  26,  5;  II  16,  1;  VII  9,  1. 


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606  Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  and  Goethe. 


per  steht  nur  VI  36,  1  in  ß\  per  fehlt  a,  edd.;  per  einige- 
mal b.  civ. 

Zeitbestimmungen  mit  abhinc  fehlen,  desgleichen  altersangaben 
mit  natus  und  agens. 

Seit:  ex  I  42,  3;  48,  3;  IV  18, 4  u.  ö.  vgl.  V 25,  3  tertium  iam 
hunc  annum  regnantem. 

Von  —  an,  a  I  26,  2;  III  15,  5;  VI  8,  9;  VII  13,  1;  28,  6; 
V  35,  5;  VII  80,  6;  VI  21,  3;  IV  1,  9;  V  45,  2;  oft  mit  ad  (usque 
ad)  verbunden. 

in  c.  acc.  auf  wie  lange?  in  praesentia,  in  perpetuum,  in  dies 
24  mal. 

Für  Nep.  vgl.  Köhler  s.  43—46.  in  pueritia,  in  senectute  je  1 ; 
in  consulatu,  in  magistratu  je  1  (vgl.  Caes.  I  35,2  in  consulatu  suo); 
in  tempore  0  (Caes.  0);  suo  tempore  1  (Caes.  0);  hoc  in  tempore  in 
dieser  läge.  Milt.  5, 1 ;  per  fehlt ;  innerhalb  welcher  zeit?  21  (brevi 
tempore  usw.);  inter,  intra  0;  abhinc  0;  ex  nur  Timol.  6,  5;  vgl. 
Eum.  11,3  quare  iam  tertium  diem  teneretur;  auf  wie  lange?  2 mal; 
wie  alt?  natus  c.  acc.  5;  agens  Omal. 

Schwerin.  K.  Brinker. 


(54.) 

KRITISCH- EXEGETISCHES  ZU  SCHILLER  UND  GOETHE. 

(8chlU8Z.) 


10.  Don  Carlos,  act  II  scene  15. 

Sprich  doch  —  was  haben 
entweihungen  des  königlichen  bettes 
2405  mit  deiner  —  deiner  liebe  denn  zu  schaffen? 
war  Philipp  dir  gefährlich?    welches  band 
kann  die  verletzten  pflichten  des  gemahls 
mit  deinen  kühnern  hoffnungen  verknüpfen? 
hat  er  gesündigt,  wo  du  liebst? 

Ich  gehe  von  dem  schwierigen  letzten  satze  aus.  wir  haben  eine 
doppelte  scharfe  antithese,  der  hauptaccent  fällt  auf  'er'  und  Mu'; 
betont  man  so,  dann  ist  auch  gesprochen  die  stelle  kaum  miszu ver- 
stehen, der  sinn  ist,  um  mich  zunächst  möglichst  an  den  gegebenen 
Wortlaut  anzuschlieszen  :  'hat  er  in  einem  Verhältnis  (dem  ehebruch) 
sünde  begangen,  in  dem  du  für  dich  nur  liebe  siehst?'  oder  freier: 
'nennst  du  das  bei  ihm  sünde,  was  du  bei  dir  selbst  liebe  nennst?' 
das  t  band  ',  welches  die  f  kühneren  hoffnungen'  des  Don  Carlos  mit 
der  pflicht Vergessenheit  des  gatten  verknüpft,  ist  das  recht,  welches 
die  logik  der  leidenschaft  aus  fremder  schuld  für  die  eigne  schuld 
entnehmen  will;  die  'kühnern  hoffnungen'  bezeichnen  eine  liebe, 
welche  den  idealen  Charakter,  den  sie  bisher  trug,  abzustreifen  sich 
anschickt. 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


607 


Ich  komme  damit  im  wesentlichen  auf  Düntzera  erklärung  zurück: 
'hat  blosz  er  gesündigt,  dasz  er  die  Eboli  liebt,  nicht  auch  du,  wenn 
du  denkst,  die  königin  werde  deine  begierden  befriedigen?'  Beller- 
manns einwand:  von  einem  solchen  'nicht  nur  —  sondern  auch'  stehe 
nichts  im  texte,  erledigt  sich  durch  meine  ausführungen,  sein  zweiter 
einwurf 'Posa  halte  Carlos'  liebe,  wie  er  sie  ihm  erklärt,  nicht 
für  stinde'  ist  mir  unbegreiflich ,  da  Posa  ja  unmittelbar  vorher  ge- 
sagt hat : 

Karl,  ich  lese 

in  deinen  mienen  etwas  —  mir  ganz  neu  — 
ganz  fremd  bis  diesen  augenblick  —  du  wendest 
die  äugen  von  mir?    warum  wendest  du 
die  äugen  von  mir?    so  ist's  wahr? 

also  mit  schmerzen  sieht  er,  dasz  Carlos  diese  liebe,  wie  er  sie  ihm 
erklärt  hat,  jetzt  vergessen  will.  — -  Bellermann  selbst  faszt  die  stelle 
so:  'ist  es  dieselbe  höhe,  gleichsam  derselbe  boden  (niveau),  auf* 
welchem  deine  liebe  und  seine  sünde  sich  bewegen?  der  könig  em- 
pfindet niedere  sinneniust  zur  Eboli,  du  ideale  anbetung  für  die 
königin;  kann  das  eine  das  andere  irgendwie  berühren?'  diese  er- 
klärung ist  sprachlich  äuszerst  gezwungen,  sie  verwischt  die  sprach- 
lich klar  gegebene  antithese,  um  eine  neue,  die  gar  nicht  ausgedrückt 
ist,  zu  ergänzen,  und  ignoriert,  dasz  mit  den  'kühnern  hoffnungen' 
Posa  von  der  liebe  seines  freundes,  wie  sie  sein  sollte,  bereits  zu  der 
sündhaften  liebe,  wie  sie  jetzt  ist,  übergegangen  ist.  ich  kann  nur 
annehmen ,  dasz  Bellermann  zu  dieser  erklärung  durch  die  vorher- 
gehenden verse  geführt  ist:  'war  Philipp  dir  gefährlich ?'  Düntzer 
bemerkte  dazu :  'gefährlich  ist  hier  wenig  bezeichnend  (!).  hat  Philipp 
deine  rechte  auf  sie  durch  seine  Vermählung  vernichtet,  wie  kannst  du 
hoffen,  dasz  die  königin  ihre  heiligen  pflichten  gegen  den  gatten  ver- 
nachlässigen werde?'  über  diese  erklärung  urteilte  Bellermann  mit 
sehr  berechtigter  ironie:  'es  dürfte  schwer  gelingen,  zwischen  diesen 
Worten  und  der  zu  erklärenden  stelle  einen  gedankenzusammenhang 
aufzuweisen.'  Bellermann  selbst  hat  die  stelle  richtig  umschrieben: 
'auf  dem  gebiet  idealer,  entsagungsvoller  liebe,  wo  ich  dich  hoffte, 
konnte  dir  Philipp  niemals  gefährlich  sein.'  aber  er  verkannte  den 
gedankenfortschritt,  welchen  v.  2407  gegenüber  dem  parallelen 
v.  2403  bringt:  a)  was  für  ein  hindernis  deiner  platonischen  liebe 
zur  königin  kann  Philipps  person  sein?  b)  oder  glaubtest  du  etwa 
gar  in  seiner  untreue  das  recht  zu  kühneren  wünschen  zu  finden? 

11.  Don  Carlos,  act  III  scene  3. 

2630  König  (nach  den  papieren  greifend)  Auch  das  nicht? 
und  das?  und  wieder  das?  und  dieser  laute 
zusammenklang  verdammender  beweise? 
o  es  ist  klärer,  als  das  licht. 

Bellermann  s.  310  sagt  hierzu:  'genau  betrachtet  sind  es  nur  zwei 
Verdachtsgründe :  die  briefe  an  die  königin  und  sein  gespräch  mit 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


ihr  im  garten  von  Aranjuez.  aber  es  ist  ein  sehr  natürlicher  zug  der 
erregung  des  königs,  dasz  ihm  dies  wie  eine  ganze  schar  von  be- 
weisen erscheint.'  wunderlich !  Bellermann  schafft  sich  hier  Schwie- 
rigkeiten, die  jede  scenische  darstellung  der  stelle  sofort  beseitigt: 
der  könig  greift  beim  beginn  seiner  rede  nach  den  briefen  des  Don 
Carlos  an  die  königin ,  mit  einem  bezeichnenden  gestus  (etwa  mit 
dem  rücken  der  band)  weist  er  auf  die  einzelnen  gravierenden  blätter 
hin,  mit  'wieder  das'  geht  er  dann,  die  hand  erhebend,  auf  den 
ersten  verdachtsgrund ,  das  von  Alba  angeführte  zusammentreffen 
der  königin  mit  Carlos  in  Aranjuez,  zurück,  auf  welches  nun  rück- 
wirkend ein  neues  licht  fällt,  und  hebt  am  schlusz  hervor,  in  wel- 
chem  klaren  Zusammenhang  nunmehr  alles  erscheint. 

12.  Das  Siegesfest,  v.  150. 

Rauch  ist  alles  ird'sche  wesen, 
wie  des  rauches  säule  weht, 
schwinden  alle  erdengrüszen  .  .  . 

der  anfang  ist  wohl  eine  unbewuste  reminiscenz  an  Uz,  sämtliche 
poetische  werke  (Reuttiingen  1777)  I  145: 

Rauch  ist  alles,  was  wir  schätzen: 
unser  teuerstes  ergetzen, 
unser  leben  selbst  ist  rauch. 

es  ist  zu  beachten ,  dasz  diese  verse  von  Schillers  gattin  in  einem 
brief  an  Knebel  vom  26  november  1789  (briefe  von  Schillers  gattin 
an  einen  vertrauten  freund,  herausgegeben  von  Düntzers.  62),  aller- 
dings scherzhaft,  wie  sie  ursprünglich  gemeint  waren,  citiert  wer- 
den, dasz  Schiller,  wie  R.  Köhler  hervorhob,  das  gedieht  von  Uz  'an 
die  freude'  (I  248) 

Freude,  königin  der  weisen  usw. 

bei  seinem  hymnus  'an  die  freude'  vorschwebte,  und  dasz  überhaupt 
Uz  einer  der  lieblingsdichter  seiner  jugend  war;  vgl.  Car.  v.  Wolzogen 
Schillers  leben  (1845)  s.  11,  Boxberger  in  Schnorrs  archiv  f.  litt.- 
gesch.  VIII  124  f.  IX  565. 

Wie  vorsichtig  man  sonst  in  der  annähme  einzelner  reminis- 
cenzen  und  entlebnungen  im  ausdruck  sein  musz,  zeigt  in  eclatanter 
weise  folgende  parallele:  Schiller  beginnt  bekanntlich  den  eben  ge- 
nannten hymnus: 

Freude,  schöner  götter funken, 
tochter  aus  Elysium. 

dazu  vergleiche  man  Klopstocks  ode  f Wink*  v.  25  f. 

Freude,  freude,  du  h i mmel skind! 

danksagend  küszt  er  den  zauberstab, 

von  dem,  als  du  damit  ihn  berührtest, 

ein  heiliger  funken  ihm  in  die  seele  sprang. 

sollte  man  nicht  meinen,  dasz  Schiller  zu  jenem  ungewöhnlichen 
epitheton  der  freude  durch  den  letzten  vers  angeregt  sei?  indessen 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe.  609 

Klopstocks  ode  entstand  zwar  schon  1778,  wurde  aber  erst  1798  in 
der  Göschenschen  Sammlung  seiner  werke  veröffentlicht  (Klopstocks 
oden  herausg.  von  Muncker  und  Pawel  II  13). 

13.  Nänie. 

Der  anfangsvers  dieses  nach  Schillers  angäbe  1799  entstandenen 
gedichtes: 

Auch  das  schöne  musz  sterben!    das  menschen  und  götter  be- 
zwinget, 

und  der  schluszvers: 

denn  das  gemeine  geht  klanglos  zum  Orcus  hinab, 

enthalten  eine  mechanische  reminiscenz  an  die  scbluszverse  der  7n 
und  8n  römischen  elegie  Goethes,  welche  1795  im  ersten  j ahrgang 
von  Schillers  Hören  erschienen  waren: 

.  .  .  wenn  die  beere  gereift  menschen  und  götter  entzückt. 
.  .  .  Cestius  mal  vorbei  leise  zum  Orcus  binab. 


14.  Braut  von  Messina,  act  IV  scene  4. 

Bei  den  worten  der  Isabella: 

Nichts  wahres  läszt  sich  von  der  zukunft  wissen, 
du  schöpfest  drunten  an  der  hölle  flüssen, 
du  schöpfest  droben  an  dem  quell  des  lichts! 

schwebte  Schiller  unzweifelhaft  die  stelle  Jesajas  VII  11  vor:  for- 
dere dir  ein  zeichen  vom  herrn,  deinem  gott,  es  sei  unten  in 
der  hölle  oder  droben  in  der  höhe.*  ob  ihm  das  biblische 
citat  als  solches  bewust  war,  bleibe  dahingestellt;  wie  vertraut  ihm 
biblische  Wendungen  in  seinen  jugend werken  sind,  ist  bekannt. 
Ebenso  enthalten  die  anfangsworte  der  Isabella: 

Es  zieht  mich  grausend  hin  und  zieht  mich  schaudernd 
mit  dunkler,  kalter  schreckenshand  zurück, 

wie  schon  die  worte  Theklas  (W.  T.  III  2,  1345) : 

jetzt  ist  sie  da,  die  kalte  schreckenshand! 

ein  unbewustes  citat  aus  Goethes  Iphigenie  I  3 : 

.  .  .  elend,  das  jeden  schweifenden  .  .  . 

mit  kalter,  fremder  schreckenshand  erwartet. 

15.  Über  anmut  und  würde. 

Es  scheint  noch  nicht  beachtet  zu  sein,  dasz  die  berühmte 
allegorie  vom  gürtel  der  Venus ,  mit  der  Schiller  seine  abhandlung 
eröffnet,  auf  Winckelmanns  anregung  zurückzuführen  ist.  in 
der  geschichte  der  kunst  VIII  2  §  16  (in  der  Weimarischen  ausgäbe 
der  werke  V  248)  sagt  er:  'die  künstler  des  schönen  stils  geselleten 

N.  jahrb.  f.  phil.  n.  p*d.  II.  abt.  1891  hft.  12.  39 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


mit  der  ersten  und  höchsten  Gratie  die  zwote,  und  sowie  des 
Homerus  Juno  den  gürtel  der  Venus  nahm,  um  dem 
Jupiter  gefälliger  und  liebenswürdiger  zu  erscheinen,  so  suchten 
diese  meister  die  hohe  Schönheit  mit  einem  sinnlicheren  reize  zu  be- 
gleiten und  die  groszheit  durch  eine  zuvorkommende  gefälligkeit 
gleichsam  geselliger  zu  machen.' 

Die  ausfuhrungen  am  schlusz  über  das  Verhältnis  des  liebenden 
zu  d  em  [das  masculinum  schon  ist  bezeichnend!]  geliebten  (Goedeke 
X  120  f.)  beruhen  auf  Piatons  Symposium,  von  dem  die  Neue  Thalia 
erst  im  vorigen  jähre  (1792  III  teil,  stück  2.  3)  eine  Übersetzung 
gebracht  hatte;  vgl.  in  derselben  s.  199.  346  f.  353.  355. 

16.  Tasso,  act  IV  scene  2. 

V.  2402  hat  Strehlke  in  der  Hempelschen  ausgäbe  die  lesart 

aufgenommen : 

auch  in  der  ferne  zeigt  sich  alles  reiner, 
was  in  der  gegenwart  uns  nur  verwirrt. 

ihm  ist  jetzt  Weinhold  in  der  Weimarer  Sophien- ausgäbe  beigetreten; 
bei  der  autorität  dieser  Standard- edition  ist  anzunehmen,  dasz  damit 
auch  diese  lesart  alsbald  zur  vulgata  werden  wird,  dagegen  wollen 
Düntzer  (erläuterungen  zu  Goethes  werken  10'  s.  138)  und  Franz 
Kern  (Goethes  Tasso,  beitrüge  zur  erklärung  des  dramas  8.  153 
anm.  45)  die  ältere  lesart  'ach'  für  'auch'  aufgenommen  sehen. 

So  unbedeutend  die  Variante  auf  den  ersten  blick  scheinen  mag, 
so  enthält  sie  doch  eine  nicht  unwesentliche  nuance ,  und  die  frage 
verdient  eine  eindringendere  erwägung,  als  sie  bisher  erfahren  hat, 
damit  sie  endlich  einmal  zum  ab.schlusz  gebracht  wird. 

Für  die  lesart  rach'  sprechen  zunächst  alle  äuszeren  gründe. 

Die  sämtlichen  hand Schriften ,  die  erste  ausgäbe  in  'Goethes 
Schriften'  1790  bd.  VI,  der  abdruck  von  1791  bd.  III  und  die  einzel- 
ausgaben  von  1790. 1816. 1819,  sowie  die  zweite  ausgäbe  in 'Goethes 
werken'  1807  bd.  VI  zeigen  übereinstimmend  diese  lesart.  erst  die 
dritte  ausgäbe  in  'Goethes  werken'  1816  bd.  VII  bringt  dann  'auch', 
die  beiden  ausgaben  letzter  hand  von  1828,  in  taschenformat  und 
groszoctav  haben  diese  änderung  beibehalten,  wenn  nun  auch  für 
die  constituierung  des  textes  die  vom  dichter  selbst  ihm  endgültig 
gegebene  gestalt  maszgebend  sein  soll,  so  können  in  diesem  falle 
doch  die  änderungen  der  beiden  letzten  ausgaben  nicht  als  ab- 
schlieszende,  von  Goethe  selbst  gewollte  gelten,  weil  sie  mehrfach 
unzweifelhafte  Verschlechterungen  sind,  z.  b.  v.  1550  'ein  kind' 
statt  'kein',  v.  1669  'zu  ihm'  statt  'zu  uns',  wo  der  Zusammen- 
hang mit  notwendigkeit  die  frühere  lesart  als  die  richtige  ergibt 
(vgl.  Weinhold  s.  426  unten). 

Sodann  ist  die  Wortstellung  in  dem  von  'auch'  eingeleiteten 
satze  bei  Goethe  zwar  nicht  unerhört,  aber  doch  immerhin  sehr 
selten,  die  von  Kern  a.  a.  o.  dafür  angeführten  stellen  sind  zum  teil 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


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ganz  anderer  art.  den  von  Weinbold  hier  geltend  gemachten  'älteren 
deutschen  brauch'  mag  man  sich  in  dem  geflissentlich  an  den  älteren 
Sprachgebrauch  sich  anlehnenden  ersten  teil  des  Faust  gefallen 
lassen  (v.  2939): 

auch  er  bereute  seine  fehler  sehr; 

für  die  diction  des  Tasso  kommt  dieser  hinweis  schwerlich  in  be- 
tracht.  so  ist  die  einzige  Tassostelle,  die  Kern  citiert,  v.  176 

allein  mir  scheint  auch  ihn  das  wirkliche 
gewaltsam  anzuziehen  und  festzuhalten, 

unzweifelhaft  so  zu  verstehen,  wie  jeder  sie  zunächst  auffassen  wird: 
das  'auch'  bezieht  sich  nur  auf  'ihn',  die  prinzessin  weist  damit  den 
gegensatz  zurück,  welchen  Leonore  so  eben  zwischen  dem  welt- 
entrückten dichter  und  den  übrigen  menschen  gemacht  hatte,  nicht 
zu  vergleichen  ist  auch  'das  göttliche*  v.  26 

auch  so  das  glück 
tappt  unter  die  menge; 

hier  ist  der  erste  vers  des  nachdrucks  halber  losgelöst  und  fast  wie 
ein  selbständiger  elliptischer  satz  vorangestellt. 

Entscheidend  aber  ist,  dasz  allein  die  lesart  'ach'  vor  einer 
schärferen  prtifung  des  Zusammenhangs  bestehen  kann,  vergegen- 
wärtigen wir  uns  zunächst  den  auf  bau  der  scene. 

Leonore  tritt  an  Tasso  heran  mit  der  bewusten  absieht,  ihn  zu 
sich  nach  Florenz  zu  ziehen,  aber  es  hiesze  ebenso  ihre  fein  ge- 
wandte art  wie  die  trotz  aller  selbstsüchtigen  regungen  bewahrte 
reinheit  und  tiefe  ihres  empfindens  verkennen,  wenn  man  annehmen 
wollte,  dasz  sie  diese  absieht  Tasso  gegenüber  unmittelbar  ausspräche 
oder  planmäszig  verfolgte. 

Nach  dem  gewinnenden  eingang  (2241 — 2250),  in  dem  sie, 
geschickt  den  tadel  Uber  Tassos  unbesonnenes  und  maszloses  wesen 
in  scheinbare  anerkennung  der  entgegengesetzten  Vorzüge  kleidend, 
ihn  zu  seinem  besseren  selbst  zurückzuführen  sucht,  bemüht  sie  sich 
im  ersten  teile  der  Unterredung  (—2338)  ihn  zu  einer  milderen 
und  gerechteren  beurteilung  Antonios  zu  bringen,  wobei  sie 
ebenso  schonend  auf  Tassos  empfindlichkeit  eingeht,  als  ehrlich  und 
unbefangen  gegen  alle  einwendungen  desselben  den  wahren  Charakter 
des  gegners  hervorhebt,  erst  als  ihr  dies  nicht  gelungen  ist  und  sie 
sich  von  der  vergeblichkeit  weiteren  dringens  in  Tasso  bei  dessen 
absichtlicher  verstockung  überzeugt  hat  ( — 2352),  deutet  sie  im 
zweiten  teile  zunächst  nur  leise  an,  dasz  seine  weitere  Stellung  in 
Ferrara  dadurch  eine  unhaltbare  werde,  aber  als  Tasso  sofort  hart 
und  bitter  sein  Verhältnis  zum  hofe  bezeichnet,  ist  sie  es  wiederum, 
die  ihn  dreimal  zu  einer  gerechteren  Würdigung  desselben  auffor- 
dert, indem  sie  ihn  hinweist  auf  die  liebe,  die  ihm  entgegengebracht 
wird  (2359  f.),  den  dank,  welchen  die  freiheit,  die  man  ihm  ge- 
währt, verdiene  (2374  f.),  den  nutzen,  welchen  die  musze  seines 
hiesigen  lebens  ihm  bringe  (2378).  jetzt  erst,  als  alles  dies  vergeb- 

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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


lieh  bleibt,  wagt,  sie  sich  im  dritten  teil  Tasso  wie  ihrem  eignen 
gewissen  gegenüber  mit  dem  bestimmter,  aber  auch  hier  nur  zögernd 
ausgesprochenen  rate  hervor:  'du  solltest  dich  entfernen*  (2385). 
aber  genau  so  wie  im  zweiten  teile  biegt  sie  unmittelbar 
darauf  wieder  ab:  dadurch,  dasz  Tasso  den  hingeworfenen  gedanken 
sofort  begierig  aufgreift,  beim  scheiden  nur  an  sich  denkt,  schroff 
sich  lossagt  von  dem  vertrauten  kreise  und  seinen  wert  auf  das  un- 
gerechteste verkennt,  musz  ihr  edleres  empfinden  sich  abgestoszen 
und  zur  hervorhebung  der  treuen  liebe  derer,  die  er  so  rücksichtslos 
verlassen  will,  gedrängt  fühlen,  hier  ist  schlechterdings  nur  die 
form  eines  wehmütigen  ausrufs  am  platze: 

nch  in  der  ferne  zeigt  sich  alles  reiner, 
was  in  der  gegenwart  uns  nur  verwirrt, 
vielleicht  wirst  du  erkennen,  welche  liebe 
dich  überall  umgab,  und  weli-hen  wert 
die  treue  wahrer  freunde  hat,  und  wie 
die  weite  weit  die  nächsten  nicht  ersetzt. 

es  erscheint  mir  dem  gegenüber  geradezu  plump  und  in  schreiendem 
Widerspruch  zu  ihrem  bisher  beobachteten  verfahren  zu  stehen,  wenn 
sie  hier,  wie  bei  einem  schlechten  gespräch,  wo  jeder, 
nur  mit  sich  beschäftigt,  die  worte  des  andern  über- 
hört, an  dieser  stelle,  als  ob  Tassos  bittere  worte  ohne 
jeden  eindruck  an  ihr  vorübergegangen  wären,  ruhig  und 
kühl  mit  'auch*  an  ihre  früheren  worte  anknüpfen  wollte,  und  nicht 
blosz  plump ,  auch  unlogisch  wäre  es ,  denn  das ,  wozu  sie  übergeht, 
ist  gar  kein  neuer  grund,  sondern  im  gegenteil  die  abweisung 
von  Tassos  klage,  und  indem  sie  hervorhebt,  wie  die  von  ihm  so 
verzerrt  dargestellten  Verhältnisse  in  Ferrara  ihm  bald  in  einem 
reineren  und  verklärten  lichte  erscheinen  werden,  fühlt  sie  zugleich, 
dasz  bald  nach  seinem  scheiden  die  Sehnsucht  nach  dem  verlassenen 
in  ihm  erwachen  und  ihm  das  bleiben  bei  ihr  bald  ebenso  verleiden 
werde,  wie  dort  —  auch  dies  führt  uns  mit  notwendigkeit  auf  die 
anknüpfung  mit  dem  bedeutungsvollen  'ach'  an  stelle  des  ebenso 
äuszerlichen  wie  schiefen  'auch'! 

Erst  als  sie  dann  aus  Tassos  antwort  ersieht,  dasz  alle  empfin- 
dung  für  Ferrara  wie  ausgelöscht  ist,  so  dasz  er  aus  ihren  worten 
nur  den  halben  gedanken,  die  klage  über  die  fühllosigkeit  der  weit 
heraushört  und  aufgreift,  erst  da  bietet  sie  nun  dem  verbitterten 
und  verlassenen  die  Zuflucht  bei  sich  selbst  an. 


17.  Tasso,  act  I  scene  1. 

V.  125  ff.: 

Ich  höre  gern  dem  streit  der  klugen  zu, 
wenn  um  die  kräfte,  die  des  menschen  brüst 
so  freundlich  und  so  fürchterlich  bewegen, 
mit  grazie  die  rerlnerlippe  spielt; 
gern,  wenn  die  fürstliche  begier  des  ruhms, 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


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130  des  ausgebreiteten  besitzes,  Stoff 

dem  denker  wird,  und  wenn  die  feine  klagheit, 
von  einem  klugen  manne  zart  entwickelt, 
statt  uns  zu  hintergehen  uns  belehrt. 

die  prinzessin  preist  es  als  ein  glück,  dasz  sie  auch  an  der  ernsteren 
geistesthätigkeit  der  männer  teilnehmen  könne;  aber  von  welchen 
gebieten  derselben  redet  sie  hier  eigentlich?  ich  finde  in  den  be- 
sprechungen  der  stelle  keine  klare  und  bestimmte  auskunft  hier- 
über, und  doch  hat  Goethe  durch  die  sehr  deutlich  markierte  glie- 
derung  derselben  eine  schärfere  Scheidung  der  einzelnen  Wissen- 
schaften dem  leser  an  die  hand  gegeben. 

Den  neun  citierten  versen  gehen  ebenso  viel  vorauf,  welche  zu 
denselben  eine  parallele  bilden;  die  strenge  gliederung  derselben, 
welche  sofort  in  die  äugen  springt ,  deute  ich  durch  buchstaben  an : 

A.  ich  freue  mich,  wenn  kluge  männer  sprechen, 
dasz  ich  verstehen  kann,  wie  sie  es  meinen. 

a.  es  sei  ein  urteil  über  einen  mann 

der  alten  zeit  und  seiner  thaten  wert; 

b.  es  sei  von  einer  Wissenschaft  die  rede, 
die,  durch  erfahrung  weiter  ausgebreitet, 
dem  menschen  nutzt,  indem  sie  ihn  erhebt; 

A.  wohin  sich  das  gespräch  der  edlen  lenkt, 

ich  folge  gern,  denn  mir  wird  leicht  zu  folgen. 

durch  die  parallelen  verspaare ,  die  am  anfang  und  am  schlusz  den 
allgemeinen  gedanken  aussprechen,  ist  diese  erste  hälfte  der  Schil- 
derung in  sich  abgeschlossen;  die  beiden  Wissenschaften,  von  denen 
sie  spricht,  geschiente  und  naturforschung,  werden  dadurch  in 
klarer  einheit  zusammengefaszt  als  erfahrungswissenschaften. 

Ihnen  tritt  nun  in  der  zweiten  hälfte  als  zweites  gebiet  des 
wissens  gegenüber  die  philosophische  erkenntnis.  wie  dort  durch 
das  anaphorische  'es  sei  .  .  .'  die  beiden  überhaupt  möglichen  gat- 
tungen  geschieden  sind,  genau  so  wird  hier  durch  das  dreimalige 
'gern  .  .  .  wenn'  —  egern  wenn'  —  'und  wenn'  die  philosophie  in 
ihre  drei  teile  zerlegt,  auf  die  psyebologie  weist  die  erwähnung  der 
kräfte  hin,  die  des  menschen  brüst  bewegen;  als  aufgäbe  der  ethik 
wird  beispielsweise  die  beurteilung  des  strebens  nach  den  höchsten 
irdischen  gütern,  rühm  und  macht,  angeführt;  endlich  die  logik 
wird  —  ganz  im  sinne  der  Platonischen  auffassung  und  der  auf  ihr 
beruhenden  der  renaissance  —  im  gegensatze  zu  einer  trügerischen, 
sophistischen  dialektik  charakterisiert  alle  drei  gebiete  philosophi- 
scher forschung  aber  werden  —  wieder  im  sinne  Piatos  und  der  da- 
maligen zeit  —  in  der  form  von  disputationen  gedacht,  das  ist  im 
ersten  verse  ausgedrückt,  der,  ähnlich  wie  in  dem  vorhergehenden 
abschnitt,  alle  übrigen  zusammen faszt  und  einleitet. 

So  ist  von  der  prinzessin  fein  und  genau  das  ganze  gebiet  der 
Wissenschaft  umschrieben,  und  Leonore  fällt  nun  die  aufgäbe  zu, 
diesem  'weiten  reich*  (139)  die  bedeutung  der  poesie  gegenüber- 
zustellen. 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


18.  Tasso,  act  V  scene  1. 

2942  das  haben  uns  die  Medicis  gelehrt, 

dH8  haben  uns  die  päpste  selbst  gewiesen. 

Kern  a.  a.  o.  8.  155  anra.  51  weisz  das  'selbst'  nicht  anders  zu  er- 
klären, als  dasz  dadurch  von  Alphons  die  päpste  nicht  so  hoch  ge- 
stellt werden,  wie  die  Medicis.  zu  dieser  annähme  liegt  auch  nicht 
der  geringste  anlasz  vor.  wie  Alphons  von  den  päpsten  denkt, 
spricht  er  aus  v.  611 

vom  Vatican  herab  sieht  man  die  reiche 
sehon  klein  genug  zu  seinen  füszen  liegen, 
geschweige  denn  die  fürsten  und  die  menschen; 

und  von  dieser  auffassung  aus  ergibt  sich  gerade  die  entgegen- 
gesetzte erklärung  unserer  stelle:  selbst  die  päpste,  die  grösten 
herscher,  die  sonst  selbst  auf  einen  fürsten  (vgl.  608  u.  609)  keine 
rücksicht  zu  nehmen  gewohnt  sind ,  haben  dem  künstler  gegenüber 
den  gebietet  verleugnet  und  sich  nicht  gescheut,  'mit  geduld  und 
langmut'  sie  'in  ihrer  art  zu  gebrauchen*. 

Diese  erklärung  scheint  mir  die  nächstliegende  zu  sein,  man 
könnte  sonst  vielleicht  auch  meinen,  Alphons  weise  mit  jenen  Worten 
zurück  auf  Antonios  Charakteristik  des  papstes  665  f.,  durch  die  er 
Tassos  frage,  ob  er  auch  die  kunst  beschütze,  zurückweist: 

er  ehrt  die  Wissenschaft,  sofern  sie  nutzt  usw. 

19.  Tasso,  act  V  scene  5. 

3371  Verzweiflung  faszt  mit  aller  wut  mich  an, 
und  in  der  höllenqual,  die  mich  vernichtet, 
wird  lästrung  nur  ein  leiser  schmerzenslaut. 

was  ist  im  letzten  verse  subject,  lästrung  oder  schmerzenslaut? 
Düntzer  a.  a.  o.  8.  169  entscheidet  sich  für  das  erstere,  indem  er 
umschreibt :  'die  Schmähungen  sind  nur  ein  leiser  nachklang  der  ihn 
innerlich  verzehrenden  höllenqual.'  dagegen  nimmt  Kern  a.  a.  o. 
8.  160  anm.  68  das  zweite  an:  'sich  entschuldigend  sagt  Tasso, 
durch  die  furchtbare  qual  seiner  seele  geschehe  es,  dasz  jeder  aus- 
druck  seines  Schmerzes  nichts  anderes  als  lästerung  werde.'  Kern 
will  dem  entsprechend  'nur'  zu  dem  vorhergehenden  Substantiv 
ziehen,  indessen  bei  dieser  construction  bleibt  ebensowohl  das  zu 
'schmerzenslaut'  hinzugefügte  epitheton  wie  der  unbestimmte 
artikel  ganz  unberücksichtigt;  mindestens  muste  Kern  also  das  'nur' 
auf  das  folgende  beziehen,  so  dasz  es  den  sinn  hätte  von  'auch  nur' 
mm  «schon  der  leiseste',  was  doch  sprachlich  sehr  gewaltsam  wäre. 

Sollte  Goethe  übrigens  nicht  vielleicht  bei  dieser  stelle  die  Schil- 
derung vorgeschwebt  haben,  welche  Dante  von  dem  zustande  der 
gepeinigten  gibt?  bei  eintritt  aus  dem  vorhofe  in  die  eigentliche 
hölle  sagt  er  (Inferno ,  canto  V) : 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


615 


25  Ora  incomincian  le  dolente  note 
a  farmisi  seotire:  or  son  vennto 
la  dove  molto  pianto  rai  percuote. 

34  Quando  giungon  davanti  alla  ruiDa , 

quivi  te  strida,  il  compianto  e  M  lamento; 
bestemmian  quivi  la  Virtu  divina. 

20.  Winckelmann,  schluszabschnitt. 

Die  weihevollen  worte,  welche  Goethe  dem  'hingang*  des  groszen 
toten  widmet,  erinnern  auffallend  an  den  nachruf,  welchen  Cicero  in 
'de  amicitia*  den  Laelius  seinem  freunde  Scipio  halten  läszt  in 
ganz  ähnlichen  gedanken  und  empfindungen,  ja  mehrfach  fast  in  den- 
selben Wendungen  suchen  beide  uns  über  den  schmerz  um  das  jähe, 
ja  furchtbare  ende,  durch  welches  beide  männer  'mitten  aus  der 
bahn'  gerissen  wurden,  zu  erheben,  man  vergleiche  Goethes  worte: 
'so  war  er  denn  auf  der  höchsten  stufe  des  glücks,  das 
er  sich  nur  hatte  wünschen  dürfen,  der  weit  verschwun- 
den .  . .  und  in  diesem  sinne  dürfen  wir  ihn  wohl  glücklich  preisen, 
dasz  er  von  dem  gipfel  des  menschlichen  daseinszu  den 
seligen  emporgestiegen,  dasz  ein  kurzer  schrecken,  ein 
schneller  schmerz  ihn  von  den  lebendigen  hinweggenommen, 
die  gebrechen  des  alters,  die  abnähme  der  geistes- 
kräfte  hat  er  nicht  empfunden', 
mit  Laelius  §  11 — 12: 

'cum  illo  vero  quis  neget  actum  esse  praeclare?  nisi  enim,  quod 
ille  minime  putabat,  immortalitatem  optare  vellet:  quid  non 
adeptus  est,  quod  homini  fas  esset  optare?  .  .  .  ut  ex 
tarn  alto  dignitatis  gradu  ad  superos  videatur  deos  potius 
quam  ad  inferos  pervenisse  .  .  .  vita  quidem  talis  fuit  vel  for- 
tuna  vel  gloria,  ut  nihil  posset  accedere;  moriundi 
autem  sensum  celeritas  abstulit  .  .  .  senectus  quamvis 
non  sit  gravis,  tarnen  aufert  eam  viriditatem,  in  qua 
etiamnun  erat  Scipio.' 

"21.  Werthers  leiden,  brief  vom  10  mai. 

'Eine  wunderbare  heiterkeit  hat  meine  ganze  seele  eingenom- 
men, gleich  den  süszen  frühlingsmorgen,  die  ich  mit  ganzem  herzen 
geniesze  .  .  .wenn  das  liebe  thal  um  mich  dampft,  und  die  hohe 
sonne  an  der  Oberfläche  der  undurchdringlichen  finsternis  meines 
waldes  ruht  ...ich  dann  im  hohen  grase  am  fallenden  bache 
liege,  und  näher  an  der  erde  tausend  manigfaltige  gräschen  mir 
merkwürdig  werden,  wenn  ich  das  wimmeln  der  kleinen  weit 
zwischen  halmen,  die  unzähligen,  unergründlichen  gestalten  der 
würmchen ,  der  mückchen  näher  an  meinem  herzen  fühle  und  fühle 
die  gegen  wart  des  allmächtigen ,  der  uns  nach  seinem  bilde  schuf 
.  .  .  wenns  dann  um  meine  äugen  dämmert,  und  die  weit  um  mich 
her  und  der  himmel  ganz  in  meiner  seele  ruhn  wie  die  gestalt 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


einer  geliebten,  dann  sehne  ich  mich  oft  und  denke:  ach 
könntest  du  das  wieder  ausdrücken'  usw. 

Man  vgl.  hierzu  aus  Gessners  idyllen  (Sal.  Gessners  Schriften, 
Zürich  1795,  III  43):  fo  was  für  freude  durchströmt  mich!  wie  her- 
lich ist  alles  um  uns  her!  .  .  .  wenn  ich  vom  hohen  hügel  die 
weit  ausgebreitete  gegend  Ubersehe,  oder,  wenn  ich,  ins  gras 
hingestreckt,  die  manigfaltigen  blumen  und  kräuter  betrachte 
und  ihre  kleinen  bewohn  er  .  .  .  wenn  ich  die  wunder  be- 
trachte, dann  schwellt  mir  die  brüst;  gedanken  drangen  sieb  dann 
auf,  ich  kann  sie  nicht  entwickeln;  dann  wein'  ich  und  sinke 
hin,  und  stammle  mein  entzücken  dem,  der  die  erde  schuf!  o  Daphne! 
nichts  gleicht  dem  entzücken,  es  sei  denn  das  entzücken,  von 
dir  geliebt  zu  sein.'  die  idylle  war  schon  1756  erschienen;  nicht 
blosz  der  gedanke,  auch  der  ausdruck  und  satzbau  kehren  bei  G. 
wieder. 

22.  Epilog  zu  Schillers  Glocke. 

41  Ihm  schwollen  der  geschiente  flut  auf  fluten, 

verspülend,  was  getadelt,  was  gelobt, 

der  erdbeherscher  wilde  heeresgluten, 

die  in  der  weit  sich  grimmig  ausgetobt, 
45  im  niedrig  schrecklichsten,  im  höchsten  guten 

nach  ihrem  wesen  deutlich  durchgeprobt.  — 

die  sehr  dunkle  stelle  verlangt  eine  erklärung  satz  für  satz. 

Was  bedeutet  in  v.  41  'geschieh te*  ?  res  gestae  oder  historia? 
doch  wohl  das  erstere;  denn  nur  von  der  geschiente  als  der  in  un- 
unterbrochener folge  sich  entwickelnden  fülle  der  ereignisse  ist  das 
bild  völlig  bezeichnend  gesagt,  dieser  geschichtliche  stoff  'schwillt 
ihm',  d.h.  entweder  vor  seinen  äugen  dehnt  sich  das  geschehene 
in  immer  weiterer  und  weiterer  folge  aus,  er  Uberblickt  es,  oder  — 
was  hier  keinen  wesentlichen  unterschied  macht  —  die  starren 
massen  beginnen  vor  ihm  zu  schwellen,  fUr  ihn  die  gestalten  und 
ereignisse  aufs  neue  sich  zu  beleben. 

Diese  fluten  der  geschieh te  rverspülen,  was  getadelt,  was  ge- 
lobt', man  sollte  zunächst  meinen,  dasz  sie  lob  und  tadel  hinweg- 
spülen, nicht  die  ereignisse  selbst,  die  anlasz  zu  lob  und  tadel  wer- 
den ,  sondern  die  von  den  leidensebaften  der  mitlebenden  bedingte 
beurteilung  derselben  'cum  ira  et  studio',  man  könnte  deshalb  fast 
sich  versucht  fühlen,  das  'was*  hier  als  inneres  object  zu  fassen 
=  öca  tanWOn,,  was  an  lob  und  tadel  ausgesprochen  wurde,  in- 
dessen, ist  dies  im  deutschen  schon  grammatisch  sehr  hart,  so  wird 
es  unmöglich  durch  den  folgenden  appositioneil  angefügten  satzteil: 

der  erdbeherscher  wilde  heeresgluten. 

gehen  wir  bei  unserer  erklärung  von  diesem  satze  aus,  der  ein  — 
mit  rücksicht  auf  die  von  Schiller  in  seinen  beiden  hauptwerken  be- 
handelten geschichtsabschnitte  gewähltes  —  beispiel  zu  dem  vorher- 
gehenden enthält,  so  ergibt  sich  der  sinn:  die  unablässig  sich  folgen- 


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Kritisch-exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


617 


den  fluten  der  geschichtlichen  thaten  und  begebenheiten  verdrängen 
eine  die  andere  —  'ein  ewiges  meer,  ein  wechselnd  weben*  —  und 
nehmen  hinweg  was  einst  grosz  oder  furchtbar  war,  mit  leidenschaft- 
lichem lob  oder  tadel  bei  den  Zeitgenossen  aufgenommen  wurde,  jene 
leidenschaftlichen  thaten  haben  sich  nun  'ausgetobt'  und  jene  leiden- 
schaftliche beurteilung  in  'der  parteien  gunst  und  hasz'  ist  verstummt, 
aber  zugleich  sind  jene  ereignisse 

im  niedrig  schrecklichsten,  im  höchsten  guten 
nach  ihrem  wesen  deutlich  durchgeprobt, 

d.  h.  ihr  wesen  ist  in  der  geschichtlichen  entwicklung,  die  der  blick 
des  forschers  überschaut,  klar  hervorgetreten  in  der  furchtbaren  wie 
in  der  segensreichen  bedeutung,  die  sie  gehabt  haben.  Goethe  mochte 
hier  an  Schillers  einleitung  zur  gescbichte  des  dreiszigjährigen  krieges 
denken,  in  welcher  derselbe  gewürdigt  wird  im  hinblick  auf  'die 
schrecklichen  und  verderblichen  Wirkungen'  wie  auf  den  'gewinn', 
welchen  die  weit  aus  ihm  zog,  wo  der  'flamme  der  Verwüstung, 
welche  das  halbe  Europa  entzündete',  die  'fackel  der  cultur'  gegen- 
übergestellt wird,  welche  von  da  'einen  weg  sich  öffnete,  die  Staaten 
zu  erleuchten'. 

Grammatisch  ist  'nach  ihrem  wesen'  wohl  am  einfachsten  zu 
'durchgeprobt'  zu  ziehen  =  'auf  ihr  wesen  hin',  weniger  würde 
dem  sinne  des  ganzen  eine  unmittelbare  Verbindung  mit  den  beiden 
vorhergehenden,  disjunctiven  gliedern  entsprechen  =  'je  nach  ihrem 
wesen'.  der  ganze  participialsatz  aber  schlieszt  sich  formell  zwar 
zunächst  eng  an  den  vorhergehenden  relativsatz  an,  greift  aber  dem 
sinne  nach  doch  über  diesen,  der  ja  nur  appositionelle,  specificierende 
bedeutung  hatte,  hinüber  auf  den  ersten  relativen  objectssatz  'was 
getadelt,  was  gelobt':  in  der  geschichtlichen  betrachtung  tritt  dem 
schein  das  wesen,  dem  parteiischen  urteil  der  wahre  gebalt,  der 
vorüberrauscbenden  begebenheit  die  dauernde  Wirkung  gegenüber, 
zugleich  gewinnt  der  zunächst  temporale  participialsatz  die  bedeu- 
tung eines  consecutivsatzes  'so  dasz  sie  nun  . . .'  und  das  regierende 
verbum  die  nebenbedeutung  'rein  spülen,  klären'. 

Eine  weitere  Schwierigkeit  liegt  vor  in  v.  22: 

wie  sein  ernst,  nnschlieszend ,  wohlgefällig.  .  . 
der  lebensplane  tiefen  sinn  erzeugt. 

nähme  man  'der  lebensplane  tiefer  sinn'  für  sich,  so  würde  den  aus- 
druck  wohl  jeder  zunächst  auffassen  als  'die  eigentliche ,  wahre  be- 
deutung, der  innere  Zusammenhang  der  lebensführung',  der  fden 
meisten  menschen,  die  ohne  viel  zu  grübeln  dahin  leben,  nicht 
zum  bewustsein  gelangt,  damit  würde  sich  freilich  das  verbum  'er- 
zeugt' nur  schwer  verbinden  lassen,  man  erwartete  dafür  'gedeutet, 
erklärt',  oder,  was  sich  noch  am  meisten  demselben  nähert,  'hervor- 
treten lassen',  so  bleibt  nur  übrig  'sinn'  in  subjectiver  bedeutung 
und  'lebensplane'  als  gen.  obj.  zu  fassen  =  tiefes  Verständnis  für 
die  entwicklung  des  eignen  lebens. 


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618 


Kritisch- exegetisches  zu  Schiller  und  Goethe. 


Ich  möchte  annehmen ,  dasz  Goethe  dabei  an  sehr  bestimmte 
erfahrungen  aus  seinem  eignen  verkehr  mit  Schiller  dachte,  dasz 
ihm  dabei  so  manche  aufklärungen  vorschwebten,  die  er,  der 'wie 
ein  nachtwandlet  seinen  weg  gieng,  durch  den  freund  erhalten,  ich 
möchte  vor  allem  hinweisen  auf  den  berühmten  brief  vom  23  august 
1794,  durch  welchen  der  grundstein  zu  ihrer  freundschaft  gelegt 
wurde,  in  dem  Schiller  'den  gang  von  Goethes  geist  be- 
urteilte' und  u.  a.  hinwies  auf  das,  'was  derselbe  schwerlich 
wissen  könne,  weil  das  genie  sich  immer  selbst  das  gröste  geheim- 
nis  bleibe,  die  schöne  Übereinstimmung  seines  philosophischen  in- 
stinctes  mit  den  reinsten  res ul taten  der  speculierenden  Vernunft', 
das  begonnene  führte  der  brief  vom  31  august  weiter.  Goethe 
dankte  schon  am  27n:  rzu  seinem  geburtstag  habe  ihm  kein  an- 
genehmer geschenk  werden  können ,  als  jener  brief,  in  welchem 
Schiller  mit  freundschaftlicher  hand  die  summe  seiner 
existenz  gezogen  und  ihn  durch  seine  teilnähme  zu  einem 
emsigeren  und  lebhafteren  gebrauch  seiner  kräfte  aufgemuntert 
habe* ;  er  'rechnete  von  jenen  tagen  der  Unterhaltung  mit  Schiller, 
dessen  redlichen  und  so  seltenen  ernst  er  immer  zu  schätzen 
gewust,  eine  epoche'  und  hoffte:  'haben  wir  uns  wechselseitig  die 
punkte  klar  gemacht,  wohin  wir  gegenwärtig  gelangt  sind ,  so  wer- 
den wir  desto  ununterbrochener  gemeinschaftlich  arbeiten  können.' 
und  wie  auch  im  einzelnen  ihm  Schiller  den  sinn  seiner  dichte- 
rischen lebensplane  erschlieszen  sollte,  zeigt  jene  bitte,  die  er  an 
den  freund  richtete,  als  er  den  Faust  wieder  aufnahm  (22  Juni  1797): 
'nun  wünsche  ich,  dasz  Sie  die  güte  hätten,  die  sacbe  einmal  in 
schlafloser  nacht  durchzudenken  und  ...so  mir  meine  eignen 
träume,  als  ein  wahrer  prophet,  zu  erzählen  und  zu  deuten.' 

SCHÜLPFORTA.  GU8TAV  KETTNEB. 


56. 

der  schwarze  erdteil  und  beine  erforscher.  reisen  und  ent- 
deckungen, kämpfe  und  erlebnisse,  land  und  volk  in  afbika. 
von  Friedrich  Seiler,  zugleich  fünfte  bis  auf  die 
gegenwart  fortgesetzte  auflage  des  buche8  der  8chwabzb 
erdteil  von  Reinhard  Zöllner.  Bielefeld  und  Leipzig, 
Velhagen  und  Klasing.  1891.  IV  u.  601  s. 

Das  deutsche  volk  bat  sich  diesem  buche  freundlich  gezeigt, 
durchschnittlich  alle  3 — 4  jähre  ist  eine  neue  aufläge  nötig  gewor- 
den ;  und  da  gleichzeitig  die  Verhältnisse  in  Afrika  in  fortwährender 
um wandelung  gewesen  sind,  so  bat  sich  mit  ihnen  das  buch  von  auf- 
läge zu  aufläge  gewandelt,  ursprünglich  war  es  geschrieben,  als  uns 
Afrika  nur  dadurch  nahe  lag,  dasz  deutsche  forschungsreisende  dort 
gesundheit  und  leben  für  die  Wissenschaft  einsetzten,  da  konnte  das 


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F.  Seiler:  der  schwarze  erdteil  uiid  seine  erforschen 


619 


buch  inhaltlich  mehr  international  sein,  nachdem  wir  dort  besitzet 
von  colonien  geworden  und  auch  die  über  den  wert  solcher  fernen 
Vorwerke  entscheidende  friedliche  arbeit  begonnen  haben,  muste 
das  buch  zum  groszen  teil  seinen  Charakter  ändern,  vieles  muste  als 
nun  überflüssiger  ballast  über  bord  geworfen  werden,  um  für  andere 
wertvollere  ladung  platz  zu  machen,  diese  Umarbeitung  ist  in  der 
letzten  ausgäbe  durch  Friedrich  Seiler  in  der  weise  geschehen,  dasz 
er  ein  recht  hat  das  buch,  welches  gewis  vielen  lesern  als  Zöllners 
'schwarzer  erdteil'  bekannt  ist,  nunmehr  als  sein  werk  zu  bezeichnen. 

Das  ziel  bei  der  neuen  bearbeitung  war  teils  überhaupt  alle 
neuen  entscheidenden  ereignisse  besonders  ausführlich  darzustellen, 
teils  im  besondern  die  thaten  und  bestrebungen  der  Deutschen 
uns  vorzuführen,  dabei  sollte  umfang  und  preis  ungefähr  derselbe 
bleiben,  so  muste  denn  vieles  wegfallen  oder  gekürzt  werden,  ganze 
capitel  der  vierten  aufläge  sind  deshalb  ausgelassen,  so  land  und 
leute  am  blauen  Nil,  Harniers  fahrten  und  jagden  am  weiszen  Nil, 
Gerhard  Rohlfs  und  Gustav  Nachtigall,  verkürzt  sind  alle  älteren 
abschnitte,  die  auf  die  thätigkeit  unserer  landsleute  wenig  bezug 
haben,  so  Livingstones  und  Camerons  reisen,  Henry  Stanleys  erster 
zug  durch  den  dunklen  erdteil ,  onkel  Toms  Urheimat  (eine  etwas 
altmodische  bezeichnung  für  die  küste  von  Oberguinea)  u.  a.  be- 
dauert habe  ich  dabei  den  Wegfall  von  Nachtigalls  reise,  besonders 
seinem  zuge  nach  Tibesti;  hier  boten  seine  von  herzerfreuendem 
humor  durchtränkten  briefe,  die  frau  dr.  Berlin  in  Rodenbergs  rund- 
schau  veröffentlicht  hat,  die  möglichkeit  ein  besonders  erquickendes 
bild  heldenhaften  kampfes  mit  allen  Widerwärtigkeiten  zu  zeichnen, 
dazu  ist  es  nun  doch  ein  eigentümlicher  zustand,  dasz  in  einem  buche 
über  den  dunklen  erdteil  die  Sahara  im  wesentlichen  unberücksich- 
tigt bleibt. 

Die  völlige  Umarbeitung  zeigt  sich  auch  an  den  bildern  und 
kartenskizzen.  von  den  bildern  der  vierten  aufläge  sind,  wenn 
ich  richtig  gezählt  habe,  16  ausgelassen  und  dafür  etwa  30  neue 
aufgenommen ,  darunter  statt  des  früheren  sehr  mäszigen  porträtä 
Stanleys  ein  neues  gutes,  unter  den  kärtchen  ist  wohl  nur  der 
Schauplatz  der  kämpfe  des  Machdi  (so  schreibt  der  verf.  jetzt  mit 
recht  statt  Mahdi)  unverändert  geblieben,  der  früher  ägyptische 
Sudan  ist  eben  jetzt  den  Europäern  verschlossen,  auf  der  karte  von 
Südwestafrika  ist  die  nordgrenze  des  deutschen  besitzes  eingetragen, 
in  Mittelafrika  sind  überall  besonders  die  seenverhältnisse  bestimmter 
und  klarer  geworden,  völlig  neu  bearbeitet  sind  die  skizzen  von 
Deutsch-Ostafrika  und  dem  Kamerungebiet,  bei  einer  vergleichung 
sieht  man,  wie  schwach  besonders  jene  früher  war.  hinzugekommen 
sind  endlich  eine  karte,  welche  durch  dunkle  Schraffierung  das  ge- 
biet des  Sklavenhandels  darstellt,  und  eine  andere,  in  welche  Stanleys 
letzter  zug  eingetragen  ist.  ich  möchte  aber  einen  wünsch  nicht 
unterdrücken,  bei  der  bevorzugung  der  deutschen  interessen  be- 
sonders in  Ostafrika,  wie  sie  der  text  des  buches  zeigt,  wäre  eine 


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F.  Seiler :  der  schwarze  erdteil  und  seine  erforschen 


noch  ausführlichere  karte  von  Deutsch-Ost afrika  ein  bedürfnis,  auf 
welcher  alle  die  örtlich  keilen ,  die  genannt  werden,  auch  zu  finden 
sind,  skizzen  des  landes  gibt  am  ende  jetzt  jeder  atlas.  früheren 
auflagen  des  buch  es ,  z.  b.  der  zweiten ,  war  eine  farbige  karte  von 
Afrika  im  maszstabe  von  1  zu  35  millionen  beigegeben,  sie  ist  als 
Uberflüssig  mit  recht  ausgelassen;  vielleicht  könnte  an  ihre  stelle 
eine  recht  zuverlässige  specialkarte  der  colonie  treten. 

Wollte  der  verf.  die  Verhältnisse  klarlegen,  unter  denen  unsere 
lan dsltute  in  Afrika  arbeiten,  so  muste  er  besonders  die  Araber- 
frage und  die  sklavenfrage  besprechen,  beides  ist  in  ausreichendem 
masze  geschehen,  die  macht  der  Araber  ist  in  der  einleitung  ge- 
schildert, das  capitel  Uber  die  sklavenjagden ,  welches  schon  früher 
da  war,  ist  umgearbeitet  und  vervollständigt,  im  übrigen  ist  der 
räum,  den  der  verf.  durch  die  oben  erwähnten  Streichungen  gewann, 
benutzt,  um  überall  die  thaten  der  Deutschen  noch  mehr  hervor- 
treten zu  lassen,  und  um  ganz  neue  abschnitte  einzuschieben:  über 
die  friedliche  arbeit  in  Ostafrika,  über  den  Araberaufstand  in  diesem 
lande,  über  Emin  Pascha  und  Stanley,  zusammen  118  seiten,  fast 
ein  fünftel  des  ganzen  buches. 

Betrachten  wir  nun  das  werk  als  fertiges  ganzes,  es  ist  keine 
geographie  von  Afrika,  weder  bodenform,  noch  flora  und  fauna,  noch 
Völkerkunde  wird  im  zusammenhange  besprochen;  es  ist  eine  ge- 
schieh te.  wir  können  den  inhalt  übersichtlich  um  wenige  geistige 
mittelpunkte  gruppieren,  der  eine  ist  die  erzählung  der  groszen  ent- 
scheidenden entdeckungsreisen.  dem  Nil  und  seiner  entdeckung 
ist  billig  ein  besonderes  capitel  gewidmet,  an  welches  sich  die  er- 
zählung vom  aufstände  des  Machdi  und  von  Gordons  Schicksal  an- 
schlieszt.  daneben  erhalten  wir  einen  bericht  über  die  bereisung 
Sansibars  und  seines  hinterlandes,  eine  schöne  Schilderung  von 
Li  vings  ton  es  Wirksamkeit,  eine  erzählung  der  reisen  zu  den  Niani- 
Niam  und  am  Ue'lle,  wobei  Schweinfurths  persönlichkeit  in  den 
Vordergrund  tritt,  der  reisen  im  Südkongogebiete,  d.  h.  der  ruhmes- 
thaten  Wissmanns  und  Pogges,  der  entdeckung  des  Nigersystems, 
des  arbeitsfeldes  Flegels,  endlich  und  am  ausführlichsten  der  fahrten 
Stanleys,  sowohl  jener  ersten  groszen  entschleierung  des  Kongos, 
als  des  zuges  zu  Emin.  Peters  neueste  reise  ist  noch  nicht  darge- 
stellt, weil  erst  seine  eigne  Veröffentlichung  abgewartet  werden  soll, 
der  letzte  marsch  Stanleys  ist  ja  leider  höchst  widerwärtig  durch 
die  rohe  art  des  reisenden,  die  rein  materiellen  zwecke,  welche  er 
hinter  einem  vorhange  von  idealistischen  lügen  verfolgte,  sein  eitles 
ruhmsüchtiges  wesen.  er  wird  ja  in  einem  solchen  buche  nie  fehlen 
dürfen,  weil  er  Emins  Stellung  am  äquator  vernichtet  hat  und  weil 
dabei  manche  entdeckungen  gemacht  sind  (Ruwenzori,  Albert  - 
Edward  see).  aber  man  musz  wünschen,  dasz  in  den  folgenden  auf- 
lagen dieses  häszliche  bild  etwas  in  den  hintergrund  gedrängt  wird. 

Ein  zweiter  mittelpunkt,  um  den  sich  grosze  massen  gruppieren, 
ist,  wie  oben  schon  angedeutet,  die  geschichtliche  entwicklung  der 


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F.  Seiler:  der  schwarze  erdteil  und  seine  erforschen  621 

deutschen  ansiedelungen,  besonders  der  ostafrikanischen,  der  verf. 
bestimmt  in  der  vorrede  sein  buch  besonders  auch  für  die  reifere 
jugend.  eine  zusammenhängende  darstellung  dieser  Verhältnisse  ist 
aber  jetzt  für  jeden  gebildeten  ein  bedtirfnis.  die  dortigen  ereignisse 
sind  in  den  tagesblättern  an  uns  vorübergerauscht,  aber  das  genügt 
doch  nicht  zur  bildung  eines  klaren  Urteils  in  der  parteien  gezänk. 
von  diesem  gesichtspunkte  aus  möchte  man  öfter  wünschen,  genauere, 
auch  statistische  angaben  über  die  grösze  der  dortigen  interessen 
zu  finden,  sie  brauchten  in  einer  neuen  aufläge  nur  geringen  räum 
einzunehmen. 

Das  politische  urteil  ist  milde  und  zurückhaltend,  so  wird  der 
deutsch-englische  vertrag  vom  1  juli  1890  mehrmals  besprochen, 
seine  schmerzlichen  punkte  angedeutet,  aber  auch  seine  guten  Seiten 
hervorgehoben,  besonders  die,  dasz  nun  das  gebiet  der  Wirksamkeit 
klar  vor  uns  liegt,  dasz  wir  alle  kräfte  auf  das  concentrieren  können, 
was  wir  behalten  haben  —  'und  das  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  noch 
reichlich  genug'.  —  Scharf  absprechend  ist  das  urteil  über  die  eng- 
lische missionsweise,  welche  die  Zöglinge  zu  müsziggang  und  zu 
einem  'selbstbewusten,  unverschämten  betragen'  erzieht;  'daher 
nimmt  kein  Europäer,  wenn  er  es  irgend  vermeiden  kann,  einen  eng- 
lischen missionszögling  in  seinen  dienst',  warm  anerkennend  sind 
dagegen  die  katholischen  missionen,  besonders  die  in  Bagamojo,  be- 
sprochen, von  deutschen  versuchen  war  ja  noch  nichts  zu  berichten, 
als  das  unglückliche  ende  der  Station,  die  miasionär  Greiner  in  Dar- 
es-Salaam  errichtet  hat.  sie  ist  jetzt  wieder  aufgebaut  und  bezogen ; 
möge  sie  sich  den  ihr  obliegenden  aufgaben  gewachsen  zeigen,  da- 
mit nicht  die  protestantische  mission  in  den  ruf  kommt,  als  wäre  sie 
unfähig  ihre  Zöglinge  zu  gesitteten  menschen  zu  machen. 

Als  leser  des  buches  hat  sich  der  verf.,  wie  gesagt,  besonders 
die  reifere  jugend  gedacht,  ihr  soll  es  ersatz  geben  für  die  unwahren 
und  phantastischen  Indianergesebich ten  einer  früheren  zeit;  die  kna- 
ben  sollen  als  Deutsche  ihre  freude  haben  an  den  thaten  ihrer  lands- 
leute,  sie  sollen  die  erkenntnis  gewinnen,  dasz  es  auch  in  unserer 
zeit  noch  helden  gibt,  denen  nachzueifern  sich  verlohnt,  in  der  that 
ist  das  buch  so  recht  geschaffen  für  die  classenbibliotheken;  man 
wird  es  aber  auch  gern  schtilervorträgen  zu  gründe  legen,  um  so  die 
ereignisse  der  gegenwart  in  unsern  Unterricht  hereinzuziehen,  schon 
seit  jähren  macht  sich  ja  im  stillen,  aber  nicht  unmächtig  die  vom 
kaiser  in  seinen  äuszerungen  über  das  höhere  Schulwesen  noch  vor- 
miszte  neigung  mehr  und  mehr  geltend,  alles  auf  die  gegenwart  und 
auf  unser  volk  zu  beziehen ,  und  so  teils  die  schüler  in  ihrer  zeit 
heimisch  zu  machen,  teils  aber  auch  die  zustände  der  Vergangenheit 
ihnen  lebendiger  zu  machen,  indem  das  ferne  durch  das  nahe  Ver- 
ständnis gewinnt. 

Schlawb  in  Pommern.  Th.  Becker. 


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622 


A.  Fulda:  die  Kiffbäusersage. 


57. 

DIE  KIFFHÄÜ8ER8AGE.  REDE,  GEHALTEN  IM  JAHRE  1877  IN  DER  HAUPT- 
VERSAMMLUNG DES  HARZVEREINS  VON  DR.  ALBERT  FüLDA, 
WEIL.  GYMNA8IALDIRECTOR  IN  SANGERHAUSEN.  NACH  DEM  VON 
DEM  VERPA88ER  HINTERLA88ENEN  MANUSORIPTE  MIT  EINER  KARTE 
UND  ANMERKUNGEN  HERAUSGEGEBEN  VON  DR.  JüLlUS  SCHMIDT 

UND  E.  Gnau.    Sangerhauaen  und  Leipzig,  verlag  von  Bernhard 

Franke.  1889. 

Kiffhauser,  alter  würd'ger  berg,  — 
o  sprich,  wie  kam's,  dasz  just  von  dir 
ergieng  so  wundersame  künde, 
dasz  viele  hundert  jähre  lang 
du  warst  in  allen  Volkes  munde? 
wie  kam's,  dasz  just  in  deinen  schosz 
der  alte  kaiser  Friedrich  stieg 
unri  schlummernd  harrte,  bis  das  reich 
aufs  neu  erstand  aus  kämpf  und  sieg? 

Der  bistoriker  Georg  Voigt  war  der  meinung,  diese  frage  ent- 
ziehe sich  jeder  erörterung.  dagegen  wies  der  mythen  forscher  Adalbert 
Kuhn  auf  die  frauengestalt  bin,  welche  nach  der  volkssage  im  Kiff- 
häuser  wohnen  soll  und  von  einigen  geradezu  frau  Holle  genannt 
wird;  der  Kiffbäuser  erschien  nun,  ebenso  wie  der  HöTselberg,  als 
ein  wolkenberg,  und  wenn  in  demselben  zusammen  mit  frau  Holle 
auch  eine  männliche  person  hausend  gedacht  wurde,  so  konnte  das 
niemand  anders  sein,  als  der  held,  der  gekommen  ist,  die  in  der 
wölke  eingeschlossene  himmlische  wasserfrau  zu  befreien,  so  ergab 
sich  denn  die  Vermutung,  dasz  schon  lange  vor  dem  Hohenstaufen 
Friedrich  das  volk  von  einem  im  Kiffhäuser  wohnenden  helden  mit 
langem  barte  gesprochen  und  darunter  den  gott  des  gewitters,  gleich- 
viel ob  Wodan  oder  Donar,  verstanden  habe,  jetzt  erhält  diese  Ver- 
mutung durch  da»  vorliegende  schriftchen  eine  ungeahnte  bestätigung. 
dem  verstorbenen  director  Fulda  war  es  aufgefallen,  dasz  wir  den 
sagenberühmten  berg  nur  nach  der  auf  seiner  höhe  liegenden  bürg 
(Kiff-hausen,  in  ältester  form  Kufese)  benennen;  er  vermutete,  dasz 
ein  in  der  flachen  landschaft  so  charakteristisch  sich  erhebender  und 
für  die  umwohner  als  Wetterprophet  dienender  berg  schon  vor  er- 
bauung  dieser  bürg  einen  namen  gehabt  haben  möge  und  es  glückte 
ihm,  in  einer  Urkunde  des  klosters  Walkenried  vom  jähre  1277  eine 
stelle  zu  entdecken,  wo  ein  Wodansberg  erwähnt  wird;  aus  dem 
zusammenhange  glaubte  er  folgern  zu  dürfen,  dasz  damit  unser  Kiff- 
häuserberg  gemeint  sei.  ein  blick  aber  auf  das  kärtcben,  welches  dr. 
Schmidt,  director  des  sächs.provinzialmuseuras  zu  Halle,  dem  Fulda- 
schen  vortrage  beigegeben  hat,  erhebt  diese  folgerung  zur  gewisheit. 

Jetzt  wird  es  verständlich,  wie  nicht  nur  bei  Otmar  in  der 
deutschen  monatsschrift  1795,  sondern  noch  in  diesem  jahrhundert 
in  manchen  Ortschaften  der  umgegend  der  name  des  verzauberten 
kaisers  Otto  lauten  konnte;  es  war  dies  nichts  anderes  als  eine  Ver- 
drehung des  namens  Wotan ;  in  der  sage  vom  kaiser  Otto  hatte  der 


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A.  Fulda:  die  Kiffhäusersage. 


623 


glaube  an  den  alten  heidengott  sich  erhalten,  wie  kam  es  aber  nun, 
dase  an  stelle  kaiser  Ottos  ein  kaiser  Friedrich  trat?  es  ist  durch 
Georg  Voigts  und  anderer  forschungen  nachgewiesen,  dasz  von  dem 
Hohenstaufen  Friedrich  II,  der  1250  in  Apulien  gestorben  war,  bald 
nach  seinem  tode  die  sage  gieng,  er  lebe  noch,  ums  jähr  1300  be- 
hauptete das  deutsche  volk:  er  wird  kommen,  unser  heiland  Friedrich 
der  zweite,  in  gewaltiger  majestät,  und  wird  die  verrottete  kirche 
läutern  und  verbessern;  er  wird  kommen,  denn  er  musz  kommen, 
aber  kaiser  Friedrich  kam  nicht,  und  so  erhob  sich  die  frage:  wo 
weilt  er?  in  der  goldenen  aue  beantwortete  man  diese  frage  mit 
dem  hinweis  auf  die  im  Kiffhäuser  bausende  kaisergestalt.  vielleicht 
meinte  man,  kaiser  Friedrich  fühle  dort  in  der  nähe  der  alten  kaiser- 
pfalz  Tilleda,  wo  sein  groszvater  und  sein  vater  wiederholt  residiert 
hatten,  sich  besonders  heimisch,  vielleicht  war  wie  bei  der  beziebung 
auf  Otto,  so  auch  bei  der  beziehung  auf  Friedrich  ein  einzelnes  wort 
veranlassung.  bekanntlich  zeichnet  sich  der  Kiffhäuser  durch  seinen 
hochragenden  wartturm  vor  den  benachbarten  berghöhen  aus.  wir 
wissen  nun  aus  Prätorius  Alectryomantia,  dasz  im  siebzehnten  jahr- 
hundert,  wenn  von  diesem  türme  wölken  aufwärts  stiegen,  die  leute 
ausriefen:  fhoho,  kaiser  Friedrich  brauet,  es  wird  schlackicht  wetter 
werden.'  der  türm  hiesz  und  heiszt  heute  noch  geradezu  'der  kaiser 
Friedrich',  im  mittelalter  nannte  man  einen  solchen  türm  einen 
'bergfried'.  vielleicht  war  dieses  wort  mit  veranlassung  zur  loca- 
lisierung  der  kaiser  Friedrichssage  im  Kiffhäuser. 

Um  einige  jahrhunderte  später,  nachdem  die  identificierung 
kaiser  Friedrichs  des  zweiten  mit  der  im  berge  hausenden  bärtigen 
gottheit  erfolgt  war,  meinten  litterarisch  gebildete  leute,  der  kaiser 
Friedrich,  von  dem  das  volk  spreche,  müsse  Friedrich  I  oder  Bar- 
barossa sein,  denn  nur  dieser  sei  durch  seinen  hart  berühmt  ge- 
wesen; eine  folge  dieser  behauptung  war,  dasz  der  bart  von  nun  an 
als  rot  bezeichnet  wurde,  in  dieser  fassung  nahm  Büsching  1812 
die  sage  in  seine  rvolkssagen,  märchen  und  legenden'  auf.  sein  buch 
kam  dem  jungen  Rückert  in  die  hände,  als  dieser  sich  gerade  mit 
dem  gedanken  trug,  den  kaiser  Barbarossa  als  idealgestalt  eines 
deutschen  kaisers  in  einem  epischen  gediente  zu  preisen;  das  epos 
kam  nicht  zu  stände;  nur  zwei  kleinere  gedichte  dieses  Stoffes  er- 
schienen, das  sonett  'o  ungestorbner  kaiser  Barbarossa'  und  das 
wehmütige  lied  'der  alte  Barbarossa,  der  kaiser  Friedrich',  erste  res 
im  april  1817,  letzteres  nur  wenige  monate  früher  entstanden  (vgl. 
meine  schrift  'die  sage  vom  kaiser  Friedrich  im  Kyffhäuser',  Leipzig, 
Teubner,  1886,  s.  37  ff.). 

Auszer  der  entdeckung  des  namens  Wodansberg  in  der  Wal- 
kenrieder  Urkunde  ist  noch  manches  andere  in  der  Fuldaschen  schrift 
beachtenswert;  so  zb.  der  hinweis  auf  den  in  der  jüngern  Edda  mit- 
geteilten mythus  vom  gotte  Odhin ,  wie  er  den  begeisternden  meth 
von  der  hüterin  des  hohlen  berges  gewinnt,  was  dagegen  den  ver- 
such betrifft,  für  die  Kiffhäusersage  erklärung  aus  dem  nordischen 


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624 


Zum  mathematischen  Unterricht. 


mythus  von  der  götterdömmerung  zu  gewinnen,  so  dürfte  derselbe, 
wie  so  manches,  was  Fulda  früher  in  seiner  gehaltvollen  recension  von 
Bratuscheks  germanischer  göttersage  in  diesen  jahrb.  1871  s.  369  ff. 
behauptet  hat,  durch  des  norwegischen  gelehrten  Sophus  Bugge 
Studien  Uber  die  entstehung  der  nordischen  götter-  und  heldensagen 
(deutsch  von  Oscar  Brenner,  München  1889)  hinfällig  geworden  sein. 

Die  beiden  berren,  welche  Fuldas  rede  12  jähre  nachdem  sie 
gesprochen,  zum  druck  beförderten  und  mit  einer  karte  und  anmer- 
kungen  versahen,  haben  damit  nicht  nur  ein  werk  der  pietfit  gethan ; 
sie  haben  das  interesse  an  der  Kiffhäusersage  aufs  neue  geweckt, 
gerade  jetzt,  wo  das  denkmal  kaiser  Wilhelms,  des  Barbablanca,  auf 
der  höhe  des  götterberges  sich  erbeben  soll. 

Beigegeben  ist  dem  Fuldaschen  vortrage  ein  gedieht,  in  wel- 
chem eine  dem  verstorbenen  Verfasser  nahestehende  dame  auf  grund 
der  Hauptgedanken  des  Vortrags  in  schwungvollen  versen  antwort 
gibt  auf  die  oben  abgedruckte  frage:  o  sprich,  wie  kam's  usw. 

Der  ertrag  des  schriftchens  ist  zum  besten  der  Fuldastiftung 
bestimmt. 

Moskau.    Ernst  Koch. 

58. 

ZUM  MATHEMATISCHEN  UNTERRICHT. 


1)  6500  AUFGABEN  FÜR  DEN  UNTERRICHT  IN  DER  ARITHMETIK  UND 
ALGEBRA.  MIT  ERKLÄRUNGEN  UND  AUSGEFÜHRTEN  BEISPIELEN, 
NEBST  EINER  LOGARITHMENTAFEL.  IN  METHODISCHER  STUFEN- 
FOLGE BEARBEITET  '0N  W.  AüAM,  KÖNIGL.  SEMINARLEHRER  IN 
NEU-RUPPIN.   VOLLSTÄNDIG  IN  ZWEI  TEILEN.*   Verlag  VOO  Rudolph 

Petrenz  in  Neu-Ruppin. 

2)  ARITHMETISCHES  UND  ALGEBRAISCHES  ÜBUNGSBUCH  MIT  AUSGE- 
FÜHRTEN MUSTERBEISPIELEN,  MEHR  ALS  2500  AUFGABEN  ENT- 
HALTEND. ZUM  GEBRAUCH  AN  LEHRERSEMINARIEN ,  MITTEL  UND 
GEWERBESCHULEN  WIE  AUCH  AN  HÖHEREN  LEHRANSTALTEN  BE- 
ARBEITET VON  W.  A  D  AM,  KÖNIGL.  8KMINARLEHRER  IN  NEU-RtfPPIN. 

zweite  Auflage.  Neu-Ruppin,  verlag  von  Rudolph  Petrenz.  1889. 

Vor  einiger  zeit  habe  ich  in  diesen  Jahrbüchern  1890  s.  395  — 
400  bei  gelegenheit  des  Wröbelschen  Übungsbuches  für  arithmetik 
und  algebra  auf  einige  mängel  hingewiesen,  die  so  ziemlich  allen 
derartigen  werken  anzuhaften  schienen,  da  die  beiden  vorliegenden 

*  erster  teil:  die  vier  species  mit  absoluten  und  relativen  zahlen, 
bruchrechnuug.  Verhältnisse  und  proportionen.  gleichungen  des  ersten 
grades  mit  einer  und  mit  mehreren  unbekannten,  das  quadrieren  und 
das  kubieren,  nebst  umkehrung  dieser  Operationen,  einfache  gleichnn- 
gen  mit  wurzelgröszen.  anhang:  decimalbrüche.  1888.  zweiter  teil: 
quadratische  gleichungen  mit  einer  und  mit  mehreren  unbekannten,  sowie 
gleichungen  höhereu  grades,  welche  sich  auf  quadratische  zurückführen 
lassen,   arithmetische  reihen,  potenzen,  wurzeln  und  Iogaritbmen.  geo~ 


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Zum  mathematischen  Unterricht. 


625 


Adamschen  Schulbücher  indessen  von  denselben  völlig  frei  sind,  er- 
laube ich  mir  ihnen  eine  kurze  besprechung  zu  widmen ,  um  hierbei 
an  einige  punkte  zu  erinnern,  die  zwar  weniger  wichtig  sind  als  die 
früher  erörterten ,  doch  aber  einer  beleuchtung  auch  nicht  unwert 
erscheinen. 

In  der  Hauptsache  erfolgt  der  auf  bau,  wie  aus  der  inhaltsangabe 
ersichtlich,  in  herkömmlicher  weise;  doch  ist  bemerkenswert,  dasz 
Verfasser  sich  thunlichst  beeilt,  den  lernenden  in  die  gleichungen 
hinein  zu  befördern,  das  ist  zu  billigen,  zumal  es  nur  ganz  vereinzelt 
einen  lehrer  geben  dürfte,  der  die  gleichungen  erst  nach  durcharbei- 
tung  der  gesamten  arithmetik  d rannähme. 

In  2)  ist  die  zahl  der  aufgaben  eine  viel  beschränktere  als  in 
den  meisten  derartigen  Schulbüchern,  das  ist  aber  keineswegs  ein 
übelstand;  denn  ein  dutzend  aufgaben,  gründlich  durchgearbeitet 
und  namentlich  nach  verschiedenen  methoden  gelöst,  gewähren  dem 
schüler  sicherlich  mehr  nutzen ,  als  drei  dutzend ,  die  eben  nur  so 
durchgepeitscht  worden  sind.  —  Sehr  zu  billigen  ist  die  durchgängig 
scharfe  fragestellung,  die  strenge  Scheidung  der  gleichungen  nach 
ihrem  grade ,  die  trennung  der  algebraischen  von  den  exponential- 
gleichungen ,  die  treffliche  aufsetzung  der  gleichungen ,  die  genaue 
behandlung  der  proportionen  u.  v.  a. 

Die  proportion : 

x  :  y  :  z  =  a  :  b  :  c 

besteht  aus  den  beiden  Verhältnissen : 

x  :  y  :  z    und    a  :  b  :  c; 

das  Verhältnis  x  :y  :  z  aber  enthält  die  beiden  Verhältnisse  x  :  y  und 
y  \  z.  man  könnte  es  füglich  als  ein  zweifaches  und  jene  proportion 
als  eine  zweifache  proportion  bezeichnen;  dadurch  würde  sich  für: 

ax  :  a2  :  •  •  •  !  an  =  b{  :  b2  :  •  •  •  bn 

der  name  (w — 1) fache  proportion  ergeben,  wer  aber,  allerdings 
ohne  not,  wie  mir  scheint,  in  der  bezeichnung  noch  mit  ausdrücken 
will,  dasz  die  einzelnen  Verhältnisse  sich  mit  end-  und  anfangsglied 
aneinanderschlieszen ,  der  wird  sagen:  das  mehrfache  Verhältnis 
x  :  y  :  z  läuft  von  dem  einfachen  Verhältnis  x  :  y  zu  dem  einfachen 
Verhältnis  y  :  z  weiter,  er  wird  demgemäsz  von  weiterlaufenden, 
wohl  auch  von  fortlaufenden  Verhältnissen  und  proportionen  spre- 
chen, nicht  aber  von  laufenden,  wie  in  2)  der  fall;  am  wenigsten 
aber  dürfte  es  sich  empfehlen,  aus  fortlaufenden  Verhältnissen  lau- 
fende proportionen  zu  bilden,  wie  in  1)  geschieht.  —  Im  gebrauche 
der  klammern  befleiszigt  sich  Verfasser  einer  so  weitgehenden  Spar- 
samkeit, dasz  sie  zwar  nicht  nachweislich  die  grenzen  des  gestatteten 
tiberschreitet,  zuweilen  aber  doch  so  weit  geht,  dasz  sie  manchen 


metrische  reihen,  zinseszins-  und  rentenrechnung.  diophantische  auf- 
gaben, kettenbrüche.  anhang:  kubische  gleichungen.  der  binomische 
lehrsatz.    logarithmentafel.  1889. 

W.  Jthrb.  f.  phil.  a.  p&d.  II.  »bt.  1891  hfl.  12.  40 


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02(3 


Zum  mathematischen  Unterricht. 


nicht  mehr  sympathisch  berühren  dürfte,  so  z.b.  schlieszeich  lieber 
Proportion sglieder  in  klammern  ein,  sobald  sie  die  form  einer  summe 
oder  einer  differenz  haben ;  dasselbe  gilt  von  mehrgliedrigen  dividen- 
den  und  divisoren,  auch  dann  wenn  sie  besonders  als  solche  bezeich- 
net worden  sind,  die  hierdurch  bewirkte  betonung  der  Zusammen- 
gehörigkeit erscheint  mir  der  kleinen  mühe  der  klammersetzung 
mehr  als  wert.  —  Die  Unterweisung  ist  im  allgemeinen  wohl  ge- 
lungen, doch  fehlt  (in  2)  z.  b.  eine  anleitung  zur  lösung  derjenigen 
gestellten  aufgaben ,  die  auf  unbestimmte  gleichungen  von  höherem 
als  dem  ersten  grade  führen,  während  mir  in  1)  die  regel  für  die 
multiplication  und  division  periodischer  decimalbrüche  aufgefallen 
ist  (1  §  48).  es  ist  doch  wahrlich  nicht  nötig  und  in  vielen  fällen 
nicht  einmal  praktisch ,  die  periodischen  decimalbrüche  in  gemeine 
zu  verwandeln ,  diese  zu  multiplicieren  bzw.  zu  dividieren  und  das 
resultat  dann  wieder  in  einen  decimalbruch  umzuwandeln ;  nament- 
lich bei  der  division  wäre  das  sehr  oft  recht  unpraktisch.  —  Die  mit 
buchstaben  bezeichneten  gröszen  haben  bekanntlich  allgemeinen 
wert,  und  man  kann  deshalb  von  der  proportion : 

a  :  b  mm  c  :  d 

behaupten,  weder  dasz  sie  keine  brüche  enthalte  noch  das  gegenteil, 
weder  dasz  sie  in  den  kleinsten  ganzen  zahlen  ausgedrückt  sei  noch 
das  gegenteil;  demnach  wären  die  aufgaben:  1)  §  17  und  §  24  und 
2)  §  16  etwa  in  folgender  gestalt  zu  geben:  vereinfache  thunlichst 
die  folgenden  Verhältnisse  und  proportionen ,  entferne  aus  den  fol- 
genden Proportionen  die  quotienten  u.  8.  f. 

Es  liesze  sich  wohl  noch  mancherlei  über  diese  in  ihrer  gesamt- 
heit  guten  bücher  sagen ,  von  denen  mir  2)  besonders  gefallen  hat. 
das  obige  mag  genügen  und  mir  nur  noch  gestattet  sein,  einen  punkt 
zur  spräche  zu  bringen ,  auf  den  ich  weniger  durch  die  Adamschen 
bücher,  als  bei  den  in  meinem  rechenunterrichte  gesammelten  erfah- 
rungen  aufmerksam  geworden  bin.  aus  diesem  gründe  will  ich  hier 
auch  nur  den  teil  berühren,  der  auf  algebraischem  gebiete  liegt,  das 
übrige  einer  späteren  gelegenheit  vorbehaltend,  es  gibt  aufgaben, 
welche  trotz  richtiger  lösung  falsche  antworten  ergeben ;  so  z.  b.  er- 
gibt sich  durch  richtige  division : 

j  _^  x  «  1  +  x  +  x2  +  •  •  •  in  inf. 

und  doch  sind  für  x  >  1  beide  durch  gleichheitszeichen  verbundene 
werte  offenbar  ungleich,  man  hilft  sich  nun  in  verschiedener  weise, 
während  die  einen  solche  Divisionen  Uberhaupt  nicht  ausführen  lassen 
und  dadurch  sich  und  den  schülern  diese  Verlegenheit  ersparen,  ver- 
meiden andere  thatsächliche  fehler,  indem  sie  stets  x  <  1  wählen, 
also  nur  mit  convergenten  reihen  arbeiten ,  ohne  doch  namen  und 
begriff  derselben  schon  auf  dieser  stufe  einzuführen,  beide  behand- 
lungBweisen  wollen  mir  nicht  recht  gefallen,  ich  meine,  dasz  es 
einen  weg  gibt,  dem  schtiler  in  einfacher  weise  diese  ihn  gewis  inter- 


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Zum  mathematischen  Unterricht.  627 


essierende  sache  klar  zu  machen,  einen  weg,  den  ich  neuerdings 
zu  meiner  freude  schon  in  einer  algebra  angedeutet  gefunden  zu 
haben  glaube,  und  den  ich  hier  ganz  in  kürze  darlegen  will,  wenn' 
ich  mir  auch  sehr  wohl  bewust  bin,  dasz  ich  den  fachgenossen  hier- 
mit keineswegs  sachlich  neues  biete,  wie: 

so  ist  auch : 

1  — x  ^  1  — X 

- 1  +  *  +  r~t 


soll  dieses  res ul tat  mit  dem  obigen  identisch  sein,  so  musz  das  rest- 
glied  mit  unbegrenzt  zunehmendem  r  sich  unbegrenzt  der  null  nähern ; 

d.  h.  es  musz  sein,  wodurch  die  convergenzbedingung  der  reihe 

und  damit  zugleich  die  giltigkeitsbedingung  der  gleichung: 

j-^—  =  1  +  x  +     +  •  •  •  in  inf. 

gefunden,  zugleich  aber  auch  nachgewiesen  ist,  dasz  und  warum  die 
division  für  den  vermeintlichen  fehler  nicht  verantwortlich  gemacht 
werden  kann,  um  irrigen  auffassungen  meiner  darlegung  vorzu- 
beugen, bemerke  ich  noch,  dasz  ich  die  Untersuchung  auf  die  für 

_^    gefundene  reihe ,  sowie  auf  die  hiermit  eng  zusammenhängen- 

den  etwas  allgemeineren  fälle  beschränkt,  die  entwicklung  anderer 
quotienten  in  unendliche  reihen  aber  und  die  dann  hierfür  notwendig 
werdende  Untersuchung  über  die  convergenz  einer  späteren  zeit  vor- 
behalten sehen  möchte,  vor  die  wähl  gestellt  zwischen  den  jetzt 
üblichen  behandlungsweisen  dieses  capitels,  würde  ich  lieber  darauf 
verzichten,  quotienten  in  reihen  zu  entwickeln,  als  diese  entwicklung 
auszuführen,  ohne  die  schüler  über  die  beschränkte  zulässigkeit  der- 
selben aufzuklären. 

*  * 

* 

1)  erkenntnistheoretische:  Einleitung  in  die  Geometrie  von 

OBERLEHRER  MaxRaSCHIG.  WISSENSCHAFTLICHE  BEILAGE  ZUM 
JAHRESBERICHT  DES  KÖNIGL.  GYMNASIUMS  ZU  SCHNEEBERG  1890. 

mit  einer  pigurentafel.  Schneeberg  1890.  38  b.  4. 

.  Obwohl  die  geometrie  sich  einer  sichern  grundlage  erfreut,  — 
das ,  meine  ich ,  würden  nötigenfalls  allein  schon  ihre  resultate  be- 
weisen —  werden  dennoch  immer  und  immer  wieder  Untersuchungen 

40* 

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628  Zum  mathematischen  Unterricht  i 

gewissermaszen  über  die  Solidität  derselben,  um  es  kurz  auszudrücken, 
angestellt,  so  weit  diese  nun  von  gewissen  denkmöglichkeiten  aus- 
gehend zu  räumen  gelangen  und  geometrien  entwickeln,  die  zwar 
in  sich  widerspruchsfrei  sind,  der  nun  einmal  vorhandenen  Wirk- 
lichkeit aber  nicht  entsprechen,  erscheinen  sie  mir,  als  fl  üchte  eines 
mehr  scharfsinnigen  als  zweckmäszigen  denksports,  völlig  wertlos; 
so  weit  sie  aber  darauf  abzielen,  den  nun  einmal  notwendigen  grund- 
lagen  der  Wissenschaft  eine  durchaus  klare  fassung,  eine  mehr  als 
seither  einleuchtende  und  denknotwendige  gestalt  und  den  ent Wick- 
lungen ein  einheitliches  gepräge  zu  geben,  sind  sie  berechtigt  und 
verdienen  die  beachtung  aller  derjenigen,  die  irgend  welches  inter- 
esse  an  diesem  gegenstände  nehmen,  also  vor  allem  die  beachtung 
aller  mathematiker,  die  sich  im  Unterricht  mit  den  elementen  der 
geometrie  zu  beschäftigen  haben,  da  die  vorliegende  abhandlung  zu 
der  letztern  art  gehört,  versuche  ich  es,  die  leser  dieser  jahrbücher 
mit  ihrem  inhalt  bekannt  zu  machen,  so  zwar,  dasz  ich  die  mehr  auf 
metaphysischem  gebiete  liegenden  ersten  teile  so  kurz  als  möglich 
behandele,  doch  bemerke  ich  noch,  dasz  es  mir  fern  liegt,  eine  er- 
schöpfende kritik  der  in  der  fleiszigen  schrift  enthaltenen  reichen 
denkarbeit  geben  zu  wollen;  es  kann  mir  das  um  so  weniger  ein- 
fallen, als  ich  wie  schon  angedeutet  mich  gegen  manche  der  dort 
angestellten  erörterungen  ablehnend  verhalte,  bei  anderer  gelegen- 
heit  hoffe  ich,  meine  diesbezüglichen  ansichten  ausführlicher  dar- 
legen und  eingehender  begründen  zu  können. 

Zunächst  erörtert  Verfasser  seinen  Standpunkt  gegenüber  der 
frage  nach  der  erkenntnis  einer  realen  auszenwelt  und  bekennt  sich 
hierbei  zu  jener  ansieht,  welche,  zwischen  der  apriorischen  und  der 
empiristischen  richtung  vermittelnd  die  reale  auszenwelt  sich  in  uns 
spiegeln  und  unsere  erkenntnis  derselben  von  gewissen  anfängen  aus 
sich  mit  uns  entwickeln  läszt.  hieran  schlieszt  sich  ein  versuch,  die 
ausnahmslose  giltigkeit  des  causalgesetzes  mit  der  Willensfreiheit 
des  menschen  zu  vereinbaren,  ein  versuch,  der  meines  erachtens  ge- 
scheitert ist  wie  er  scheitern  muste,  und  wie  alle  ähnlichen  auch  in 
zukunft  scheitern  werden,  wenn  das  causalgesetz  ausnahmlose  gel- 
tung  hat,  so  ist  der  mensch  unfrei,  weil  durch  jenes  gebunden,  einerlei 
ob  er  sich  dieser  Unfreiheit  bewust  ist  oder  nicht;  wenn  aber  der 
mensch  frei  ist,  so  ist  das  causalgesetz  nicht  mehr  ausnahmslos  giltig, 
weil  es  ja  durch  ihn  eine  ausnähme  erleidet;  ein  drittes  ist  für  mich 
geradezu  denkunmöglich,  dabei  habe  ich  genau  dasselbe  bedürfnis, 
die  Willensfreiheit  des  menschen  gegenüber  dem  causalgesetze  zu 
retten,  wie  der  Verfasser,  und  wollte  für  meine  person  auch  lieber 
eine  lücke  in  diesem  zugeben,  als  jene  leugnen,  nur  dasz  mir  rein 
objectiv  betrachtet  die  sache  eher  umgekehrt  zu  liegen  scheint;  denn 
ausnahmen  von  der  Willensfreiheit  dürften  sich  eher  wahrscheinlich 
machen  lassen,  als  ausnahmen  vom  causalgesetze. 

Um  nun  darzulegen ,  wie  sich  das  empirische  element  allmäh- 
lich auf  kosten  des  apriorischen  verstärkt,  ohne  indessen  dieses  je 


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Zum  mathematischen  Unterricht 


629 


ganz  zu  beseitigen,  zeigt  Verfasser  im  folgenden  capitel:  erfahrung 
und  abstraction  in  der  mathematik,  wie  sich  begriffe  aus  der  erfah- 
rung durch  abstraction  bilden  und  weist  dann  auf  eine  Stufenfolge 
der  abstraction  auf  dem  gebiet  des  naturerkennens  hin;  am  wenig- 
sten werde  abstrahiert  in  den  beschreibenden  naturwissenschaften, 
mehr  in  physik  und  chemie,  noch  mehr  in  geometrie,  am  meisten 
aber  in  der  arithmetik,  die  sich  mit  der  zahl,  dem  abstractesten  pro- 
ducte  unseres  geistes  auf  mathematischem  gebiete ,  beschäftige;  die 
zahl  sei  demnach  abzuleiten  aus  unserer  Vorstellung  des  raumes, 
nicht  aber  der  zeit,  sodann  werden  die  geometrischen  classenformen : 
körper,  fläche,  linie,  punkt,  in  ihrer  abhängigkeit  von  einander  dar- 
gestellt, die  niedrigere  als  grenze  der  nächst  höhern,  und  die  höhere 
als  spur ,  d.  h.  als  bewegungsproduct  der  nächst  niedrigeren ,  wobei 
Verfasser  sich  stets  bemüht ,  das  rein  empirische  element  von  einem 
apriorischen  zu  trennen,  'welches  allein  die  geometrie  und  damit  die 
gesamte  mathematik  bezüglich  der  allgemeingiltigkeit  ihrer  resultate 
über  eine  erfahrungswissenschaft  hinaushebe'.  Verfasser  behandelt 
nun  in  einem  längeren  abschnitte  den  Ursprung  unserer  raumvor- 
stellung,  wobei  denn  auch  der  vierdimensionale  räum  und  ähnliche 
müszige  speculationen  eine  gebührende  berücksichtigung  finden,  ge- 
langt hierbei  zu  dem  satze,  'dasz  der  räum  als  ein  dreifach  und 
stetig  aber  ohne  grenzen  ausgedehntes  vorgestellt  und  ein  dem  ent- 
sprechender begriff  erfahrungsgemäsz  gebildet  werde'  und  teilt 
hierauf  die  Wundtschen  definitionen  mit,  sie  in  kürze  kritisch  be- 
leuchtend. 

Es  entwickelt  sich  hieraus  die  aufgäbe,  die  gerade  aus  dem 
grundprincip  aller  geometrischen  construction ,  der  bewegung,  und 
damit  unabhängig  von  dem  begriffe  der  richtung  zu  definieren  nach 
einer  zwar  wohlgelungenen,  aber,  wie  mir  scheint,  doch  auch  kaum 
nötigen  rechtfertigung  der  geometrischen  beweismethode ,  als  auf 
einer  unendlichkeitsinduction  beruhend,  und  nach  ablehnung  der 
Neumannschen  definition:  'die  gerade  ist  die  spur  eines  sich  selbst 
überlassenen  punktes',  gelingt  die  lösung  in  der  weise,  dasz  die 
gerade  definiert  wird  als  'eine  linie,  welche  zwischen  zwei  beliebigen 
punkten  eindeutig  liegt*,  ist  denn  aber  die  eindeutigkeit  so  a  priori 
einleuchtend  und  das  Vorhandensein  einer  eindeutigen  läge  so  von 
vorn  herein  feststehend,  dasz  man  gerade  hierauf  mit  glück  die  defi- 
nition der  geraden  aufbaute?  ich  meine,  dasz  die  obige  Neumannsche, 
wie  die  Legendresche:  'die  gerade  ist  die  kürzeste  zwischen  zwei 
beliebigen  ihrer  punkte',  ungefähr  ebenso  plausibel  seien,  wenn 
Verfasser  namentlich  gegen  letztere  einwendet,  dasz  dieselbe  ein  leb  r- 
satz  und  als  solcher  von  Baltzer  bewiesen  sei,  so  ist  das  doch  wohl 
ein  irrtum;  denn  wenn  man  die  gerade  so  definiert,  so  ist  das 
eben  kein  lehrsatz,  sondern  eine  definition,  es  fragt  sich  nur,  ob 
sie  eine  fruchtbare  ist  oder  nicht,  und  ob  sich  z.  b.  die  identität 
der  so  definierten  geraden  mit  einer  anderweit  definierten  nach- 
weisen läszt. 


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630  Zum  mathematischen  Unterricht. 

Nachdem  sodann  festgestellt  worden  ist,  dasz  der  winkel  als 
eine  selbständige  grösze  nicht  vor  der  ebene  definiert  werden  kann, 
wird  'die  normale  als  diejenige  gerade  erklärt,  welche  zu  einer 
zweiten  liege,  wie  die  Symmetrielinie  zur  basis  des  gleichschenkligen 
dreiecks'.  nunmehr  werden  für  die  ebene  drei  definitionen  auf- 
gestellt, von  denen  die  zweite  zunächst  die  erste  ergänzt,  von  der 
dritten  aber:  'die  normale  einer  geraden  in  einem  gegebenen  punkte 
ergibt  als  spur  einer  drehenden  bewegung  um  jene  festliegend  ge- 
dachte gerade  eine  ebene',  wird  nachgewiesen ,  dasz  die  durch  sie 
definierte  fläche  sowohl  mit  der  durch  die  erste  als  auch  mit  der 
durch  die  zweite  definierten  identisch  sei,  wodurch  sich  dann  die 
erste  definition  als  einwurfsfrei  und  vollständig  erweist;  sie  lautet: 
'eine  ebene  ist  die  spur  einer  geraden,  welche  durch  einen  punkt  so 
bewegt  wird,  dasz  sie  bei  dieser  bewegung  zugleich  auf  einer  fest 
mit  diesem  punkt  verbundenen  geraden  hingleitet';  dann  ist  die 
fundamentalste  eigenschaft  derselben  nach  der  zweiten  definition  die, 
'dasz  man  zwei  beliebige  ihrer  punkte  durch  eine  gerade  verbinden 
kann,  die  mit  allen  ihren  punkten  in  ihr  liegt'. 

Die  nun  folgende  Untersuchung  bezweckt  dem  Euklidischen 
elften  axiom:  'zwei  gerade,  welche  von  einer  dritten  so  geschnitten 
werden,  dasz  die  beiden  innern  an  einer  seile  liegenden  winkel  zu- 
sammen kleiner  als  zwei  rechte  sind ,  schneiden  sich  verlängert  an 
eben  dieser  seite',  eine  denknotwendigere  fassung  zu  geben  und 
findet  dieselbe  in  dem  von  Günther  (Ansbach)  vorgeschlagenen 
axiom:  'eine  aus  ihrer  ursprünglichen  richtung  herausgerückte  und 
dann  in  ein  und  derselben  ebene  willkürlich  bewegte  gerade  hat,  so- 
bald sie  in  ihre  anfangslage  zurückgelangt  ist,  jedenfalls  eine  drehung 
von  m  vollen  winkeln  (=*  360°)  zurückgelegt,  unter  m  eine  ganze 
zahl  verstanden.'  hieraus  wird  zunächst  der  satz  abgeleitet,  dasz 
die  summe  der  auszen winkel  einer  figur  gleich  412  und  mithin  die 
summe  der  innen  winkel  eines  dreiecks  gleich  2  JB,  woraus  sich  dann 
die  sätze  über  die  winkelpaare  an  parallelen  ergeben,  diese  darstel- 
lung  ist  sehr  einfach  und  klar  und  eignet  sich  vortrefflich  zur  ein- 
führung  in  den  Unterricht  in  den  elementen  der  planimetrie. 

Die  arbeit  zeugt  von  guter  kenntnis  der  einschlägigen  litteratur 
und  enthält  des  beachtenswerten  mancherlei,  dasz  ich  zuweilen  den 
eindruck  gehabt  habe,  als  ob  Verfasser  auf  autoritäten  mehr  als  gut 
gewicht  lege,  mag  meine  subjective  falsche  ansieht  sein ;  das  würde 
sich  in  etwas  wohl  auch  durch  die  natur  des  gegenständes  recht- 
fertigen, der  zn  dem  problemenreichen  grenzgebiete  zwischen  mathe- 
matik  und  philosophie  gehört  und  als  solcher  weniger  mit  der  apodik- 
tischen gewisheit  der  ersteren  als  mit  der  den  auseinandergehenden 
meinungen  der  forscher  entspringenden  Unsicherheit  der  letzteren 
behaftet  ist.  von  da  an ,  wo  die  eigentliche  mathematische  behand- 
lang anfängt,  d.  h.  im  letzten  drittel  etwa,  erscheint  die  darstellung 
auch  entsprechend  sicherer,  und  ich  empfehle  deshalb  namentlich 
diesen  letzteren  den  fachgenossen  zur  geneigten  beachtung. 


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Zum  mathematischen  Unterricht. 


631 


2)  ÜBERSICHTLICHE  DARSTELLUNO  DER  MATHEMATISCHEN  THEORIEN 
ÜBER  DIE  DI8PER8ION  DES  LICHTES.  EINHEITLICH  UND  LEICHT 
FASZLICH  ENTWICKELT  VON  ADALBERT  B  REU  KR,  K .  K.  PRO- 
FESSOR IN  TRAUTKNAU  ,  BÖHMEN.  ERSTER  TEIL.  NORMALE  DIS- 
PERSION, mit  einer  figurentafel.   Hannover  1890.  46  s.  4. 

Nachdem  Verfasser  in  der  einleitung  eine  kurze  Vorgeschichte 
seines  gegenständes  gegeben  und  die  gesetze  der  schwingenden  be- 
wegung  unter  beschränkung  auf  isotrope  mittel  und  transversale 
Schwingungen  für  geradlinig  polarisiertes  licht  entwickelt  hat ,  be- 
handelt er  eingehend  auf  mathematischer  grundlage  die  theorien  von 
Cauchy,  Powell,  Broch,  Bedtenbacher,  Eisenlohr,  Christoffel,  Briot, 
Neumann  und  Boussinesq  und  schlieszlich  Kettelers  empirische  glei- 
chungen  und  die  approximationsgleichungen  derätherbewegung.  die 
darst eilung  ist  klar  und  übersichtlich ;  wenn  es  auch  nicht  möglich 
ist ,  den  gegenständ  bei  dieser  kürze  zu  erschöpfen ,  so  ist  es  dem. 
Verfasser  doch  gelungen,  die  einschlägigen  hauptfragen  dem  leser  in 
ihrer  geschichtlichen  entwicklung  vorzuführen ,  und  ihn  dadurch  zu 
befähigen,  genügende  mathematische  Vorbildung  vorausgesetzt,  an  der 
weitern  förderung  dieses  Wissenszweiges  selbstthätig  teil  zu  nehmen, 
ohne  besondere  andere  Vorstudien  zu  machen,  da  ich  hierin  für  jeder- 
mann, namentlich  für  jeden,  dem  nicht  eine  gröszere  fachbibliothek  zu 
bequemer  Verfügung  steht,  mit  dem  Verfasser  einen  nicht  zu  unter- 
schätzenden gewinn  erblicke,  wünsche  ich  ihm  für  diese  abhandlung 
so  wohl  als  auch  für  ihre  auf  1891  in  aussieht  gestellte  fortsetzung 
Über  die  anomale  dispersion  ebenso  zahlreiche  als  aufmerksame  leser. 

3)  CONSTRUCTIVE  GEOMETRIE  DER  KEGELSCHNITTE  AUF  GRUND  DER 
FOCALEIGENSOHAFTEN.  EINHEITLICH  ENTWICKELT  VON  ADAL- 
BERT BREUER,  K.  K.  REALLEHRER  IN  TRAUTEN  AU,  BÖHMEN.  EIN 
LEHRBUCH  FÜR  HÖHERE  UNTERRICHTSANSTALTEN  UND  FÜR  DEN 
SELBSTUNTERRICHT.  MIT  80  IN  DEN  TEXT  GEDRUCKTEN  ORIGINAL- 
FIGUREN.  Eisenach  1888.   110  s.  4. 

Verfasser  definiert  zunächst  die  Kegelschnitte  als  geometrische 
örter,  lehrt  dann  deren  construetion  für  bestimmte  zahlen  werte  der 

excentricität  ( '  ,  l,  ! )  und  behandelt  nunmehr  zuerst  die  kegel- 

schnitte  in  ihrer  gesamtheit  und  hierauf  einzeln  die  ellipse,  die 
parabel  und  die  hyperbel.  da  das  werkchen  sich  schon  ziemlich  lange 
auf  dem  büchermarkte  befindet,  beschränke  ich  mich  nach  dieser 
kurzen  andeutung  über  die  gruppierung  seines  reichen  inhalts  auf 
die  folgende  kurze  Charakteristik:  die  spräche  ist  äuszerst  einfach 
und  klar,  die  anordnung  übersichtlich  und  methodisch  vortrefflich, 
die  ausstattung  gut  und  insbesondere  die  figuren  grosz  und  deutlich, 
demnach,  meine  ich,  dürfte  sich  das  buch  als  Schulbuch  in  den  oberen 
classen  der  realgymnasien  und  der  oberrealschulen  sowie  an  tech- 
nischen lehranstalten ,  soweit  sie  sich  mit  der  kegelschnittslehre  be- 
fassen, wohl  bewähren. 

Frankenberg.    J.  Sievers. 


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INHALTSVERZEICHNIS. 


Adam:  6500  aufgaben  usw.  8.  mathematischer  Unterricht. 
— ,  arithmetisches  und  algebraisches  Übungsbuch.    8.  mathematischer 
Unterricht. 

Altertum  und  gegenwart  im  Unterricht,  ein  Vortrag.    {Redslob.)    s.  438. 

JBone:  wie  soll  ich  übersetzen?    winke  und  ratschläge.  praktisches 

hilfsbuch  usw.    1890.    {Mahn.)    s.  359. 
Born:  bemerkungen  zu  einigen  oden  des  Horas,  besonders  bezüglich 

der  Wortstellung.    1891.    {Löschhorn.)    s.  462. 
Breuer:  übersichtliche  darstellung  der  mathematischen  theorien  über 

dispersion  des  lichts.    8.  mathematischer  Unterricht. 
— :  constructive  theorie  der  kegelschnitte.  8.  mathematischer  Unterricht. 

Caesar,  die  lateinische  casussyntax  auf  grundlage  desselben  und  des 

Nepos.    {Brinker.)    s.  491.  613.  586. 
Chronologie  im  gymnasium,   eine  lehrstunde  in  derselben.  Vortrag. 

(Sollau.)    s.  124. 

Cicero,  die  nachahmung  desselben  auf  unseren  gymnasien.  {Vogel.)  s.  1. 
—  de  officiis  I  cap.  32.  33.  42;  erläuternde  bemerkungen  dazu.  {Sal- 
kowski.)    8.  484. 

Correctum  der  schriftl.  arbeiten,  einige  gedanken  darüber.  {Mahn.)  s.  560. 

Fulda:  die  Kiffhäusorsage ,  herausgegeben  von  J.  Schmidt  u.  E.  Gnau. 
1889.    {Koch.)    s.  622. 

Geographischer  Unterricht  auf  gymnasien,  zur  geschichte  desselben. 
{Moses.)  8.503. 

Gerber  et  Greef:  lexicon  Taciteum  fascic.  VIIL  1890.  {Pfitzner.)  s.  299. 
Gnau  s.  Fulda. 
Goethe  8.  Schiller. 
Greef  s.  Gerber. 

Griechische  lyriker  in  den  oberen  c lassen.   {Biese.)    s.  415. 
Griechische  schullectüre  in  prima,  methode  ders.  Vortrag.  {Meisler.)  s.  475. 
Guhrauer:  bemerkungen  zum  kunstunterricht  auf  dem  gymnasium.  progr. 

{Löschhorn.)    8.  463. 
Gymnasialunterricht,  einige  fragen  zur  reform  desselben.  {DÖmald.)  s.  8. 
— ,  antwort  auf  'einige  fragen  zur  reform  des  gymnasialunterrichts'. 

{Dolega.)    s.  138. 


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Inhaltsverzeichnis. 


633 


Hartfelder'.    Philipp   Melanchthon  als  praeceptor  Germaniae.  1889. 

(Holstein.)    s.  132. 
Haupt:  kurzgefaszte  lateinische  formenlehre.   1890.    (Matthias.)    s.  357. 
Hebräische  grammatik  nnd  metrik,  beiträge  dazu.    (Leg.)    s.  311.  408, 
Heidrich:  handbnch  für  den  religionsonterricht  in  den  oberen  classen. 

teil  L    (Sterz.)    s.  253. 
Herwig:  griechisches  lese-  und  Übungsbuch  für  tertia.  1891. 
— :  vocabularium  und  regel Verzeichnis  zum  lesebuch  für  tertia.  1891. 

(Fritsche.)  s. 

Hexameter,  wie  kann  man  dem  anfänger  die  haupteäsuren  desselben 
klar  machen?    (Stawicki.)    s.  3AL 

Johannesbrief,  der  erste,  gedankengang  desselben.    (Regelt.)    s.  105. 

Kümmel:  deutsche  geschiente.    1889.    (DiesteL)    s.  LLL 
Kiffhäusersage  s.  Fulda. 

Lateinische  leetüre  im  gymn.,  zur  gestaltung  derselben.  (Thiele.)  8.  527. 
Lateinische  classenlectüre  der  gymnasien,  eine  lücke  in  derselben.  (Vogel.) 
s.  2Ü£L 

Lateinischer  Unterricht,  zum  späteren  beginn  desselben.  (VÖlcker.)  s.  20» 
Lutsch:  lateinisches  lehr-  und  lesebuch  für  sexta.  1889.  (Haupt.)  s.  312. 

Mathematischer  Unterricht,  zu  demselben.    (Sievers.)    s.  624. 
Müller:  Übungsbuch  für  den  uuterricht  im  lateinischen,    heft  L  für 
sexta.    1889.    (Haupt.)    s.  :>TJ. 

Nepos  8.  Caesar. 

Nerrlich:  Jean  Paul,  sein  leben  und  seine  werke.  1889.  (Jung  f.)  s.  246. 
Neutestamentliche  exegese,  beiträge  zu  derselben.    (Cron.)    s.  283. 

Oberlausitz  8.  Schulwesen. 

Pausanias,  der  reisebeschreiber,  seine  lebens-  und  glaubensansichten. 

(Rieder.)    s.  4filL 
Personalnotizen.    (Herausgeber.)    8.  6jL  112,  208»  324L 
Perthes:  die  notwendigkeit  einer  durchgreifenden  Umgestaltung  unseres 

Schulwesens.    1891.   (Bolle.)   s.  '203.  % 
Pindar,  das  daktylo-epitritische  versmasz  bei  demselben  und  die  neuere 

rhythmologische  theorie.    (Hermann.)    s.  65. 
Primaner,  sind  dieselben  während  des  letzten  jahres  ihrer  Schulzeit  mit 

recht  als  überbürdet  anzusehen  und  wie  können  —  bejahendenfalls  — 

dieselben  entlastet  werden?    (Mahn.)    s.  170. 
Progymnasien,  die  reifeprüfang  auf  denselben.    (Gronau.)  s. 
Putsche-Schottmüller:  lateinische  schulgrammatik.    23e  aufl.    unter  mit- 

wirkung  von  Fr,  Heussner  neu  bearbeitet  von  B.  Heil  u.  IL  Schmitt. 

1889.    (Homemann.)    s.  4ML 

Haschig:  erkenntnistheoretische  einleituDg  in  die  geometrie  s.  mathe- 
matischer Unterricht. 


634 


Inhalts  Verzeichnis. 


Ribbeck,  [La  griechische  schalgrammatik.    formenlehre  der  attischen 

prosa  usw.    1891.    (Möller.)    s.  hhZL 
Rössler(f):  geschiente  der  Königl.  sächsischen  fürsten-  and  landesschale 

Grimma.    1891.    (Haupt.)    s.  365. 

Sage,  die  antike,  in  sexta.    (Enoch.)    s.  426. 

Scheindler:  lateinische  schalgrammatik.    1889.    (Matthias.)    8.  140. 
Schiller  und  Goethe,  kritisch  -  exegetisches  zu  denselben.  (Seltner.) 
s.  &6JL  606, 

Schmalz  a.  Wagner:  lateinische  schulgrammatik.  1891.  (Fügner.)  s.  51L 
Schmidt,  Job.,  s.  Weidner. 
Schmidt,  Jul.,  s.  Fulda. 
Schottmüller  S,  Putsche. 

Schalfeierlichkeiten,  gymnastische,  musikalische  and  declamatorische; 

über  dieselben.    (Stöwer.)    s.  60,  77. 
Schalwesen,  höheres,  in  der  Ober  lau  sitz;  zur  geschiente  desselben. 

(Heyden.)    s.  1ÜL  l&L  218.  273.  321. 
Seiler:  der  schwarze  erdteil  and  seine  er  forscher,    zugleich  5e  aufläge 

des  gleichnamigen  buches  von  Reinh.  Zöllner.  1891.  (Becker.)  s.  618. 
Steiner  u.  Scheindler :  lateinisches  lese-  und  Übungsbuch  im  anschlusz  an 

die  lat.  grammatik  von  Scheindler.  lr  teil  (sexta).  (Matthias.)  8.  1ÜL 

Thiele:  vorlagen  zu  Übersetzungen  ins  lateinische  für  die  prima  der 

gymnasien.   1891.    (Muff.)    s.  LfiQ. 
Trosien:  über  den  religionsunterricht  an  evangelischen  gymnasien.  1889. 

(Krah.)    s.  2QS. 

•t 

Uberbürdungsfrage,  zu  derselben.    (Schröter.)    8.  18JL 
Unterricht  in  den  alten  sprachen,  die  debnung  des  syntaktischen  unter- 
richte in  denselben.    (Vogel.)    s.  577. 

Varrcntrapp:  Johannes  Schulze  und  das  höhere  preuszische  Unterrichts  - 

wesen  in  seiner  zeit.    (Lothholz.)    s.  8X 
Versammlung,  41e,  deutscher  philologen  und  Schulmänner  zu  München, 

Verhandlungen  derselben,    s.  255, 

Wagner  s.  Schmalz. 

Weidner:  Com.  Nepotis  viÄe.  für  den  schulgebrauch  bearb.  3e  auf],  mit 

namensverzeichnis  und  anhang  von  Jo/i.  Schmidt.  1890.  (Stange.)  s.  353. 
Wesener:  lateinisches  elementarbuch.  3  teile,  für  sexta,  quinta,  qnarta. 

3e  bzw.  4e  aufi.    1889.    (Haupt.)    s.  312. 
Wiese:  der  evangelische  religionsunterricht  im  lehrplan  der  höheren 

schulen,  ein  pädagogisches  bedenken.  2e  aufl.  1891.  {Krah.)  s.  36G. 
Willmann:  didaktik  als  bildungslehre  usw.  2.  bde.  1882  u.  1888.  (Muff".) 

s.  12& 

Xenophon,  Agesilaus,  dessen  didaktischer  wert  im  zusammenhange  mit 
der  Kyropädie  und  den  Memorabilien  als  schullectüre  untersucht. 
(Dörwald.)    8.  33L  3fi9_ 


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NAMENSVERZEICHNIS 

DER  AN  DIESEM  BANDE  BETEILIGTEN  MITARBEITER. 


Becker  in  Schlawe.    s.  618. 

Biese  in  Kiel.    b.  415. 

Bolle  in  Wismar.    8.  203. 

Brinker  in  8chwerin.    8.  491.  510.  586. 

Cbon  in  Augsburg,    b.  283. 

Dibstel  in  Dresden,  b.  61. 
Doleoa  in  Rogaaen.  s.  133. 
Dükwald  in  Ohlau.    8.  8.  331.  369. 

Enoch  in  Diedenhofen.    8.  426. 

Fritzbchb  in  Mülheim  a.  d.  Ruhr.    s.  243. 
Fügner  in  Nienburg  a.  d.  Weser.    8.  544. 

Gronau  in  Schwetz.    8.  232. 

Haüpt  in  Annaberg.    s.  312.  365. 

Hermann  in  Leipzig,    s.  65. 

Heyden  in  Dresden,    s.  113.  161.  218.  273.  321. 

Holstein  in  Wilhelmshaven,    ß.  137. 

Hornemann  in  Hannover,    s.  449. 

f  Juno  in  Meseritz  8.  246. 

Kettneb  in  Pforta.    s.  566.  606. 

Koch  in  Moskau,    s.  622. 

Krah  in  Insterbnrg.    s.  206.  366. 

Lev  in  Marburg,    s.  341.  408t 
Lothholz  in  Halle,    s.  87. 
Löschhorn  in  Dresden,    s.  463. 

Mahn  in  Kempen,   a.  170.  369.  560. 
Matthias  in  Zittau,    s.  146.  357. 
Meister  in  Leipzig,    s.  476. 


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Namenverzeichnis  der  mitarbeiter. 


Mos in  Dresden,    s.  503. 
Möller  in  Breslau,    s.  553. 
Müff  in  Stettin,    s.  160.  196. 

Pfitzner  in  Parchim.    s.  299. 

Rbdslob  in  Weimar,    s.  438. 

Rbgbll  in  Hirschberg  (Schlesien),    s.  105. 

Kibdbb  in  Gambinnen,    s.  465. 

Salkowski  in  Memel.    s.  481. 

Schröter  in  Posen,    s.  185. 

SiBVEBS  in  Frankenberg.    s.  624. 

Soltaü  in  Zabern.    s.  124. 

Stange  in  Dresden,    s.  353. 

Stawicki  in  Heiligenstadt,    s.  351. 

Sterz  in  Cöthen.    s.  253. 

Stöwbr  in  Berent  (Westprenszen).    8.  50.  77. 

Thiblb  in  Ratibor.    s.  527. 

Vogel  in  Dresden,    s.  1.  209.  577. 


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