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Full text of "Gesammelte Schriften"

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BERKElf Y 


LIBRARY 

UNIVCRSITY  OP 
CALIFORNIA 


ogle 


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GESAMMELTE 
SCHRIFTEN 

VON 

KURT  EISNER 


ERSTER  BAND 


VERLEGT  BEI  PAUL  CASSIRER  IN  BERLIN 


Alle  ReAte, 
insbesondere  das  der  Übersetzung  vorbehalten 
Copyright  1919  by  Paul  Cassirer,  Berlin 


Drude  von  Oscar  Brandstetter  in  Leipzig 


Wir  Toten  auf  Urlaub. 

Ein  französischer  Offizier  hat  in  einem  Kriegsgericht 
das  Wort  gesprochen:  „Wir  sind  alle  heut  nur  Tote 
auf  Urlaub."  War  es  im  ersten,  im  zweiten  Kriegs- 
jahr? Ich  weiß  es  nicht;  wir  haben  in  diesen  Jahren 
das  Zeitgedächtnis  verloren. 

Mich  aber  ließ  das  Wort,  seitdem  ich  es  gelesen, 
nicht  wieder  los  und  ward  mir  zum  führenden 
Schicksal. 

Der  Tod  hat  uns  alle  nur  beurlaubt.  Wir  Schatten 
sind  auf  eine  Weile  in  das  Reich  des  Bewußtseins  zu- 
rückgekehrt, das  man  einst  Leben  nannte  und  das 
heute  bloß  ein  mit  den  Prothesen  des  Todes  sich 
schwerfällig  grotesk  bewegender  Automat  ist.  Wir 
harren  unserer  Wiedereinberufung.  Ein  Granat- 
splitter setzt  unserem  Urlaub  das  Ziel,  die  Geschoßnaht 
eines  Maschinengewehrs,  eine  Giftgaswelle,  ein  Flam- 
menguß, ein  Torpedo,  eine  Fliegerbombe,  die  Explosion 
einer  Munitionsfabrik,  eine  Bahnentgleisung,  Hunger, 
Erschöpfung,  ein  Raubmord,  der  Anfall  eines  Wahn- 
sinnigen, der  von  der  Front  kam,  oder  auch  das  Urteil 
von  Richtern,  die  uns  das  Almosen  des  Urlaubs  ab- 
erkennen, weil  sie  selbst  vergessen  haben,  daß  auch  sie 
nur  Tote  auf  Urlaub  sind. 

Viele  suchen  durch  gefälschte  Scheine  und  Pässe  die 
Frist  sich  zu  verlängern,  rasen  in  grinsenden  Tob- 
süchten, balgen  sich  geil  und  gierig  mit  den  Ver- 
wesungen der  Welt  und  fürchten  sich  vor  dem  Tod, 
obwohl  gerade  sie  längst  zwiefach  Tote  sind,  die  nur 
die  Zuckungen  der  letzten  Todesqual  Leben  wähnen. 

8.S1  S 


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Manche  aber  wissen,  wie  sie  den  Urlaub  menschlich 
erfüllen  sollen:  daß  sie  ihre  Seele  retten  und  den  Tod 
nicht  fürchten,  von  dem  sie  kommen;  daß  sie  der 
Wahrheit  dienen  und  bis  zur  letzten  Stunde  die  Erde 
reinigen  helfen  für  die  Lebendigen  von  morgen,  die 
befreit  die  Kraft  haben  werden,  den  Tod  aus  dem 
Leben  zu  bannen.  Ihnen  wird  noch  einmal  Arbeit  im 
Menschheitsdienst  zu  der  Seligkeit  eines  vorgefühlten 
Lebens,  das  ihrem  Geschlecht  zu  erringen  und  zu  ge- 
nießen versagt  war. 

Ein  Toter  —  des  Spruches  harrend,  der  ihn  be- 
gräbt —  sammelt  in  letzten  Stunden  Bruchstücke 
seines  Wollens  und  Denkens,  Kampfens  und  Träu- 
mens ..  .  Urlaubserinnerungen! 

München, 

Untersuchungfgefängnis,  io.  Sept.  1918 
In  der  Sonnenaufgangsstunde. 

Kurt  Eisner. 


6 


Digitiz 


Letzter  Marsch. 

Den  Zuchthäuslern  gewidmet 
(Beim  Rundgang  im  Kerkerhof  zu  singen.) 


Schritt  für  Schritt,  o  Freund,  geh'  mit,  die 


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Not  wirbt  Mut 

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Blick    um  -  her,  die. 


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Zeit     läuft  quer,  der    Tod  säuft  Blutl 


Worte  und  Weise  von  Kurt  Eisner  im  Gefängnis  Stadelheim 
ersonnen ,  im  Ministerium  des  Äußern  niedergeschrieben. 
Nov.  1918. 


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Schritt  für  Schritt, 
O  Freund,  geh  mit! 
Die  Not 
Wirbt  Mut. 
Blick  umher 
Die  Zeit  läuft  quer! 
Der  Tod 
Säuft  Blut. 

III 

Ich  und  du 
Verjagen  Ruh: 
Die  Stadt 
Wird  wach; 
Schreitet  schwer, 
Ein  düstres  Heer. 
Verrat 

Schleicht  nach. 
IV 

Schritt  für  Schritt, 
Der  Tod  geht  mit. 
Das  Haupt 
Trag  hoch! 
Liegt  nichts  dran: 
Du  warst  ein  Mann! 
Wer  glaubt 
Siegt  doch! 

Am  Neudeck,  22.  6.  18. 


Krieg! 


Drei  Szenen  von  Kurt  Eisner. 

I. 

Eine  Sommernacht.  Die  Restauration  eines  großen 
Hotels.  Fremde,  Studenten,  Kleinbürger,  Kommis, 
Frauen,  kleine  Mädchen.  Die  Musikkapelle  spielt: 
Puppchen,  du  bist  mein  Augenstern.  Das  Publikum 
singt  mit.  Lachen,  Trinken,  Essen,  Rauchen,  Schwat- 
zen.  An  einem  Tisch  diskutiert  man  lebhaft. 

Der  Student:  Es  geht  los.  Endlich! 
Der    Kleinbürger:   Sie   werden   mächtig  ver- 
droschen ! 

Frau  Lehmann:  Wenn  der  Lump  doch  bloß  den 
Thronfolger  ermordet  hätte,  aber  auch  die  Frau  Ge- 
mahlin !  (Gerührt.)  Die  armen  Kinder,  die  armen  .  . . 

Herr  Lehmann:  Damischer  Hund!  So  eine  Ge- 
meinheit! 

Der  Student:  Jetzt  wird  man  die  Kanaille  Mores 
lehren. 

Ein  anderer  Kleinbürger:  Ich  habe  gelesen, 
Belgrad  hat  nachgegeben.  Es  kommt  nicht  zum  Kriege. 

Der  Student  (heiter, selbstbewußt):  Selbstredend 
kommt  es  zum  Kriege!   Wetten,  daß? 

Der  andere  Klein  bürg  er  (eigensinnig):  Ich  habe 
doch  gelesen,  Belgrad  .  .  . 

Ein  Kommis  (angetrunken):  Unsinn  .  .  .  Morjen 
ist  Kriech.  Frieden  ist  Unsinn  (will  sich  mit  dem  Glas 
Bier  in  der  Hand  erheben,  verschüttet  es)  ...  janz 


Deutschland  steht  —  hupp!  —  mit  Bejeisterung  bei 
Bundesjenossen.  (Lacht  laut  und  gröhlt:  Puppchen, 
du  bist  mein  Au  . .  Au  .  .  Augenstern). 

Ein  Fremder  (düster) :  Es  ist  schrecklich .  .  . 
Der  Student:  Pardon,  sind  Sie  etwa  Serb,  — 
dann  —  (klemmt  das  Monokel  ein). 

Ein  kleines  Mädchen  (blickt  interessiert  zärtlich 
auf  den  Fremden):  Das  wäre  reizend,  ein  wirklicher 
Serbe!  (Zum  Fremden):  Müssen  Sie  auch  in  den 
Krieg? 

Der  Fremde  (erregt):  Aber  haben  Sie  alle  denn 
gar  kein  Gefühl  für  die  Furchtbarkeit,  für  den  Ernst .  . . 
Ein  Zeitungsjunge  bringt  Extrablätter,  Rufe  von  Tisch 
zu  Tisch:  Der  Krieg  ist  erklärt.  Einen  Augenblick 
die  Stille  einer  längst  erwarteten  Entscheidung,  die 
dennoch  erschüttert,  indem  sie  wirklich  wird.  Die 
Musik  bricht  plötzlich  ab.  Dann  johlendes  Geschrei: 
Musik!  Deutschland,  Deutschland  über  alles!  Die 
Kapelle  spielt,  alles  singt  Deutschland,  Deutschland 

über  alles. 

Der  Fremde  (nicht  mit  singend,  seufzt):  Ach! 

Der  Student  (drohend):  Warum  singen  Sie  nicht 
mit  ? 

Der  Kommis:  Hallo  —  Marsch,  mitjesungen! 

Der  zweite  Kleinbürger:  Ich  habe  doch  ge- 
lesen, in  Belgrad  .  .  . 

Frau  Lehmann:  Erhebend,  daß  man  bei  so  was 
dabei  sein  kann. 

Der  Student:  Singen  oder  raus! 

Das  kleine  Mädchen:  Lassen  Sie  ihn  doch! 

Der  Student:  Maul  halten!  (Packt  den  Fremden 
am  Rock.) 

Der  Hoteldirektor  (herbeieilend):  Halt,  hier 
wird  nicht  gehauen. 

Der  Student:  Das  werden  wir  sehen. 

Der  Kommis:  Sie  ham  heut  jarnischt  zu  sagen. 


10 


Der  Direktor:  Wenn  Sie  nicht  Ruhe  geben,  spielt 
die  Musik  nicht  mehr. 

Der  Student:  Die  wird  spielen. 
(Der  Direktor  läuft  zum  Kapellmeister  und  bedeutet 

ihm,  aufzuhören.) 

Der  Kapellmeister:  Das  geht  nicht,  das  Publi- 
kum verlangt  heute  patriotische  Nummern. 

Der  Direktor  (schreiend):  Ich  befehle  Ihnen  .  .  . 
(Die  Gäste  werden  aufmerksam  auf  den  Streit  zwischen 
Direktor  und  Kapellmeister  und  sammeln  sich  um  das 

Podium.) 

Der  Kapellmeister  (weiter  dirigierend):  Scheren 
Sie  sich  .  . . ! 

Der  Direktor  (in  heller  Wut,  brüllt):  Aufhören, 
aufhören ! 

(Ein  Bierglas  fliegt  dicht  an  dem  Kopf  des  Direktors 
vorüber.  Das  ist  das  Signal  zu  einem  allgemeinen  Auf- 
stand. Man  schlägt  mit  den  Stühlen  auf  die  Tische, 
schleudert  sie  auf  den  Boden,  bis  die  Marmorplatten 
zerbrechen,  zertrümmert  mit  den  Marmorstücken,  mit 
Biergläsern,  Stöcken  die  elektrischen  Lampen  und 
Kronen.  Die  Frauen  kreischen  und  lachen.  Die 
Kapelle  spielt  weiter:  Deutschland,  Deutschland. 
Während  die  Menge  das  Lied  mitbrüllt,  vollendet  sie 
im  Takt  das  Zerstörungswerk.  Der  Direktor  flüchtet 
und  ruft  telephonisch  nach  der  Polizei.  Die  Marmor- 
trümmer werden  jetzt  durch  die  Scheiben  auf  die 
Straße  geworfen  und  auf  demselben  Wege  zurückge- 
schleudert. Die  Lorbeerbäume,  die  die  Hotelfront 
säumen,  werden  aus  den  Kübeln  gerissen,  und  nun 
spielt  man  so  lange  durch  die  Fensterscheiben  mit  den 
schweren  Kübeln  Fangball,  bis  alles  kurz  und  klein 
geschlagen  ist.  Eine  wilde  Horde  stürzt  sich  auf  die 
Garderobenständer  und  schleppt  Mäntel  und  Hüte  auf 
die  Straße,  die  bald  mit  Fetzen  bedeckt  ist.  Das  Licht 
in  der  Restauration  erlischt.  Die  Kapelle  spielt  im 
Dunkeln  weiter.  Polizei  rückt  an.  Alles  läuft  davon. 

ix 


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Die  Kellner  jammern  um  die  Zeche,  da  niemand  ge- 
zahlt hat.  In  dem  verwüsteten  Saal  ist  niemand  mehr 
außer  der  Polizei,  dem  Direktor  und  den  Kellnern. 
Nur  der  Kommis  liegt  hilflos  am  Boden  und  rülpst: 
Hoch  der  Kriech!) 

IL 

Straße  einer  großen  Stadt. 

Der  Zeitungsjunge:  Neuestes  Extrablatt  — 
neuestes  Extrablatt  —  großer  Sieg  —  5000  Tote  — 
12000  Verwundete  .  .  . 

Der  Kleinbürger:  Ich  mag  gar  nicht  mehr  lesen. 
Kein  Mensch  zahlt  mehr.  Das  Geld  ist  aus  der  Welt 
verschwunden.  Wir  müssen  alle  krepieren.  Ganz  egal, 
ob  die  andern  siegen  oder  wir,  nich  mal  ein  Glas  Bier 
kann  man  sich  mehr  leisten.  Was  gingen  uns  die 
Serben  an  .  .  . 

Ein  Arbeiter:  Seit  acht  Tagen  haben  wir  kein 
Stück  Brot  im  Hause.   Die  Kinder  verhungern. 

Der  zweite  Arbeiter:  Um  so  besser,  dann 
brauchen  sie  nicht  zu  warten,  bis  Granaten  sie  zer- 
reißen. 

Ein  alter  Arbeiter:  Zwei  Söhne  haben  sie  mir 
gemordet,  den  dritten  zum  Krüppel  geschossen  und 
alle  haben  sie  Frau  und  Kinder. 

Ein  Student  (zum  Kleinbürger):  Darf  ich  um 
Feuer  bitten? 

Der  Kleinbürger:  Verfluchter  Hund!  Hat  noch 
Zigaretten!  (Schlägt  ihn  nieder.) 

Ein  Arzt:  Ich  habe  Pestbazillen  gezüchtet.  Ich 
will  sie  den  Leuten  einimpfen.  Es  wäre  eine  Erlösung 
—  für  die  Besiegten  und  die  Sieger. 

Ein  Mädchen  (hohlwangig,  geschminkt):  Komm 
mit,  Schatz! 
Der  Arzt:  Sie  soll  den  Anfang  machen. 


12 


III 


Weites  Feld.  Nacht.  Ein  dunkelroter  Himmel  liegt 
schwer  über  der  Erde.  Es  regnet  Blut.  Ein  nacktes,  totes 
Kind  liegt  einsam  in  der  leeren  Öde.  Der  Hals  ist  ihm 
herausgeschnitten  und  das  Köpfchen  liegt  auf  der 
Schulter.  Vom  Blutregen  rot  gefärbt  schleicht  sich 
ein  menschenähnliches  Gerippe  heran,  benagt  das 
Händchen  des  Kindes  und  verschlingt  es.  Durch  die 
steigende  rote  Flut,  die  den  Leichnam  des  Kindes 
sacht  hebt,  watet  ein  Zug  Gespenster,  Gestalten- aus 
allen  Zeiten  und  Völkern,  Kronen  auf  den  Schädeln, 
Zepter  und  Schwert  in  den  Händen,  glitzernde  Orden 
an  den  Rippen  aufgereiht,  Fürsten,  Kriegshelden, 
Staatsmänner,  Größen  der  Kirche  und  des  Geldes. 
Sie  waten  gebeugt  und  schleppen,  alle  zusammen  in 
dieselbe  eiserne  Kette  eingeschirrt,  hinter  sich  eine 
ungeheuere,  den  Weltraum  ausfüllende,  schattenhaft 
getürmte  Last.  Durch  die  Nacht  stöhnt,  während  die 
Blutstropfen  unablässig  rieseln,  ein  Gesang,  der  alle 
Sprachen  zu  einer  neuen  Sprache  ewiger  Qual  und 

Klage  vereinigt. 

Der  Zug  der  Verantwortlichen: 
Durch  blutende  Nacht 
Wir  schleppen  und  schleifen 
Wir  Unerlösten 
Gemordet  Leben, 
Zerstörtes  Glück, 
Zerstückte  Leiber. 
Es  türmt  sich  die  Last 
Mit  steigender  Schuld 
Am  Wehe  der  Welt. 

Eine  Stimme: 
Und  niemals  wird  der  Fluch  von  euch  genommen, 
Bis  ihr,  die  göttlich  Leben  ruchlos  rafftet, 
Das  Wunder  lernt,  die  Augen  eines  Kindes, 
Vom  Krieg  geschlossen,  neuem  Licht  zu  öffnen. 

13 


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Der  Zug  sinkt  in  die  Kniee,  daß  das  Blutmeer  fast 
über  ihm  zusammenschlägt  und  betet  beschwörend  zu 
dem  toten  Kinde.  Aber  dessen  Augen  bleiben  ge- 
schlossen und  der  Zug  wiederholt,  weiterwandelnd, 

das  ewige  Lied: 

Durch  blutende  Nacht 
Wir  schleppen  und  schleifen 
Wir  Unerlösten 
Gemordet  Leben, 
Zerstörtes  Glück 
Zerstückte  Leiber, 
Es  türmt  sich  die  Last 
Mit  steigender  Schuld 
Am  Wehe  der  Wrelt. 

(27.  Juli  1914.) 


Jaures. 


Als  Märtyrer  des  Weltfriedens  ist  Jean  Jaures  ge- 
fallen. Die  Kugeln  eines  Meuchelmörders  fällten  ihn, 
als  6ein  Lebenswerk  zusammenbrach.  Er  bekämpfte 
seit  jeher  mit  leidenschaftlichem  Heldentum  den 
widernatürlichen  Bund  der  revolutionären  Demokratie 
Frankreichs  mit  dem  zaristischen  Kosakentum.  Er  war 
mit  derselben  feurigen  Begeisterung  ein  Prophet  der 
Versöhnung  zwischen  Frankreich  und  Deutschland. 

Die  wilde  Wut,  die  dieser  unbeugsame  Apostel  der 
Humanität  im  Angesicht  des  Todes  durch  die  Kraft 
seines  gefährlichen  Bekennens  erregte,  lenkte  die  Ge- 
schosse eines  Besessenen  gegen  diese  edle,  heroische 
Brust. 

Die  unlösbare  Tragik  des  einzelnen  ist  die  Tragik 
aller  französischen  Sozialisten.  So  furchtbar  klar  und 
einfach  die  Haltung  der  deutschen  Sozialisten  in  dieser 
europäischen  Katastrophe  ist,  so  grauenvoll  schwer  ist 
sie  für  unsere  französischen  Genossen.  Das  deutsche 
Proletariat  weiß,  daß  es  den  Vernichtungskrieg  gegen 
den  Zarismus  gilt,  den  wir  gepredigt,  solange  es  eine 
deutsche  Sozialdemokratie  gibt.  Wir  wissen  freilich 
auch,  daß  das  unentwirrbare  Verhängnis  Europas  die 
Schuld  einer  Politik  ist,  deren  Wurzeln  tief  in  die  Ver- 
gangenheit reichen,  vor  der  zu  warnen,  die  zu  be- 
kämpfen wir  niemals  müde  wurden.  Aber  es  ist  jetzt 
nicht  die  Zeit,  daran  zu  erinnern,  wie  schrecklich  sich 
die  hellseherischen  Worte  erfüllt  haben,  die  vor 
44  Jahren  Karl  Marx  gesprochen.  Jetzt  hat  der 
Zarismus  Deutschland  angegriffen,  jetzt  haben  wir 
keine  Wahl,  jetzt  gibt  es  kein  Zurückblicken.  Jetzt 
hat  das  deutsche  Proletariat  den  Erbfeind  der  europä- 

15 


ischen  Gesittung  zu  vernichten,  als  Deutsche,  als 
Demokraten,  als  Sozialisten  ergreifen  wir  die  Waffen 
für  die  gerechte  Sache. 

Die  französischen  Sozialisten  aber  sollen  an  der  Seite 
der  Kosaken  gegen  ihre  deutschen  Freunde  kämpfen. 
Das  ist  die  grauenschwerste  Stunde  des  französischen 
Proletariats,  ein  durcn  die  Verkettung  der  europäischen 
Politik  der  herrschenden  Klassen  herbeigeführter  Kon- 
flikt, aus  dem  es  keinen  Ausweg  gibt.  Unter  der  Qual 
dieses  Schicksals  stehen  alle  französischen  Sozialisten, 
aber  mehr  als  alle  anderen  mußte  diese  Tragik  Jean 
Jaures  erschüttern,  den  glühenden  Künder  des  Welt- 
friedens, ihn,  der  Deutschland  liebte,  so  heiß  wie  sein 
eigenes  Vaterland,  der  im  Reiche  deutscher  Gedanken 
erwachsen  —  der  Philosophie  Kants  war  sein  erstes 
wissenschaftliches  Werk  gewidmet  — ,  der  für  deutsche 
Kunst  entflammt  war. 

So  war  für  ihn  der  Tod  Erlösung  im  rechten  Augen- 
blick. Aber  für  sein  Land,  für  Europa,  für  die  Mensch- 
heit ist  sein  Tod  ein  Unglück.  Seine  mächtige  Stimme, 
die  Kolosse  von  Widerständen  niederzuzwingen  ver- 
mochte, wird  in  den  kommenden  Zeiten  fehlen,  wenn 
es  die  Menschen,  ermattet  von  Blut  und  Qual,  nach 
dem  Worte  des  beschwörenden  Führers  verlangt.  .  .  . 

Jean  Jaures  gehört  zu  jenen  weltpatriotischen  Be- 
kennernaturen, an  denen  sein  Volk  reich  ist.  Immer 
wenn  blinder  Wahn  in  unaufhaltsamer  Zerstörung  alles 
zu  überfluten  drohte,  stellte  er  sich,  mit  der  ganzen 
Gewalt  seiner  enthusiastischen  Seele,  der  unbeirrbaren 
Sicherheit  seiner  Vernunft  (im  Geiste  der  Humanität) 
und  der  herrlichen  Todesverachtung  des  einzelnen 
Helden,  dem  trüb  gärenden  Toben  entgegen.  Als  die 
klerikal-militaristische  Pest  des  Dreyfushandels  Frank- 
reich verwüstete,  war  seine  unerschrockene  Kraft  es 
vor  allem,  die  das  Land  reinigen  und  das  Verbrechen 
sühnen  half.  Und  wie  es  ihm  gelang,  die  streitenden 
französischen  Sekten  des  Sozialismus  zu  einer  großen 

x6 


Partei  zu  einigen,  so  war  er  auch  in  der  Internationale 
der  kluge  Mittler  und  Versöhner,  dessen  Einfluß  auf 
das  Proletariat  der  Welt  von  Jahr  zu  Jahr  stieg. 

Das  aber  wurde  ihm  immer  mehr  zur  Lebensauf- 
gabe: die  Versöhnung  Deutschlands  und  Frankreichs. 
In  den  deutsch-französischen  Kriegskrisen,  die  seit  Be- 
ginn des  Jahrhunderts  wiederholt  den  Frieden  be- 
drohten, hat  er  —  wie  immer  beschimpft  von  seinen 
Landsleuten  und  schroff  abgewiesen  von  den  Herr- 
schenden Deutschlands  —  einen  weit  größeren  Einfluß 
auf  Erhaltung  des  Friedens  geübt,  als  bisher  bekannt 
geworden  ist.  Als  Grundlage  des  dauernden  Friedens 
zwischen  Frankreich  und  Deutschland  und  damit  des 
europäischen  Friedens  überhaupt  erkannte  er  die 
Schaffung  von  Volksheeren.  In  seinem  Buche  Die 
neue  Armee  (Deutsch  bei  Eugen  Diederichs  in  Jena 
191 3  erschienen)  hat  Jaures  die  Organisation  solchen 
Volksheerwesens  entworfen  und  begründet:  „Die 
Mobilisierung  der  Armee  zur  Mobilisierung  der  Na- 
tion selbst  machen,  das  heißt  den  Regierungen  den 
Gedanken  an  Abenteuer  erschweren.  Und  wenn  Frank- 
reich dies  alles  ins  Werk  gesetzt  hat,  wenn  es  den 
anderen  Völkern  auf  einem  Weg  vorangeschritten  ist, 
den  es  ohne  Gefahr  zuerst  betreten  kann,  weil  es  sich 
dadurch  stärkt,  statt  sich  zu  schwächen,  dann  werden 
die  anderen  Nationen,  dann  wird  vor  allem  Deutsch- 
land ihm  folgen  müssen.  .  .  .  Damit  wird  für  Europa 
ein  neues  Zeitalter  anbrechen,  und  diese  hehre  Hoff- 
nung auf  Frieden  und  Gerechtigkeit  wird  der  Arbeiter- 
klasse Frankreichs  helfen,  den  Sinn,  die  Bedeutung, 
die  Notwendigkeit  der  Institution  zu  begreifen,  die  wir 
in  Vorschlag  bringen  und  an  deren  Verwirklichung  wir 
leidenschaftlichen  Herzens  und  mit  beharrlichem 
Willen  arbeiten  werden,  als  an  einem  Teile  des  um- 
fassenden Planes  der  sozialen  Erneuerung,  der  sich 
heute  allen  guten  Bürgern,  allen  guten  Franzosen  auf- 
zwingt." Das  sind  die  Schlußsätze  des  Buches.  Und 


a   Eisner,  Gesammelte  Schriften.  I. 


17 


in  dem  Gesetzentwurf,  den  er  in  Ausführung  seiner 
Gedanken  dem  Buche  beifügt,  lauten  die  beiden 
letzten  Artikel: 

Artikel  17: 

Jede  Regierung,  die  einen  Krieg  unternimmt,  ohne 
vorher  öffentlich  und  loyal  die  schiedsgerichtliche  Lö- 
sung des  Konfliktes  vorgeschlagen  zu  haben,  ist  als 
Verräter  an  Frankreich  und  den  Menschen,  als  öffent- 
licher Feind  des  Vaterlandes  und  der  Menschheit  zu 
betrachten.  Jedes  Parlament,  das  seine  Zustimmung 
gibt,  ist  des  Hochverrats  schuldig  und  von  Rechts 
wegen  aufgelöst.  Es  ist  die  verfassungsmäßige  und 
nationale  Pflicht  der  Bürger,  jene  Regierung  zu  stürzen 
und  sie  durch  eine  gutgesinnte  Regierung  zu  ersetzen, 
die,  indem  sie  den  Schutz  der  internationalen  Unab- 
hängigkeit sichert,  dem  Gegner  das  Anerbieten  macht, 
durch  einen  Schiedsspruch  die  Feindseligkeiten  zu  ver- 
hüten oder  einzustellen. 

Artikel  18: 

Die  Regierung  Frankreichs  wird  aufgefordert,  von 
nun  an  mit  sämtlichen  am  Haager  Schiedsgerichtshofe 
vertretenen  Staaten  über  vollständige  (bedingungslose) 
Schiedsgerichtsverträge  einzutreten  und  im  Einver- 
nehmen mit  ihm  das  Schiedsgerichtsverfahren  zu 
regeln. 

Man  begreift,  daß  der  Schöpfer  dieses  Gesetzent- 
wurfs sein  Volk  in  dem  Augenblicke  nicht  an  Rußlands 
Seite  finden  wollte,  da  der  „Friedenszar"  das  unge- 
heuerlichste Verbrechen  der  Menschheitsgeschichte 
verübte,  da  er  die  Welt  in  Brand  setzte. 

Es  ist  heute  nicht  die  Ruhe,  um  die  wissenschaftliche 
Bedeutung  Jean  JaureV  zu  würdigen.  Daß  er  der 
größte  Redner  unserer  Zeit  gewesen,  wissen  alle,  die 
ihn  jemals  gehört  haben,  die  er  bezwang,  auch  wenn  sie 
seine  Sprache  nicht  verstanden.  Es  war  nicht  eigent- 
liche Beredsamkeit.  Es  war  eine  willensstarke,  grenzen- 

18 


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lose  Begeisterung  und  Gläubigkeit  in  ihm,  für  die  das 
Wort  nur  ein  Mittel  war,  um  die  Welt,  die  er  in  seinem 
Geiste  sah,  im  voraus  zu  verwirklichen. 

Wir  werden  seine  Stimme  nicht  mehr  hören.  Aber 
eines  glauben  wir,  gläubig  im  Geiste  des  unsterblichen 
Toten:  Wenn  denn  aus  dieser  Zeit  des  Grauens  eine 
neue  Erde  aufersteht,  die  neue  Menschheit  wird  Jean 
Jaures  segnen  und  sein  Grab  wird  ihr  heilig  sein.  .  .  . 

• 

Nachtrag,  Stadelheim  1918.  Die  vorstehenden 
Zeilen  wurden  am  Sonntag,  den  2.  August  1914  ge- 
schrieben und  tags  darauf  in  München  veröffentlicht, 
an  demselben  Tage,  da  ein  Münchener  Blatt  die  Nach- 
richt durch  Anschlag  verbreitete,  daß  die  Münchener 
Quellwasserleitung  vergiftet,  das  Ergebnis  der  magistrat- 
lichen Untersuchung  aber  noch  nicht  abgeschlossen 
sei;  dabei  lief  das  Wasser  fröhlich  aus  der  Leitung,  man 
folgte  der  Warnung  und  trank  es  nicht  —  man  kam 
nicht  auf  die  Überlegung,  daß  der  Magistrat  doch  wohl, 
statt  vor  vergiftetem  Wasser  zu  warnen,  zuerst  die 
Leitung  absperren  würde. 

Ich  gebe  die  kleine  Betrachtung  über  Jaures,  dem  ich 
in  meiner  politischen  Gesamtauffassung  näher  stand 
als  irgendeinem  anderen  Haupt  der  sozialistischen 
Internationale,  unverändert  wieder  —  als  Urkunde 
jener  Tage.  Im  gleichen  Sinne  sprach  ich  eine  Woche 
vorher  zu  einer  gewaltigen  Volksversammlung  im 
Münchener  Kindlkeller;  ich  beschwor  die  westlichen 
Völker,  dem  Zarismus  Frieden  zu  gebieten  . .  .  Dann 
las  ich  das  deutsche  Weißbuch.  Seitdem  hätte  ich 
weder  über  die  Ermordung  Jaures,  so  schreiben  noch 
jene  Rede  wieder  halten  können,  obwohl  ich  am  4.  Au- 
gust erst  unsicher  geworden  war,  noch  nicht  völlig 
klar  sehen  konnte.  Auf  den  Internationalen  Kon- 
gressen bestand  nie  ein  Zweifel  darüber,  wie  sich  die 
Sozialisten  bei  einem  Kriege  zu  den  nationalen  Re- 


19 


gierungen  stellen  müßten:  Kampf  mit  allen  Mitteln 
gegen  die  Regierung,  die  den  Krieg  verschuldet.  In 
Amsterdam  hatte  Jaures  auch  das  sichere  Kriterium 
angegeben,  wie  die  Kriegsschuld  festzustellen  sei:  sie 
laste  auf  der  Regierung,  die  eine  schiedsgerichtliche 
Untersuchung  des  Konflikts  zurückweise  oder  sonst 
verhindere. 

Wie  ich  zu  der  Auffassung  kam,  an  der  ich  bis  zu  den 
ersten  Augusttagen  1914  keinen  Zweifel  hegte? 

Die  Beantwortung  dieser  Frage  würde  einen  nicht 
unwichtigen  Beitrag  zur  Vorgeschichte  des  Krieges 
bilden. 

Ich  begnüge  mich  mit  der  Andeutung,  daß  die 
bayrische  Regierung  die  leitenden  Männer  der  bay- 
rischen Sozialdemokratie  seit  dem  November  1912 
dahin  instruierte,  daß  Deutschland  von  einem  russi- 
schen Uberfall  bedroht  sei;  es  wurden  sogar  Einzel- 
heiten des  vermuteten  russischen  Feldzugsplans  mit- 
geteilt. Schon  im  November  191 2  versuchte  ich  die 
Parteipresse  zu  alarmieren  —  ohne  Erfolg. 

Die  bayrische  Regierung  war  es  auch,  die  seit  der 
Mitte  Juli  1914  die  Parlamentarier  von  dem  unmittel- 
bar bevorstehenden  Ausbruch  der  Weltkatastrophe 
unterrichtete  und  die  am  Dienstag,  den  28.  Juli  1914, 
die  deutsche  Mobilmachung  als  bis  zum  Schluß  der 
Woche  bestimmt  erfolgend  ankündigte.  Da  sich  diese 
Information  als  furchtbar  zuverlässig  erwies,  war  es 
psychologisch  begreiflich,  daß  auch  die  seit  Jahr  und 
Tag  suggerierte  kriegspolitische  Auffassung  zunächst 
Vertrauen  finden  konnte,  zumal  sie  der  traditionellen, 
seit  Menschenaltern  dogmatisch  gehegten  Anschauung 
der  deutschen  Sozialdemokratie  von  der  zaristischen 
Kriegsweltgefahr  durchaus  entsprach. 


20 


Völkerrecht. 
Einige  Anmerkungen. 

Ich  kann  mich  in  keiner  Weise  einverstanden 
erklären  mit  der  Declaration  de  St.  Petersbourg, 
daß  die  „Schwächung  der  feindlichen  Streit- 
macht"  das  allein  berechtigte  Vorgehen  im 
Kriege  sei.  Nein,  alle  Hilfsquellen  der  feind- 
lichen Regierung  müssen  in  Anspruch  ge- 
nommen werden,  ihre  Finanzen,  Eisenbahnen, 
Lebensmittel,  selbst  ihr  Prestige. 

Graf  Moltke  an  J.C.  Bluntschli  1880. 

Sofern  es  auch  während  eines  Krieges  die  Aufgabe 
wissenschaftlichen  Denkens  und  Forschens  bleiben 
sollte,  die  Wahrheit  zu  ermitteln,  kann  ich  mich 
nicht  zu  der  Methode  des  Münchner  Historikers  Hans 
Prutz  bekennen,  daß  ohne  umfassende  Kenntnisse 
aller  Tatsachen  und  Urkunden  schon  auf  Grund  ein- 
seitiger Parteibehauptungen  ein  Urteil  über  Recht 
oder  Unrecht  dieser  und  jener  Erscheinungen  aus- 
gesprochen werden  darf.  Ebensowenig  vermag  ich  in 
Wettbewerb  mit  jenen  in  allen  Ländern  zahlreich  auf- 
tretenden Völkerrechtsgelehrten  zu  treten,  die  es  jetzt 
für  ihre  Pflicht  halten,  je  nach  ihrer  staatlichen  Zu- 
gehörigkeit die  Völkerrechtsverletzungen  des  eigenen 
Landes  entweder  zu  leugnen  oder  zu  beschönigen, 
die  der  feindlichen  Länder  zu  behaupten  und  anzu- 
klagen. Mir  scheint  es  ebensowenig  die  Aufgabe  eines 
Völkerrechtslehrers  zu  sein,  das  Völkerrecht  als  pole- 
mische Waffe  gegen  den  Feind  zu  mißbrauchen  und 
damit  wissenschaftlich  und  praktisch  zu  entwerten, 
wie  es  mir  nicht  die  Herzensangelegenheit  gerade  von 


21 


Künstlern  zu  sein  scheint,  Zerstörungen  von  Kunst- 
werken zu  verteidigen  und  unersetzlichen  Kultur- 
besitz für  minder  wertvoll  zu  erklären  als  ein  einziges 
Menschenleben,  das  vermeintlich  durch  die  Zer- 
störung eines  Kunstwerks  gerettet  werden  könnte. 
(Ich  wenigstens  werte  mein  Menschenleben  nicht 
so  hoch  wie  eine  Schöpfung  ewiger  Kunst,  und 
schätze  die  Kunst  nicht  so  niedrig  ein,  daß  sie 
weniger  sei  als  lebendige  Wesen,  deren  völlige  Wert- 
losigkeit ja  gerade  gegenwärtig  dadurch  bewiesen  wird, 
daß  sie  millionenfältig  verstümmelt  und  vernichtet 
werden.) 

Die  üble  Phrase  von  der  „Voraussetzungslosigkeit" 
der  Wissenschaft  hat  den  guten  Sinn,  daß  ihre  For- 
schungsergebnisse nur  abhängig  sein  dürfen  von  den 
immanenten  Methoden  der  Wissenschaft,  niemals  aber 
von  irgendeiner  äußeren  Autorität,  nicht  von  einem 
religiösen  Dogma,  noch  weniger  gar  von  dem  Zufall 
der  Staatsangehörigkeit.  Wer  diese  Unbefangenheit 
heute  nicht  aufzubringen  vermag,  soll  schweigen,  nicht 
aber  unter  dem  Schutz  eines  Titels  oder  Amts,  was  ihm 
an  wissenschaftlichem  Ernst  abgeht,  durch  das  Feuer 
seiner  unbezweifelten  heiligen  Überzeugungen  er- 
setzen. 

Die  nachfolgenden  völkerrechtlichen  Betrachtungen 
liegen  abseits  von  allen  apologetischen  und  polemischen 
Absichten.  Sie  wollen  verdunkelte  Tatsachen  ans 
Licht  stellen,  trübe  Erscheinungen  erklären,  Pro- 
bleme —  an  ein  paar  zufällig  gewählten  Einzel- 
beispielen —  dem  Nachdenken  vorstellen.  Und 
wenn  diesen  Anmerkungen  dennoch  auch  die  Absicht 
einer  Wirkung  zugrunde  liegen  sollte,  dann  ist  es 
nur  die:  die  völlige  Zerstörung  des  Völkerrechts,  als 
des  Rechts  einer  Völkergemeinschaft,  nicht  dadurch 
herbeizuführen,  daß  man  es  unnützlich  im  Munde 
führt. 

22 


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I. 

Rechts  mäßige  Völkerrechtsverletzungen. 

Zu  den  niederdrückendsten  Erscheinungen  dieses 
Weltkrieges  gehört  die  Mißhandlung  des  Völkerrechts. 
Alle  kriegführenden  Parteien  werfen  sich  unablässig 
gegenseitig  Verletzungen  des  Völkerrechts  vor.  So  ist 
nach  den  beiden  Haager  Weltfriedenskonferenzen  von 
1899  und  1907,  von  denen  manche  Schwärmer  den 
Beginn  eines  modernen  Völkerbundes  des  Rechts  und 
des  Friedens,  den  Anfang  einer  „Organisation  der 
Welt"  datieren  wollten,  gerade  in  der  Zeit,  wo  ein 
dritter  Haager  Kongreß  hätte  stattfinden  sollen,  die 
Idee  der  Schiedsgerichte  durch  den  Ausbruch  des  ersten 
Weltkrieges  seit  einem  Jahrhundert  gegeißelt  worden; 
und  auch  die  Bemühungen  um  völkerrechtliche  Bin- 
dung der  „Humanisierung"  des  Krieges  sind  zerstört 
worden.  Wer  die  diplomatischen  Akten  der  Ver- 
einigten Staaten  kennt,  deren  Pariser  Gesandten 
1870/71  der  Schutz  der  Deutschen  anvertraut  war,  der 
weiß,  mit  welcher  Menschlichkeit,  Kraft  und  Un- 
parteilichkeit damals  dieser  Vertreter  Amerikas  gegen 
beide  kriegführenden  Parteien  das  Völkerrecht  gegen 
jede  Antastung  —  im  strengsten  und  weitesten  Sinne— 
verteidigte;  und  wie  man  damals  mit  Ernst  und  Würde 
Ausschreitungen  bekämpfte,  die  heute  viel  zu  harmlos 
erscheinen  würden,  als  daß  man  ihnen  nur  die  gespielte 
Empörung  von  fünf  Druckzeilen  widmen  möchte. 
Heute  gehört  die  Völkerrechtsverletzung  zum  alltäg- 
lichen Betrieb,  und  dies,  nachdem  zum  erstenmal  1907 
im  Haag  sogar  etwas  wie  eine  Schadenersatzpflicht  (in 
allerdings  sehr  unbestimmten  und  unklaren  Wen- 
dungen) für  Völkerrechtsverletzungen  beschlossen  wor- 
den ist. 

Schlimmer  noch:  Gerade  die  völkerrechtliche  Bin- 
dung, die  im  Haag  versucht  wurde,  ist  zum  Quell  einer 
furchtbaren  Kriegsverschärfung  geworden.   Das  ver- 

*3 


besserte  Völkerrecht  hat  insofern  die  Völkerrechts- 
verletzungen gesteigert,' als  die  gegenseitigen  Be- 
schuldigungen des  Völkerrechtsbruchs  zu  Repressalien 
führten,  die  natürlich  wiederum  weit  außerhalb  des 
Völkerrechts  ihre  verheerenden  Mittel  der  Abschrek- 
kung,  Strafe  oder  Rache  wählten.  Dabei  ist  es  in  der 
Wirkung  ganz  gleichgültig,  ob  etwa  die  Deutschen 
sich  zu  solchen  Abwehrmitteln  genötigt  sahen,  weil 
vom  Feinde  das  Völkerrecht  wirklich  verletzt  war, 
oder  ob  Kosaken  erlogene  Verletzungen  nur  zum 
Vorwand  nahmen,  um  sich  nach  Herzenslust  außerhalb 
des  Völkerrechts  ausrasen  zu  können  —  auf  „recht- 
mäßige" Weise. 

Die  Berufung  auf  das  Völkerrecht  wirkte  auf 
zweierlei  Weise  schädlich  und  schürend.  Man  be- 
hauptete völkerrechtswidrige  Vorkommnisse,  die  tat- 
sächlich nicht  geschehen  oder  mindestens  nicht  erweis- 
lich waren.  Oder  man  berief  sich  auf  Erscheinungen, 
die  freilich  an  sich  Tatsachen  waren,  die  aber  zu  Un- 
recht als  mit  dem  Völkerrecht  unvereinbar  gekenn- 
zeichnet wurden.  Gerade  solche  Beschuldigung  aber 
kann  dann  zu  wirklichen  schwersten  Völkerrechts  ver- 
letzenden Repressalien  führen,  ohne  daß  sie  im  Geiste 
des  Völkerrechts  begründet  wären. 

Wenn  es  nun  die  beiden  wichtigsten  Aufgaben  des 
Völkerrechts  sind,  Kriege  zu  verhindern  oder,  wenn 
das  nicht  möglich,  ihre  Leiden  nicht  über  das  Maß 
des  Notwendigen  zu  steigern,  so  hat  die  Presse  die 
völkerrechtlich  gebotene  Pflicht,  nicht  ihrerseits  die 
Kriegsleiden  über  den  Grad  des  Unvermeidlichen  hin- 
aus dadurch  zu  erhöhen,  daß  sie  jenes  mißbräuchliche, 
nur  der  Verhetzung  und  Verrohung  dienende  Völker- 
rechtsgeschrei erhebt,  anstatt  sowohl  die  Tatsachen 
gewissenhaft  zu  prüfen  als  auch  die  wahren  völker- 
rechtlichen Bestimmungen  in  Wortlaut  und  Sinn  fest- 
zustellen. Statt  dessen  haben  wir  schaudernd  erlebt, 
um  ein  deutsches  Beispiel  zu  erwähnen,  wie  ein  großes 


24 


Blatt  monatelang  fast  täglich  in  immer  neuen  Wen- 
dungen als  „Repressalie"  die  Abschießung  von  Ge- 
fangenen verlangte,  bis  es  in  dem  schauerlichen  Aber- 
witz der  Forderung  strandete,  daß  englische  gefangene 
Offiziere  in  den  vordersten  deutschen  Schützengräben 
festgebunden  werden  müßten,  um  dort  von  den  Dum- 
Dum-Geschossen  der  eigenen  Landsleute  niederge- 
macht zu  werden! 

Aber  die  Organe  der  öffentlichen  Meinung  in  allen 
Ländern  haben  noch  eine  höhere  Pflicht.  Gerade 
während  eines  Krieges,  wo  das  Völkerrecht  unmittel- 
bar in  das  Dasein  aller  positiv  oder  negativ  eingreift, 
ist  es  eine  nationale  Aufgabe,  die  Anschauungen  über 
das  Wesen  und  die  Bedingungen  des  Völkerrechts,  aus 
der  lebendigen  Erfahrung  heraus,  zu  klären  und  so  seine 
vernünftige  Entwickelung  zu  fördern;  nach  dem  Kriege 
ist  Gefahr,  ja  Gewißheit,  daß  sich  diese  Probleme  in 
die  engen  Zirkel  gelehrter  Spezialisten  zurückziehen. 
Und  diese  tragen  gerade  die  Schuld,  daß  sie  das  Völker- 
recht als  wissenschaftliches  System  in  den  erbarmungs- 
würdigen Zustand  gebracht  haben,  der  jetzt  die  prak- 
tische Durchbrechung  und  die  gedankliche  Ver- 
wirrung so  verhängnisvoll  erleichtert. 

Man  redet  heute  von  dem  Bankerott  des  Völker- 
rechts, weil  die  zahlreichen  schweren  Verletzungen 
offenkundig  sind.  Aber  die  Verletzungen  eines  Rechts 
machen  nicht  das  Recht  selbst  zuschanden.  Das  Ver- 
bot des  Mordes  im  Kriminalrecht  hebt  das  Gesetz 
nicht  selbst  auf  und  macht  es  keineswegs  unwirksam. 
Alles  Recht  kann  verletzt  werden  und  wird  unzählige 
Male  verletzt;  damit  wird  das  Recht  selbst  nicht  auf- 
gehoben. So  würden  die  Völkerrechtsverletzungen  im 
Krieg  1914  so  wenig  die  Sinnlosigkeit  oder  auch  nur 
die  Ohnmacht  des  Völkerrechts  erweisen,  daß  sie  im 
Gegenteil  erst  recht  seine  Notwendigkeit  und  Bedeu- 
tung klarstellen. 

Der  Bankerott  des  Völkerrechts  ist  längst  im  Frie- 

*5 


den  und  zwar  von  den  seinem  Dienst  gewidmeten 
Juristen  herbeigeführt  worden.  Sie  haben  das  Völker- 
recht dynamitiert,  indem  sie  es  mit  dem  Begriff  der 
rechtmäßigen  Völkerrechtsverletzung  beluden. 
Das  Völkerrecht  aber  ist  in  seinem  innersten  Wesen, 
seiner  ganzen  Natur  nach  absolut,  allgemeingültig 
und  ausnahmslos  unverletzlich,  oder  es  ist  über- 
haupt nicht.  Selbstverständlich,  die  Möglichkeit  der 
Rechtsverletzung  bleibt  gegeben,  aber  den  Rechtsver- 
letzer hat  dann  die  volle  Verantwortung  für  seinen 
Rechtsbruch  zu  treffen,  und  mit  dieser  Verantwort- 
lichkeit unter  allen  Umständen  wird  das  Recht 
selbst  bejaht  und  erhalten.  Wer  aber  die  Anschauung 
verteidigt,  daß  es  auch  eine  rechtmäßige,  ge- 
setzliche Völkerrechtsverletzung  geben  kann,  der 
macht  das  ganze  Völkerrecht  zum  Hohn  und  Spott; 
mehr  noch:  zu  einer  völkerrechtswidrigen  vergifteten 
Waffe. 

Zwei  kleine,  harmlose  Worte  haben  diese  Selbstaut- 
lösung des  Völkerrechts  in  Wissenschaft  und  Praxis 
verursacht.  Man  übernahm  aus  dem  Kriminal-  und 
Zivilrecht  die  Begriffe  der  Notwehr  und  des  Not- 
standes, die  an  sich  rechtswidrige  Handlungen  gesetz- 
lich und  schuldfrei  machen.  Wer  in  der  Notwehr  einen 
Räuber  tötet,  handelt  rechtmäßig.  Und  wer  im  äußer- 
sten Notstand,  wo  es  sich  um  seine  Selbsterhaltung 
handelt,  ein  an  sich  unzulässiges  Mittel  anwendet,  darf 
diese  Lebensgefahr  zu  seinen  Gunsten  geltend  machen. 
Es  ist  nun  die  herrschende  Ansicht  der  Völkerrechts- 
gelehrten, daß  Notwehr  und  Notstand  auch  für  das 
Gebiet  des  Völkerrechts  gelten,  und  hier  sogar  im 
weitesten  Umfang.  Zwar  ist  einigen  Völkerrechtlern 
sichtlich  bei  ihren  wunderbaren  Konstruktionen  und 
Beweisführungen  nicht  recht  wohl,  aber  je  unbehag- 
licher und  schwieriger  ihnen  das  Werk  dünkt,  um  so 
gebieterischer  stellen  sie  —  auch  eine  Art  von  Notwehr 
und  Notstand!  —  die  brüchige  Behauptung  unter  den 


26 


Schutz  einer  allgemeinen,  übereinstimmenden 
Anschauung. 

v.  Liszt,  um  einen  der  Neueren  und  Angeseheneren 
zu  nennen,  dekretiert  in  seinem  „Völkerrecht"  (6.  Aufl. 
1910):  „Die  strafrechtlich  und  privatrechtlich  aner- 
kannten Begriffe  der  Notwehr  und  des  Notstandes 
schließen  auch  für  das  Gebiet  des  Völkerrechts  die 
Rechtswidrigkeit  der  begangenen  Verletzung  aus." 
Warum?  Statt  der  Begründung  vernehmen  wir  ein 
Beispiel:  „Auch  der  dauernd  neutralisierte  Staat  darf 
mithin  den  feindlichen  Überfall  mit  Waffengewalt 
abwehren.  Er  handelt  in  Notwehr."  Sollte  das  nicht 
doch  ein  wenig  gedankenlos  sein  ?  Notwehr  macht  eine 
an  sich  rechtswidrige  Handlung  zulässig.  Aber  die 
Abwehr  eines  Angriffs  auf  die  Neutralität  ist  so  wenig 
eine  rechtswidrige  Handlung,  daß  vielmehr  ihre  Unter- 
lassung rechtswidrig  wäre.  Der  Schutz  der  Neutra- 
litat gehört  zum  Begriff  der  Neutralität.  Die  fünfte 
Haager  Konvention  von  1907  bestimmt  im  4.  Artikel 
ausdrücklich,  daß  der  neutrale  Staat  auf  seinem  Gebiet 
keine  Neutralitätsverletzungen  dulden  darf;  und  im 
10.  Artikel  wird  sogar  gesagt,  daß  der  Kriegführende 
auch  aus  der  gewaltsamen  Zurückweisung  seines  An- 
griffs auf  neutrales  Gebiet  keinen  casus  belli  machen 
dajf.  So  wenig  handelt  es  sich  hier  um  einen  Akt  der 
Notwehr;  der  Widerstand  ist  das  gesetzliche  Recht  und 
die  Pflicht  des  Neutralen.  Um  dieses  Beispiels  willen 
bedarf  es  also  nicht  der  Einführung  der  Notwehr  ins 
Völkerrecht.  In  dem  praktischen  Beispiel,  das  wir  jetzt 
erlebt  haben,  war  es  auch  nicht  die  Abwehr  einer  Neu- 
tralitätsverletzung, sondern  die  Neutralitätsverletzung 
selbst,  die  als  Notwehr  gerechtfertigt  wurde.  Bei  dieser 
Gelegenheit  wurde  auch  gleich  der  Begriff  der  Putativ- 
notwehr  ins  Völkerrecht  übernommen;  die  Notwehr 
gegen  einen  bloß  (mit  Recht  oder  Unrecht)  ver- 
muteten Angriff.  Im  weiteren  bestreitet  —  gemäß 
den  Haager  Beschlüssen  —  Liszt,  daß  in  dem  beson- 


37 


deren  Völkerrechtsgebiet  des  Kriegsrechts  das  bin- 
dende Gesetz  durch  die  „Kriegsräson",  die  freie  Ent- 
scheidung der  militärischen  Befehlshaber,  eingeschränkt 
werden  dürfte.  Und  erschreckend  rigoros  fügt  er  hinzu : 
„Eine  offene  Stadt  darf  auch  dann  nicht  be- 
schossen werden,  wenn  von  ihrer  Vernich- 
tung der  Ausgang  des  Krieges  abhängen 
sollte."  Doch  fährt  er  beruhigend  fort:  „Wohl  aber 
greift  auch  im  Kriege  der  Begriff  der  Notwehr  Platz: 
gegen  rechtswidrigen  Angriff  ist  Verteidigung  stets 
gestattet."  Das  ist  es:  Auch  wenn  das  ganze  Schicksal 
eines  Krieges  davon  abhängt  —  es  ist  verboten,  eine 
unverteidigte  Stadt  zu  bombardieren.  Aber  wenn  ein 
Bürger  der  Stadt  auf  einen  Soldaten  schießt,  dann  kann 
aus  Notwehr  als  Repressalie  die  Stadt  in  Brand  ge- 
schossen werden,  auch  wenn's  für  die  Entscheidung  des 
Krieges  ganz  gleichgültig  ist.  Berliner  Völkerrechts- 
wissenschaft in  6.  Auflage! 

Ein  anderer I  v.  Marti tz  lehrt  in  dem  Bande  des 
Sammelwerks  Kultur  der  Gegenwart,  der  die 
Systematische  Rechtswissenschaft  behandelt  (191 3): 
„Die  Regeln,  nach  denen  gekämpft  wird,  bilden  die 
Kriegsmanier  (Kriegsgebrauch,  loi  de  guerre).  Sie  sind 
weit  genug,  um  der  militärischen  Notwendigkeit  den 
erforderten  Spielraum  zu  lassen.  Nur  im  Falle  des 
Notstandes  würde  es,  schon  nach  allgemeinen 
Rechtsgrundsätzen,  nicht  unzulässig  sein,  sich  über 
sie  hinwegzusetzen,  was  man  mit  dem  einer  Miß- 
deutung fähigen  Ausdruck  Kriegsräson  bezeichnet. 
Und  Repressalienverfahren  kommen  auch  im  Kriege 
zur  Anwendung." 

Warum  ?  Wer  mag's  wissen !  Der  Professor  sagt's  so. 
Die  Wirkung  aber  sehen  wir  tagtäglich.  Das  Völkerrecht 
wird  verletzt  —  folglich  muß  man  es  noch  mehr  ver- 
letzen —  als  Repressalie,  aus  Notwehr,  aus  Notstand. 
So  entmenschlicht  das  Völkerrecht  den  Krieg  in  steigen- 
der Progression! 

28 


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Ein  Dritter !  H  e i  1  b  o  r  n  benachrichtigt  uns  in  seinem 
System  des  Völkerrechts:  „Die  Begriffe  Notwehr 
und  Notstand  sind  allgemeiner  Natur  und  dürfen  als 
bekannt  vorausgesetzt  werden."  Diese  bekannte  Vor- 
aussetzung scheint  nun  einem  Vierten,  Fleischmann, 
doch  nicht  so  ganz  einwandfrei,  und  er  erinnert  daran, 
daß  der  Begriff  des  Notstandes  schon  im  nationalen 
Recht  durchaus  nicht  feststehend  sei,  und  daß  die 
Juristen  von  einer  „ungesunden  und  lückenhaften  Ent- 
wickelung",  von  einer  „hilflosen  Entwickelung"  des 
Begriffs  reden. 

Eine  Begründung  dieser  Aushöhlung  des  Völker- 
rechts durch  Notwehr  und  Notstand  wird  in  dem  vier- 
bändigen Handbuch  des  Völkerrechts  F.  v. 
Holtzendorffs  versucht;  der  Abschnitt  über  Kriegs- 
recht ist  von  Prof.  Lueder  bearbeitet.  Zunächst  wird 
der  Krieg  selbst  als  „Recht"  deduziert: 

Der  kriegführende  Staat  und  seine  Organe  befinden 
sich  in  der  Lage  des  in  einem  Kampf  um  Leben  und 
Tod  verwickelten  Einzelnen,  den  in  diesem  Kampfe 
nur  das  Eine  leitet:  um  jeden  Preis  den  Gegner 
niederzuwerfen,  um  das  eigene  Leben  zu  retten.  Das 
ist  nicht  nur  natürlich,  so  daß  es  nicht  anders  sein 
könnte,  sondern  es  ist  auch  rechtlich.  Das  Recht  ge- 
stattet, wie  die  Beispiele  der  Notwehr  und  des 
Notstandes  zeigen,  ihm  dazu  die  Anwendung  der 
äußersten  Gewaltmittel,  die  er  zur  Erreichung  seines 
Zweckes  braucht. 
Damit  wird  der  rechtliche  Charakter  des  Krieges 
selbst  aus  Notwehr  und  Notstand  begründet.  In  der 
Tat,  das  ist  bereits  Besitzgut  des  allgemeinen  Kultur- 
bewußtseins geworden,  daß  die  Gemeinschaft  der 
Völker  nur  in  der  Notwehr  oder  im  Zustande  äußerster 
Not  durch  einen  Krieg  zerrissen  werden  darf.  Daher 
das  Bemühen  aller  Kriegsparteien,  für  sich  zu  be- 
weisen, daß  sie  sich  nur  gegen  einen  Überfall  wehren. 
So  weit  ist  das  Gewissen  der  Zivilisation  dennoch  vor- 


29 


gedrungen,  daß  niemand  mehr  wagt,  sich  als  Angreifer 
zu  bekennen. 

Wenn  nun  der  „rechtliche"  Charakter  des  Krieges  nur 
aus  Notwehr  und  Notstand  begründet  werden  kann, 
welche  rechtliche  Bedeutung  haben  dann  die  völker- 
rechtlichen Einschränkungen  der  Kriegführung?  Die 
Antwort  liegt  so  nahe,  drängt  sich  so  unmittelbar  auf, 
daß  sie  ein  Völkerrechtsprofessor  unmöglich  sehen  kann. 
Holtzendorff-Lueder  erklären  sich  zunächst  für  die 
völkerrechtliche,  gesetzliche  Bindung  der  Kriegführung: 
Es  hat  sich  ergeben,  daß  die  Beschränkung  weite- 
rer, d.h.  über  den  Kriegszweck  hinausgehender  Ge- 
walt mit  der  Natur  des  Krieges  vereinbar  ist.  Hier, 
wo  die  dort  nötige  Gewalt  zur  brutalen  Grausamkeit 
oder  Zerstörung  werden  würde,  beginnt  deshalb  die 
Möglichkeit  und  damit  die  Pflicht  und  Notwendigkeit 
kriegsrechtlicher  Beschränkung,  bzw.  Untersagung. 
Mit  allem  Nachdruck  wird  hier  die  Aufstellung 
eines  bindenden  Kriegsrechts  gefordert  —  entgegen 
der  Anschauung,  daß  es  ausschließlich  Sache  der  krieg- 
führenden Militärs  sei,  die  Art  der  Kriegführung  — 
innerhalb  gewisser  humaner  Gewohnheiten  —  zu  be- 
stimmen: Die  Kriegsmanier  (Kriegsgesetz),  nicht  die 
Kriegsräson  hat  über  die  Sitten  und  Mittel  der  Krieg- 
führung zu  entscheiden.   Dann  aber  folgt  auch  bei 
diesen  Handbüchlern  die  Einschränkung:  In  zwei 
Fällen  könne  durch  die  Kriegsräson  die  Kriegsmanier 
aufgehoben  werden: 

„einmal  im  Falle  der  äußersten  Not,  wenn  der  Zweck 
des  Krieges  nur  durch  die  Nichtbeachtung  erreicht 
werden  kann  und  durch  die  Beachtung  vereitelt 
werden  würde;  sodann  im  Wege  der  Retorsion,  also 
als  Erwiderung  unberechtigten  Nichtbeachtens  der 
Kriegsmanier  von  der  Gegenseite". 
Diese  Zulässigkeit  der  Ausnahme  wird  mit  der  Er- 
wägung gerechtfertigt,  man  könne  „durch  ein  uner- 
widertes Hingehenlassen  der  von  der  Gegenseite  be- 


30 


gangencn  Verletzungen  der  Kriegsmanier  in  Nachteil 
und  in  eine  ungünstigere  Lage  als  der  verletzende 
Gegner  versetzt  werden  hinsichtlich  des  mit  allen 
Mitteln  zu  erstrebenden  Zieles:  Brechen  des  gegne- 
rischen Willens  und  Erlangen  des  Sieges". 

Indem  der  Professor  diese  Begründung  nieder- 
schrieb, hatte  er  bereits  wieder  vergessen,  wie  er  vor- 
her die  Möglichkeit  einer  völkerrechtlichen  Rege- 
lung nachgewiesen  hatte.  Sie  beschränkte  sich  auf  die 
Sphäre,  wo  der  Kriegszweck  selbst  in  seinen  Notwendig- 
keiten nicht  berührt  werde;  das  Völkerrecht  wolle  nur 
die  unnützen,  durch  den  Kriegszweck  nicht  gebotenen 
Grausamkeiten  verbieten.  Danach  kann  es  überhaupt 
keine  völkerrechtliche  Bindung  geben,  die  die  Er- 
reichung des  Kriegszwecks  vereitelt.  Also  kann  auch 
die  absolute  Unterwerfung  unter  das  Kriegsrecht 
niemals  die  strategische  oder  taktische  Lage  ungün- 
stiger gestalten,  im  Verhältnis  zu  dem,  der  das  Kriegs- 
recht mißachtet.  Die  beiden  Begründungen  des 
Völkerrechts  selbst  und  seiner  rechtmäßigen  Aus- 
nahmen'heben  sich,  wie  man  sieht,  gegenseitig  glatt 
auf.  Weil  das  Kriegs  recht  nichts  enthalten  darf  und 
nichts  enthält,  was  mit  dem  Kriegszweck  unvereinbar 
ist,  so  kann  es  nur,  seinem  inneren  Wesen  nach,  aus- 
nahmslos gelten,  oder  es  hört  auf,  ein  Kriegsrecht  zu 
geben.  Ein  Konflikt  ist  unter  dieser  Annahme  gar 
nicht  möglich.  Natürlich  kann  das  Kriegsrecht  immer 
gebrochen  werden,  aber  dann  eben  als  Rechts bruch, 
nicht  als  Recht;  es  kann  gar  keine  Gefahr  sein,  daß 
durch  die  Unterwerfung  unter  die  völkerrechtlichen 
Bestimmungen  die  eigene  Sache  gefährdet  werden 
könnte,  weil  das  Völkerrecht  ja  nur  die  für  den  Kriegs- 
zweck unnötigen  Maßnahmen  auszuscheiden  sucht. 
Wenn  man  übrigens  die  Hinwegsetzung  über  die 
Völkerrechtsbestimmungen  nur  für  den  äußersten 
Notfall  gestatten  will,  so  vernehmen  wir  jetzt  fast 
täglich  die  andere  Meinung,  daß  es  Pflicht  des  mili- 


3i 


tärischen  Kommandos  sei,  jedes  Mittel  anzuwenden, 
wenn  dadurch  auch  nur  ein  Soldat  gerettet  werden 
könne. 

Das  ist  denn  die  einzige  denkbare  rechtliche  Be- 
stimmung des  Kriegsrechts  (um  uns  auf  diesen  Teil 
des  Völkerrechts  zu  beschränken):  Ist  der  Krieg 
rechtlich  aus  Notwehr  oder  aus  Notstand 
zu  begründen,  so  bezeichnet  das  Völker- 
recht eben  die  Schranken  in  der  Ausübung 
der  Notwehr  und  des  Notstandes,  und  diese 
Schranken  können  daher  logisch  nicht  wieder 
durch  Notwehr  und  Notstand  zertrümmert 
werden;  sie  müssen  ihrem  Begriff  nach  aus- 
nahmslos verbindlich  sein. 

Nach  dieser  Einsicht  ist  die  andere,  meine  Auf- 
fassung stützende  Erwägung  unerheblich,  daß  im 
Völkerrecht  der  Rechtsbrecher  aus  Notwehr  nicht  nur 
Richter  in  eigener  Sache  ist,  sondern  daß  es  auch  keinen 
Richter  gibt,  der  darüber  entscheiden  könnte,  ob  wirk- 
lich Notwehr  und  Notstand  vorliegen. 

Denn  die  zuletzt  im  Haag  beschlossene  Haftpflicht 
für  Völkerrechtsverletzungen  ist  papieren  und  unvoll- 
ziehbar. Philipp  Zorn  hat  diese,  übrigens  von  Deutsch- 
land beantragte,  Bestimmung  in  erregten  Ausführun- 
gen für  ein  „Unglück",  für  unerträglich  erklärt,  und 
hält  es  für  höchste  Zeit,  diesen  „formal-juristischen 
Exzessen"  ein  Ende  zu  machen.  Aber  da  es  keinen 
internationalen  Gerichtshof  gibt,  der  darüber  ent- 
scheidet, ist  die  prinzipiell  allerdings  revolutionäre 
Bestimmung  von  1907  wesenlos.  Um  so  mehr  aber 
ist  es  erforderlich,  daß  man  wenigstens  den  mora- 
lischen Wert  der  völkerrechtlichen  Bindungen  nicht 
durch  die  „formal-juristischen  Exzesse"  der  Notwehr 
und  des  Notstandes  völlig  vernichtet. 

Läßt  man  im  Kriegsrecht  Ausnahmen  zu.  so  ge- 
langt man  wieder  zur  Kriegs r äs on,  die  in  jedem  Falle 
die  Wahl  der  Mittel  dem  Ermessen  der  Heerführer 

32 


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überläßt.  Das  war  aber  gerade  die  Absicht  der  Haager 
Beschlüsse,  die  nichts  von  Notwehr  und  Notstand 
wissen,  die  allgemeine  Rechtsverbindlichkeit  der  auf- 
gestellten Regeln  der  Entscheidung  der  Heerführer 
zu  entziehen;  und  ausdrücklich  ist  im  Haag  bestimmt 
worden,  daß  auch  selbst  in  den  durch  die  Konvention 
nicht  geregelten  Fällen  nicht  das  militärische  Kom- 
mando freie  Hand  haben  solle,  sondern  daß  „Völker 
und  Kriegführende  unter  dem  Schutz  und  der  Herr- 
schaft der  Grundsätze  des  Völkerrechts  bleiben,  so 
wie  sie  aus  den  zwischen  den  zivilisierten  Nationen 
bestehenden  Gebräuchen,  Gesetzen  der  Menschlich- 
keit und  Forderungen  des  öffentlichen  Gewissens 
folgen". 

In  dieser  Auffassung  kommt  der  unausgeglichene 
Konflikt  zwischen  dem  Völkerrecht  und  der  mili- 
tärischen Anschauung  zum  Ausbruch.  Daß  die  Völker- 
rechtsprofessoren ihre  eigenen  Kartenhäuser  wieder 
umblasen,  daß  sich  die  doch  offenbar  geprüft  scharf- 
sinnigen Herren  in  einem  kläglichen  System  von  krassen 
Widersprüchen  eingraben,  ist  nicht  einem  Mangel  des 
Verstandes  zuzuschreiben,  sondern  aus  dem  Notstand 
zu  erklären,  daß  sie  ihre  Wissenschaft  vor  dem  ge- 
bietenden Veto  des  Militärs  zu  retten  suchen,  indem 
die  Universität  den  Generalstab  durch  ein  Kompromiß 
zu  beschwichtigen  beflissen  ist.  Die  Wahrheit  ist,  daß 
die  Militärs  jeder  völkerrechtlichen  Bindung  mit 
Zwangsgewalt  durchaus  entgegen  sind. 

Am  klarsten  und  schärfsten  hat  diesen  Gegensatz 
Graf  Moltke  (der  Ältere)  1880  in  einem  Brief  an  den 
Heidelberger  Völkerrechtslehrer  Bluntschli  ausge- 
sprochen. Aus  dem  Schreiben  wird  gern  der  Satz  an- 
geführt: „Der  ewige  Friede  ist  ein  Traum,  und  nicht 
einmal  ein  schöner,  und  der  Krieg  ein  Glied  in  Gottes 
Weltordnung."  Aber  dieser  Satz  ist  als  Bekenntnis 
eines  persönlichen  Dogmas  nur  für  den  verbindlich, 
der  es  glaubt,  und  deshalb  ohne  allgemeine  Bedeutung. 


3    Ei •  ner,  Vor  der  Revolution 


33 


Dagegen  ist  der  weitere  Inhalt  des  Briefes  von  ent- 
scheidender Wichtigkeit.  Bluntschli  hatte^dem  General- 
feldmarschall das  von  dem  Institut  für  internationales 
Recht  veröffentlichte  Handbuch  des  Kriegsrechts  zu- 
gesandt. In  seiner  Erwiderung  lehnt  Moltke  sehr  höf- 
lich, aber  auch  sehr  entschieden  jedes  „kodifizierte 
Kriegsrecht"  ab.  Eine  Humanisierung  der  Krieg- 
führung sei  nur  zu  erwarten  „von  der  religiösen  und 
sittlichen  Erziehung  der  einzelnen,  von  dem  Ehr- 
gefühl und  dem  Rechtssinne  der  Führer, 
welche  sich  selbst  das  Gesetz  geben  und  da- 
nach handeln,  soweit  die  abnormen  Zustände  des 
Krieges  es  überhaupt  möglich  machen".  Das  Hand- 
buch enthielt  die  völkerrechtliche  Bestimmung  —  die 
Brüsseler  Konferenz  von  1874  war  vorausgegangen  — , 
daß  Requisitionen  nur  „im  Verhältnis  zu  den  Hilfs- 
mitteln des  Landes"  erfolgen  dürfen.  Moltke  ent- 
gegnet: „Der  Soldat,  welcher  Leiden  und  Entbeh- 
rungen, Anstrengung  und  Gefahr  erduldet,  .  .  .  muß 
alles  nehmen,  was  zu  seiner  Existenz  nötig  ist.  Das 
Übermenschliche  darf  man  von  ihm  nicht  fordern." 
Im  Interesse  der  schnellen  Beendigung  des  Kriegs 
„müssen  alle,  nicht  geradezu  verwerflichen  Mittel" 
frei  stehen.  Mit  der  Petersburger  Deklaration,  daß 
nur  die  Schwächung  der  feindlichen  Streitmacht 
berechtigt  sei,  kann  Moltke  sich  in  keiner  Weise  ein- 
verstanden erklären;  alle  Hilfsquellen  der  Regierung, 
d.  h.  des  Landes  müßten  in  Anspruch  genommen 
werden.  Im  Handbuch  waren  die  völkerrechtlichen 
Bestimmungen  über  die  Teilnahme  der  Bevölkerung 
am  Krieg  schon  so  formuliert  worden,  wie  jetzt  in  der 
Haager  Konvention.  Moltke  spottet:  „Kein  auswendig 
gelernter  Paragraph  wird  den  Soldaten  überzeugen, 
daß  er  in  der  nichtorganisierten  Bevölkerung,  welche 
(spontanement,  also  aus  eigenem  Antrieb)  die  Waffen 
ergreift  und  durch  welche  er  bei  Tag  und  bei  Nacht 
nicht  einen  Augenblick  seines  Lebens  sicher  ist,  einen 


34 


regelrechten  Feind  zu  erblicken  hat."  Der  Militär 
stellt  also  nicht  nur  den  Heerführer,  sondern  auch 
jeden  Soldaten  als  Richter  über  das  Völkerrecht. 
Schließlich  rät  Moltke,  hinter  den  einzelnen  Bestim- 
mungen einzufügen:  wenn  es  die  Umstände  erlauben, 
wenn  es  sein  kann,  wenn  es  möglich,  wenn  es  notwendig 
ist.  Das  Völkerrecht  der  Professoren  folgte  dem  Rat 
und  schob  hinter  jede  Bestimmung  die  aufhebende 
Notwehr-  und  Notstandsklausel  ein! 

Das  ist  der  unausgleichbare  Gegensatz:  Das  Völker- 
recht will  die  Sicherheit  der  Bevölkerung  schützen, 
der  Militär  seine  Truppen;  das  Völkerrecht  steht  dem 
Schwachen  und  Wehrlosen  zur  Seite,  der  Militär, 
seiner  Aufgabe  gemäß,  dem  Starken;  das  Völkerrecht 
will  Menschlichkeit,  der  Militär  Sieg;  das  Völkerrecht 
will  dem  Verteidiger  helfen,  der  Militär  den  Angreifer 
sichern;  das  Völkerrecht  stellt  über  den  Krieg  und  den 
Heerführer  das  zwingende  unantastbare  Gesetz,  der 
Militär  will  durch  nichts  gebunden  sein  wie  durch 
sein,  wie  immer  humanes,  Gewissen;  das  Völkerrecht 
proklamiert  Kriegsrecht,  der  Militär  handelt  nach 
Kriegsräson. 

In  diesem  Widerspruch  mußte  das  Völkerrecht  um 
so  nachdrücklicher  seine  Sache  behaupten.  Statt  dessen 
zersetzte  es  sich  in  einem  Kompromiß.  Und  während 
alle  Vertreter  der  Kriegswissenschaft  ausnahmslos 
Moltkes  Anschauung  teilen,  bekehrte  sich  1914  ein 
Marburger  Völkerrechtslehrer  im  Felde  zu  dem  Satz: 
„Der  deutsche  Militarismus  ist  doch  wertvoller  als 
das  ganze  Völkerrecht." 

Die  Arbeit  der  Völkerrechtler  hätte  einen  anderen 
Weg  gehen  müssen,  um  fruchtbar  zu  werden.  Indem 
sie  auf  der  Ausnahmslosigkeit  der  völkerrechtlichen 
Beschlüsse  streng  beharrten,  hätten  sie  aus  dem  Völker- 
recht alles  entfernen  sollen,  was  seiner  Natur  nach 
doch  gebrochen  werden  wird.  Hierher  gehört  das 
Gebilde  neutralisierter  Staaten.  In  einem  jüngst 


35 


gehaltenen  Vortrag  des  Leipziger  Völkerrechtsdozenten 
Herbert  Kraus,  der  sonst  zu  den  anfangs  gekenn- 
zeichneten Erzeugnissen  des  flüchtig  und  hitzig  be- 
ratenen Augenblicks  gehört,  wurde  über  den  deutschen 
Einbruch  in  Belgien  strategisch  ganz  richtig  gesagt: 
„Kein  Gebot  der  Welt  könnte  einer  Nation  solche 
selbstmörderischen  Schranken  auferlegen,  uns  die  Zähne 
an  dem  riesigen  französischen  Panzergürtel  an  unserer 
Grenze  auszubeißen  .  . .,  statt  eine  schnelle  Parade 
gegen  die  einzige  schwächere  Stelle  zu  schlagen.*'  Also 
mit  anderen  Worten:  die  Neutralität  eines  Staates 
kann  nur  so  lange  geschont  werden,  als  sie  nicht  die 
strategischen  Notwendigkeiten  der  Kriegführung  an- 
derer Staaten  gegen  einen  dritten  hindert.  Daraus 
aber  folgt  nicht,  daß  in  diesem  Falle  keine  Völker- 
rechtsverletzung begangen  wurde,  sondern  vielmehr, 
daß  man  längst  den  völkerrechtlichen  Vertrag,  auf 
dem  die  Neutralität  beruhte,  von  allen  Seiten  hätte 
auflösen  sollen;  nicht  zuletzt  auf  Betreiben  des  neutra- 
lisierten Staates  selbst.  Es  wäre  kein  Nachteil  für  den 
Frieden  der  Welt,  wenn  es  keine  dauernd  neutrali- 
sierten Staaten  mehr  geben  würde.  Die  Folge  wäre, 
daß  alle  kleineren  Staaten  sich  vermutlich  nach 
Schweizer  Muster  eine  Volkswehr  schaffen  würden 
und  daß  vor  jedem  Ausbruch  eines  Kriegs  die  Länder, 
die  neutral  zu  bleiben  wünschen,  sich  gemeinschaft- 
lich zur  Verteidigung  ihrer  Neutralität  organisieren. 
Der  Kriegsanreiz  würde  dann  wesentlich  schwächer 
werden. 

Das  ist  das  eine  Ergebnis  meiner  Untersuchung: 
Das  Völkerrecht  duldet  keine  Einschränkung  durch 
Notwehr  und  Notstand.  Was  aber  unvereinbar  mit 
den  Lebensinteressen  des  einen  oder  anderen  Landes 
ist  oder  aller  Wahrscheinlichkeit  einmal  werden  kann, 
darf  nicht  unter  die  besondere  Sanktion  des  Völker- 
rechts gestellt  werden.  Man  sichert  das  Völkerrecht, 
indem  man  es  entlastet. 


36 


II. 


Volkswehr  im  Völkerrecht. 

In  einem  preußischen  militärischen  Aktenstück,  in 
der  Landsturmverordnung  vom  21.  April  181 3,  be- 
fahl der  König  dem  Volk:  „Jeder  Staatsbürger  ist 
verpflichtet,  sich  dem  andringenden  Feinde  mit  Waffen 
aller  Art  zu  widersetzen,  seinen  Befehlen  und  Aus- 
schreibungen nicht  zu  gehorchen,  und  wenn  der  Feind 
solche  mit  Gewalt  beitreiben  will,  ihm  durch  alle  nur 
aufzubietenden  Mittel  zu  schaden  ...  Ist  der  Fall 
des  Aufgebots  eingetreten,  so  ist  der  Kampf,  wozu 
der  Landsturm  berufen  wird,  ein  Kampf  der  Notwehr, 
der  alle  Mittel  heiligt.  Die  schneidendsten  sind  die 
vorzüglichsten,  denn  sie  beenden  die  gerechte  Sache 
am  siegreichsten  und  schnellsten.  Es  ist  daher  die  Be- 
stimmung des  Landsturms,  dem  Feinde  den  Einbruch 
wie  den  Rückzug  zu  versperren,  ihn  beständig  außer 
Atem  zu  halten;  seine  Munition,  Lebensmittel,  Kuriere 
und  Rekruten  aufzufangen;  seine  Hospitäler  auf- 
zuheben; nächtliche  Überfälle  auszuführen,  kurz,  ihn 
zu  beunruhigen,  zu  peinigen,  schlaflos  zu  machen, 
einzeln  und  in  Trupps  zu  vernichten,  wo  es  nur  mög- 
lich ist  . .  .  Eigen  für  den  Landsturm  verfertigte  Uni- 
formen oder  Trachten  werden  nicht  verstattet,  weil 
sie  den  Landstürmer  kenntlich  machen  und  der  Ver- 
folgung des  Feindes  leichter  preisgeben  können  .  .  . 
Die  Waffen  sind:  alle  Arten  von  Flinten,  mit  oder 
ohne  Bajonett,  Spieße,  Piken,  Heugabeln,  Morgen- 
sterne, Säbel,  Beile,  gerade  gezogene  Sensen,  Eisen  .  .  . 
Wie  bei  einer  Fußpost  sind  täglich  von  Meile  zu  Meile 
Boten  abzuschicken,  auch  Weiber  und  Kinder  von 
12  bis  15  Jahren  sind  hierzu  brauchbar  .  .  .  Späherei, 
weit  entfernt  verächtlich  zu  sein,  ist  Pflicht  gegen  den 
Feind  .  .  .  Dem  Feinde  das  Leben  möglichst  zu  er- 
schweren, sich  allen  seinen  Anordnungen  mit  Gewalt 
zu  widersetzen,  alle  Leistungen  und  Lieferungen  für 

37 


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ihn  zu  versagen,  ihn  einzeln  zu  vernichten  und  Ab- 
bruch zu  tun,  ist  Pflicht  .  . .  Die  Städte,  die  sich  darin 
besonders  hervortun,  sollen  belohnt  werden.  Die  Bil- 
dung der  National-  oder  Bürgergarden  unter  Einfluß 
und  Aufsicht  des  Feindes  ist  bei  Strafe  schimpflicher 
Landesverweisung  verboten.  Diese  scheinbaren  Ord- 
nungsmittel haben  dem  Feinde  zu  oft  schon  Garni- 
sonen in  den  eroberten  Städten  erspart.  Es  ist  weniger 
schädlich,  daß  einige  Ausschweifungen  zügellosen  Ge- 
sindels stattfinden,  als  daß  der  Feind  frei  im  Schlacht- 
felde über  alle  seine  Truppen  gebietet." 

Aus  gleichem  Geist  sind  auch  militärwissenschaft- 
liche Ausführungen  über  das  Wesen  des  Volkskrieges 
geboren:  „Ist  von  Verderbung  der  Wege,  Versperrung 
enger  Straßen  die  Rede,  so  verhalten  sich  die  Mittel, 
welche  Vorposten  oder  Streifkorps  des  Heeres  an- 
wenden, zu  denjenigen,  welche  eine  aufgebrachte 
Bauernmasse  herbeischafft,  ungefähr  wie  die  Bewe- 
gungen eines  Automats  zu  den  Bewegungen  eines 
Menschen  .  . .  Nach  unserer  Vorstellung  vom  Volks- 
kriege muß  er,  wie  ein  nebel-  und  wolkenartiges  Wesen, 
sich  nirgends  zu  einem  widerstehenden  Körper  kon- 
kreszieren,  sonst  richtet  der  Feind  eine  angemessene 
Kraft  auf  diesen  Kern,  zerstört  ihn  und  macht  eine 
große  Menge  Gefangene;  dann  sinkt  der  Mut .  .  . 
Kein  Staat  sollte  sein  Schicksal,  nämlich  sein  ganzes 
Dasein,  von  einer  Schlacht,  sei  sie  auch  die  entschei- 
dendste, abhängig  glauben.  Zum  Sterben  ist  es  immer 
noch  Zeit,  und  wie  es  ein  Naturtrieb  ist,  daß  der  Unter- 
gehende nach  dem  Strohhalm  greift,  so  ist  es  in  der 
natürlichen  Ordnung  der  menschlichen  Welt,  daß  ein 
Volk  die  letzten  Mittel  seiner  Rettung  versucht,  wenn 
es  sich  an  den  Rand  des  Abgrunds  geschleudert  sieht. 
Wie  klein  und  schwach  ein  Staat  in  Beziehung  auf 
seinen  Feind  auch  sei,  er  soll  sich  diese  letzte  Kraft- 
anstrengung nicht  ersparen,  oder  man  müßte  sagen, 
es  ist  keine  Seele  mehr  in  ihm."  Es  ist  nicht  bedeu- 

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tungslos,  zu  erwähnen,  daß  diese  und  noch  mehr  Sätze 
über  den  Volkskrieg  der  Klassiker  deutscher  Kriegs- 
wissenschaft, Carl  von  Clausewitz,  in  seinem 
großen  Werk  Vom  Kriege  niedergeschrieben  hat! 

Die  Landsturmverordnung  von  1813-  und  die  Dar- 
legungen des  preußischen  Generals  von  Clausewitz 
über  die  Volksbewaffnung  entstammen  den  furcht- 
baren Erlebnissen  eines  Staates,  dessen  weltbewun- 
dertes Söldner-  und  Leibeigenenheer  unter  dem  An- 
prall eines  genial  geführten  Volksheeres  zusammen- 
gebrochen war;  und  die  weitere  Erfahrung,  daß  dieser 
größte  aller  Feldherren  dann  selbst  wieder  durch  die 
aufständischen  Volksmassen  in  Spanien  und  Tirol  in 
schwere  Bedrängnis  geriet,  ließ  erst  recht  die  Bedeu- 
tung eines  ganzen  Volkes,  das  sich  verteidigt,  in  seiner 
Unüberwindlichkeit  erscheinen. 

Seitdem  sind  die  großen  Militärstaaten  zur  allge- 
meinen Wehrpflicht  übergegangen.  Damit  vollzog  sich 
auch  eine  Wandlung  der  militärischen  Auffassung.  Ob- 
wohl alle  Heerführer  in  Deutschland  unter  dem  Ein- 
fluß der  Lehren  Carls  von  Clausewitz  erzogen  sind, 
wird  heute  niemand  seine  Propaganda  für  den  Volks- 
krieg billigen.  Der  Krieg  soll  —  das  ist  die  militärische 
Überzeugung  der  Gegenwart,  wenigstens  in  den  rein 
militärischen  Weltmächten  —  ausschließlich  zwischen 
den  organisierten  Streitkräften  geführt  werden.  Aber 
dieser  in  aller  seiner  Konsequenz  mit  äußerster  Härte 
bis  zu  einem  Punkte,  wo  die  Kriegführung  zur  Krimi- 
naljustiz wird,  behauptete  und  durchgeführte  Grund- 
satz ist  keine  völkerrechtliche  Lösung  des  Problems. 
Hier  blutet  die  düsterste  Tragik  des  Krieges:  der 
schreckliche  Unterschied  des  Schicksals  zwischen  der 
Bevölkerung  eines  vom  Feinde  besetzten  und  eines 
vom  Feinde  freien  Landes.  Zwar  greifen  die  persön- 
lich-wirtschaftlichen Wirkungen  des  Krieges  auch  in 
das  letzte  Dorf  der  vom  Feinde  nie  erblickten  Gebiete. 
Aber  welch  Gegensatz  zwischen  dem  Los  der  Be- 


39 


völkerung  in  Galizien  und  Wien,  in  Ostpreußen  und 
Berlin,  in  Polen  und  Petersburg,  in  Nordfrankreich 
oder  Belgien  und  München!  Was  vermag  das  Völker- 
recht, was  will  es  vermögen,  um  die  waffenlose  Be- 
völkerung des  Kriegsschauplatzes  tatsächlich  den 
unmittelbaren  Angriffen  des  Krieges  zu  entziehen, 
der  doch  nicht  gegen  die  Bürger  geführt  werden  soll  ? 
Mit  anderen  Worten:  welchen  Schutz  verheißt  das 
Völkerrecht  wider  den  Eindringling? 

Das  Völkerrecht  ist  seinem  Begriff  nach  schlechthin 
international,  die  Armeen  ebenso  ausschließlich  natio- 
nal. Kann  es  da  überhaupt  einen  Ausgleich  geben 
zwischen  dem  Recht,  das  alle  Völker  verbindet,  und 
der  Gewalt,  die  zwischen  den  einzelnen  Völkern  in 
uneingeschränkter  Einseitigkeit  für  oder  wider  ent- 
scheidet? Für  das  Völkerrecht  sind  alle  Völker  von 
gleicher  Qualität,  und  mithin  gleichen  Rechts,  der 
Krieg  hingegen  macht  aus  dem  Nebeneinander  der 
Völker  insofern  eine  einzige  große  Antinomie,  als  jedes 
Volk  auf  gleiche  Weise,  zumeist  sogar  mit  den  gleichen 
Worten,  sich  den  Besitz  der  höheren  Moral  und  des 
besseren  Rechts  zubilligt. 

Gleichwohl  hat  sich  das  Völkerrecht  nicht  enthalten, 
Regeln  für  die  Teilnahme  der  Bevölkerung  am  Kriege 
aufzustellen. 

Gerade  die  Haager  Verhandlungen  von  1899  standen 
unter  dem  Eindruck,  daß  dies  Problem  die  eigentliche 
Lebensfrage  des  Völkerrechts  umschließe.  Jene  De- 
batten zeigten  aber  sofort  das  andere:  Daß  auch  auf 
den  Friedenskonferenzen  und  bei  der  Kodifizierung 
des  Kriegsrechts  unausgeglichen  der  Gegensatz 
zwischen  der  heutigen  völkerrechtlichen 
und  der  heutigen  militärischen  Anschauung 
klaffte,  und  daß  über  die  entscheidenden  Bestimmungen 
nur  aus  internationaler  diplomatischer  Höflichkeit  eine 
formelle  Verständigung  erzielt  wurde,  während  sich 
jede  der  Parteien  dabei  etwas  anderes  dachte.  So  er- 

40 


Digitiz 


kennt  jeder,  der  das  amtliche  Protokoll  der  Konferenz 
von  1899  einmal  gelesen  hat,  daß  eine  innere  Ver- 
ständigung über  den  Volkskrieg  nicht  einheitlich 
gewonnen  wurde  und  gar  nicht  gewonnen  werden 
konnte,  weil  das  Problem  völkerrechtlich  und  mili- 
tärisch gegenwärtig  durchaus  verschieden  behandelt 
werden  muß. 

Die  Fragen  der  Teilnahme  der  Bevölkerung  am 
Kriege  sind  völkerrechtlich  schon  auf  der  Brüsseler 
Konferenz  von  1874  in  Paragraphen  gebracht  worden, 
und  die  damaligen  (nicht  ratifizierten)  Beschlüsse  sind 
dann  im  Haag  übernommen  und  bestätigt  worden. 
In  Brüssel  versuchte  ein  ursprünglicher  Entwurf  eine 
mehr  ins  einzelne  gehende  Ordnung.  Man  hatte  auch 
die  Pflichten  der  Bevölkerung  eines  vom  Feinde  an- 
gegriffenen Landes  gegen  den  Feind  geregelt.  Ein 
Spezialparagraph  war  dem  Fall  der  Erhebung  der  Be- 
völkerung in  einem  bereits  besetzten  Lande  ge- 
widmet und  unterwarf  sie  der  Strenge  der  Justiz. 
Ein  anderer  Paragraph  verbot  die  isolierten  feindseligen 
Handlungen.  Aber  bei  der  Brüsseler  Schlußredaktion 
ergaben  sich  so  viele  Schwierigkeiten,  daß  man  alle 
Fragen  der  Volkserhebung  in  einem  besetzten  Gebiet 
und  der  individuellen  Kriegshandlungen  ungeregelt 
ließ.  Man  begnügte  sich  mit  der  Feststellung,  wer 
völkerrechtlich  den  Schutz  von  Kriegführenden  ge- 
nießen solle:  die  Armeen,  die  Milizen,  die  organi- 
sierten Verbände  und  auch  die  Bevölkerung,  die,  selbst 
ohne  Organisation,  spontan  die  Waffen  in  einem  noch 
nicht  vom  Feinde  besetzten  Gebiet  ergreift.  Die  so 
zustande  gekommenen,  eingeschränkten  Brüsseler  Be- 
schlüsse wurden  in  den  beiden  Artikeln  des  Haager 
Landkriegsreglements  von  1899  wiederholt: 

Art.  1.  Die  Gesetze,  Rechte  und  Pflichten  des 
Krieges  gelten  nicht  allein  für  die  Armeen,  sondern  auch 
für  die  Milizen  und  Freischaren,  die  folgende  Be- 
dingungen erfüllen: 


4i 


1.  Sie  müssen  an  ihrer  Spitze  eine  für  die  Unterge- 
ordneten verantwortliche  Person  haben; 

2.  sie  müssen  ein  festes  und  auch  in  der  Entfernung 
erkennbares  Unterscheidungszeichen  tragen; 

3.  sie  haben  die  Waffen  offen  zu  tragen  und 

4.  in  ihren  Handlungen  sich  den  Gesetzen  und  Gebräu- 
chen des  Krieges  zu  unterwerfen. 

Art.  2.  Die  Bevölkerung  eines  nicht  be- 
setzten Gebietes,  die  beim  Herannahen  des 
Feindes  aus  eigenem  Antriebe  zu  den  Waffen 
greift,  um  die  eindringenden  Truppen  zu 
bekämpfen,  ohne  Zeit  gehabt  zu  haben,  sich 
nach  Art.  I  zu  organisieren,  wird  als  Kriegs- 
partei betrachtet,  sofern  sie  die  Gesetze  und 
Gebräuche  des  Krieges  beobachtet. 

Als  am  20.  Juni  1899  die  II.  Subkommission  der 
II.  Kommission  diese  Anträge  beriet,  war  die  Stimmung 
der  großen  Mehrheit  offenbar,  daß  die  alten  Brüsseler 
Vorschläge  das  absolute  Recht  der  Volksverteidigung 
unzulässig  einengten.  Um  einer  Ablehnung  vorzu- 
beugen, erläuterte  deshalb  der  Präsident  der  Kom- 
mission, v.Martens,  der  russische  Delegierte,  sofort 
zu  Beginn  in  einem  längeren  Vortrag  Sinn  und  Ab- 
sicht der  beiden  Artikel:  Es  handelt  sich  nicht  darum, 
der  Bevölkerung  das  Recht  der  Verteidigung  zu  be- 
streiten. Dies  Recht  ist  heilig.  Die  Brüsseler  Kon- 
ferenz hatte  (ich  übersetze  das  französische  Protokoll 
gekürzt.  Der  Verf.)  keineswegs  die  Absicht,  das  Recht 
der  Verteidigung  abzuschaffen  oder  einen  Kodex  auf- 
zustellen, der  dies  Recht  abschaffen  sollte.  Sie  war  im 
Gegenteil  von  dem  Gedanken  durchdrungen,  daß  die 
Helden  nicht  durch  Gesetzesparagraphen  geschaffen 
werden,  sondern  daß  das  einzige  Gesetzbuch,  das  die 
Helden  haben,  ihre  Aufopferung,  ihr  Wille  und  ihr 
Patriotismus  ist.  Früher  waren  die  Bedingungen,  denen 
die  Bevölkerung  genügen  mußte,  gegenüber  den  Krieg- 
führenden viel  schwerer  zu  erfüllen  als  die  in  den 

42 


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Artikeln  aufgestellten.  Das  muß  man  nicht  aus  den 
Augen  verlieren  und  sich  erinnern,  daß  diese  Be- 
stimmungen nicht  zum  Gegenstand  haben,  alle  Fälle 
zu  regeln,  die  sich  ereignen  könnten.  Wir  haben  die 
Türe  offen  gehalten  für  die  heroischen  Opfer,  die  die 
Nationen  bereit  wären  für  ihre  Verteidigung  zu 
bringen;  eine  heldenhafte  Nation  steht,  wie  die  Helden, 
jenseits  der  Gesetzbücher,  der  Regeln,  der  Tatsachen. 
Es  ist  nicht  unsere  Aufgabe,  dem  Patriotismus  Grenzen 
zu  setzen;  unser  Versuch  geht  allein  dahin,  durch  ein 
gemeinsames  Abkommen  zwischen  den  Staaten  die 
Rechte  der  Bevölkerung  und  die  Bedingungen  auf- 
zustellen, die  diejenigen  zu  erfüllen  haben,  die  sich 
rechtmäßig  für  ihr  Vaterland  zu  schlagen  wünschen. 

Seine  Ausführungen  faßte  v.  Martens  in  einer 
Deklaration  zusammen:  daß  es  die  Absicht  der  Kon- 
ferenz sei,  die  Übel  des  Krieges,  soweit  es  die  mili- 
tärischen Notwendigkeiten  zulassen,  zu  mildern.  Es 
sei  nicht  möglich,  alle  denkbaren  Fälle  zu  regeln,  es  sei 
aber  auch  nicht  die  Meinung,  daß .  in  den  nichtge- 
regelten Fällen  die  Entscheidung  dem  Ermessen  derer 
überlassen  bleibe,  die  die  Armeen  führen;  auch  sie 
müßten  vielmehr  unter  dem  Gebot  des  Völkerrechts 
bleiben. 

Der  belgische  Deligierte  Beernaert,  der  frühere 
Minister,  stimmte  den  Artikeln  zu,  unter  der  Voraus- 
setzung, daß  die  Deklaration  des  Herrn  v.  Martens 
bindend  sei.  Er  verstand  die  Bedeutung  der  Regelung 
dahin:  Nach  wie  vor  werden  die  Rechte  des  Siegers, 
weit  entfernt,  daß  sie  unbegrenzt  seien,  eingeschränkt 
sein  durch  die  Gesetze  des  allgemeinen  Gewissens, 
und  kein  Land,  kein  General  würde  wagen,  sie  zu 
brechen,  weil  er  sich  damit  außerhalb  der  Gemein- 
schaft der  zivilisierten  Völker  stellen  würde. 

Ein  holländischer  Vertreter,  General  und  ehe- 
maliger *  Kriegsminister,  schloß  sich  Martens  und 
Beernaert  an.  Er  hob  das  Interesse  der  kleineren 


43 


Staaten  an  der  Mitwirkung  der  Bevölkerung  im  Kriege 
hervor. 

Danach  wurde  der  I.Artikel  einstimmig  ange- 
nommen, ebenso  der  zweite,  mit  dem  Vorbehalt  des 
Schweizer  Delegierten  Oberst  Künzli,  daß  seine  Ab- 
stimmung von  dem  Schicksal  des  englischen  Zusatz- 
antrages abhänge. 

Dieser  englische  Antrag  des  Generals  Sir  John 
Ardagh  wünschte  die  Hinzufügung  folgenden  Ar- 
tikels : 

Nichts  in  diesem  Kapitel  darf  als  Versuch  be- 
trachtet werden,  das  Recht,  das  der  Bevölkerung  des 
besetzten  Landes  gebührt,  zu  vermindern  oder  zu 
unterdrücken,  weil  sie  offen  die  Waffen  gegen  den 
Eindringling  ergriffen  hatte. 

Ein  Schweizer  Antrag  hatte  den  Wortlaut: 
Es  dürfen  keine  Repressalien  an  einer  Bevölkerung 
eines  besetzten  Gebietes  geübt  werden,  weil  sie  offen 
die  Waffen  gegen  den  Eindringling  erhoben  hat. 

Der  Präsident  versuchte  zunächst  den  englischen 
Delegierten  zur  Zurückziehung  seines  Antrages  zu  be- 
wegen, indem  er  in  Aussicht  stellte,  daß  seine  und  die 
Beernaertsche  Deklaration  in  das  Protokoll  aufge- 
nommen würde. 

Sir  John  Ardagh  bestand  auf  der  Abstimmung 
über  seinen  Antrag.  Der  Schweizer  Delegierte  Oberst 
Künzli  zieht  seinen  Antrag  zugunsten  des  englischen 
zurück:  Die  Deklaration  des  Präsidenten  ist  sicher  von 
großer  Bedeutung,  aber  sie  gibt  nicht  die  notwendigen 
Garantien,  weil  schließlich  der  Text  der  Konvention 
entscheidend  ist.  Ich  erkenne  an,  daß  der  Krieg  seine 
Bedürfnisse,  seine  Notwendigkeiten  und  selbst  seine 
unvermeidlichen  Grausamkeiten  hat.  Ich  bitte  Sie 
nur  um  eine  einzige  Änderung:  Bestrafen  Sie  nicht 
die  Liebe  zum  Vaterlande,  ergreifen  Sie  keine  harten 
Maßnahmen  gegen  die  Völker,  die  sich  zur  Verteidi- 

44 


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gung  ihres  Bodens  erheben!  Am  Anfang  dieses  Jahr- 
hunderts haben  wir  in  unserem  Lande  mehrere  Er- 
hebungen des  Volkes  in  gewissen  Gebirgsgegenden  ge- 
habt, und  eine  noch  bedeutsamere  Aktion  hat  sich  in 
einem  uns  benachbarten  Gebirgsland  vollzogen.  Man 
schlug  sich  in  offenem  Kampf,  man  mordete  nicht  die 
Nachzügler  und  man  tötete  nicht  die  Kranken  und 
die  Verwundeten.  Nicht  allein  die  Männer  in  der 
Blüte  der  Jahre,  sondern  auch  die  Greise,  Kinder  und 
Frauen  nahmen  an  den  Kämpfen  teil.  Sie  werden 
sagen,  daß  das  Ausschreitungen  des  Patriotismus  waren. 
Mag  sein,  aber  Ausschreitungen,  die  das  Herz  erfreuen 
und  die  sich  von  neuem  ereignen  können.  Sie  be- 
greifen, daß  wir  nicht  eine  Konvention  unterschreiben 
könnten,  die  einen  Teil  der  Bevölkerung  dem  Stand- 
recht und  dem  Kriegsgericht  überantworten  würde. 

Der  Präsident  erwidert,  daß  niemals  in  Frage  ge- 
wesen sei,  den  patriorischen  Tugenden  der  Völker 
Grenzen  zu  setzen:  Wir  wollen  das  Leben  und  das 
Eigentum  der  Schwachen,  der  Entwaffneten  und  der 
Unbeteiligten  schützen,  aber  wir  wollen  keineswegs 
den  Helden  Gesetze  vorschreiben,  noch  dem  Elan  der 
Patrioten  Zügel  anlegen. 

Der  deutsche  Delegierte  Oberst  Groß  von 
Schwarzhoff  hatte  bei  den  Erörterungen  über  die 
Artikel  I  und  II  geschwiegen  und  ihnen  zugestimmt. 
Der  englische  Antrag  veranlaßt  ihn  jetzt,  seine  Mei- 
nung über  die  ganze  Frage  zu  äußern.  Die  Rede 
Künzlis  habe  ihm  gezeigt,  daß  man  mit  dem  anschei- 
nend harmlosen  Antrag  mehr  beabsichtige,  als  in  ihm 
zu  stehen  scheint.  Die  Beschlüsse  der  Konferenz  hätten 
den  Zweck,  die  Leiden  der  Invasion  für  die  Bevölke- 
rung zu  mildern.  Eine  Voraussetzung  aber,  so  fährt 
der  deutsche  Delegierte  fort,  ist  allen  Beschlüssen  ge- 
meinsam: daß  die  Bevölkerung  friedlich  bleibt; 
wenn  diese  Bedingung  nicht  erfüllt  ist,  dann  verlieren 
die  meisten  der  zugunsten  der  Bevölkerung  geschaffe- 


45 


nen  Sicherheiten  ihre  Daseinsberechtigung.  Heißt  das 
den  Patriotismus  beschränken  oder  den  tapferen  Leu  ten 
verbieten,  an  der  Verteidigung  ihrer  Heimat  teilzu- 
nehmen ?  Keineswegs !  Nichts  hindert  die  Patrioten,  in 
die  Reihen  der  Armee  zu  treten,  oder  wenn  die  Frie- 
densstärke zu  beschränkt  ist,  sich  untereinander  zu 
organisieren,  unabhängig  von  der  eigentlichen  Armee. 
Ist  es  so  schwer,  einen  Menschen  zu  finden,  der  sich 
an  die  Spitze  der  Bewegung  stellt,  einen  Bürger- 
meister, einen  Beamten,  einen  ehemaligen  Soldaten  ? 
Ist  es  so  schwer,  ein  Unterscheidungszeichen  sich  an- 
zustecken ?  Der  I.  Artikel  sollte  vollkommen  genügen, 
denn  er  engt  den  Patriotismus  in  keiner  Weise  ein. 
Aber  man  ist  weiter  gegangen,  indem  man  den  II.  Arti- 
kel beschloß,  der  der  Bevölkerung  eines  nicht  besetzten 
Gebiets  die  Rechte  von  Kriegführenden  unter  der 
einzigen  Bedingung  verleiht,  daß  sie  die  Kriegsgesetze 
anerkennt.  Es  wäre  vorzuziehen,  unter  allen  Um- 
ständen auch  hier  ein  Kennzeichen  und  das  offene 
Tragen  der  Waffen  zu  fordern.  Ohnehin  befinden 
sich  die  regulären  Truppen  in  einer  ungünstigen  Lage, 
weil  sie  nicht  sehen  können,  ob  sie  friedliche  Bauern 
oder  kampfbereite  Feinde  vor  sich  haben.  Der  deutsche 
Delegierte  gesteht  offen,  daß  er  schwere  Bedenken  gegen 
diesen  Artikel  habe;  aber  aus  versöhnlichem  Geiste 
und  um  keine  unüberwindlichen  Schwierigkeiten  zu 
schaffen,  habe  er  geglaubt,  Schweigen  bewahren  zu 
können  und  von  einem  Antrag  auf  Streichung  abzu- 
sehen. Aber  jetzt,  wo  man  die  Grundsätze  noch  er- 
weitern will,  sieht  er  sich  genötigt,  zu  sagen,  daß  die 
Konzessionen  hier  aufhören  müssen.  Wenn  man  so 
viel  von  Menschlichkeit  spricht,  glaubt  er,  es  sei  Zeit 
sich  zu  erinnern,  daß  die  Soldaten  auch  Menschen 
sind  und  das  Recht  haben,  mit  Menschlichkeit  be- 
handelt zu  werden.  Die  Soldaten,  die  erschöpft,  nach 
langen  Märschen  oder  nach  Kämpfen  sich  in  einem 
Dorf  ausruhen  wollen,  müssen  sicher  sein,  daß  die 


46 


friedlichen  Einwohner  sich  nicht  plötzlich  in  erbitterte 
Feinde  verwandeln. 

Der  französische  Delegierte  Leon  Burgeois  ver- 
mittelt. Er  stellt  fest,  daß  die  Subkommission  im 
Grunde  mit  Sir  John  Ardagh  einer  Meinung  sei. 
Nichts  darf  die  Sicherheiten  einschränken,  die  das 
Menschenrecht  den  Völkern  gibt,  wenn  sie  dem  Ein- 
dringling Widerstand  leisten.  Die  Frage  sei,  ob  man 
diesen  Gedanken  in  einen  besonderen  Artikel  des 
Textes  aufnehmen  oder  sich  mit  der  Aufnahme  der 
Erklärung  des  Präsidenten  ins  Schlußprotokoll  be- 
gnügen werde.  Wenn  das  letztere  geschehe,  wäre  es 
für  ihn  genügend. 

Die  Subkommission  beschließt  darauf,  die  Deklara- 
tion des  Präsidenten  ins  Schlußprotokoll  aufzunehmen. 
Aber  erst  als  der  italienische  Delegierte  Graf  Nigra 
den  Vorschlag  macht,  auch  den  englischen  Antrag 
dem  Schlußprotokoll  einzuverleiben,  „neben  und  als 
Bestätigung  der  Deklaration  des  Präsidenten",  zieht 
John  Ardagh  versöhnlich  den  Antrag  zurück,  da  er 
die  einmütige  Billigung  gefunden  habe.  Nochmals 
widerspricht  Oberst  Groß  von  Schwarzhoff:  Es 
handle  sich  um  keine  bloße  Formsache,  sondern  um 
eine  Prinzipienfrage.  Die  Beharrlichkeit,  mit  der  man 
den  englischen  Antrag  durchzusetzen  suche,  beweise 
in  der  Tat,  daß  eine  Schlange  unterm  Felsen  liege 
und  daß  man  die  Leichtigkeit  der  gewährten  Volks- 
verteidigung noch  erweitern  wolle. 

Schließlich  kam  man  überein,  den  englischen  Antrag 
sowie  alle  dazugehörigen  Bemerkungen  und  Ein- 
schränkungen dem  Protokoll  einzuverleiben. 

Als  in  der  Plenarsitzung  der  Haager  Konferenz  vom 
5.  Juni  über  die  Beschlüsse  der  Kommission  Bericht 
erstattet  wurde,  gab  man  den  Protest  des  deutschen 
Delegierten  in  noch  schärferer  Form  wieder,  als  er 
in  dem  Protokoll  der  Kommission  verzeichnet  ist.  Der 
Berichterstatter  teilte  mit,  „Aber  hier  —  hat  sehr 


47 


kategorisch  der  deutsche  Delegierte  gesagt  —  hören 
meine  Zugeständnisse  auf;  es  ist  mir  völlig  unmöglich, 
einen  Schritt  weiter  zu  gehen  und  denen  zu  folgen, 
die  eine  absolute  Freiheit  für  die  Verteidigung  pro- 
klamieren." 

Auf  der  zweiten  Haager  Konferenz  von  1907  setzte 
Deutschland  insofern  ein  weitere  Einschränkung  durch, 
als  in  den  zweiten  Artikel  auch  die  Bedingung  des 
offenen  Waffentragens  aufgenommen  wurde;  ein  fer- 
nerer deutscher  Antrag,  daß  die  Erkennungszeichen 
der  Freikorps  im  voraus  der  Gegenpartei  bekannt- 
gegeben werden  müßten,  wurde  zurückgezogen. 

Die  Haltung  des  deutschen  Delegierten  entsprach 
durchaus  jener  Auffassung  Moltkes,  der  es  für  völlig 
aussichtslos  erklärte,  einem  Soldaten  den  Unterschied 
zwischen  einem  berechtigten  und  einem  unberech- 
tigten Freischärler  in  der  Bevölkerung  begreiflich  zu 
machen.  In  der  Tat  ergibt  sich  aus  den  Ausführungen 
des  deutschen  Offiziers  im  Haag,  daß  die  rein  mili- 
tärische Anschauung  die  Teilnahme  der  Bevölkerung 
am  Krieg  auch  innerhalb  der  Haager  Bedingungen 
nicht  billigt,  und  es  nicht  für  möglich  hält,  die  völker- 
rechtlich konzessionierten  Freischärler  anders  zu  be- 
handeln wie  die  unzweifelhaften  Verletzer  der  Haager 
Klauseln.  Umgekehrt  war  die  große  Mehrheit  der 
Konferenz  der  Ansicht,  daß  das  oberste  Recht,  die 
Selbstverteidigung  des  Volks,  durch  nichts  ein- 
geschränkt werden  dürfe,  daß  es  also  in  der  Anwen- 
dung dieses  höchsten  Grundsatzes  überhaupt  keine 
Völkerrechtsverletzungen  geben  könne. 

Es  ist  somit  erwiesen,  daß  im  Grunde  auf  den  Haager 
Konferenzen  keine  völkerrechtliche  Regelung  der 
Volkswehr  im  Kriege  gefunden  worden  ist.  Der  völker- 
rechtlich interessierten  Mehrheit  gingen  die  Formeln, 
auf  die  man  sich  höflich  verständigte,  lange  nicht  weit 
genug.  Und  sie  faßte  deren  Bedeutung  in  geradem 
Gegensatz  zu  der  militärischen  Gruppe  auf,  die  nach 

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ihrer  eigentlichen  Uberzeugung  jede  Einmischung  der 
Bevölkerung  ablehnt,  zum  mindesten  das  Urteil  über 
ihre  Berechtigung  dem  Ermessen  der  Heerführer  über- 
lassen will. 

Über  diesen  Gegensatz  hilft  den  beiden  Parteien 
keine  Diskussion  und  keine  Konzession  hinweg.  Lassen 
wir  kurz  die  Vertreter  beider  Anschauungen  ihre 
Gründe  gegeneinander  messen: 

Der  Militär  sagt:  Ich  habe  meine  Soldaten  zu 
schützen. 

Der  Völkerrechtler  erwidert:  Wir  haben  das  Volk 
gegen  die  Eindringlinge  zu  schützen. 

Der  Militär:  Aber  die  Aufgabe  der  Heeresleitung  ist 
ja  gerade,  das  eigene  Land  nicht  zum  Kriegsschauplatz 
werden  zu  lassen:  darum  müssen  wir  angreifen,  um  es 
nicht  zum  Angriff  auf  uns  kommen  zu  lassen.  So  sind 
wir  es,  die  in  Wahrheit  unsere  Bevölkerung  schützen. 

Der  Völkerrechtler:  Das  Völkerrecht  gilt  nicht 
für  ein  Volk,  sondern  für  alle  Völker  gleichermaßen. 
Darum  muß  es  unter  allen  Umständen  auf  der  Seite 
derer  stehen,  die  ihr  Land  gegen  den  Eindringling 
verteidigen. 

Der  Militär:  Und  das  Heer  muß  auf  Seiten  des 
eigenen  Volkes  stehen. 

Der  Völkerrechtler:  Damit  wäre  die  Unverein- 
barkeit des  Völkerrechts  mit  dem  militärischen  Inter- 
esse behauptet. 

Der  Militär:  Nur  dann,  wenn  das  Völkerrecht 
Anforderungen  stellt,  die  mit  der  Kriegführung  un- 
vereinbar sind.  Es  ist  ja  gerade,  um  bei  unserem  Bei- 
spiel zu  bleiben,  Humanität,  daß  wir  mit  aller  Härte 
den  Krieg  auf  die  Auseinandersetzung  zwischen  den 
Streitkräften  beschränken  wollen.  Wir  wollen  nicht 
gegen  das  Land,  das  Volk  Krieg  führen,  sondern  nur 
gegen  das  Heer. 

Der  Völkerrechtler:  So  sagt  ihr,  wenn  es  die 
Beteiligung  des  Volkes  am  Kampfe  zu  bestreiten  gilt. 


4   Eisner,  Gesammelte  Schriften.  I. 


49 


Aber  sonst  lehnt  ihr  es  ab,  nur  gegen  das  feindliche 
Heer  Krieg  zu  führen.  Euer  Moltke  hat  es  unzwei- 
deutig ausgesprochen,  daß  man  auch  die  Regierung, 
das  Land  in  Anspruch  nehmen  müsse.  Und  ent- 
sprechen dem  nicht  die  Tatsachen  ?  Wird  nicht  heute 
mehr  denn  je  die  friedliche  Bevölkerung  in  den  Strudel 
des  Krieges  gerissen:  werden  nicht  ganze  Dörfer, 
Städte,  Provinzen  zerstört;  die  schuldlosen  Einwohner 
dem  Hunger,  der  Obdachlosigkeit,  der  Flucht,  selbst 
dem  Tode  ausgeliefert  ?  Und  sie  soll  sich  nicht  einmal 
wehren  dürfen?  Ihr  wollt  nicht  die  Teilnahme  der 
Bevölkerung  am  Kampfe;  der  Krieg  soll  nur  zwischen 
Armeen  geführt  werden.  Aber  gleichzeitig  laßt  ihr 
alle  Wirkungen  des  Krieges  mit  gesteigerter  Wucht 
auf  die  Wehrlosen  fallen.  So  wird  die  Bevölkerung 
zum  passiven  Objekt  der  Kriegführung.  Ihre  be- 
waffnete Selbsthilfe  wird  verboten,  weil  nur  die 
Armeen  miteinander  kämpfen  sollen.  Ihr  erbarmungs- 
loses Leiden  aber  wird  erfordert,  weil  der  Kriegs- 
zweck über  die  Niederwerfung  der  Armee  hinausgeht. 
Man  begrenzt  human  die  Kriegssphäre,  wenn  es  den 
Schutz  des  eigenen  Heeres  gilt,  man  erweitert  sie  bis 
ins  Unbegrenzte,  wenn  die  Opfer  des  Landes  rücksichts- 
los eingefordert  werden.  Eure  humane  Kriegsräson 
heißt:  alles  für  das  Heer,  alles  gegen  die  Bevölkerung. 

Der  Militär:  Würde  man  der  Bevölkerung  auch 
noch  die  Teilnahme  am  Kampf  verstatten,  so  wäre  die 
einzige  Folge,  daß  die  Kriegführung  eben  noch  strenger 
und  blutiger  würde.  Wir  haben  die  Verantwortung 
für  unsere  Soldaten  und  für  die  Erreichung  des  Siegs. 
Diesem  Zweck  müssen  wir  alles  andere  unterordnen. 
Und  ihr  werdet  uns  zugestehen,  daß  unsere  Kriegs- 
gebräuche so  human  wie  irgend  möglich  sind.  Wir  tun 
nicht  mehr  Schlimmes,  als  unbedingt  notwendig  ist. 
Wir  verfahren  ritterlich  mit  dem  feindlichen  Heere  . . . 

Der  Völkerrechtler:  Aber  sehr  unritterlich  mit 
der  Bevölkerung,  deren  Heldenmut  .  .  . 


50 


DerMilitär :  Heldenmut  ?  Ich  sehe  nur  Verbrechen. 
Und  selbst  wenn  es  nicht  Verbrechen  wäre,  so  ist  es 
günstigstenfalls  aussichtsloser  heroischer  Wahnsinn, 
der  ausgerottet  werden  muß,  gerade  damit  wir  unsere 
humane  Kriegsräson  durchführen  können,  die  mehr 
Wert  hat  als  eure  papiernen  Gesetze. 

Der  Völkerrechtler:  Und  über  die  Mittel  der 
Kriegsräson  entscheidet  der,  der  Krieg  führt.  Das 
wollen  wir  gerade  verhindern  . .  . 

Der  Militär:  Und  könnt  es  doch  nicht .  .  . 

Die  Unterhaltung  der  beiden  Gegner  ließe  sich  bis  ins 
Unendliche  mit  den  schlagendsten  Gründen  weiterfüh- 
ren. Sie  wird  nie  zu  einem  Ziel  führen,  weil  der  Wider- 
spruch zwischen  der  militärischen  und  der  völkerrecht- 
lichen Grundanschauung  in  diesem  Falle  unlösbar  ist. 

So  dürften  meine  Anmerkungen  eine  weitere  Ein- 
sicht gefördert  haben,  daß  bis  heute  zwischen  der 
völkerrechtlichen  und  der  militärischen  Anschauung 
unvereinbare  Gegensätze  bestehen.  Es  ist  gegenwärtig 
nicht  die  Zeit,  in  diesem  Konflikt  Partei  zu  nehmen, 
so  fest  ich  auch  überzeugt  bin,  daß  die  praktische  Ent- 
scheidung nach  der  einen  oder  der  anderen  Seite  hin 
jetzt  nicht  nur  von  den  ernstesten  Wirkungen  für  die 
unmittelbar  am  Kriege  beteiligten  Völker  ist,  sondern 
darüber  hinaus  auch  einen  großen  allgemeinen  poli- 
tischen Einfluß  hat.  Aber  für  eine  Folgerung  möchte 
ich  vielleicht  doch  manchen  gewonnen  haben:  Daß 
es  einstweilen  am  besten  ist,  vom  Völkerrecht  nicht 
zu  reden  und  sich  nicht  auf  seine  Artikel  zu  berufen  — 
es  geschieht  doch  immer  nur  um  einer  aufpeitschenden 
Entrüstung  willen  — ,  sondern  es  dem  gesitteten 
Geist  der  Heeresleitungen  und  der  Bürger 
im  Waffenrock  zu  überlassen,  den  Krieg 
menschlich  zu  führen,  —  ohne  Appell  an 
das  Völkerrecht! 

[Herbst  1914.  Veröffentlicht:  Der  Neue  Merkur 
Dezember  14,  Januar  15.] 


v 


51 


Theorien  und  Phantasien  vom  ewigen  Frieden. 

...  da  dann  durch  Vermischung  der  Geschlechter 
im  ganzen  das  Leben  unserer  mit  Vernunft 
begabten  Gattung  fortschreitend  erhalten 
wird,  unerachtet  diese  absichtlich  an  ihrer 
eigenen  Zerstörung  (durch  Kriege)  arbeitet; 
welche  doch  die  immer  an  Kultur  wachsenden 
vernünftigen  Geschöpfe  selbst  mitten  im  Kriege 
nicht  hindert,  dem  Menschengeschlecht  in 
kommenden  Jahrhunderten  einen  Glückselig- 
keitszustand, der  nicht  mehr  rückgängig  sein 
wird,  im  Prospekt  unzweideutig  vorzustellen. 

Kant,  Anthropologie  1789. 

Träume  vom  ewigen  Frieden  begleiten  die  Mensch- 
heit durch  die  Wirklichkeiten  ewigen  Krieges.  Dichter, 
Propheten,  Philosophen  singen,  weissagen,  lehren  durch 
die  Jahrtausende  von  dem  goldenen  Zeitalter,  das  die 
einen,  die  sentimental  Rückwärtsgewandten,  in  den 
Anfang  der  Dinge  als  das  für  immer  verlorene  Paradies 
setzen,  die  anderen,  die  tätig  Revolutionären,  als  Idee, 
als  menschliche  Aufgabe,  als  Kampfziel  in  die  Zukunft 
verlegen. 

Als  im  18.  Jahrhundert  die  mächtige  Kritik  der  Auf- 
klärung, die  alle  Dinge  und  Erscheinungen  unter  das 
unbestechliche  Urteil  der  menschlichen  Vernunft 
stellten,  die  Schichten  europäischer  Bildung  erfaßte; 
war  niemand  von  den  bedeutenden  Geistern,  der  nicht 
mit  allen  Waffen  beweisenden  Verstandes  und  er- 
leuchtender Sittlichkeit  den  Aberwitz  des  Krieges  be- 
kämpft hätte.  Vor  dem  Hohn  eines  Voltaire  zerrannen 
alle  Gründe,  mit  denen  die  Notwendigkeit  und  Gott- 
gewolltheit der  Kriege  gerechtfertigt  wurde;  und  wenn 


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er  aus  der  Heiligen  patriotischen  Heldentums,  der 
Jungfrau  von  Orleans,  die  ausgelassene  Abenteuer- 
travestie eines  auf  anderem  Felde  der  Ehre  von  der 
Gefahr  des  Fallens  bedrängten  derben  Bauernmäd- 
chens machte,  so  war  das  wiederum  nur  eine  Polemik 
gegen  Krieg  und  Kriegsromantik.  Aber  wie  wenig 
diese  Gegenbeweise  der  ernst  lehrenden  Vernunft  und 
des  dreist  entblößenden  Gelächters  das  Geschehen  der 
Welt  beeinflußte,  wird  grell  durch  die  Tatsache  ver- 
anschaulicht, daß  Voltaires  Pucelle  nirgendwo  so  ent- 
zückte, wie  im  Kreise  Friedrichs  II.  von  Preußen. 
Wie  dann  dieser  gekrönte  Schüler  Voltaires  die  här- 
testen und  boshaftesten  Worte  gegen  den  Krieg  stili- 
siert hat,  ohne  dadurch  gehindert  zu  werden,  seine  Re- 
gierung mit  einem  Angriffskrieg  zu  beginnen,  der 
dann  Europa  in  Flammen  setzte.  Und  wiederum  im 
Alter,  da  er  nach  den  Verwüstungen  des  Siebenjährigen 
Krieges  einsam  und  verbittert,  in  düstrem  Menschen- 
haß, auf  seinem  Ruhme  hockte,  bekannte  er  sich  als 
echter  Schüler  der  französischen  Enzyklopädisten, 
predigt,  wenn  auch  mit  wenig  Zuversicht,  wie  ein  Apo- 
stel des  Abts  St.  Pierre  (der  ein  Paradies  des  Menschen- 
glücks gedichtet  hatte)  den  ewigen  Frieden,  und  spricht 
von  Fürsten  als  von  Anführern  von  Taugenichtsen, 
die  nur  aus  Not  gedungene  Henker  werden,  um  das 
ehrbare  Handwerk  der  Straßenräuber  zu  treiben. 

Aber  seit  dem  amerikanischen  Unabhängigkeitskrieg, 
der  die  Vereinigten  Staaten  als  neue  demokratische 
Republik  von  England  loslöste,  bemächtigt  sich  das 
Problem  mit  steigender  Kraft  der  Köpfe.  Der  Uni- 
versalgeist des  17.  Jahrhunderts,  Leibniz,  hatte 
noch  gemeint:  „Der  ewige  Friede  paßt  als  Aufschrift 
über  Kirchhofspforten,  denn  nur  die  Toten  schlagen 
sich  nicht  mehr."  Jetzt  erlebte  die  Welt,  im  Tiefsten 
erschüttert,  zum  erstenmal  wieder  das  Schauspiel, 
daß  der  Krieg  als  revolutionärer  Freiheitskampf  eines 
ganzen  Volkes  geführt  wurde,  während  er  von  der 


53 


andern  Seite  als  ein  durch  gedungene,  überallher  zu- 
sammengeraffte, von  ihren  Landesvätern  gewaltsam 
gegen  Säcke  Goldes  verkaufte  Söldner  verübtes  Massen- 
verbrechen erschien.  Durfte  ein  solcher  Krieg  roher 
Gewalt  gegen  ein  Volk,  das  frei  sein  wollte,  noch  fürder- 
hin  in  der  Menschheit  geduldet  werden  ?  Und  war 
es  nicht  undenkbar,  daß  freie  Völker  selbst  Eroberungs- 
und Unterdrückungskriege  in  Zukunft  führen  würden  ? 
Indem  Klopstock  die  Humanität  der  Kriegsführung 
der  Amerikaner  feiert,  sieht  er  in  ihr  zugleich  die 
Ahnung  des  ewigen  Friedens: 

O  dann  ist,  was  jetzo  beginnt,  der  Morgenröten 

schönste: 

Denn  sie  verkündiget 

Einen  seligen,  nie  noch  von  Menschen  erlebten  Tag, 
Der  Jahrhunderte  strahlt 

Auf  uns,  die  noch  nicht  wußten,  der  Krieg  sei 
Das  zischendste,  tiefste  Brandmal  der  Menschheit. 

Wie  dann  der  von  England  geführte  und  besoldete 
Krieg  des  alten  Europa  gegen  die  französische  Revolu- 
tion ausbrach,  vertiefte  sich  jener  Abscheu  gegen  einen 
Krieg,  in  dem  die  Freiheit  erdrosselt  werden  sollte. 
Und  wenn  am  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts  die  Idee 
des  ewigen  Friedens  zum  erstenmal  zu  einem  ernsten 
wissenschaftlichen  System  erhoben  wurde,  so  stand 
hinter  den  fast  nur  juristischen  Formeln  der  leiden- 
schaftliche Mensch,  der  schützend  die  Flügel  seines 
Geistes  über  die  Sache  der  französischen  Revolution 
breiten  wollte. 

Es  ist  ein  selten  mit  hinreichender  Klarheit  erkannter 
Zusammenhang,  daß  Kant  seinen  philosophischen 
Entwurf  zum  Ewigen  Frieden,  mit  dem  er  seinen 
ungeheuren  Menschheitsbau  der  Vernunft  krönte,  un- 
mittelbar nach  dem  Baseler  Frieden  vom  April  1795 
niederschrieb.  Der  Philosoph  war  unendlich  beglückt 
über  diesen  Frieden,  den  Preußen  mit  den  Jakobinern 

54 


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abschloß;  und  zum  Schutze  der  Republik  —  an 
die  Preußen  das  rechte  Rheinufer  bedenkenlos  aus- 
geliefert hatte  —  spann  er  den,  geschichtlich  beurteilt, 
für  Kants  Vaterland  äußerst  schimpflichen  Frieden 
zu  dem  Völkervertrag  eines  ewigen  Friedens  aus. 
Wie  sehr  die  Schrift  die  Stimmung  der  Zeit  traf,  be- 
weist ihr  großer  buchhändlerischer  Erfolg.  In  Deutsch- 
land waren  zwei  Auflagen  sofort  vergriffen,  franzö- 
sische, englische,  dänische  Ubersetzungen  erschienen 
alsbald. 

Schon  zuvor,  im  Jahre  1793,  hatte  Kant  in  einer 
Abhandlung,  in  der  er  sich  gegen  den  „Gemeinspruch" 
wandte:  „Das  mag  in  der  Theorie  richtig  sein,  taugt 
aber  nicht  für  die  Praxis"  —  die  Entwicklung  der 
Menschheit  zu  einem  Völkerbund  gezeichnet.  Er 
hatte  Moses  Mendelssohn  widersprochen,  der  den  Fort- 
schritt der  Menschheit  leugnete  und  seines  Freundes 
Lessing  Gedanken  von  einer  Erziehung  des  Menschen- 
geschlechts zu  immer  höheren  Entwicklungen  als  Hirn- 
gespinste verwarf  („Wir  sehen",  schrieb  Mendelssohn, 
„das  Menschengeschlecht  im  ganzen  betrachtet,  kleine 
Schwingungen  machen;  und  es  tat  nie  einige  Schritte 
vorwärts,  ohne  bald  nachher  mit  gedoppelter  Geschwin- 
digkeit in  seinen  vorigen  Zustand  zurückzugleiten"). 
Kant  aber  stimmt  Lessing  zu.  Gerade  die  Not  der 
beständigen  Kriege  werde  die  Menschheit  selbst 
wider  Willen  dahin  bringen,  in  die  weltbürgerliche 
Verfassung  eines  allgemeinen  Friedens  zu  treten,  zumal 
die  wachsenden  Heere  immer  höhere  Kosten  verur- 
sachten. 

In  seiner  Schrift  Zum  ewigen  Frieden,  deren  iro- 
nische Vorbemerkung  nur  eine  vorsichtige  Schutz- 
maßnahme ist,  um  den  revolutionären  Charakter  der 
Gedanken  zu  verdecken,  entwirft  Kant  den  ausgear- 
beiteten Vertrag  eines  ewigen  Friedens.  „Stehende 
Heere  sollen  mit  der  Zeit  ganz  aufhören  —  lautet  eine 
der  ersten  Bestimmungen  des  Vertrags:  „Denn  sie 


55 


bedrohen  andere  Staaten  unaufhörlich  mit  Krieg 
durch  die  Bereitschaft,  immer  dazu  gerüstet  zu  er- 
scheinen ;  . .  .  und  indem  durch  die  darauf  verwandten 
Kosten  der  Frieden  endlich  noch  drückender  wird  als 
ein  kurzer  Krieg,  so  sind  sie  selbst  Ursache  von  An- 
griffskriegen, um  diese  Last  loszuwerden."  Nur  eine 
Volkswehr  soll  verstattet  sein:  „Ganz  anders  ist  es  mit 
der  freiwilligen  periodisch  vorgenommenen  Übung  der 
Staatsbürger  in  Waffen  bewandt,  sich  und  ihr  Vater- 
land dadurch  gegen  Angriffe  von  außen  zu  sichern." 
Der  Friedenszustand  zwischen  den  Staaten  setzt  die 
Freiheit  in  ihrem"  Innern  voraus:  „Die  bürgerliche 
Verfassung  in  jedem  Staate  soll  republikanisch  sein." 
Da  in  solcher  Verfassung  das  Volk  selbst  über  Krieg  und 
Frieden  zu  entscheiden  hat,  „so  ist  nichts  natürlicher, 
als  daß,  da  sie  alle  Drangsale  des  Krieges  über  sich  selbst 
beschließen  müßten  ...  sie  sich  bedenken  werden,  ein 
so  schlimmes  Spiel  anzufangen". 

Die  erste  Stufe  der  Entwicklung  wäre  ein  Völker- 
bund, aus  dem  dann  allmählich  eine  Weltrepubilk 
hervorwächst 

„Bei  dem  Begriffe  des  Völkerrechts,  als  eines  Rechts 
zum  Kriege,  läßt  sich  eigentlich  gar  nichts  denken 
(weil  es  ein  Recht  sein  soll,  nicht  nach  allgemeingültigen 
äußern,  die  Freiheit  jedes  einzelnen  einschränkenden 
Gesetzen,  sondern  nach  einseitigen  Maximen  durch 
Gewalt,  was  Recht  sei,  zu  bestimmen),  es  müßte  denn 
darunter  verstanden  werden:  daß  Menschen,  die  so 
gesinnt  sind,  ganz  recht  geschieht,  wenn  sie  sich  unter- 
einander aufreiben  und  also  den  ewigen  Frieden  in 
dem  weiten  Grabe  finden,  das  alle  Greuel  der  Gewalt- 
tätigkeit samt  ihren  Urhebern  bedeckt." 

Kants  Schrift  fand  ein  tief  hallendes  Echo  in  Her- 
der; der  leidenschaftlicher  als  Kant  und  auch  Fichte, 
mit  diesen  beiden  die  drei  revolutionärsten  deutschen 
Geister  der  Zeit  darstellt.  Herder  —  sein  wahres 
Wesen  erkennt  man  erst  aus  den,  dem  Zwang  der  poli- 

♦ 

56 


uigmzea  Dy  vjuu 


tischen  und  persönlichen  Verhältnisse  zum  Opfer  ge- 
fallenen und  im  Nachlaß  vergrabenen  Stellen  seiner 
Schriften  —  entwirft  die  Phantasie  einer  „irokesischen 
Anstalt",  die  unter   Indianerstämmen  den  ewigen 
Frieden  verwirklichen  wollte.  „Eine  Geschichte  vom 
wahren  Ursprünge  der  Kriege  in  Europa  seit  den 
Kreuzzügen,  schreibt  er,  wäre  ...  das  niedrigste  Spott- 
gedicht, das  geschrieben  werden  könnte."  Er  will  zum 
Abscheu  gegen  den  Krieg  erziehen:  „Der  Krieg,  wo 
er  nicht  erzwungene  Selbstverteidigung,  sondern  ein 
toller  Angriff  auf  eine  ruhige,  benachbarte  Nation  ist, 
ist  ein  unmenschliches,  ärger  als  tierisches  Beginnen, 
indem  er  nicht  nur  der  Nation,  die  er  angreift,  un- 
schuldigerweise Mord  und  Verwüstung  drohet,  son- 
dern auch  die  Nation,  die  ihn  führet,  ebenso  unverdient 
als  schrecklich  hinopfert.  Kann  es  einen  abscheuliche- 
ren Anblick  für  ein  höheres  Wesen  geben,  als  zwei 
einander  gegenüberstehende  Menschenheere,  die  un- 
behelligt einander  morden?"   „Alle  edlen  Menschen 
sollten  diese  Gesinnung  mit  warmem  Menschengefühl 
ausbreiten,  Väter  und  Mütter  ihre  Erfahrungen  dar- 
über den  Kindern  einflößen,  damit  das  fürchterliche 
Wort  Krieg,  das  man  so  leicht  ausspricht,  den  Men- 
schen nicht  nur  verhaßt  werde,  sondern  daß  man  es  mit 
gleichem  Schauder  als  den  St.  Veitstanz,  Pest,  Hungers- 
not, Erdbeben,  den  schwarzen  Tod  zu  nennen  oder  zu 
schreiben,  kaum  wage."  Herder  fordert,  daß  man  die 
Achtung  gegen  den  Heldenruhm  vermindert.  Der 
Heldengeist  sei  nicht  nur  ein  Würgengel  der  Mensch- 
heit, sondern  verdiene  auch  in  seinen  Talenten  lange 
nicht  die  Achtung  und  den  Ruhm,  die  man  ihm  aus 
Tradition  von  Griechen,  Römern  und  Barbaren  her 
zolle.  Man  solle  die  falsche  Staatskunst,  die  Diplomatie 
verabscheuen.    In  geläutertem   Patriotismus  müsse 
jede  Nation  nur  in  sich  selbst  groß,  schön,  edel, 
reich,  wohlgeordnet,  tätig  und  glücklich  werden.  Jede 
Nation  müsse  es  unangenehm  empfinden,  wenn  eine 


57 


andere  Nation  beschimpft  und  beleidigt  wird.  „Wächst 
dies  Gefühl,  so  wird  unvermutet  eine  Allianz  aller 
gebildeten  Nationen  gegen  jede  einzelne 
anmaßende  Macht."  Freier  Handel  für  alle  Völker. 
„Dazu  ist  das  Weltmeer  da;  dazu  wehen  die  Winde; 
dazu  fließen  die  Ströme.  Sobald  eine  Nation  allen 
andern  das  Meer  verschließen,  den  Wind  nehmen  will, 
ihrer  stolzen  Habsucht  wegen,  so  muß  .  .  .  der  Unmut 
aller  Nationen  gegen  eine  Unterjocherin  des  freiesten 
Elements,  gegen  die  Räuberin  jedes  höchsten  Gewinnes, 
die  anmaßende  Besitzerin  aller  Schätze  und  Früchte 
der  Erde  erwachsen." 

So  ist  für  Herder  der  ewige  Frieden  letzten  Endes 
eine  Aufgabe  menschlicher  Erziehung  im  Geiste  der 
Humanität.  Sind  aber  solche  Träumereien  nicht  heute 
ganz  wesenlos  geworden?  Sind  sie  nicht  lediglich  ge- 
schichtliche Urkunden  aus  der  klassischen  Zeit  des 
staatlosen  deutschen  Gedankenlebens  ? 

Vielleicht  sind  wir  den  Kant  und  Herder  viel  näher, 
als  es  scheinen  will.  Die  damaligen  Theorien  und  Phan- 
tasien vom  ewigen  Frieden  wuchsen  unmittelbar  aus 
der  Not  eines  Weltkrieges  auf,  der  über  ein  Jahrzehnt 
die  Erde  verwüstete.  Ist  es  nicht  schließlich  doch  der 
Gedanke,  der  uns  den  Weltkrieg  von  heute  nicht  nur 
ertragen,  sondern  selbst  mit  begeisterter  Hingabe  uns 
ihm  opfern  läßt,  —  der  Gedanke,  die  Hoffnung,  die 
Zuversicht  und  dazu  das  Bewußtsein  organisierter 
Macht:  Daß  es  der  letzte  Krieg  sei! 

Weihnachten  1914. 


58 


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Die  Theorie  des  großen  Kriegs. 


Der  Offensivgeist,  der  die  militärische  Anschauung 
in  Deutschland  bedingungslos  beherrschte,  übte  auch 
auf  die  Heeresleitungen  des  Auslandes  Einfluß,  wenn 
auch  dort,  wie  es  scheint,  man  zumeist  im  Kampf  der 
Meinungen  nicht  zu  einer  einheitlichen  Anschauung 
gelangt  ist.  Übrigens  verrät  während  des  jetzigen 
Krieges  selbst  die  Tagespresse  des  Auslands  eine  be- 
merkenswerte intime  Kenntnis  der  deutschen  Militär- 
literatur, während  die  deutsche  Presse  es  bisher  nicht 
für  notwendig  erachtete,  in  Deutschland  Kenntnisse 
für  die  fachliche  Arbeit  der  fremden  Militärs  zu  ver- 
breiten 

Gerade  in  den  letzten  Jahren  vor  dem  Weltkrieg 
hat  man  in  Deutschland  wiederholt  in  aller  Ausführ- 
lichkeit und  mit  militärischer  Sachlichkeit  die  Be- 
dingungen des  großen  Krieges  erörtert.  Im  Jahre  1909 
erschien  in  dem  bekannten  Militärverlag  von  Mittler 
&  Sohn  ein  umfangreiches,  mit  genauen  Plänen  aus- 
gestattetes Werk  des  Generals  Freiherrn  v.  Falken - 
hausen:  „Der  große  Krieg  der  Jetztzeit.  Eine  Studie 
über  Bewegungskampf  der  Massenheere  des  20.  Jahr- 
hunderts", ein  Buch,  das  —  nach  dem  russisch-ja pa- 
nischen Krieg  erschienen  —  unmittelbar  in  die  herr- 
schenden Auffassungen  einführt. 

Falkenhausen  beginnt  zunächst  in  üblicher  Weise 
mit  der  Verteidigung  des  Krieges  überhaupt.  Er  wendet 
sich  gegen  die  Versuche,  den  Krieg  abzuschaffen:  „In 
der  Jetztzeit  braucht  der  Krieg  den  letzten  Mann,  und 
was  ebenso  einschneidend  wirkt,  den  letzten  Groschen. 
Dabei  ist  die  Opferfreudigkeit  des  jetzigen  Geschlechts 


59 


für  allgemeine  Zwecke  nicht  gewachsen.  Vermehrtes 
Wohlleben  bis  in  die  breiten  untersten  Volksschichten 
hinein  haben  die  Liebe  zum  Leben  und  Besitz  ge- 
steigert. Selbstliebe  und  Eigennutz  sind  mächtig  ge- 
worden. Ideale  gelten  nicht  mehr  viel.  Die  Treue 
zum  Herrscher  und  die  Liebe  zum  Vaterlande  werden 
von  bei  den  Massen  einflußreichen  Vertretern  der 
zersetzenden  Richtung  unserer  Zeit  geflissentlich  unter- 
graben. Alles  dies  schafft  einen  trefflichen  Nährboden 
für  die  Bestrebungen  derer,  die  den  Krieg  beseitigt 
haben  wollen  .  .  .  Dichterische  und  wissenschaftliche, 
schriftstellerische  und  bildliche  Erzeugnisse  wetteifern 
mit  Versammlungen,  ja  Ausstellungen  der  Friedens- 
freunde, um  durch  lebhafte  Schilderung  der  Greuel 
des  Krieges  auf  die  geschwächten  Nerven  unseres  Ge- 
schlechts zu  wirken."  Aber  auch  trotz  der  sogar 
wiederholten  Friedenskonferenzen  im  Haag  werde  der 
„erfahrene  und  besonnene  Kriegsmann  den  Glauben 
an  die  Notwendigkeit  seines  Berufs  nicht  verlieren. 
Der  Gedanke  eines  ewigen  Friedens  sei  eine  Utopie," 
„er  entspricht  unklarem  Denken  und  schwächlichem 
Fühlen".  Die  ernste  Pflicht  für  jeden,  der  mit  der 
Kriegsführung  zu  schaffen  hat,  sei  es,  „mit  allen  Mitteln 
anzukämpfen  gegen  die  Gefahren  und  Hindernisse, 
welche  aus  der  Abwendung  vom  kriegerischen  Sinn 
und  Denken  entstehen.  Dagegen  wird  alle  Kraft  des 
Nachdenkens  darauf  hinzulenken  sein,  wie  man  im- 
stande ist,  sich  gründlich  vorzubereiten  auf  kriegerische 
Ereignisse,  welche  die  Zukunft,  vielleicht  die  nächste 
bringen  kann.** 

Diesem  Zweck  dient  das  genannte  Werk.  „Grund- 
legend" für  die  Strategie  des  zukünftigen  großen  Krie- 
ges, so  meint  Falkenhausen,  sei  noch  immer  der  deutsch- 
französische Krieg  von  1870/71.  „Ergänzend"  sei  der 
russisch-türkische  Krieg  von  1877/78,  der  Burenkrieg 
und  der  russisch- japanische  Krieg  von  1904/5  zu  be- 
rücksichtigen. „Die  Bedeutung  für  die  große  Kriegs- 

60 


führung  wie  der  deutsch  -  französische  Krieg  haben 
alle  diese,  auch  der  letzte  nicht,  aber  sie  sind  von 
Wichtigkeit  wegen  der  bei  ihnen  zutage  tretenden 
fortschreitenden  Wirkung  der  Feuerwaffen  und  Spreng- 
mittel." Aber  das  Studium  der  Kriegsgeschichte  ge- 
nügt nicht,  man  müsse  eine  klare  Vorstellung  von 
dem  Zukünftigen  gewinnen.  Der  Krieg  der  Zukunft 
sei  bestimmt  durch  die  Millionenheere,  durch  die 
Masse.  „Die  selbstverständliche  Folge  der  Massen- 
aufgebote und  der  kürzeren  aktiven  Dienstzeit  ist 
eine  Verringerung  des  inneren  Gehalts  der  aufge- 
stellten Truppenkörper.  Nicht  nur  der  früher  nicht 
in  diesem  Maße  bekannten,  zur  Verwendung  in  zwei- 
ter und  dritter  Linie  bestimmten,  sondern  infolge 
der  für  diese  notwendigen  Abgaben  auch  derjenigen 
der  vordersten  Linie."  Falkenhausen  empfindet  im 
Grunde  das  Massenheer  als  ungesunde  Entwicklung. 
Die  Zahl  im  Kriege  sei  nicht  ausschlaggebend.  Aber 
einstweilen  müsse  man  nun  einmal  mit  dem  Massen- 
heer rechnen. 

Der  kommende  Krieg  ist  nicht  nur  durch  die  Massen 
gekennzeichnet,  durch  die  mehr  und  mehr  sich  durch- 
setzende Ausgleichung  in  der  Beschaffenheit  der  ver- 
schiedenen Heere,  sondern  auch  durch  die  Politik  der 
Bündnisse  —  die  mehrere  Völker  zugleich  in  den  Krieg 
ziehen  —  und  durch  die  Verbindung  von  Land-  und 
Seekrieg.  Schließlich  wirkt  die  Vervollkommnung  der 
Technik  bestimmend,  wenn  man  deren  Einwirkungen 
auch  nicht  überschätzen  dürfte:  „Die  letzten  Erfolge 
der  Kriegsführung  werden  immer  auf  dem  Gebiete 
der  lebendigen  Kraft  liegen." 

Falkenhausen  legt  nun  folgende  Kriegslage  zugrunde : 
Zu  dem  verbündeten  blauen  Heere  gehören  Deutsch- 
land und  Österreich;  zu  dem  verbündeten  roten  Heere 
Frankreich,  England  und  Italien.  Die  Schweiz,  Bel- 
gien, Luxemburg  und  Holland  sind  neutral.  Die  Neu- 
tralität der  Schweiz  wird  gewahrt,  die  der  übrigen 


61 


genannten  Staaten  von  dem  roten  Heer  durchbrochen. 
Frankreich  hat  unter  Verletzung  der  Neutralität  von 
Belgien  und  Luxemburg  überraschend  mit  Truppen 
des  Friedensstandes  seine  Nord-  und  Ostgrenze  über- 
schritten, England  unter  dem  Schutze  einer  englisch- 
französischen Flotte  Truppen  in  Holland  gelandet. 
Die  Zerstörung  der  deutsch-linksrheinischen  Eisen- 
bahnen ist  an  mehrfachen  entscheidenden  Stellen  in 
nachhaltiger  Weise  gelungen.  Italien  hat  das  Trentino 
überraschend  besetzt  und  vereinigt  seine  übrigen 
Streitkräfte  bei  Verona,  Venedig,  Udine.  Deutsch- 
land ist  infolge  der  geschilderten  Verhältnisse  gezwun- 
gen, seine  Heere  am  Rhein  und  in  Süddeutschland 
zu  versammeln.  Seine  Flotte  verhält  sich  abwartend 
in  Nord-  und  Ostsee.  Österreich  wendet  sich  mit  seinen 
Hauptkräften  gegen  Italien  und  verstärkt  die  deutschen 
Truppen  in  Süddeutschland. 

Der  Verfasser  fügt  hinzu,  daß  er  für  sein  Schulbei- 
spiel ebenso  gut  eine  gegen  Osten  gerichtete  Lage 
hätte  annehmen  können. 

Der  Krieg  beginnt  im  April.  Die  deutschen  Streit- 
kräfte gliedern  sich  in  vier  Armeen,  zu  denen  als  fünfte 
die  österreichischen  Hilfstruppen  (sechs  Armeekorps 
und  2  Kavalleriedivisionen)  kommen.  Außerdem  stellt 
Deutschland  drei  Reservearmeen  auf.  Die  vier  deut- 
schen Armeen  versammeln  sich  am  Rhein  zwischen 
Wesel  und  Rastatt,  die  drei  Reservearmeen  in  zweiter 
Linie  dahinter.  Die  österreichische  Hilfsarmee  wird 
bei  Ulm  zusammengezogen.  Das  große  Hauptquartier 
ist  in  Frankfurt  a.  M. 

Ein  Aufmarsch  vou  i1/4  Millionen  auf  deutscher 
Seite  ist  angenommen.  Die  von  Blau  besetzte  Rhein- 
linie hat  eine  Breite  von  400  Kilometern.  Nach  den 
bis  zum  14.  April  früh  eingegangenen  Nachrichten 
sind  die  roten  Truppen  inzwischen  in  das  südliche 
Oberelsaß  eingedrungen,  haben  den  Rhein  bei  Müll- 
heim und  Hüningen  überschritten;  sie  haben  Neu- 

62 


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Stadt,  Freiburg,  Breisach,  Lahr  erreicht.  Im  nörd- 
lichen Oberelsaß  wird  Schlettstadt  besetzt,  ebenso 
Zabern  und  Saarburg.  In  Lothringen  werden  Metz 
und  Diedenhofen  eingeschlossen.  Andere  feindliche 
Truppen  dringen  durch  Luxemburg  vor  und  durch 
Belgien;  sie  besetzen  Namur,  Lüttich,  Brüssel.  Belgien 
hat  gegen  den  Einmarsch  der  roten  Truppen  Ver- 
wahrung eingelegt  und  seine  Truppen  bei  Antwerpen 
zusammengezogen,  wo  sie  von  Rot  beobachtet  werden. 
Die  englischen  Truppen  besetzen  Holland,  die  rote 
Flotte  beherrscht  die  Nordsee  und  ist  auch  in  die  Ost- 
see vorgedrungen." 

Dieses  Kriegsbild  beginnt  also  mit  einer  recht  un- 
günstigen Lage  der  deutsch-österreichischen  Truppen. 
Der  Einfall  des  Feindes  geschah  so  plötzlich,  rasch 
und  infolge  der  Neutralitätsverletzungen  so  umfassend, 
daß  man,  um  die  Versammlung  der  blauen  Truppen 
zu  sichern,  den  Aufmarsch  nicht  mehr  an  die  Grenze 
verlegen  kann,  sondern  zunächst  am  Rhein  Stellung 
nehmen  muß.  Ein  Widerstand  der  belgischen  Truppen 
ist  nicht  erfolgt.  „Es  war  der  großen  Überlegenheit 
gegenüber  auch  nicht  zu  erwarten."  Über  die  poli- 
tischen Wirkungen  der  Neutralitätsverletzung  wird 
gesagt:  „Der  Gedanke,  infolge  des  roten  Einmarsches 
die  Selbstständigkeit  zu  verlieren,  kann  eine  Rot  freund- 
liche Haltung  Belgiens  erschweren.  Dann  wird  Rot 
auch  weiter  einen  Teil  seiner  in  Belgien  eingedrunge- 
nen Kräfte  gebrauchen,  um  die  belgischen  Truppen 
und  Festungen  in  Schach  zu  halten  und  sie  zu  verhin- 
dern, im  Laufe  der  Ereignisse  feindlich  aufzutreten. 
Das  unter  dem  Drucke  des  roten  Einmarsches  stehende 
Belgien  günstig  für  sich  zu  stimmen,  wird  eine  haupt- 
sächliche Aufgabe  der  blauen  Politik  sein.  Da  die  Neu- 
tralität aber  einmal  gebrochen  ist,  kann  auch  von  Blau 
auf  diese  keine  Rücksicht  mehr  genommen  werden, 
soweit  die  jetzt  unbedingt  an  der  Spitze  stehenden 
Bedingungen  der  Kriegsführung  dies  erfordern.  Hieraus 


63 


wird  sich  bei  günstigem  Verlauf  der  blauen  Vorbewe- 
gung in  weiterem  Verfolg  der  bedeutende  Vorteil 
ziehen  lassen,  daß  die  starken  Befestigungsanlagen  an 
der  französischen  Grenze  wirksam  umgangen  werden 
können.  Dieser  Umstand  wird  auf  die  Maßnahmen 
von  Blau  von  Anfang  an  bestimmend  wirken."  Auch 
die  Truppenlandung  in  Holland  findet  keinen  Wider- 
stand. Blau  hat  nun  die  Aufgabe,  sich  aus  der  Zwangs- 
lage zu  befreien.  Es  gilt,  den  Rhein  zu  überschreiten 
und  nicht  in  der  Verteidigungsstellung  zu  beharren. 
Man  muß  zum  Angriff  schreiten,  durch  Lothringen  und 
durch  Belgien  vordringen.  Am  14.  April  ist  die  Ver- 
sammlung der  blauen  Truppen  bei  Saarbrücken,  Trier, 
Aachen,  Rottweil. 

Der  erste  Zusammenstoß  der  dritten,  durch  die 
zweite  Reservearmee  verstärkten  blauen  Armee  mit 
dem  Feind  erfolgt  an  der  Blies,  bei  St.  Wendel.  Die 
rote  Armee  hat  eine  Front  von  40  km.  Das  blaue 
Hauptquartier,  das  inzwischen  nach  Landstuhl  verlegt 
ist,  befiehlt  für  den  20.  April  früh  den  Angriff.  Die 
Schlacht  an  der  Blies  beginnt  pünktlich  zur  festge- 
gesetzten  Zeit  am  20.  April.  Von  8 — 10  Uhr  vorm. 
Artilleriekampf  auf  der  ganzen  Linie  —  ohne  Ent- 
scheidung. Dann  überschreiten  die  Blauen  den  Blies. 
Am  frühen  Nachmittag  droht  beiden  Flügeln  der  roten 
Armee  Umfassung,  infolgedessen  Rückzug  nach  der 
Saar.  Der  zurückweichende  Feind  wird  unverzüglich 
von  den  Blauen  verfolgt.  Am  Abend  des  20.  April 
versammelt  sich  unter  großen  Schwierigkeiten  die 
rote  Armee  am  linken  Saarufer.  Es  ist  ein  voller  Erfolg 
der  Blauen,  wenn  auch  keine  Vernichtung  der  Roten. 
„Als  Ursache  des  Erfolges  fällt  die  blaue  Überlegen- 
heit an  Zahl  (um  100000  Mann)  schwer  ins  Gewicht. 
Es  ist  von  jeher  als  die  hauptsächliche  Aufgabe  der 
Kriegskunst,  zu  der  auch  das  sogenante  Glück  ge- 
rechnet werden  muß,  angesehen  worden,  auf  dem  ent- 
scheidenden Punkte  der  Stärkere  zu  sein."  Diese 


64 


Überlegenheit  der  Zahl  ermöglicht  die  Offensive. 
„Daß  ...  die  Verteidigung  nicht  die  stärkere  Form 
der  Kriegsführung  ist,  kann  .  .  aus  inneren  seelischen 
Gründen  und  nach  den  Tatsachen  der  Kriegsgeschichte 
bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  unzweifelhaft  behauptet 
werden."  Der  Mißerfolg  der  Roten  wird,  abgesehen 
von  der  geringeren  Zahl,  den  Fehlern  und  Mängeln 
einer  nicht  genügend  beweglichen  Verteidigung  zu- 
geschrieben, „welche  sich  vom  Angreifer  fesseln  und 
von  diesem  das  Gesetz  vorschreiben  läßt".  Dagegen 
ist  der  Sieg  von  Blau  dem  ungestümen  Angriff  zu 
danken:  „Der  Schlachterfolg  der  blauen  Truppen  ist 
bei  schwerem  Ringen  schließlich  doch  im  Lauf  eines 
Schlachttages  erzielt  worden.  Es  wird  jetzt  vielfach 
behauptet,  die  Schwierigkeiten  des  Angriffs  wären 
nicht  an  einem  Tage  zu  besiegen  .  . .  Mehrtägige 
Kämpfe  werden  auch  in  Zukunft  nicht  ausbleiben. 
Sie  zu  vermeiden,  wird  das  Bestreben  jeder  kräftig 
und  geschickt  eingeleiteten  Angriffsbewiegung  sein. 
Ein  wiederholter  Angriff  gegen  starke  Stellungen  er- 
folgt immer  unter  herabgestimmten  seelischen  Zu- 
ständen des  Angreifers.  Gerade  die  unaufhörliche 
Bedrängnis  ist  es,  welche  schließlich  zum  Verlassen 
der  Verteidigungsstellung  zwingt." 

Die  vierte  blaue  Armee  trifft  bei  Hagenau  bereits 
am  18.  April  mit  dem  Feind  zusammen  und  schlägt 
sie  bis  zum  Eintritt  der  Dunkelheit  zurück.  Am 
20.  April  siegt  die  vierte  blaue  Armee  über  Rot  an  der 
Saar.  Dagegen  wird  die  zweite  blaue  Armee  am 
20.  April  bei  Trier  zum  Rückzug  gezwungen.  Die  durch 
Belgien  vordringende  zweite  Armee  erkämpft  —  nach- 
dem die  belgische  Besatzung  von  Lüttich  ihre  Neu- 
tralität erklärt  —  am  20.  April  bei  Verviers  einen  ent- 
scheidenden Sieg;  der  größte  Teil  der  roten  Truppen 
wird  gefangen  genommen.  So  ist  —  mit  Ausnahme  der 
zweiten  Armee  —  bis  zum  20.  April  Blau  überall  sieg- 
reich. Der  rote  Mißerfolg  wird  dem  Verzicht  auf  eine 


5   Ei»ner,  G«ummelte  Schriften.  I. 


kräftige  Durchführung  des  Angriffs  Verfahrens  zu- 
geschrieben. „Es  fehlt  im  großen  ganzen  der  uner- 
schütterliche Wille,  dessen  der  Erfolg  im  Kriege 
bedarf." 

Wie  zu  Lande,  so  ist  auch  zur  See  Blau  zunächst 
durch  den  überraschenden  Überfall  in  eine  Zwangs- 
lage gebracht  worden.  Trotzdem  siegt  schon  am 
17.  April  bei  Neuwerk  die  blaue  Flotte  über  rote  Ge- 
schwader. In  der  Nacht  vom  16.  zum  17.  April  hatte 
Rot  bei  Emden  Truppen  gelandet,  schifft  sie  aber  — 
nach  dem  Bekanntwerden  von  der  Niederlage  bei 
Neuwerk  —  wieder  ein.  Auch  in  der  Ostsee  waren 
am  17.  in  der  Lübecker  Bucht  rote  Seetruppen  wir- 
kungslos gelandet.  Am  18  April  nachmittags  gelingt 
es  aber  der  blauen  Flotte  in  der  Gegend  der  Doggerbanjc 
die  rote  zum  Kampfe  zu  stellen,  der  günstig  für  Blau 
ausfällt  und  mit  dem  Rückaug  des  roten  Geschwaders 
nach  der  Ostküste  von  England  endet.  Falkenhausen 
nennt  den  Angrifisplan  der  roten  Flotte  großzügig. 
„Er  umfaßt  aber,  auf  die  etwa  doppelte  Überlegenheit 
vertrauend,  zu  viel  auf  einmal."  Dem  stand  auf  blauer 
Seite  „eine  kräftige,  entschlossene  und  geschickte 
Ausnutzung  der  Lage"  gegenüber:  „Ein  Wagnis  blieb 
der  Entschluß  zum  Kampfe  immer  noch,  aber  er 
führte,  wie  so  oft  im  Kriege,  zum  Erfolg." 

Dabei  war  die  Lage  von  Blau  noch  durch  politische 
Rücksichten  ungünstig  beeinflußt  worden.  Die  blaue 
1.  Kavallerie-Division  hatte  infolge  der  Weisungen 
der  obersten  Heeresleitung  das  Betreten  holländischen 
Gebietes  vermieden.  Diese  Weisungen  „wurden  augen- 
scheinlich schärfer  aufgefaßt,  als  sie  beabsichtigt 
waren.  Denn  eine  Hintansetzung  kriegerischer  Zwecke 
kann  die  blaue  oberste  Heeresleitung  nicht  im  Sinne 
gehabt  haben,  wenn  sie  aus  politischen  Rücksichten 
die  Forderung  stellte,  das  Betreten  holländischen 
Gebiets  möglichst  zu  vermeiden".  Nach  der  roten 
Neutralitätsverletzung  bewegten  sich   blaue  Streif- 


66 


patrouillen  „mit  großer  Zurückhaltung  auf  blauem 
Gebiet". 

Nach  den  unerwarteten  Seesiegen  vom  17.  und 
18.  April  ist  die  Lage  der  roten  Hilfstruppen  so  schwie- 
rig geworden,  daß  deren  Regierung  in  Friedensver- 
handlungen eintritt,  zumal  Holland,  von  der  blauen 
Diplomatie  gewonnen,  seine  Zurückhaltung  gegen 
Rot  aufzugeben  droht.  Schon  am  20.  April  wird  der 
Kriegszustand  zwischen  Blau  und  den  roten  Hilfs- 
truppen aufgehoben.  Holland  verbündet  sich  mit 
Blau  und  gestattet  den  Durchmarsch  von  blauen  Trup- 
pen sowie  seiner  Bahnen  und  Häfen  gegen  Entschädi- 
gung. Ähnliche  Verhandlungen  werden  auch  mit 
Belgien  eingeleitet. 

In  der  Nacht  vom  20.  zum  21.  April  beschließt  die 
oberste  blaue  Heeresleitung,  den  von  Anfang  an  ge- 
hegten Gedanken  einer  nördlichen  Umgehung  der 
ausgedehnten  roten  Befestigungstruppen  von  Verdun 
bis  Nancy  mit  allen  verfügbaren  Kräften  ungesäumt 
in  Angriff  zu  nehmen.  Aus  dem  großen  Hauptquartier 
in  Homburg  ergeht  also  am  21.  April  vormittags  an 
die  Oberkommandos  der  Befehl:  „Auf  allen  Punkten 
ist  sofort  Vormarsch  fortzusetzen."  Für  die  erste 
Armee  ist  der  Weg  durch  Belgien  frei.  Demgemäß 
rücken  auch  die  anderen  blauen  Armeen  vor.  Rot 
weicht  hinter  die  schützende  Maaslinie  in  der  .Rich- 
tung Verdun  zurück.  Am  25.  April  muß  die  oberste 
blaue  Heeresleitung  infolge  veränderter  Verhältnisse 
den  ursprünglichen  Plan  abändern.  Es  darf  keine  Zeit 
verloren  werden,  um  die  Entscheidung  herbeizuführen. 
Den  blauen  Truppen  werden  die  größten  Anstrengun- 
gen zugemutet.  Am  28.  April  wird  an  beiden  Maas- 
ufern die  Entscheidungsschlacht  geschlagen,  die  das 
Große  Hauptquartier  von  Stenay  aus  leitet.  Die 
Roten  werden  zum  Rückzug  gezwungen,  die  teilweise 
in  aufgelöste  Flucht  ausartet.  Der  leitende  Gedanke 
von  Blau,  Umgehung  des  roten  linken  Flügels  mit 

5«  67 


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starken  Massen,  „war  mit  Anwendung  äußerster  Kraft 
folgerichtig  und  einheitlich  bis  zu  den  letzten  Zielen 
durchgeführt  worden". 

So  ist  binnen  13  Tagen,  nach  Beginn  der  blauen 
Offensive,  der  Weltkrieg  entschieden,  ohne  einen 
einzigen  —  Spatenstich! 

Januar  1915. 


68 


Die  Neunte. 


Das  Werk  der  Zeit. 

Die  nachfolgenden  Betrachtungen  »ollen  die 
organisierten  Arbeiter  in  den  größeren  Partei- 
orten anregen,  sich  um  Aufführungen  der 
Neunten  Symphonie  zu  bemühen.  Als  1870 
Pari»  belagert  wurde,  spielte  die  Große  Oper 
mitten  in  der  hungernden  Millionenstadt  Beet- 
hovens Symphonien;  in  den  Logen  lauschten 
verwundete  Soldaten ,  und  über  alle  kamen, 
bei  des  Deutschen  Beethoven  Musik,  wei- 
hende Augenblicke  des  Trostes  und  des  Glücke». 

Die  Berliner  Freie  Volksbühne  veranstaltete  einmal 
—  es  ist  geraume  Zeit  her  —  einen  Beethoven- Abend. 
Jahre  waren  vergangen.  Da  erhielt  ich,  ein  paar 
Wochen  vor  Weihnachten,  von  einer  Berliner  Arbeite- 
rin einen  Brief.  Sie  erinnerte  an  jenen  ihr  unvergeß- 
lichen Abend;  besonders  seien  ihr  auch  Worte  eine 
Erinnerung  fürs  Leben  geblieben,  die  damals  von 
Beethoven  verlesen  wurden.  Sie  bäte  mich,  ihr  zu 
sagen,  wo  sie  das  finden  könne;  sie  wolle  es  in  Blinden- 
schrift abschreiben  und  es  einer  blinden  Freundin  zu 
Weihnachten  schenken.  Der  Brief  erschütterte  mich 
im  tiefsten.  Welch  reiches  Leben  in  dieser  armen  Frau, 
die  mit  einem  Hauch  der  Seele  Beethovens  durchs 
Leben  ging,  und  von  diesem  Reichtum  einer  unglück- 
lichen Freundin  gütig  sinnvoll  mitzuteilen  begehrte! 
Und  welche  Unendlichkeit  ewig  aufrichtender  Kraft, 
die  von  der  großen  menschlich-künstlerischen  Persön- 
lichkeit ausströmt  und  noch  in  fernen  Zeiten  dem 
verlorensten  Leben  einen  Schimmer  beklommenen 
Glückes  zu  spenden  vermag ! 


69 


Es  war  das  Heiligenstädter  Testament,  das  solchen 
unauslöschlichen  Eindruck  in  der  Besucherin  des 
Beethoven- Abends  hinterlassen  hatte;  jenes  stammelnde 
Bekenntnis  des  erst  32  jährigen,  beinahe  schon  tauben 
Mannes: 

„O  ihr  Menschen,  die  ihr  mich  für  feindselig,  störrisch 
oder  misanthropisch  haltet,  wie  unrecht  tut  ihr  mir, 
ihr  wißt  nicht  die  geheime  Ursache  von  dem,  was  euch 
so  scheint,  mein  Herz  und  mein  Sinn  waren  von  Kind- 
heit an  für  das  zarte  Gefühl  des  Wohlwollens;  selbst 
große  Handlungen  zu  verrichten,  dazu  war  ich  immer 
aufgelegt,  aber  bedenket  nur,  daß  seit  6  Jahren  ein 
heilloser  Zustand  mich  befallen,  durch  unvernünftige 
Ärzte  verschlimmert,  von  Jahr  zu  Jahr  in  der  Hoffnung 
gebessert  zu  werden,  betrogen,  endlich  zu  dem  Über- 
blick eines  dauernden  Übels  gezwungen,  mit  einem 
feurigen,  lebhaften  Temperamente  geboren,  selbst 
empfänglich  für  die  Zerstreuungen  der  Gesellschaft, 
mußte  ich  früh  mich  absondern,  einsam  mein  Leben 
zubringen,  wollte  ich  auch  zuweilen  mich  einmal  über 
alles  das  hinaussetzen,  o  wie  hart  wurde  ich  über  die 
verdoppelte  traurige  Gefahr  meines  schlechten  Ge- 
höres dann  zurückgestoßen,  und  doch  war's  mir  nicht 
möglich,  den  Menschen  zu  sagen:  sprecht  lauter, 
schreit,  denn  ich  bin  taub;  ach,  wie  wäre  es  möglich, 
daß  ich  dann  die  Schwäche  eines  Sinnes  zugeben  sollte, 
der  bei  mir  in  einem  vollkommneren  Grade  als  bei 
andern  sein  sollte,  einen  Sinn,  den  ich  einst  in  der  größt 
ten  Vollkommenheit  besaß,  in  einer  Vollkommenheit, 
wie  ihn  wenige  von  meinem  Fache  gewiß  haben,  noch 
gehabt  haben  —  o  ich  kann  es  nicht;  drum  verzeiht, 
wenn  ihr  mich  da  zurückweichen  sehen  werdet,  wo 
ich  mich  gerne  unter  euch  mischte,  doppelt  wehe  tut 
mein  Unglück,  indem  ich  dabei  verkannt  werden  muß, 
für  mich  darf  Erholung  in  menschlicher  Gesellschaft, 
feinere  Unterredungen,  wechselseitige  Ergießungen 
nicht  statthaben,  fast  nur  so  viel,  als  es  die  höchste 


70 


Notwendigkeit  fordert,  darf  ich  mich  in  Gesellschaft 
einlassen,  wie  ein  Verbannter  muß  ich  leben.  .  . 

„Gottheit,  du  siehst  herab  auf  mein  Inneres,  du 
kennst  es,  du  weißt,  daß  Menschenliebe  und  Neigung 
zum  Wohltun  drin  hausen.  0  Menschen,  wenn  ihr 
einst  dieses  leset,  so  denkt,  daß  ihr  mir  Unrecht  getan 
und  der  Unglückliche,  er  tröste  sich,  einen  Seines- 
gleichen zu  finden,  der,  trotz  aller  Hindernisse  der 
Natur,  doch  noch  alles  getan,  was  in  seinem  Vermögen 
stand,  um  in  die  Reihe  würdiger  Künstler  und  Men- 
schen aufgenommen  zu  werden." 

Wer  Beethovens  Musik  in  seiner  dunkelsten  Tiefe 
begreifen  will,  der  erfülle  sich  zuvor  mit  der  Stimmung 
des  Heiligenstädter  Testaments.  Ein  Verbannter  des 
Lebens,  ein  Ausgestoßener  des  Glücks  hat  dem  Schick- 
sal diese  Kunst  abgetrotzt;  ein  Mensch,  der  das  Herr- 
lichste seines  Schaffens  nicht  mehr  sinnlich  wahrzu- 
nehmen vermochte,  der  seine  Musik  nicht  mit  dem  Ohr 
mehr  hörte,  sondern  geistig  schaute,  mit  dem  Herzen 
fühlte.  Erst  wer  das  gemeine  Leben  ganz  verloren,  so 
scheint  es,  ist  berufen,  das  höhere,  reinere,  das  wahre 
Leben  zu  erschaffen,  das  in  der  großen  Kunst  sich 
abbildet.  Und  einem  solchen  Märtyrer  künstlerischen 
Schaffens  wird  auch  jener  geheimnisvolle  Weltblick 
zu  eigen,  der  ihn  befähigt,  in  den  Eingebungen  seines 
Genies  die  Visionen  der  Menschheit,  des  Erdenschick- 
sals zu  gestalten.  Das  ist  das  eigentliche  Wunder  der 
Ewigkeitskunst.  Jede  Zeit  findet  in  ihr  aufs  neue  sich 
offenbart.  Ladet  euch  heute  bei  Shakespeare  zu  Gaste, 
und  ihr  werdet  in  jedem  Worte  Deutung  und  Lösung 
finden  für  all  das  Furchtbare,  Unbegreifliche,  was  euch 
heute  bedrückt.  Und  wenn  ihr  ganz  ratlos  und  ver- 
zagt geworden,  so  rettet  euch  in  die  Neunte1  Sympho- 
nie Beethovens,  und  ihr  werdet  auf  einmal  dieser  qual- 
vollen Gegenwart  euch  klar  bewußt  und  findet  aus 
Wirrnis,  Pein  und  Zerstörung  den  rettenden  Ausweg. 

Das  Ausgestoßensein  Beethovens  aus  der  mensch- 


7i 


liehen  Geselligkeit,  sein  körperliches  Leiden,  die  tragi- 
komische Misere  seines  häuslichen  Eremitendaseins, 
seine  wirtschaftlichen  Bedrängnisse,  die  schrullen- 
haften Launen  des  halb  verwilderten  Sonderlings  — 
all  das  wird  nicht  etwa,  als  Gegensatz  des  öden,  zu- 
fälligen Daseins  und  des  idealen  Künstlertraumes  und 
Künstlerrausches,  Inbegriff  seiner  Musik.  Seine  Ton- 
gebilde erfüllt  nicht  das  feindliche  Verhältnis  des  Künst- 
lers zu  den  Bedingungen  seines  privaten  Daseins.  In 
Beethovens  Kunst  rinnt  das  Blut  der  Menschheit. 
Die  Weltgeschichte  ringt  und  brennt  in  seiner  Musik. 
Alle  menschliche  Kreatur  erscheint  als  ausgestoßen 
aus  dem  vershwenderisch  sich  darbietenden  Erden- 
glück der  Natur,  als  betrogen  um  ihre  Seligkeit.  Aber 
der  Künstler,  als  barmherzige  Gottheit,  überwindet 
für  die  Menschheit  den  zerstörenden  Gegensatz  und 
führt  sie  auf  die  lichten  freien  Höhen  der  Zukunft. 

Die  „Neunte"  gehört  dem  letzten  Jahrfünft  von 
Beethovens  Leben  an,  das  1770  aufging  und  1827  er- 
losch; jener  Zeit,  da  er  wie  in  wissender  Zwiesprache 
mit  dem  Tode,  den  geheimsten  Regungen  seiner  Seele 
die  klingende  Form  aus  tief  versenkter  Schöpferkraft 
in  einer  von  jedem  äußeren  Einfluß  unberührter  Ur- 
sprünglichkeit reif  und  reich  zu  finden  wußte:  Schöp- 
fungswunder, die  man  erleben,  nie  begreifen  kann. 

Es  wäre  eine  armselige  Schulmeistert,  die  vier  Sätze 
der  Neunten  Symphonie  im  einzelnen  auszudeuten, 
ihre  musikalischen  Motive,  ihre  Verschlingung,  Ver- 
änderung, Steigerung  zu  sezieren.  Man  erfülle  sich 
mit  der  Andacht  der  Erhabenheit  und  man  wird, 
wenn  nicht  das  erste  Mal  alles  im  Innersten  verstehen, 
doch  die  Größe  fühlen  und  im  Hören  selber  groß 
werden.  Der  erste  Satz,  der  sich  wundersam  aus  dem 
einfachen,  geheimnisvoll  raunenden  Spiel  des  Geigen- 
stimmens  auftürmt,  ist  alles  wilde  Gärung,  Kampf, 
Trotz,  Verzweifllung.  Der  zweite  Teil  tollt,  in  grellen 
Kontrast,    in   trunkenem   Lebensjubel;  Betäubung, 


72 


Selbstvergessenheit.  'Das  ist  Beethovens  Humor,  der 
über  den  stürzenden  Trümmern  der  Welt  in  das 
Krachen  und  Toben  verwegen  hineinlacht  und  den 
Untergang  mit  taumelnden  Reigen  lebensglühender, 
zugleich  unendlich  geistiger  und  unendlich  sinn- 
licher Spukgesellen  bevölkert.  Das  Leben  fordert 
dennoch  sein  Recht!  Aber  das  wilde  Heer  entfesselter 
Lust  braust  vorüber.  Die  große  feierliche  Stille  senkt 
sich  herab;  und  aus  der  Einsamkeit  singt  das  Lied  un- 
sagbarer Schwermut  in  die  Nacht,  die  Menschheit  er- 
füllt den  unendlichen  Raum  mit  ihrer  trauernden 
Klage  und  hoffenden  Sehnsucht.  Das  ist  der  dritte 
Satz.  Der  Schlußakt  dieses  musikalischen  Schicksals- 
dramas der  Menschheit  läßt  zunächst  die  Stimmungen 
der  drei  ersten  Teile  in  chaotischem  Ringen  noch  ein- 
mal emportreiben.  Als  das  Entsetzen  zu  fassungs- 
losem Grauen  sich  steigert  und  keine  Entwirrung  mehr 
möglich  scheint,  da  ersteht  in  höchster  Not  die  Men- 
schenstimme als  Erlöserin.  Sie  wehrt  den  dämonisch 
rasenden  Instrumenten  ab:  Nicht  diese  Töne!  Und 
wie  aus  der  Ferne  erklingt  ganz  einfach  in  Melodie  und 
Rhythmus,  Schillers  Lied  an  die  Freude.  Das  Volks- 
lied wächst  zum  Völkerlied  empor.  Mächtig,  unwider- 
stehlich schreiten  die  Chöre  aufwärts.  Das  Weltall 
hallt  wieder  von  den  Freudenrufen  der  erlösten  Mensch- 
heit. Die  Völkerfreiheit  und  der  Völkerfrieden  er- 
richtet im  Stürmen  sein  Reich.  Diesen  Kuß  der  ganzen 
Welt! 

Als  Beethoven  über  seiner  Neunten  Symphonie 
sann,  schrieb  er  in  seine  Notizhefte  das  Wort  aus  Kants 
Kritik  der  praktischen  Vernunft:  „Das  moralische 
Gesetz  in  uns  und  der  gestirnte  Himmel  über  uns." 
Dieses  doppelte  Wesen  menschlicher  Erhabenheit,  die 
Erkenntnis  der  unendlichen  Natur  und  der  Kampf 
um  die  Erlösung  der  Menschheit  zu  höchster  sozialer 
Gemeinschaft,  wird  in  der  „Neunten"  Gefühl,  Klang, 
Wirklichkeit. 


73 


Vor  einem  Jahrzehnt,  am  18.  März  1905,  sprach 
die  Neunte  Symphonie  zum  ersten  Mal  vor  —  Ar- 
beitern. Die  Berliner  Freie  Volksbühne  hat  das  ge- 
schichtliche Verdienst  dieser  Tat.  Damals  war  es  ein 
Wagnis.  Es  gelang;  und  seitdem  wurde  wiederholt 
Proletariern  das  Fest  bereitet.  Damals  schrieb  ich 
diese  Sätze:  „War  einst  für  den  Weitblickenden  die 
Gründung  des  kleinsten  Arbeitervereins  wichtiger  als 
die  Schlacht  bei  Königgrätz,  so  darf  man  heute  kühn- 
lich sagen:  Was  bedeutet  die  Schlacht  bei  Mukden 
neben  dieser  Siegesfanfare  des  zur  Menschheit  er- 
wachten Proletariats !  Die  große  Kunst  flüchtete  einst 
zu  Wort  und  Ton,  um  das  Leben  vergessend  ertragen 
zu  können.  Das  Idealreich  der  Kunst  stand  fremd 
und  verabscheuend  neben  dem  Leben,  das  nichts  mit 
ihr  gemein  hat.  Die  Kunst  ist  nicht  mehr  Flucht  aus 
und  vor  dem  Leben,  sondern  das  Leben  selbst.  In 
dem  gewaltigen  Klassenkampf  des  Proletariats  glüht 
der  Götterfunke  der  Freude,  der  aus  der  Gesellschaft 
des  Elends  und  des  Zufalls  zu  dem  Kunstwerk  der  neuen 
Gesellschaft  leuchtet.  Wenn  die  Menschheit,  durch 
den  Kampf  des  proletarischen  Sozialismus  befreit  und 
gereift,  dereinst  an  dem  Welthymnus  der  Neunten  er- 
zogen wird,  wenn  sie  zum  Katechismus  ihrer  Seele 
wird,  dann  erst  ist  Beethovens  Kunst  zur  Heimat 
zurückgekehrt,  aus  der  sie  floh:  zum  Leben. 44 

Heute  scheint  die  Welt  weiter  von  jenem  Ziel  ab- 
geirrt denn  je.  Man  braucht  etwa  nur  aus  der  Bio- 
graphie Beethovens  zu  erinnern,  daß  seine  Familie 
nach  Bonn  aus  der  Gegend  von  —  Löwen  eingewan- 
dert ist,  um  zu^erschauern.  Der  Sinn  der  Menschheit 
ist  wie  verloren,  wie  verschüttet.  Gerade  in  dieser 
Zeit  aber  gewinnt  Beethovens  Kunst  die  ganze  Quell- 
kraft des  Lebens.  Lauscht  in  der  Neunten  der  Mär 
eures  Schicksals  und  ihr  findet  euren  Glauben,  eure 
Bestimmung,  eure  Menschheit  wieder! 

März  1915. 


74 


Krottingen. 


Eine  Erinnerung. 

Die  deutschen  Truppen  haben  Krottingen  be- 
setzt !  Der  Name  weckt  mir  nicht  verblichene  Erinne- 
rungen. 

Es  war  nach  dem  Königsberger  Hochverratsprozeß, 
m  den  letzten  Julitagen  des  Jahres  1904.  Ich  wage  es, 
den  im  Vorwärts verlag  erschienenen  Bericht  über  jenen 
Prozeß  gerade  heute  dem  allgemeinen  Studium  zu 
empfehlen,  obwohl  ich  der  Herausgeber  bin:  er  liest 
sich  gegenwärtig  wie  ein  Buch  des  Schicksals ;  wer  über 
unsere  Gegenwart  und  unsere  Zukunft  urteilen  will, 
muß  die  Offenbarungen  von  Königsberg  lebendig 
erhalten. 

Nach  der  aufreibenden  Arbeit  und  Erregung  der 
Prozeßwochen  wollte  ich  ein  paar  Tage  verschnaufen, 
zugleich  das  Grenzgebiet,  das  durch  den  Schriften- 
schmuggel und  durch  allerlei  seltsam  geartete  Zeugen 
mein  Interesse  erweckt  hatte,  aus  eigener  Anschauung 
kennen  lernen  und  schließlich  wenigstens  ein  paar  Züge 
russischer  Luft  einatmen. 

Wir  —  einer  der  Prozeßanwälte,  der  seitdem  ein 
tragisches  Ende  gefunden  hat  —  wählten  den  Weg  zu 
Wasser.  Es  ging  über  das  stille  unendliche  kurische 
Haff,  vorbei  an  der  schmalen  langgestreckten  „preus- 
sischen  Wüste44,  dieser  weiten  verlorenen  Einsamkeit 
der  Ostseedünen,  deren  gefährliches  Wandern  man 
durch  ebenso  mühselige  wie  wenig  erfolgreiche  An- 
pflanzungen junger  Kieferntriebe  aufzuhalten  versucht. 
Mitten  in  der  gelben  Öde  eine  Oase:  Schwarzort,  das 
Bernsteindorf,  grün  schimmernd  zwischen  Meer  und 

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Haff.  Gegen  Sonnenuntergang  schwammen  wir  in  die 
See  hinaus,  und  dann  umfing  uns  die  holdeste  Mond- 
scheinnacht  bei  der  blonden  Eva.  Ach,  es  war  keine 
Liebesgeschichte,  sondern  ein  so  getaufter  Hügel,  auf 
dem  wir  wohl  bis  Mitternacht  weilten  und  über  die 
Und  wogende  Fläche  des  leuchtenden  Meeres  irgend- 
wohin in  die  Ferne  träumten. 

Am  nächsten  Vormittag  waren  wir  in  Memel.  Ich 
habe  noch  heute  den  Eindruck  einer  halb  versunkenen 
Stadt.  Nur  auf  dem  Fischmarkt,  wo  die  litauischen 
Bauern  Bilder  fremden  Volkslebens  boten,  ging  es 
lebendig  her.  Sonst  schien  die  Stadt  wie  ausgestorben. 
Seit  Jahr  und  Tag  war  eine  Straßenbahn  zum  Bahn- 
hpf  fertig.  Aber  die  Leitungsdrähte  fanden  noch 
immer  keine  Verwendung.  Leere  Kneipen  mit  eng- 
lischen Inschriften,  eine  englische  Kirche  mit  zer- 
brochenen Scheiben  erinnerte  noch  an  die  Glanzzeiten 
da  Memel  für  die  englischen  Segelschiffe  ein  Rast- 
hafen war  und  in  den  Straßen  sich  englisches  Schiffs-1 
volk  tummelte.  Das  war  längst  vorüber.  Die  eng- 
lischen Dampfschiffe  verkehrten  direkt  mit  den  rus- 
sischen Häfen,  und  die  paar  fremden  Schiffe,  die  traurig 
in  dem  toten  Hafen  lagen,  blieben  auch  nicht  lange: 
der  Dampfkrahn  schafft  schnelles  Entladen.  Nur  der 
russisch-deutsche  Holzhandel  blühte  noch  —  damals! 

Der  nördlichste  Ort  des  deutschen  Reichs  — 
Nimmersatt  —  liegt  freundlich  und  fruchtbar  in  blin- 
kender Sauberkeit  an  der  See  gebettet.  Hier  herrschte 
ein  reger  Grenzverkehr,  nicht  nur  von  Schmugglern, 
sondern  auch  von  russischen  Uniformen,  wie  sie  die 
russischen  Gymnasiasten  und  die  russischen  Offiziere 
tragen.  Ein  flinkes  Wäglein  sollte  uns  über  die  Grenze 
bringen.  Beim  letzten  Haus  des  deutschen  Nordostens 
machten  wir  Halt:  Es  war  die  einsame  Schenke  des 
wackeren  Hirsch  Feinstein,  der  zu  den  Zeugen  des 
Prozesses  gehörte.  In  der  Wirtsstube  war  ein  unruhiges 
Gewühl  verdächtiger  Gestalten;  nicht  recht  geheuer, 


76 


aber  Hirsch  Feinsteins  rothaarige  Tochter  beherrschte 
munter  und  energisch  die  ungebärdigen  Gäste. 

Und  nun  begann  Rußland!  Man  bedurfte  keines 
Grenzzeichens;  man  sah  sofort,  was  russisch  war.  Das 
grüne,  sorgsam  bebaute  preußische  Land  ging  jäh  in 
eine  dürre,  struppige  Grashalde  über,  die  mit  großen 
Steinen  dicht  besät  war;  seitdem  die  Eiszeit  diese 
erratischen  Blöcke  aus  den  Bergen  Skandinaviens  her- 
gebracht hat,  schien  kein  Pflug  über  diese  weite  leere 
Grenzmark  gegangen,  auf  der  selbst  Ziegen  hätten 
verhungern  müssen.  Dann  aber  erhob  sich  am  Ein- 
gang Rußlands,  vor  der  ersten  russischen  Stadt  Krot- 
tingen,  ein  schmuckes  Haus,  alles  ringsum  durch  offen- 
baren Wohlstand  überragend.  Es  war  das  Zollhaus. 
Wir  wußten  die  Ursachen  solchen  Behagens.  Die 
Beamten  haben  ihre  Verträge  mit  den  Schmugglern 
und  beziehen  für  ihre  gewissenhafte  Nichttätigkeit 
gewisse  Prozente  von  den  gepaschten  Waren.  Wir  aber 
hatten  keinen  Vertrag  mit  dem  mürrisch  und  tückisch 
blickenden  Wächter  Rußlands.  Es  dauerte  lange,  bis 
er  unsere  Grenzpässe  durchstudiert  und  endlich  in 
Ordnung  befunden  hatte.  Wir  durchforschten  indessen 
einen  großen  Aushang,  der  dreisprachig  —  russisch, 
litauisch  und  deutsch  —  uns  verkündete,  was  alles  ver- 
boten sei  und  streng  bestraft  werde.  Es  las  sich  grob, 
barbarisch,  abschreckend;  wir  glaubten  jeden  Augen- 
blick, eine  Faust  würde  uns  packen  und  nach  Sibirien 
schleppen.  Das  Gefühl  völliger  Rechtlosigkeit  begann 
in  dem  Augenblick,  da  wir  dieses  russische  Amts- 
gebäude betreten  hatten.  Sonst  war  außer  uns  nur 
noch  eine  recht  russische  Erscheinung  männlichen 
Geschlechts  da,  die  sich  faul  auf  einer  Pritsche  räkelte 
und  augenblicklich  eine  Pause  zwischen  zwei  Schnäp- 
sen verschlief ;  und  ein  jüdischer  Reisender  aus  Deutsch- 
land, dem  der  Beamte  geheimnisvolle  Zeichen  auf 
seinen  Paß  geschmiert  hatte  und  der  deshalb  ängstlich, 
wie  unter  dem  Druck  eines  ungewissen  Schicksals  in  die 

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Stadt  ging.  Wir  aber  durften  passieren,  freilich  nicht 
vollständig.  Unseren  photographischen  Apparat  muß- 
ten wir  zurücklassen.  „Warum  ?"  „Es  ist  Krieg." 
„Aber  doch  auf  der  anderen  Seite,  in  Asien."  „Es  ist 
Krieg."  Dabei  blieb  es.  Wir  durften  in  Krottingen 
nicht  photographieren,  weil  in  der  Mandschurei  mit 
Japan  gekriegt  wurde!  Bald  merkten  wir  noch  mehr 
Rußland.  Um  uns  kreiste  ein  radelnder  Kosak,  ver- 
folgte uns  und  ließ  uns  nicht  aus  den  Augen. 

Nächst  der  Stadt  ist  ein  großer  polnischer  Herren- 
sitz. Ein  üppiger  Park,  sogar  ein  Palmenhaus.  Frauen 
arbeiteten  schweigend,  gebückt.  Alles  war  unordent- 
lich, verfallen.  Es  roch  nach  polnischen  Romanen. 
Wie  kann  es  Reichtum  in  dieser  Öde  aushalten  ?  Auto- 
mobile gaben  uns  die  Antwort.  Der  gnädige  Herr  war 
in  Ostende,  und  nächste  Woche  wird  die  gnädige  Frau 
ins  Automobil  steigen  und  ins  Salzkammergut  fahren. 

Krottingen  ist  wahrhaftig  eine  Stadt,  es  wohnen 
Menschen  darin:  zumeist  Litauer  und  Juden.  Aber 
es  ist  ein  Gewirr  elender,  zerlöcherter  Hütten,  die 
schief  sich  zur  Erde  neigen,  schmutzige  Holzgerüste, 
die  mit  grauem  Dreck  ausgefüllt  scheinen.  Inmitten 
der  Baracken  ein  schmutziger  Tümpel,  in  dem  zer- 
lumpte Frauen  zu  einem  unerfindlichen  Zwecke 
Wäschestücke  schwenken.  Aus  dem  Unflat  der  Be- 
hausungen ragt  nur  die  Kirche  farbig  hervor.  Ein 
Junge,  der  unablässig  sich  in  dem  schwarzen  Kraus- 
haar kratzt,  führt  uns  in  den  byzantinischen  Bau. 
Mein  Gefährte  erfüllt  den  leeren  Raum  mit  Orgel- 
spiel; der  kleine  Führer  erstarrt  ob  solchen  Übermuts 
vor  Schrecken  und  wird  erst  durch  einige  Münzen 
wieder  erweckt.  Draußen  in  der  blendenden  Sonne 
erwartet  uns  schon  unser  Aufpasser:  der  stumm 
radelnde  Kosak. 

Wir  haben  Zeit.  Es  ist  um  Mittag.  Wir  hatten 
zuvor  gesehen,  wie  Rußland  durch  eine  schwere  Kette 
geschlossen  wurde,  wie  eine  Haustür  am  Abend. 

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Während  der  Mittagspause  hörte  der  Grenzverkehr 
auf,  niemand  durfte  heraus,  niemand  hinein.  Wir 
waren  wie  gefangen.  Und  wie  Gefangene  schienen 
auch  alle  diese  ärmlichen,  müden,  traurigen  Menschen, 
als  ob  sie  immer  eine  Gefahr  im  Rücken  spürten,  einen 
Hinterhalt,  Angeber,  Häscher.  Nirgends  entdeckten 
wir  ein  Zeitungsblatt.  Obwohl  ein  Ausflug  nach  Krot- 
tingen  ein  beliebtes  Vergnügen  der  Königsberger  ist, 
schien  man  hier  wie  außerhalb  der  Welt  zu  leben  und 
gar  nichts  von  den  Dingen  da  draußen  zu  wissen,  tau- 
send Meilen  jenseits  aller  Kultur.  Die  litauische  Be- 
völkerung wirkte  verschlossen  und  versonnen,  wie 
eigenwillige  Sektierer.  Nur  die  jungen  Jüdinnen,  die 
vor  den  Häusern  standen,  blühten  wie  ein  Stück 
Orient:  gesund,  ernst,  von  einer  schwermütig-sinn- 
lichen Schönheit.  Mein  Weggenosse  geriet  in  Ent- 
zücken und  beteuerte,  den  Abenteuerblick  im  Auge, 
er  könne  sich  entschließen,  sich  hier  anzusiedeln.  An- 
reden mußte  er  eine,  auf  jeden  Fall,  es  ging  nicht  anders. 
„Wo  ist  — ".  Er  wußte  nicht  recht,  nach  welcher 
Sehenswürdigkeit  von  Krottingen  er  sich  erkundigen 
sollte.  Aufs  Geratewohl  fragte  er  also:  „Wo  ist  das 
Armenhaus?"  Das  schöne  Mädchen  war  erstaunt. 
Aber  Fremde  haben  nun  einmal  ihre  sonderbaren  Ein- 
fälle. Sie  geleitete  uns  bereitwillig  und  schweigsam 
zur  jämmerlichsten  aller  Hütten. 

Wir  treten  in  einen  dunklen  Flur  ein,  der  nach  hin- 
ten einen  Ausgang  zu  einem  engen  Hof  hatte.  Durch 
die  geöffnete  Tür  sehen  wir  uralte  Männer  und  Frauen, 
die  Fische  schuppen  und  salzen,  während  sie  zugleich 
die  schon  zugerichteten  Fische  in  rohem  Zustand 
gierig  verschlingen.  Links  und  rechts  in  dunklen 
Löchern  liegt  es  eng  neben-  und  übereinander  auf 
Brettern  in  modrig  stinkenden  Lumpen.  Ewige  Lara- 
pen in  den  Nischen  verbreiten  eine  rote  Dämmerung. 
Überall  liegen,  kauern  Gestalten,  stumm  die  einen, 
unablässig   lallend    die    anderen,    Krüppel,  Blinde, 

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Blöde,  Sieche.  Wohin  waren  wir  geraten?  Armen-, 
Irren-,  Kranken-,  Idioten-  und  Altershaus  schien  in 
dieser  Hölle  der  Verpestung  und  Verderbnis  vereint. 
Wir  wurden  entdeckt.  Einige  verkrüppelte  Unholde 
erhoben  sich,  umringten  uns  und  bettelten  unter- 
würfig leiernd.  Wir  verteilten  die  paar  russischen 
Münzen,  die  wir  besaßen.  Da  fielen  sie  vor  uns  nieder 
und,  Segenswünsche  speiend,  küßten  sie  brünstig 
unsere  staubigen  Stiefel .  .  . 

Es  hielt  uns  nicht  länger.  Wir  flohen  aus  dem  Jam- 
merhause, aus  der  Stadt,  aus  Rußland.  Jenseits  der 
Grenze  wagten  wir  uns  wieder  als  Menschen  zu  fühlen. 
Aber  erst  in  dem  bei  Königsberg  gelegenen  Ostseebad 
Cranz  wich  der  Druck  von  mir.  Gerade  als  ich  den 
Strand  erreichte,  wurden  Zettel  an  den  Anschlag- 
tafeln angeklebt:  Plehwe,  der  verhaßteste  Gewalt- 
haber Rußlands,  war  durch  eine  Bombe  ausgetilgt! 
Ich  warf  mich  in  den  durchsonnten  Sand  und  bis  in 
die  sinkende  Nacht  blieb  ich  reglos"  liegen,  in  tiefem 
bebenden  Frieden,  als  umarmte  ich  irgendeine  neue 
Freiheit.  Das  Meer  aber  begann  zu  brausen  .  .  . 

Seitdem  —  wenn  ich  an  Rußland  denke,  sehe  ich 
immer  das  Armenhaus   von    Krottingen!  .  .  . 

März  1915. 


80 


Das  Kursbuch  als  Weltgeschichte. 


Die  Genesis  der  Emser  Depesche,  Von  Richard 
Fester.  Berlin  1915. 

Der  diplomatische  Ursprung  eines  Krieges  ist 
nicht  der,  durch  die  politischen  und  wirtschaftlichen 
Triebkräfte  bestimmte  geschichtliche  Ursprung  des 
Krieges.  Die  Akten  der  Diplomaten,  die  Briefe  der 
Staatsoberhäupter  verhalten  sich  zu  der  tatsächlichen 
Verursachung  der  Ereignisse  wie  die  Ausführung 
einer  Dichtung  zu  dem  im  voraus  bestimmten,  in 
seinem  Schluß  feststehenden  Plan.  Es  wird  nachträg- 
lich die  Motivierung,  die  Fortführung  im  einzelnen 
der  Handlung  bis  zu  dem  von  vornherein  gewollten 
Endergebnis  ausgearbeitet.  Dabei  konstruiert  der 
Dichter  nicht  etwa  alles  in  logischer  Folge,  Schritt 
für  Schritt,  er  läßt  sich  durch  Zufälle  treiben,  gestattet 
seinen  Eingebungen  einen  weiten  Spielraum,  er  wählt 
Ab-  und  Umwege,  bis  er  endlich  zu  seinem  Ziel  ge- 
langt. 

Für  die  großen  Jahrtausend-Zusammenhänge  der 
geschichtlichen  Entwickelung  ist  die  Kenntnis  der 
diplomatischen  Akten  fast  ganz  belanglos.  Der  mäßige 
Witz  der  Staatsmänner,  die  die  Dinge  zu  schieben 
glauben,  ist  doch  nur  schließlich  das  bewußtlose  Werk- 
zeug geschichtlicher  Notwendigkeiten.  Aber  durch- 
aus nicht  alles,  was  geschieht,  ist  im  Sinne  einer  ver- 
nünftigen Fortentwicklung  der  Menschheit  „not- 
wendig". Tatsachen  lassen  sich  zwar  weder  bestreiten 
noch  ungeschehen  machen,  deshalb  sind  jedoch  Tat- 
sachen durchaus  nicht  immer  weltgeschichtliche  Not- 
wendigkeiten. Die  Kriege  sind  solche  Tatsachen,  die 


«   Eisner,  Gesammelte  Schriften.  I. 


81 


häufigsten  und  wirksamsten,  deren  „Notwendigkeit" 
oder,  was  in  geschichtlicher  Bedeutung  dasselbe  ist, 
deren  Recht  nachzuweisen  in  jedem  einzelnen  Falle 
eine  schwierige  Aufgabe  ist.  Dieses  schlechte  Gewissen 
der  Menschen,  ob  es  denn  wirklich  die  ihnen  zuge- 
wiesene gewaltige  Aufgabe  durch  Kriege  zu  fördern 
vermöchte,  wird  schon  durch  die  durchgängige  Be 
mühung  bewiesen,  die  Verantwortung  für  einen  Krieg 
immer  den  andern  zuzuschieben. 

Kriege  müssen,  wie  sehr  sie  in  den  großen  geschicht- 
lichen Gegensätzen  wurzeln,  letzten  Endes  von  irgend- 
welchen Persönlichkeiten  herbeigeführt  werden.  Sie 
werden  in  der  Tat  auch  immer  „gemacht*',  in  dem- 
selben Grade  willkürlich  gemacht,  als  die  kriege- 
rische Exekution  auf  die  engsten  Zirkel  herrschender 
Klassen  und  Mächte  beschränkt  ist.  So  ist  es  für  die 
Entstehungsgeschichte  von  Kriegen  die  Kenntnis  der 
diplomatischen  und  auch  dynastischen  Urkunden  nicht 
zu  entbehren. 

Natürlich  sind  diese  schriftlichen  Zeugnisse  staats- 
männischer Betriebsamkeit  niemals  wörtlich  zu  nehmen. 
Sie  sind  vielfach  schon  in  Hinblick  auf  künftige  Ver- 
öffentlichung, zur  Gewinnung  der  öffentlichen  Mei- 
nung stilisiert.  Dennoch  wäre  es  falsch,  den  Wert 
solcher  Urkunden  nun  völlig  zu  leugnen.  Es  ist  ja 
nicht  eine  einzige  Partei,  die  redet;  auch  der  Gegner 
arbeitet  und  er  hat  das  entgegengesetzte  Interesse, 
den  anderen  zu  kompromittieren.  So  verrät  für  den 
kritisch  begabten  und  nur  auf  die  Erkenntnis  der  Wahr- 
heit gerichteten  Geschichtsforscher  doch  der  Dialog 
der  gegeneinander  spielenden  Parteien  die  v  irklichen 
Tatsachen.  Außerdem  hat  das  Kriegsspiel  der  Diplo- 
maten, bevor  es  in  den  Ernst  der  militärischen  Waffen 
übergeht,  ja  auch  den  Zweck,  unmittelbar  auf  den 
Gang  der  Ereignisse  einzuwirken;  damit  werden  die 
Noten  der  Diplomaten  in  einem  gewissen  Maaße 
selbst  Triebkräfte  des  Geschehens. 

82 


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Nach  44  Jahren,  nach  Anhäufung  einer  kaum  noch 
übersehbaren  Menge  gelehrter  Forschungen,  herrscht 
über  den  diplomatischen  Ursprung  des  deutsch-fran- 
zösischen Krieges  noch  nicht  die  mindeste  Überein- 
stimmung. Wer  hat  diesen  Krieg  herbeigeführt: 
Frankreich  oder  der  Norddeutsche  Bund,  Napo- 
leon III.  oder  Wilhelm  I.,  die  Ollivier  und  Gramont 
oder  Bismarck  und  Roon?  £in  deutscher  Histo- 
riker, der  es  ernst  mit  der  Wahrheitsforschung  nimmt, 
müßte  noch  heute  darauf  verzichten,  eine  Geschichte 
des  diplomatischen  Ursprungs  des  Krieges  von  1870 
zu  schreiben.  Aus  einem  sehr  einfachen  Grunde: 
England  hat  zwar  früh  sein  Urkundenmaterial  heraus- 
gegeben. Ebenso  Frankreich,  dessen  Regierung  in 
den  letzten  Jahren  sogar  eine  vollständige,  bis  jetzt 
auf  acht  Bände  gediehene  Sammlung  aller  diploma- 
tischen Aktenstücke  der  Vorgeschichte  des  Krieges 
begonnen  hat.  Dagegen  sind  die  preußischen  und 
sonstigen  deutschen  Archivschränke  der  Öffentlich- 
keit bis  zur  Stunde  gesperrt.  Bismarck  erlaubte 
zwar,  mit  boshaftem  Vergnügen,  Herrn  von  Sybel 
und  anderen  einige  wohlarrangierte  Urkunden  zu 
benutzen;  er  hatte  dann  seinen  Spaß,  zu  sehen, 
wie  die  Professoren  auf  solche  ihnen  vorgelegte  irre- 
führende Auslese  kindlich  harmlos  hereinfielen.  Eine 
freie  Benutzung  der  geheimen  Papiere  ist  der  Wissen- 
schaft versagt.  Nur  einmal  wurde  eine  Aktenmappe 
ein  wenig  gelüftet:  damals  als  Caprivi  nachzuweisen 
unternahm,  daß  Bismarck  die  Emser  Depesche  durch 
seine  Redaktion  nicht  gefälscht,  sondern  im  Gegen- 
teil sie  ganz  nach  der  Absicht  seines  königlichen 
Herrn  verwendet  habe.  Auch  die  Briefe  fürstlicher 
und  eingeweihter  politischer  Personen  sind  nur  in 
vorsichtiger  Auswahl  bisher  veröffentlicht  und  zeigen 
gerade  dort  Lücken,  wo  die  Aufklärung  am  dringend- 
sten benötigt  wird.  So  ist  es  bis  jetzt  schlechter- 
dings unmöglich,  die  deutschen  diplomatischen  Be- 


83 


mühungen  und  Verantwortlichkeiten  aktenmäßig  dar- 
zustellen. 

Trotzdem  oder  richtiger:  deshalb  wird  es  immer 
wieder  unternommen,  die  diplomatische  Vorgeschichte 
des  deutsch-französischen  Krieges  zu  schreiben.  Den 
neuesten  Versuch  liefert  eben  der  Hallenser  Ge- 
schichtsprofessor Richard  Fester,  der  über  die 
Genesis  der  Emser  Depesche  ein  ebenso  umfang- 
reiches wie  unfaßbares  ödes  Buch  zusammengeschrieben 
hat.  Fester  fühlt  sich  zu  dieser  Arbeit  einmal  deshalb 
berufen,  weil  er  einen  Teil  der  Sigmaringer  Familien- 
papiere über  die  Hohenzollerische  Kandidatur  für  den 
spanischen  Königsthron  durchwühlen  konnte;  dann 
aber  hauptsächlich  deshalb,  weil  ihm  der  unermeßliche 
Glücksfund  beschieden  gewesen  ist,  ein  —  Eisen- 
bahnkursbuch aus  dem  Sommer  1870  zu  ermitteln. 
Mit  Hilfe  dieses  Kursbuchs  rechnet  er  Abgang  und 
Ankunft  jeden  Briefes,  jeden  Kuriers,  jeder  an  der 
Handlung  beteiligten  Persönlichkeit  auf  die  Minute 
nach.  Und  siehe  da,  alle  Schleier  fallen,  alle  Rätsel 
lösen  sich!  Die  Weltgeschichte  entblößt  sich  in  ihrem 
innersten  Getriebe.  Diese  Festersche  Weltgeschichte 
ist  das  große  unselige  und  doch  wieder  —  dank  der 
Genialität  deutscher  Staatsmannskunst  —  wunder- 
herrlich gewendete  Mißverständnis  von  Briefen,  die 
sich  kreuzen,  von  Boten,  die  den  Anschluß  versäumen, 
von  Fürsten,  die  nicht  rechtzeitig  unterrichtet  werden. 
Wenn  man  zwischen  Ems  und  Sigmaringen  im  Juli  1870 
statt  auf  langem  Eisenbahnwege  Briefe  zu  schreiben, 
telegraphische  Verständigung  versucht  hätte,  wer 
weiß,  ob  die  finstere  Geschichte  Europas  nicht  einen 
andern  Weg  genommen  hätte!  Das  geht  aus  dem 
Kursbuch  unwiderleglich  hervor. 

Fester  konstruiert  den  Gang  der  Handlung  statt 
aus  der  Einsicht  in  die  verschlossenen  Berliner  Akten- 
achränke aus  der  Einsicht  in  Henschels  Fahrpläne. 
Irgendein  neues  Ergebnis  wird  zwar  dadurch  nicht 


84 


gewonnen,  aber  diese  mit  Hilfe  der  Eisenbahnzeiten 
nachgeprüfte  Entlastung  und  Verherrlichung  der  Bis- 
marckschen  Politik  wirkt  schließlich  aufreizender  als 
das  brutalste  Pamphlet.  So  also  kommt  Weltgeschichte 
zustande !  Das  Endergebnis  der  mühseligen  Sekunden- 
studien ist  schließlich  doch  nur  das  längst  bekannte, 
daß  der  Krieg  in  dem  Augenblicke  ausbrach,  als  der 
eigentliche  Anlaß  des  Konflikts  —  die  Hohenzolle- 
rische  Thronkandidatur  —  durch  die  Verzichtleistung 
aus  dem  Wege  geräumt  war  und  König  Wilhelm  in 
Ems  in  dem  erleichterten  Gefühl  seinen  Brunnen  trank, 
daß  die  Gefahr  jetzt  beseitigt  sei.  Auch  die  Zumutung 
Benedettis,  des  vertrauten  treundes  Wilhelms  und 
besonders  der  Königin  Augusta,  daß  der  König  von 
Preußen  sich  verbürgen  sollte,  der  Sigmaringer  w ürde 
niemals,  nach  nicht  unbekannten  Mustern,  die  Kan- 
didatur wieder  aufnehmen,  kann  gerade  heute  nicht 
mehr  besonders  aufregend  wirken,  da  wir  durch  die 
Sprache  und  die  Forderung  des  österreichischen  Ulti- 
matums an  Serbien  abgehärtet  sind. 

Merkwürdigerweise  beginnt  Fester  die  größte  Zeit 
seines  Helden  mit  der  Behauptung  eines  schweren 
diplomatischen  Fehlers.  Bismarck  habe  den  König 
durch  folgende  Erwägungen  für  die  Zulassung  der 
Hohenzollerischen  Kandidatur  gewonnen:  „Man  rech- 
nete mit  der  Macht  der  vollendeten  Tatsache.  Napo- 
leon hatte  so  oft  erklären  lassen,  daß  er  sii.h  in  die  Ord- 
nung der  inneren  Verhältnisse  Spaniens  nicht  ein- 
mischen wolle,  daß  er  gegen  den  Erwählten  der  Cortes 
nicht  protestieren  konnte,  ohne  sich  vor  ganz  Europa 
ins  Unrecht  zu  setzen.  Tat  er  es  dennoch,  so  reizte 
er  die  spanische  Empfindlichkeit  und  verstrickte  sich 
in  Händel,  die  seine  europäische  Aktionskraft  noch 
empfindlicher  lahmlegten,  als  es  1866  sein  mexika- 
nisches Abenteuer  getan  hatte.  Ließ  er  Spanien  aus 
dem  Spiele  und  trieb  die  Dinge  zum  Bruche  mit  dem 
Norddeutschen  Bunde,  so  war  man  gerüstet  und  be- 


85 


fand  sich  in  der  unangreifbaren  Position,  daß  er  den 
Willensakt  der  spanischen  Nation  nicht  zum  Kriegs  - 
gründe  gegen  Preußen  machen  konnte.  Für  wahr- 
scheinlicher aber  hielt  man  doch,  daß  die  kaiserliche 
Regierung  in  ohnmächtiger  Wut  sich  wohl  oder  übel 
mit  der  vollendeten  Tatsache  abfinden  werde  und  die 
Folgen  der  nationalen  Erregung  allein  zu  tragen 
habe." 

In  dieser  Berechnung  habe,  urteilt  Fester,  der 
Kardinalfehler  gesteckt,  daß  Bismarck  nur  die  Folgen 
der  Wahl  ins  Auge  gefaßt  habe,  aber  nicht  die  Folgen 
der  Wahlansage.  Er  hätte  nicht  bedacht,  was  geschehen 
würde,  wenn  —  wie  es  tatsächlich  dann  kam  —  Spanien 
die  Kandidatur  fallen  ließe  und  sie  selbst  zugleich 
vorzeitig  bekannt  würde. 

Auch  der  Gegner  Bismarcks  wäre  geneigt,  den 
Staatsmann  gegen  diesen  Vorwurf  beispielloser  Kurz- 
sichtigkeit zu  verteidigen  und  lieber  zu  seinen  Gunsten 
anzunehmen,  daß  Bismarck  die  Kandidatur  befür- 
wortete, weil  er  die  Verwicklungen  voraussah  und  sie 
für  seine  Politik  gegen  Frankreich  zu  benutzen  ge- 
dachte. Aber  Fester  läßt  seinen  Helden  lieber  einen 
schweren  Fehler  begehen,  der  alle  Ungeschicklich- 
keiten der  Ollivier  und  Gramont  übersteigt,  als  ihn 
einer  weit  gesponnenen  Intrige  für  schuldig  zu  er- 
klären. Nur  scheint  mir  der  beneidenswerte  Ent- 
decker des  Kursbuchs  vom  Juli  1870  das  Wesen  der 
diplomatischen  Intrige  völlig  zu  verkennen.  Sie  be- 
steht nicht  darin,  daß  man  sich  irgendeinen  listigen 
Entwurf  der  Aktion  in  allen  Einzelheiten  ausarbeitet, 
sonder  vielmehr  in  dem  ganz  gewöhnlichen  Sich- 
treibenlassen;  man  folgt  dem  Spiel  der  Ereignisse  und 
Zufälle,  um  im  entscheidenden  Augenblicke  einzu- 
greifen und  auch,  wenn  es  notwendig  ist,  ein  wenig 
zur  höheren  Ehre  der  gestellten  Aufgabe  nachzuhelfen. 
Die  Anlässe  sind  immer  recht  gleichgültig.  Ein  ge- 
schickter Staatsmann  wird  nie  so  verfahren,  daß  er 

86 


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Politik  wie  ein  künstlich  durchgerechnetes  Exempel 
treibt  und  alle  Fäden  eigenhändig  webt.  Er  wird 
auch  nie  das  Bedürfnis  haben,  auf  weißem  Gaule 
allsichtbar  voranzureiten  und  seine  verantwortliche 
Leistung  zu  zeigen,  schon  deshalb  nicht,  weil  man  ja 
nie  weiß,  welchen  Ausgang  politisch-kriegerische  Aben- 
teuer nehmen.  Mißlingen  sie,  ist  es  immerhin  vorteil- 
haft, wenn  der  Verantwortliche  seine  Unschuld  glaub- 
haft machen  kann. 

Das  Buch  Festers  verdient  trotz  allem  gelesen  zu 
werden.  Es  liefert  wider  Willen  die  schärfsten  Waffen 
gegen  das  Diplomatenmonopol  der  auswärtigen  Politik; 
gegen  alle  dynastische  und  überhaupt  persönliche 
Politik.  Wenn  man  sich  durch  all  die  Minutenangaben 
durchgewürgt  hat,  erwacht  die  Sehnsucht  nach  einem 
andern  Kursbuch,  das  die  Züge  anzeigt,  die  aus  dieser 
ganzen  geschichtlichen  Welt  der  Gegenwart  heraus- 
zuführen vermöchten. 

[März  191 5.] 


87 


Bismarck  über  Kriegsführung  und  Kriegsziele. 

Auch  im  deutsch-französischen  Kriege  von  1870/71 
wurden  im  Ausland,  besonders  in  der  englischen  Presse, 
heftige  Anklagen  gegen  die  deutsche  Kriegsführung 
erhoben.  Es  waren  hauptsächlich  drei  Maßnahmen, 
die  gegen  Deutschland  —  oder  damals  noch  richtiger : 
gegen  Preußen  — ausgebeutet  wurden:  Die  Nieder- 
brennung von  Bazeilles  nach  Sedan,  die  Aushungerung 
und  das  Bombardement  von  Paris. 

Bismarck  war  „Sentimentalitäten"  in  der  Kriegs- 
führung abhold.  Es  ist  bekannt,  daß  er  jeder  völker- 
rechtlichen Zwangsbindung  der  Kriegsgebräuche  wider- 
strebte und  jedes  Mittel  für  erlaubt  hielt,  das  geeignet 
schien,  die  Niederwerfung  des  Feindes  herbeizuführen. 
Aber  als  der  deutsche  Botschafter  in  London,  Bernstorf  i, 
bei  Bismarck  im  September  1870  um  Hilfe  bat  gegen  ■ 
die  von  hervorragenden  Männern  in  der  englischen 
Presse  erhobenen  Anklagen,  entschloß  er  sich  doch 
einmal,  seinem  Leibjournalisten  Moritz  Busch  einen 
Abwehrartikel  für  die  deutschfreundlichen  englischen 
Blätter  zu  diktieren.  Der  begann: 

„Wie  in  jedem  Kriege,  so  sind  auch  in  diesem  eine 
große  Anzahl  von  Dörfern  niedergebrannt,  meist  in- 
folge von  Artilleriefeuer,  deutschem  und  franzö- 
sischem. Dabei  sind  Weiber  und  Kinder,  die  sich  in 
Keller  geflüchtet  und  sich  nicht  rechtzeitig  gerettet 
hatten,  in  den  Flammen  umgekommen.  Das  gilt  auch 
von  Bazeilles."  Dann  werden  für  die  Vernichtung 
von  Bazeilles  die  Franktireurs  verantwortlich  gemacht. 
Es  sei  durch  amtliche  Meldung  festgestellt,  daß  die 
Einwohner  von  Bazeilles  nicht  etwa  in  Uniform, 
sondern  in  Blusen  und  Hemdärmeln,  aus  den  Fenstern 

88 


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auf  die  verwundeten  und  unverwundeten  deutschen 
Truppen  in  den  Straßen  geschossen  und  die  Verwun- 
deten zu  ganzen  Zimmern  voll  in  den  Häusern  er- 
mordet haben.  Auch  Weiber  hätten,  mit  Messern 
und  Flinten,  gegen  totwunde  Soldaten  die  größten 
Grausamkeiten  verübt,  „andere  Frauen,  gewiß  nicht 
in  Nationalgardenuniform,  sich  in  Gemeinschaft  mit 
den  männlichen  Einwohnern  ladend  und  selbst  schie- 
ßend an  dem  Gefechte  beteiligt".  Übrigens  war  diese 
Polemik  Bismarck  verdrießlich,  und  als  er  den  Artikel 
zu  Ende  diktiert  hatte,  meinte  er,  künftig  solle  sich 
aber  Bernstorff  selber  helfen. 

Gegen  die  Teilnahme  der  Zivilbevölkerung  am 
Kriege  hielt  Bismarck  das  rücksichtsloseste  Mittel  für 
das  beste.  In  dieser  Hinsicht  rühmte  er  die  guten 
bayrischen  Kriegssitten.  Ihm  gefiel,  wie  Busch  erzählt, 
daß  die  Bayern  mit  dem  Totschießen  der  Franktireurs 
rasch  bei  der  Hand  seien.  „Unsere  Norddeutschen", 
äußerte  Bismarck,  „halten  sich  zu  sehr  an  den  Befehl. 
Wenn  so  ein  Buschklepper  auf  einen  holsteinischen 
Dragoner  schießt,  so  steigt  der  erst  vom  Pferde  und 
läuft  mit  seinem  schweren  Säbel  dem  Kerle  nach  und 
fängt  ihn.  Dann  bringt  er  ihn  seinem  Leutnant,  und 
der  läßt  ihn  laufen  oder  er  liefert  ihn  ab,  und  dann  ist's 
dasselbe,  man  läßt  ihn  auch  laufen.  Der  Bayer  macht's 
anders,  der  weiß,  daß  Krieg  ist,  der  hält  noch  auf  alte 
gute  Sitten.  Er  wartet  nicht  ab,  bis  auf  ihn  von  hinten 
geschossen  wird,  sondern  schießt  zuerst." 

Als  die  Angriffe  gegen  die  Absicht  einer  Beschießung 
von  Paris  begannen,  erhielt  Busch  von  Bismarck  den 
Auftrag,  das  Bombardement  in  der  Presse  zu  recht- 
fertigen. Es  solle  ein  Verbrechen  gegen  die  Zivili- 
sation sein,  Paris  mit  seinen  Sammlungen,  Kunst- 
bauten und  Denkmälern  zu  beschießen!  Warum  nicht 
gar?  Paris  sei  eine  Festung.  Eine  Festung  sei  ein 
Kriegsapparat,  der  ohne  Rücksicht  auf  das,  was  sonst 
mit  ihm  verbunden  ist,  unschädlich  gemacht  werden 


89 


müsse.  „Wenn  die  Franzosen  ihre  Monumente,  ihre 
Bücher-  und  Gemäldesammlungen  durch  Krieg  nicht 
gefährdet  wissen  wollten,  so  durften  sie  diese  nur  nicht 
mit  Befestigungen  umgeben." 

Wiederholt,  so  am  4.  Dezember,  beklagte  sich  Bis- 
marck über  die  Bemühungen  der  Kronprinzenpartei, 
Paris  zu  schonen.  Wenn  er  freie  Hand  hätte,  würde 
er  mit  den  Parisern  schon  fertig  werden :  „Nun  wollte 
ich  sie  aber  schon  zwingen,  die  Pariser.  Ich  würde 
sagen :  Ihr  zwei  Millionen  Menschen  seid  mit  verant- 
wortlich mit  euren  Leibern.  Ich  lasse  euch  noch 
24  Stunden  hungern,  bis  wir  von  euch  haben,  was  wir 
wollen.  Und  noch  einmal  24  Stunden,  einerlei,  was 
daraus  wird.  Das  halte  ich  aus,  aber  der  König,  der 
Kronprinz,  die  Damen,  die  ihnen  ihre  sentimentalen 
Ansichten  aufdringen,  und  gewisse  geheime  europä- 
ischen Verbindungen !  .  .  .  Das  sind  Leute,  für  die  die 
deutsche  Sache,  die  Siegesfrage  nicht  in  erster  Linie 
steht,  sondern  der  Wunsch,  in  englischen  Zeitungen 
gelobt  zu  werden.  Ja,  wenn  man  Landgraf  wäre.  Das 
Hartsein  traue  ich  mir  zu.  Aber  Landgraf  ist  man 
nicht." 

Anfang  November  unterhandelte  Thiers  mit  Bis- 
marck über  einen  Waffenstillstand.  Thiers  hatte  zuvor 
eine  diplomatische  Reise  nach  England,  Italien,  Öster- 
reich und  Rußland  unternommen.  Von  diesen  vier 
neutralen  Mächten  war  der  Vorschlag  eines  Waffen- 
stillstandes ausgegangen.  Der  Waffenstillstand  sollte 
ermöglichen,  daß  in  Frankreich  Wahlen  zu  einer  Na- 
tionalversammlung stattfänden,  mit  der  dann  über 
den  Frieden  verhandelt  werden  könnte.  Unerläßliche 
Bedingung  des  Waffenstillstands  sollte  sein  —  es  ist 
völkerrechtlicher  Grundsatz,  daß  sich  während  eines 
Waffenstillstandes  die  Verhältnisse  der  Kriegsführen- 
den nicht  verschlechtern  dürfen  —  daß  Paris  mit 
Nahrungsmitteln  versorgt  würde,  die  für  die  Zeit  des 
Waffenstillstandes  ausreichten.  Über  diese  sehr  inter- 


90 


essanten  Verhandlungen,  die  sich  durch  mehrere  Tage 
hinzogen  und  schließlich  ergebnislos  abgebrochen 
wurden,  hat  Thiers  wörtliche  Aufzeichnungen  hinter- 
lassen, die  im  Jahre  1903  veröffentlicht  worden  sind. 

Am  ersten  Tage  —  am  2.  November  —  wehrte 
Bismarck  zunächst  jede  Einmischung  der  Neutralen 
ab;  der  englische  Vorschlag,  dem  sich  die  anderen 
Neutralen  angeschlossen,  lasse  sich  lang  und  breit  über 
Menschlichkeitserwägungen  aus,  komme  aber  zu  keinem 
präzisen  Schluß.  Nach  dieser  Verwahrung  geht  Bis- 
marck auf  die  Waffenstillstandsbedingung  ein.  Er  be- 
merkt sofort:  Da  der  Waffenstillstand  nur  für  die 
Franzosen  Vorteile  bringe,  müßten  militärische  Kom-  , 
pensationen  verlangt  werden,  z.  B.  die  Ubergabe  eines 
Pariser  Forts. 

Thiers  antwortete,  daß  eine  solche  Bedingung  un- 
zulässig sei,  das  hieße  Paris  übergeben;  weitere  Be- 
sprechungen seien  völlig  nutzlos,  wenn  Bismarck  auf 
dieser  Bedingung  beharrte.  Bismarck  meint,  man 
könne  dann  vielleicht  etwas  anderes  fordern.  Mit  der 
Einberufung  einer  Nationalversammlung  sympathi- 
siert Bismarck,  aber  nicht  ohne  allerlei  merkwürdige 
Andeutungen  zu  machen,  daß  vielleicht  Napoleon  mit 
Hilfe  des  in  deutscher  Gefangenschaft  befindlichen 
Heeres,  also  mit  Unterstützung  Deutschlands,  zurück- 
kehren und  die  neue  Republik  beseitigen  könnte.  Zu 
ernsten  Sch  wierigkeiten  kommt  es  bei  der  Verhandlung 
der  Lebensmittelfrage: 

Bismarck:  Sie  werden  zweifellos  auch  fordern, 
daß  man  während  des  Waffenstillstandes  Paris  mit 
Lebensmitteln  versorge. 

Thiers:  Zweifellos,  es  ist  ständiger  Kriegsgebrauch 
und  die  Regel  des  Waffenstillstandes,  die  Dinge  so 
zu  ordnen,  daß  die  Kriegsführenden  beim  Ende  des 
Waffenstillstandes  in  nichts  in  ihren  Verhältnissen 
sich  verschlechtert  haben. 

Bismarck:  Einverstanden,  aber  Paris  für  einen 


9i 


Monat  oder  auch  nur  für  14  Tage  mit  Lebensmitteln 
zu  versorgen,  wird  ungeheuer  schwierig  sein. 

Über  diese  Schwierigkeiten,  die  Thiers  nicht  an- 
erkennt, wird  des  längeren  gesprochen.  Dann  fragt 
Bismarck,  wie  lange  der  Waffenstillstand  dauern  solle. 
Thiers:  mindestens  15  Tage.  Bismarck:  48  Stunden 
genügen  für  die  Wahlen.  Thiers  weist  auf  die  not- 
wendigen Vorbereitungen  hin.  Schließlich  erklärt  Bis- 
marck, er  müsse  sich  über  einzelne  Punkte  noch  mit 
den  Militärs  verständigen.  Er  wünscht  dann  noch, 
daß  die  Wahlen  sich  nicht  auf  Elsaß-Lothringen  er- 
strecken sollen. 

Thiers  (sehr  lebhaft):  Ah,  das  —  nein,  nein!  Der 
Waffenstillstand  ist  nicht  der  Friedensvertrag;  nie- 
mals werden  wir  zulassen,  daß  ein  Waffenstillstand 
eine  Gebietsfrage  im  voraus  entscheide. 

Bismarck  erwiedert,  es  solle  weder  gegen  Frankreich 
noch  gegen  Deutschland  solch  ein  Präjudiz  geschaffen 
werden. 

Man  spricht  weiter  über  die  Annexionsfragen. 
Thiers  meint,  was  könne  Deutschland  daran  liegen, 
einige  Quadratmeilen  französischen  Landes  zu  er- 
werben, und  so  im  Herzen  Frankreichs  eine  Wunde 
zurücklassen,  die  es  nie  verzeihen  würde. 

Bismarck  antwortet,  daß  für  die  Deutschen  die 
Erwerbung  eines  Stücks  französischen  Gebiets  eine 
Frage  des  deutschen  Selbstbewußtseins  und  der  Siche- 
rung sei.  Die  Deutschen  hätten  nicht  die  Eroberungen 
Ludwigs  XIV.  vergessen  und  wollten  sich  gegen  zu- 
künftige Einfälle  Frankreichs  sichern. 

Thiers:  Preußen  hat  weniger  als  jede  andere  Macht 
das  Recht,  Frankreich  seine  Eroberungen  vorzuwerfen. 
Frankreich,  einst  Gallien,  ist  immer  ein  großes  Reich 
gewesen.  Es  erhält  sein  Gebiet  von  der  Natur  selbst, 
nicht  vom  Krieg,  nicht  von  der  Politik;  und  die  not- 
wendige und  rechtmäßige  Eroberung  seiner  natür- 
lichen Grenzen  hat  niemals  als  Grund  den  Ehrgeiz, 

02 


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sich  zu  vergrößern,  gehabt.  Aber  im  Gegensatz,  Ihr 
Preußen  habt  vom  Großen  Kurfürsten  bis  zum  gegen- 
wärtigen König  niemals  gelebt,  ohne  daß  ihr  irgend 
etwas  nahmt,  was  einem  andern  gehörte.  Ihr  wäret 
i  y2  Millionen  zur  Zeit  des  Großen  Kurfürsten.  Ein 
halbes  Jahrhundert  später  wurdet  Ihr  durch  fried- 
lich den  Großen  auf  10  oder  12  Millionen  Untertanen 
gebracht;  ihr  erreichtet  15  Millionen  durch  die  Tei- 
lung Polens,  18  bis  19  im  Jahre  18 15,  in  den  letzten 
6  Jahren  seid  ihr  von  20  auf  30  Millionen  gestiegen, 
und  heute  von  30  auf  40  Millionen,  denn  der  Nord- 
deutsche Bund  wird  nur  ein  Verband  von  Verwal- 
tungsbezirken unter  eurem  König  sein!  Ihr  wagt 
uns  unsere  Eroberungssucht  und  unseren  Ehrgeiz  vor- 
zuwerfen. Wahrhaftig,  Herr  Graf,  man  glaubt  zu 
träumen,  wenn  man  solche  Anklage  in  Ihrem  Munde 
hört. 

Bismarck:  Mag  sein!  Aber  alles  dies  würde  ver- 
schwinden, wenn  wir  nicht  territoriale  Sicherheiten 
hätten,  wenn  nicht  in  unseren  Händen  die  Festungen 
Metz  und  Straßburg  wären,  als  unsere  Bedeckungs- 
mittel. 

Auf  diese  schneidend  ironische  Antwort  bemerkt 
Thiers,  daß  solche  strategischen  Vorteile  für  Deutsch- 
land doch  in  keinem  Verhältnis  stünden  zu  dem  un- 
versöhnlichen Groll,  der  in  den  französischen  Herzen 
zurückbleiben  würde. 

Am  3.  November  werden  die  Verhandlungen  fort- 
gesetzt. Bismarck  erklärt,  daß  sich  Schwierigkeiten 
ergeben  hätten,  besonders  in  der  Lebensmittelfrage: 

„Sie  verlangen  von  uns  zu  viel.  Wenn  wir  Ihnen 
zugestehen,  was  Sie  von  uns  verlangen,  werden  Sie 
zwei  Monate  länger  zu  leben  haben,  und  wir  müßten 
den  Winter  hier  bleiben,  denn  wir  wollen  Paris  nicht 
zerstören.  Wir  wollen  das  Ende  eurer  Lebensmittel 
abwarten.  Wenn  Sie  mir  ein  Fort  geben  wollen,  werde 
ich  Ihnen  Lebensmittel  geben,  aber  Sie  werden  noch 


93 


sagen,  daß  ich  von  Ihnen  den  Mont-Val£rien  ver- 
lange!" 

Thiers:  Nein,  kein  Fort  und  Lebensmittel,  oder 
kein  Waffenstillstand. 

Man  spricht  von  allerlei  völkerrechtlichen  Be- 
schwerden. Bismarck  beklagt  sich,  daß  die  Be- 
satzungen deutscher  Handelsschiffe  gefangen  ge- 
nommen worden  seien;  man  werde  als  Repressalie 
40  Bürger  besetzter  französischer  Städte  festnehmen. 
Thiers  wendet  ein,  die  französische  Maßnahme  ent- 
spreche dem  Völkerrecht,  die  deutsche  Drohung  aber 
nicht.  Sehr  heftig  wendet  sich  Bismarck  gegen  die 
Franktireurs,  die  ihm  auch  einen  geliebten  Verwandten 
umgebracht  hätten.  Thiers  verurteilt  alle  Grausam- 
keiten und  Ausschreitungen,  aber  er  fügt  hinzu :  Wenn 
Gewalttaten  vorgefallen  seien,  so  seien  sie  immer  noch 
entschuldbarer,  wenn  sie  von  der  Überfallenen  Be- 
völkerung, als  wenn  sie  von  den  Eindringlingen  verübt 
würden.  Guerillakriege  seien  immer  zugelassen  wor- 
den, und  um  sein  Vaterland  zu  verteidigen,  sei  jedes 
Mittel  erlaubt. 

Die  Verhandlungen  gehen  in  dieser  Weise  hin  und 
her.  Am  4.  November  fragt  Thiers,  was  Bismarck 
fordern  würde,  wenn  man  gleich  Frieden  schlösse. 

Bismarck:  Viel,  und  noch  mehr,  wenn  Sie  warten, 
bis  der  Hunger  Paris  zur  Übergabe  zwingt  wie  Metz. 
Die  200000  Mann,  die  Metz  besetzten,  rücken  an; 
Sie  werden  Ihr  Land  bis  zum  Meer  besetzt  sehen,  und 
Frankreich  wird  bis  zur  Loire  ruiniert  werden.  Es 
empfiehlt  sich  also,  ohne  Verzug  zu  handeln.  Heute 
fordern  wir  Elsaß,  hinsichtlich  Lothringens  ein  Stück 
um  Metz. 

Thiers:  Und  Metz? 

Bismarck:  Wenn  Sie  sofort  verhandeln,  verspreche 
ich  Ihnen,  mich  beim  König  zu  bemühen,  daß  Metz 
zurückgegeben  wird  .  .  . 


94 


Allmählich  gewinnt  Thiers  den  Eindruck,  daß  Bis- 
marck die  Waffenstillstandsverhandlungen  nur  zu  dem 
Zwecke  geführt  habe,  um  die  Neutralen,  die  die  Sache 
angeregt,  nicht  vor  den  Kopf  zu  stoßen.  Am  6.  Novem- 
ber teilt  Thiers  dem  Grafen  Bismarck  mit,  daß  er  von 
der  Pariser  Regierung  den  Auftrag  erhalten  habe,  die 
Verhandlungen  abzubrechen. 

[Ostern  15.] 


95 


Preußen  —  Italien  —  Österreich. 
Ein  halbes  Jahrhundert  früher. 

Zur  Naturgeschichte  diplomatischer  Ver- 
handlungen und  Verträge. 

Bismarck  rüstete  die  entscheidende  Erweiterung 
Preußens  und  damit  dessen  endgültige  Sicherung  als 
deutsche  Vormacht.  Der  Krieg  mit  Österreich  war 
das  Mittel.  Bismarck  sah  sich  nach  Bundesgenossen 
für  das  immerhin  unsichere  Unternehmen  um.  Sie 
waren  durch  gemeinsame  Interessen  gegen  Österreich 
gegeben.  Frankreich  und  Italien,  Napoleon  III.  und 
Viktor  Emanuel. 

Die  diplomatische  Aktion  Bismarcks  war  politisch, 
rechtlich  und  persönlich  ebenso  heikel  wie  schwierig. 
Preußen  war  mit  Österreich  nicht  durch  einen  blo- 
ßen Bündnisvertrag  verknüpft,  beide  waren  vielmehr 
Glieder  desselben  Staatenbundes.  Nun  war  das  eine 
Glied  entschlossen,  gegen  das  andere  das  Ausland  zu 
Hilfe  zu  rufen.  Für  dieses  waghalsige  und  bedenkliche 
Unternehmen  hatte  Bismarck  den  Gegner  im  eigenen 
Lager:  Wilhelm  I.  Die  Staatskunst  des  preußischen 
Ministerpräsidenten  mußte  nicht  nur  insgeheim  ge- 
fährliche Bündnisse  schaffen,  nicht  nur  durch  alle 
Mittel  diplomatischer  Regie  die  öffentliche  Meinung 
Europas  zu  gewinnen  suchen,  nicht  nur  einen  Angriffs- 
krieg gegen  starke  Widerstände  erzwingen,  und  ihn 
zugleich  als  Verteidigungskrieg  für  das  populäre  Ge- 
müt umdeuten,  —  es  galt  auch  durch  zähe  geduldige 
und  kluge  Bearbeitung  den  König  für  einen  Krieg 
zu  gewinnen,  dem  er  im  Innersten  widerstrebte. 

96 


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Im  preußischen  Kronrat  vom  28.  Februar  1866 
hatte  Bismarck  dargelegt,  daß  die  Voraussetzung  für 
einen  günstigen  Erfolg  der  Auseinandersetzung  mit 
Österreich  das  gleichzeitige  Eingreifen  Italiens  gegen 
Österreich  sei.  Er  hatte  angeregt,  daß  der  General 
Moltke  nach  Florenz,  der  damaligen  Hauptstadt 
Italiens,  geschickt  werden  sollte,  um  in  Italien  einen 
Vertrag  auf  der  Grundlage  abzuschließen,  daß  Italien 
sich  verpflichte,  Österreich  anzugreifen,  sobald  Preußen 
losschlage  und  daß  beide  Teile  keinen  Separatfrieden 
schließen  sollten.  Moltke  selbst  entwarf  den  Vertrag, 
der  für  Italien  den  Erwerb  des  damaligen  noch 
österreichischen  Venetien,  für  Preußen  die  Annektions- 
freiheit  im  deutschen  Bundesgebiet  verhieß.  In  dem 
Entwurf  Moltkes  werden  die  Grundzüge  eines  preu- 
ßisch-italienischen Bündnisses  skizziert :  „Die  Schritte, 
die  wir  zwecks  Zentralisation  der  Gewalt  in  Deutsch- 
land übernehmen  werden,  führen  nahezu  unfehlbar 
einen  Bruch  mit  dem  Wiener  Kabinett  herbei.  Die 
gegenwärtigen  Umstände  erscheinen  günstig  genug, 
um  es  darauf  ankommen  zu  lassen.  Frankreich  wird 
durch  den  absoluten  Willen  eines  Herrschers  regiert, 
der  sich  für  die  Sache  der  Nationalitäten  interessiert, 
wie  er  das  in  Italien  bewiesen  hat.  Er  wird  mit  den  in 
demselben  Sinne  gemachten  Anstrengungen  Preußens 
sympathisieren ...  Es  liegt  ebenso  im  Interesse 
Italiens  wie  in  dem  unsrigen,  daß  wir  darüber  einig 
sind,  alles  zu  tun,  was  zum  Kriege  führen  kann."  Uber 
den  Inhalt  des  Vertrages  heißt  es  in  Moltkes  Entwurf: 
„1.  Die  beiden  Regierungen  verständigen  sich  über  den 
Zeitpunkt,  wann  sie  gleichzeitig  den  Krieg  an  Öster- 
reich erklären.  2.  Von  diesem  Zeitpunkte  an  ver- 
pflichten sie  sich  weder  Frieden  zu  schließen  noch  die 
Feindseligkeiten  einzustellen,  bevor  der  Zweck  des 
Krieges  von  beiden  kriegführenden  Parteien  erreicht 
wird.  3.  Was  Italien  betrifft,  so  ist  dieser  Zweck  die 
Besitznahme  Venetiens.  Wenn  sich  Italien  im  Laufe 


7    Eimer,  Gesammelte  Schriften  I. 


97 


des  Krieges  noch  anderer  am  Adriatischen  Meere  ge- 
legener Provinzen  bemächtigt,  so  wird  dagegen  nichts 
einzuwenden  sein;  Preußen  kann  jedoch  nicht  in  die 
endgültige  Abtretung  eines  zum  Deutschen  Bunde  ge- 
hörigen Gebietes  willigen.  Der  Zweck  Preußens  ist,  ge- 
wisse Rechte  im  Norden  Deutschlands  zu  erwerben  und 
Österreich  zu  zwingen,  sie  anzuerkennen."  Von  preu- 
ßischer Seite  wurden  also  auch  Erwerbungen  Italiens 
an  der  dalmatinischen  Küste  gutgeheißen,  dagegen 
Trient  und  Triest  nicht  zugestanden. 

In  den  weiteren  Vertragsbestimmungen  des  Ent- 
wurfs wird  Italien  verpflichtet,  220000  Mann  gegen 
Österreich  zu  versammeln,  während  Preußen  200000 
bis  250000  Mann  gegen  die  böhmische  Grenze  führen 
will.  „Unsere  Entschließung,  die  Ereignisse 
so  zu  führen,  daß  sie  einen  Krieg  hervor- 
rufen (so  wird  weiterhin  ausgeführt)  hängt,  von  der 
Frage  ab,  ob  wir  uns  auf  die  italienische  Mitwirkung 
durchaus  verlassen  können.  Noch  steht  es  uns  frei, 
den  Krieg  in  friedliche  Bahnen  einzulenken,  und  auf 
kriegerische  Politik  zu  verzichten."  Der  Entwurf 
rechnet  auch  mit  der  Wahrscheinlichkeit,  daß  Öster- 
reich im  Notfall  freiwillig  Venetien  an  Italien  abtreten 
würde  und  er  bemüht  sich,  nachzuweisen,  daß  eine 
solche  Abtretung  auf  friedliche  Weise  für  Italien  keinen 
dauernden  Erfolg  verspräche.  „Allerdings  könnte  Ita- 
lien noch  ein  Mittel  finden,  um  sich  in  friedlicher 
Weise  mit  Österreich  über  Venetien  zu  verständigen. 
Aber  der  Preis,  den  man  zahlen  müßte,  wird  wahr- 
scheinlich größer  sein  als  die  Kosten  eines  Krieges, 
und  zugleich  wird  man  auf  diese  Weise  Österreich 
die  Mittel  hefern,  um  seine  traditionelle  Politik  in 
Italien  wieder  anzufangen.  Man  wird  nicht  ver- 
gessen dürfen,  daß  Österreich  in  der  Zeit  von  1809 
bis  181 3  sich  eines  weit  beträchtlicheren  Teiles 
seines  italienischen  Gebietes  beraubt  gesehen  hat  als 
jetzt,  und  doch  ist  es  ihm  unter  der  Gunst  eines 


98 


Glücksumschlags  gelungen,  dort  von  neuem  Fuß  zu 
fassen." 

Die  Mission  Moltkes  wurde  dann  unterlassen.  Man 
hielt  es  für  zweckmäßig,  den  Vertrag  in  Berlin,  nicht  in 
Florenz  abzuschließen,  und  so  ersuchte  man  den  ita- 
lienischen Ministerpräsidenten  La  Marmora,  einen 
Unterhändler  nach  Berlin  zu  entsenden.  Italien 
schickte  den  General  Govone.  Die  folgenden  Unter- 
handlungen wurden  im  Einverständnis  und  mit  Kennt- 
nis Napoleons  geführt.  Am  8.  April  1866  wurde  bereits 
der  „offensive  und  defensive  Bündnisvertrag"  zwischen 
Preußen  und  Italien  unterzeichnet.  Im  zweiten  Ar- 
tikel des  Vertrags  wird  bestimmt:  „Falls  die  Verhand- 
lungen die  Seine  Majestät  der  König  von  Preußen  mit 
den  anderen  deutschen  Regierungen  in  Absicht  auf 
eine  den  Bedürfnissen  der  deutschen  Nation  ent- 
sprechende Reform  der  Bundesverfassung  kürzlich 
eröffnet  hat,  scheitern  sollten,  und  Seine  Majestät 
sich  infolgedessen  genötigt  sähe,  die  Waffen  zu  er- 
greifen, um  seine  Vorschläge  durchzusetzen,  so  wird 
Seine  italienische  Majestät  nach  der  von  Preußen  er- 
griffenen Initiative,  sobald  sie  davon  benachrichtigt 
sein  wird,  kraft  des  jetzigen  Vertrags  Österreich  den 
Krieg  erklären."  Artikel  3  bestimmt:  „Von  diesem 
Augenblick  an  wird  der  Krieg  von  Ihren  Majestäten 
mit  allen  Kräften  geführt  werden,  die  die  Vorsehung 
ihnen  zu  ihrer  Verfügung  gestellt  hat,  und  weder  Italien 
noch  Preußen  werden  Frieden  oder  Waffenstillstand 
ohne  gegenseitige  Zustimmung  schließen." 

Der  Vertrag  wurde  streng  geheim  gehalten.  Selbst 
der  König  von  Preußen  scheint  sich  über  ihn  und  seine 
Bedeutung  nicht  klar  geworden  zu  sein,  denn  er  be- 
streitet persönlich,  wie  die  diplomatischen  Berichte 
aus  Berlin  übereinstimmend  berichten,  noch  im  Mai 
gegenüber  dem  Kaiser  von  Rußland,  ja  sogar  noch 
im  Juni  gegenüber  dem  Kaiser  von  Österreich,  daß 
er  mit  Italien  ein  Bündnis  abgeschlossen  habe.  So 


99 


ist  von  einem  Schreiben  der  Königin  von  Preußen  an 
den  Kaiser  von  Österreich  die  Rede,  in  dem  versichert 
wird,  der  König  von  Preußen  habe  ihr  sein 
Ehrenwort  gegeben,  es  bestehe  zwischen  Preußen 
und  Italien  kein  wirklicher  Vertrag,  und  wenn  Italien 
Österreich  angreife,  sei  Preußen  nicht  verpflichtet, 
ihm  zu  folgen.  Übrigens  war  das  Ehrenwort  ja  voll- 
kommen in  Ordnung:  Preußen  hatte  sich  nicht  ver- 
pflichtet, wenn  Italien  angriffe,  zu  folgen,  sondern 
Italien  hatte  Hilfe  bei  einem  Angriff  Preußens  zu- 
gesagt. 

Dennoch  scheint  Österreich  alsbald  über  den  Ver- 
trag unterrichtet  gewesen  zu  sein.  Jedenfalls  trat  ein, 
was  der  Moltkesche  Entwurf  vorausgesehen.  Öster- 
reich bot  Italien  Venetien  durch  Vermittlung  des 
Kaisers  Napoleon  an.  Wie  der  italienische  Gesandte 
in  Paris,  Nigra,  in  einem  Geheimbericht  vom  Juni 
seiner  Regierung  mitteilt,  habe  ihm  Napoleon  am 
4.  Mai  den  österreichischen  Vorschlag  mitgeteilt, 
Venetien  unter  der  Bedingung  abzutreten,  daß  Italien 
und  Frankreich  neutral  blieben,  und  Österreich  kein 
Hindernis  in  den  Weg  legten,  sich  durch  die  Eroberung 
Schlesiens  an  Preußen  schadlos  zu  halten.  Der  italie- 
nische Gesandte  begründet  wie  folgt  seine  Meinung: 
daß  es  unzulässig  sei,  jetzt  nach  Abschluß  des  Vertrages 
das  Angebot  Österreichs  anzunehmen.  „Der  Kaiser 
(Napoleon)  erklärte  mir,  daß  der  Vorschlag  in  aller 
Form  gemacht  wäre,  und  fragte  mich,  ob  die  Regie- 
rung des  Königs  in  der  Lage  sei,  sich  von  den  Preußen 
gegenüber  eingegangenen  Verpflichtungen  loszumachen. 
Indem  ich  diesen  Vorschlag  im  tiefsten  Geheimnis 
dem  Generai  La  Marmora  mitteilte,  verhehlte  ich 
ihm  in  einem  Brief  vom  5.  Mai  nicht,  daß  wir,  trotz  der 
zweideutigen  Auslegung,  welche  die  preußische  Re- 
gierung damals  dem  Vertrage  gab,  unmöglich  den 
österreichischen  Vorschlag  annehmen  könnten,  ohne 
uns  dem  Vorwurfe  der  Wortbrüchigkeit  auszusetzen. 

100 


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Ich  fügte  hinzu,  daß  es  mir  der  Würde  des  Königs  und 
eines  Staates  von  22  Millionen  Einwohnern  wenig  zu 
entsprechen  scheine,  wenn  wir  uns  der  Abtretung 
Venetiens  wegen  mit  einer  neuen  Dankesschuld  gegen 
Frankreich  belasten." 

Inzwischen  hatte  Preußen  seine  Rüstungen  vollen- 
det. Die  Aufgabe  war  jetzt,  den  Kriegsfall,  für  den 
der  preußisch-italienische  Vertrag  abgeschlossen  war, 
herbeizuführen.  Die  diplomatischen  Bemühungen 
Bismarcks  in  dieser  Richtung  schildern  uns  sehr  an- 
schaulich die  Berichte  des  italienischen  Unterhändlers 
in  Berlin  Govone.  Bismarck  suchte  Italien  zu  ver- 
anlassen, anzufangen.  Anfang  Juni  schreibt  Govone 
dem  Ministerpräsidenten  La  Marmora  über  seine  letzte 
Unterredung  mit  Bismarck:  „Nun,  wer  wird  die  Lunte 
ans  Pulverfaß  bringen,  Preußen  oder  Italien  ?"  habe 
ihn  Bismarck  gefragt.  Man  sprach  weiter  über  die 
Aufnahme,  die  der  in  letzter  Stunde  von  Napoleon  an- 
geregte Friedenskongreß  in  Osterreich  gefunden  habe. 
Bismarck  glaubt  schon  zu  wissen,  daß  Österreich  jedem 
Kongreß  entgegen  sei,  der  Gebietsabtretung  innerhalb 
des  Deutschen  Bundes  zum  Gegenstand  habe.  Bis- 
marck äußert  sich  über  die  Zugeständnisse,  die  Frank- 
reich verlange  und  von  Preußen  erhalten  könne. 
Govone  fragt,  ob  es  nicht  möglich  sei,  wenn  man 
nicht  das  ganze  linke  Rheinufer  an  Frankreich  abtreten 
wolle,  wenigstens  einen  Teil  zu  überlassen.  Bismarck 
antwortet:  „Ja,  es  wäre  die  Mosel.  Ich  bin  viel 
weniger  Deutscher  als  Preuße  und  würde  kein 
Bedenken  tragen,  die  Abtretung  des  ganzen  Landes 
zwischen  dem  Rhein  und  der  Mosel  an  Frankreich 
zu  unterschreiben  .  .  .  Der  König  jedoch,  unter  Ein- 
fluß der  Königin,  die  keine  Preußin  ist,  würde 
die  schwersten  Skrupel  empfinden  und  sich  zu  einer 
solchen  Maßnahme  nur  im  alleräußersten  Falle  ent- 
schließen, wenn  er  auf  dem  Punkte  stände,  alles  zu 
verlieren  oder  alles  zu  gewinnen."  Unter  diesen  Um- 


101 


ständen,  meint  Bismarck,  bliebe  nur  übrig,  Frank- 
reich durch  die  französischen  Teile  Belgiens  und  der 
Schweiz  zu  entschädigen.  Dann  kommt  Bismarck 
auf  die  Frage  zurück,  wer  —  Italien  oder  Preußen  — 
die  Feindseligkeiten  eröffnen  solle.  „Er  sagte,  daß  es 
ihm  äußerst  schwer  fallen  würde,  den  König  zu  be- 
stimmen, die  Offensive  zu  ergreifen;  der  König  habe 
religiöse  Bedenken,  ja  eine  abergläubische  Scheu,  die 
Verantwortung  für  einen  europäischen  Krieg  auf  sich 
zu  nehmen;  inzwischen  würde  man  aber  Zeit  verlieren 
und  Österreich  und  die  Staaten  zweiten  Ranges  könnten 
ihre  Rüstungen  vollenden  und  die  Aussichten  des  Er- 
folges für  Preußen  verringerten  sich.  Auch  die  Inter- 
essen Italiens  würden  auf  diese  Weise  gefährdet  werden, 
wenn  der  Sieg  Österreich  zufalle.  Italien",  fuhr  er 
fort,  kann  leicht  den  Krieg  eröffnen,  auch  im  Not- 
fall selbst  seine  Maßnahmen  treffen,  um 
von  irgendeiner  kroatischen  Heeresabteilung 
provoziert  zu  werden.  Und  es  kann  sicher  sein, 
daß  am  Tage  darauf  wir  die  Grenze  überschreiten 
würden."  Ich  antwortete  hierauf,  daß  Italien  sich  in 
einer  höchst  verfänglichen  Lage  befände.  Es  habe 
zu  Paris  in  der  Sitzung  der  gesetzgebenden  Versamm- 
lung erklären  lassen,  daß  der  Angriff  keineswegs  von 
ihm  ausgehen  werde  und  habe  diese  Erklärung  in  jeder 
Weise  wiederholt.  Italien  müsse  stark  mit  der  öffent- 
lichen Meinung  in  Frankreich  rechnen. 

In  der  Tat  mußte  sich  Preußen  entschließen, 
voranzugehen.  Es  erklärte  am  18.  Juni,  Italien  am 
20.  Juli  den  Krieg.  Die  italienische  Kriegserklärung 
war  ziemlich  nüchtern  und  geschäftsmäßig: 

„Der  österreichische  Kaiserstaat  hat  mehr  als 
jeder  andere  Staat  dazu  beigetragen,  Italien  geteilt 
und  unterdrückt  zu  erhalten,  und  ist  die  Ursache 
unberechenbarer  materieller  wie  moralischer  Ver- 
luste gewesen,  die  Italien  seit  vielen  Jahrhunderten 
hat  leiden  müssen.  Noch  gegenwärtig,  wo  22  Mil- 

102 


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lioncn  Italiener  sich  als  Nation  konstituiert  haben, 
weigert  sich  als  einziger  unter  den  Großstaaten  der 
gebildeten  Welt  Österreich,  diese  anzuerkennen  .  . . 
Vergeblich  blieben  in  den  letzten  Jahren  die  Versuche 
und  Ratschläge  befreundeter  Mächte,  dieser  uner- 
träglichen Gestaltung  der  Dinge  ein  Ende  zu  machen. 
So  wurde  es  unvermeidlich,  daß  Italien  und  Öster- 
reich sich  bei  der  ersten  europäischen  Verwicklung 
als  Feinde  gegenüberträten.  Der  kürzlich  erfolgte 
Vorangang  Österreichs  im  Rüsten  und  die 
Weigerung,  die  es  den  friedlichen  Vorschlägen  von 
drei  Großmächten  entgegensetzte,  haben  der  Welt 
seine  kriegerischen  Pläne  verraten  und 
Italien  von  einem  Ende  zum  andern  in  Erregung 
versetzt.  Aus  diesem  Grunde  sieht  sich  Seine  Maje- 
stät der  König,  als  eifersüchtiger  Wahrer  der  Rechte 
seines  Volkes  und  Verteidiger  der  Unversehrtheit  der 
Nation,  genötigt,  dem  österreichischen  Kaiserstaat 
den  Krieg  zu  erklären." 

Voller  und  merkwürdig  unvergänglich  tonte  es 
aus  dem  Kriegsmanifest  König  Wilhelms  von 
Preußen: 

„  .  .  .  Preußen  soll  geschwächt,  vernich- 
tet, entehrt  werden.  Ihm  gegenüber  gelten 
keine  Verträge  mehr.  Gegen  Preußen  werden 
deutsche  Bundesfürsten  nicht  bloß  aufgerufen,  son- 
dern zum  Bundesbruch  verleitet.  Wohin  wir  in 
Deutschland  schauen,  sind  wir  von  Feinden  um- 
geben, deren  Kampfgeschrei  ist:  Erniedrigung 
Preußens!  ...  Unsere  Gegner  irren  sich,  wenn 
sie  meinen,  Preußen  sei  durch  innere  Streitigkeiten 
gelähmt.  Dem  Feinde  gegenüber  ist  es  einig 
und  stark;  dem  Feinde  gegenüber  gleicht  sich  aus, 
was  sich  entgegenstand,  um  demnächst  im  Glück 
und  Unglück  vereint  zu  bleiben.  Ich  habe  alles 
getan,  um  Preußen  die  Leiden  und  Opfer 
eines  Krieges  zu  ersparen,  das  weiß  mein 


103 


Volk,  das  weiß  Gott,  der  die  Herzen  prüft. 
Bis  zum  letzten  Augenblicke  habe  ich,  in 
Gemeinschaft  mit  Frankreich,  England  und 
Rußland,  die  Wege  für  eine  gütliche  Aus- 
gleichung gesucht  und  offen  gehalten.  Österreich 
hat  nicht  gewollt,  und  andere  deutsche  Staaten 
haben  sich  auf  seine  Seite  gestellt.  So  sei  es  denn. 
Nicht  mein  ist  die  Schuld,  wenn  mein  Volk 
schweren  Kampf  kämpfen  und  vielleicht  harte  Be- 
drängnis wird  erdulden  müssen :  aber  es  ist  uns  keine 
Wahl  mehr  geblieben !  Wir  müssen  fechten  um 
unsere  Existenz  . .  .  Flehen  wir  den  Allmäch- 
tigen, den  Lenker  der  Geschicke  der  Völker,  den 
Lenker  der  Schlachten  an,  daß  er  unsere  Waffen 
segne!" 

Im  gleichen  Stile  sind  auch  die  österreichischen 
Kriegsurkunden  abgefaßt.  Der  Armeebefehl  des  Erz- 
herzogs Albrecht  vom  21.  Juni  lautet: 

„Von  neuem  streckt  der  räuberische  Nach- 
bar die  Hand  nach  diesem  schönen  Juwel  in  der 
Krone  unseres  Monarchen  aus,  welches  Eurem 
Schutze  anvertraut  ist .  .  .  Verblendet  durch  leichte 
Erfolge,  die  unser  Gegner  im  Bunde  mit  Verrat, 
Treubruch  und  Bestechung  anderwärts  gefunden, 
kennt  er  in  seiner  Anmaßung,  seiner  Raubsucht  keine 
Grenzen,  vermeint  er  seine  Fahne  auf  dem  Brenner 
und  auf  den  Höhen  des  Karstes  aufpflanzen  zu  kön- 
nen; doch  diesmal  gilt  es  offenen  Kampf  mit  einer 
Macht,  welche  fühlt,  daß  es  sich  jetzt  um  Sein  oder 
Nichtsein  handelt,  welche  entschlossen  ist  zu 
siegen  oder  ruhmvoll  zu  fallen,  wenn  es  sein  muß. 
Mögt  Ihr  den  Feind  erneut  daran  erinnern,  wie  oft 
er  schon  vor  Euch  geflohen." 

Die  italienische  Kriegsführung  war  zu  Lande  und 
zur  See  unglücklich.  Schon  am  24.  Juni  ließ  sich  die 
italienische  Armee  bei  Custozza  völlig  überraschen  und 
wurde  von  den  Österreichern  entscheidend  geschlagen. 

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Aber  der  Erfolg  Preußens  über  Österreich  bei  König- 
grätz  (3.  Juli)  nötigte  Österreich  gleichwohl  unter  allen 
Umständen  den  Krieg  im  Süden  zu  beendigen.  Na- 
poleon, für  den  Preußen  zu  sehr  gesiegt  hatte,  ver- 
mittelte. Österreich  war  bereit,  Venetien  zunächst 
an  Frankreich  abzutreten,  das  es  dann  Italien  über- 
geben würde.  Aber  Italien  lehnte  dies  Angebot  eines 
Separatfriedens  ab.  Es  fühlte  sich  durch  den  Vertrag 
mit  Preußen  gebunden,  weiterzukämpfen,  bis  zum 
gemeinsamen  Erfolg.  Überdies  glaubte  Italien,  daß 
es  in  seinem  Interesse  geboten  sei,  seine  militärische 
Niederlage  auszuwetzen.  Es  setzte  also  den  Krieg  fort. 
Als  jedoch  dann  Preußen  einen  raschen  Friedensschluß 
mit  Österreich  für  zweckmäßig  hielt,  glaubte  es  sich 
seinerseits  an  den  Widerspruch  Italiens  nicht  kehren 
zu  müssen  und  verständigte  sich  schon  am  26.  Juli 
über  die  Präliminarien  eines  Separatfriedens  mit  Öster- 
reich. Jetzt  war  Italien  isoliert  und  mußte  am  12.  Au- 
gust in  einen  Waffenstillstand  mit  Österreich  ein- 
willigen; durchaus  widerstrebend,  wie  Theodor  von 
Bernhardi,  der  als  Vertreter  Preußens  im  italienischen 
Hauptquartier  weilte,  bezeugt.  Ende  Juli  schreibt 
Bernhardi  in  sein  Tagebuch:  „Victor  Emanuel  war 
in  einer  gereizten  Stimmung.  Er  zeigte  sich  dadurch 
verletzt,  daß  Preußen  ohne  ihn  Frieden  schließt  und 
selbst  ohne  ihn  sonderlich  zu  fragen;  .  .  .  gerade  jetzt, 
wo  er  in  der  besten  Verfassung  sei,  entscheidend  ein- 
zugreifen .  .  .  Gewähre  man  ihm,  was  er  verlangt, 
nämlich  in  Italien  den  Isonzo  als  Grenze  und  Welsch- 
tirol, dann  werde  er  Frieden  schließen;  wenn  nicht, 
dann  setze  er  den  Krieg  allein  fort,  ohne  Preußen." 

Viktor  Emanuel  mußte  sich  fügen,  Italien  erhielt 
durch  den  Wiener  Frieden  vom  3.  Oktober  auf  dem 
Umweg  über  Frankreich  Venetien. 

Mai  1915. 


105 


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Die  Presse  im  Kriege. 


Karl  Büchner,  Unsere  Sache  und  die 
Tagespresse.    Tübingen  1915. 

Unmittelbar  nach  dem  1 8.  Februar  lief  ein  Telegramm 
durch  die  deutsche  Presse,  des  Inhalts:  Wegen  des 
Beginns  des  Unterseebootskrieges  stocke  der  Verkehr 
zwischen  England  und  Holland  fast  völlig.  Die  eng- 
lischen Zeitungen  träfen  nur  mit  großer  Verspätung 
ein,  und  auch  nur  in  wenigen  Exemplaren. 

Ich  las  jedem,  der  mir  gerade  in  den  Weg  lief,  das 
Telegramm  vor  und  fragte :  Ist  das  nicht  zum  Lachen  ? 
Die  Antworten,  die  ich  erhielt,  waren  durchweg  un- 
liebenswürdig. Natürlich,  ich  wollte  auch  an  diesem 
Erfolge  nörgeln.  Ich  glaubte  an  den  Erfolg  des  Unter- 
weltkrieges nicht,  als  geborener  Schwarzseher.  Einige 
schalten  mich  —  mit  dem  beliebtesten  Teutonen- 
wort —  einen  Miesmacher.  Ein  paar  vorsichtige  Leute 
meinten,  nun  ja,  die  Meldung  sei  vielleicht  etwas  über- 
trieben, aber  immerhin  doch  möglich.  Jedem  aber 
mußte  ich  geduldig  auseinandersetzen,  daß  ich  gar 
nicht  über  den  Unterseekrieg  urteilen  wolle,  sondern 
nur  über  den  Erzeuger  des  Telegramms  lache,  der  in 
der  Hitze,  raschen  Erfolg  dem  begierigen  Zeitungs- 
leser zu  verkünden,  die  Fabrikmarke  „Schwindel!" 
versehentlich  seiner  Erfindung  gleich  mit  aufgedruckt 
habe.  Dem  Mann  sei  es  nicht  genug  gewesen,  die  Stö- 
rungen des  Verkehrs  dadurch  zu  veranschaulichen,  daß 
die  Zeitungen  mit  Verspätung  einträfen,  nein  die  Ver- 
wüstung des  Verkehrs  muß  so  groß  sein,  daß  diese 
Zeitungen  sogar  nur  in  wenigen  Exemplaren  einzu- 
treffen vermögen.  Da  es  nun  kein  wesentlicher  Unter- 


106 


schied  der  Leistung  ist,  ob  ein  Schiff,  wenn  es  über- 
haupt eintrifft,  zwei  oder  Hunderttausende  Zeitungs- 
nummern mitführt,  so  erweise  sich  jener  Versuch,  die 
Steigerung  aufs  höchste  zu  treiben,  als  die  ganz  be- 
sonders einfältige  Erfindung  eines  hirnlosen  Journa- 
listen. Das  Unheimliche  sei  dabei,  daß  offenbar  nie- 
mand so  krassen  Unsinn  merke.  Wenn  man  also  über 
die  heutige  Entartung  der  Presse  schelte,  so  trage  die 
Schuld  zunächst  der  Zeitungsleser,  der  völlig  kritiklos 
alles  Gedruckte  in  sich  hineinfresse.  Die  geistige  Ver- 
wirrung der  Presse  spiegelt  doch  nur  die  geistige  Zer- 
rüttung ihres  Publikums.  Wenn  der  Zeitungsleser  keine 
Vernunft,  keine  Wahrheit  hören  will,  warum  sollen 
die  Hersteller  der  Zeitungen  die  Unannehmlichkeiten 
auf  sich  nehmen,  die  die  Stimme  der  Vernunft  und  der 
Wahrheit  gegenwärtig  für  ihre  Bekenner  zur  Folge 
hat!  Das  Publikum  verlange  anständige,  kluge, 
ernste  und  unterrichtete  Blätter  —  und  es  wird  sie 
erhalten ! 

Daß  die  Presse  die  Schrecken  des  Weltkrieges  ver- 
mehrt, daß  sie  die  Katastrophe  der  Menschheit  in 
ihrem  Schrecken  verschärft,  erweist  jeder  Tag  aufs 
neue.  Der  greise  Leipziger  Nationalökonom  Karl 
Bücher  hat  kürzlich  einige  Kriegsarbeiten  in  einer 
Broschüre  zusammengefaßt.  Daß  er  die  ausländische 
Presse  verurteilte,  ließ  man  sich  natürlich  bei  uns  ge- 
fallen. Daß  er  aber  von  seinem  Verdammungsurteil 
die  deutsche  bürgerliche  Presse  nicht  ausschloß,  hat 
ihm  empfindlichen  Tadel  eingetragen.  Es  waren  vor 
allem  Sätze  wie  die  folgenden :  „Man  sollte  nun  glauben, 
daß  die  Presse  gerade  in  solchen  Zeiten  ein  lebhaftes 
Bewußtsein  ihrer  Aufgabe  betätigen  und  von  dem 
Gefühle  ihrer  Verantwortlichkeit  durchdrungen  sein 
würde,  die  ihr  gebieten  müßte,  über  den  kämpfenden 
Parteien  zu  stehen,  der  Wahrheit  und  nur  der  Wahr- 
heit zu  dienen  und  mäßigend  auf  die  entflammten 
Volksleidenschaften  einzuwirken.  Leider  bestätigt  die 


107 


Erfahrung  diese  Erwartung  nicht.  Ein  großer  Teil  der 
Tagespresse  pflegt  vielmehr  in  der  leidenschaftlichsten 
Weise  Partei  zu  ergreifen;  alle  Haltung  geht  ihr  ver- 
loren, und  mit  einer  Art  satanischer  Freude  verschärft 
und  vertieft  sie  die  Gegensätze,  die  im  Kampfe  der 
Waffen  aufeinanderstoßen.  Die  Zeitungsblätter,  die 
seit  dem  Kriegsbeginn  in  unsere  Hände  kommen, 
wissen  täglich  von  neuen  Greueltaten  zu  berichten, 
die  man  den  Unsern  andichtet ;  ausgestunkene  Lügen, 
die  durch  Anwendung  der  einfachsten  kritischen  Hilfs- 
mittel als  solche  erkannt  werden  könnten,  werden  in  die 
Welt  gesetzt;  eine  ganze  trübe  Flut  des  Hasses,  der 
Verleumdung  und  Verletzung  geht  durch  ihre  Spalten, 
und  wir  legen  tief  zerknirscht  Nummer  auf  Nummer 
zur  Seite,  um  verzweifelt  zu  fragen,  ob  dies  denn  das 
Ende  aller  Kultur  sei  und  ob  nicht  eine  allgemeine 
Rückkehr  zu  den  Urzuständen  der  Wilden  über  die 
Menschheit  gekommen  sei." 

Das  ist  nun  zunächst  gegen  die  feindliche  Presse  ge- 
münzt. Aber  Bücher  nimmt  doch  auch  nicht  die  deut- 
sche Presse  ganz  von  dem  allgemeinen  Verdammungs- 
urteil aus.  Er  will  zugeben,  daß  die  deutsche  Presse 
„verglichen  mit  England,  Frankreich,  Belgien  und 
Rußland,  im  ganzen  sich  würdig  hält  und  daß  ihre 
eigenen  Leistungen  turmhoch  emporragen  über  die 
des  feindlichen  Blätterwaldes.  Aber  es  ziemt  sich,  daß 
wir  über  dem  Balken  in  des  Bruders  Auge  nicht  den 
Splitter  im  eigenen  übersehen.  „Es  gibt  Blätter,  die 
an  Verhetzung  und  Herabsetzung  unserer  Gegner  so 
Unglaubliches  geleistet  haben,  daß  unsere  Krieger  in 
der  Front  sich  gegen  diesen  Ton  ernstlich  verwahrt 
haben."  Dagegen  sei  es  eine  der  erfreulichsten  Er- 
scheinungen „dieser  großen  Zeit",  daß  die  sozialdemo- 
kratische Presse,  „die  früher  so  oft  durch  ihren  Ton 
unser  Mißfallen  erregt  hat,  in  ihrer  Mehrzahl  durch  die 
kritische  Ruhe  und  Objektivität,  mit  denen  sie  die 
Kriegsereignisse  behandelt,  sich  auszeichnet." 

108 


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Die  Auszeichnung  der  deutschen  bürgerlichen  Presse 
gegen  die  ausländische  ist  durchaus  nicht  verdient. 
Wer  es  sich  zur  Aufgabe  gesetzt  hat,  die  Roheiten, 
Lügen,  Dummheiten  der  internationalen  Kriegspresse 
systematisch  zu  sammeln,  ist  durchaus  von  der  vater- 
landslosen Ebenbürtigkeit  und  der  Gleichheit  aller 
kapitalistischen  Preßmoral  überzeugt.  Ein  weit  ver- 
breitetes deutsches  Blatt  schrieb,  um  nur  ein  Beispiel 
aus  jüngster  Zeit  zu  nennen,  über  die  Torpedierung 
der  Lusitania:  „Nicht  maßloses  Entsetzen  hat  uns 
erfüllt,  als  wir  <lie  Kunde  von  Lusitania  bekamen.  So 
etwas  ist  altes  Weibergeschwätz.  Sondern  laute 
Freude"!  Das  las  man  in  München.  In  Leipzig 
jubelte  und  höhnte  man:  „Die  Freude  an  der  Ver- 
nichtung der  Lusitania  wird  noch  durch  allerlei  Dinge 
gesteigert  .  .  .,  das  letzte  sentimentale  Mitleid  mit 
den  „armen  Opfern",  die  hübsch  hätten  „auf  ihren 
Hadern"  bleiben  sollen,  dürfte  die  (falsche!)  Fest- 
stellung vernichten,  daß  die  Lusitania  mit  Ge- 
schützen armiert,  also  ein  Hilfskreuzer,  ein  Kriegs- 
schiff war."  Zwei  Tage  darauf  bezeichnete  es  das 
selbe  sehr  einflußreiche  Leipziger  Organ  als  eine  „der 
üblichen  englischen  Fälschungen",  daß  man  in 
Deutschland  eine  unbändige  Freude  über  der.  Unter- 
gang von  1400  Nichtkämpfenden  empfunden  habe. 
In  Wien  sekundierte  man  glänzend:  „Wir  freuen  uns 
über  diesen  neuen  Erfolg  der  deutschen  Marine." 
Endlich  in  Berlin  dichtete  ein  deutscher  Mensch: 

Ein  Schiff  versenkt,  Ladung  und  Passagier, 

Hurra!  —  und  tausend  Feldgraue  gerettet, 

Für  jeden  uns'rer  Braven  hätten  wir 

Zehn  Lusitanien  gern  zu  Grund  gebettet! 
Dergleichen  findet  sich  kaum  im  Matin  oder  Daily 
Mail.  Zu  nationalem  Stolz  ist  also  nicht  der  mindeste 
Anlaß,  wie  auch  das  Urteil  Büchers  national  befangen 
scheint,  wenn  er  von  den  Kriegsberichten  sagt :  „Wenn 
man  die  systematische  Unterdrückung  von  Schiffs- 

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Verlusten  durch  die  englische  Admiralität  .  .  .  die  ganze 
Verschweigungspolitik  der  britischen  Regierung  oder 
die  redselige  Vertuschungsweise  französischer  und 
russischer  Schlachtberichte  in  Erwägung  zieht,  so 
wird  man  unsere  Preßzustände  immer  noch  bei  weitem 
als  die  besseren  erkennen."  Gerade  auf  diesem  Ge- 
biete ist  ja  bereits  die  historische  Kritik  möglich.  Auch 
hier  erzielt  die  vergleichende  Prüfung  eine  merk- 
würdige Gleichheit  des  Verfahrens.  Die  Technik 
der  amtlichen  Berichte  ist  in  den  verschiedenen  Län- 
dern im  einzelnen  abweichend,  alle  aber  sind  durch  die 
Tendenz  bestimmt:  Zwischen  der  Informierung  des 
Volks,  der  Sorge,  es  bei  guter  Stimmung  zu  erhalten 
und  der  Rücksicht  auf  die  Beeinflussung  der  öffent- 
lichen Meinung  der  Welt  einen  billigen  Ausgleich  zu 
finden.  Die  Spannung  zwischen  der  Wahrheit  und  dem 
Interesse  wird  natürlich  in  demselben  Maaße  größer, 
als  es  Mißerfolge  zu  verschleiern  oder  allzu  bescheidene 
Erfolge  zu  übertreiben  gilt. 

Trotz  der  unberechtigten  Lobsprüche  für  die 
deutsche  Presse  hat  Bücher  durch  seine  Abhandlung  es 
mit  ihr  gründlich  verdorben.  Seine  Aufforderung, 
über  den  kämpfenden  Parteien  zu  stehen,  wurde  laut 
und  energisch  zurückgewiesen,  obwohl  kein  Zweifel 
war,  daß  mit  dieser  Überparteilichkeit  lediglich  die 
Aufgabe  gemeint  war:  „der  Wahrheit,  und  nur  der 
Wahrheit  zu  dienen".  Die  Frankfurter  Zeitung 
verspottete  ihren  ehemaligen  Redakteur:  in  ihrem 
Betreibe  säßen  nicht  nur  Siebzigjährige,  und  solche 
jugendliche  Temperamente  gestatteten  es  nicht,  in 
dieser  Zeit  so  abgeklärt  und  parteilos  über  den  Dingen 
zu  schweben.  Und  in  der  Landesversammlung  der 
sächsischen  Presse  wurde  gegen  Bücher  betont:  Die 
deutsche  Presse  könne  nicht  aufhören,  deutsch  zu 
sein  und  müsse  es  ablehnen,  sich  inmitten  des 
Schlachtendonners  als  eine  Art  internationalen 
Schiedsgerichts  auf  zu  werfen. 

HO 


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So  sehr  verstimmte  die  gutmütige  prof essorale 
Mahnung,  bei  der  Wahrheit  zu  bleiben.  Damit  hat 
aber  die  deutsche  Presse  selbst  auf  ihr  Existenzrecht 
und  ihre  kulturelle  Geltung  verzichtet.  Hört  die  Presse 
auf,  die  Künderin  der  Wahrheit  zu  sein,  so  ist  sie  nur 
noch  die  feile  Reklame  für  irgend  etwas;  und  Reklame 
ist  immer  würdelos  und  verderblich,  wäre  es  selbst  pa- 
triotische Reklame.  Kritik  ist  die  große  Helferin  des 
Lebensechten.  Eine  Sache,  die  keine  Kritik  erträgt, 
die  Wahrheit  scheut,  ist  verloren.  Nach  diesem 
offenen  Bekenntnis  der  deutschen  bürgerlichen  Presse 
aber  fällt  dem  Publikum  erst  recht  die  Aufgabe  zu, 
sich  selbst  zu  helfen  und  von  dem  verwüstenden  Ein- 
fluß der  Preßmache  sich  zu  befreien:  die  Kritik,  den 
Wahrheitssinn  zu  üben,  die  seine  Blätter  mit  den  natio- 
nalen Pflichten  für  unvereinbar  halten.  Diese  Emanzi- 
pation von  dem  gedruckten  Wort  ist  durchaus  nicht 
leicht.  Bücher  selbst  beweist  auf  jedem  Blatt  seiner 
Broschüre,  wie  sehr  gerade  er  das  Opfer  seiner  deutschen 
Zeitungslektüre  geworden  ist.  Er  nimmt  jede  Mit- 
teilung gläubig  hin,  und  wenn  sie  gar  amtlich  ist,  so 
erstickt  auch  der  leiseste  Versuch  der  Kritik.  So  gibt 
er  in  seinem  Heft  den  Aufsatz  wieder,  den  er  in  einer 
norwegischen  Zeitschrift  über  „unsere  Sache",  d.  h. 
über  die  Ursachen  des  Krieges  veröffentlicht  hat:  eine 
völlig  kritiklose  Wiederholung  der  üblichen  Argumente, 
die  er  täglich  im  Blättchen  gelesen  hat.  Kein  Wunder, 
daß  seine  Darlegungen  den  norwegischen  Herausgeber 
nicht  überzeugten,  wie  Bücher  selbst  angibt. 

Unser  Professor  sucht  nach  allerlei  Mitteln,  die  Presse 
zu  heben.  Was  er  über  die  kapitalistisch-offiziöse  Ab- 
hängigkeit der  großen  Nachrichtenagitatoren  sagt,  ist 
richtig,  aber  nicht  entscheidend.  Noch  weniger  ist 
mit  einer  besonderen  Vorbereitung  der  Journalisten, 
mit  einer  „akademischen  Berufsbildung  für  Zeitungs- 
kunde" getan.  Bücher  streift  nicht  einmal  die  eigent- 
liche Ursache  des  spezifischen  deutschen  Presseelends: 


I 


Die  Abhängigkeit  der  Journalisten  von  den  kapita- 
listischen Verlegern.  Der  deutsche  Journalist  ist  nur 
der  Angestellte  eines  Zeitungsgeschäfts,  der  Hilfs- 
arbeiter, das  Werkzeug  für  Verlegerinteressen.  Die 
Richtung  des  Verlegers  ist  durch  dreierlei  Rücksichten 
bestimmt:  die  Rücksicht  auf  den  Abonnenten,  den 
Inserenten  und  die  Information.  Diesem  also  gelenkten 
Verlegergeist  ist  jede  Überzeugung  der  angestellten 
Schreiber  unterzuordnen.  Durch  den  Wettbewerb  der 
Information  ist  die  ganze  deutsche  bürgerliche  Presse, 
zumal  in  Fragen  der  auswärtigen  Politik,  offiziös  ge- 
worden; nur  die  von  den  bekannten  Interessengruppen 
dirigierten  Alldeutschen  Organe  haben  sich  auf  dem 
Gebiet  der  auswärtigen  Politik  eine  von  der  Regierung 
unabhängige  Freiheit  des  Urteils  bewahrt.  Deswegenhat 
die  kapitalistische  Presse,  deren  Hersteller  längst  keine 
Freiheit  zu  verlieren  hatten,  jetzt  auch  die  formelle 
Beseitigung  der  Meinungsfreiheit  durch  die  Militär- 
zensur schmerzlos  ertragen.  Ihre  Beschwerden  gegen 
die  Zensur  richteten  sich  nicht  gegen  die  Unterdrückung 
der  Kritik,  sondern  nur  gegen  einen  gewissen  schnei- 
digen Verkehrston,  gegen  technische  Betriebserschwe- 
rungen und  gegen  die  ungleiche  Behandlung  der  Kon- 
kurrenz, soweit  sie  mit  Nachrichten  bevorzugt  schien. 

In  dieser  Hinsicht  aber  steht  die  ausländische 
Presse  —  trotz  aller  Korruption  —  „turmhoch"  über 
der  deutschen.  Dort  ist  der  Publizist  Herr  über  die 
Presse.  Und  immer  gibt  es  unabhängige,  sittlich  und 
geistig  bedeutende  Persönlichkeiten,  die  auch  in  den 
verworfensten  Zeiten  den  Mut  der  Kritik,  der  Wahr- 
heit, der  Menschlichkeit  bekennen  und  bewähren. 
Auch  in  diesem  Kriege  vernimmt  man  dort  immer 
kühne  kritische  Stimmen.  Bei  uns  ist  alles  stumm, 
unterworfen  und  unterwürfig,  kein  bürgerlicher  Jour- 
nalist fühlt  sich  dabei  als  „gefesselter  Mensch",  wenig- 
stens bäumt  sich  keiner  auf,  von  etlichen  Alldeutschen 
abgesehen. 

112 


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Hier  ist  die  Wurzel  des  deutschen  Preßübels,  und 
hier  die  große  Zukunftsaufgabe  der  sozialdemokra- 
tischen Fresse,  die,  kapitalistisch  unbeeinflußt,  eine 
Mission,  kein  Geschäft  ist.  Nach  dem  Kriege  wird  es 
eine  der  dringlichsten  Unternehmungen  sein,  unsere 
Presse  technisch-journalistisch  so  auszugestalten,  daß 
sie  den  Wettbewerb  der  Geschäftsblätter  überwindet. 

Inzwischen  haben  wir  eine  andere,  im  reinsten  Sinne 
nationale  Aufgabe  zu  erfüllen.  Auch  Professor  Bücher 
richtet  einige  Bemerkungen  gegen  die  Zensur,  spär- 
liche Ausführungen,  die  höchst  anschaulich  durch 
klaffende  Zensurlücken  verstärkt  werden.  Niemals 
darf  die  Presse  sich  die  Freiheit  der  Meinungsäußerung 
nehmen  lassen;  und  je  entscheidender  die  Schicksals- 
zeiten der  Völker  andrängen,  um  so  mehr  bedürfen  wir 
der  Sicherung,  Klärung  und  Leitung  durch  den  un- 
bestechlichen Ehrgeiz  der  Wahrheit.  Auch  in  Kriegs- 
zeiten und  gerade  in  ihnen  muß  jede  Maßnahme  der 
Regierung,  jede  Handlung  der  Parteien,  auch  die 
Einzelheiten  der  Kriegsführung,  soweit  sie  einem 
sachlich  begründeten  Urteile  zugänglich  sind,  vor  dem 
Gericht  der  Wahrheit  sich  rechtfertigen.  Eine  Zensur, 
welche  die  zweckdienliche  Aufsicht  über  den  militä- 
rischen Nachrichtendienst  überschreitet,  ist  nichts 
weiter  als  die  organisierte  Neubelebung  des  alten 
Untertanenlandrechts :  Jetzt  ist  Ruhe  die  erste  Bürger- 
pflicht! Was  bei  dieser  Ausschaltung  der  politischen 
Mitarbeit  des  gesamten  Volkes  herauskommt,  lehrt 
die  Geschichte.  In  der  Tat  ist  es  doch  wohl  dem  recht 
begriffenen  nationalen  Interesse  förderlicher,  wenn  die 
freie,  sorgsam  bedachte  und  mutige  Überzeugung  des 
eigenen  Volke9  die  Erscheinungen  der  Zeit  kritisiert, 
als  zu  warten,  bis  das  Ausland  uns  die  Wirkung  fühlbar 
demonstriert,  was  Wahrheit  ist.  Wir  haben  nicht 
Stimmungen  künstlich  herzurichten,  die  doch  vor  der 
ersten  Katastrophe  panisch  flüchten,  wir  haben  viel- 
mehr zur  geistig  kritischen  Mitarbeit  der  gesamten 

8   Biso  er,  Geuramelt«  Schriften.  I.  IZ3 


_      -  JÖigitized  by  Google 


Nation,  zur  Tapferkeit  der  freien  Meinung  und  zur 
Gewissenhaftigkeit  des  begründeten  und  geschulten 
Urteils  zu  erziehen,  die  allein  imstande  sind,  Kata- 
strophen zu  verhüten,  oder  wenn  sie  hereinbrechen, 
mannhaft-ruhig  tätig  zu  überstehen.  Wir  müssen  ohne 
Verzug  die  Freiheit  der  Meinung  zurückgewinnen,  um 
unser  aller  Schicksal  zu  sichern  und  zu  bestimmen. 
Nur  durch  die  öffentliche  Aussprache  wird  echte  und 
beharrliche  Gesinnung  verbürgt;  sonst  vergiftet  feiger 
und  geschwätziger  Klatsch  die  Luft  und  raubt  den 
Atem.  Wer  auch  nur  einen  Augenblick  ohne  die  Frei- 
heit der  Meinung  leben  kann,  der  verdient  kein  Leben, 
der  ist  wert  und  reif,  zugrunde  zu  gehen.  Das  gilt 
von  den  einzelnen  wie  von  den  Völkern. 

Mai  191 5. 

★  * 

Nachdem  diesem  Artikel  die  Veröffentlichung  ge- 
lang, erging  folgende  Verfügung  des  stellvertretenden 
Generalkommandos  in  Münster: 

„Die  Nr.  140  der  ,Essener  Arbeiterzeitung*  enthält 
einen  Aufsatz  ,Die  Presse  im  Kriege*,  der  die 
entschiedene  Mißbilligung  des  stellvertretenden  Ge- 
neralkommandos gefunden  und  zu  Maßnahmen  der 
Presseaufsicht  Veranlassung  gegeben  hat.  Er  greift 
mit  groben  Schmähungen  den  überwiegenden  Teil 
der  deutschen  Presse  an,  der  sich  unter  freiwilliger  Zu- 
rückstellung des  eigenen  Parteistandpunktes  während 
des  Krieges  verständnisvoll  in  den  Dienst  der  vater- 
ländischen Sache  gestellt  und  den  vom  militärischen 
Interesse  gebotenen  Rücksichten  angepaßt  hat.  Da- 
durch verletzt  er  gröblich  den  Burgfrieden.  Der  letzte 
Absatz  enthält  scharfe  Angriffe  gegen  die  auf  gesetz- 
licher Grundlage  arbeitende  Militärzensur  und 
deren  dem  Gebote  der  Staatsnotwendigkeit  entsprin- 
gendes Walten.  Dadurch  werden  militärische  Inter- 
essen gefährdet. 

114 


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Der  Aufsatz  sucht  bei  Gelegenheit  des  Angriffs  auf 
die  bürgerliche  Presse  ferner  die  Maßnahmen  unserer 
Kriegsführung,  insbesondere  die  Torpedierung  der 
,Lusitania*  verächtlich  zu  machen  und  trägt  offen- 
sichtlich eine  vaterlandsfeindliche  Gesinnung  zur 
Schau.  Dadurch  wird  das  vaterländische  Gefühl 
empfindlich  verletzt. 

Die  vaterländisch  gesinnte  Presse  wird  gebeten,  dem 
hier  gekennzeichneten  Aufsatz  keine  weitere  Erwiderung 
zuteil  werden  zu  lassen,  da  sie  einer  besonderen  Recht- 
fertigung ihres  unbestrittenen  Ehr-  und  Pflichtgefühls 
einer  derartigen  sich  selbst  richtenden  Kundgebung 
gegenüber  nicht  bedarf. 

Stellv.  Generalkommando  7.  Armeekorps/' 

In  einem  längeren  Schreiben  habe  ich  mich  darauf 
mit  dem  General  v.  Gayl  in  Münster  persönlich  aus- 
einandergesetzt. Der  Empfang  meines  Briefes  wurde 
mir  bestätigt. 


115 


Die  Wiener  Kongreß -Akte. 

Vor  hundert  Jahren,  am  9.  Juni  181 5,  wurde  in  Wien 
jene  Vertragsurkunde  der  europäischen  Großmächte 
unterzeichnet,  durch  die  der  Weltkrieg  von  1914, 
wenn  nicht  notwendig,  so  doch  erst  möglich  geworden 
ist.  Der  durch  die  französischen  Revolutionskriege  und 
durch  deren  Vollstrecker  Napoleon  unternommene  re- 
volutionäre Versuch,  das  europäische  Festland  in  eine 
einheitliche  Organisation  zusammenzufassen,  war  ein- 
mal an  der  Gegnerschaft  Englands  gescheitert,  das 
zwei  Jahrzehnte  hindurch  einen  ungeheuren  Wirt- 
schaftskrieg gegen  diese  Entwicklung  führte.  Dann 
aber  zerbrach  die  europäische  Revolution  an  dem 
inneren  Widerspruch,  daß  sie  sich  in  den  Formen  der 
Weltmilitärdiktatur  eines  einzigen  Staates,  Frank- 
reichs, durchzusetzen  versuchte.  Mit  dem  Sturz  Na- 
poleons, dem  Träger  der  Idee  des  einheitlichen  Europa, 
zerfiel  die  junge  Organisation  wieder,  und  das  alte 
Europa  wurde  nach  dem  Stande  vor  1789  wieder  her- 
gestellt :  ein  Europa  rein  dynastischer  Interessen  und  des 
„Gleichgewichts",  des  einzigen  Gedankens,  den  die 
Köpfe  der  Diplomaten  des  18.  Jahrhunderts  enthielten. 

Freilich,  es  war  nicht  die  völlige  Herstellung  des 
alten  Zustandes,  den  die  in  Wien  versammelten  Fürsten 
und  ihre  Bevollmächtigten  vertragsmäßig  ordneten. 
So  wurden  die  unzähligen  geistlichen  Souveränitäten, 
die  in  den  vulkanischen  Zeiten  untergegangen  waren, 
nicht  wieder  hergestellt,  mit  der  einzigen  Ausnahme 
des  römischen  Kirchenstaates.  Die  weltlichen  Dynasten 
waren  darin  einig,  die  geistliche  Beute  nicht  wieder 
herauszugeben;  und  so  wurde  denn  das  Werk  des 
Wiener  Kongresses  nicht  nur  durch  den  Protest  der 
Völker,  die  nicht  mehr  befragt  wurden,  nachdem  sie 

116 


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ihr  Blut  für  ihre  Fürsten  geopfert,  sondern  auch  durch 
den  Protest  des  Papstes  begleitet. 

Durch  Vertrag  vom  30.  Mai  18 14  hatten  sich  die 
rier  Allierten  gegen  Napoleon,  England,  Rußland, 
Österreich  und  Preußen,  verpflichtet,  die  Vertreter 
aller  europäischen  Staaten  nach  Wien  einzuberufen, 
um  die  Neuordnung  der  Dinge  herbeizuführen.  Es 
schickten  in  der  Tat  alle  europäischen  Staaten  ihre 
Bevollmächtigten  nach  Wien.  Nicht  weniger  als  90 
souveräne  und  53  mediatisierte  Fürsten  versammelten 
sich  dort.  Aber  in  Wirklichkeit  ist  der  Wiener  Kon- 
greß, der  schon  im  Sommer  18 14  beginnen  sollte,  und 
dessen  Termin  dann  erst  auf  den  1.  Oktober,  weiter 
auf  den  I.  November  verschoben  wurde,  niemals  er- 
öffnet worden.  Was  sich  in  Wien  seit  den  Herbst- 
monaten 18 14  begab,  war  in  Wahrheit  ein  einziger, 
großer  Mummenschanz  der  wiederauferstandenen 
Gewaltigen  des  alten  Europas,  die,  beireit  von  der 
Angst  vor  dem  korsischen  Giganten,  in  rauschenden 
Vergnügungen  und  feilschenden  Intriguen  Länder  und 
Völker  unter  sich  verhandelten  und  verteilten.  Poten- 
taten, Staatsmänner,  Abenteurer  feierten  in  Wien 
die  Wiederkehr  der  alten  Zeit  ihrer  Herrschaft.  Frauen, 
wenn  nicht  immer  schön,  so  doch  immer  liebens- 
würdig und  liebewillig,  verschönten  das  Leben  und 
halfen  durch  ihre  Künste  auch  bei  der  Herstellung  des 
europäischen  Dynasten-Syndikats.  Ein  Heer  von 
Spitzeln  und  Agenten  war  aufgeboten,  um  die  Ver- 
handelnden zu  überwachen.  Kein  Brief  blieb  uner- 
Öffnet,  kein  Papierkorb  undurchstöbert.  Niemand 
traute  dem  andern,  einig  waren  sie  nur  gegen  ihre  ge- 
treuen Untertanen.  Es  kennzeichnete  den  Geist  des 
Wiener  Kongresses,  daß  man  eines  Tages,  als  man 
gar  nicht  mehr  wußte,  welche  neuen  Überraschungen 
man  den  am  ewigen  Karneval  Übersättigten  gewähren 
könnte,  auf  den  Gedanken  verfiel,  nachträglich  die 
bisher  vergessene  Totenfeier  für  den  unfreiwillig  hoch- 


117 


seligen  Ludwig  XVI.  mit  allem  düsteren  Pomp  zu 
veranstalten:  eine  schwarze  Messe  der  wiedererstande- 
nen Legitimität. 

Die  Verteilung  der  europäischen  Beute  selbst  ge- 
schah in  den  Verhandlungen  von  Spezialkommissionen 
und  Sonderverträgen  zwischen  den  einzelnen  Staaten. 
Anfang  1815  waren  die  Gegensätze  zwischen  den 
Mächtegruppen  so  sehr  zugespitzt,  daß  Großbritan- 
nien, Österreich  und  Frankreich  sich  in  einem  Geheim- 
vertrag gegen  Preußen  und  Rußland  zusammen- 
schlössen und  ein  Krieg  der  Verbündeten  gegeneinander 
drohte.  Die  Ansprüche  Rußlands  auf  Landerwerb 
waren  so  groß,  daß  England  die  Störung  des  euro- 
päischen Gleichgewichts  befürchtete.  Der  Ausbruch 
Napoleons  aus  Elba  verhinderte  das  Äußerste.  Gegen 
ihn  fand  man  sich  wieder  zusammen.  Kurz  vor  der 
letzten  Katastrophe  Napoleons  wurden  die  bereits 
am  Anfang  des  Jahres  im  wesentlichen  fertigen  Einzel- 
verträge in  der  Wiener  Kongreß-Akte  zusammengefaßt 
und  deren  121  Artikel  von  Österreich,  Spanien,  Frank- 
reich, Großbritannien,  Portugal,  Preußen,  Rußland 
und  Schweden  unterzeichnet.  Der  Vertrag  ist  nichts 
weiter  wie  eine  Aufteilung  der  Neuerwerbungen  des 
französischen  Kaiserreiches  und  eine  Neuordnung  der 
unter  Napoleons  Einfluß  geratenen  Gebiete.  Die 
Gegner  Napoleons  wurden  entschädigt  und  belohnt, 
seine  Freunde  bestraft  und  beraubt.  In  Deutschland 
zahlte  vor  allem  Sachsen  die  Zeche. 

Auf  der  Höhe  Napoleons  umfaßte  Frankreich  außer 
seinem  alten  Gebiet  Belgien  und  die  Rheinprovinz, 
Teile  der  Schweiz,  die  Niederlande,  ein  Drittel  Italiens, 
die  deutschen  Nordseegebiete  und  Illyrien.  Mittelbar 
herrschte  Napoleon  über  Spanien,  Neapel,  Italien, 
das  Königreich  Westfalen,  die  deutschen  Rheinbund- 
staaten, Dänemark  und  die  Schweiz.  Frankreich  wurde 
durch  die  Wiener  Kongreß-Akte  in  seine  vorrevolu- 
tionären Grenzen  zurückgedrängt.    Ihre  großen  Er- 

118 


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oberungen  behielten  die  beiden  eigentlichen  Sieger 
der  „Freiheitskriege":  England  und  Rußland.  Der 
Zar  durfte  sich  Bessarabien,  Finnland  und  Polen  an- 
eignen. Mitteleuropa  wurde  durch  Österreich  be- 
herrscht, das  freilich  ebensowenig  wie  Preußen  alles 
Verlorene  wiedererhielt,  dafür  aber  reichlich  ent- 
schädigt wurde  auf  Kosten  Italiens  und  Bayerns. 
Holland  und  Belgien  wurden  vereinigt  und  neutrali- 
siert, desgleichen  die  Schweiz.  Die  Karte  Europas 
wurde  so  geordnet,  wie  sie  bis  zu  den  Nationalkriegen 
der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  geblieben  ist. 

Das  Werk  des  Wiener  Kongresses  wurde  dadurch 
bezeichnet,  daß  der  ganz  schmähliche  Länderhandel 
ohne  jede  Mitwirkung  der  Völker  durch  die  Fürsten 
ausgeführt  wurde.  Eine  rücksichtslos  gebietende  und 
unterdrückende  Zensur  ließ  auch  nicht  die  beschei- 
denste Kritik,  die  geringste  Störung  des  Burgfriedens 
zwischen  Fürsten  und  Untertanen  zu.  Die  Zerrissen- 
heit Europas  aber  wurde  noch  dadurch  verhängnisvoll 
gesteigert,  daß  bei  der  Verteilung  keinerlei  Rücbichten 
auf  nationale  Zusammengehörigkeit  genommen  wurde. 
Das  Opfer  dieser  brutalen  Zerreißung  der  volksmäßig 
zusammengehörenden  Gebiete  war  vor  allem  Italien, 
dessen  nördliche  Gebiete  Österreich  einverleibt  wurden. 
Polen  wurde  wieder  unter  Rußland,  Österreich  und 
Preußen  aufgeteilt,  dazu  noch  eine  neutrale  Republik 
Krakau  geschaffen,  die  unter  dem  Schutz  von  öster- 
reich,  Rußland  und  Preußen  gestellt  wurde  —  mit 
dem  Erfolg,  daß  die  drei  Schutzmächte  den  für  ewige 
Zeiten  neutralisierten  Staat  1846  gewaltsam  Öster- 
reich übergaben,  „in  Erwägung,  daß  Krakau  der  Sitz 
einer  Zentralbehörde  war,  die  sich  Revolutionsregie- 
rung nannte." 

Die  Schöpfung  des  Wiener  Kongresses  hielt  zwar  ein 
halbes  Jahrhundert  zusammen,  es  war  aber  ein  so 
künstliches  und  naturwidriges  Gebilde,  das,  einmal 
gelockert,  es  Europa  in  immer  größere  Katastrophen 


119 


stürzen  mußte.  Es  wurden  in  Wien  nicht  nur  über 
den  Kopf  der  Völker  hinweg  die  äußeren  Grenzen  der 
Linder  bestimmt,  es  wurde  auch  über  ihre  inneren 
Zustände  entschieden.  Die  Revolution  wurde  aus- 
gerottet. Die  absolute  Monarchie  wurde,  wenigstens 
in  Mittel-  und  Osteuropa,  wieder  hergestellt.  Alles 
Freiheitsstreben  der  Völker  wurde  mit  eiserner  Faust 
niedergeschlagen.  Das  deutsche  Volk  war  von  der  Ein- 
heit weiter  entfernt  denn  je;  zwei  Großmächte,  Öster- 
reich und  Preußen,  kämpften  unablässig  um  die  Vor- 
macht über  das  dynastisch  zersplitterte  Volk.  Diese 
beiden  deutschen  Großmächte  wurden  zugleich  die 
brutalsten  Vorkämpfer  der  Reaktion.  Auf  dem  Schaf- 
fott, im  Zuchthaus,  endigte  jeder  Deutsche,  der  in 
den  nächsten  Jahrzehnten  für  deutsche  Einheit,  deut- 
sche Freiheit  zu  wirken  wagte.  Die  Revolution  1848/49, 
das  Sozialistengesetz  hat  bei  weitem  nicht  so  viele  Mär- 
tyrer erfordert  wie  die  Zeit  nach  dem  Wiener  Kongreß. 

Die  liberal-demokratische  Legende  spricht  davon, 
daß  die  Völker  um  den  Ertrag  der  Freiheitskriege  be- 
trogen worden  seien;  daß  man  die  ihnen  gegebenen 
Versprechungen  nicht  gehalten  habe.  Der  Vorwurf  ist 
nicht  durchaus  berechtigt.  Im  Grunde  hatte  man  den 
Völkern  nicht  einmal  etwas  versprochen.  Und  schon 
von  Anbeginn  des  Krieges  ließ  die  rücksichtslose  innere 
Gewaltherrschaft  die  Denkenden  nicht  im  Zweifel, 
daß  mit  der  Niederwerfung  des  napoleonischen' Frank- 
reich vor  allem  die  Ausrottung  des  revolutionären 
Geistes  bis  zur  Wurzel  beabsichtigt  sei. 

Die  Wiener  Kongreß-Akte  regelt  nur  die  äußeren 
Beziehungen  der  Staaten  zueinander.  Ursprünglich 
aber  war  geplant,  die  Veröffentlichung  des  Vertrages 
mit  einer  Kundgebung  an  das  europäische  Publikum 
zu  begleiten,  die  über  die  letzten  Absichten  der  ver- 
einigten Fürsten  Aufschluß  geben  sollte.  Der  Entwurf 
aus  dem  Februar  des  Jahres  181 5  ist  erhalten;  er  ent- 
hüllt klar  und  bestimmt  das  System,  das  fortan  für  die 

xao 


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Regierungen  bestimmend  wurde.  Da  hieß  es:  „Wenn 
der  Kongreß  nicht  alle  Erwartungen  der  Zeitgenossen 
erfüllt  hat,  wenn  er  nicht  allen  Wünschen  entsprechen 
konnte  . . .,  wenn  er  endlich  nicht  jene  ideale  Voll- 
kommenheit der  sozialen  Ordnung  zu  verwirklichen 
vermochte,  nach  der  die  erleuchteten  Geister  und  die 
menschenfreundlichen  Herzen  aller  Jahrhunderte  ver- 
geblich geschmachtet  haben,  —  so  hat  er  wenigstens 
die  ihm  unmittelbar  zugefallene  Aufgabe  gelöst . . . 
Er  hat  Interessen  geordnet,  deren  Gegensatz  Europa 
in  neue  Zerrüttungen  hätte  schleudern  können  . . . ; 
und  nur  der  Stimme  der  ermüdeten  und  leidenden 
Menschheit  folgend,  hat  er  dem  Wunsche,  den  Frieden 
zu  sichern,  den  vergänglichen  Glanz  geopfert,  den 
weniger  versöhnliche  Menschen  auf  seinen  Weg  hätten 
werfen  können.  Indem  die  Fürsten  den  Kongreß  ver- 
lassen, durchdrungen  von  der  Wichtigkeit  eines  Augen- 
blicks, mit  dem  eine  neue  Epoche  in  der  Weltgeschichte 
beginnen  wird,  erkennen  sie  an,  daß  die  erste  ihrer 
Pflichten  ist,  den  Frieden  zu  bewahren  und  zu  festigen, 
der  durch  so  viel  edle  Anstrengungen,  durch  so  viel 
schmerzliche  Opfer,  durch  die  heldenhafte  Hingebung 
ihrer  Untertanen  und  durch  die  für  immer  denk- 
würdigen Taten  ihrer  tapferen  Heere  erkauft  ist . . . 
Das  Glück  ihrer  Völker  sichern,  alle  Arten  nützlicher 
Gewerbe  wieder  herstellen,  alle  Künste  schützen,  die 
das  Land  bereichern  und  verschönern,  die  Verwaltung 
zu  vervollkommnen,  ebenso  wie  die  Gesetzgebung,  die 
Landeskultur  in  allen  ihren  Zweigen :  das  muß  hinfort 
der  große  Gegenstand  all  ihrer  Arbeiten,  ihres  Strebens 
und  ihres  Ehrgeizes  bilden.  Sie  sind  mehr  wie  je  über- 
zeugt, daß  die  wahre  Grundlage  der  Sicherheit  und 
der  Kraft  der  Staaten  in  der  Weisheit  der  Regierungen 
liegt,  in  der  Güte  der  Gesetze,  in  der  Liebe  und 
Treue  der  Völker  .  .  .    Mögen  die  religiösen  Gefühle, 
die  Achtung  für  die  eingesetzten  Obrigkeiten,  die 
Unterwerfung  unter  die  Gesetze  und  der  Abscheu 


121 


gegen  alles,  was  die  öffentliche  Ordnung  stören  könnte, 
die  unlöslichen  Bande  der  bürgerlichen  und  politi- 
schen Gesellschaft  werden!  Mögen  brüderliche  Be- 
ziehungen, gegenseitiges  Helfen  und  Wohlwollen  zwi- 
schen den  Ländern  herrschen!"  usw. 

Man  sieht,  daß  die  Souveräne,  die  in  Wien  Europa 
aufteilten  und  den  Weltfrieden  stifteten,  ihren  Unter- 
tanen keine  andere  Aufgabe  zuwiesen,  als  die  Pflege 
religiöser  Gesinnung,  dynastische  Treue  und  die  Unter- 
werfung unter  die  weisen  Befehle  der  Obrigkeit.  Der 
so  geordnete  innere  Frieden  trug  in  seinem  Schöße 
die  Revolution,  wie  der  Weltfrieden  der  Potentaten 
und  Diplomaten  den  Weltkrieg.  Die  Erläuterung  der 
Wiener  Kongreß- Akte,  die  zu  Beginn  des  Jahres  1815 
zwar  entworfen,  dann  jedoch  unterdrückt  wurde,  trat 
erst  im  Herbst  ans  Licht.  Der  Geist  jenes  Entwurfes 
herrschte  in  dem  am  25.  September  181 5  zwischen 
dem  römisch-katholischen  Kaiser  von  Österreich,  dem 
griechisch-katholischen  Zaren  und  dem  protestanti- 
schen König  von  Preußen  abgeschlossenen  Vertrag,  in 
dem  sich  die  drei  Fürsten  in  schwülstigen  Phrasen 
verpflichteten,  die  Ordnung  der  Welt,  alle  Politik  nach 
den  Gesetzen  des  Christentums  zuleiten.  „Die  heilige 
Allianz"  war  die  andere  Seite,  die  innere  Ergänzung 
der  Wiener  Kongreß-Akte.  Die  Flüche  der  Völker 
lasten  auf  ihr. 

Der  Wiener  Kongreß  hat  die  Entwicklung  Europas 
gehemmt,  das  innere  Zusammenwachsen  der  Völker 
und  Staaten  Europas  verhindert.  Er  hat  den  ewigen 
Frieden,  den  er  schaffen  wollte,  nicht  erreicht,  sondern 
nur  einen  Kirchhofsfrieden  der  Freiheit  für  eine  Galgen- 
frist erzwungen.  Ein  Jahrhundert  danach  sehnt  sich 
die  Welt  nach  einem  neuen  Kongreß,  der  nun  endlich 
den  Frieden  zwischen  den  Völkern  schaffen  soll,  einen 
Kongreß,  in  dem  die  Völker  selbst  mündig  und  frei, 
über  ihr  Schicksal  entscheiden. 

Juni  1915. 
122 


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Hu  s. 


Ein  halbes  Jahrtausend  nach  seinem  Feuertod. 

Ungezählt  sind  die  Menschen,  die  durch  Gewalt  ihr 
Leben  verloren.  Mit  höchstem  Ruhm  ist  die  Tapfer- 
keit im  Kriege,  der  Tod  in  der  Schlacht  geehrt.  Der 
kollektive  und  legitime  Mut  im  Dienste  einer  Gemein- 
schaft, auf  Geheiß  einer  Obrigkeit  wird  gefeiert,  und 
wenn  die  Blutbrunst  über  die  Menschen  kommt,  wächst 
gewaltig  das  Heldentum  der  Vernichtung.  Dennoch, 
all  die  Millionen,  die  so  auf  dem  verschlungenen  Wege 
der  menschlichen  Entwicklung  fielen,  sind  rasch  ver- 
gessen. Es  bleibt  nichts  übrig  als  dürre  Jahreszahlen 
über  namenlosen  Massengräbern.  Blut  und  Tränen 
trocknen  schnell.  Und  der  Aufschwung  der  Gefühle, 
der  in  Sieg  und  Untergang  berauscht,  hinterläßt,  nach- 
dem er  sein  Werk  verrichtet,  keine  Spuren. 

So  rasch  verweht  der  Ruf  ruhmvollen  Sterbens. 
Anders  aber  erhält  sich  die  Erinnerung  an  ehrlosen 
Tod,  an  das  Martyrium  des  Einzelnen,  der  aus  eigenem 
individuellen  Entschluß  wider  Macht  und  Gesetz  sich 
opferte,  beschimpft,  verleumdet,  verflucht  —  um  einer 
Uberzeugung  willen.  Die  tiefen  politischen  sozialen 
Ursachen,  aus  denen  solche  Aufrührer  der  Idee  er- 
standen, schwinden  aus  dem  allgemeinen  Bewußtsein 
und  werden  zum  Gegenstand  geschichtlicher  For- 
schung. Gemeingut  der  Menschheit  aber  wird  das 
Gedächtnis  an  den  Bekenner,  der  fiel,  weil  er  die  ein- 
mal erkannte  Wahrheit  nicht  verraten  wollte.  Dieser 
Ruhm  steigt  durch  die  Jahrtausende,  diese  Helden 
werden  niemals  vergessen.  Es  lebt  in  der  Menschheit, 
zu  Zeiten  verdunkelt,  aber  niemals  ganz  erloschen, 
dennoch  der  Glauben,  daß  das  Größte  und  Frucht- 

123 


barste  aller  menschlichen  Leistung,  die  einzige  Ge- 
währ für  den  Aufstieg  der  Kultur,  die  uneingeschränkte 
Freiheit  des  Gedankens  und  die  unbeugsame  persön- 
liche Tapferkeit  des  Bekennens  ist.  Dieser  geistige  und 
sittliche  Wahrheitsdienst  steht  über  allem  Leben; 
denn  er  ist  die  Voraussetzung  eines  Lebens,  das  wert 
ist,  gelebt  zu  werden.  Als  unklare  Ehrfurcht  vor  dem 
Gewaltigsten  lebt  dieser  Heldenkult  triebhaft  in 
jedem  gesunden  Menschen.  Kaum  zu  ermessen  aber 
wäre  es,  auf  welcher  Höhe  heute  die  Menschheit  stände, 
wenn  der  gleiche  Todesmut,  der  als  gebotene,  gesetz- 
liche Massenerscheinung  auf  jedem  Blatt  der  Geschichte 
verzeichnet  wird,  als  individueller  Entschluß,  im  Dienst 
einer  Überzeugung,  wider  alle  herrschende  Gewalt,  von 
allen  gewagt  würde;  wenn  das  Sterben  für  die  selbst- 
gewählte Idee,  für  die  eigene  Sache  jedem  als  heilige 
Pflicht  erschiene.  Dann  erst  könnten  wir  die  Märtyrer 
einer  dunklen  Vergangenheit,  die  erhabenen  Einzelnen 
vergessen,  deren  wir  heute  mehr  denn  je  bedürfen, 
um  die  Seele  der  Menschheit  nicht  zu  verlieren. 

So  gedenken  wir  heute,  in  bedeutsamer  Bewegung,  des 
armen  tschechischen  Bauernsohns  Johann  Hus,  der  am 
6.- Juli  141 5  zu  Kostnitz  (Konstanz)  während  desselben 
Konzils  verbrannt  wurde,  das  drei  Gegenpäpste  ab- 
setzte, einen  vierten  Papst  erwählte,  eine  neue  Heilige 
—  Brigitta  —  schuf,  und  die  Hohenzollern  feierlich 
mit  der  Mark  Brandenburg  belehnte.^ 

Klerikale  Geschichtsschreiber  der  Gegenwart,  wie 
Janßen,  führen  die  ganze  soziale  Revolution  des 
16.  Jahrhunderts  auf  die  Lehre  des  Johann  Hus  zurück. 
Daran  ist  richtig,  daß  die  geistige  Beweisführung  der 
Reformation,  mit  der  die  sozialen  Kämpfe  intellektuell 
ausgefochten  wurden,  von  Hus  übernommen  wurde, 
wie  Hus  sich  selbst  an  die  Lehren  des  Engländers 
Wiclif  anlehnte.  Daß  die  revolutionäre  Bewegung  der 
Zeit  in  der  Maske  dogmatischer  Ketzereien  erschien, 
war  natürlich  nur  äußerer  Schein.  Um  Dogmen  hätte 

124 


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man  sich  niemals  die  Köpfe  gespalten,  wenn  hinter 
ihnen  nicht  die  Lebensfragen  kirchlich  weltlicher 
Macht,  weltpolitisch-nationale  Konflikte  und  tiefste 
soziale  Gegensätze  verborgen  gewesen  wären. 

Es  ist  das  Zeitalter  der  Kirchenspaltung,  der  Gegen- 
päpste. Das  Papsttum  wird  national  zerklüftet: 
Frankreich,  England,  Italien,  Deutschland  ringen  um 
seine  Dienste.  Das  damalige  Papsttum  selbst  ist  der 
unersättliche  Steuereinnehmer  der  christlichen  Welt. 
Er  beutet  den  mittellosen  Bürger  und  den  zinsbelaste- 
ten Bauern  aus.  Er  nimmt  sein  Geld  und  spendet  ihm 
dafür  den  Ablaß  seiner  Sünden.  Die  Kirche  ist  eine 
mächtige,  wirtschaftliche  Organisation,  unter  deren 
Ausbeutung  die  Massen  leiden,  und  die  die  reifenden 
Nationalstaaten  als  Hemmung  empfinden.  Die  Gegner- 
schaft gegen  das  Papsttum  erstarkte  zuerst  in  England, 
das  den  hundertjährigen  Krieg  mit  Frankreich  führte 
und  den  mit  dem  Feinde  verbündeten,  in  Avignon 
sitzenden  Papst  bekämpfen  mußte.  Dieser  Opposition 
lieh  Wiclif,  unter  der  Duldung  und  Förderung  der 
Herrschenden  Englands,  seine  ketzerischen  Lehren.  Er 
berief  sich  auf  die  Heilige  Schrift,  erkannte  nur  ihre 
Gebote  an  und  hob,  in  schneidender  Schärfe,  den 
Gegensatz  christlicher  Armut  mit  dem  Reichtum  und 
der  Pracht  des  Papstes  und  der  Kirche  hervor.  Damit 
griff  er  den  Besitz  und  das  Steuerrecht  der  Kirche  an, 
zur  großen  Genugtuung  der  weltlichen  Gewalthaber, 
die  damit  Anwartschaft  auf  die  kirchlichen  Güter  er- 
hielten. Wiclif  entwurzelte  auch  geistig  die  Autorität 
der  Kirche,  durch  die  Aufstellung  des  Satzes,  dem 
Hus  dann  die  Prägung  gab,  „daß  ein  von  Ewigkeit  her 
Verdammter  oder  ein  in  Todsünden  Lebender  keine 
Rechtsgewalt  über  Christen  haben  solle".  Das  war  die 
fürchterliche  Ketzerei,  die  Hus  vor  allem  den  Scheiter- 
haufen schichtete.  Es  war  auch  in  der  Tat  die  Anfech- 
tung aller  Kirchenmacht.  Denn  indem  er  über  alle 
Hierarchie  das  christliche  Sittengesetz  stellte  in  seiner 

125 


Reinheit  und  Ursprünglichkeit,  hatte  kein  Papst  und  kein 
Bischof,  übrigens  auch  kein  König  und  Herzog  mehr 
Sicherheit  und  Bestand.  Er  stand  unablässig  vor  dem 
Gericht  urchristlicher  Sittenlehre  und  mußte  jedem 
Volksprediger  weichen,  der  ihm  die  Verletzung  der 
christlichen  Gebote  nachwies.  So  wurde  die  öffentliche 
Meinung,  der  schlichte  Sinn  ernsthafter  Christenmen- 
schen, die  Frömmigkeit  der  geistig  und  weltlich  Armen, 
höchste  Autorität  und  Richter  über  die  herrschenden 
Autoritäten  —  eine  höchst  demokratische  Anschauung. 

Wiclifs  Lehren  drangen  nach  Böhmen  und  bildeten 
sich  dort  nach  den  eigentümlichen  wirtschaftlichen, 
sozialen  und  nationalen  Verhältnissen  um.  Böhmen 
war  im  14.  Jahrhundert  das  wirtschaftlich  entwickeltste 
Land  des  deutschen  Reiches  geworden.  Die  Silber- 
gruben brachten  großen  Reichtum,  belebten  Gewerbe 
und  Wissenschaft,  ließen  aber  auch  die  sozialen  Gegen- 
sätze um  so  schärfer  aufeinanderprallen,  als  sie  national 
gesondert  waren.  Die  Entwicklung  des  Landes  geschah 
durch  deutsche  Einwanderer,  die  bald  den  hohen  Klerus, 
die  Universität  —  Prag  wurde  als  erste  deutsche  Uni- 
versität nach  dem  Vorbild  von  Paris  gegründet  —  den 
adligen  Grundbesitz,  das  städtische  Patriziat  beherrsch- 
ten, während  die  tschechische  Urbevölkerung  aus  den 
kleinen  Leuten  der  Städte  und  den  im  tiefsten  Elend 
schmachtenden  ausgebeuteten  Bauern  bestand.  Damit 
ergab  sich,  daß  die  Deutschen  rechtgläubig,  päpstlich 
gesinnt  waren,  während  die  Tschechen  in  Papsttum  und 
Kirche  den  Unterdrücker  haßten.  Die  Krone  schwankte 
und  suchte  zu  vermitteln.  Ein  Teil  des  ärmeren  Adel«, 
den  der  Kampf  gegen  den  ungeheuren  Besitz  lockte, 
stand  zur  Opposition.  Der  Wortführer  des  ländlichen 
und  städtischen  Proletariats  aber  wurde  Hus. 

Johann  Hus  war  am  6.  Juli  1373  zu  Hussinecz  in 
Böhmen  geboren,  als  Sohn  geringer  Bauern.  Seine 
große  Begabung  hob  ihn  empor.  Er  hungerte  sich  als 
mittelloser  Prager  Student  durch.  Mit  27  Jahren  ist 

126 


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er  Professor  an  der  Universität,  zugleich  einflußreicher 
Prediger  und  Beichtvater  der  Königin.  Er  ging  von 
Anfang  an  von  den  Satzungen  der  Kirche  zu  den  Leh- 
ren des  Urchristentums  zurück,  wie  er  sie  in  der  Bibel 
fand.  Als  er  dann  mit  den  Schriften  Wiclifs  bekannt 
wurde,  bekamen  die  längst  in  ihm  lebenden  Gedanken 
Richtung  und  Form.  Er  schrieb  und  predigte  nun  mit 
wachsender  Leidenschaftlichkeit  und  großem  Erfolg 
gegen  Papsttum  und  Kirche,  gegen  widerchristlichen 
Aberglauben,  willkürliche  Gebräuche,  vor  allem  gegen 
den  Ablaß,  der  nichts  wie  eine  drückende  Besteuerung 
der  Besitzlosen  war.  Zum  ersten  tiefgehenden  Kon- 
flikt kam  es  über  den  Machtverhältnissen  an  der  Uni- 
versität Prag,  die  damals  eine  mächtige  Organisation 
war  und  über  ioooo  Studenten  aus  aller  Herren  Länder 
zählte.  Sie  war  in  vier  Nationen  gegliedert,  von  denen 
die  Tschechen  nur  eine  Stimme  hatten.  Hus  gelang  es, 
beim  König  durchzusetzen,  daß  die  böhmische  Nation 
die  Mehrheit  der  Stimmen  erhielt.  Darauf  verließen 
die  deutschen  Professoren  und  Studenten  —  an 
5000  Mann  —  Prag  und  gründeten  1409  die  Universi- 
tät Leipzig.  Hus  wurde  nun  Rektor  der  Universität. 
Als  er  Wiclifsche  Schriften  übersetzte,  wurde  er  auf 
Denunziation  vor  den  Erzbischof  von  Prag,  Zbynek 
von  Hasenberg,  geladen,  der  sich  aber  mit  seiner  Er- 
klärung begnügte,  wenn  er  aus  Übereilung  etwas  gegen 
den  christlichen  Glauben  gelehrt  haben  sollte,  so  sei 
er  bereit,  es  zu  verbessern.  Die  Katastrophe  führte  die 
Kühnheit  herbei,  mit  der  Hus  141 1  gegen  den  Krieg 
und  die  Kriegsmittel  agitierte.  Papst  Johann  XXIII., 
dem  man  den  Beinamen  des  „eingefleischten  Teufels" 
gegeben  hat,  rief  die  Christenvölker  zum  Kreuzzug 
gegen  den  König  von  Neapel  auf,  der  einen  der  Gegen- 
päpste unterstützte.  Als  die  päpstlichen  Gesandten 
nach  Prag  kamen  und  das  Volk  zur  Entrichtung  der 
Kriegssteuern  aufriefen  —  in  der  Form  des  Ablaß  — 
predigte  Hus  ungestüm  dawider  und  das  erregte  Volk 


127 


entriß  den  Boten  des  Papstes  die  Bulle  und  verbrannte 
sie,  nachdem  man  sie  in  höhnendem  Umzug  durch  die 
Stadt  geschleift  hatte.  Inzwischen  war  ein  neuer  Erz- 
bischof  nach  Prag  gekommen,  wie  es  heißt,  ein  Analpha- 
bet, der  die  Prager  Begebenheiten  dem  Papst  denun- 
zierte. Hus  wurde  in  Bann  getan,  seine  ketzerischen 
Lehren  verflucht.  Der  König  konnte  ihn  nicht  mehr 
schützen.  Er  verließ  Prag,  fand  Asyl  auf  den  Burgen 
adliger  Gönner,  und  predigte  furchtlos  weiter  im  Volke. 

Im  Jahre  1414  berief  Kaiser  Sigismund  jenes  Kon- 
zil nach  Konstanz,  das  drei  Jahre  lang  die  kleine  Stadt 
am  Bodensee  zum  Heerlager  aller  Mächtigen  in  der 
Christenheit  machte.  An  hunderttausend  Menschen 
sollten  sich  dort  versammelt  haben:  Päpste,  Fürsten, 
Kardinäle,  Bischöfe,  Ritter,  Gelehrte,  Abenteurer, 
Handwerker  (unter  anderen  allein  72  Goldschmiede) 
und  Händler  aus  allen  christlichen  Ländern,  nicht  zu 
vergessen  die  lieblichen  Zierden,  von  denen  der  Chro- 
nist berichtet:  „Über  700  öffentliche  Dirnen  in  den 
Frauenhäusern  und  solche,  die  eigene  Häuser  gemietet 
hatten,  dazu  noch  die  heimlichen,  deren  Zahl  man 
gar  nicht  angeben  kann." 

Das  Konzil  wollte  nicht  nur  den  Streit  der  Päpste 
beendigen,  sondern  auch  die  Ketzerei  ausrotten.  Hus 
wurde  nach  Konstanz  geladen.  Kaiser  Sigismund  gab 
ihm  einen  Geleitsbrief.  Die  Gelehrten  streiten  sich, 
ob  dieses  freie  Geleit  nur  einen  einfachen  Reisepaß 
darstellte  oder  ihm  Sicherheit  für  Freiheit  und  Leben 
verbürgen  sollte.  Jedenfalls  war  das  Konzil  der  Mei- 
nung, daß  einem  Ketzer  überhaupt  keine  Verpflich- 
tungen zu  halten  seien.  Am  3.  November  1414  kam 
Hus  in  Konstanz  an.  Er  wurde  von  einem  Ausschuß 
verhört,  dann  für  ein  halbes  Jahr  in  einem  morastigen 
Kerker  begraben.  Am  8.  Juni  141 5  wurde  er  heraus- 
geholt, damit  er  sich  vor  der  Gesamtheit  des  Konzils 
verantworte.  Er  verteidigte  sich  mit  aller  Glut  seiner 
Überzeugung,  in  dem  Wahn,  daß  es  die  Wahrheit  gelte, 

128 


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während  doch  die  Interessen  von  Anbeginn  das  Urteil 
entschieden  hatten.  Hus  lehnte  jeden  Widerruf  ab. 
Das  Urteil  besagte,  „daß,  nachdem  Johannes  Hus  als 
Schüler  und  hartnäckiger  Anhänger  Wiclifs  diese  und 
andere  verwerfliche  Artikel  als  katholisch  behauptet 
und  veröffentlicht  habe,  dieselben  aber  teils  irrig,  teils 
skandalös,  fromme  Ohren  beleidigend,  verwegen  oder 
aufrührerisch,  teils  auch  notorisch  häretisch  seien,  alle 
einzelnen  seiner  Traktate  und  Werke  verworfen  und 
verdammt  und  zur  öffentlichen  Verbrennung  verurteilt4' 
seien.  Hus  selbst  wurde  als  wahren  und  offenkundiger 
Ketzer  und  Verführer  des  Volks  befunden.  Seine  geist- 
lichen Richter  rissen  ihm  das  Priestergewand  herunter, 
dann  übergaben  sie  ihn  der  weltlichen  Gerechtigkeit. 

Auf  Ketzerei  stand  der  Feuertod.  Das  Urteil  wurde 
sofort  vollstreckt.  „Hus  trug,  so  erzählt  der  Konstan- 
zer Bürger  Ulrich  von  Richental  in  seiner  Chronik  des 
Konzils  (die  unlängst  in  einer  leicht  lesbaren  Bear- 
beitung in  Vogtländers  „Quellenbüchern"  erschienen 
ist),  eine  weiße  Bischofsmütze  auf  seinem  Kopfe,  auf 
der  waren  zwei  Teufel  gemalt,  und  zwischen  beiden 
stand  Heresiarcha,  das  heißt  soviel  als  Erzbischof  aller 
Ketzer.  Die  von  Konstanz  führten  ihn  mit  mehr  als 
looo  gewappneten  Männern  hinaus.  Infolge  des  großen 
Gedränges  mußte  man  einen  Umweg  machen,  und  es 
wurden  immer  mehr  der  gewappneten  Leute,  gegen 
3000,  ohne  die  unbewaffneten  und  die  Frauen.  Auf 
der  Brücke  am  Geltinger  Tor  mußte  man  die  Menschen 
zurückhalten,  nur  truppweise  wurden  sie  über  die 
Brücke  gelassen,  weil  man  fürchtete,  daß  die  Brücke 
zusammenbräche.  Während  er  hinausgeführt  wurde, 
betete  er  beständig:  Jesu  Christe,  du  Sohn  des  leben- 
digen Gottes,  erbarme  dich  meiner.  Als  er  auf  das 
äußere  Feld  kam  und  das  Feuer,  Holz  und  Stroh  be- 
merkte, fiel  er  dreimal  auf  seine  Kniee  und  sprach 
laut :  Jesu  Christe,  du  Sohn  des  lebendigen  Gottes,  der 
du  für  uns  gelitten  hast,  erbarme  dich  meiner.  Da- 


9    Bisner,  GMimtuelt«  Schriften.  I. 


129 


nach  fragte  man  ihn,  ob  er  beichten  wolle.  Er  sprach : 
gern,  obgleich  es  hier  sehr  enge  ist.  Es  war  ein  Priester 
da,  Ulrich  Schorand.   Dieser  ging  zu  Hus  hin  und 
sprach  zu  ihm :  Lieber  Herr  und  Meister,  wollt  Ihr  dem 
Unglauben  und  der  Ketzerei,  um  derentwillen  ihr  > 
leiden  müßt,  entsagen,  so  will  ich  gern  eure  Beichte 
hören.  Wollt  Ihr  das  aber  nicht  tun,  so  wißt  Ihr  selbst 
wohl,  daß  -in  den  geistlichen  Vorschriften  steht,  daß 
man  keinem  Ketzer  die  Beichte  hören  soll.   Da  er- 
widerte Hus :  Es  ist  nicht  nötig,  ich  bin  kein  Todsünder. 
Als  er  darauf  anfangen  wollte,  deutsch  zu  predigen, 
wollte  das  Herzog  Ludwig  nicht  leiden  und  befahl,  ihn 
zu  verbrennen.  Da  ergriff  ihn  der  Henker  und  band 
ihn  in  seinem  Gewand  an  einen  Pfahl.  Er  stellte  ihn  auf 
einen  Schemel,  legte  Holz  und  Stroh  um  ihn  herum, 
schüttete  etwas  Pech  hinein  und  brannte  es  an.  Da  be- 
gann er  gewaltig  zu  schreien  und  war  bald  verbrannt. 
Es  entstand  aber  der  schlimmste  Gestank,  den  man  je 
riechen  konnte,  denn  der  Kardinal  Pankrazius  hatte  sein 
Maultier,  nachdem  es  an  Altersschwäche  gestorben  war, 
dort  «begraben  lassen.  Infolge  der  Hitze  tat  sich  die 
Erde  auf,  so  daß  der  Gestank  herauskam.  Dann  führte 
man  alles,  was  man  von  der  Asche  fand,  in  den  Rhein." 

Die  Legende  fügt  hinzu,  daß  ein  Bäuerlein  und  ein 
altes  Weib  herbeigehastet  sei,  um  eine  Tracht  Holz 
zu  dem  Scheiterhaufen  beizusteuern  Da  habe  Hus  weh- 
mütig gerufen:  O  sanete  simplicitas!  Heilige  Einfalt! 

Es  war  aber  vergebens,  die  Asche  in  den  Rhein  zu 
streuen,  damit  nichts  von  dem  Ketzer  übrig  bliebe. 
Soll  man  ihn  doch  auch  deshalb  an  seinem  Geburtstag 
verbrannt  haben,  damit  symbolisch  auch  seine  Geburt 
ausgetilgt  werde.  Von  dem  Scheiterhaufen  waren 
dennoch  Funken  über  die  Lande  geflogen;  die  ent- 
zündeten jenen  Volkskrieg  der  Hussiten,  einen  Bauern- 
aufstand, der  von  Böhmen  aus  mit  schrecklicher  Wild- 
heit verheerend  über  Deutschland  brauste. 

Juli  1915. 
130 


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Die  Angst  der  Toten 


Ihr  wißt  alle,  wenn  ihr  es  auch  nicht  glaubt,  daß 
alljährlich  das  Christkind  einmal  auf  die  Erde  kommt, 
um  den  artigen  Kindern  zu  bescheren.  Das  ist  nun 
gar  nicht  so  leicht.  Denn  wer  ist  artig?  Woher  soll 
das  Christkind  das  so  sicher  wissen? 

Heuer  gelangte  das  Christkind,  als  es  herabflog,  wie 
es  der  Zufall  und  die  Windrichtung  wollte,  zuerst 
nach  Deutschland. 

„Seid  ihr  auch  artig  dieses  Jahr  gewesen  ?"  erkun- 
digte sich  das  Christkind. 

„O,  wir  waren  mehr  wie  artig,  wir  waren  groß", 
rief  man  durcheinander. 

„Was  ist  das  groß?"  —  fragte  das  Christkind;  denn 
es  verstand  die  meisten  menschlichen  Worte  nur 
schlecht,  und  es  war  ihm  schon  früher  bisweilen  so 
vorgekommen,  als  ob  die  Menschen  die  guten  oder 
dunklen  Worte  immer  dann  gebrauchten,  wenn  sie 
etwas  Böses  verstecken  wollten. 

„Wir  haben  alle  Feinde,  die  uns  überfielen,  mit  ge- 
waltiger Faust  zurückgeworfen,"  rühmten  sie  sich. 

„Ich  kenne  nur  gute  und  schlechte  Menschen,  keine 
Feinde",  sagte  das  Christkind,  das  altmodisch  von  den 
Feinheiten  und  Mischfarben  der  modernen  Psycho- 
logie keine  Ahnung  hatte.  „Ich  gehe  zu  allen  Menschen, 
die  gut  sind." 

Aber  die  Leute  hörten  in  ihrem  Eifer  gar  nicht  auf 
den  Einwand,  sondern  fuhren  begeistert  fort:  „Die 
Leichen  türmen  sich  berghoch  vor  unseren  Draht- 
hindernissen. (Das  verstand  nun  das  Christkind  wieder 
nicht,  niemals  hatte  es  von  Drahthindernissen  ge- 


9' 


131 


hört,  aber  es  schwieg,  weil  man  doch  nicht  zuhörte!) 
Mit  unsern  Handgranaten  zerschellten  wir  die  Köpfe 
unserer  Feinde.  Dabei  waren  wir  gerecht  und  mensch- 
lich, tapfer  und  barmherzig.  Wir  haben  aber  auch  die 
bravsten  Soldaten,  die  gediegenste  Organisation,  die 
tüchtigsten  Offiziere,  die  genialsten  Feldherrn,  die 
wundervollste  Industrie  und  die  opferfähigste  Land- 
wirtschaft —  von  unseren  Staatsmännern,  Ministern, 
Fürsten  ganz  zu  schweigen.  Wir  sind  das  Salz  der  Erde. 
An  deutschem  Wesen  soll  die  Welt  genesen.  Und  wir 
werden  einen  Frieden  machen,  einen  Frieden,  der  uns 
und  die  Menschheit  vor  der  Wiederkehr  solcher  Greuel 
schützen  soll." 

Abermals  begriff  das  Christkind  nicht,  warum  sich 
die  Leute  so  begeisterten  über  etwas,  was  sie  selber 
doch  Greuel  nannten  und  nicht  wünschten,  daß  es 
wiederkäme.  Aber  es  faßte  sich  ein  Herz  und  sagte, 
wenn  auch  seufzend  und  ziemlich  beklommen : 

„Ich  sehe,  ihr  seid  in  der  Weise  artig  gewesen,  daß 
ihr  gar  nicht  gewartet  habt,  bis  ich  komme  und  den  Ge- 
rechten beschenke  und  an  den  Ungerechten  vorüber- 
gehe. Ihr  habt  den  Ungerechten  selber  bestraft  und 
euch  genommen,  was  euch  gut  schien  — " 

„Erlaube",  unterbrachen  die  Menschen,  etwas  un- 
willig, „du  willst  doch  nicht  etwa  sagen,  daß  Okku- 
pation und  Kontribution  gegen  das  Völkerrecht  sei. 
Das  ist  alles  genau  so  geschehen,  wie  es  im  Haag  verein- 
bart. Haben  wir  nun  noch  die  Freiheit  der  Meere, 
dann  ist  die  ganze  Welt  frei  .  .  ." 

Das  Christkind  aber  war  juristisch  zu  ungebildet, 
um  darüber  eine  begründete  Meinung  zu  haben  und 
fuhr  in  seinem  kleinen,  einfachen  Gedankengang  fort: 

„Das  mag  alles  sein.  Aber  es  ist  doch  Eigenlob,  was 
ihr  über  euch  sagt.  Und  Eigenlob,  habt  ihr  mich  früher 
gelehrt,  soll  man  nicht  glauben.  Ich  will  also  erst  die 
andern  fragen,  ob  das  auch  wahr  ist,  wessen  ihr  euch 
berühmt.  Laßt  mich,  ehe  ich  meine  Geschenke  aus- 

13* 


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breite,  erst  einmal  geschwind  zur  Nachprüfung  nach 
England  fliegen." 

Das  gab  einen  Heidenlärm  unter  den  artigen  deut- 
schen Kindern.  Gott  strafe  England,  schrien  sie 
durcheinander,  das  Christkind  würde  doch  nicht 
fragen,  diese  rohen  Geschöpfe  des  perfiden  Albion, 
diese  Weltbrandstifter,  diese  Lügner,  Heuchler,  diese 
geldgierigen  Krämer  mit  den  steinernen  Herzen, 
diese  .  .  . 

„Genug,"  rief  das  Christkind,  „ihr  meint  also,  daß 
die  drüben  ganz  gewiß  nicht  artig  gewesen,  daß  sie 
auch  keinen  Glauben  verdienen  —  aber  an  wen  soll 
ich  mich  da  wenden  ?" 

„Vielleicht  fragst  du  den  Türken,  das  sind  unsere 
guten  ehrlichen  Freunde,  brave  Menschen,  und  sagen 
die  Wahrheit.  Bei  denen  erkundige  dich,  ob  wir  recht 
gesprochen." 

„Das  wird  nicht  gut  gehen,"  sagte  das  Christkind  ein 
wenig  verlegen,  „denn  die  Türken  sind  doch  gewisser- 
maßen keine  Christen.  Die  wollen  von  mir  nichts 
wissen.  Die  glauben  nicht  einmal  an  mich.  Doch 
halt,  —  es  gibt  ja  auch  in  der  Türkei  Christen,  ich 
will  die  Armenier  fragen  — " 

„Nein,  das  geht  auch  nicht"  —  meinten  die  Leute. 

„Sind  denn  die  auch  schändlich,"  fragte  das  Christ- 
kind. 

„Das  nicht,"  antworteten  die  andern  stockend,  „es 
sind  wohl  gute  Christen,  richtiger  gesagt,  es  waren 
gute  Christen.  Jetzt  sind  sie  nicht  mehr  vorhanden." 

„Schrecklich"  —  ächzte  das  Christkind  —„wo  sind 
sie  geblieben  ?" 

„DieTürken  haben  sie  nicht  mehr  brauchen  können." 
„Und  da  behauptet  ihr,  die  Türken  seien  gute  Men- 
schen!" rief  das  Christkind  fast  zornig.  „Jetzt  glaube 
ich  kein  Wort  mehr  und  nun  fliege  ich  gerade  zu  den 
Engländern." 

Im  Fluge  hörte  es  noch  aus  der  Ferne,  wie  man  ihm 


133 


—  wohl  zur  Entschuldigung  —  zwei  geheimnisvolle 
Worte  nachrief:  „Politische  Notwendigkeit." 

Die  Engländer  waren  sehr  erfreut,  als  das  Christ- 
kind kam,  und  es  wurde  mit  vielen  Ehren  aufgenommen. 
Dann  erzahlte  es,  was  die  Deutschen  von  sich  Löb- 
liches gesagt  und  fragte,  ob  sie  das  bestätigen  könnten. 

Da  brach  eine  wirkliche  Wut  aus:  „Wie  konnten 
Sie,  Miß  Christkind,  überhaupt  nur  zu  diesen  Deutschen 
kommen.  Die  schonen  weder  Weib  und  Kind,  sie 
brechen  jedes  Gesetz  und  zerreißen  jeden  Vertrag. 
Sie  sind  grausam,  gefräßig,  die  reinen  Barbaren.  Sie 
wollen  sich  mit  ihrem  Militarismus  die  ganze  Welt 
unterjochen.  Deshalb  haben  sie  diesen  entsetzlichen 
Krieg  angefangen." 

„Aber  ihr  seid  dann  mit  in  den  Krieg  gegangen," 
meinte  das  Christkind,  „warum  tatet  ihr  das  ?" 

„Weil  wir  die  Freiheit  der  Welt  verteidigen,  für  das 
Recht  kämpfen,  weil  wir  die  mächtigen  Schützer  der 
Kleinen  und  Schwachen  sind — " 

„Das  ist  ein  großer  Ruhm,  das  ist  edel,"  sagte  das 
Christkind.  „Aber  leider  seid  ihr  nur  ihr  selbst  es, 
die  sich  so  loben.  Und  man  hat  mir  gesagt,  daß  ihr 
lügt.  Ich  will  erst  einen  Unparteiischen  befragen." 

Damit  wollte  es  fortfliegen.  Aber  es  wurde  plötzlich 
mit  harten  Fäusten  festgehalten  und  bis  auf  die  Seele 
untersucht;  selbst  unter  den  Flügeln  schauten  sie  nach. 
Und  man  nahm  ihm  alle  Geschenke  fort,  da  sie  alle 
auf  der  Liste  der  verbotenen  Waren  standen.  Es  konnte 
noch  froh  sein,  daß  man  ihm  die  Flügel  nicht  abschnitt ; 
denn  einer  hatte  gemeint,  die  werde  man  in  Deutsch- 
land für  den  Luftkrieg  beschlagnahmen.  Schließlich 
ließ  man  ihm  die  Flügel  und  das  Christentum,  weil 
das  doch  dem  Feinde  nichts  nützen  würde. 

„Nun  hat  es  eigentlich  keinen  Zweck  mehr,  daß  ich 
weiterfliege",  dachte  das  Christkind  traurig,  da  sie 
mir  die  schönen  Geschenke  abgenommen  haben.  Aber 

134 


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ich  möchte  doch  wenigstens  erfahren,  wo  die  guten 
Menschen,  die  artigen  Kinder  sind." 

Und  es  flog  nach  Frankreich,  Belgien,  Österreich, 
Serbien,  Italien,  Rußland,  und  überall  hörte  es  das- 
selbe, daß  die  andern  Mörder,  Verräter,  Rechtsbrecher, 
Bestien  seien  und  schuld  am  Krieg,  sie  selbst  aber  wun- 
derbare Helden  der  Freiheit,  Gerechtigkeit,  Mensch- 
lichkeit. Die  Fahrt  war  dabei  auch  sonst  noch  un- 
behaglich. Immer  wenn  es  über  eine  Kirche  flog, 
schössen  die  auf  den  Türmen  aufgestellten  Kanonen 
auf  das  arme  Christkind.  Als  es  über  die  österreichische 
Grenze  wollte,  verlangte  man  von  ihm  das  Manuskript 
der  Ansprache,  die  es  zu  halten  gedächte.  Und  in  Frank- 
reich wurde  es  von  tausend  Zeitungsschreibern  um- 
stellt, die  Stimmungsbilder  von  den  Feinden  zu  haben 
wünschten. 

Todmüde,  ganz  verzagt,  wollte  es  schließlich  den 
letzten  Versuch  machen,  Zeugen  der  Wahrheit  zu 
finden.  Und  es  schiffte  sich  auf  einem  großen  Ozean- 
dampfer ein,  um  über  das  Meer  zu  fahren  —  denn 
Christkinds  Flügel  waren  arg  zerschossen  —  zu  Men- 
schen, bei  denen  kein  Krieg  war.  Das  Schiff  aber  wurde 
unterwegs  von  einem  Torpedo  getroffen  und  sank.  So 
kam  das  Christkind  schwimmend  zu  den  Menschen  in 
Amerika,  die  sich  Neutrale  nannten.  Aber  es  war  auch 
hier  unmöglich,  die  Wahrheit  zu  erfahren.  Denn  hier 
befehdeten  sich  die  Menschen  wild  untereinander,  und 
warfen  sich  gegenseitig  vor,  daß  sie  die  Neutralität 
verletzten  und  den  grauenhaften  Krieg  verlängerten. 

„Ihr  liefert  den  Engländern,  Franzosen,  Russen  um 
sehnöden  Gewinns  Waffen  und  tragt  so  Schuld,  wenn 
das  Morden  nicht  endet"  —  sagten  die  einen. 

„Wie  ?  Wollt  ihr  etwa,  daß  die  eine  Partei  wehrlos 
werde  und  so  auf  Gnade  und  Ungnade  dem  Feinde 
ausgeliefert  wird.  Ist  das  neutral?  Heißt  das  nicht 
vielmehr  Mörder  privilegieren,  indem  man  die  Opfer 
entwaffnet!"  —  antworteten  die  andern. 

135 


So  ging  der  Streit  hin  und  her,  und  das  Christkind 
vermochte  mit  seinem  kleinen  Verstand  nichts  anderes 
zu  erkennen  als  diese  traurige  Einsicht :  Entweder  lügen 
sie  alle  und  verleumden  —  dann  sind  sie  allesamt  ab- 
scheulich. Oder  sie  sagen  die  Wahrheit,  dann  sind  sie 
erst  recht,  nach  ihren  Beschuldigungen,  des  Teufels. 
Und  es  war  ganz  zwecklos,  daß  es  im  ersten  Eifer  in 
Amerika  neue  Geschenke  eingekauft  —  für  das  Geld, 
für  das  es  einem  Milliardär  und  Groß-Schaubuden- 
unternehmer  auf  seine  inständigen  Bitten  hin  die  Ra- 
rität seiner  zerschossenen  Flügel  überlassen  hatte. 

Was  sollte  es  nun  mit  all  den  schönen  Christkinds- 
gaben anfangen,  wenn  niemand  auf  Erden  der  Spenden 
würdig  war  ?  Wenn  alle  sich  gegenseitig  bezichtigten, 
Abschaum  und  Unflat  zu  sein  ?  Zum  Himmel  mochte 
es  nicht  mehr  zurückkehren,  so  schämte  es  sich;  denn 
es  hatte  früher  immer  gutgläubig  liebliche  Geschich- 
ten von  den  holden  Menschenkindern  oben  erzählt. 
O  wie  dumm  war  es  gewesen!  Zudem  konnte  es  ja 
auch  gar  nicht  mehr  in  den  Himmel,  weil  es  seine  Flügel 
verkauft  hatte.  Da  beschloß  das  Christkind,  ins  Reich 
der  Toten  zu  wandern. 

Und  es  ging  in  die  Nacht  der  Nächte,  weitfern  in 
die  unendlichen  Tiefen  unter  der  Welt,  wo  die  Schatten 
ihre  ewige  Heimat  finden. 

Dorthin  kam  es.  Aber  es  war  gar  nicht  finster  und 
kalt.  Zwischen  Blumen  in  matt  und  mild  schimmern- 
dem Glänze  wallten  die  Schatten.  Es  waren  aber  Schat- 
ten, die  sonderbar  anzusehen  waren.  Es  waren  wie 
Entkörperungen  zerrissener  Menschen.  Dem  einen 
fehlten  die  Beine,  dem  andern  wuchs  statt  des  Kopfes 
ein  brüchig  Gebinde  von  Splittern.  Manche  schleppten 
ihre  Eingeweide  hinter  sich,  wie  Ketten,  und  viele 
umkrallten  durchbohrte  Herzen  mit  verstümmelten 
Fingern.  Und  diese  Schatten,  diese  Trümmer  von 
Schatten,  in  allen  Menschenfarben  —  weiß,  braun, 
schwarz,  gelb,  rot  —  wanderten  friedlich  und  liebreich 

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miteinander.  Und  jeder  versachte  dem  andern  die 
Glieder  wieder  zu  heilen,  die  er  ihm  einst  verstümmelt 
hatte.  Feind  fand  sich  zu  Feind  und  jeder  gab  dem 
andern  zurück,  was  er  ihm  auf  Erden  genommen.  Sie 
umarmten  sich  in  hegender  Liebe  und  trösteten  sich 
mit  linden  Worten.  Und  es  war  ein  Glück  und  eine 
Heiterkeit  unter  ihnen,  wie  es  das  Christkind  niemals 
noch  bei  den  lebenden  Menschen  gefunden. 

Da  wußte  das  Christkind  endlich,  wen  es  mit  Recht 
beschenken  dürfte.  Hier  war  das  Reich  der  guten 
Wesen.  Aber  die  in  Amerika  gekauften  Gaben  taugten 
ihnen  nicht.  Es  besaß  insgeheim  eine  köstlichere  Spende, 
die  auch  die  Späher  der  Bannware  nicht  hatten  ent- 
decken können:  Die  Kraft  der  Erfüllung!  Und  es  trat 
mitten  unter  die  Schatten  und  sprach  zu  ihnen:  „Ihr 
lieben,  lieben  Kinder !  Seid  getrost,  ich  bin  gekommen, 
um  euch  für  alle  eure  Leiden  zu  entschädigen.  Ich 
schenke  euch  das  Beste,  was  ich  zu  geben  habe:  Das 
Leben  —  das  Leben  freudiger,  gesunder,  friedlicher 
gütiger  und  schaffender  Menschen.  Werdet,  wie  ihr 
hättet  sein  sollen!  .  .  .  Lebet!  .  . . 

Wie  das  die  Schatten  vernahmen,  drang  Entsetzen 
in  sie.  Sie  umklammerten  sich  untereinander,  als  ob 
sie  ein  wildes  Geschick  trennen  wollte.  Dann  aber 
flehten  sie  zu  dem  Christkind:  „Nimm  uns  lieber 
alles,  aber  eines  nur,  Barmherzige,  schenke  uns  nicht : 
das  Leben!" 

„Toren,"  sagte  das  Christkind,  ihr  wolltet  dem  ein- 
zigen Glück  widerstreben  ?  Was  verwirrte  euch  also  ?" 
Einer  von  den  Schatten  aber  trat  hervor  und  sagte  in 
zitternder  Furcht:  „Weil  wir  wieder  einander  dann 
Feind  sein  würden  — " 

„Aber  ihr  sollt  ja  nicht  Feind  mehr  euch  werden. 
Jetzt  wißt  ihr  doch,  daß  ihr  miteinander  hausen  könnt 
—  in  Frieden.  Bleibt  oben  so,  wie  ihr  hier  unten  ge- 
worden !" 


137 


„Das  gerade  ist  unmöglich"  —  sagte  der  Schatten 
düster,  voll  Qual. 

„Und  warum  wollt  ihr  wieder  Feinde  sein  ?"  fragte 
das  Christkind. 

„O,  niemand  will  es,  aber  man  wird  es  uns  be- 
fehlen .  .  ." 

Da  breitete  das  Christkind  seine  Arme  weit  aus  und 
sprach : 

„So  schenke  ich  euch  denn  eine  andere  Gabe.  Ich 
erlöse  euch  von  der  Angst  der  Toten,  wieder 
leben  zu  müssen.  Ihr  dürft  in  eurem  Frieden 
wallen  —  in  alle  Ewigkeit  furchtlos  tot .  .  . 

Weihnachten  191 5. 


138 


Hat  es  ein  Sozialistengesetz  gegeben? 
Aus  den  Kriegsofienbarangen  des  St.  Sylvester. 

Ein  Parteigenosse,  der  sich  zur  Zeit  mit  besonderem 
Eifer  auf  allen  Gebieten  menschlichen  Wissens  und 
Geschehens  die  Aufklärung  des  deutschen  Proletariats 
angelegen  sein  läßt,  sendet  uns,  wie  er  selbst  schreibt, 
in  vorgerückter  Stunde  des  Umlernens  den  folgenden 
Beitrag.  Er  wird  vielleicht  im  ersten  Augenblick  diesen 
oder  jenen  befremden,  aber  es  bedarf  nur  ein  wenig 
Ausdauer  und  Geduld,  dann  wird  man  sich  auch  daran 
gewöhnen.   Unser  Mitarbeiter  schreibt  uns  also: 

Zu  den  hartnäckigsten  Lügen,  mit  denen  die  Welt 
unserer  Feinde  die  Zustände  in  unserem  deutschen 
Vaterlande  verleumdet,  gehört  auch  die  Behauptung, 
daß  die  deutschen  Arbeiter  zwölf  Jahre  lang  durch  ein 
Ausnahmegesetz  —  das  Sozialistengesetz  —  verfolgt, 
gehetzt  worden  seien.  Auch  in  diesem  Falle  müssen 
wir  leider  bekennen,  daß  wir  selbst  in  früheren  Zeiten 
durch  unser  Verhalten  dem  feindlichen  Ausland  An- 
laß gegeben  haben,  solche  törichte  Einbildungen  in 
sich  aufzunehmen  und  dadurch  ihre  angeborene  Un- 
wissenheit über  deutsche  Verhältnisse  noch  zu  steigern. 
Und  solche  Vorstellungen  sind  nicht  ungefährlich; 
denn  sie  sind  geeignet,  die  Mächte  der  Entente  in  ihrem 
Wahn  zu  erhalten,  daß  das  deutsche  Proletariat  nicht 
geschlossen  zur  Sache  der  Nation  stehe,  und  damit 
tragen  solche  Legenden  zur  Verlängerung  des  Krieges 
bei.  Mithin  ist  es  hohe  Zeit  und  ernste  Pflicht,  unseren 
Friedenswillen  auch  dadurch  zu  bekunden,  daß  wir 
endlich  mit  der  Fabel  vom  Sozialistengesetz  auf- 
räumen, das  es  niemals  gegeben  hat  und  dessen  Existenz 
lediglich  in  der  Phantasie  von  Reuter  und  Havas  be- 


139 


gründet,  eine  systematische  Irreführung,  die  freilich, 
wie  schon  erwähnt,  durch  gewisse  polemische  Unsitten 
unserer  Partei  —  in  einer  glücklicherweise  nunmehr 
überwundenen  Vergangenheit  —  begünstigt  wurde. 

Schon  das  geringste  Nachdenken  müßte  den  Unsinn 
der  Behauptung  offenbaren,  daß  die  deutsche  Regie- 
rung und  der  deutsche  Reichstag  im  Jahre  1878  die 
deutsche  Arbeiterschaft  mit  einem  ausnahmegesetz- 
lichen Krieg  auf  Tod  und  Leben  überfallen  haben. 
Wäre  es  nicht  heller  Wahnsinn  gewesen,  wenn  die  paar 
Regierenden  und  die  verhältnismäßig  wenigen  An- 
gehörigen der  besitzenden  Klassen  —  deren  geringe 
Zahl  wir  Sozialdemokraten  ja  gerade  in  unserem  nach 
wie  vor  unveräußerlichen  Programm  betonen  —  die 
riesige  Übermacht  der  Millionen  von  Besitzlosen  hätten 
angreifen  wollen?  Sie  wären  ja  in  ihr  eigenes  Ver- 
derben gelaufen.  Dazu  kommt  die  politische  und  wirt- 
schaftliche Lage,  in  der  sich  das  Deutsche  Reich  befand, 
um  derlei  Pläne  für  die  Regierung  als  geradezu  toll- 
häuslerisch,  national  selbstmörderisch  erscheinen  zu 
lassen.  Man  denke:  Das  deutsche  Reich,  kaum  erst 
aus  dem  Kriege  zurückgekehrt,  notdürftig  zurecht  ge- 
zimmert, ewig  bedroht  von  dem  Erbfeind  im  Westen, 
der  Tag  und  Nacht  unablässig  auf  seine  Revanche  sann. 
Sollte  man  den  zum  Angriff  reizen,  indem  man  im 
eigenen  Lande  den  Bürgerkrieg  entfesselte  ?  Aber 
weiter:  kann  wirklich  irgend  jemand  auch  der  verblen- 
detsten  Regierung  zutrauen,  daß  sie  in  einer  Zeit,  da 
Deutschland  erst  mühselig  begann,  seine  Industrie 
gegenüber  der  englischen  Ubermacht  zu  entwickeln, 
die  deutsche  Wirtschaft  zum  Tode  verurteilen  würde, 
indem  sie  die  produktiven  Kräfte  der  Industrie,  die 
Arbeiter,  niederwarf,  aus  dem  Lande  trieb?  (Und  es 
gehört  ja  zu  diesem  geschichtlichen  Ammenmärchen, 
zu  erzählen,  daß  die  deutschen  Arbeiter  sogar  aus  dem 
Reiche  ausgewiesen  wurden,  die  man  wahrhaftig  nötig 
genug  dort  brauchte.) 

140 


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Endlich  genügt  ein  Blick  auf  die  damalige  innere 
Lage,  um  den  letzten  Rest  des  Glaubens  an  jene  ein- 
fältige und  tückische  Dichtung  zu  verlieren.  Den 
Fürsten  Bismarck  nannte  man  zwar  den  Allmächtigen. 
Tatsächlich  aber  hatte  er  niemals  eine  zuverlässige 
Mehrheit  hinter  sich.  Die  Mehrheit  des  Reichstags 
stand  in  offener  oder  geheimer  Opposition  gegen  ihn. 
Insonderheit  war  es  doch  völlig  undenkbar,  daß  die 
ausschlaggebende  Partei,  die  Liberalen,  die  Axt  an 
die  Wurzel  derselben  Verfassung  hätten  legen  sollen, 
die  sie  selbst  kurz  zuvor  geschaffen  hatten. 

Und  was  hätte  man  erreichen  wollen  ?  Es  ist  richtig, 
es  gab  eine  kleine  Gruppe  verrannter  Arbeiterfeinde, 
welche  unausgesetzt  die  Arbeiterbewegung  lästerte 
und  verfolgte.  Sie  betrachteten  die  Arbeiter  als  Sklaven 
und  jede  politische  oder  wirtschaftliche  Betätigung 
der  Arbeiter  war  ihnen  ein  Greuel.  Aber  diese  Hand- 
voll Reaktionäre  war  ohne  jeden  Einfluß  auf  die  Re- 
gierung und  die  Parteien  des  Reichstages.  Ja  gerade  in 
jenen  Jahren  hatte  sich  ja  der  Umschwung  vom  Man- 
chestertum  zum  Schutz  der  nationalen  Arbeit  voll- 
zogen. 1876  war  das  Hilfskassengesetz  zustande  ge- 
kommen. Die  Kathedersozialisten  waren  seit  ihrer 
1872  erfolgten  Organisation  in  wachsendem  Einfluß 
begriffen.  Und  wie  Bismarck  persönlich  dachte,  das 
wußte  man  ja  hinlänglich  aus  seinen  Beziehungen  zu 
Lassalle,  aus  jenem  Kampf  gegen  die  Liberalen,  denen 
einst  das  Organ  des  Ministerpräsidenten,  die  Nord- 
deutsche Allgemeine  Zeitung,  den  Satz  entgegen- 
geschleudert hatte:  „Möge  der  Arbeiterstand  einer 
Bourgeoisie,  welcher  es  zu  wohl  ist,  überlassen,  sich 
auf  das  Glatteis  dieses  Experiments  einer  parlamenta- 
rischen Regierung  zu  begeben,  möge  er  aber  auch  end- 
lich einsehen  lernen,  daß  für  ihn  selbst  von  diesen 
„Volksrechten"  nichts  anderes  abfallen  werde,  als  die 
Freiheit  —  zu  darben."  Und  ein  Mann,  der  so  dachte, 
sollte  der  Bourgeoisie,  von  der  noch  dazu  bloß  ein  kleines 


Mi 


Häuflein  so  arbeiterfeindlich  gesinnt  war,  das  Prole- 
tariat geknebelt  ausliefern?  Lächerlich,  dergleichen 
auch  nur  zu  träumen. 

Aber,  wird  man  einwenden,  es  muß  doch  irgend 
etwas  damals  geschehen  sein,  denn  ganz  ohne  Feuer 
ist  doch  kein  Rauch.   Der  wahre  Kern  des  üppigen 
Lügengewebes  ist  kurz  folgender:  Es  hat  sich  damals 
in  der  Tat  etwas  ereignet,  nur  das  Umgekehrte  von 
dem,  womit  man  das  Ausland  noch  heute  die  leicht- 
gläubigen und  betörten  Völker  vor  Deutschland  grau- 
lich zu  machen  sucht.   Die  Staatsgewalt  hat  keinen 
Überfall  auf  die  Arbeiter  unternommen,  vielmehr 
sah  sich  der  Staat  in  der  Notwehr  genötigt,  im  Inter- 
esse seiner  Selbsterhaltung,  zur  Verteidigung  seiner 
Kultur,  gegen  eine  kleine  Organisation  verblendeter 
Menschen  einzuschreiten,  von   Kaisermördern,  die 
durch  Verbrechen  die  staatliche  Ordnung  auflösen, 
die  Sicherheit  von  Person  und  Eigentum  zerstören 
wollten.    Die  Attentate  von  Hödel  und  Nobiling 
ließen  kein  anderes  Mittel  der  Abwehr  übrig,  als  den 
Ausbau  der  Straf gesetzgebung  zur  Sicherung  gegen 
die  Gefahr,  daß  sich  solche  Überfälle  jemals  wieder- 
holen könnten.   Diejenigen,  die  heute  noch  meinen, 
der  Reichstag  hätte  damals  dieses  Mittel  der  Regie- 
rung verweigern  sollen,  sind  sich  wohl  nicht  recht  klar 
darüber,  was  entstanden  wäre,  wenn  die  Mordtaten 
sich  fortgesetzt  hätten  und  sie  selbst  die  Opfer  solcher 
verbrecherischer    Angriffe    geworden    wären.  Da- 
gegen schritt  mit  Recht  die  Staatsgewalt  ein,  und 
es  handelte  sich  dabei  so  wenig  um  ein  Ausnahme- 
gesetz, daß  im  Gegenteil,  ohne  jedes  Ansehen  der  Per- 
son und  der  Parteiüberzeugung,  gleichmäßig  alle 
betroffen  wurden,  die  sich  die  vom  Gesetz  bedrohten 
Straftaten  zuschulden  kommen  ließen.    Es  mag  zu- 
gegeben werden,  daß  in  gewissem  Grade  auch  die 
Meinungsfreiheit  eingeschränkt  wurde,  aber  heute 
wird  niemand  mehr  im  Zweifel  sein,  daß  dieMeinungs- 

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freiheit  nur  eine  jener  prinzipiellen  Flausen  ist,  die 
hinweggefegt  werden,  sobald  sie  bei  ernsten  Kämpfen 
sich  als  störend  erweisen. 

Nun  wissen  wir  allerdings,  daß  die  Behauptung  auf- 
gestellt worden  ist,  weder  Hödel  noch  Nobiling  hätten 
irgend  etwas  mit  der  Arbeiterbewegung  zu  tun  gehabt. 
Von  Hödel  wurde  sogar  gesagt,  er  hätte  überhaupt 
nicht  geschossen,  sondern  nur  durch  blindes  Knallen 
die  Aufmerksamkeit  auf  sich  lenken  wollen.  Um  den 
letzteren  haarstäubenden  Unsinn  zu  widerlegen,  ge- 
nügt die  eine  Feststellung,  daß  ein  preußisches  Ge- 
richt ihn  zum  Tode  verurteilt,  ein  preußischer  Scharf- 
richter ihn  geköpft  hat!  Ebenso  steht  es  mit  der  Er- 
zählung, die  damalige  Sozialdemokratie  hätte  keine 
Beziehung  zu  den  Verbrechern  gehabt.  Ja,  glaubt 
denn  irgendein  normalsinniger  Mensch,  eine  Persön- 
lichkeit wie  Bismarck,  der  Schöpfer  des  Deutschen 
Reiches,  wäre  imstande  gewesen,  öffentlich  die  Un- 
wahrheit zu  sagen  ?  Und  Bismarck  hatte  immer  wieder 
Hödel  und  Nobiling  als  Sozialdemokraten  festgestellt. 
Wie  antwortete  doch  Bismarck  am  17.  September  1878 
auf  den  Ruf  „Ihr  seid  gewarnt":  „Wovor  denn  ge- 
warnt? Doch  vor  nichts  anderem,  als  vor  dem  nihi- 
listischen Messer  und  der  Nobilingschen  Schrotflinte. 
Ja,  meine  Herren,  wenn  wir  in  einer  solchen  Weise 
unter  der  Tyrannei  einer  Gesellschaft  von  Banditen 
existieren  sollen,  dann  verliert  jede  Existenz  ihren 
Wert."  Wagt  es  jemand,  einen  Bismarck  Lügen  zu 
strafen  ? 

Sollte  aber  noch  irgendein  Zweifel  bestehen,  ob 
sich  nicht  Bismarck  vielleicht  doch  geirrt  habe,  so  wird 
er  für  immer  beseitigt  durch  die  Tatsache,  daß  noch 
im  Jahre  191 5,  mitten  im  Weltkrieg,  der  Berliner  Histo- 
riker Professor  Otto  Hintze,  der  trotzdem  nicht  ein 
Beiträger  des  Buchs  der  Zwanzig  geworden  ist,  in  sei- 
nem Buch  „Die  Hohenzollern  und  ihr  Werk"  feststellte: 
„Beide  Verbrecher,  ein    Klempnergeselle   und  ein 


143 


Literat,  waren.  Anhänger  der  Sozialdemokratie, 
beide  haltlose,  verkommene  Naturen,  die  aus  eigenem 
Antriebe  gehandelt  hatten,  ohne  Verschwörung  und 
Mitschuldige.  Aber  der  zuchtlose  Geist  einer 
revolutionären  Bewegung  sprach  doch  deut- 
lich genug  aus  diesen  Mordtaten  ?" 

Das  war's.  Gegen  diesen  zuchtlosen  Geist  mußte 
die  Staatsgewalt,  wenn  sie  sich  nicht  selber  aufgeben 
sollte,  einschreiten.  Die  Regierung  tat  ihre  Pflicht 
und  sie  scheute  dabei  keine  persönliche  Gefahr.  Rief 
doch  Bismarck  in  jener  Rede,  in  der  er  die  Verant- 
wortung für  die  gesetzlichen  Maßnahman  stolz  über- 
nahm, mit  unerschrockenem  Todesmut  aus:  „Daß 
bei  der  Gelegenheit  vielleicht  einige  Opfer  des  Meuchel- 
mordes unter  uns  noch  fallen  werden,  das  ist  ja  sehr 
wohl  möglich,  aber  jeder,  dem  das  geschehen  könnte, 
mag  eingedenk  sein,  daß  er  zum  Nutzen,  zum  großen 
Nutzen  seines  Vaterlandes  auf  dem  Schlachtfeld  der 
Ehre  bleibt!" 

Das  ist  die  Mär  vom  Ausnahmegesetz!  Straf  be- 
stimmungen  wider  den  Geist  nihilistischer  Messer  und 
Nobilingscher  Schrotflinten!  Das  ist  alles.  Und  daraus 
hat  man  jene  ungeheuerliche  Fabel  gemacht,  daß 
zwölf  Jahre  lang  die  deutschen  Arbeiter  geächtet  und 
niedergehetzt  worden  wären  —  jene  Fabel,  mit  der 
noch  heute  die  neutralen  und  offenen  Feinde  Deutsch- 
lands gegen  uns  krebsen. 

Sylvester  191 5. 


144 


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Zusammenbruch ! 

Ein  Jahrwendgespräch. 

Der  Realist.  Endlich,  mein  Lieber,  wenn  du  das 
Ergebnis  auch  dieses  zweiten  Kriegsjahres  auf  dem 
letzten  Blatt  deines  Abreißkalenders  vermerkst,  wirst 
du  wohl  gestehen  müssen,  wie  sehr  du  dich  geirrt,  als 
du  den  nahen  Zusammenbruch  der  kapitalistischen 
Gesellschaftsordnung  prophezeitest . 

Der  Phantast.  Du  irrst!  Vor  dem  Kriege  habe 
ich  allerdings  in  ungezählten  Reden  die  Zusammen- 
bruchs-Jeremiasse  verspottet  und  gerade  ungekehrt 
dargelegt,  daß  ich  nirgends  auch  nur  den  Beginn  einer 
Zersetzung,  geschweige  eines  Zusammenbruchs  zu 
erkennen  vermöchte.  Jetzt  aber  hat  der  Krieg  meinen 
Wahn  geheilt.  Das  kapitalistische  System  ist  zusammen- 
gebrochen, fürchterlicher,  jäher,  als  irgend  jemand  ver- 
muten konnte. 

Der  Realist.  Heiteres  in  ernster  Zeit  —  wie  die 
Kriegsberichterstatter  ihre  Fabeln  zu  benennen  pflegen. 
Du  scherzest  aber  ein  wenig  grotesk!  Der  Kapitalis- 
mus zusammengebrochen?  Gerade  jetzt,  in  dem 
Augenblick,  da  er  das  größte  Wunder  seiner  organi- 
satorischen Kraft,  seiner  unerschöpflichen  Lebens- 
fähigkeit geleistet  hat  — 

Der  Phantast  —  das  recht  alte  Wunder,  meinst 
du,  daß  der  Krieg  den  Krieg  ernährt  und  die  Friedens- 
bezirke im  Kriege  obendrein  — 

Der  Realist.  Alt  oder  neu,  jedenfalls  ist  nichts 
von  dem  eingetroffen,  was  ihr  zuvor  zu  verkündigen 
liebtet  — 

Der  Phantast  —  ich  habe  niemals  zuvor  von  dem 


io   Eisner,  Gesanunelte  Schriften.  I. 


145 


verkündigt,  was  du  jetzt  aufzählen  willst:  Daß  mit 
dem  Ausbruch  des  Krieges  die  ganze  Industrie  zum 
Stocken  kommt,  daß  hungernde  Arbeitermassen  brot- 
schreiend die  Straßen  der  Hauptstädte  erfüllen.  Ich 
liebte  es  im  Gegenteil,  auf  die  industriefördernden 
Erfahrungen  des  amerikanischen  Bürgerkrieges  und 
des  russisch-japanischen  Krieges  hinzuweisen. 

Der  Realist.  Mag  sein!  Wenn  du  es  nicht  tatest, 
sprachen  und  schrieben  doch  alle  andern  so.  Und  die 
Wirklichkeit  zeigt  das  Gegenteil.  Die  Industrie  blüht 
nach  17  Kriegs monaten.  Es  fehlt  an  Arbeitern.  Es 
gibt  keine  Arbeitslosen,  keinen  Hunger.  Ist  das  Zu- 
sammenbruch ? 

Der  Phantast.  Ich  gesteh  dir  noch  mehr  zu.  Es 
sind  neue  märchenhafte  Reichtümer  in  dieser  Zeit  auf- 
gewuchert. In  Berlin  sieht  man  förmlich  auf  der  Straße 
den  jungen  Kriegsreichtum  wachsen  —  freilich  nur  im 
Westen. 

Der  Realist.  —  Und  das  nennst  du  Zusammen- 
bruch! 

Der  Phantast.  In  vollster  Klarheit  heiße  ich  das 
Zusammenbruch.  Was  uns  als  existierend,  blühend, 
erstarkend  erscheint,  ist  nur  ein  böser  Traum,  ein 
geistiger  Dämmerzustand. 

Der  Realist  —  der  reine  selige  Calderon  —  das 
Leben  ein  Traum  .  .  . 

Der  Phantast.  Das  Leben  ist  kein  Traum,  aber 
wir  verwirren  es  mit  den  Traumgespenstern  schlimmer 
Nächte  .  .  .  Doch  antworte  mir,  Mann  der  Tatsachen, 
ist  es  nicht  wahr,  daß  wir  vor  dem  Kriege  in  allen  Par- 
lamenten um  jeden  Pfennig  feilschen  mußten,  der  für 
Zwecke  höherer  Kultur,  besserer  Menschenwohlfahrt 
gefordert  wurde  ?  Schallte  uns  nicht  immer  das  Wehe- 
wort der  „Finanzlage"  entgegen,  die  es  den  Regie- 
rungen leider  unmöglich  machte,  diesen  oder  jenen 
an  sich  wünschenswerten  Forderungen  mehr  wie 
Sympathien   zu   schenken!    Aus   der  verzweifelten 

146 


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„Finanzlage"  ist  plötzlich  über  Nacht  die  unendliche 
„Finanzkraft"  geworden.  Man  hat  erst  neulich  Wahlen 
gegen  uns  zu  machen  versucht,  indem  man  den  schau- 
dernden Wählern  vorrechnete,  daß  allein  unsere  An- 
träge zur  Reichsversicherungsordnung  jährlich  eine 
Mehrbelastung  von  100,  200,  300  Millionen  —  die 
Höhe  der  errechneten  Summe  ist  gleichgültig  —  er- 
fordert hätten,  wenn  wir  die  Macht  gehabt  hätten,  sie 
durchzusetzen.  Jetzt  spielen  10,  20,  40,  100  Milliarden 
keine  Rolle  mehr  — 

Der  Realist.  Das  ist  es  eben,  erst  der  Krieg  hat 
uns  endlich  offenbart,  wie  reich  wir  in  Wirklichkeit 
sind,  welche  Möglichkeiten  der  Kapitalismus  zu  ent- 
falten vermag. 

Der  Phantast.  Aber  in  dem  Augenblick  des 
Friedens  schrumpfen  diese  Möglichkeiten  wieder 
völlig  zusammen,  noch  mehr  wie  zuvor.  Dann  haben 
wir  statt  der  Finanzkraft  wieder  Finanzlage. 

Der  Realist.  Unvermeidliche  Kriegsfolgen!  Das 
liegt  in  der  Natur  der  Dinge  .  .  . 

Der  Phantast.  Allerdings,  das  liegt  in  der  Natur 
der  kapitalistischen  Dinge.  Aber  wagen  wir  diese 
Natur  zu  erkennen.  Das  kapitalistische  System  ver- 
hindert also,  für  den  Aufbau  neuer  Kulturwerte,  für 
produktive  Zwecke,  für  Mehrung  und  Erhöhung  des 
Lebens  die  notwendigen  Mittel  zu  finden,  es  gibt  aber 
unendliche,  in  der  Tat  unerschöpfliche  Mittel  her, 
um  Kulturwerte  zu  zerstören,  Leben  zu  verderben 
und  zu  vernichten.  Das  ist  der  Wahnsinn  schlechthin, 
eine  grauenhafte  Teufelsposse.  Das  Wort  „Zusammen- 
bruch" ist  noch  viel  zu  milde,  um  die  ganze  Ungeheuer- 
lichkeit dieser  Selbstvernichtung,  Selbstverbrennung 
zu  kennzeichnen. 

Der  Realist.  Wenn  es  sich  um  äußerste  Daseins- 
notwendigkeiten der  Nation  handelt,  zeigt  der  Ka- 
pitalismus die  gewaltige  Kraft,  seine  Sicherheit  und 
seine  Zukunft  zu  beleihen.   Wenn  dieser  Krieg  so 


XO» 


147 


glänzend  auf  Kredit  geführt  werden  kann,  so  beruht 
die  Grenzenlosigkeit  dieses  Kredits  nicht  nur  auf  dem 
Vertrauen  zum  Krieg,  sondern  hauptsächlich  auf 
dem  Vertrauen  zur  Lebensfähigkeit  der  kapitalistischen 
Ordnung.  Wir  führen  den  Krieg  gleichsam  mit  der 
in  Geld  umgesetzten  Zuversicht,  daß  der  Kapitalis- 
mus nicht  zusammenbrechen  wird,  noch  lange  nicht, 
vielleicht  niemals. 

Der  Phantast.  Du  erinnerst  zur  rechten  Zeit  an 
einen  weiteren  Wahnsinn:  Zerstörung,  die  dadurch 
möglich  wird,  daß  die  Produktionsmittelbesitzer  ihre 
Waren  im  Ausverkauf  auf  Kredit  hergeben,  denen  man 
durch  neue  Anleihen  die  Zinsen  zahlt,  in  der  Hoffnung, 
daß  künftig  die  Massen  von  der  keuchenden  Arbeit 
ganzer  Geschlechter  die  Ansprüche  der  Zinsgläubiger 
befriedigen  werden.  Ein  Weltkrieg  auf  kapitalistischen 
Kredit,  das  heißt:  Arbeit,  Güter,  Leben  zerstören,  für 
Einzelne  Gebirge  von  Reichtümern  auftürmen,  für  die 
Völker  aber  Siechtum,  Verkrüppelung,  Tod  und  zin- 
sende Steuerknechtschaft  in  alle  Zukunft.  Läßt  sich 
überhaupt  ein  System  menschlicher  Ordnung  denken, 
das  derart  wider  alle  Vernunft,  wider  alle  Zweck- 
mäßigkeit ist  ? 

Der  Realist.  Die  Geschichte  der  Menschheit  ist 
kein  Rechenexempel  der  Vernunft. 

Der  Phantast.  Danach  scheint  das  Unwirkliche, 
das  Phantastische  die  Vernunft  zu  sein,  und  der  kluge, 
scharfe  Sinn  für  das  Tatsächliche  gleichbedeutend  mit 
dem  Vernunftlosen. 

Der  Realist.  Es  steckt  schon  Vernunft  in  den  Din- 
gen, nur  tiefer  verborgen,  schwerer  herauszuholen. 
Hast  nicht  auch  du  schließlich  ein  Gefühl  für  die  große 
Vernunft  des  Kapitalismus,  der  diese  geradezu  er- 
habene Umorganisation  der  Industrie,  fast  binnen 
24  Stunden,  zustande  gebracht  hat,  diese  prachtvolle 
Mobilmachung  der  Friedensarbeit  für  den  Krieg. 

Der   Phantast.    Ein   weiteres  Kapitel  des  Zu- 

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sammenbruchs,  nichts  weiter.  Ist  diese  stolze  Um- 
organisation  nicht  nur  dadurch  möglich  geworden, 
daß  die  Arbeitsteilung  bis  zur  völligen  Anatomisierung 
vorgeschritten  ist  ?  Aus  der  menschlichen  Arbeit  ist 
die  entseelte  ewige  Wiederholung  derselben  paar  Hand- 
griffe geworden.  Die  Arbeitstätigkeit  steht  in  keiner 
Beziehung  mehr  zum  Arbeitsprodukt.  Es  ist  ganz 
gleichgültig,  was  gearbeitet  wird;  gestern  fertigten 
sie  Mikroskope,  heute  Granatenzünder. 

Der  Realist.  Sollten  etwa  die  Arbeiter  darüber 
bestimmen  dürfen,  welche  Erzeugnisse  herzustellen 
seien  ? 

Der  Phantast.  Warum  nicht  ?  Fordern  wir  nicht 
schon  jetzt  die  Arbeiter  auf,  die  Herstellung  von  Kriegs- 
munition zu  verweigern  —  in  Amerika  nämlich! 

Der  Realist.  Das  ist  etwas  anderes  

Der  Phantast.  Jedes  ist  immer  etwas  anderes! 
Darum  werden  wir  uns  nie  verständigen.  Die  Sprache 
hat  keinen  einheitlichen  Sinn  mehr,  die  Gesetze  der 
Logik  sind  aufgelöst,  die  Grundsätze  der  Moral  zer- 
splittert. Darin  findet  der  Zusammenbruch  des  Ka- 
pitalismus seine  ideelle  Parallelerscheinung:  im  Zu- 
sammenbruch aller  geistigen  und  sittlichen  Werte. 
Jede  Wahrheit  hört  an  der  Landesgrenze  auf  oder  ver- 
wandelt sich  unter  den  Tritten  der  Eroberer.  Was  man 
eben  noch  Patriotismus,  Opfermut,  nannte,  wird  in 
dem  Augenblick  todeswürdiger  Kriegsverrat,  wenn 
das  Land  vom  Feinde  besetzt  ist;  alsdann  nennt  man 
Klugheit,  vernünftige  Vorsicht,  was  tags  zuvor  als 
feige  Unterwerfung  gebrandmarkt  worden  wäre. 

Der  Realist.  Zunächst  vergißt  du  die  erhabene 
Solidarität  der  Volksgenossen,  die  als  höchstes  sittliches 
ja  ich  möchte  sagen,  als  logisches  Gesetz  sich  endlich 
durchgesetzt  hat  — 

Der  Phantast.  Ich  vermag  keine  Solidarität  zwi- 
schen den  Volksgenossen  zu  erblicken,  die  dem  Krieg 
sich  opfern  und  die  mit  ihm  Geschäfte  machen  — 


149 


Der  Realist.  . . .  Laß  mich  ausreden  —  Ich  wollte 
sagen:  Wie  die  sittlichen  Werte  nicht  zusammen- 
gebrochen sind,  sondern  nur  sich  erhöhend  gewandelt 
haben,  so  ist  auch  das,  was  du  als  Zusammenbruch  der 
Logik  empfindest,  in  Wahrheit  nur  die  Spiegelung 
jenes  beispiellosen  Ringens  der  verschiedenen  Volks- 
individualitäten, Nationalkulturen,  Staatsformen  und 
Wirtschaftskräften  um  Geltung  und  Herrschaft.  Ein 
höheres  Vorbild  für  die  Entwickelung  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  und  Geschichte  will  das  blutige 
Chaos  hervorbringen.  Wir  kämpfen  im  Grunde  um 
das  neue  Gesetz  der  Menschheit,  das  künftig  gelten, 
Richtung  weisen  soll  .  .  . 

Der  Phantast.  Volksindividualitäten!  Nationale 
Gegensätze!  Ich  finde,  niemals  war  die  Menschheit  in 
allen  Erdteilen  so  furchtbar  uniform.  Müssen  sie  darum 
sich  zerfleischen,  um  das  halbe  Dutzend  gleicher  Ideen 
sich  abzujagen,  das  die  ganze  Menschenherde  gegen- 
wärtig überall  in  ihren  Köpfen  hat?  Niemals  haben 
sich  die  Menschen  so  gut  verstanden,  wo  sie  in  allen 
Ländern  auf  genau  die  gleiche  Weise  —  lügen. 

Der  Realist.  Du  schimpfst  Lüge,  was  doch  nur 
die  allgemeine  Bedingtheit  jeder  Wahrheit  ist  und  in 
unseren  Zeiten  zudem  gefordert  wird,  durch  die  Not- 
wendigkeit, die  geistige  Freiheit  von  dem  nationalen 
Interesse  überwachen  zu  lassen. 

Der  Phantast.  Also  ist  es  noch  schlimmer.  Es 
sind  Lügen  auf  Befehl,  Lügen  im  Auftrag,  und  daß 
gerade  solche  Lügen  diesen  unermeßlichen  Einfluß 
haben,  von  denen  man  doch  weiß,  wer  sie  angeordnet 
hat,  und  zu  welchem  Zwecke,  das  macht  den  morali- 
schen Zusammenbruch  noch  schlimmer;  diese  Lügner 
sind  nicht  nur  verächtlich,  sondern  auch  lächerlich! 
Und  hast  du  wirklich  kein  Gefühl  dafür,  was  es  be- 
deutet, daß  wir  nun  schon  siebzehn  Monate  ohne 
geistige  Freiheit  leben  können,  daß  uns  die  Luft  zum 
Atmen  genommen  ist,  daß  wir  schweigen  müssen,  wo 

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Pflicht  und  Überzeugung  zu  reden  gebietet,  und  daß 
wir,  wenn  wir  reden,  täuschen  .  .  .  Und  die  Menschen 
ertragen  es,  sie  schreiben,  schwatzen  trotzdem  und 
fühlen  sich  anscheinend  ganz  wohl  dabei.  Es  geht 
offenbar  auch  ohne  geistige  Freiheit. 

Der  Realist.  Wenn  höhere  Interessen  auf  dem 
Spiele  stehen! 

Der  Phantast.  Gibt  es  ein  höheres  Interesse  als 
geistige  Freiheit  ? 

Der  Realist.    Das  Leben! 

Der  Phantast.  Nein,  denn  das  Leben  erhält 
seinen  Wert  erst  durch  die  Freiheit,  die  es  erfüllt  und 
leitet.  Weil  es  diese  Freiheit  nicht  gibt,  ist  das  Leben 
selbst  zusammengebrochen  in  allen  seinen  Äußerungen. 
So  gibt  es  auch  keine  Politik  mehr. 

Der  Realist.  Du  meinst  die  Selbstbeschränkungen 
des  Burgfriedens,  zu  dem  wir  genötigt.  Aber  den  haben 
wir  selbst  gewollt  —  aus  eigener  klarer  Erkenntnis 
des  Notwendigen. 

Der  Phantast.  Nein,  ich  will  wirklich  sagen,  daß 
jede  Politik  aufgehört  hat,  jedes  politische  Gefühl,  alles 
politische  Denken.  Die  Politik  der  Herrschenden  hat 
zu  diesem  Kriege  geführt,  dessen  Jammer  zu  beklagen 
alle  einig  sind.  Wenige  verantwortliche  Personen 
haben  die  Entscheidung  über  den  Krieg  herbeigeführt. 
Kein  Volk  wollte  den  Krieg.  Wäre  es  da  nicht  das 
Natürliche  gewesen,  daß  alle  Völker  sofort  die  Verant- 
wortlichkeiten feststellten  und  die  einzig  mögliche 
Schlußfolgerung  zogen:  Ihr,  die  ihr  bisher  allein 
herrschtet,  habt  durch  eure  Politik  die  Welt  in  diese 
Katastrophe  geführt.  Damit  habt  ihr  zum  mindesten 
eure  Unfähigkeit  bewiesen,  zu  regieren.  Fort  mit  euch, 
macht  anderen  Platz!  Jetzt  wollen  wir  andern  zeigen, 
wie  die  Geschichte  der  Menschheit  zu  verwalten  seien ! 
...  So  hätten  die  Menschen  sprechen  und  handeln 
müssen,  wenn  sie  politisch  dächten.  Aber  es  war 
eben  auch  die  politische  Logik  erloschen,  und  so 

151 


scharten  sich  die  Völker  begeistert  um  die  —  Ver- 
antwortlichen ! 

Der  Realist.  Sehr  natürlich,  denn  im  Augenblick, 
da  ein  Feuer  ausbricht,  suchen  nur  Narren  nach  den 
Kindern,  die  möglicherweise  mit  Streichhölzern  ge- 
spielt haben,  um  sie  zu  prügeln.  Die  Vernünftigen 
löschen. 

Der  Phantast.  Jetzt  währt  der  Augenblick 
17  Monate,  und  wir  löschen  weder,,  noch  ziehen  wir 
zur  Verantwortung. 

Der  Realist.  Die  Stunde  der  Verantwortung 
kommt  nach  dem  Krieg,  im  Frieden  — 

Der  Phantast.  — für  den  wir  nicht  einmal  wirken 
sollen  dürfen,  der  daher  niemals  werden  wird,  wenn 
anders  es  auf  unsere  Mitwirkung  ankommt. 

Der  Realist.  Wer  heute  vom  Frieden  redet,  reizt 
die  Feinde  zum  Durchhalten  auf  und  trägt  so  zur  Ver- 
längerung des  Krieges  bei.  Wie  war  doch  das  Echo 
drüben,  das  unsern  Friedenswünschen  antwortete  ? 

Der  Phantast.  Du  wirst  doch  nicht  etwa  von 
den  Feinden  verlangen,  daß  sie  vom  Frieden  sprechen. 
Die  notwendige  Folge  würde  doch  sein,  daß  deren 
Friedenssehnsucht  uns  aufreizt,  nun  erst  recht  den 
Krieg  weiterzuführen. 

Der  Realist.  Niemand  will  das  —  bei  uns. 

Der  Phantast.  Ich  habe  aus  deiner  eigenen  Logik 
gesprochen.  Aber  ich  vergaß:  jedes  Argument  hört 
an  der  Grenze  auf,  jede  Wahrheit  verkehrt  sich  an 
einem  gewissen  Meilenstein  in  ihr  Gegenteil.  Man 
kann  die  Logik  nicht  mehr  exportieren,  das  ist  die 
einzige  Blockade,  die  effektiv  ist,  und  das  umorgani- 
sierte Kausalgesetz  lautet:  die  gleiche  Ursache  hat 
immer  verschiedene  Wirkungen. 

Der  Realist.  Wer  die  Dinge  sieht,  wie  sie  wirklich 
sind,  erkennt  eben  immer  verschiedene  Ursachen  und 
rechnet  folglich  mit  verschiedenen  Wirkungen. 

Der  Phantast.  Als  ob  es  sich  verlohnte,  die  Dinge 

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zu  erkennen,  nur  um  sie  zu  bejahen.  Ihr  seid  wie  Ärzte, 
die  die  Pest  erforschen,  nicht  um  sie  zu  überwinden, 
sondern  um,  sie  weiterverbreitend,  den  Sinn  der  Pest 
für  den  Haushalt  der  Menschheit  schwärmend  zu  ent- 
decken. 

Der  Realist.  In  der  Tat,  solchen  Sinn  des  Krieges 
haben  wir  zu  erkennen,  um  zusehen,  wie  töricht  es  ist, 
von  Zusammenbruch  zu  reden.  Wessen  Augen  nicht 
doktrinär  geblendet  sind,  wessen  Hirn  nicht  in  Formen 
erstarrt  und  verengt  ist,  der  muß  doch  begreifen,  wie 
Großes,  wie  Gewaltiges  sich  jetzt  in  blutiger  Gärung 
vorbereitet.  Die  Erde  bekommt  ein  neues  Antlitz. 
Neue  Grenzen  der  Kultur  und  der  Herrschaft  werden 
abgesteckt.  Die  höchsten  Ziele  werden  sichtbar,  ver- 
fallene Mächte  versinken,  und  an  ihre  Stelle  tritt  der 
erlösende  Einfluß  jugendstarker  Völker,  und  damit 
auch  die  Macht  des  Stärksten  und  gesundesten  Prole- 
tariats .  .  . 

Der  Phantast.  Holla  —  wie  du  phantasierst,  o 
Mann  des  Wirklichen;  ob  deine  Ziele  nun  innerlich 
groß  sein  mögen  oder  nicht;  du  träumst  von  Grenz- 
revolutionen, Umwälzungen  von  Grund  aus  und,  im 
Nu,  vom  Sturz  vielhundertjähriger  Weltherrschaft 
und  der  Neubildung  junger  Weltvormacht  binnen 
siebzehn  oder  meinetwegen  24  Monaten.  Das  geht 
rasch  und  radikal!  Übermorgen  aber,  wenn  Frieden 
sein  wird,  und  das  innere  Schicksal  der  Menschheit 
zur  Entscheidung  stehen  wird,  wenn  es  sich  nicht  nur 
um  verheerende  Abwechslungen,  Ablösungen  des 
Gleichen,  nicht  bloß  um  nationalkapitalistische  Be- 
sitzübergänge handeln  wird,  dann  versteinerst  du 
wieder  zum  Propheten  der  langsamen,  sehr  langsamen 
Entwicklung,  der  gegebenen  Notwendigkeiten.  Dann 
wirst  du  uns  wieder  bändigen,  zähmen,  hemmen  wol- 
len. Dann  ist  wieder  gar  nichts  nötig,  und  Bedächtig- 
keit und  Besonnenheit  ist  alles.  Ich  aber  habe  in- 
zwischen aus  den  Tatsachen  der  ungeheuren  Zer- 


153 


Störung  gelernt,  welche  Möglichkeiten  frucht- 
barer Arbeit  gegeben  sind,  wenn  wir  nur  wollen. 
Das  Maß  des  jetzigen  Zusammenbruchs  ist  für  mich 
das  Maß  des  künftigen  Aufbaus.  Ich  nehme  deine 
glühende  Kriegshitze  für  weltpolitische  Zerstörung, 
der  kein  Ding  unmöglich  scheint,  hinüber  in  den  Frie- 
den, in  den  Frieden  unserer  Werke.  Ich  lasse  mich 
niemals  mehr  beruhigen,  beschwichtigen,  aufhalten. 
Kein  Opfer  kann  mehr  groß  sein.  Nichts  darf  mehr 
vertagt  werden.  Wenn  dieser  Krieg  möglich  war, 
dann  ist  alles  möglich  —  auch  das  Gute,  auch  die 
Vernunft.  Der  Begriff  der  Gefahr  ist  wesenlos  ge- 
worden, es  gibt  keine  Furcht  mehr.  Die  Zeit  des 
Wagens  beginnt!  Das  ist  die  einzige  Lehre,  die  ich 
aus  dem  Kriege  ziehe:  die  Möglichkeit,  die  Notwendig- 
keit, daß  auch  das  Vernünftige  sofort  gestaltet  werden 
könnte,  daß  nach  dem  Zusammenbruch  die  neue  Welt, 
die  wahrhaft  neue  Welt  der  freien  Menschen  in  stür- 
mender Ungeduld  erstehen  müsse.  Es  gibt  hinfort 
nur  einen  Weg,  unser n  Weg,  und  den  müssen  wir 
allein  gehen,  hinter  uns  alle  Brücken  sprengend,  die 
zu  den  Verantwortlichen  des  Alten,  des  ewig  Verur- 
teilten führen! 

Der  Realist.  Phantast!  Du  fliegst  über  alle  Wirk- 
lichkeiten hin. 

Der  Phantast.  Über  die  Wirklichkeiten  des  — 
Absurden,  Realist!  O  die  wunderreiche  Phantastik  — 
logischen  Denkens,  heller  Erkenntnis  und  menschlich 
handelnder,  sinnvoll  schaffender,  tapferer  Vernunft! 

Neujahr  1916. 


154 


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Die  Lebenswinde 


Der  Gaul,  der  ein  hochbepacktes  Wägelchen  müde 
und  langsam  schleppte,  sah  aus,  als  ob  man  ihn  einst 
beim  Übergang  zum  Autobetrieb  in  einen  Winkel  ge- 
stellt und  dort  vergessen  hätte,  bis  man,  im  Kriegs- 
mangel an  Autos,  ihn  nebst  dem  alten  Wagen  wieder 
entdeckt  und  hervorgeholt.  Sein  Fell  war  struppig 
und  glanzlos,  seine  Augen  suchten  traurig  umher; 
Nur  das  Gerippe  war  noch  ausgezeichnet  erhalten,  das 
konnte  man  allzu  deutlich  sehen.  Aber  die  Beine 
schienen  sich  bei  jedem  Schritt  tastend  zu  überlegen, 
ob  die  Pflastersteine  nicht  eigentlich  ein  gefährlich 
tiefes  Wasser  seien,  vor  dem  man  sich  hüten  müsse! 

Es  traf  sich  gut,  daß  die  gepflasterte  Straße  aufhörte 
und  in  eine  asphaltierte  einmündete, deren  glatte  Fläche 
durch  den  kalt  rieselnden  Regen  schlüpfrig  geworden 
war.  Das  ist  eine  schöne  Gelegenheit,  dachte  der  Gaul, 
Ruhe  zu  bekommen;  niemand  wird  unter  so  glaublichen 
und  offenkundigen  Umständen  eine  Arglist  dahinter 
vermuten.  Und  der  alte  Gaul  legte  sich  blitzschnell, 
nachdem  er  ein  wenig  mit  den  Hufen  vorwärts  ge- 
glitten, um  den  Anstand  zu  wahren,  auf  den  Boden 
nieder,  fest  entschlossen,  durch  keine  Macht  der  Erde 
sich  zum  Aufstehen  zwingen  zu  lassen.  Er  lag  wie 
tot,  nur  das  schwere,  ängstliche  Atmen  und  die  trau- 
rigen schwarzen  Augen  verrieten,  daß  noch  Leben  in 
ihm  war.  Ein  paar  Peitschenhiebe  sausten  herab,  das 
Tier  zuckte  zusammen,  wieherte  leise,  daß  es  fast  wie 
ein  Seufzen  klang,  regte  sich  aber  sonst  nicht.  Es  hatte 
bald  ein  großes  Publikum  um  sich  versammelt.  Die 
meisten  tauschten  ihre  Meinungen  über  die  Ursachen 
des  Falles  aus  und  über  den  Schaden,  den  der  Gaul 


155 


sich  getan  haben  mochte.  Einige  versuchten  aber  zu 
helfen,  sie  rissen  eifrig  und  werktätig  das  Pferd  an  den 
Zügeln,  brachten  auch  den  Kopf  ein  wenig  empor,  der 
jedoch  sofort  wieder  auf  die  Straße  zurückfiel,  wenn 
sie  losließen. 

Nun  stieg  der  Fuhrmann,  ein  ruhiger,  erfahrener, 
grauhariger  Mann,  herunter,  schirrte  das  Tier  aus  und 
legte  ihm  eine  Decke  unter  die  Füße,  daß  es  nicht  hin- 
glitte beim  Aufrichten.  Er  sprach  dem  Pferde  freund- 
lich aufmunternd  zu,  streichelte  es,  und  zog  mit  Macht. 
Nach  einigen  vergeblichen  Versuchen,  den  schweren 
Körper  auf  die  Beine  zu  bringen,  gab  er  die  Arbeit 
auf,  bei  der  das  Pferd  selbst  seinerseits  jede  Mitwir- 
kung verweigerte. 

Das  Publikum  war  sich  jetzt  einig,  daß  der  Gaul  am 
Krepieren  sei. 

In  diesem  Augenblick  schritt  ein  Schutzmann  ge- 
bietend durch  die  Reihen.  Seine  Unabkömmlichkeit 
hatte  augenscheinlich  seine  brachliegenden  Energien 
ungeheuer  aufgespeichert.  Die  Welt  begehrt  und 
braucht  Taten,  worunter  man  zumeist  Fäuste  versteht, 
und  auch  ein  gestürztes  Pferd  ist  ein  Teil  dieser  Welt 
und  muß  danach  behandelt  werden.  Also  packte  er 
das  Tier  mit  gewaltigen  Fäusten  an,  hob  es  auch  rich- 
■  tig  ein  Stück  empor.  Der  Gaul  aber  war  nicht  ge- 
sonnen, sich  durch  die  bewaffnete  Macht  von  seinem 
zwar  feuchten  und  harten,  aber  immerhin  wagerechten 
Lager  drängen  zu  lassen,  und  mit  dem  Aufwand  letzter 
Kraft  stieß  er  die  Hufe  so  heftig  in  den  Bauch  des 
Schutzmannes,  daß  er  taumelte,  bewußtlos  nieder- 
brach  und  in  dem  letzten  Auto,  das  einsam  auf  dem 
nahen  Rathausplatz  harrte,  in  die  Klinik  verbracht 
werden  mußte.  Darauf  wich  das  Publikum  ein  wenig 
in  respektvoller  Entfernung  zurück.  Der  Kutscher 
aber  bat  einen  Kollegen,  nach  der  Feuerwehr  zu  tele- 
phonieren.  Denn  nun  war  das  Tier  zweifellos  ein  ge- 
meingefährliches Verkehrshindernis. 

156 


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Nach  einer  Weile  kam  ein  blitzblankes  Lastauto  der 
Feuerwehr.  Sechs  beherzte,  behelmte  Männer  stiegen 
herunter  und  schleppten  an  den  Ort  der  Tat  ein  merk- 
würdiges Gerüst,  das  aus  drei  in  spitzem  Winkel  zu- 
laufenden Stahlröhren  bestand.  Sie  stellten  es  über 
dem  reglos  liegenden  Pferde  auf.  Im  Winkel  oben  be- 
fand sich  eine  Winde.  Die  Männer  nahmen  einen  brei- 
ten und  festen  Gurt,  schoben  ihn  unter  den  Leib  des 
Tieres,  hüllten  es  ringsum  ein  und  schnürten  den  Pan- 
zer fest  zu.  In  ihm  aber  befand  sich  eine  Öse,  in  die 
ein  Haken  griff.  Es  war  die  Straßenimprovisation 
eines  Hebewerks.  Hierauf  zogen  drei  Männer  an  dem 
über  die  Rolle  laufenden  Seil  —  ächzend,  sich  gegen- 
seitig ermunternd,  nicht  ohne  Atempausen  und  Ge- 
dankenaustausch, langsam,  sicher,  unwiderstehlich. 

Die  Augen  des  überraschten  Pferdes  gingen  von 
ängstlicher  Trauer  in  starres  Entsetzen  über.  Das  war 
gänzlich  unerwartet.  Was  für  Teufel  diese  Menschen 
sind,  was  sie  sich  für  Maschinen  ausdenken,  die  über 
alle  Pferdekräfte  und  Pferdelisten  gehen,  und  selbst 
die  passive  Resistenz  eines  verdientermaßen  ruhe- 
bedürftigen und  entschlossen  ruhebedürftigen  Rosses 
brechen ! 

Es  half  nichts  mehr.  Das  arme  Tier  wurde  höher 
und  höher  gehoben,  als  sollte  es  in  den  Himmel  schwe- 
ben, Leib  und  Seele  gemeinsam.  Schon  baumelte  es 
senkrecht  zum  Boden,  so  hoch,  daß  seine  Hufe  die 
Straße  hätten  berühren  können,  es  brauchte  nur  die 
Beine  zu  strammen.  Aber  da  erwies  sich  die  Intelli- 
genz eines  abgerackerten  Tieres  stärker  als  der  höl- 
lische Maschinenwitz  der  Menschen.  Die  Hufe  standen 
nicht  auf  dem  Asphalt,  sie  hingen  nur  schlaff  pendelnd, 
und  sobald  das  Seil  versuchshalber  gelockert  wurde, 
sanken  die  Beine  alsbald  wieder  in  sich  zusammen. 
Niemand  soll  den  Gaul  zwingen,  so  dachte  er,  zu  stehen 
und  weiter  die  schwere  Last  über  die  schlüpfrige  Straße 
zu  ziehen! 


157 


Die  sechs  Feuerwehrleute  kamen  endlich  nach  gründ- 
licher Beratung  zu  dem  übereinstimmenden  Beschluß, 
daß  dem  Tiere  nicht  mehr  zu  helfen  sei  und  dem  Fuhr- 
mann auch  nicht.  Mit  vieler  Mühe  wurde  hiernach 
der  Pferdekörper  in  das  Auto  neben  dem  stählernen 
Gerüst  verladen.  In  den  Augen  des  Gaules  leuchtete 
es  wie  geheimer  Triumph;  er  hatte  seinen  Willen  durch- 
gesetzt, dafür  wurde  er  jetzt  selber  bequem  gefahren. 
Er  verstand  offenbar  die  Sprache  des  Menschen  nicht, 
der  unter  dem  Gelächter  der  Menge  rief:  Morgen  gibt 
es  billiges  prima  Ochsenfleisch!  Ein  anderer  aber  be- 
merkte, halb  mitleidig,  halb  gehässig,  jedenfalls  den  gan- 
zen Vorgang  endgültig  und  bestimmt  abschließend:  Die 
Sache  ist,  daß  das  Tier  kein  Fressen  in  den  Därmen 
hat! 

Das  Feuerwehrauto  klingelte  davon.  Das  Publikum 
verlief  sich.  Mir  aber  folgten  die  Augen  des  Pferdes 
den  ganzen  Tag,  die  starren  Augen,  die  sich  über  die 
tückischen  Maschinen  der  Menschen  entsetzten,  über 
die  Maschinen,  die  jeden  Willen  zur  Ruhe  brechen. 
Und  es  war  mir,  als  ob  ich  selber  wie  alle  andern  ins- 
geheim in  solche  Gurte  eingeschnürt  sei,  an  denen 
man  uns  emporwindet,  wenn  wir  uns  friedlich  aus- 
ruhen möchten,  diese  Lebenswinde  der  gesellschaft- 
lichen Organisation  und  der  über  uns  gewachsenen 
Technik,  die  stärker  sind  und  zwingender  als  unsere 
jämmerlichste  Müdigkeit  und  unser  sehnsüchtigstes 
Ruhebedürfnis.  Wir  müssen  uns  emporwinden  lassen 
und  wider  stehen,  oder  

April  191 6. 


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Mensch  -  Ersatz  •Würfel. 
Ein  Triumph  deutscher  Wissenschaft. 

Alles  läßt  sich  ersetzen  —  wir  wissen  das  heute  be- 
stimmter, als  je  zuvor  in  der  Weltgeschichte.  Es  gibt 
Salatöl-Ersatz,  in  dem  sich  noch  eher  Salat  als  öl  fin- 
det. Wir  ernähren  uns  mit  Ei-Ersatz,  das  heißt  einem 
Pulver,  das  gänzlich  unverdächtig  ist,  irgend  etwas  mit 
Eigelb  oder  Eiweiß  zu  tun  zu  haben;  nicht  einmal 
Eierschalen  haben  an  diesem  vortrefflichen  Ersatznah- 
rungsmittel Anteil.  Wer  hätte  noch  nicht  auch  dem 
unflätigsten  Regenstrom  siegreich  trocken  widerstan- 
den, sofern  er  nur  den  unübertrefflichen  echten  Ersatz 
für  den  kongenialen  Ersatz  von  prima  Lederersatzersatz, 
Marke  Antischund,  unter  den  Füßen  getragen.  Und 
längst  füttern  wir  uns  billig  und  bekömmlich  mit  Gänse- 
braten und  Kraftbrühe  in  Würfelform  —  jeder  Wür- 
fel für  zwei  reichliche  Portionen  langend.  Von  der 
geistigen  Nahrung  nicht  zu  reden,  wo  schlechterdings 
alles  Gedruckte,  Gesprochene,  Gedachte,  Gefühlte  Er- 
satz für  irgend  etwas  ist,  was  ehedem  einmal  Wahr- 
heit und  Vernunft  war. 

Aber  so  hervorragend  auch  die  Technik  dieser  Er- 
satzstoffe und  die  Organisation  ihres  Vertriebs  ist,  es 
wurde  bisher  immer  noch  als  ein  peinlicher  Übelstand, 
geradezu  als  ein  Verstoß  gegen  die  Grundgesetze  der 
Energetik  —  größter  Wirkungsertrag  bei  geringstem 
Kräfteaufwand  —  empfunden,  daß  diese  Ersatzstoffe 
doch  ein  sehr  weitläufiger  Umweg  seien,  um  die  Exi- 
stenz der  Menschen  zu  sichern.  Wie  es  für  den  ge- 
sunden, technisch  gereiften  und  sittlich  gestählten 
Menschenverstand  nicht  leicht  begreiflich  ist,  warum 
man  die  Kinder  erst  heranwachsen  läßt,  sie  umständ- 
lich und  kostspielig  aufzieht,  um  sie  hernach  den  Wir- 
kungen von  Granaten,  brennenden  Flüssigkeiten,  Gift- 
gasen, Luftbomben  und  Torpedos  auszusetzen,  anstatt 


159 


die  kleinen  Wesen  gleich  auf  chemischem  Wege  in 
Sprengstoffe  zu  verwandeln  und  sie  so  unmittelbar 
und  ohne  Kräfteverlust  der  Landesverteidigung  dienst- 
bar zu  machen,  —  so  hat  deutscher  Forschergeist 
rastlos  mit  der  Sinnlosigkeit  gerungen,  daß  die  Men- 
schen künstlich  mit  Ersatzmitteln  erhalten  werden 
müssen,  anstatt  daß  man  die  Menschen  selbst  ersetzt. 
Mit  gewohnter  Energie  ist  der  Problemstellung  die 
Problemlösung  gefolgt. 

Soeben  ist  es  dem  Professor  Kraftmüller,  dem  be- 
rühmten Mitglied  des  Kaiser- Wilhelm- Instituts  in 
Berlin,  gelungen,  die  Frage  des  Menschenersatzes  durch 
die  geniale  Tat  zu  beantworten.  Und  wir  sind  in  der 
Lage,  soweit  es  die  militärischen  Interessen  gestatten, 
einige  Andeutungen  über  diese  Erfindung  zu  geben, 
die  man  epochemachend  nennen  könnte,  wenn  mit 
dieser  letzten  und  endgültigen  Universalerfindung 
nicht  auch  die  Epochen  selbst  gänzlich  als  überflüssig 
und  veraltet  aufhören  würden.  Schon  als  die  ersten 
Gerüchte  dieser  Erfindung  ins  feindliche  Ausland 
drangen  und  man  nun  mit  Schrecken  ahnte,  daß  jetzt 
das  deutsche  Menschenmaterial  unbegrenzt,  uner- 
schöpflich, unzerstörbar,  nicht  mehr  auszuhungern 
sei,  sank  die  anfängliche  Siegesstimmung  genau  so  auf 
den  Nullpunkt,  wie  sie  übrigens,  nach  den  amtlichen 
Berichten  des  W.T.B,  und  den  wahrhaft  neutralen 
Feststellungen  des  Seidwyler  Extrablattes  seit  zwanzig 
Monaten  mindestens  sechsmal  täglich  gesunken  ist. 
(Von  diesem  Seidwyler  Blatt  erscheint  in  Wirklichkeit 
nur  der  als  Quelle  benötigte  Titel ;  der  jeweilig  zweck- 
mäßige Inhalt  entsteht  erst  während  der  telegraphi- 
schen Übermittelung  durch  Urzeugung.)  Das  ficht 
uns  natürlich  nicht  an.  Wir  werden  uns  diese  Erfin- 
dung und  ihren  rücksichtslosen  Gebrauch  nicht  be- 
schränken lassen  und  wir  würden  auch  einer  etwaigen 
Note  des  Präsidenten  Wilson  mit  kühler  Ruhe  und  un- 
beirrbarer Entschlossenheit  entgegensehen. 

160 


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Es  ist  eine  bekannte  Tatsache,  daß  der  Mensch  aus 
einer  gewissen,  dem  Gewicht  nach  nicht  großen  Menge 
fester  chemischer  Bestandteile  besteht ;  es  sind  nur  ein 
paar  Kilo.  Was  man  so  einen  gewöhnlichen  lebenden 
Menschen  nennt,  ist  in  Wirklichkeit  eine  durch 
Flüssigkeiten  und  Gase  unmäßig  aufgeblähte  Masse,  und 
gerade  dieses  verwickelte  und  gedunsen  üppige  Bei- 
werk macht  die  menschliche  Kreatur  so  verwundbar, 
jammervoll,  widerstandsunfähig  und  kostspielig.  Erst 
im  Krematorium  tritt,  nach  Verdampfung  alles  Flüs- 
sigen und  Gasartigen,  der  echte  Kern  zutage.  Aller- 
dings ist  dieser,  den  hohen  Hitzegraden  ausgesetzte 
Kern  nicht  mehr  als  lebendig,  als  menschenähnlich 
zu  betrachten.  Die  Aufgabe  war  nun,  die  chemischen 
Stoffe,  aus  denen  der  Mensch  besteht,  in  den  genauen 
Mischung-Proportionen  so  zusammenzusetzen,  daß 
sie  —  ohne  Raumverschwendung  —  einen  völligen 
Mensch-Ersatz  —  nicht  nur  die  Aschenrückstände  der 
Verbrennung  —  erzielen.  Dies  aber  ist  Professor 
Kraftmüller  gelungen.  Er  hat  ein  Verfahren  entdeckt, 
mit  dessen  Hilfe  automatisch  aus  den  notwendigen 
Rohstoffen  sich  in  unbegrenzter  Haltbarkeit  und  Zahl 
kleine  Mengen  kristallisieren,  die  mit  peinlichster 
Präzision  alle  Elemente  enthalten,  in  dem  der  Natur 
abgelauschten  Verhältnis  der  Zusammensetzung,  die 
einen  Menschen  ausmachen.  Die  verwandten  Roh- 
stoffe sind  dabei  durchaus  reell,  kein  Ersatz;  nur  der 
verschwindende  Gehalt  an  Gold,  der  im  menschlichen 
Blut  vorhanden  ist,  mußte,  da  der  Gelehrte  selbstver- 
ständlich sein  Gold  zur  Reichsbank  gebracht  hat,  durch 
kleine  Partikel  von  Kriegsanleihe- Abschnitten  (die  ja 
so  gut  wie  Gold  sind!)  ersetzt  werden.  Professor 
Kraftmüller  hat  lange  geschwankt,  in  welcher  Form 
er  diese  Mensch-Ersatz-Masse  pressen  solle.  Er  kam 
schließlich  zu  der  Überlegung,  daß  die  Nachahmung 
der  menschlichen  Figur  nicht  empfehlenswert  sei; 
sie  ist  zu  unübersichtlich,  gebrechlich,  die  heraus- 


ii    Eimer,  Gesammelte  Schriften.  I. 


stehenden  Glieder,  die  dünnen  Verbindungszylinder 
reizen  geradezu  an,  sie  abzubrechen  und  sonst  zu  ver- 
stümmeln. So  kam  er  zu  der  soliden,  hinlänglich  er- 
probten Würfelform. 

Damit  ist  nun  die  menschliche  Ernährungsfrage  für 
immer  gelöst,  und  alle  übrigen  sozialen,  politischen, 
religiösen,  geistigen,  imperialistischen,  ästhetischen, 
organisatorischen  und  disziplineilen  Fragen  ebenfalls. 
Die  ungeheuren  Vorteile  der  Mensch-Ersatz-Würfel 
sind  in  die  Augen  fallend.  Es  ist  erstens  ihr  geringes 
Gewicht,  nur  wenige  Kilo,  die  doch  alle  festen  che- 
mischen Bestandteile  des  Menschen  vollwertig  ent- 
halten. Die  handliche  und  geschmackvolle  Würfel- 
form ermöglicht  ihre  Unterbringung  auf  geringstem 
Raum;  die  gefährlichen  Expansionsbedürfnisse  sind 
hinfort  undenkbar.  Die  Wohnungsfrage  ist  gelöst. 
Die  Würfel  verwittern  fast  gar  nicht,  so  daß  ihre  Lebens- 
dauer einige  Jahrbillionen  garantiert  dauert,  und  sie 
sicher  noch  die  Vereisung  und  den  Zerfall  der  Erde 
unversehrt  überstehen  werden.  Sie  bedürfen  keiner 
Nahrung,  es  tritt  also  niemals  Übervölkerung  ein.  Sie 
können  in  beliebiger  Zahl  hergestellt  werden,  so  daß 
auch  das  Problem  des  Geburtenrückgangs  ein  Gespenst 
der  Vergangenheit  ist.  Dabei  sind  die  Mensch-Ersatz- 
Würfel  von  so  widrigem  Geschmack,  daß  selbst  die 
unflätigsten  Tiere  nicht  wagen  würden,  sie  zu  ver- 
schlingen; sie  haben  folglich  absolute  Sicherheit  gegen 
jede  Gefährdung  ihrer  Existenz,  zumal  sie  auch  zugleich 
so  fest  und  so  elastisch  sind,  daß  keine  Gewalt  sie  aus- 
einander zu  sprengen  vermöchte. 

Der  nachdenkende  Leser,  und  wir  wissen,  daß  wir 
nur  solche  haben,  wird  einen  Einwand  erheben,  wie 
es  denn  um  die  Seele,  insbesondere  um  die  deutsche 
Seele  der  Mensch-Ersatz-Würfel  stünde.  Auch  diesen 
Umstand  hat  Professor  Kraftmüller  gebührend  be- 
rücksichtigt und  es  gelang  ihm,  nach  unendlich  müh- 
samen Versuchen,  eine  verblüffend  einfache  Lösung 

162 


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zu  finden.  Als  er  nämlich  daran  ging,  den  Seelen- 
extrakt aus  den  menschlichen  Wesen,  wie  sie  bisher 
in  Deutschland  üblich  waren,  zu  ziehen,  gewahrte  er, 
daß  —  in  einer  kultivierten,  d.  h.  organisierten  und 
disziplinierten  Gesellschaft  —  das,  was  man  Seele 
nennt,  nichts  ist,  als  die  Nummer,  die  ihr  die  Gesell- 
schaft gibt.  Und  es  zeigte  sich  denn  auch  in  der  Tat, 
daß  nach  der  Gerinnung  der  aus  deutschem  Roh- 
material gewonnenen  chemischen  Menschenstoffe 
ganz  von  selbst,  bei  der  Pressung  der  Würfel,  sich  an 
der  Oberfläche  leichte  Vertiefungen  bildeten,  die  bei 
näherer  Prüfung  sich  als  —  immer  verschiedene  — 
deutlich  lesbare  Ziffern  herausstellten.  Damit  war 
klar,  daß  die  Mensch-Ersatz- Würfel  nicht  nur  eine 
deutsche  Seele  hatten,  sondern*  sogar  jeder  einzelne 
eine  individuelle  Seele.  Und  es  war  weiter  bewiesen, 
daß  diese  Mensch-Ersatz-Würfel  eine  wohlgeordnete, 
höchst  zivilisierte  Gesellschaft  besaßen,  wobei  es 
dem  ästhetischen  Sinn  der  zur  Ausbeutung  der  Er- 
findung bereits  gegründeten  Aktiengesellschaft  über- 
lassen bleibt,  die  Form  der  Schichtung  der  einzelnen 
Würfel  möglichst  geschmackvoll  und  zweckentspre- 
chend zu  wählen. 

Somit  steht  die  einzige,  noch  zu  erledigende  Auf- 
gabe der  deutschen  Menschheit  fest.  Es  gilt,  so  rasch 
wie  möglich  eine  unendliche  Zahl  dieser  deutschen 
Mensch-Ersatz-Würfel  zu  produzieren  und  über  das 
—  größere!  —  Deutschland  planmäßig  zu  verbreiten. 
(Was  die  anderen  Völker  tun  oder  lassen,  interessiert 
uns  nicht.)  Dann  ist  die  Unsterblichkeit  und  die  Un- 
zerstörbarkeit des  deutschen  Menschen  verbürgt,  und 
wir  in  der  bisherigen  mangelhaften  Form  lebenden 
deutschen  Menschen  können  dann  ruhig  eingehen 
oder  uns  auf  eine  der  sinnreichen  und  mannigfaltigen 
Weisen  ausrotten,  in  denen  die  menschliche  Zivilisation 
es  in  letzter  Zeit  zu  solcher  Meisterschaft  gebracht  hat. 

April,  191 6. 

n*  163 


Die  vier  Könige. 


Die  Urform  einer  evangelischen  Erzählung. 
Nach  einem  neuen  PapyrusfundL 

Zur  Un-Zeit,  da  die  Ewigkeit  geschaffen  ward, 
herrschte  in  Judäa  der  König  Herodes.  Dessen  Sinn 
aber  war  verstört,  also  daß  er  alles  lebendig  sah,  was 
von  den  Geschlechtern  der  Menschen  auf  Erden  in  der 
Vergangenheit  gewandelt.  Und  die  Geister  der  toten 
Menschen  bedrängten  ihn  und  zeigten  ihm  die  Wun- 
den, an  denen  sie  gestorben,  die  Verstümmelungen,  die 
sie  erlitten,  den  Hunger,  den  sie  erduldet,  und  die 
Schmerzen,  von  denen  sie  gegeißelt  waren.  Und  sie 
waren  alle  blutig  und  schrien,  und  König  Herodes  roch 
das  Blut  und  hörte  die  Schreie.  Und  er  konnte  nicht 
wachen  bei  Tag  und  nicht  schlafen  bei  Nacht,  sondern 
er  kämpfte  mit  den  Geistern  und  duldete  all  ihre  Qual, 
und  es  war  um  ihn  immer  ein  schlimmer  Traum. 

Herodes  aber  sagte  niemandem,  was  er  erschaute 
und  erduldete.  Die  Großen  von  Judäa  aber,  die  ihres 
Herrn  Verstörung  sahen,  gingen  zum  Volke  und  sagten : 
Sehet,  König  Herodes  ist  vom  bösen  Gewissen  ge- 
schlagen, er  hat  geheime  Sünde  auf  sich  geladen  und 
der  Herr  verfolgt  ihn.  Und  sie  wußten  nicht,  daß  der 
König  der  unglücklichste  aller  Menschen  war,  weil  er 
der  beste  war,  und  fühlte,  was  alles  auf  Erden  jemals 
an  Leid  geschehen  und  an  Missetat  verübt. 

Und  es  begab  sich,  daß  der  König  Nächtens  durch 
die  Stadt  wanderte,  um  vor  den  Dämonen  zu  ent- 
weichen. Aber  sie  scharten  sich  um  ihn  und  folgten 
ihm  wie  eine  Leibwache,  und  ließen  ihn  nicht  los  und 
schirmten  seine  Qual.  Da  hörte  er  aus  einem  Stall, 


164 


der  hart  an  der  Stadtmauer  stand,  wo  die  Ärmsten 
hausten,  das  leise  Wimmern  eines  Kindes,  eines  Neu- 
geborenen. Und  siehe  da,  es  versanken  die  Dämonen 
und  es  ward  zum  erstenmal  ruhig  in  dem  kranken 
Herzen  des  Königs. 

Der  König  aber  trat  in  den  Stall  und  sah  ein  frierend 
und  weinend  Knäblein  in  der  Krippe  liegen.  Die 
Mutter  des  Kindes,  die  auf  der  Streu  kauerte,  erschrak, 
wie  der  König  eintrat,  und  breitete  beide  Hände  über 
die  Krippe.  Da  sprach  der  König:  Fürchte  dich  nicht, 
denn  ich  bin  gekommen,  um  zu  dienen  deinem  Kinde, 
das  mir  den  Frieden  gebracht.  Die  Erlösung  trugst 
du,  o  Frau,  in  deinem  Schöße,  die  jegliche  Vergangen- 
heit menschlicher  Frevel  vergessen  macht  und  wirkt, 
daß  die  Tage  der  Menschen  leicht  werden  und  frei 
und  voller  Lust. 

Und  es  ging  ein  Leuchten  von  dem  Kinde  aus  und 
es  hub  an  zu  reden :  Du  sprachst  wahr,  o  König,  ich  bin 
dir  Bringer  des  Friedens,  und  alle  Völker  werden  mir 
Untertan  sein.  Du  aber  schütze  mich  in  meiner 
Schwäche,  bis  ich  Kraft  habe,  die  Botschaft  zu  erfüllen. 

Hierauf  ging  der  König  zurück  in  seinen  Palast,  legte 
sich  auf  sein  Lager  und  es  befiel  ihn  ein  tiefer  Schlaf. 
Die  Geister  aber  waren  entwichen.  Wie  es  aber  gegen 
Aufgang  der  Sonne  ward,  erschienen  ihm  im  Traum 
die  Geister  wieder  und  klagten:  O  König,  bald  wirst 
du  uns  vergessen  und  dein  Herz  wird  hart  werden  und 
die  Stimme  der  Qual  verstummen.  Und  die  Menschen 
werden  töten  wie  zuvor,  und  Schrecken  verbreiten 
und  Wahnsinn  dulden.  Denn  wie  soll  das  eine  schwache 
Kindlein  Gewalt  des  Friedens  haben,  wenn  die  andern, 
die  mit  ihm  und  nach  ihm  geboren,  Männer  werden 
und  die  Waffen  ergreifen  und  die  Feinde  heraus- 
fordern ! 

Der  König  fuhr  aus  dem  Schlaf,  und  erschrak,  und 
der  Schweiß  troff  ihm  von  dem  zitternden  Leib,  und 
berührte  nicht  Speise  und  Trank,  und  sann,  wie  er 

165 


das  Unheil  zu  wenden  vermöchte.  Denn  kündeten  die 
Geister  des  Zorns  nicht  Wahrheit  ?  Jeglichen  Tag  ge- 
bären Weiber  Söhne  und  jeglicher  Sohn  wird  Jüngling 
und  Krieger,  säet  Tod  und  erntet  Tod,  und  das  Blut 
fließt  über  die  Äcker  und  färbt  die  Ströme,  und  Wehe- 
geschrei raset  unter  den  Völkern.  Viele  Krieger  werden 
erstehen  und  nur  ein  Erlöser  des  Friedens,  und  die 
vielen  werden  den  einen  bewältigen. 

Sieben  Tage  und  Nächte  sann  König  Herodes  und 
berührte  nicht  Speise  noch  Trank.  Am  achten  Tag 
aber  war  sein  Wissen  vollendet,  er  sammelte  seine 
Knechte  um  sich  und  befahl  ihnen,  alle  Knaben,  die 
in  Judäa  geboren,  hinfort  zu  töten  und  niemand  zu 
schonen  außer  dem  Kinde  in  der  Krippe,  auf  daß  nie- 
mand wäre,  der  Waffen  führen  könnte  wider  den  Er- 
löser. 

Und  so  geschah  es.  Da  fluchten  die  Mütter  dem 
König  Herodes,  weil  er  die  Frucht  ihres  Leibes  aus- 
gerottet. Herodes  aber  ließ  Botschaft  ergehen  und 
den  Müttern  verkünden:  Ist  es  nicht  besser,  eure  Söhne 
sterben  als  Kindlein,  unschuldig  und  unbewußt,  als 
daß  sie  wachsen  und  den  bittren  Tod  der  Waffen  er- 
leiden und  verbreiten,  und  die  Blutschuld  auf  Erden 
mehren,  und  also  das  Werk  des  Befreiers  verderben !  So 
aber  der  Befreier  stark  geworden,  sollen  die  Mütter 
wieder  Söhne  gebären  und  großziehen,  weil  dann 
Frieden  über  die  Völker  gekommen. 

Da  verhüllten  sich  die  Mütter  schweigend  und  war- 
teten, daß  der  Befreier  wachse. 

Die  Kunde  aber  verbreitete  sich,  daß  König  Herodes 
alle  Knäblein  in  Judäa  töten  ließ  und  nur  Einem  das 
Leben  gewährte,  dem  armen  Kindlein  in  dem  Stalle. 
Auch  die  drei  Könige  im  Morgenlande,  die  gewaltig 
über  die  Völker  herrschten,  vernahmen  die  Kunde 
und  entsetzten  sich.  Und  sie  kamen  zueinander  und 
berieten  sich. 

Der  erste  aber  sprach:  Lasset  uns  Herodes  mit 


166 


Krieg  überziehen:  denn  er  ist  ein  Unhold,  der  alle 
Söhne  seines  Volkes  umbringt.  Befreien  wir  das 
Volk  des  Jammers. 

Der  zweite  sprach:  Lasset  uns  Herodes  mit  Krieg 
überziehen;  denn  er  sinnt  uns  böse  Tat.  Dieses  ist 
sein  Plan,  daß  er  die  Männer  unserer  Länder  ver- 
locke, in  sein  Reich  der  Weiber  auszuwandern,  und  dann 
unsere  Männer  auf  Geheiß  der  fremden  Weiber  wider 
uns  sende  und  unsere  Reiche  verderbe. 

Der  dritte  sprach:  Lasset  uns  Herodes  mit  Krieg 
überziehen.  Denn  großes  Unheil  spinnt  er  über  unse- 
ren Häuptern  Er  birgt  den  Herrscher  des  Friedens 
in  seinem  Lande  und  hat  alle  Widersacher  ausgerottet, 
damit  der  Friede  Macht  und  Kraft  gewinne.  Was 
aber  soll  aus  uns  werden,  wenn  kein  Krieg  mehr  auf 
Erden  ist?  Was  bedürfen  die  Menschen  dann  Herr- 
scher und  Eroberer  und  Feldherren,  wenn  sie  imFrieden 
sich  freuen  und  keine  Grenzen  sind  zwischen  ihnen, 
und  der  Name  Feind  stirbt  ?  Wehe  uns,  käme  über  uns 
die  Pest  des  Friedens. 

Da  sagte  der  erste  und  der  zweite  König  aus  dem 
Morgenlande  zum  dritten :  Du  hast,  Weisester,  Licht 
in  uns  gegossen.  Fürwahr,  so  ist  es,  wie  du  gesagt. 
Lasset  uns  Krieg  führen  gegen  den  Tyrannen  des 
Friedens. 

Sie  verabredeten  aber  eine  List. 

Sie  gingen  zu  dreien  ins  Land  Judäa  und  begehrten 
das  Kindlein  der  Wunder  in  frommer  Demut  zu  schauen, 
zu  verehren  und  zu  beschenken  von  ihrem  Reichtum. 
Und  sie  kamen  zum  Stall,  und  fielen  auf  die  Knie, 
vor  der  Krippe  und  öffneten  ihre  Schätze  und  häuften 
Gold,  Weihrauch  und  Myrrhen  über  dem  Kindlein. 
Da  dankte  die  Mutter  den  reichen  Fremdlingen,  freute 
sich  ihrer  Gaben  und  segnete  sie  und  geleitete  sie  mit 
frohen  Worten  zur  Türe  des  Stalles.  Dann  ging  die 
Mutter  zurück,  um  ihr  Kindlein  zu  tränken.  Siehe, 
da  fand  sie  es  erdrückt  unter  der  schweren  Bürde  der 


167 


Gaben,  und  es  weinte  nicht  mehr  »und  lachte  nicht 
und  öffnete  nimmer  die  Augen. 

In  dieser  Nacht  aber  drangen  die  Geister  wieder 
in  den  Palast  des  Königs  Herodes  und  sie  schrien 
und  rasten  und  trugen  in  ihren  Händen  all  die  umsonst 
erschlagenen  Söhne  Judäas,  die  Neugeborenen. 

Die  drei  Könige  aus  dem  Morgenlande  aber  kehrten 
heim  und  verkündeten,  daß  sie  mit  sich  brächten  das 
große  Heil,  den  Befreier  der  Welt,  und  in  seinem 
Namen  wollten  sie  in  alle  Zukunft  den  Frieden  der 
Völker  verwalten. 

Darauf  brachen  sie  in  Judäa  ein  und  verbrannten  das 
Land  und  töteten  Herodes.  Dieweil  er  das  Kindlein 
des  Friedens  vertrieben. 

Weihnachten  191 6. 


168 


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Das  Abreiß -Gehirn. 

Eine  Neujahrsbetrachtnng  über  die  Umorganisation 
des  menschlichen  Denkens. 

Vor  einiger  Zeit  verlebte  ich  ein  paar  Tage  mit 
einem  Menschen,  den  ich  ehedem  für  einen  im  Kampf 
um  gleiche  Ziele  mir  ernst  verbundenen  Kameraden 
gehalten  hatte.  Das  glaubte  ich  zwar  längst  nicht  mehr, 
aber  in  Erinnerung  an  frühere  Freundschaft  nahm  ich 
die  Gelegenheit  wahr,  um  ihm  ins  Gewissen  zu  reden. 

„Ihr  Fehler  ist,"  bemerkte  ich,  „daß  an  der  Stelle, 
wo  bei  andern  die  Gesinnung  als  Zentrale  des  Denkens 
und  Wollens  wirkt,  bei  Ihnen  ein  durch  mangelnde 
Benutzung  rudimentär  gewordenes  totes  Organ  sich 
befindet.  Darum  treibt  Ihre  Intelligenz  nicht  von 
innen  heraus,  sondern  sie  muß  sich  irgendwo  anlehnen. 
Sie  sucht  Schutz  hinter  und  neben  Mächten,  die  Sie 
mit  Recht  oder  Unrecht  für  stark  und  zukunftsreich 
halten.  Sie  sind  deshalb  der  geborene  Offiziosus, 
Sie  kämpfen  immer  im  Schatten  eines  andern,  wobei 
der  Mann  im  Schatten  bisweilen  erst  den  Körper  im 
Licht  macht.  Weil  Sie  selbst  keine  Uberzeugung  haben, 
betrachten  Sie  es  als  Aufgabe  Ihres  Witzes,  fremden 
Überzeugungen  oder  richtiger  fremden  Interessen  ver- 
nunftähnliche Argumente  zu  liefern,  wobei  es  nicht 
sowohl  darauf  ankommt,  daß  Sie  beharrlich  richtig, 
einheitlich  sind,  als  vielmehr,  daß  sie  grell  genug  klingen, 
um  von  der  allgemeinen  geistigen  Taubheit  gehört 
zu  werden.  Sie  werden  gewiß  jeden  Tag  ein  Dutzend 
klingender  Gescheitheiten  erfinden,  sagen  und  schreiben, 
nur  vergessen  Sie,  daß  alle  diese  kleinen  Gescheitheiten 
—  summiert  —  eine  große  und  klägliche  Dummheit 


169 


werden.  Denn  mit  Pfiffen  und  Pfiffigkeiten  macht 
man  schließlich  nicht  Geschichte,  sondern  mit  dem 
—  dummen  Herzen." 

Der  Kamerad  von  ehedem  lächelte  bei  dieser  An- 
sprache. Sein  bescheiden  verlegenes  Lächeln,  das  eine 
gewisse  Genugtuung  zu  verraten  schien,  über  den 
psychologischen  Kraftaufwand,  den  ich  an  seine  Person 
geopfert,  und  sich  über  das  niederdrückende  Gefühl, 
ungünstig  beurteilt  zu  werden,  weltmännisch  mit  der 
Eitelkeit  hinwegsetzte,  daß  ihm  immerhin  das  Zeugnis 
geistiger  Überlegenheit  zuteil  geworden.  Aber  hinter 
dem  gleichmütigen  Lächeln  lauerte  irgendein  böser 
Plan  zukünftiger  Vergeltung  für  die  moralische  Ent- 
larvung und  Züchtigung.  Inzwischen  gab  er  die 
Antwort : 

„Was  Sie  mangelnde  Gesinnung  nennen,  ist  in 
Wahrheit,  daß  ich  alle  Überzeugungen  für  gleich- 
berechtigt halte;  man  kann  alles  beweisen  und  alles 
widerlegen." 

„Das  ist  eine  zu  wohlwollende  Deutung,"  versetzte 
ich,  allmählich  mich  erhitzend.  „Sie  verteidigen  oder 
bekämpfen  nämlich  in  einem  und  demselben  Zeit- 
raum durchaus  nicht  alle  Überzeugungen;  Sie  nehmen 
vielmehr  jeweils  sehr  entschieden  Stellung  nach  der 
einen  oder  anderen  Richtung.  Nur  sind  Sie  bereit, 
den  Dienstag  nicht  wissen  zu  lassen,  wovon  Sie  am 
Montag  überzeugt  waren,  und  Ihre  Politik  vom  Mitt- 
woch nicht  zu  verpflichten,  daß  sie  bis  zum  Donners- 
tag vorhalten  müsse.  Sie  spielen  jeden  Tag,  wenn  es 
sein  muß,  jede  Stunde,  eine  andere  Rolle,  aber  immer 
mit  Brustton,  immer  mit  hämischer  Perfidie  gegen  die 
Ihnen  gerade  im  Wege  stehende  Überzeugung,  obwohl 
Sie  gar  nichts  glauben.  Es  ist  also  nicht  ein  Skepti- 
zismus, der  Sie  alles  verstehen  und  alles  verzeihen  lehrt, 
sondern  Ihre  verkümmerte  Gesinnung  wird  ersetzt 
durch  sehr  brutale  Lebensinstinkte,  die  nach  dem  ver- 
meinten oder  wirklichen  Vorteil  irgendwelcher  Art 

170 


Digiti 


gerichtet  ist.  Und  erst  wenn  Sie  um  dieser  äußeren 
Interessen  willen  —  zu  denen  ich  auch  kleinen  Ehrgeiz 
und  niedrige  Eitelkeit  rechne  —  es  für  geboren  halten, 
die  Ansichten  zu  wechseln,  belieben  Sie  sich  auf  die 
Natur  Ihrer  Intellektualität,  auf  Ihre  allbegreifende 
Skepsis  zu  besinnen." 

Unser  Gespräch  wurde  heftig  und  wir  schieden  in 
einem  gewissen  Haßgefühl.  Kurze  Zeit  darauf  ge- 
langte der  Kamerad  von  ehedem  zu  einer  bedeutenden 
Stellung,  und  seine  neuen  Freunde  rühmten  ihm  nicht 
ohne  geheime  Eifersucht  nach,  er  übe  eine  unvergleich- 
liche Macht  aus. 

Die  Laufbahn  meines  alten  Freundes  mag  denen  zum 
Nachdenken  dienen,  die  immer  vom  Glück  ausgesperrt 
bleiben,  bloß  weil  sie  von  der  dummen  Gewohnheit 
nicht  loskommen  können,  Gesinnung  zu  haben  und 
zu  betätigen  (die  ihnen  doch  niemand  glaubt),  sich 
ihr  Denken  mühsam  zu  erarbeiten,  dann  aber  starr 
und  pedantisch  so  zu  reden  und  so  zu  handeln,  wie  sie 
denken,  anstatt  sich  fröhlich  dem  Winde  zu  über- 
lassen, der  gerade  weht  und  treibt  und  alle  Segel 
schwellt.  Ich  gebe  zu,  daß  diese  Menschengattung  im 
Aussterben  begriffen  ist  und  vollblütige  Exemplare 
nur  noch  vereinzelt  anzutreffen  sind.  Dagegen  ist 
als  trauriger  Rückstand  vergangener  Gesinnungs- 
ideologie dem  Menschen  gemeinhin  das  böse  Gewissen 
geblieben,  das  sie  überflüssigerweise  jedesmal  befällt, 
wenn  sie  ihre  Meinungen  dem  Bedarf  gemäß  abtönen. 
Man  muß  nachgerade  lernen,  ohne  Beschwerde  in 
heiterer  Ruhe  die  unvermeidlichen  Änderungen  zu 
vollziehen.  Das  verächtliche  Wort,  daß  man  die  Über- 
zeugungen wechsele  wie  die  Hemden,  ist  genau  be- 
trachtet ein  Ruhm,  denn  es  deutet  auf  Sinn  für  Sauber- 
keit: es  sind  doch  reine,  frische  Hemden,  die  man 
eintauscht ! 

Man  befreie  sich  also  endlich  von  solchen  unzeit- 
gemäßen, hemmenden  Gewissensbissen  und  wage  ganz 


171 


zu  sein,  was  jeweils  von  Vorteil  ist.  Aber  freilich,  es 
fehlt  auf  diesem  Gebiete  noch  die  durchgearbeitete 
geistige  Organisation.  Der  Aberglaube,  daß  eine 
Kontinuität  des  Denkens  erforderlich  sei,  herrscht 
insgeheim  noch  immer.  Es  ist  auch  nicht  ganz  ein- 
fach, in  jedem  Augenblick  die  erforderlichen  neuen 
Überzeugungen  ausfindig  zu  machen  und  sie  als  letzte 
ewige  Wahrheiten  anständig  zu  begründen.  Und  doch 
laßt  sich  auf  die  bequemste  Weise  die  tägliche  Zufuhr 
von  Meinungen  sicherstellen:  Durch  den  Abreiß- 
kalender. In  seinem  jetztigen  Zustand  ist  diese  wand- 
schmuckgewordene Zeit-  und  Raumanschauung  sinnlos. 
Was  nützt  es  uns  zu  wissen,  wann  die  Sonne  auf-  und 
der  Mond  untergeht,  oder  welchem  Heiligen  der  Tag 
gewidmet  sei !  Haben  wir  einen  Nutzen  davon,  zu  er- 
fahren, welcher  große  Sozialist  vor  hundert  Jahren 
geboren  oder,  schlimmer  noch,  welcher  die  Absicht  habe, 
lebendig  fünfzig  Jahre  alt  zu  werden  ?  Küchenrezepte 
vollends  sind  heute  blutige  Verhöhnungen,  und  Weis- 
heitssprüche verschollener  Denker  und  Dichter  er- 
innern nur  immer  wieder  peinlich  daran,  daß  das 
Schwert  zu  sühnen  habe,  was  die  Feder  gesündigt. 
Nein,  der  Abreißkalender  muß  unser  Abreiß- 
gehirn werden!  Wir  müssen  täglich  sicher  wissen, 
was  wir  zu  denken  haben  und  warum  wir  es  zu  denken 
haben;  und  wir  müssen  täglich  uns  unserer  laufen- 
nen  Überzeugung  mit  dem  Blatte,  das  wir  wegwerfen, 
endgültig  entledigen  können. 

Wer  die  nachfolgenden  Blätter  einer  Durchsicht 
unterzieht,  wird  erkennen,  wie  wichtig  ein  solches 
Unternehmen  ist.  Ein  besonderer  Wert  der  angefügten 
Proben  besteht  noch  darin,  daß  jede  Überzeugung 
mit  der  Wucht  schlechthin  niedergeschlagener  All- 
gemeingültigkeit auftritt.  In  anderen  Zeiten  wählt 
man  vielleicht  zur  Bekräftigung  der  eigenen  und  zur 
Einschüchterung  der  entgegenstehenden  Überzeugung 
ethische  Formeln :  Nur  ein  Schuft  wird  bestreiten!  .  .  . 


172 


Digitiz 


Heute  ist  die  Angst,  als  Dummkopf  zu  gelten,  größer 
als  die  Besorgnis,  ein  Lump  gescholten  zu  werden. 
Es  empfehlen  sich  also  Anrufe  an  die  Intelligenz  .  .  . 

1.  Januar.  Nur  ein  Narr  kann  sich  einbilden,  die 
Entwicklung  der  Menschheit  hänge  ab  von  dem  Zug 
der  staatlichen  Grenzen.  Für  das  Glück  der  Mensch- 
heit ist  es  ganz  gleichgültig,  wie  die  Grenzen  über  den 
Erdball  laufen.  Das  mögen  sich  unsere  Annexionisten 
und  Uberannexionisten  gesagt  sein  lassen,  die  Ströme 
von  edelstem  Blut  vergießen  wollen,  nur  um  eines 
territorialen  Zuwachses  willen  für  das  eigene  Land. 
Weltherrschaft  ist  Verödung  und  Grenzverrückung 
ist  grenzenlose  Verrücktheit. 

2.  Januar.  Wer  nicht  ein  Kindskopf  ist,  muß  sich 
klar  darüber  sein,  daß  nationale  Erweiterung  das 
höchste  Gesetz  der  Geschichte  ist.  Nur  der  Kretin 
wächst  nicht.  Völker,  die  nicht  der  Zahl  und  dem  Ge- 
biet nach  sich  ausdehnen,  sind  zum  Untergang  ver- 
urteilt. Nur  ohnmächtige  Pygmäen  begeifern  den 
edelsten  Trieb  der  Nation,  ins  Weite  sich  auszudehnen. 
Das  heißt  nicht  Annexion,  das  heißt  nicht  Eroberung  — 
das  wollen  wir  auch  nicht !  —  das  heißt  das  Naturrecht 
auf  freie  Entfaltung  völkischer  Kraft. 

3.  Januar.  Man  muß  einen  Mittelweg  gehen 
zwischen  Annexionspolitik  und  dem  Status  quo  ante 
nationaler  Verkalkung,  wie  es  auch  einen  natüclichen 
Ausgleich  zwischen  rohem  Eroberungswillen  und  uto- 
pischer Selbstbestimmung  gibt.  Sollten  wirklich  noch 
irgendwo  Leute  von  so  schwacher  Begabung  existieren, 
die  nicht  zu  der  Einsicht  fähig  sind,  daß  es  die  Aufgabe 
des  Staatsmannes  ist,  Zug  um  Zug  so  lange  zu  ver- 
handeln, bis  die  realen  Garantien  für  das  eigene  Land 
gewonnen  sind,  ohne  daß  der  Gegner  seinerseits  an 
realen  Garantien  einbüßt;  und  bis  notwendige  Ände- 
rungen der  Grenzen  und  der  Verfassungen  in  der  Weise 
vollzogen  werden,  daß  der  fremde  mit  dem  eigenen, 


173 


richtig  verstandenen  Willen  zusammenfließt  ?  (N.B.  Bei 
dem  zur  Gewinnung  der  Kalenderblätter  unternom- 
menen Preisausschreiben  wurde  dieses  Blatt  gekrönt!) 

4.  Januar.  Im  Wettkampf  der  Völker  entscheidet 
nicht  die  physische  Gewalt,  sondern  der  Geist.  Der 
Krieg,  das  Maschinengewehr,  die  Kanone,  die  Blau- 
säurebombe ist  ein  untaugliches  Mittel,  um  kulturelle 
Überlegenheit  zu  erhärten.  Die  militärische  Nieder- 
lage ist  kein  Beweis  minderen  Rechts,  wie  der  mili- 
tärische Sieg  nicht  die  Kraft  einer  höheren  Rasse  oder 
Volksgemeinschaft  offenbart.  Im  Gegenteil.  Schon 
die  natürliche  Volksüberlieferung  begabt  die  Riesen 
mit  —  Riesendummheit.  Es  gibt  auch  heute  noch 
solche  Riesen! 

5.  Januar.  Der  Kampf  mit  sogenannten  geistigen 
Waffen  führt  (nur  Idioten,  die  aus  der  Geschichte 
nichts  gelernt  haben,  leugnen  es)  naturnotwendig  zur 
allgemeinen  Entartung.  Nur  in  dem  körperlichen 
Ringen  wehrhafter  Männer  und  reisiger  Völker  offen- 
bart sich  die  sittliche  Überlegenheit  und  der  Wille 
der  Gottheit. 

6.  Januar.  Solange  es  eine  Geschichte  der  Mensch- 
heit gibt,  erweist  sich  der  Krieg  immer  wieder  als  der 
Jungbrunnen  aller  idealen  Kräfte,  als  Stahlbad  gegen 
Verweichlichung,  Selbstsucht,  Laster.  Ebenso  sicher  aber 
ist  für  jeden,  der  auch  nur  das  ABC  menschlicher  Bil- 
dung notdürftig  beherrscht,  daß  der  Krieg  das  scheuß- 
lichste aller  Verbrechen  ist,  dessen  Blutschuld  für  alle 
Ewigkeit  auf  den  Verantwortlichen  lastet,  wie  denn 
seit  jeher  der  Krieger  mit  dem  goldenen  Lorbeer  be- 
kränzt wird  und  der  Tod  im  Kampfe  als  das  preisens- 
werteste  Glück  gilt.  Der  frische,  fröhliche  Wagemut, 
der  erobert  und  zerstört,  was  für  den  Untergang  reif, 
ist  die  Tugend  von  Männern.  Nur  Feiglingen  mag  es 
genügen,  den  eigenen  Herd  zu  schirmen,  den  anzu- 
greifen die  Rache  aller  Patrioten  wider  die  Frechheit 
zügelloser  Soldateska  herausfordert. 

174 


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j.  Januar.  Heute  ist  mehr  denn  je  die  Überzeu- 
gung lebendig  —  und  nur  in  völlig  verfinsterten 
Köpfen  ist  die  Erkenntnis  noch  nicht  eingedrungen  — , 
daß  die  öffentliche  Tribüne  eines  freien,  vom  ganzen 
Volke  kontrollierten  Parlaments  die  einzige  Schutz- 
wehr gegen  die  Gefahren  derGeheimdiplomatie,  gegen 
die  Intrigen  kapitalistischer,  militaristischer,  höfischer 
Cliquen  darbietet.  Das  Volk  siegt,  das  in  voller  Öffent- 
lichkeit sein  Denken  und  Wollen  mit  unbestechlicher 
Kritik  und  rücksichtsloser  Konsequenz  zu  bekunden 
wagt. 

8.  Januar.  Einige  schwatzbedürftige  eitle  Wort* 
helden  fordern  Aussprache  im  Parlament.  Haben  denn 
diese  Leute  immer  noch  nicht  begriffen,  daß  jetzt  die 
Tat  das  Wort  hat  und  nicht  das  Wort  die  Tat;  daß  sie 
durch  ihre  Forderung  auf  parlamentarische  Diskussion 
die  Geschäfte  des  Auslandes  betreiben  und  außerdem 
sich  von  den  Parteigegnern  im  Lande  düpieren  lassen, 
wenn  sie  auch  denen  Gelegenheit  geben  wollen,  ihre 
Forderungen  zu  proklamieren  ?  Jetzt  gilt  es,  für  das 
Vaterland  zu  schweigen  und  zu  —  handeln. 

9.  Januar.  Nur  ein  Kindskopf,  ein  Narr,  ein  Idiot 
kann  behaupten  oder  bestreiten  .  .  . 

Sylvester  1916. 


175 


Die  Austrocknung  des  heiligen  Geistes. 
Eine  Pfingstwundergeschichte  aus  neuerer  Zeit. 

In  einem  feindlichen  Lande  begab  es  sich.  Nur  in 
einem  feindlichen  Lande  konnte  es  sich  begeben, 
wie  ich  durch  eine  kürzlich  mir  zugegangene  Ver- 
fügung belehrt  worden  bin.  Man  hat  also  so  ziemlich 
den  ganzen  Erdkreis  zur  Auswahl  vor  sich,  wenn  jemand 
durchaus  wissen  will,  unter  welcher  besonderen  Flagge 
sich  die  Geschichte  begeben.  Es  genügt  zu  versichern, 
daß  ihr  Schauplatz  unter  keinen  Umständen  der  kleine 
Erdenfleck  ist,  innerhalb  dessen  ich  Reichsrecht  des 
Unterstützungswohnsitzes  genieße.  Begehrt  man  aber 
durchaus  zu  erfahren,  in  welchem  Land,  so  kann  ich 
das  Land  deutlich  kennzeichnen,  indem  ich  verrate, 
daß  es  früher  einmal  so  und  so  viele  Seelen  gehabt  hat, 
jetzt  aber  nur  noch  aus  Regierung,  Armee,  Munitions- 
arbeitern und  Presse  besteht.  Das  ist,  denke  ich,  klar 
genug. 

Die  Presse  —  das  war  einmal  der  obligatorisch  ein- 
geführte heilige  Geist,  und  außerdem  der  Kitt, 
der  den  Zusammenhalt  der  übrigen  genannten  Be- 
standteile möglich  machte.  Die  Regierung  ließ 
es  sich,  man  muß  das  bei  aller  grundsätzlichen  Ab- 
neigung gegen  Regierungen  einräumen,  viel  Mühe 
kosten,  diesen  Kitt  in  immer  gleicher  Normalgüte 
und  klebriger  Zähigkeit  zu  liefern.  Von  dem  kriegs- 
mäßig erweiterten  Zentralpresseamt  in  der  Haupt- 
stadt rann  unablässig  der  schwärzliche  Stoff  über  das 
ganze  Land,  bis  ins  letzte  Dorf,  und  verstopfte  alle 
Poren  eigenwilligen  Widerstandes  und  selbständigen 
Trotzes.  Darum  war  auch  durch  allgemeines  Gesetz 


176 


der  Lesezwang  eingeführt;  wer  nicht  fließend  lesen 
konnte,  wurde  hart  bestraft.  Welch  Segen  strömte 
aber  auch  aus  solcher  Bildung!  Niemand  bedurfte 
mehr  der  Mühe,  zu  denken  oder  zu  fühlen.  Man  er- 
fuhr jederzeit  durch  die  Presse,  was  man  denken  oder 
zu  fühlen  vorgeben  müsse.  Was  litt  man  früher  unter 
der  menschlichen  Einrichtung,  die  man  Gedächtnis 
nennt!  Das  war  eine  ewige  Quälerei.  Man  erinnerte 
sich  nicht  nur  an  alte  böse  Erfahrungen,  sondern 
schlimmer  noch  an  frühere  Überzeugungen.  Immer 
hatte  man  das  schlechte  Gewissen,  ob  man  sich  nicht 
in  Widerspruch  mit  sich  selbst  setzte.  Jetzt  war  der 
Fluch  des  Gedächtnisses  gänzlich  von  der  Mensch- 
heit genommen.  Niemand  erinnerte  sich  mehr,  was 
er  gestern  gesagt,  versprochen,  gewollt  hatte.  Nur  die 
Zeugen  vor  Gericht  wußten,  unter  dem  befruchtenden 
Einfluß  des  Eides,  immer  noch  genau,  was  sie  vor 
10  Jahren  am  24.  Februar  6.20  Minuten  nachmittags 
vor  dem  Hause  Langestraße  132  bei  15%  Grad  Kälte 
beobachtet  hatten!  Sonst  erinnerte  sich  niemand  an 
nichts.  Das  war  der  Erfolg  der  Presse.  In  der  Zentrale 
wurden  nur  Leute  zugelassen,  denen  das  Gedächtnis 
auf  operativem  Wege  entfernt  worden  war.  Ihr  geisti- 
ger Einfluß  teilte  sich  dann  durch  alle  Vermittler  der 
Presse  den  Zeitungslesern  mit. 

Zugleich  war  mit  der  Überwindung  des  Gedächt- 
nisses auch  die  alte  lästige  Frage  der  sogenannten  Wahr- 
heit zu  aller  Befriedigung  aufs  glücklichste  gelöst. 
Was  jeweils  in  der  Presse  stand,  war  die  Wahrheit. 
Da  jede  Zeitung  unmittelbar  nach  Gebrauch  an  das 
Kriegspapieramt  zurückgeliefert  werden  mußte,  konnte 
man  auch  nicht  etwa  durch  müßiges  Aufbewahren 
und  Zurückblättern  den  Gedächtnisverlust  umgehen 
und  an  der  Wahrheit  von  heute  dadurch  irre  werden, 
daß  man  im  gestrigen  Blatt  eine  andere,  eine  entgegen- 
gesetzte Wahrheit  las. 

So  war  man,  obwohl  es  schlimme  Zeiten  waren,  im 


12   Eisner,  Gesammelte  Schriften.  I. 


177 


ganzen  Lande  einig  und  zufrieden.  Man  hatte  die 
gleichen  Gedanken,  Wünsche,  Arbeiten,  Gefühle  und 
Stimmungen.  Besonders  die  Stimmungen  waren 
prächtig  organisiert.  Die  Presse  verkündete:  Begeiste- 
rung —  man  war  begeistert.  Die  Presse  forderte :  Ent- 
rüstung —  man  war  entrüstet.  Die  Presse  mahnte 
zur  Geduld  —  man  war  geduldig.  Die  Presse  reizte 
zum  Sturm  auf  —  man  war  stürmisch.  Die  Presse  ver- 
langte, daß  man  irgend  etwas  restlos  sein  müsse  — 
man  war  restlos. 

In  jenem  Sommer  herrschte  eine  schreckliche 
Trockenheit.  Sie  wurde  durch  die  Presse  restlos  über- 
wunden. Das  kam  so  zustande:  Zuerst  marschierten 
sämtliche  Professoren  auf  und  berichteten  von  einer 
neuen  wissenschaftlichen  Entdeckung.  Es  sei  ein  Irr- 
tum gewesen,  lehrten  sie,  daß  die  Pflanzen  zu  ihrem 
Wachstum  Feuchtigkeit  bedürften.  Im  Gegenteil, 
das  viele  Wasser  hätte  die  Nährstoffe  nur  verdünnt 
und  zur  Fäulnis  empfänglich  gemacht.  Aber  die  Dürre 
—  die  lasse  eine  Ernte  reifen,  wie  sie  so  großartig  und 
bekömmlich  seit  Menschengedenken  nicht  erlebt  wor- 
den wäre.  Das  lasen  sie  alle  und  freuten  sich  über  die 
Fortschritte  des  menschlichen  Geistes. 

Als  dann  aber  kaum  noch  ein  lebender  Halm  auf 
den  Feldern  zu  sehen  war,  traten  die  Militärs  auf  und 
brachten  Trost :  In  vier  Wochen,  so  teilten  sie  auf  Grund 
ihrer  fachmännischen  geheimen  Einsichten  und  streng 
vertraulichen  Voraussichten  mit,  wird  es  regnen  und 
alles  wieder  gut  werden.  Jeden  Tag  wiederholten  sie: 
in  vier  Wochen.  Darüber  gingen  drei  Monate  hin. 
Aber  die  Leute  merkten  es  nicht.  Und  wenn  sie  am 
Morgen  aufstanden  und  das  Elend  der  lechzenden 
Saaten  ihnen  Furcht  einflößen  wollte,  dann  lasen  sie 
im  Blatt  die  autoritative  Ankündigung:  In  vier  Wochen 
regnet  es.  Die  paar  Wochen  konnte  man  ja  wohl  noch 
warten ! 

Schließlich  regnete  es  wirklich,  nämlich  gerade  als 
178 


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das  spärliche  Korn  geschnitten  war.  Und  nun  hörte 
es  nicht  auf.  Die  Frucht  begann  auf  den  Feldern  zu 
faulen.  Wiederum  kamen  die  Professoren  und  unter- 
wiesen das  Volk:  Wasser  sei  die  Hauptsache.  Der  alte 
gefährliche  Aberglaube,  daß  das  Getreide  trocknen 
müsse,  sei  längst  in  seinem  Unsinn  erkannt.  Das  Ge- 
treide müsse  und  solle  faulen,  das  sei  eine  Vorberei- 
tung und  Erleichterung  für  die  Verdauung  und  ent- 
laste den  früher  grausam  gequälten  Magen.  Wie  aber 
der  Regen  nicht  aufhören  wollte  und  das  Getreide 
schimmelte,  da  trat  der  Generalissimus  auf  den  Plan  und 
in  einer  Unterredung  mit  den  Berichterstattern  sämt- 
licher Blätter  forderte  er  das  Vertrauen  des  Volkes  zur 
höchsten  Leitung:  Er  werde  sorgen,  daß  in  acht  Tagen 
der  Regen  aufhören  werde,  dafür  verbürge  er  sich.  Es 
regnete  zwei  Monate  lang.  Weil  aber  jeden  Tag  der 
Generalissimus  seine  Prophezeiung:  In  acht  Tagen! 
wiederholte,  kam  man  auch  über  diese  Schwierigkeiten 
voller  Hoffnung  hinaus. 

In  ähnlicher  Weise  wurde  man  aller  Schwierigkeiten 
Herr.  Als  es  im  kalten  Winter  keine  Kohlen  gab, 
feierte  man  den  Nutzen  des  Frierens,  das  die  Fäulnis- 
keime  im  menschlichen  Körper  abtöte  und  so  das 
Leben  verlängere.  Als  Milchmangel  eintrat,  bewies 
man,  daß  Milch  gesundheitsschädlich  sei.  Wenn  trotz- 
dem die  kleinen  Kinder  massenhaft  starben,  so  lag 
das  eben  daran,  daß  sie  noch  nicht  lesen  konnten, 
folglich  nicht  wußten,  daß  Milch  ungesund  und  Milch- 
mangel gesund  sei  .  .  . 

Ich  habe  vergessen  mitzuteilen,  daß  es  eine  höchst 
Uberale  und  aufgeklärte  Regierung  war,  die  auf  diese 
sinnreiche  Weise  die  Menschen  erzog.  Selbstver- 
ständlich konnte  nur  eine  liberale  und  aufgeklärte 
Regierung  dermaßen  mit  rein  geistiger  Beeinflus- 
sung arbeiten.  Aber  (ich  darf  es  nicht  verschwei- 
gen) sie  erlitt  Schiffbruch  mit  dieser  humanen  Me- 
thode. Das  Unheil  kam  von  der  Milch.  Man  hatte  zu 


179 


lange  wiederholt,  daß  die  Milch  gesundheitsschädlich 
sei.  Als  die  Kühe  wieder  genügend  Milch  hatten, 
kaufte  sie  niemand.  Die  Milchbauern  wurden  wild 
und  stürzten  die  Regierung.  Und  die  andern,  die  jetzt 
gezwungen  werden  sollten,  nichts  als  Milch  zu  trinken, 
drohten  mit  Streik  und  Aufruhr. 

Nun  kam  die  Reaktion  ans  Ruder.  Die  erkannte, 
daß  alles  Unheil  von  der  Presse  gekommen  sei.  Die 
Überfütterung  des  sogenannten  Geistes  führe  nur  zu 
Unzufriedenheit,  Nörgelei,  Opposition,  Revolution. 
Da  außerdem  die  Männer  der  neuen  Regierung  unter 
dem  vorigen  Regime  des  Gedächtnis  so  sehr  eingebüßt 
hatten,  daß  sie  auch  die  Buchstaben  vergessen  und  nicht 
mehr  lesen  konnten,  unterdrückten  sie  mit  einem 
Sclüage  die  ganze  Presse.  Nun  würde  man  in  alle 
Ewigkeit  Ruhe  haben  und  über  ein  stilles,  bescheidenes, 
arbeitswilliges  und  jedem  Befehl  untertäniges  Volk 
regieren  können. 

Die  Welt  war  über  Nacht  —  restlos!  —  gewandelt. 
Es  gab  keine  Zeitungen  mehr.  Man  erfuhr  nichts 
mehr,  außer  die  regierenden  Befehle,  die  nach  alter 
Weise  vom  Boten  ausgeklingelt  wurden.  Man  wußte 
nicht  mehr,  was  man  denken,  glauben,  empfinden 
solle.  Der  Geist  war  ausgerottet.  Es  war  eine  Lust 
zu  regieren.  Die  Austrocknung  des  heiligen  Geistes, 
nannte  den  Zustand  der  Kriegsminister,  ein  witziger 
und  energischer  Mann. 

Ja  —  niemand  war  sich  bewußt,  wie  es  kam  —  all- 
mählich ging  eine  Änderung  in  den  Seelen  vor  sich. 
Es  regte  sich  etwas  Neues,  rührte  sich,  wuchs,  quoll. 
Und  auf  einmal  war  es  da  —  neu,  stark,  gewaltig:  Das 
Gedächtnis,  das  längst  verlorene  Gedächtnis.  Und 
anderes  blühte  auf:  Die  Menschen  fingen  plötzlich 
an  zu  denken,  ganz  gerade  und  einfach  zu  denken, 
vernünftig  zu  denken.  Aus  dem  Innern  rauschte 
etwas  Unbekanntes,  Herrliches  empor:  ein  tiefes, 
glühendes,  menschliches  Fühlen.  Es  war  als  ob  man 

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sich  selber  wiedergefunden  hätte,  seitdem  man  nicht 
von  außen  mehr  —  durch  den  Preßgeist  —  dressiert 
worden  war.  Man  war  nicht  mehr  so  einig  unter- 
einander, aber  wundersam  einig  mit  sich  selbst.  Aus 
dieser  jungen  Klarheit  und  Kraft  wuchs  dann  eine 
andere  große  Einheit  hervor,  die  Einheit  der  Erkennt- 
nis, wie  jämmerlich  sie  um  ihr  Leben  betrogen  waren 
—  durch  den  geschändeten  Geist. 

Als  die  reaktionäre  Regierung  sah,  was  sie  angerichtet, 
setzte  sie  hastig  den  alten  Preßapparat  der  liberalen 
und  aufgeklärten  Regierung  in  Bewegung.  Aber  es 
war  zu  spät  —  das  Leben  ließ  sich  nicht  mehr  in  Papier 
begraben  .  .  . 

Pfingsten  191 7. 


181 


Aus  Tagheften. 
1914 — 1918. 

Humor  und  Idylle.  Die  rüden  Ulkkarten,  mit 
denen  man  die  Feinde  als  jämmerliche  Feiglinge  ver- 
höhnte, sind  endlich,  viel  zu  spät,  durch  behördliche 
Eingriffe  beseitigt,  nachdem  man  allmählich,  im  Wan- 
del des  Kriegsglücks,  erkannt  hatte,  daß  sie  in  Wahr- 
heit unsere  eigenen  Truppen  beleidigten,  die  nicht 
einmal  mit  Feiglingen  sofort  fertig  werden  könnten. 
Diese  Bilder  des  „neuen  Geistes"  merkantiler  Kultur 
und  zivilen  Käufergeschmacks  sind  so  ziemlich  ver- 
schwunden. Nur  die  Lyriker  und  die  Professoren  sind 
noch  nicht  zum  Schweigen  gebracht;  sie  kompromit- 
tieren sich  schließlich  nur  selbst,  nicht  die,  welche 
mit  ihrem  Leben  zahlen.  Der  schlimmste  Unfug 
aber,  schlimmer  als  Ulkkarten,  Nervenchoklyrik  und 
professorale  Umgelerntheiten  zusammengenommen, 
wuchert  scheußlich  weiter:  Die  gemütvollen  Humore 
und  Idyllen,  die  den  grauenhaftesten  aller  Kriege  zu 
niedlicher  Gartenlaubenpoesie  fälschen.  Es  scheint 
leider  eine  Spezialität  deutscher  Bilderblätter  zu  sein, 
auf  diese  Weise  den  Krieg  zu  sehen,  die  viel  widerwär- 
tiger ist  als  selbst  die  haßwilden  und  hetzerischen  Il- 
lustrationen gewisser  ausländischer  Veröffentlichungen. 

Wenn  die  Soldaten  draußen  sich  die  Not  ihres  Da- 
seins humoristisch  aufhellen,  so  hat  hier  der  Humor 
jene  Kraft  der  Selbsterhaltung,  wie  er  auch  in  den 
Gefängnissen  blüht,  ja  unter  dem  Galgen  selbst.  Wer 
den  Tod  vor  Augen  hat,  für  den  ist  der  Humor  Tröster, 
Ernährer  und  Erbarmer.  Und  wer  in  der  ewigen  Bran- 
dung chemischer  Explosionen  zu  leben  verurteilt  ist, 

182 


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der  bringt  gern  in  sein  rauhes  Dasein  Idyllen  der  Stille 
und  des  Behagens.  Aber  das  ist  nicht  der  Krieg,  über 
den  die  Weltgeschichte  vielleicht  einmal  als  Motto 
die  Feststellung  setzen  wird,  die  sich  in  dem  deutschen 
amtlichen  Bericht  vom  12.  September  findet:  „Noch 
nie  in  den  gesamten  Kämpfen  des  Ostheeres  .  .  .  sind 
unsere  Truppen  über  so  viele  russische  Leichen  hinweg- 
geschritten." 

Wer  aber  unsere  illustrierten  Blätter  sieht,  der  muß 
zu  dem  Glauben  gelangen,  daß  es  da  draußen  gar 
lustig  und  gemütlich  hergehe,  ein  wenig  abenteuer- 
lich und  absonderlich  zwar,  aber  das  erhöhe  nur 
die  Vergnüglichkeit.  Nur  ganz  selten  werden  einige 
Spuren  der  Zerstörung  abgebildet ;  um  den  Triumph 
der  großen  Brummer  herzhaft  zu  feiern.  Wo  ein 
Leichtverwundeter  gezeigt  wird,  so  offenbar  nur  zu 
dem  Zwecke,  um  zu  veranschaulichen,  wie  menschlich 
man  sich  um  ihn  bemühe.  Bisweilen  wird  ein  Soldaten  - 
grab  gewagt,  bloß  zu  dem  Zweck,  den  sentimentalen 
Philister  zu  beruhigen,  daß  die  Pietät  selbst  dieses 
Sterben  in  Einsamkeit  schmücke.  Aber  sonst  ist  der 
Krieg  ganz  anders.  Der  auf  den  Kriegsschauplatz 
entsandte  Spezialzeichner  malt  sich  selbst,  wie  er 
lachend  im  Schützengraben  bei  vollen  Gläsern  mit 
nicht  minder  lachlustigen  Offizieren  kneipt.  Wir 
schauen,  wie  die  Soldaten  Weiber  und  Kinder  der 
Feinde  gütig  mit  Nahrung  versehen,  wie  sie  sich  im 
Schützengraben  rasieren  lassen  und  während  der  „Ge- 
fechtspause" —  Leutnants  und  Mannschaften  ge- 
meinsam! —  zum  Klange  einer  Ziehharmonika  mords- 
fidel gröhlen.  Diese  Glücklichen  kommen  entweder 
von  der  Entenjagd,  suchen  —  harmlos  wie  die  Kinder  — 
am  Meere  Muscheln  oder  pflanzen  sich  bequem  als 
verspätete  Strandgäste  auf  einer  Bank  an  der  Prome- 
nade eines  großen  Seebades.  An  der  Türe  einer  bel- 
gischen Schenke  sehen  wir  gar,  als  ob  in  Belgien  sich 
nichts  anderes  ereignet  hätte  als  ein  bißchen  will- 


183 


kommene  Einquartierung,  einen  deutschen  Soldaten 
herzhaft  mit  der  lustigen  feindlichen  Kellnerin  schä- 
kern, oder  ein  Trupp  Marinesoldaten  holt  feierlich  den 
Sonntagsbraten  ein  —  eine  lebendige  Sau,  das  einzige 
Wesen  auf  allen  diesen  Bildern,  das  Angst  hat  und  zeigt. 

So  ist  der  Krieg!  Und  es  hat  anscheinend  niemand 
eine  Empfindung  dafür,  daß  dieser  freche  Kriegs- 
kitsch wieder  nur  eine  Verhöhnung  der  Opfer  ist, 
derer,  die  sich  selbst  darbringen. 

Internationales  Gespräch.  A.  Ich  wünsche 
mit  der  ganzen  Inbrunst  meines  Herzens  dem  eine 
Niederlage,  der  diesen  Krieg  herbeigeführt  hat. 

B.  Schurke! 

A.  Wünschen  Sie  denn  unseren  —  Feinden  den 
Sieg? 

B.  

Diplomatische  Abhärtung.  Der  Weltkrieg  hat 
eine  sehr  auffällige  Abstumpfung  der  Feinfühligkeit 
der  Diplomatie  bewirkt. 

Vor  zehn  Monaten  erklärte  Deutschland  an  Ruß- 
land den  Krieg,  weil  es  soeben  von  seiner  Mobilisie- 
rung erfahren  hatte. 

Inzwischen  hat  Deutschland  zehn  Monate  lang  ge- 
duldig zugesehen,  wie  Italien,  offen  vor  aller  Welt, 
gegen  Deutschland  und  Österreich  mobilisierte,  und 
hat  seinerseits  doch  nicht  den  Krieg  erklärt,  nicht  ein- 
mal ein  Ultimatum  gestellt. 

Im  Sommer  19 14  hat  es  die  deutsche  Diplomatie 
abgelehnt,  Österreich  die  Demütigung  zuzumuten, 
über  die  unterwürfig  nachgiebige  Antwort  Serbiens 
auf  das  Ultimatum  Österreichs  auch  nur  einen  Tag 
lang  zu  unterhandeln.  Ein  halbes  Jahr  später  hat 
Deutschland  Österreich  in  monatelang  währenden 
Verhandlungen  unbedenklich  nahegelegt,  österreichi- 
sches Gebiet  freiwillig  an  einen  feindselig  trotzenden 
Bundesgenossen  abzutreten. 

184 


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Am  23.  Juli  1914  hat  Österreich  von  Serbien  ver- 
langt, „daß  in  Serbien  Organe  der  K.  und  K.  Regie- 
rung bei  der  Unterdrückung  der  gegen  die  territoriale 
Integrität  der  Monarchie  gerichteten  subversiven  Be- 
wegung mitwirken." 

Von  Italien  hat  Österreich  niemals  gefordert,  daß 
die  italienische  Regierung  die  gegen  die  Integrität 
der  Monarchie  unverhüllt  gerichtete  Bewegung  unter- 
drücke, geschweige,  daß  es  für  sich  beansprucht  hätte, 
mit  österreichischen  Organen  im  fremden  Lande 
Maßnahmen  der  Polizei  und  Justiz  durchführen  zu 
dürfen.  Im  Gegenteil:  Österreich  hat  die  Berechtigung 
der  gegen  die  territoriale  Integrität  der  Monarchie  ge- 
richtete Bewegung  anerkannt;  indem  es  sich  bereit 
erklärte,  auf  seine  territoriale  Integrität  zu  verzichten. 

In  zehn  Monaten  sind  also  die  diplomatischen  Be- 
griffe von  nationaler  Reizbarkeit  und  nationalem  Ehr- 
gefühl von  Grund  aus  gewandelt.  Sollte  diese  Ab- 
härtung nicht  für  die  Herbeiführung  des  Friedens  nutz- 
bar gemacht  werden  können? 

Zuchthaus  für  Stimmungsbilder.  Englands 
Weltherrschaft  kracht  in  allen  Fugen.  Der  heilige 
Krieg  erfaßt  die  Gemüter  der  Indier  . .  Schon  brechen 
die  Eingeborenen  Ägyptens  los,  um  die  englische 
Tyrannei  abzuschütteln  . .  Am  Suez  haben  die  Eng- 
länder eine  vernichtende  Niederlage  erlitten  .  .  In 
Rußland  steht  die  Revolution  vor  der  Türe  .  .  Die 
Stimmung  in  Bulgarien  wird  täglich  ententefeind- 
licher .  .  In  Bukarest  plant  man  Anschluß  an  den 
Zweibund  .  .  Eine  hervorragende  neutrale  Persönlich- 
lichkeit,  die  eben  aus  Italien  kommt  entwirft  ein  trost- 
loses Bild  von  der  verzweifelten  Stimmung  .  . 

Nichts  anderes  lesen  wir  seit  einem  Jahr  in  den  Blät- 
tern. Immer  werden  wir  in  diese  intimsten  Geheim- 
nisse des  Auslandes  eingeweiht,  bis  zu  den  leisesten 
nervösen  Zuckungen  der  Volksseele  und  der  genauen 


185 


Summe,  die  leitende  Staatsmänner  -als  Bestechungs- 
gelder empfangen.  Und  wie  bei  uns  geht  es  in  andern 
Ländern,  nur  daß  man  dort  das  gleiche  über  Deutsch- 
land, Österreich,  die  Türkei  berichtet  —  immer  in 
Stimmungen  schwelgend,  immer  genau  informiert, 
und  immer  nur  Dinge  berichtend,  die  im  eigenen 
Lande  angenehm  wirken.  Das  ist  die  edle  Kochkunst 
der  Stimmungsbrühe.  Man  würgt  das  Zeug  gewohn- 
heitsmäßig in  ungeheuren  Mengen  herunter,  wundert 
sich,  wie  schnell  die  Zeitungen  alles  erfahren  und  was 
sie  alles  wissen,  glaubt  kein  Wort  von  alledem  und 
allmählich  ist  doch  das  ganze  Bewußtsein  von  dem  Un- 
sinn angefüllt  und  beherrscht.  Und  sämtliche  Fabri- 
kanten der  öffentlichen  Meinung  auf  der  ganzen  Erde 
versichern,  daß  es  gar  nicht  anders  ginge,  man  müsse  im 
nationalen  Interesse  auf  derlei  Weise  die  gute  Stim- 
mung erhalten. 

Und  auf  einmal  soll  das  löbliche  Tun  ein  Ende 
haben  ?  Was  eben  noch  als  patriotisches  Werk  galt, 
soll  von  nun  an  als  Verbrechen  des  schweren  Betrugs 
ausgerottet  werden.  Das  erste  Opfer  der  Wandlung 
ist  der  arme  Franz  Enkc  geworden.  Er  kam  als  Flücht- 
ling aus  dem  ägyptischen  Sudan  und  brachte  die  er- 
freuliche Nachricht  mit,  daß  wegen  einer  vernichten- 
den Niederlage  durch  die  aufständischen  Eingebore- 
nen die  englische  Weltherrschaft  zu  wanken  beginne. 
Die  Vossische  Zeitung  bezahlte  die  angenehme  Mit- 
teilung, die  zudem  so  flott  geschrieben  war,  wie  es 
eben  nur  die  eigene  Anschauung  und  die  nationale 
Begeisterung  ermöglicht,  gewiß  nicht  zu  teuer  mit 
300  Mark.  Andere  bedeutende  Organe  ließen  sich 
auch  nicht  lumpen.  Das  Wolffsche  Telegraphen- 
bureau verbreitete  das  schöne  Stimmungsbild  in  alle 
Welt.  Der  verdienstvolle  Urheber  aber  erhielt  wegen 
dieser  förderlichen  Leistung  vom  Dresdner  Land- 
gericht zwei  Jahre  Zuchthaus,  300  Mark  Geldstrafe, 
5  Jahre  Ehrverlust.   Warum  ?   Nur  wegen  des  ganz 

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unerheblichen  Umstandes,  daß  er  nachweislich  nie 
in  Ägypten  gewesen,  auch  kein  tropischer  Pflanzer  und 
Züchter  war,  sondern  ein  deutscher  Hausknecht  oder 
etwas  ähnliches.  Auch  war  er  wegen  Betruges  bereits 
vorbestraft. 

Wenn  der  so  prächtig  dem  gegenwärtigen  Zustande 
der  Presse  angepaßte  Mann  zufällig  einen  Tag  lang 
in  Ägypten  gewesen  wäre  und  hätte  genau  dieselben 
Geschichten  sich  aus  den  Fingern  gesogen,  er  wäre  der 
klassische  Gewährsmann  höchster  Wahrheit  geblieben. 
Wie  aber  —  auch  unsere  andern  Journalisten  sind  nicht 
täglich  allgegenwärtig  in  Rom,  Paris,  London,  Peters- 
burg, Sophia,  Washington  und  wissen  doch  alles  haar- 
klein zu  berichten!  Soll  das  nun  künftig  auch  Betrug 
sein?  Oder  ist  es  nur  ein  Verbrechen,  wenn  man  Re- 
daktionen anschmiert,  dagegen  ein  wohlgefälliges 
Werk,  wenn  das  Publikum  daran  glauben  muß? 
Sollen  die  tropischen  Entenzüchter  nun  alle  Zwangs- 
arbeit leisten  und  führt  der  Weg  von  der  Stimmungs- 
zuchtanstalt der  Redaktionen  direkt  ins  gänzlich 
stimmungslose  Zuchthaus  ?  Und  werden  wir  niemals 
wieder  lesen:  Aus  politischen  Kreisen  Stockholms  er- 
fährt man  durch  ein  Budapester  Telegramm  über  die 
Stimmung  in  Cetinje  .  .  ? 

Die  Kriegssprache.  Die  Blutlyriker  umhüllen 
noch  immer  den  Krieg  mit  mystischem  Glanz;  sie 
schwelgen  in  ungeheuren  Empfindungen  und  ersinnen 
große  und  rauschende  Worte.  Dagegen  ist  die  tech- 
nische Kriegssprache  von  einer  harten  Sachlichkeit,  in 
der  das  wirkliche  Wesen  des  Kriegs  um  so  wahrhaftiger 
zum  Ausdruck  kommt,  als  dieser  Stil  ganz  absichts- 
los entstanden  ist,  ohne  das  man  sich  seines  grauen- 
haften fletschenden  Hohns  auch  nur  bewußt  wird. 

Wir  hören,  daß  die  Stadt  X  „ausgiebig  mit  Bomben 
belegt"  sei.  Jedes  Wort  ist  hier  wie  vom  Genius  der 
Unmenschlichkeit  selbst  geformt.  Ausgiebig  .  .  belegt! 


187 


Man  könnte  gar  keine  anderen  Wendungen  finden,  die 
so  diesen  entsetzlichen  grinsenden  Humor  befriedigter 
Zerstörung  bezeichnen. 

Oder  die  Versenkung  etlicher  Schiffe  wird  durch  den 
Satz  mitgeteilt,  daß  die  Unterseeboote  „saubere  Ar- 
beit verrichtet  hätten".  Die  ganze  Welt  schaffender 
Arbeit  versinkt  in  dieser  parodistischen  Anwendung 
des  Begriffs  Arbeit  zur  Kennzeichnung  des  Gegen- 
teils aller  menschlichen  Arbeit. 

„Franzosennester  wurden  vom  Feinde  gesäubert." 
Welche  versteinernde  Wahrhaftigkeit!  Für  den  Krieg 
sind  in  der  Tat  Menschen  nur  eingenistetes  Ungeziefer, 
von  denen  man  die  Erde  säubert.  Die  höchste  Steige- 
rung der  Kriegssprache  aber  konnte  man  neulich  in 
der  triumphierenden  Feststellung  erleben:  daß  Ser- 
bien vom  Feind  gesäubert  sei.  Wer  ist  der  Feind,  von 
dem  Serbien  gesäubert  worden?  Die  eigenen  Be- 
wohner, die  eigenen  Soldaten  des  Landes!  Die  Men- 
schen werden  in  dem  Augenblick,  wo  sie  ihr  Vater- 
land verteidigen,  zum  Feinde  ihrer  eigenen  Erde.  Und 
das  ist  die  rechte  Sprache  des  Krieges,  der  in  der  Tat 
nichts  kennt,  wie  Gewalt,  Haß,  Vernichtung;  und  für 
den  auch  der  Patriot  vor  der  überlegenen  Macht  zum 
Ungeziefer  des  eigenen  Grund  und  Bodens  wird,  den 
man  säubert  von  den  Menschen,  die  gestern  noch 
auf  ihm  ackerten,  ernteten  und  sich  freuten  .  .  . 

Laute  Gedanken.  Man  hat  in  diesem  Kriege 
alle  Waffen  angewendet,  die  der  Dämon  der  Zer- 
störung ersinnen  kann.  Man  hat  jede  völkerrechtliche 
Vereinbarung,  jeden  Vertrag,  der  die  Kriegsführung 
irgendwie  hinderte,  verletzt.  Nur  eine  Waffe  hat 
bisher  niemand  anzuwenden  gewagt:  die  Wahrheit. 
Vielleicht  ist  das  gerade  die  einzige  Waffe,  die  den 
Frieden  erkämpft. 

*  * 

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In  einer  zukünftigen  Menschheit  wird  man  es  nicht 
mehr  verstehen,  daß  Millionen  Menschen  sich  gegen- 
seitig morden,  weil  entschieden  werden  soll,  wie  die 
staatlichen  Grenzen  über  die  Erde  laufen.  Dann  wird 
es  für  ebenso  gleichgültig  gehalten  werden,  zu  welchem 
staatlichen  Verband  dies  oder  jenes  Volk  gehöre,  um 
so  wichtiger  aber  wird  es  sein,  daß  das  Volk  sich  inner- 
halb seiner  Grenzen   eine   wahre   Heimat  schaffe. 

*  * 
* 

Nachdem  man  in  den  Krieg  geraten,  sucht  man  be- 
gierig eine  Ideologie  des  Kriegs,  die  das  Furchtbare 
erträglich  machen  soll.  Also  fordert  man  Sicherung 
gegen  zukünftige  Kriege  und  die  Freiheit  der  Meere. 
Sollte  man  nicht  zuvor  erst  Sicherung  gegen  den  gegen- 
wärtigen Krieg  und  die  Freiheit  der  Länder  ver- 
langen ? 

Von  einem  Parteigenossen  las  ich  jüngst  einen  Ar- 
tikel, in  dem  nicht  ohne  Selbstbewußtsein  festgestellt 
wurde,  daß  „wir  Sozialisten"  gelernt  haben,  nicht 
politischen  Spekulationen,  Betrachtungen  und  Wün- 
schen zu  vertrauen,  sondern  der  Macht  der  wirtschaft- 
lichen Tatsachen  und  Entwicklungen.  Danach  schei- 
nen „wir  Sozialisten'*  uns  von  den  Kapitalisten  zur 
Zeit  nur  noch  dadurch  zu  unterscheiden,  daß  wir 
materialistischen  Sozialisten  die  Macht  der  wirtschaft- 
lichen Tatsachen  erkennen,  während  die  ideolo- 
gischen Kapitalisten  es  vorziehen,  die  Macht  der  wirt- 
schaftlichen Tatsachen  nicht  zu  erkennen,  aber  sie  an- 
zuwenden, auszuüben,  auszubeuten! 

*  * 

Jedesmal,  wenn  die  Gefahr  bestand,  daß  ein  weiterer 
Staat  sich  dem  Krieg  gegen  Deutschland  anschließen 
würde,   las   ich  in  deutschen  sozialdemokratischen 

189 


Blättern  stürmische,  fast  revolutionäre  Betrachtun- 
gen, in  denen  das  italienische,  rumänische,  griechische 
Volk  belehrt  wurde,  welches  Verbrechen,  welchen 
Selbstmord  sie  begehen  würden,  wenn  sie  sich  in  den 
Krieg  hetzen  würden.  Es  fiel  mir  auf,  daß  diese  Frie- 
dens-Beschwörungen im  Falle  der  Türkei  und  Bulga- 
rien unterblieben! 

* 

Wir  hören  heute  oft,  daß  die  Sonderlinge,  die  dem 
Kriegswahn  trotzen,  verrückt  seien.  Abgesehen  davon, 
daß  es  mir  recht  barbarisch  erscheint,  Menschen,  die 
geisteskrank  sind,  ihr  Leiden  ins  Gesicht  zu  schreien 
und  sie  obendrein  noch  wegen  ihrer  Erkrankung  zu 
beschimpfen,  in  welchem  fürchterlichen  Wahnsinn  ist 
zu  dieser  Zeit  die  gesunde  Menschheit  befangen,  daß 
man  toll  sein  muß,  um  zu  wagen,  auszusprechen,  was 
man  denkt;  daß  nur  der  sich  einbildet,  durch  die  Macht 
der  Vernunft  wirken  zu  können,  der  unheilbar  ver- 
rückt ist. 

*  .  * 

Die  Schwierigkeiten  des  Komparativs.  Der 
Zeitungsleser  will  täglich  eine  Entwicklung,  eine 
Steigerung  der  Ereignisse,  im  günstigen  oder  un- 
günstigen Sinne.  Die  Erfüllung  dieses  Verlangens  ist 
schon  deshalb  schwierig,  wenn  nicht  unmöglich,  weil 
die  Zeitungsleser  aller  am  Kriege  beteiligten  Völker 
die  gleiche  Steigerung  ersehnen,  zugunsten  der 
eignen,  zuungunsten  der  feindlichen  Macht.  Zudem 
ist  es  die  Art  des  modernen  Krieges,  daß  er  nicht  die 
dramatisch  raschen  Steigerungen  kennt,  die  von  der 
ungeduldigen  Phantasie  begehrt  werden.  Da  die  Ereig- 
nisse selbst  solcher  Neigung  sich  sträuben,  begibt 
sich  die  Presse  in  die  üppig  fruchtbaren  Gelände  der 
—  „Stimmungen",  auf  denen  man  täglich  aufs  neue 
mähen  und  säen  kann.  Aber  auch  die  Steigerung  der 

190 


■ 


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Stimmungen  erweist  sich  als  äußerst  heikel,  und  nur 
durchführbar,  wenn  man  voraussetzt,  daß  das  Gedächt- 
nis des  Zeitungslesers  keinesfalls  die  Grenze  von  sechs 
Stunden  überschreitet,  daß  man  bei  der  Lektüre  des 
Abendblatts  bereits  alles  vergessen  hat,  was  man  im 
Morgenblatt  gelesen. 

Der  Anfang  nämlich  ist  allemal  der  dröhnende 
Superlativ,  das  Höchstmaß  erreichbarer  Kraftent- 
faltung. Will  man  da  auf  den  im  ersten  Sturm  ge- 
nommenen Gipfel  immer  neue  Erhöhungen  türmen, 
den  Superlativ  des  Anfangs  durch  nachfolgende  Kom- 
parative steigern? 

Als  der  Krieg  ausbrach,  konnte  man  in  Petersburg, 
Berlin,  London  und  Paris  gleichermaßen  lesen,  das  — 
feindliche  —  Volk  zöge  so  widerwillig  und  verzweifelt 
in  den  Krieg,  daß  es  gegen  die  Regierung  revolutio- 
niere. Vierzehn  Tage  später  erfuhr  man,  wiederum 
gleichermaßen  in  Petersburg,  Berlin,  London  und 
Paris,  daß  die  anfänglich  so  begeisterte  Stimmung 
(beim  Feinde!)  nachzulassen  beginne;  um  nach  ferne- 
ren zwei  Wochen  abermals  zu  erfahren,  daß  die  noch 
vor  vierzehn  Tagen  überschwengliche  Jubelstimmung 
Anzeichen  des  Niedergangs  verrate.  Seitdem  läßt 
nun  in  demselben  Grade  die  Stimmung  immer  mehr 
oder  auch  immer  weniger  nach.  Um  dieser  fortgesetzten 
Minderung  der  Begeisterung  fähig  zu  sein,  muß  also 
die  Stimmung  zu  Beginn  nicht  hoffnungslos  ver- 
zweifelt gewesen  sein,  sondern  über  alle  Maßen  be- 
rauscht. 

Ähnlich  wird  die  Stimmung  im  Verlaufe  einer  der 
mehrwöchigen  Riesenschlachten  positiv  oder  negativ 
gesteigert.  Beim  Beginn  der  Schlacht  wird  die  Stim- 
mung des  Gegners  dahin  gekennzeichnet,  daß  er  ohne 
jede  Erwartung,  wie  ein  im  voraus  zum  Tode  Verur- 
teilter, müde  und  widerwillig  hineingetrieben  werde. 
Acht  Tage  später  hören  wir  von  einem  Nachlassen 
der  anfänglichen  Siegeszuversicht,  und  nach  vierzehn 


191 


wird  gemeldet,  daß  man  nach  dem  prahlerischen 
Siegesgeschrei  anfange,  etwas  kleinlaut  zu  werden. 

Diesen  Komparativen,  die  nicht  mehr  wissen,  was 
ihr  Positiv  ist  und  dem  vergessenen  Superlativ  folgen, 
verdanken  gewisse  kleinere  Völker  den  Vorteil,  daß 
sie  immer  wieder  geschlagen  werden  können,  obwohl 
sie  längst  durch  Feind,  Seuche  und  Demoralisation 
bis  auf  den  letzten  Mann  ausgerottet  sind.  Wir  lassen 
etwa  folgende  Entwicklungsreihe  auf  uns  wirken : 
Erstens:  Die  feindliche  Armee  ist  mit  Hinterlassung 
von  vielen  Tausenden  von  Toten,  Verwundeten  und 
Gefangenen  in  wilder  Flucht  aufgelöst;  sie  ist  nicht 
mehr  kampffähig;  sie  hat  drei  Viertel  ihres  Bestandes 
verloren,  der  Rest  hat  die  Waffen  weggeworfen. 
Zweitens  (drei  Wochen  später):  Die  feindliche 
Armee  rückte  mit  starken  Kräften  vor;  sie  wurde  mit 
schweren  Verlusten  —  die  fast  die  Hälfte  der  ursprüng- 
lichen Armee  ausmachen  —  zurückgeworfen.  Drittens 
(zwei  Monate  später) :  Die  feindliche  Armee  ist  über  die 
Grenze  vorgedrungen,  wir  gingen,  um  eine  günstigere 
Stellung  zu  gewinnen,  unbemerkt  und  ungestört  vom 
Feinde  langsam  und  in  voller  Ordnung  zurück;  im 
feindlichen  Heere  wütet  die  Cholera.  —  So  wird  im 
Laufe  des  Krieges  solch  ein  merkwürdig  zähes  Volk 
allmählich  zu  gut  fünfzehn  oder  zwanzig  Vierteln 
ausgetilgt  und  —  marschiert  trotzdem  immer  noch 
vorwärts  .  .  . 

Sollte  der  Zeitungsleser  nicht  schließlich  doch  an- 
fangen, weniger  Stimmungen  und  mehr  Tatsachen, 
weniger  Superlative  und  Komparative  und  dafür  lieber 
ganz  bescheidene  schlichte  Positivformen  des  Geschehens 
zu  verlangen  ?  (Antwort  191 8  auf  die  Frage  von  191 5 : 
Der  Komparativ  wütet  unermüdlich!) 

Die  neue  Erfindung.  Vier  Herren  sitzen  beim 
Mittagessen  im  Speisesaal  des  vornehmen  Hotels.  Sie 
sind  ältlich,  glatzköpfig,  die  Backen  und  Stirnen  ge- 

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rötet  vom  angestrengten  Essen  und  Trinken.  Sie 
reden  —  ein  wenig  fiebrig  —  aufeinander  ein  und  be- 
stärken sich  in  ihren  Meinungen,  indem  sie  sich,  sie 
einander  immer  wiederholend,  mitteilen. 

Der  eine,  der  mit  der  verfettetsten  Herrschermiene, 
führt  das  Wort.  Er  ist  offenbar  der  Erfolgreichste  der 
Tafelrunde  von  Kriegslieferanten,  als  die  ihre  Ge- 
spräche sie  sofort  kennzeichnen. 

„England,  hm  England  — die  Sache  ist  die,  daß  ein 
englischer  Kaufmann  oder  Fabrikant  nur  4 — 5  Stunden 
täglich  arbeitet.  Daher  unsere  Überlegenheit  und  ihr 
Neid.  Sie  wollen  selbst  nicht  schuften  und  gönnen 
uns  unseren  Fleiß  nicht.  Wissen  Sie,  was  ich  täglich 
arbeite  ?  .  .  .*' 

Die  andern  wußten  es  zwar,  aber  sie  bezeugten  doch 
ihren  lebhaften  Drang,  es  noch  einmal  zu  erfahren. 

Der  Gebietende  fuhr  eifrig  fort:  „Um  8  Uhr  bin 
ich  in  der  Fabrik,  und  um  6  Uhr  bin  ich  es  noch.  Ein 
Hundeleben!  Ich  weiß  oft  nicht,  wo  mir  der  Kopf 
steht.  Und  dann  das  ewige  Reisen.  Vor  drei  Wochen 
in  Königsberg,  vorige  Woche  in  Köln  und  in  (er  zwin- 
kert bedeutsam  geheimnisvoll)  Brüssel.  Jetzt  in  Mün- 
chen. Wissen  Sie,  und  immer  Ärger.  Ich  brauche  für 
einen  meiner  Artikel  eine  Werkzeugmaschine.  Ich 
fahre  nach  Leipzig,  um  sie  zu  kaufen.  Früher  hat  das 
Ding  1800  M.  gekostet.  Raten  Sie,  was  die  Kerle  jetzt 
von  mir  verlangt  haben!  Sie  raten  es  doch  nicht: 
6400  M. !  Sage  und  schreibe.  Keinen  Pfennig  weniger. 
Ich  sage  zu  dem  Direktor:  Das  ist  aber  teuer!  Was 
antwortet  er:  Wenn  Sie  kein  Geld  haben,  brauchen 
Sie  ja  nicht  zu  kaufen  .  . .  Was  sollte  ich  machen. 
Ich  blechte  .  .  ." 

Die  andern  waren  einig  in  der  Entrüstung  über 
solche  Übervorteilung.  „Man  könnte  sonst  jetzt  noch 
viel  mehr  verdienen,"  klagte  einer.  Der  bescheidenste 
aber  der  Vier,  der  fast  ein  wenig  kümmerlich  aussah, 
meinte  seufzend,  es  wäre  gleichwohl  am  besten,  wenn 


13    Eisoer,  Gesammelt«  Schriften.  I. 


193 


der  Krieg  bald  aufhöre.  Sein  Bedarf  am  Krieg  wäre 
gedeckt:  „Wann  glauben  Sie,  fällt  die  Entscheidung?" 

Der  Gebietende  zwinkerte,  dämpfte  seine  Stimme 
zu  einem  rauhen  Flüstern  und  lockte  damit  die  andern 
drei  Köpfe,  sich  zu  seinem  Munde  vorzubeugen. 
Dann  sagte  er: 

„Wir  haben  eine  neue  Erfindung!  Aber  natür- 
lich ganz  im  Vertrauen,  meine  Herren.  Es  wäre  mir  sehr 
peinlich,  wenn  etwas  weitergesagt  würde.  Also  diese 
Erfindung  —  die  andern  haben  keine  Ahnung  davon  — 
ist  eine  Maschine,  die  Stichflammen  erzeugt,  die 
auf  iooo  Meter  Reichweite  alles  versengen,  alles  ver- 
brennen. So  werden  wir  die  Schützengräben  aus- 
räuchern. Auch  von  Zeppelinen  und  Fliegern  werden 
wir  die  Flammen  aussenden.  Tausend  Meter  Reich- 
weite, die  bald  noch  vergrößert  werden  wird.  Hundert- 
tausend Maschinen  sind  fertig,  Tag  und  Nacht  wird 
gearbeitet.   Sache,  waa  aas  ss  ?!..  ." 

Einen  Augenblick  schweigt  alles  in  den  Schauern  der 
neuen  Offenbarung.  Die  Köpfe  leuchten.  Ihre  Phan- 
tasie schwelgt  in  den  Bildern  von  Menschenhaufen,  die 
durch  die  Feuersglut  in  ihren  Gräben  wie  zusammen- 
gelötet werden,  von  Städten,  die  plöztlich  in  Flammen 
stehen,  von  Kriegsschiffen,  deren  Mannschaft  aus 
Angst  vor  den  Flammenpfeilen  über  Bord  springen; 
vergebens,  denn  auch  ins  Wasser  dringt  siedend  das 
stechende  Feuer. 

Dann  löst  sich  der  Bann.  Alle  sind  einig:  „Der  Feind 
wird  schwitzen!"  —  „Und  niemand  kann  uns  das  nach- 
machen; niemand,  Ehrenwort!"  schließt  der  Gebie- 
tende. 

„Darauf  sollten  wir  eins  trinken",  meint  sein  Gegen- 
über. —  „Machen  wir!  Ich  zahle.  Aber  was?"  — 
„Natürlich  Sekt!"  —  „Geht  nicht!" 

Der  Gebietende  schaut  sich  vorsichtig  im  Lokal 
um:  „Irroy  könnte  unangenehm  auffallen." 


194 


„Deutscher  Sekt  genügt  auch,"  rät  der  Kümmer- 
liche. 

„Nein,  nein  —  das  geht  noch  weniger.  Aber  warten 
Sie  .  . .  Die  Leute  haben  sich  doch  höchst  anständig 
benommen.  Trinken  wir  'ne  gediegene  Marke  —  in 
Luxemburg  auf  Flaschen  gefüllt"  .  .  . 

Französische  Gedankengänge.  In  der  eng- 
lischen Zeitschrift  Harpers  Weekly  schreibt  1915  Nor- 
man Hapgood  über  die  „revolutionären"  Gesichts- 
punkte, unter  denen  die  Franzosen  einen  vollkommenen 
Sieg  über  Deutschland  betrachten.  Der  Artikel  ge- 
winnt dadurch  eine  gewisse  Bedeutung,  daß  die  Hu- 
manite'  in  ihm  eine  sehr  klare  Darstellung  französischer 
Gedankengänge  findet. 

In  den  Augen  der  Franzosen,  schreibt  Hapgood, 
würde  der  Sieg  vollständig  sein,  der  den  von  der 
oligarchischen  Regierung  unterdrückten  Individualis- 
mus in  Deutschland  wiederherstellen  würde;  der,  wie 
immer  auch  um  den  Preis  einer  Revolution,  in  der 
deutschen  Politik  die  demokratische  Kontrolle  herbei- 
führen würde.  Niemand  ist  so  naiv  zu  glauben,  daß  die 
zukünftige  Regierung  Deutschlands  von  außen  ein- 
gesetzt werden  könnte.  Sicher  glaubt  mehr  als  ein 
Franzose,  daß  Großbritannien  die  Waffen  nicht  früher 
niederlegen  würde,  als  bis  es  sich  der  Person  Wilhelms  II. 
bemächtigt  hätte,  wie  es  sich  Napoleons  bemächtigte; 
aber  diese  Meinung  hat  nichts  zu  tun  mit  den  über  die 
notwendigen  Änderungen  des  deutschen  Ideals  ver- 
breiteten Gedanken.  Diese  Änderungen  müssen  vom 
Volk  selbst  gewollt  sein,  und  es  wird  sie  wollen,  wenn 
die  Niederlage  ihm  das  militaristische  und  imperia- 
listische Ideal  verleidet  hat.  In  seiner  Industrie  mehr 
getroffen  als  seine  Verbündeten,  grausamer  leidend 
unter  dem  Verlust  seiner  Söhne,  weil  es  weniger  Kin- 
der erzeugt,  sieht  Frankreich  das  Heil  nur  in  der  zu- 
künftigen Demokratisierung  Deutschlands,  die  ihm 

13-  195 


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erlauben  würde  aufzuatmen  und  seine  Zukunft  sichern 
würde.  Ein  solches  Ergebnis  kann  nicht  von  einem 
hinkenden  Frieden  kommen,  der  nur  den  Hochmut 
des  unbesiegten  Deutschlands  steigern  und  es  bereit 
machen  würde,  ein  neues  Abenteuer  vorzubereiten. 
Ganz  Frankreich  glaubt,  daß  eine  Niederlage  Deutsch- 
land viel  nützen  würde,  während  ein  Sieg  Deutsch- 
lands das  Ende  der  französischen  Zivilisation  wäre. 
Deshalb  ist  Frankreich  heute  so  ruhig,  so  tapfer,  so 
geduldig,  so  verschieden  von  dem,  was  die  Ignoranten 
draußen  erwarteten.  Es  sagt  stolz  vor  aller  Welt,  daß 
es  den  Frieden  wollte,  aber  daß  niemand  von  ihm  er- 
warten könne,  es  würde  noch  einmal  einer  so  schreck- 
lichen Drohung  die  Stirne  bieten  müssen  ...  Es 
wünscht  einen  Sieg  der  Völker,  die  den  Frieden  lieben, 
über  die  Nation,  die  die  Beute  des  Militarismus  ge- 
worden ist  .  .  .  Ich  für  meine  Person  weiß  nicht,  fügte 
der  englische  Verfasser  hinzu,  ob  wirklich  eine  voll- 
ständige Niederlage  nötig  ist,  um  den  Angriffsgeist 
Deutschlands  zu  ändern;  ich  sage  nur,  daß  das  die 
Meinung  in  Frankreich  ist. 

Die  Verdurstung  als  Kriegsmittel.  Bei  der 
Belagerung  von  Paris  1870/71  galt  es,  nicht  nur  durch 
Aushungerung  der  Millionenbevölkerung,  sondern 
auch  durch  Erschwerung  der  Trinkwasserzufuhr  die 
Pariser  zur  Verzweiflung  und  zur  Übergabe  zu  treiben. 
Man  hatte  vor  Paris  in  der  Villa  des  Ministers  Rouher 
die  Spezialpläne  der  Wasserleitungen  von  Paris  ge- 
funden. Einige  Quellwasserleitungen  und  Kanäle  ge- 
lang es  in  der  Tat  abzuschneiden.  Unmöglich  war  es 
natürlich,  Paris  ganz  das  Wasser  zu  entziehen,  sonst 
hatte  man  Seine  und  Marne  ableiten  müssen.  Dagegen 
rechnete  man  auf  die  ungünstigen  Wirkungen,  die  eine 
Störung  der  Wasserleitungen  zur  Folge  haben  mußten. 
In  Betracht  kamen  besonders  das  aus  der  Marne 
schöpfende  Dampfpumpwerk  von  St.  Maur.  Gelang 

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es,  dieses  Werk  zu  zerstören,  so  waren  die  Arbeiter- 
viertel von  Belleville  und  Neuil  montant  ohne  Wasser. 
Was  man  damit  erreichen  wollte,  hat  der  damalige 
Leiter  der  Artillerieoperationen  gegen  das  Werk,  der 
Hauptmann  Reinhold  Wagner,  später  so  dargestellt: 
„Jene  Stadtteile  waren  nicht  nur  die  am  dichtesten 
bevölkerten  von  Paris,  sondern  diese  meist  aus  Ar- 
beitern bestehenden  Volksmassen  auch  von  jeher  am 
ehesten  zu  revolutionären  Bewegungen  geneigt  .  .  . 
Kam  zu  den  sonstigen  Entbehrungen  dieser  unbe- 
mittelten Volksmassen  noch  Wassermangel  hinzu,  so 
ließen  sich  davon  füglich  Rückwirkungen  auf  die  Ver- 
teidigung der  Stadt  erwarten,  welche  deren  Fall  be- 
schleunigen konnten.  War  hierauf  auch  nicht  mit  ab- 
soluter Gewißheit  zu  rechnen,  so  hatte  doch  anfäng- 
lich auch  Moltke  Hoffnungen  auf  unruhige  Bewegungen 
in  der  Stadt  gesetzt." 

Übrigens  mißlang  der  Plan.  Die  Artillerie  erreichte 
das  Werk  nicht. 

Und  sie  schrieben  Briefe.  In  seinem  Buch 
„Rußland  und  der  Krieg"  teilt  Alexinsky  den  folgen- 
den Schulaufsatz  eines  kleinen  Chinesen  über  den 
Ursprung  des  Weltkriegs  mit:  „Gegenwärtig  gerade 
gibt  es  einen  großen  Krieg  in  Europa.  Der  Krieg  hat 
begonnen,  weil  der  Prinz  von  Österreich  mit  seiner 
Prinzessin  nach  Serbien  gereist  ist.  Ein  Mann  in  Ser- 
bien hat  sie  getötet.  Österreich  hat  sich  geärgert  und 
den  Krieg  gegen  Serbien  angefangen.  Deutschland 
schrieb  Briefe  an  Österreich  und  sagte:  Ich  werde  dir 
helfen.  Rußland  schrieb  einen  Brief  an  Serbien:  Ich 
helfe  dir.  Frankreich  hatte  keine  Lust,  sich  zu  schlagen, 
aber  bereitete  seine  Soldaten  vor.  Da  schrieb  Deutsch- 
land einen  Brief  an  Frankreich:  Du  darfst  dich  nicht 
vorbereiten,  denn  wenn  du  es  tust,  werde  ich  dich 
in  neun  Stunden  schlagen.  Und  Deutschland  begann 
sich  mit  Frankreich  zu  schlagen  und  marschierte  auf 

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Belgien.  Belgien  sagt:  Ich  bin  ein  Land  und  nicht 
eine  Straße  für  dich.  Und  Belgien  schrieb  einen  Brief 
nach  England,  um  ihm  mitzuteilen,  was  Deutschland 
begangen  hatte.  Und  so  leistete  England  Belgien 
Hilfe."  —  Dieser  Aufsatz  eines  chinesischen  Knaben 
bildet  eine  furchtbare  Bekräftigung  der  alten  Mahnung  : 
man  soll  keine  Briefe  schreiben. 

Distanz.  Im  Waldfriedhof  zu  München  haben  die 
Kriegsgefallenen  ihr  eigenes  Gelände.  Jede  Abteilung 
hat  innerhalb  ihres  Bereichs  das  gleiche  Marterl  auf 
jedem  Grabe  als  Schmuck  und  Namensmal ;  aber  von  Ab- 
teilung zu  Abteilung  wechseln  die  Grabzeichen  Farbe, 
Form,  Verzierung.  Dieser  Wechsel  von  Gleichheit  und 
Mannigfaltigkeit  spiegelt  im  Tode  die  Kameradschaft 
im  selben  kleinen  Verband  und  die  Verschiedenheit 
der  Abzeichen  der  größeren  Truppeneinheiten  wieder. 
Der  Tod  hat  hier  unter  den  hohen  Tannen  fast  etwas 
wie  bunte  einfache  bäuerliche  Kirmes -Freudigkeit, 
die  ermüdet  eingeschlafen  ist  und,  still  geworden,  vom 
lustigen  Tage  träumt .  .  .  *Dann  aber  sieht  man  ab- 
seits vom  Haufen  Einzelgräber  von  Gefallenen,  deren 
Marterln  größer  und  reicher  sind,  auch  das  Personale 
der  Aufschriften  ausführlicher  und  ehrerbietiger  mit- 
teilen. Das  ist  das  Totenkasino  der  Offiziere,  das  von 
der  stummen  Mannschaftskantine  räumlich  und  sozial- 
ästhetisch streng  getrennt  ist. 

Erhält  der  Friedhof  der  Gefallenen  einmal  ein  Gitter 
und  ein  besonderes  Portal,  so  wird  man  auf  ihm  die 
Worte  aus  Heinrich  V.  anbringen  müssen: 

Daß  wir  dies  blut'ge  Feld  durchwandern  dürfen, 
Die  Toten  zu  verzeichnen  und  begraben, 
Die  Edlen  vom  gemeinen  Volk  zu  sondern; 
Daß  —  o  des  Wehs !  —  viel  unsrer  Prinzen  liegen 
Ersäuft  und  eingeweicht  in  Söldnerblut; 
So  taucht  auch  unser  Pöbel  rote  Glieder 
In  Prinzenblut  .  .  . 

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Was  übrigens  heute  an  der  Front  nicht  zu  be- 
fürchten wäre,  soweit  es  Prinzen  sind  .  .  . 

Märzstürme  191 8.  Die  erhabene  Begeisterungs- 
sprache vom  August  1914  ist  wieder  erstanden.  Wie 
damals  Wilhelm  II.  der  Welt  verkündete:  „Nun  wollen 
wir  sie  dreschen!"  und  sein  ältester  Sohn  ermunternd 
wiederholte:  „Immer  feste  druff,"  so  äußert  sich  jetzt 
in  der  gleichen  Sprache  Hindenburg:  „Die  Geschichte 
da  drüben  ist  ins  Rutschen  geraten,"  worauf  der  Kriegs- 
berichterstatter des  Berliner  Lokalanzeigers  ins  Rut- 
schen geriet  und  stammelte :  „Und  Hindenburg  sagte, 
als  ich  mich  in  der  Abendstunde  von  ihm  verabschieden 
durfte,  indem  er  mir  die  Hand  reichte,  „in  seiner 
wunderbaren,  überwältigenden  Schlichtheit 
der  Rede:  „Die  Geschichte  da  drüben"  usw.  In 
dieser  selben  wunderbaren,  überwältigenden  Schlicht- 
heit der  Rede  erzählte  mir  im  Dezember  191 7  (im 
Eisenbahnwagen)  ein  Soldat,  wie  sie  die  englischen 
Gefangenen  truppweise  abführten  (besonders  die  Ka- 
nadier, die  so  unverschämt  seien,  sich  noch  zu  wehren, 
wenn  man  schon  bei  ihnen  wäre)  und  dann  Hand- 
granaten unter  sie  würfen :  „So  kriegen  wir  das  Zeug's 
weg."  (Derselbe  Soldat  hatte  auch  das  weiche  deutsche 
Gemüt;  denn  vorher  hatte  er  tränenden  Auges  be- 
richtet, wie  er  in  Gotha  die  Sachen  eines  gefallenen 
Offiziers  dessen  Mutter  übergeben  und  dabei  so  er- 
schüttert gewesen  sei,  daß  er  sofort  wieder  weggelaufen 
sei,  weil  er  den  Schmerz  der  Frau  nicht  aushalten 
konnte.) 

Auch  die  Kanonenhymnen  leben  wieder  auf:  teils 
mit  Verzückung,  teils  mit  neckischem  Humor,  wie  bei 
den  42  cm-Geschützen,  die  die  Jungfer  Lüttich  seiner 
Zeit  entjungferten  (wie  die  Dichter  damals  kriegs- 
erotisch anschaulich  sangen).  Heute  weidet  man  sich 
an  der  witzigen  Überraschung,  daß  aus  märchenhafter 
Ferne  plötzlich  ungezählte  Granaten  auf  Paris  hageln, 

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spottet  über  die  phantastischen  Erklärungen  der  Pariser 
Zeitungen  und  jauchzt  über  den  Triumph  deutscher 
Wissenschaft  und  Technik.  Auffällig  aber  und  undank- 
bar ist,  daß  man  das  wesentliche  Mittel  der  deutschen 
Offensiverfolge  nicht  als  die  letzte  höchste  Eingebung 
germanischen  Erfindergeistes  und  deutscher  Kultur 
feiert:  das  Giftgas!  Das  Giftgas  entscheidet  die  Welt- 
geschichte! Da  man  gleichzeitig  mit  gesteigerter  In- 
brunst und  Häufigkeit  sich  in  den  offiziellen  Kund- 
gebungen auf  den  besonderen  gnädigen  Beistand  Gottes 
beruft,  ist  nunmehr  das  Wesen  dieses  Gottes  der  deut- 
schen Fürsten  und  Generäle  endgültig  festgestellt: 
Sie  sagen  Gott  und  vergiften  die  Luft.  Gott  ist  ein 
Giftgas!  .  .  .  Gibt  es  nicht  außerhalb  dieser  Erde 
irgendwo  ein  Zuchthaus,  in  das  man  mich  von  dieser 
großen  Zeit  abschließen  kann? 

Die  „Deutsche  Tageszeitung"  schrieb  am  25.  März: 
„Und  hätte  man  vor  wenigen  Wochen  behauptet, 
wir  Deutsche  hätten  Geschütze,  die  120  Kilometer 
Schußweite  besitzen,  so  daß  wir  von  unserer  bisherigen 
Front  bis  nach  Paris  hinein  langen  können,  man 
wäre  zum  mindesten  als  Phantast  angesehen  worden. 

Wieder  ist  die  ganze  Welt  durch  die  nun  zur  Tat- 
sache gewordenen  Beschießung  der  Festung 
Paris  vor  ein  Wunderwerk  deutschen  Erfinder- 
geistes, deutscher  Technik  und  Schaffenskraft  ge- 
stellt worden;  und  muß  sich  staunend  fragen:  Was 
kann  und  muß  ein  solches  Volk,  das  solche 
Taten  und  solche  Wunderwerke  aus  eigener 
Kraft  hervorbringt,  im  Frieden  einst 
leisten?" 

Was  mag  man  dann  wohl  aus  120  km  Entfernung  be- 
schießen ?  Was  mag  einer,  der  die  kühnsten,  technisch 
glänzendsten  Einbrüche  verübt  (aus  eigener  Kraft!), 
erst  leisten,  wenn  er  —  nicht  einbricht !  Es  ist  die  gleiche 
Frage.  Übrigens  hat  der  Dreißigjährige  Krieg  die  Ant- 
wort gegeben. 

200 


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Ein  Opfer.  Die  arme  Sonja  hat  sich  in  Stadelheim 
erhängt.  Nicht  wegen  des  „Landesverrats",  sondern 
um  der  tiefsten  Demütigung  ihrer  Frauenliebe  zuvor- 
zukommen. Es  war  ein  paar  Tage  vor  dem  Termin 
ihrer  Ehescheidung.  Dieser  prachtvolle  deutsche 
Philologe,  für  den  die  Sonja  gearbeitet  und  gerackert 
hatte,  der  sich  vor  mir  einen  Tolstoianer  nannte, 
widerstrebte  gleichwohl  dem  Übel,  und  veröffentlichte 
in  dem  Augenblick,  als  seine  Frau  unter  Anklage  eines 
mit  Zuchthaus  bedrohten  Verbrechens  verhaftet  war, 
in  den  Blättern  eine  Erklärung,  daß  er  schon  vor  einiger 
Zeit  die  Scheidungsklage  eingeleitet  habe.  Die  deutsche 
Öffentlichkeit  nahm  an  dieser  Handlung  anscheinend 
keinen  Anstoß;  man  fand  sie  offenbar  selbstverständ- 
lich. Not  kennt  kein  Gebot.  Die  Deutschen  sind  ja 
das  ritterliche  Volk.  Außerdem  war  sie  nur  eine  kleine 
russische  Jüdin  und  er  ein  kerndeutscher  Mann  wenn 
auch  Romanist.  Sie  schämte  sich  für  ihn,  und  als  sie 
sah,  daß  er  es  wirklich  zum  Scheidungstermin  kommen 
ließ,  vollzog  sie  freiwillig  und  gründlich  die  Scheidung. 
Denn  sie  liebte  diesen  Mannl  Sie  hatte  sich  während 
der  Streikwoche  mir  anvertraut.  Man  hatte  ihr  ein- 
geredet, daß  politische  Agitation  —  „Landesverrat" 
stand  ja  damals  noch  nicht  in  Frage  —  ein  Scheidungs- 
grund sei.  Unter  dieser  lächerlichen  Pression  hatte  sie 
eingewilligt,  die  Ehe  friedlich  zu  trennen.  Als  ich  ihr 
den  Unsinn  auseinandersetzte,  daß  deshalb  eine  Ehe 
geschieden  werden  könnte,  wollte  sie  zum  Rechts- 
anwalt gehen  und  ihre  Einwilligung  zurückziehen. 
Das  sagte  sie  mir  am  31.  Januar,  während  des  Mün- 
chener Demonstrationszuges.  Ihre  Absicht  wurde 
durch  die  Verhaftung  vereitelt.  Ich  bemühte  mich,  sie 
zu  trösten :  Ein  Mann,  der  so  handle,  sei  es  doch  nicht 
wert,  daß  man  seinetwegen  leide.  Da  wurde  sie  erregt 
und  ersuchte  mich  sehr  energisch,  darüber  nicht  zu 
reden :  ihr  Mann  sei  ein  Charakter.  Da  wußte  ich,  daß 
sie  den  Mann  dennoch  liebte.  An  dieser  Liebe  ist  sie 


201 


gestorben.  Die  Gefängnis-Psychose,  die  langen  ein- 
samen, schlaflosen  Nächte  vollendeten  das  Werk  see- 
lischer Zerrüttung.  Ich  sah  sie  seit  unserer  Verhaftung 
zweimal.  Einmal  begegnete  sie  mir  noch  im  Polizei- 
gewahrsam. Sie  wollte  auf  mich  zu  und  mir  die  Hand 
geben.  Das  wurde  verhindert.  Das  zweite  Mal  sah 
ich  sie  im  Hof  des  Untersuchungsgefängnisses;  sie 
stand  naß  im  Regen,  frierend,  völlig  zusammengefallen, 
an  die  Mauer  gelehnt,  wie  eine  Versinnbildlichung 
der  Obdachlosigkeit;  sie  endigte  ihren  „Spaziergang" 
und  ich  begann  ihn,  wir  nickten  uns  bei  dieser  Ab- 
lösung stumm  zu.  Eine  russische  Märtyrerin  auf  deut- 
schem Boden.  Sie  erlebte  das  Martyrium  doppelt,  als 
russische  Sozialistin  in  der  deutschen  Partei  und  als 
russische  Frau  bei  dem  deutschen  Universitätsgelehrten 
.  .  .  Später  erfuhr  ich,  daß  ihr  Mann  sie  während  der 
Haftzeit  niemals  besucht  hat. 

Die  Sorge  um  Soissons.  Einer  der  Professoren 
des  kaiserlichen  Hauptquartiers,  die  unseren  Weltruf 
als  Hunnen  und  „gelehrte  Barbaren"  zu  widerlegen 
beamtet  sind,  indem  ihnen  die  durch  unsere  Invasion 
unmittelbar  und  mittelbar  veranlaßte  Zerstörung  hei- 
ligsten Kunstgutes  unablässig  das  Herz  bricht  und 
dann  von  ihnen  wissenschaftlich-katologisch  ersetzt 
wird,  ohne  zu  ahnen,  wie  gerade  diese  Mischung  von 
Gemüt,  Wissenschaft  und  Kriegsnotwendigkeit  bei 
den  Betroffenen  wirkt,  —  Herr  Paul  Clemen  schrieb 
am  i.  August  191 8  im  Berliner  Tageblatt  am  Schlüsse 
von  Betrachtungen  über  die  Zerstörung  von  Soissons: 
„Die  bange  Frage  stellt  sich  ein:  in  welchem  Zustand 
werden  wir  die  Stadt  einst  im  Frieden  abtreten 
können  ?  Die  Vollendung  der  Zerstörung  liegt  jetzt 
ganz  bei  den  Gegnern."  Als  der  Professor  seine  Bangig- 
keit in  die  Presse  ausströmte,  räumten  wir  gerade 
Soissons.  So  entriß  der  Franzose  in  grausamer  Tücke 
den  deutschen  Professor,  der  über  den  Kunstschätzen 

202 


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Soissons  zärtlich  wachte,  seinen  Seelenqualen,  der 
Gegner  möchte,  um  der  Kunst  willen,  nicht  auf  die  Ver- 
drängung der  Deutschen  aus  seinem  Lande  verzichten, 
sondern  lieber  brutal  die  eigenen  Kunstwerke  und 
ihre  fremden  Pfleger  bombardieren.  Das  war  der  feind- 
liche Dank  für  den  deutschen  Kunstprofessor,  der  den 
Franzosen  eben  großmütig  verheißen  hatte,  wir  wür- 
den ihnen  Soissons  einst  im  Frieden  wiedergeben! 
Sie  konnten  bis  dahin  nicht  warten!  Und  die  Gönner 
des  Professors  —  vermutlich  zu  seinem  fassungslosen 
Erstaunen  —  auch  nicht ! 

Redeoffensive.  Alle  die  Maßgebenden,  die  seit 
dem  deutschen  Rückzug  im  Sommer  191 8  plötzlich 
rednerisch  zum  Volk  herabstiegen,  bedienten  sich  der 
aufrichtigen  Versicherung:  Wir  haben  schon  schlimmere 
Krisen  überwunden  als  die  heutige!  Das  ist  eine  Sen- 
sation. Wie?  Wir  haben  schon  schlimme  Gefahr- 
zeiten  hinter  uns?  Wann  hat  man  uns  ein  einziges 
Mal  während  der  vier  Kriegsjahre  gesagt,  daß  die  Lage 
schwierig  sei  ?  War  sie  nicht  immer  gut,  ausgezeichnet ; 
beruhigte  man  uns  nicht  immer,  daß  wir's  schaffen 
würden  ?  Auf  einmal  enthüllt  man  uns  die  ungeahnten 
Bedrängnisse,  die  wir  —  hinter  uns  haben:  so  schlimm 
wie  damals  (als  es  doch  nach  den  übereinstimmenden 
Pressebeteuerungen  ganz  prächtig  war!)  stünde  es 
jetzt  nicht.  Man  reißt  von  der  Vergangenheit  die 
Maske,  um  mit  ihren  Fetzen  sich  vor  den  Fragen  der 
Gegenwart  zu  verbergen.  Wir  wissen  aber  jetzt,  daß 
man  uns  die  Wahrheit  erst  immer  hinterher  sagt  und 
fordern  Auskunft.  Welch  Mittel  habt  ihr  in  Zukunft 
bereit,  um  die  Gefahr  von  heute  zu  bewältigen?  — 
Wir  fordern?  Ach  nein;  wir  werden  erst  später  hören, 
wie  wir  uns  heute  befinden,  und  darauf  warten  wir 
in  Geduld.  Wir  fordern  nichts.  Wir  haben  keine  Be- 
dürfnisse, die  Dinge  zu  erkennen,  so  lange  sie  sind  und 
wirken.  Wir  leben  für  die  Archive  ...  wir  Achiver! 

203 


Kleine  Kriegs-Märchen. 

I.  Das  Merkmal  der  Rassenzüchtung.  Ein 
Marsgeschöpf  kam  auf  die  Erde  und  ließ  Erscheinungen 
und  Vorgänge  sich  erklären.  In  einer  Stadt  sah  er  viele, 
viele  Wesen,  die  blind  waren,  denen  Beine  und  Arme 
fehlten,  die  fortwährend  zitterten,  die  in  Atemnot 
keuchten  und  in  Schmerzen  sich  krümmten;  auch 
solche,  die  ihren  Verstand  verloren  hatten.  Arme 
Menschen,  sagte  das  Marsgeschöpf,  die  so  mißraten  auf 
die  Welt  gekommen  sind;  aber  es  scheint  mir  grausam, 
daß  man  sie  noch  besonders  kenntlich  macht,  indem 
man  ihnen  eiserne  Kreuze  an  die  Brust  heftet.  Ein 
Mißverständnis,  sagte  sein  Führer:  Das  sind  unsere 
Helden,  die  im  Krieg  verstümmelt  ^wurden,  und  die 
Kreuze  sind  hohe  Ehrungen.  Warum  führt  ihr  Krieg? 
fragte  das  Marsgeschöpf.  Der  Krieg  ist  ein  Gesetz 
der  Rassenzüchtung,  die  den  Stärkeren  siegen  und  über- 
leben läßt,  erläuterte  sein  menschlicher  Begleiter;  er 
dient  zur  Erhaltung  einer  starken  Rasse. 

Das  Marsgeschöpf  kam  in  eine  Anstalt :  Wieder  sah  er 
verkrüppelte,  blinde,  sieche,  geisteskranke  Menschen. 
Helden!  rief  das  Marsgeschöpf  in  schmerzlicher  Be- 
wunderung aus.  Nicht  doch,  erwiderte  sein  Führer 
verächtlich:  Das  ist  ein  armseliger  Menschenabfall. 
Unrat  schlechter  Züchtung;  das  Zeug  ist  schon  so  ge- 
boren. Ah,  ich  begreife,  sagte  das  Marsgeschöpf,  zum 
Unterschied  von  den  Helden  tragen  sie  keine  eisernen 
Kreuze ! 

Als  der  Marsbürger  heimkehrte,  erklärte  er  seinen 
Mitgeschöpfen  seine  Eindrücke: 

Die  Erdenmenschen  treiben  Rassenzüchtung:  gute 
und  schlechte.  Die  gute  geschieht  durch  den  Krieg, 

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die  schlechte  durch  die  Zeugung.  Das  sichtbare  Er- 
gebnis ist  in  beiden  Fällen  das  gleiche.  Nur  nennt 
man  die  einen  Helden,  die  anderen  Entartete.  Damit 
man  sie  nicht  verwechselt,  hängt  man  den  ersteren 
eiserne  Kreuze  an  die  Vorderseite. 

II.  Arithmetischer  Landesverrat.  In  den 
Angriff  wurden  50000  Menschen  geführt,  es  kamen 
10000  zurück.  Die  übrigen  lagen  auf  der  zerrissenen 
Erde  und  konnten  nicht  zurückkehren,  teils  weil  sie 
tot  waren,  teils  weil  sie  keine  Beine  hatten. 

Der  Kriegsberichterstatter  berichtete  seinem  Blatt : 
Unsere  Verluste  waren  erschreckend  gering.  Er  hatte 
sich  verschrieben.  Aber  die  Zensur  merkte  den  Fehler 
und  schrieb:  erfreulich.  Dem  gedankenlosen  Kriegs- 
berichterstatter aber  wurde  als  Strafarbeit  aufgegeben, 
seinem  Blatt  zu  melden:  Ich  ging  auf  dem  unauf- 
geräumten Schlachtfeld  spazieren  und  sah  nur  zwei  von 
den  Unseren  als  Leichen;  dagegen  ist  der  Boden  buch- 
stäblich mit  feindlichen  Leichen  besät.  Da  die  Toten 
alle  nackt  ausgezogen  lagen,  der  Beute  und  Ausrüstung 
der  Lebenden  wegen,  hatte  der  Kriegsberichterstatter 
nur  zwei  jüdische  Leichen  unterscheiden  können,  als 
er  auf  dem  Schlachtfeld  aufgeräumt  spazieren  ging. 

Ein  Soldat  aber  schrieb  nach  Hause:  50000  waren 
wir,  als  wir  den  Sturmangriff  machten,  jetzt  sind  wir 
nur  10000. 

Der  Empfänger  des  Briefes  rechnete  und  erzählte 
schaudernd:  Das  Gefecht  hat  uns  40000  Menschen 
gekostet. 

Das  Reichsgericht  verurteilte  ihn  zu  sechs  Jahren 
Zuchthaus,  weil  er  die  deutsche  Heeresmacht  um 
39998  Mann  beeinträchtigt  hätte;  die  zwei  vom  Kriegs- 
berichterstatter mit  eigenen  Augen  gesehenen  deut- 
schen Leichen  wurden  anerkannt  und  strafmildernd 
abgezogen. 


205 


III.  Die  völkerrechtswidrige  leichte  Ver- 
wundung. Der  Generalstabsarzt,  eine  wissenschaft- 
liche Autorität,  begutachtete:  Alle  unsere  Verwun- 
dungen sind  sehr  leicht,  wir  werden  99%  heilen. 

Da  verbreitete  sich  das  Gerücht,  wie  human  der 
Feind  sei,  daß  er  so  unschädliche  Geschosse  verwende. 

Das  Gerücht  kam  dem  Hauptquartier  zu  Ohren. 
Alsbald  begutachtete  der  Generalstabsarzt,  daß  der 
Feind  Geschosse  benutze,  die  scheußliche  Zerreißungen 
im  Körper  hervorrufen,  die  aller  Heilkunst  spotteten. 
Und  im  Namen  des  Völkerrechts  wurde  gegen  das 
niederträchtige  Verfahren  des  vertierten  Feindes  vor 
Gott  und  den  Menschen  Verwahrung  eingelegt. 

Als  dieser  Protest  bekannt  wurde,  stiegen  im  Volke 
Dankgebete  für  den  Feind  auf  und  alle  segneten  ihn. 

Im  Hauptquartier  war  man  ratlos.  Man  rief  einen 
Feldwebel,  der  den  besonderen  Auftrag  hatte,  die 
Stimmung  in  den  Massen  zu  beobachten.  Ob  er  sich 
das  Rätsel  erklären  könne.  Selbstredend,  sagte  der  Feld- 
webel; vor  nichts  haben  die  Leute  so  sehr  Angst,  als 
vor  der  leichten  Heilung,  weil  sie  dann  gleich  wieder 
hinausgeschickt  werden. 

Bei  der  nächsten  Gelegenheit  las  man  im  Tages- 
bericht :  Die  Verwundungen,  die  der  barbarische  Feind 
völkerrechtswidrig  den  Unseren  zufügte,  waren  aus- 
nahmslos so  leicht,  daß  99  Prozent  unter  Verlust  der 
Kriegs  Verwendungsfähigkeit  rasch  geheilt  werden. 

IV.  Grenzsicherungen.  Nachdem  wir  das  Land 
des  Feindes  völlig  zerstört  hatten,  zwangen  wir  ihn 
zum  Frieden.  Wer  die  Verwüstungen  im  Feindesland 
gesehen  hat,  sagte  man  bei  uns,  der  begreift,  wie  not- 
wendig es  ist,  daß  wir  unsere  Grenzen  gegen  solche  Ge- 
fahren schützen.  Und  man  nahm  dem  feindlichen 
Land  ein  Drittel  des  Gebietes  zur  Grenzsicherung  ab. 

Das  alte  Grenzgebiet  war  nun  gesichert,  aber  das 
neue!  Also  begann  man,  um  der  Sicherung  der  neuen 

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Grenze  willen,  abermals  einen  Krieg  um  Sein  und 
Nichtsein,  und  fügte  ein  zweites  Drittel  des  feindlichen 
Landes,  nur  zur  Sicherung,  hinzu.  Worauf  wir  ge- 
wahrten, daß  auch  unsere  letzte  Erwerbung  wieder 
Grenzgebiet  geworden  sei,  das  man  sichern  müsse. 
Nach  einem  neuen  siegreichen  Krieg  eigneten  wir  uns 
das  letzte  Drittel  an. 

Nun  standen  wir  am  Meere.  Aber  das  Wasser  ist 
bekanntlich  die  schlechteste  aller  Grenzen.  Also  waren 
wir  genötigt,  das  Land  jenseits  des  Meeres  durch  einen 
Krieg  zur  Gewährung  von  Grenzsicherungen  zu  zwin- 
gen. 

So  ging  es  fort,  immer  westwärts,  mit  neuen  Grenz- 
sicherungen, bis  wir  schließlich  ein  Gebiet  erreichten, 
das  uns  auffällig  bekannt  vorkam:  wir  hatten  unsere 
eigene  stark  gesicherte  Ostgrenze  erreicht  und  be- 
merkten nun  schaudernd,  wie  völlig  ungesichert  gerade 
deshalb  unsere  mit  ihr  jetzt  zusammenfallende  neue 
Westgrenze  war.  Da  blieb  uns  nichts  anderes  übrig, 
als  uns  selbst  anzugreifen. 

In  diesem  Augenblick  trat  ein  Mann  auf  und  lehrte : 
Es  gibt  nur  eine  Grenzsicherung:  keine  Grenzen! 

Utopist!  —  lachte  man. 

V.  Das  Leichengemüt.  Von  den  Menschen  war 
nach  der  Schlacht  nicht  viel  übrig  geblieben:  ein 
Darmfetzen,  ein  Stück  Herz,  ein  Unterschenkel,  eine 
halbe  Hand,  ein  mit  Kot  vermengter  Hirnbrei.  Man 
teilte  die  Haufen  menschlicher  Bruchstücke  in  mög- 
lichst gleiche  Mengen,  und  nachdem  man  ungefähr 
ein  menschliches  Lebendgewicht  beisammen  hatte, 
begrub  man  es,  errichtete  ein  schön  gemaltes  Marterl 
auf  dem  Hügel  und  nun  konnte  man  lesen,  daß  der 
Kanonier  Obermeyer  den  Heldentod  fürs  Vaterland 
gestorben  sei.  Es  mochten  auch  einige  Bruchteile  des 
Infanteristen  Niedermeier  darunter  geraten  sein,  viel- 
leicht sogar  auch  ein  paar  Knochen  und  Hautstücke 


207 


feindlichen  Ursprungs  —  aber  der  Tod  löscht  allen 
Haß  aus,  wenn  man  ein  menschliches  Gemüt  hat;  und 
das  haben  wir  Deutschen,  Gott  sei  gedankt. 

Nach  einem  Jahr  besetzte  der  Feind  das  Gebiet,  in 
dem  der  sinnige  Friedhof  lag,  und  voll  Haß  kratzten 
sie  die  Namen  von  den  Marterln  ab  und  nagelten  einen 
ruchlosen  Bretterzaun  vor  die  so  kunstreich  errichtete 
Gräberstätte. 

Nach  einem  Jahre  waren  wir  wieder  im  Besitze  der 
Friedhofgegend  und  sahen  die  Schändung.  Der  heilige 
Zorn  übermannte  uns.  Das  deutsche  Gemüt  er- 
grimmte. Die  Photographen  arbeiteten  im  Schweiß. 
Gibt  es  etwas  Grausameres  als  eine  Bretterwand  und 
die  Abkratzung  von  Buchstaben  eines  Holzkreuzes  ? 

Von  Stund  an  pflegten  wir,  wenn  wir  die  Gefan- 
genen abführten,  Handgranaten  unter  sie  zu  werfen. 
Danach  aber  begruben  wir,  was  übrig  blieb,  und 
schmückten  ihre  Gräber.  Wir  Deutsche  ehren  auch 
den  Feind,  wenn  er  erst  einmal  explodiert  ist  .  .  . 

[I— V  Pfingsten  1918.] 

VI.  Die  Opposition.  Die  Partei  war  program- 
matisch revolutionär.  Das  Programm  war  erlaubt,  die 
Revolution  nicht.  Also  nahm  man  vom  Verbotenen 
und  Erlaubten  das  Mittel  und  gestaltete  eine  höhere 
Einheit:  Man  ward  Opposition.  Man  war  gegen  alles 
und  tat  nichts.  Die  Partei  wurde  dabei  fett,  die  Führer 
noch  mehr.  Und  es  begab  sich,  daß  ein  Krieg  drohte. 
Da  stieg  die  Partei  auf  die  Schanzen  und  machte  Oppo- 
sition gegen  den  Krieg.  Aber  der  Krieg  brach  aus.  Nun 
war  auch  die  Opposition  verboten.  In  diesem  Augen- 
blick kam  den  Führern  eine  zwar  schreckliche,  aber 
doch  zugleich  rettende  Erkenntnis.  Man  endteckte, 
daß  es  die  Natur  jeder  Opposition  sei,  so  lange  nicht 
handeln,  schaffen  zu  können,  bis  sie  die  Macht  hätte. 
Da  man  nun  die  Macht  nicht  hatte,  konnte  man  sterben, 
ohne  etwas  getan  zu  haben.  Man  war  nie  dabei,  man 

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stand  draußen.  Es  gab  nur  einen  Ausweg:  Man  mußte 
die  Opposition  aufgeben.  So  geschah  es.  Endlich  hatte 
man  die  Möglichkeit,  zu  schaffen.  Man  hatte  die  Frei- 
heit, nach  Herzenslust  alles  zu  fördern,  wogegen  man 
früher  Opposition  getrieben  hatte.  Man  war  dabei. 
Man  stand  drinnen.  Man  war  nicht  mehr  negativ,  son- 
dern positiv.  Man  hatte  politischen  Einfluß. 

So  trieb  man  es  Jahr  und  Tag,  und  hielt  es  endlich 
an  der  Zeit,  nun  auch  mit  zu  regieren,  und  nicht  nur 
dabei  zu  sein.  Das  Gesuch  wurde  wegen  Überfüllung 
des  Berufs  höflich  abgewiesen.  Da  kam  eine  neue  Er- 
kenntnis über  die  Enttäuschten:  Man  kann  auch  nicht 
handeln,  schaffen,  wenn  man  dabei  ist,  und  inzwischen 
geht  die  Partei  zum  Teufel. 

Am  nächsten  Tage  wurde  man  wieder  programma- 
tisch revolutionär,  in  der  höheren  Einheit  unnach- 
giebiger Opposition. 

VII.  Der  Unheilbare.  Hans  war  seit  seiner  Kind- 
heit ein  Besessener  der  Wahrheit.  Nie  hatte  ihn  jemand 
lügen  hören.  Es  kam  aber  eine  Zeit,  da  alle  logen;  man 
nannte  das  Patriotismus.  Doch  Hans  log  nicht  und 
sagte  die  Wahrheit.  Als  er  entdeckte,  daß  er  der  einzige 
geblieben  war,  der  nicht  log,  äußerte  er  in  seiner  Ge- 
wissenhaftigkeit schmerzlich:  Alles  lügt,  nur  ich  nicht. 
Damit  gab  er  ein  untrügliches  Kennzeichen  von  sich :  Er 
war  verrückt  geworden.  Denn  nur  der  Verrückte  hält 
die  ganze  Welt  für  wahnsinnig  und  sich  für  vernünftig. 

Ein  Freund  kam  zum  Irrenarzt:  „Unheilbar,"  sagte 
der  und  zuckte  die  Schultern.  „Kann  man  ihm  denn 
diesen  Wahn  nicht  ausreden,  daß  er  allein  die  Wahr- 
heit sagt?" 

„Wenn  mir  das  gelänge,"  sagte  der  Irrenarzt,  „dann 
wäre  er  wirklich  verrückt.  Denn  er  hat  ja  recht,  daß 
er  als  einziger  die  Wahrheit  sagt.  Ihn  heilen,  heißt 
ihn  verrückt  machen.  Er  ist  folglich  unter  allen  Um- 
ständen unheilbar." 


14   Eiioer,  Gesammelte  Schriften.  I. 


209 


VIII.  Führer  an  die  Front!  Es  war  die  Art 
deutscher  Kraft  und  deutschen  Organisationsgeistes, 
daß  die  Genies  des  Hauptquartiers  jede  Offensive  mit 
der  genauesten  Berechnung  aller  Einzelheiten  vorbe- 
reiteten. Die  Großkampftage  waren  nur  die  materielle 
Reproduktion  der  vorher  zum  Abschluß  gelangten 
Gehirntätigkeit.  Drei  Monate  vorher  war  Tag,  Stunde, 
Minute,  Sekunde  des  Beginns  festgesetzt.  Wie  in 
einem  Spezialitätenprogramm  war  bestimmt,  wer  und 
was  um  9  Uhr  35  Minuten  aufzutreten  habe.  Alles 
war  vorgesehen,  die  Überraschung  der  Feinde,  der 
unvergleichliche  Angriffsgeist  unserer  herrlichen  Trup- 
pen, die  Beschuldigungen  der  Gefangenen,  die  sie 
teils  gegeneinander,  teils  gegen  ihre  unfähige  Leitung 
richteten,  die  Lippen  der  Franzosen  mit  den  Clemen- 
ceau-Flüchen  darauf,  die  fehlenden  Amerikaner,  die 
Schlachtfelder,  auf  denen  Wälle  von  Feindesleichen 
sich  türmten,  die  Ziele,  die,  wenn  sie  erreicht  wurden, 
genau  die  waren,  die  man  vorgesehen  hatte,  und  wenn 
sie  nicht  gewonnen  wurden,  außerhalb  des  Planes  ge- 
standen hatten. 

So  wurde  auch  die  letzte  Offensive  vorbereitet,  die 
um  den  Endsieg  Mit  seiner  humorhaften  Ruhe  hatte 
der  gewaltige  Generalissimus  den  aufhorchenden  Kriegs- 
berichterstattern erklärt:  Meine  Herren:  Es  kommt 
zum  Klappen  und  es  wird  klappen. 

In  diesem  Augenblick  aber  erschien  es  dem  Haupt- 
quartier als  Pflicht  und  Lust,  bevor  der  Jungbrunnen 
des  Krieges  wieder  für  längere  Zeit  verstopft  würde, 
einmal  wenigstens  persönlich  den  aufgestellten  Plan 
auszuführen  und  so  alle  Ehre  für  sich  zu  nehmen.  Also 
begab  man  sich,  nachdem  alles  endgültig  angeordnet 
war  und  jeder  in  der  Millionenarmee  wußte,  was  er 
zu  tun  habe,  in  den  vordersten  Schützengraben  des 
Frontteils,  an  dem  der  endgültige  Durchbruch  vor- 
zunehmen war.  Und  den  Feldherren  und  Schlachten- 
denkern schlössen  sich  an:  die  Fürsten  und  Prinzen, 

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die  Besitzer,  Leiter  und  Aktionäre  der  Rüstungs- 
betriebe, die  Professoren  der  Giftgase,  die  Parlamen- 
tarier, die  Parteiführer,  die  Preßhomeriden,  die 
Reichsgerichtsräte,  nachdem  sie  den  letzten  Landes- 
verräter unschädlich  gemacht. 

Um  4  Uhr  23  Minuten  5  lJt  Sekunden  morgens  brachen 
diese  Elite-Stoßtruppen  programmäßig  vor.  Der  herr- 
liche Angriffsgeist  überragte  alles,  was  man  bisher  ge- 
wohnt war;  weil  diese  Sturmtruppen  ja  hoch  über  denen 
standen,  die  bisher  für  solche  Unternehmungen  ver- 
wendet wurden,  und  sie  außerdem  ihren  eigenen  Plan 
auszuführen,  mithin  jedes  Vertrauen  hatten.  Sie 
wußten  vor  allem,  daß  meilenweit  keine  deutschen 
Leichen  zu  sehen  sein  würden,  daß  auch  sonstige  Ver- 
luste überraschend  gering  sein  und  die  Wunden  leicht 
heilen  würden :  Sie  hatten  es  selbst  so  bestimmt ! 

Und  sie  stürmten  durch  das  Gebiet  der  Meilen,  auf 
denen  vorschriftsgemäß  keine  deutsche  Leiche  ge- 
funden werden  konnte. 

Da  —  plötzlich  —  klatschte  etwas  nieder  und  war 
nur  noch  ein  blutiger  Klumpen.  Aber  es  war  kein 
Zweifel  möglich,  die  24  Orden,  die  durch  eine  Fügung 
Gottes  an  der  Stelle,  die  einst  eine  Menschenbrust  war, 
unverletzt  erhalten  waren,  bewiesen  es:  die  Leiche 
war  deutsch! 

„Haaalt!"  schrie  der  Generalissimus:  „Ein  Fehler 
im  Plan!  Alles  muß  umgeorgelt  werden!" 

Die  Fürsten  und  Prinzen  sahen  gleichfalls  deutsche 
Leichen  und  sie  beschlossen,  angesichts  solchen  durch 
die  Vorsehung  an  ihnen  verübten  Verrats  die  Führung 
niederzulegen. 

Die  Industrieherren,  die  Parlamentarier,  die  Aktio- 
näre, die  Parteiführer,  die  Professoren  der  Giftgase  er- 
kannten die  Notwendigkeit,  sich  dem  Vaterlande  zu 
erhalten. 

Die  Preßdichter  warfen  sich  verzweifelt  auf  die  Ur- 
schriften der  Vorabends  hergestellten  Siegestelegramme 


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211 


die  sie  bereits  abgeschickt  hatten.  Aber  meilenweit 
sah  man  immer  mehr  Leichen,  die  deutsch  waren. 

Im  letzten  Augenblick  schrie  noch  einer:  er  nehme 
die  Kriegserklärung  zurück.  Aber  niemand  hörte  das 
Angebot. 

Der  Generalquartiermeister  wütete:  Es  muß  sich 
ein  Schreibfehler  in  den  Plan  eingeschlichen  haben! 
Dann  sah  man  auch  ihn  meilenweit  still  und  deutsch. 
So  endigte  die  letzte  Offensive  und  der  letzte  Krieg. 

[Juni  191 8]. 

Ich  habe  es  nicht  gewollt!  Ein  Mann  schlief 
mit  einem  Weibe.  Es  bekam  ein  Kind.  Der  Mann 
sollte  Alimente  zahlen.  Er  weigerte  sich.  Er  leug- 
nete nicht,  daß  er  mit  dem  Weibe  gespielt  hätte; 
aber  andere  seien  in  der  gleichen  Lage  mit  demselben 
Weibe  betroffen  worden.  Vor  allem  aber  schwor  erf 
ich  habe  es  nicht  gewollt  —  das  Kind  nämlich. 

Der  Richter  verurteilte  ihn  zu  den  Alimenten  und 
außerdem  —  wegen  versuchter  Empfängnisverhinde- 
rung im  Komplott  mit  anderen  —  zu  lebenslänglichem 
Zuchthaus,  sowie  zur  Adoption  des  Kindes,  das  eine 
kretinistische  Mißgeburt  war. 

X.  Kultur  mit  Wasserspülung.  Ein  Gewerk- 
schafter schrieb  im  ersten  Kriegsjahr:  „Wir  haben 
das  Ausland  überschätzt.  Jetzt,  wo  ich  es  mit  eigenen 
Augen  gesehen,  weiß  ich,  was  Frankreich  ist.  Der 
Schmutz  ist  unbeschreiblich,  und  weit  und  breit  nicht 
einmal  ein  Klosett  mit  Wasserspülung.  Sollen  wir  uns 
von  solchem  Volke  besiegen  lassen  ?  Weh  uns,  wenn  ein 
solcher  Feind  über  den  Rhein  käme!  Aber  weil  wir 
immer  nur  unsere  eigenen  Fehler  hervorgehoben  und 
übertrieben,  das  Ausland  dagegen  verherrlicht  haben, 
darum  bildete  man  sich  in  der  Welt  ein,  es  sei  für  uns 
Deutsche  von  Vorteil,  wenn  man  uns  überfiele.  Wir 
deutschen  Arbeiter  werden  dafür  sorgen,  daß  siekeine 

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Gelegenheit  erhalten  werden,  uns  mit  ihrer  Sorte  von 
Kultur  zu  beglücken." 

Ich  erkundigte  mich  nach  dem  Schreiber.  Und  als 
er  später  einmal  auf  Urlaub  nach  Berlin  kam,  nahm  ich 
ihn  mit  zu  Kempinski.  Ich  führte  ihn  in  die  unter- 
irdischen Lokalitäten  —  dorthin,  wo  selbst  in  Kriegs- 
zeiten noch  die  Wasserspülung  reichlich  funktioniert, 
wenn  auch  die  Handtücher  aus  umgearbeiteten  Vossi- 
schen gewebt  sind.  Der  Gewerkschafter  war  vor  Wonne 
geneigt,  Abführmittel  zu  gebrauchen,  nur  um  jede  der 
marmornen  Kabinen  ausprobieren  zu  können.  Er  war 
in  der  langen  Zeit  der  Fremde  kulturverhungert  und 
äußerte:  Jetzt  fühlt  man  sich  doch  wieder  als  Mensch! 

Darauf  beschloß  er,  der  Vaterlandspartei  beizutreten 
und  ein  huldigendes  Treuegelöbnis  telegraphisch  an 
Hindenburg  zu  schicken.  Er  wollte  unter  allen  Um- 
ständen verhindern,  daß  die  Franzosen  nach  Berlin 
kämen  und  bei  Kempinski  die  Wasserspülung  ab- 
schraubten. 

[15.  6.  1918.] 

Die  Schule  des  Fliegens.  Ein  Mann  ging 
einsam  auf  dem  geschlossenen  Hofe,  immer  rundum. 
Auf  den  Betonplatten  hallten  seine  Schritte.  Ringsum 
sah  er  graue  Mauern,  die  aus  vielen  kleinen,  eisern  ver- 
gitterten Fenstern  böse  und  drohend  auf  ihn  herab- 
blickten. Da  flog  ein  großer  Schatten  über  den  grell 
besonnten  Boden;  wie  von  einem  mächtigen  Adler. 
Als  er  aber  emporblickte,  gewahrte  er,  daß  es  zwei 
ganz  kleine  Vögel  waren,  die  hintereinander  im  Hofe 
flogen.  Der  Mann  verstand  sich  nicht  sonderlich  auf 
Vogelkunde:  so  war  er  entschlossen,  die  beiden  kleinen 
Vögel  für  ein  Meisenpärchen  zu  halten,  weil  es  we- 
der Spatzen  noch  Schwalben,  noch  Amseln  waren,  die 
er  kannte.  Dankbar  sah  er  ihrem  Spiele  zu.  Es  war 
Frühling,  und  die  beiden  Vögel  flatterten  lustig  im 
Spiel  der  Liebe.  Das  Männchen  flog  von  der  Gefähr- 

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tin  weg,  als  ob  es  ihr  entwischen  wollte,  ließ  sich  aber 
bald  auf  einer  der  vielen  Eisenstangen  nieder  und  pfiff 
—  schon  saß  das  Weibchen  eng  neben  ihm.  Dann 
machte  sich  das  Weibchen  auf  und  davon,  doch  nicht 
für  lange,  an  einem  benachbarten  Gitter  fanden  sie 
sich  wieder. 

Der  Mann  sprach  zu  ihnen :  „Dumme  Vögel,  mußtet 
ihr  euer  Nest  zwischen  diesen  öden  Steinmauern  des 
Schreckens  bauen  ?"  —  Denn  sie  hatten  ihr  Nest  unter 
der  Dachrinne  in  einer  Ecke  des  Hofes  angehängt. 

Da  flog  der  Gatte  an  eines  der  Fenster  ganz  unten 
und  die  Gespielin  folgte  ihm  auf  die  gleiche  Eisenstange. 
Und  beide  äugten  nach  dem  Mann,  der  also  gesprochen 
und  seinen  Rundgang  unterbrechend  stehen  blieb,  um 
ein  Gespräch  anzubandeln.  Seit  vielen  Monaten  ja 
mußte  er  schweigen. 

„Pfch!  Pfch!"  sagte  der  junge  Vogelherr.  „Du 
großes,  schweres,  häßliches  Tier,  du  bist  gewiß  das 
gute  Geschöpf,  das  alle  diese  Eisenstangen  für  uns  an- 
gebracht hat,  damit  wir  überall  einen  Sitz  hätten,  wo 
wir  beide  miteinander  schnäbeln  können?"  Und  er 
zeigte,  zur  Beweisführung  seiner  Meinung,  wie  man 
das  macht.  Die  Meisin  bestätigte  darauf  anmutig 
und  glücklich  die  Ansicht  des  Ehegatten.  Dann  flatter- 
ten beide  zum  nächsten  Fenster  und  dort  gab  das 
Männchen  dem  Rundgänger  noch  eine  Schlußbetrach- 
tung auf  den  Weg:  „Pfch!  Pfch!  Niiiicht?  Die  Welt 
ist  doch  schön  und  gut  und  zweckmäßig!  Wir  nennen 
aber  auch  diesen  Hof  das  Paradies  der  tausend 
Liebesgötter!  Pfiiielen  Dank!" 

Der  Sommer  kam.  Der  Mann  ging  immer  noch  auf 
dem  Hofe,  rundum.  Im  Neste  unter  der  Dachrinne 
piepste  es  jetzt  mehrstimmig  Und  siehe!  da  flog  nun 
ein  Meisenbübchen  im  Hof.  Es  war  noch  recht  ängst- 
lich, als  ob  es  wüßte,  daß  es  schwerer  sei  als  die  Luft 
und  nach  dem  Naturgesetz  fallen  müßte,  wie  ein  Stein 
oder  wie  das  Schwesterchen,  das  neulich  beim  Gewitter- 

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sturmregen  aus  dem  Nest  gespült  ward  und  auf  dem 
Boden  zerschellte.  Doch  die  Mama  paßte  auf,  flog 
in  großen  Bögen  um  das  schwerfällig  auf  und  ab 
tauchende  Junge,  und  strengte  die  Kehle  gewaltig  an, 
um  recht  merkbare  und  erzieherische  Schreck-,  Warn- 
und  Wegweislaute  herauszubringen.  Der  Kleine  flog 
immer  nur  eine  kurze  Strecke  und  dann  flüchtete  er 
sich  auf  eine  Stange  und  wollte  gar  nicht  mehr  recht 
fort,  bis  er  sich  schließlich  doch,  unter  den  energischen 
Ermunterungen  der  alten  Meisin,  wieder  in  die  ge- 
fährlich freie  Luft  hinauswagte  und  zum  nächsten 
Gitter  hupfte. 

Die  Meisin  saß  besorgt  und  stolz  in  der  Nähe. 

Der  Menschenmann  sprach  zu  ihr:  „Ist  das  nicht 
töricht,  daß  ihr  eure  Kinder  in  diesen  Ort  der  Unfreiheit 
verbannt  ?" 

Da  antwortete  die  Vogelmutter,  die  die  Menschen- 
sprache so  verstand,  wie  sie  wollte:  „Ja,  ja!  Mein 
Mann  hatte  recht!  Pfchch!  Er  fliegt  draußen,  um 
Räupchen  fürs  Nest  zu  holen.  Sonst  würde  er  persön- 
lich Ihnen  seinen  Dank  aussprechen.  Pfch!  Ein  wahrer 
Segen,  daß  Sie  die  vielen  Stangen  hier  gebaut  haben. 
Sonst  würden  sich  unsere  Kleinen  ängstigen,  sich  gar 
nicht  in  die  Luft  hinaustrauen  und  niemals  fliegen 
lernen.  Sie  haben  gewiß  viele  Arbeit  damit  gehabt. 
Ja,  ja!  Pfchchch!  Die  Welt  ist  schön  und  gut  und 
'  zweckmäßig.  Wissen  Sie,  wie  wir  den  Hof  nennen  ? 
Die  Schule  des  Fliegens!"  .  .  . 

Hinter  den  vergitterten  Fenstern  aber  hockten 
stumm  und  dumpf  hundertundfünfzig  Menschen, 
dachten  hungrig  an  die  nächste  „Kost"  —  die  Abend- 
suppe —  und  grübelten,  wieviel  ihres  Daseins  die  Rich- 
ter ihnen  wohl  rauben  würden,  diese  gesetzlichen  Ein- 
brecher ins  Leben :  neun  Monate,  zwei,  acht,  fünfzehn 
Jahre  ?  Oder  bis  zum  Tode  ?  Einige  hatten  auch  dar- 
über nachzusinnen,  ob  ihnen  wohl  der  Kopf  abgehackt 
werden  würde.   Der  Schlimmste  aber  war  der  Mann, 

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der  allein  im  Hofe  ging.  Der  hatte  versucht,  fest- 
zustellen, ob  die  Welt  nicht  doch  schön  und  gut  und 
zweckmäßig  wäre  und  hatte  die  Seelen  fliegen  lehren 
wollen  —  über  alle  eisernen  Gitter  und  engen  Höfe 
hinaus.  Da  hatte  man  ihn  fern  von  der  Geliebten  in 
dem  Paradies  der  tausend  Liebesgitter  eingesperrt, 
und  weil  er  nach  Freiheit  begehrt,  saß  er  —  dringend 
verdächtig  —  nun  fest  in  der  Schule  des  Fliegens. 

[17.  Juni  1918.] 

Das  Kriegsziel.  Kellner,  Kinder  und  Könige 
werden  bei  den  Vornamen  gerufen.  Heinrich  —  oder, 
ich  weiß  nicht  —  Emil  war  zwar  kein  König,  aber 
der  Sohn  —  oder,  ich  weiß  nicht  —  der  Neffe  eines 
Königs  (ich  habe  keine  Begabung  für  Verwandtschafts- 
verhältnisse). Jedenfalls  gehörte  er  zur  Dynastie, 
und  die  Familienangehörigen  genießen  auch  das  Recht 
auf  den  rufenden  Vornamen. 

Dieser  Heinrich  oder  Emil,  dieser  Königssohn  oder 
Königsneffe  zog  gleich  zu  Beginn  des  Krieges  hinaus. 
Vorher  aber  machte  er  sein  Testament.  Das  bestand 
aus  vielen,  vielen  Artikeln.  So  viele  gehörten  dazu, 
um  über  seine  Habe  zu  verfügen.  Es  ist  aber  auch  aus 
dieser  Vorsorge  zu  ersehen,  daß  er  nicht  an  eine  soziale 
Revolution  glaubte!  Nachdem  er  also  über  seine  ma- 
teriellen Güter  verfügt,  empfand  er  das  Bedürfnis, 
auch  seine  Ideale  zu  vermachen.  Und  er  schrieb: 
Wenn  der  Krieg  zur  Wiederherstellung  des  Königs- 
hauses der  Orleans  führen  wird,  so  soll  zur  Krönungs- 
feier ein  Strauß  weißer  Lilien  mit  blau-weißem  Seiden- 
bande in  meinem  Namen  überreicht  werden.  Heinrich 
oder  Emil  war  nämlich  mit  den  Orleans  verwandt.  Er 
hatte  Familiensinn. 

Heinrich  oder  Emil  ist  wirklich  im  Kriege  verun- 
glückt. Das  Vermächtnis  seiner  irdischen  Güter  ist 
in  Kraft  getreten,  aber  das  seiner  Ideale  harrt  immer 
noch  der  Voraussetzung  seiner  Erfüllung    Er  ist  um- 

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sonst  gefallen,  wenn  der  Krieg  nicht  so  lange  geführt 
wird,  bis  er  in  seinem  tiefsten  Sinn  und  seiner  letzten 
Ursache  vollendet  ist.  Dieser  Prinz  wußte,  daß  es  ein 
Ringen  um  ideale  weiße  Lilien  ist . .  . 

Es  wird  Leute  geben,  die  behaupten,  daß  dies  kein 
Märchen  sei. 

Verlustliste.  Ums  Jahr  iooo  nach  Gründung 
des  Völkerbundes  wollte  ein  Gelehrter,  der  sich  mit 
Prähistorie  befaßte,  die  Sage  des  großen  Krieges  schrei- 
ben. Das  war  eine  schwere  Arbeit,  weniger  deshalb, 
weil  das  Welt-Museum  des  Krieges  nebst  Bibliothek  — 
das  in  Jerusalem  erbaut  war  —  ein  ganzes  Stadtviertel 
einnahm,  sondern  weil  die  Veröffentlichungen  der 
letzten  Kriegsjahre  nur  unter  Anwendung  chemischer 
Reagentien  teilweise  lesbar  gemacht  werden  konnten. 
Das  Papier  war  zerfallen  und  gedunkelt,  die  Druck- 
farbe erloschen.  So  konnte  der  Forscher  auf  einem 
Zeitungsblatt  nur  noch  zwei  Zeilen  entziffern:  „Ver- 
kohlte Leiche.  Bei  Auffindung  glaubte  man  Halsbinde 
zu  sehen.  Reste  von  Papierwäsche  gefunden." 

Der  Gelehrte  dachte  lange  nach.  Dann  schrieb  er: 
In  den  letzten  Jahren  des  Krieges  war  jeder  Bürger 
Soldat.  Es  gab  keine  Uniformen  mehr.  Man  ging  an 
die  Front,  wie  ins  Geschäft,  ins  Amt  oder  ins  Theater. 
Jeder  wurde  in  seiner  häuslichen  Kleidung,  die  nur 
noch  aus  Papier  zusammengeklebt  war,  in  das  Gemetzel 
getrieben.  In  den  Verlustlisten  wurde  dann  angegeben, 
was  man  an  Resten  der  Bekleidungsstücke  vorgefunden, 
damit  die  Angehörigen  sich  melden  konnten,  offen- 
bar um  diese  Überbleibsel  für  die  Familie  zu  verwenden. 
Es  ergab  sich  in  dieser  unbegreiflich  schauervollen 
Schlußzeit  der  menschlichen  Vorgeschichte,  daß  Papier- 
wäsche sich  gegen  die  militärischen  Vernichtungs- 
mittel wiederstandsfähiger  zeigte  als  der  Menschenleib. 

Ein  Gegner  des  Gelehrten  meinte  zwar,  es  handle 
sich  in  jenen  Zeilen  wohl  um  das  unbekannte  Opfer 


217 


eines  Eisenbahnunglücks.  Aber  alles,  was  man  sonst 
über  den  Krieg  ermittelt  hatte,  deutete  darauf  hin, 
daß  es  in  der  Tat  die  Aufzeichnungen  einer  Kriegs- 
verlustliste war. 

14.  August  191 8.] 

Der  Lebenshaß.  Der  große  Feldherr  war  auch 
ein  großer  Christ.  Darum  haßte  er  dieses  sinnliche 
Leben  des  Jammertales  und  pries  den  Krieg,  der  die 
Geschöpfe  von  der  Last  und  Sünde  des  Lebens  be- 
freite. Darum  zürnte  er  seinem  persönlichen  Schick- 
sal, daß  ihm  zur  Pflicht  machte,  sich  im  Kriege  zu 
schonen,  weit  hinter  der  Front,  um  die  Strategie  des 
Todes  zu  leiten.  Er  pflegte  zu  sagen:  Ich  wünschte, 
ich  wäre  ein  gewöhnlicher  Soldat,  in  der  vordersten 
Linie.  Dann  hätte  ich  Hoffnung,  in  Ehren  zu  sterben. 

Er  hatte  aber  einen  Schüler  und  Gehilfen,  der  gleich 
ihm  das  Leben  haßte  und  der  tüchtigste  Tanzmeister 
des  Todes  war.  Der  befaßte  sich  in  seinen  Mußestunden 
mit  allerlei  Teufelskünsten.  Es  drängte  ihn,  ein  Gift- 
gas zu  erfinden,  das  nicht  nur  die  Schutzmasken  zer- 
störte, sondern  auch  jeden  Menschen,  jedes  Tier, 
Bäume,  Pflanzen,  selbst  Erde  und  Steine,  die  es  träfe, 
sofort  selbst  in  ein  Giftgas  auflöste,  also,  daß  eine  ein- 
zige Bombe  automatisch  ihre  Kraft  ins  Unendliche 
sich  zu  vervielfältigen  vermöchte.  Die  Vorsehung 
fügte  es  jedoch,  daß  er  ganz  etwas  anderes  erfand. 

Der  große  Feldherr  hatte  gerade  bescheiden  aus- 
reichend zu  Mittag  gegessen  und  lag  behaglich-düster, 
mit  einer  gewissen  schmunzelnden  Verzweiflung  auf 
dem  Ruhebett,  während  draußen  die  Schlacht  nach 
seinem  genialen  Plane  ihren  Fortgang  nahm.  Eben 
wollte  er  aus  diesem  Verdauungsdämmer  in  einen  ge- 
diegenen Schlaf  übergehen  —  der  pflegte  sich  an- 
zukündigen, indem  seine  tiefen  Gedanken  über  Durch- 
bruch, Umfassung  und  innere  Linie  in  merkwürdiger 
Verschlingung  unbemerkt  einen  sowohl  elastischen  wie 

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strategischen  Rückzug  antraten  —  da  stürzte  sein 
Schüler  und  Gehilfe  mit  rotem  Kopf  erregt  in  das 
Zimmer  und  konnte  nichts  sagen  als :  Wehe,  o  göttlicher 
Meister! 

Der  göttliche  Meister  gab  ihm  ein  Glas  Friedens- 
burgunder, das  er  hastig  leerte,  und  eine  Zigarette,  die 
er  anzündete.  Da  wurde  er  ruhiger  und  vermochte 
zu  berichten,  was  ihm  geschehen. 

O  Meister,  sprach  er,  ich  habe  eine  grauenhafte  Ent- 
deckung gemacht.  Wehe  mir  Sünder  und  Antichrist! 
Ich  habe  den  Saft  gefunden,  der  ewiges  Leben  verleiht. 

Damit  holte  er  ein  Fläschchen  hervor,  in  dem  es 
wie  flüssiges  Gold  leuchtete. 

Der  große  Feldherr  aber  brauste  zornig  auf  und  rief : 
Und  du  Unglückseliger  hast  dein  Werk  nicht  vernichtet, 
hast  am  Ende  selbst  von  dem  verruchten  Saft  gekostet  ? 

Daß  mich  die  Hölle  behüte,  sprach  der  andere,  ich 
habe  nicht  die  Absicht,  mein  elend-heldenhaftes  Da- 
sein zu  verlängern.  Aber  seltsam,  als  ich  den  Saft  ver- 
nichten wollte,  wurde  ich  feig  und  fragte  mich,  ob  es 
neileicht  nicht  doch  Menschen  geben  möchte,  die 
Freude  am  Dasein  hätten  und  gern  ewig  leben  wollten. 

Der  verräterische  Wille  der  verblendeten  Sinnlich- 
keit, warf  der  Feldherr  empört  dazwischen,  und  den 
willst  du  unterstützen,  du,  mein  Schüler!  Und  was 
sollten  wir  dann  anfangen !  Wir  würden  ebenso  über- 
flüssig, wie  der  Krieg,  der  unser  Beruf,  wenn  niemand 
mehr  stirbt.  Ein  Krieg  ohne  Tote,  ein  Feldherr  ohne 
Krieg!  —  gibt  es  so  Sinnloses? 

Der  Gehilfe  erwiderte,  eingeschüchtert:  Das  war 
nun  einmal  meine  Schwäche.  Mir  war,  als  sollte  ich 
einen  Mord  —  einen  Mord  im  Sinne  des  Strafgesetz- 
buches —  begehen,  als  ich  den  Saft  ins  Feuer  gießen 
wollte.  Vollführe  du  das  Werk,  o  Meister,  und  zerstöre 
den  Trank,  daß  Unheil  verhütet  werde.  Ein  Tropfen 
—  schauderhaft!  —  genügt,  um  ewiges  Leben  anzu- 
zünden. 

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Der  große  Feldherr  war  schon  besänftigt  und  ver- 
sprach, rasch  und  gewissenhaft  das  Fläschchen  un- 
schädlich zu  machen.  Aber,  meinte  er,  du  wirst  von 
neuem  den  Saft  herstellen  —  in  deinem  Fürwitz. 

Wie  sollte  ich  das  vermögen  ?  antwortete  der  Jünger. 
Nur  alle  hundert  Jahre  ereignet  sich  die  Stellung  der 
Gestirne,  die  notwendig  ist,  um  den  Saft  zu  erzeugen 
Und  da  ich  nicht  von  ihm  trank,  nehme  ich  das  Ge- 
heimnis in  den  Tod. 

Das  ist  gut,  ganz  ausgezeichnet,  rief  der  Feldherr, 
wieder  gleichmütig  und  schlafselig  in  seiner  blühenden 
Gesundheit  geworden,  gib  das  Fläschchen,  ich  will's 
ins  tiefste  Meer  versenken. 

Der  Gehilfe  gab  es  und  ging  erleichtert  von  dannen. 

Zehn  Tage  darauf  aber  geschah  es,  daß  feindliche 
Flieger  das  Schloß  des  großen  Feldherrn  angriffen. 
Der  lief  eilig,  pflicht-  und  instruktionsgemäß,  in  den 
Weinkeller,  doch  auf  der  obersten  Stufe  erwischte  ihn 
noch  ein  Splitter  und  verwundete  ihn  schwer.  Noch 
lebend  zwar  wurde  er  ins  Lazarett  getragen. 

Sei  fröhlich,  sprach  der  Arzt,  du  wirst  bald  von  der 
Trübsalbürde  des  Lebens  erlöst  sein. 

Endlich,  jauchzte  der  Verwundete  und  wurde  ge- 
spensterhaft fahl . .  . 

Der  große  Feldherr  atmete  den  letzten  Hauch  aus. 
Sein  Antlitz  aber  war  nicht  friedlich  und  ganz  und  gar 
nicht  selig,  sondern  wie  von  einer  geheimen  Wut  ver- 
stört, die  er  mit  hinübergenommen. 

Neben  seinem  Lager  befand  sich  auf  dem  Tisch  ein 
leeres  Fläschchen  nebst  einem  Zettel.  Der  trug  als 
Aufschrift,  mit  sterbender  Hand  mühsam  gekritzelt, 
den  Namen  des  Schülers  und  Gehilfen.  Darunter  aber 
stand  nur  ein  Wort: 

Betrüger! 

[24.  August  1918.] 


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Marx-Feier. 


Karl  Marx.  Geschichte  seines  Lebens,  von  Franz  Mehring. 
XII  und  544  S.   Leipzig  1918.    Druck  und  Verlag  der 
Leipziger  Buchdruckerei  Aktiengesellschaft. 

I. 

An  den  Gedenktagen  der  geistigen  Führer,  die  im 
klassischen  Zeitalter  die  Befreiung  des  deutschen 
Bürgertums  kündeten,  pflegte  die  sozialdemokratische 
Presse  zu  höhnen,  daß  die  heutige  Bourgeoisie,  frierend 
in  der  armseligen  Öde  ihres  seelischen  Daseins  einen 
zugleich  frechen  und  lächerlichen  Götzendienst  mit 
den  Heroen  treibe,  von  deren  Wesen  sie  keinen  Hauch 
verspürt  hätte  und  die  sie  erst  zu  kümmerlichen  Zwerg- 
fratzen verkrüppeln  müßte,  um  nicht  von  der  wahr- 
haften Größe  erschreckt  und  erschlagen  zu  werden. 
Wir  unternahmen  es  dann,  das  Bild  ihres  geistigen 
Lebens  und  Wirkens  zu  entwerfen,  und  nannten  uns 
stolz  ihre  Erben. 

Jetzt  aber  kam  der  Tag,  da  wir  dem  Denker  unsers 
eigenen  Blutes,  dem  deutschen  kämpfenden  Genius 
des  internationalen  Proletariats  an  dem  Jahrhundert- 
tage seiner  Geburt  huldigen  konnten  und  man  — 
wiederholte  in  läppisch  stümpernder  Nachahmung 
jene  bürgerlichen  Jubiläumsposen :  eine  sozial-national- 
liberale Partei,  die  sich  würdeloser  und  dümmer  von 
der  Sozialdemokratie  losgelöst  hatte,  als  einst  die  deut- 
schen Liberalen  von  der  Demokratie,  feierte  Karl 
Marx,  der  wahrlich  nicht  in  seinen  finsteren  Stunden 
9ich  das  Schicksal  vermutet  hätte,  hundert  Jahre  nach 
seiner  Geburt  in  Anspruch  genommen  zu  werden  von 
einer  Partei  seines  Heimatlandes,  die  nach  dem  Sieg 


221 


der  russischen  Revolution,  nach  dem  ersten  Versuch, 
den  Großgrundbesitz  zu  sozialisieren  und  Marx  zu 
verwirklichen,  keine  größere  Sorge  hatte,  als  durch 
taktische  Gerissenheit  sich  in  dem  Lager  von  Regie- 
rungspart ien  behaupten  zu  dürfen,  die  einen  un ver- 
hüllt konterrevolutionären  Krieg  führten.  Er  hätte 
sich  unter  dem  Albdruck  nicht  träumen  lassen,  daß 
ihn  dereinst  Parteiführer  als  ihren  Meister  ansprechen 
würden,  die  —  um  mit  ihm  zu  reden  —  das  Mundstück 
für  all  die  tapferen  Worte  sind,  die  man  ruft,  wenn 
man  davonläuft,  deren  ganze  Lebenskraft  günstigsten- 
falls in  die  —  gespaltene  —  Zunge  geflüchtet  ist.  Aber 
er  wurde  gefeiert,  mit  Schriften,  Artikeln,  Zitaten,  Re- 
den, von  Leuten,  die  alle  Begriffe  der  Demokratie  und 
des  Sozialismus  zu  demagogischen  Schlagworten  ernie- 
drigen, die  die  Internationalität  mißbrauchten :  von  den 
Handlungen  einzelner,  die  unter  zärtlicher  Berufung  auf 
die  sozialistische  Kameradschaft  Sozialisten  des  feind- 
lichen Auslands  für  Zwecke  der  deutschen  Kriegsfüh- 
rung zu  gewinnen  unternahmen,  bis  zu  den  allgemeinen 
parteiamtlichen  Kundgebungen  internationaler  Ge- 
sinnung, hinter  denen  keine  ernstliche  Absicht  steckte, 
es  sei  denn  die,  draußen  kriegsgegnerische  Taten  zu 
erzeugen,  die  bei  ihnen  selbst  auch  nur  als  leere  Stim- 
mung zu  verhüten  sie  alles  aufboten.  Diese  Marxanbeter 
haben  es  zuwege  gebracht,  daß  das  bedeutendste  Organ 
der  französischen  Bourgeoisie  im  Kampfe  gegen  eine 
Marx- Feier  in  Frankreich,  der  Temps,  Marx  den  per- 
fidesten und  gefährlichsten  aller  Deutschen  nennen 
durfte;  denn  es  sei  der  erste  und  glühendste  jener  So- 
zialdemokraten gewesen,  die  „dem  Imperialismus 
jenseits  des  Rheins  auf  allen  Gebieten  gedient,  die 
europäische  Umfassung  des  Militarismus  begünstigt 
haben,  indem  sie  systematisch  die  revolutionäre  Gefahr 
in  allen  Ländern  hervorriefen,  mit  denen  Deutsch- 
land sich  eines  Tages  in  Konflikt  befinden  konnte, 
während  sie  sorgfältig  dieselbe  Gefahr  von  ihrem  eige- 

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nen  Vaterland  fernhielten."  Das  war  zwar  der  Aberwitz 
einer  in  künstlicher  Bosheit  gesteigerten  Unwissenheit, 
und  die  Denunziation  hat  auch  die  französischen  So- 
zialisten nicht  gehindert,  ihre  Dankbarkeit  für  den 
Deutschen  Karl  Marx  zu  bekennen,  mitten  im  grauen- 
haftesten und  drohendsten  Anprall  des  Krieges;  aber 
nur  die  Erniedrigung  jener  deutschen  Partei  hat  es 
möglich  gemacht,  daß  derartige  Äußerungen  nicht 
im  allgemeinen  Gelächter  sich  ducken  mußten. 

Solche  Entwicklung  des  deutschen  Sozialismus  ist 
nicht  die  Wirkung  marxistischer  Lehren,  sie  hat  viel- 
mehr nur  an  den  Tag  gebracht,  daß  Marx  im  deutschen 
Proletariat,  zumal  in  seinen  Führer-Epigonen,  nicht 
wahrhaft  lebendig  geworden  ist.  Wir  sehen  heute  klar, 
daß  es  wesentlich  die  Schulung  durch  eine  allmählich 
sich  entseelende  ungeheuer  aufgedunsene  Organisation 
gewesen  ist,  deren  verhängnisvolle  Wirkungen  wir 
jetzt  schaudernd  erleiden:  Eine  Partei,  die  sich  revo- 
lutionär nennt  und  doch  in  ihrer  Leitung  und  Politik 
—  bei  aller  betriebsamen  Tüchtigkeit,  fleißigen  Ge- 
wissenhaftigkeit und  erfolgreichen  Geschäftsgewandt- 
heit —  ein  ängstlich  kleinbürgerliches  Philistergebilde 
geworden  ist,  die  jede  Tugend  haben  mag,  nur  gerade 
die  nicht,  die  der  Inbegriff  von  Karl  Marx  ist :  heroische 
Genialität.  Indem  sich  die  deutsche  Sozialdemokratie 
jene  politische  Organisation  gab,  deren  publizistische, 
finanzielle  und  wahltechnische  Leistungsfähigkeit  die 
Bewunderung  der  Welt  erregte,  ward  sie  unbewußt 
mehr  und  mehr  eine  bis  zur  Komik  getreue  Volksaus- 
gabe des  Staats,  in  dem  sie  lebt,  nur  daß  ihr  gerade  die 
Kraft  fehlte,  die  dem  herrschenden  Staat  die  Macht 
erhielt:  die  militärische  Exekutive.  Zudem  wurde 
die  Organisation  die  Laufbahn  fähiger  Proletarier,  in 
die  sie  aus  dem  Elend  der  körperlichen  Lohnarbeit  sich 
retten  konnten,  die  einzige  Zuflucht  für  alle  jene  uner- 
meßlichen gebundenen  Kräfte,  für  die  ein  Staatswesen 
ohne  jede  demokratische  Auslese  nicht  einmal  ausnahms- 

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weise  für  sich  selbst  Verwendung  hat.  Das  ist  das  Ge- 
heimnis der  äußeren  organischen  Größe  der  deutschen 
Partei,  die  alle  Kräfte  des  Proletariats  für  sich  ver- 
brauchen konnte,  aber  diese  Gunst  schließt  auch  die 
Ursache  des  inneren  Verfalls  in  sich :  die  kleinbürgerlich 
gesicherte  Existenz  wurde  unbewußt  Ideal,  Ziel  und 
Bedingung  aller  politischen  Erwägungen.  Es  war  keine 
Partei  mehr,  die  —  mit  geschäftlichen  und  Existenz- 
rücksichten belastet  —  Welterschütterungen  gewachsen 
war,  und  die  zusammenbrach  in  der  ersten  großen 
Katastrophe,  einem  jener  Erdbeben,  in  denen  Karl 
Marx,  bei  allem  menschlichen  Entsetzen,  doch,  trot- 
zig aufatmend,  nur  die  Gelegenheit  erblickt  hätte, 
im  brausenden  Chaos  die  geschichtliche  Mission  des 
Proletariats  zu  erfüllen. 

Und  die  jene  Mission  verrieten  und  zu  vernichten 
trachteten,  feierten  Karl  Marx! 

So  war  es  fast  eine  gnädige  Fügung,  daß  wir  Franz 
Mehrings  Marx-Werk  nicht  zu  dem  Gedenktag, 
wie  geplant,  empfangen  konnten,  sondern  daß  der 
beschämende  Feierlärm  inzwischen  vorübergegangen 
ist.  Jetzt  dürfen  wir,  unbeirrt  durch  äußeren  zufälligen 
Anlaß,  uns  des  Clara  Zetkin  als  der  „Erbin  marxisti- 
schen Geistes"  gewidmeten  Buches  freuen,  in  dem  das 
Leben  von  Karl  Marx  in  seiner  erhabenen  Tragik  auf- 
ersteht, und  eine  neue  größere  Generation  des  deut- 
schen Proletariats  nicht  nur  den  sicheren  Führer  zu 
den  Gedanken  und  Schriften,  den  Kämpfen  und  Taten 
des  Meisters,  sondern  auch  den  sicheren  Weg  zu  sich 
selbst  finden  wird. 

Marx'  geistiges  Lebenswerk  war,  die  Entdeckung  des 
Menschen,  die  die  Revolution  des  18.  Jahrhunderts 
geleistet  hat,  zu  vertiefen,  zu  erklären,  zu  festigen,  zu 
realisieren.  Er  zeigt,  wie  die  Menschen,  die  Masse 
der  leidenden,  besitzlosen  Menschen,  sich  selbst  zu 
entdecken,  zu  vermenschlichen  vermöchten.  Er  scheucht 
die  Köpfe  und  die  Willen  aus  der  Selbstmystifizierung 

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verworrener  und  verrucht  diktatorischer  Begriffe.  Frei- 
heit, die  ganze  Freiheit,  die  soziale  Freiheit  wird  wissen- 
schaftliche Notwendigkeit.  Geschichte  ist  ihm  das 
Gesamtleben  der  wirklichen  Menschen  in  all  ihren 
in  gesetzlicher  Einheit  erfaßten  tatsächlichen  Bezie- 
hungen und  Bedingungen.  Wie  Marx  das  Leben  der 
Menschen  unter  der  erstickenden  Decke  gauklerischer 
Ideologie  hervorgeholt  hat,  so  gilt  es  heute,  sein  Werk 
zu  gewinnen,  indem  wir  den  Menschen  erleben. 
Diese  Aufgabe  hat  Mehring  sich  gestellt  und  in  der 
ruhigen  Bewegtheit  und  erfüllten  Klarheit  seines  Stils 
vollendet.  Sich  dieses  Lebens  tätig  ganz  bewußt  zu 
werden,  das  heißt,  für  das  Proletariat  aus  einem  or- 
ganisierten Automaten  zu  einem  bewußt  wollenden 
lebendigen  Organismus  werden. 

II. 

Sternenfern  ist  die  Persönlichkeit  des  Karl  Marx, 
wie  ihn  Mehring  nacherlebt,  den  Figuren,  die  heute 
behaupten,  seines  Geistes  voll  zu  sein.  Welch  un- 
begreiflich unpraktisches  Leben,  dem  so  ganz  die  kühle 
Nüchternheit  vernünftiger  Gesinnungslosigkeit  fehlt, 
in  dem  sogar  die  revolutionäre  Leidenschaft  nicht  nur 
ein  wildes  Fieber  der  Pubertät  ist  —  was  das  erfahrene 
Alter  mit  belustigter  Herablassung  schließlich  als 
muntere  Jugendsünde  zu  entschuldigen  bereit  ist  — , 
sondern  im  Gegenteil  aus  jedem  neu  reifenden  Jahr- 
zehnt stärkere  Nahrung  und  Kraft  zieht.  Ein  Jüngling, 
von  der  Natur  verschwenderisch  ausgestattet  mit  allen 
Gaben  des  Körpers  und  Geistes,  ein  Sonntagskind  des 
Märchens.  Sorglos,  ungehemmt,  in  glücklichen  Fa- 
milienverhältnissen aufwachsend,  darf  er  mit  frei  sich 
dehnender  Lunge  alle  geistige  Luft  der  menschlichen 
Kulturen  einsaugen.  Nichts  verkümmert  seine  Ent- 
wicklung. Das  meistumschwärmte,  schönste  Mädchen 
der  Stadt,  aus  vornehmer  Familie,  wird  dem  Studenten 
schon  die  verheißene  Gefährtin  seines  Daseins.  Seit 


15    EiiDir,  Gesammelte  Schriften.  I. 


225 


frühen  Jahren  ist  er  ein  Menschenbezwinger;  ihm  eignet 
die  Fähigkeit,  die  Hegel  die  magische  Kraft  der 
Seele  nennt.  Er  hat  eine  ebenso  unbändige  Arbeitskraft 
wie  Arbeitslust:  er  bewältigt  im  Fluge  das  Schwerste 
sein  Kopf  blüht  von  Entwürfen.  Er  vereint  den  grübeln- 
den peinlichen  Scharfsinn  des  Forschers  mit  der  künst- 
lerisch formenden  Phantasie  des  Dichters.  Er  hat  den 
leichten  funkelnden  Witz,  mit  dem  der  Schriftsteller 
die  Kampfe  des  Tages  behauptet,  und  die  tiefschöpfe- 
rische Größe  des  Denkers,  der  Systeme  aufbaut.  Alle 
Türen  öffnen  sich  ihm.  Jede  Höhe  winkt  ihm,  wie 
im  Fluge  erreichbar.  Überall  zeigen  sich  ihm  die  Pfade 
mühelosen  Aufstiegs. 

Er  aber  folgt  dem  Stern  in  seiner  Brust,  jenem 
Daimonion  des  Sokrates,  das  die  geheimnisvolle  Füh- 
rung des  Genies  übernimmt :  Er  ist  für  immer  Revolu- 
tionär, Verkünder  der  proletarischen  Weltbefreiung. 
So  geht  er,  unbeirrt,  keinen  Augenblick  schwankend, 
diesen  Weg  des  Martyriums,  das  er  nicht  ächzend  be- 
klagt, sondern  faustisch  als  Element  seiner  Größe 
verarbeitet.  Er  scheitert  in  seiner  bürgerlichen  Existenz. 
Er  wird  ins  Exil  gehetzt.  Die  Revolution  bricht  nach 
einem  Frühling  der  Hoffnung  schmählich  zusammen. 
Nun  wird  ihm  die  Verbannung  das  Schicksal  seines 
ganzen  Lebens.  Keine  Not  bleibt  ihm  erspart,  keine 
Hemmung,  kein  Fluch  der  kapitalistischen  Ordnung. 
Er  gleitet  mit  seiner  Familie  bis  an  den  Rand  desPauper- 
Elends,  aus  dem  es  keine  Erhebung  mehr  gibt.  Im 
Hause  herrschen  Schulden,  Hunger,  Krankheiten,  Tod. 
Als  ein  Söhnchen  stirbt,  fehlt  das  Geld  für  seine  Be- 
stattung. Er  flüchtet  sich  vor  den  Gläubigern  und  dem 
Pfänder  in  die  umfriedete  Stille  der  öffentlichen  Biblio- 
thek, in  die  er  sich  vergräbt,  die  ihm  zum  Reich  der 
Freiheit  wird.  Politische  Betätigung,  nach  der  sein 
Herz  verlangt  ?  Ein  leeres,  zänkisches,  eitel  wahnhaftes 
Emigrantentreiben  umlärmt  ihn.  Jahrelang  muß  er 
sich  tatenlos  in  die  Klause  seiner  Studien  zurückziehen. 

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Er  arbeitet  alle  Tage  und  Nächte;  die  Verkürzung  der 
Arbeitszeit,  die  ihm  Anfang  und  Vorbedingung  der 
Befreiung  des  Proletariats  ist,  hat  für  sein  Dasein  keine 
Bedeutung,  wie  das  Geld  nicht  für  den  Enthüller  des 
Kapitals.  Aber  seine  Arbeit  hat  keinen  Markt,  keinen 
materiellen,  kaum  einen  ideellen.  In  seinen  vormärz- 
lichen Exilzeiten  muß  der  Schriftsteller  ahnungslos 
Unterkunft  in  einem  Organ  suchen,  das  von  einem 
Spitzel  ausgehalten  wird;  es  gehört  zur  politischen 
Polizeitechnik,  daß  man  revolutionäre  Zeitungen  und 
Zeitschriften  gründet  oder  unterstützt,  wenn  nicht 
zu  provokatorischen  oder  ablenkenden  Zwecken,  so 
in  der  Absicht,  die  Verschwörer  gegen  Staat  und  Ge- 
sellschaft unter  Kontrolle  zu  haben,  sie  zu  kennen. 
Eine  der  genialsten  Urkunden  politischen  Schrifttums, 
der  achtzehnte  Brumaire,  verdankt  nur  dem  Zufall  die 
Veröffentlichung,  daß  in  Neuyork  ein  namenloser 
Proletarier,  ein  Schneider,  seine  Ersparnisse  für  den 
Druck  hergibt. 

Während  er  für  ein  amerikanisches  Blatt  frondet, 
übler  behandelt  als  ein  Heimarbeiter,  dem  die  geleistete 
und  geforderte  Arbeit  häufig  nicht  abgenommen  wird 
und  ertraglos  bleibt,  muß  er  Zeit  und  Stimmung  in 
ärgerlichen  politisch -literarischen  Fehden  verzetteln. 
Zwar  wird  seine  wirtschaftliche  Lage  besser,  zuletzt 
sorgenfrei.  Aber  bis  zu  seinem  Tode  hat  er  niemals 
eine  selbständige  Existenz  gehabt ;  aus  „eigener  Kraft" 
hat  er  niemals  sich  und  die  Seinen  ernähren  können. 
Ohne  die  Freundschaft  von  Friedrich  Engels,  der  nicht 
nur  seine  Mittel  hergab,  sondern  auch  seine  besten 
Jahre  dem  „hündischen  Kommerz"  opferte,  um  diese 
Mittel  für  den  Freund  zu  beschaffen,  hätte  Marx  nicht 
arbeiten  können;  er  wäre  mit  den  Seinen  jämmerlich 
zugrunde  gegangen.  Aber  selbst  da  sein  Einfluß  zu 
wachsen  beginnt,  da  man  seine  Bedeutung  erkennt, 
welche  Mühe  hat  Marx  auch  dann  noch,  auch  nur  einen 
Verleger,  Drucker  für  seine  Arbeiten  zu  gewinnen. 


'5 


Meist  in  geringen  Auflagen  erschienen,  fanden  sie 
noch  weniger  Abnehmer.  Seine  Freunde  müssen  sich 
mit  rührend  aufdringlichem  Eifer  bemühen,  daß  seinen 
Werken  irgendein  bescheidenes  Echo  in  der  Öffentlich- 
keit werde.  Es  ist  noch  nicht  gar  so  lange  her,  daß  einer 
der  berühmtesten  deutschen  Professoren  in  seiner  Ge- 
schichte der  Nationalökonomie  den  Namen  Marx  nur 
in  den  paar  Zeilen  einer  Fußnote  erwähnt,  in  denen 
seine  Wertkritik  mit  einer  nachlässig  autoritären  Hand- 
bewegung als  verfehlt  abgetan  wird.  Und  heute  l  Spe- 
kulative, kriegsmäßig  „marxistische"  Windbeuteleien 
werden  in  Millionen  Zeitungsblättern  gefeiert,  und 
ihre  Verleger  haben  nicht  Papier  und  Arbeitskräfte 
genug,  um  den  Bedarf  neuer  Auflagen  zu  befriedigen; 
und  dieser  ganze  lärmende  Erfolg  nur  deshalb,  weil  der 
gerissene  Autor  sich  unter  den  Schutz  von  Karl  Marx 
stellt,  in  dessen  ausgeleertes  Gehäuse  er  seine  gelenkigen 
Glieder  verbirgt.  Freilich  diese  gescheiteren  Nach- 
folger machen  ihre  Bücher  auch  schnell,  handlich  und 
bequem  fertig.  Der  arme  Marx  aber  hinterläßt  sein 
Hauptwerk,  an  das  er  in  unermüdlicher  Arbeit,  niemals 
sich  selbst  genügend,  das  letzte  seiner  Kraft  hingegeben 
hat,  als  ein  ungeheures  Fragment;  von  den  vier  Büchern 
des  Kapitals  ist  nur  das  erste  bis  zur  Vollendung  der 
Reife  gediehen. 

Ist  endlich  nicht  auch  der  Politiker,  der  Kämpfer, 
der  Revolutionär  gestrandet  ?  Er  ist  der  Schöpfer  der 
Internationale.  Verging  sie  nicht  in  widrigem  Streit  ? 
War  es  nicht  alles  in  allem  doch  ein  verfehltes  Dasein  ? 
War  es  zweckmäßig,  in  einer  stumpfen  Welt  die  starre 
Aufgabe  des  Revolutionärs  auf  sich  zu  nehmen  und 
von  ihr  nicht  abzulassen? 

Man  hat  seitdem  in  unsern  Tagen  die  überraschende 
Entdeckung  gemacht,  daß  revolutionäre  Opposition 
die  merkwürdige  Eigenschaft  besitzt,  so  lange  von  der 
herrschenden  Gewalt  auszuschließen,  bis  man  sie  nicht 
selbst  erobert  hat.   Für  den  weltfremden  Karl  Marx 

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war  das  noch  eine  Selbstverständlichkeit.  Er  wußte, 
daß  die  „prinzipienreitende"  Negation  zwar  durchaus 
nicht  die  reformerische  Arbeit  ausschließt,  daß  man 
im  Gegenteil  mit  ihr  alles  erreichen  kann,  was  ihr  über- 
haupt, vor  der  Umwälzung  von  Grund  aus,  erreich- 
bar ist ;  Marx  hat  ja  für  die  Möglichkeiten  wie  für  die 
Schranken  der  Reform  erst  die  wissenschaftliche  Grund- 
lage und  Begründung  gegeben.  Man  könnte  sogar 
—  ich  eigne  mir  die  erschütternd  prophetische  Kritik 
der  deutschen  Partei  an,  die  Jaures  in  Amsterdam 
übte!  —  auf  dem  parlamentarischen  Boden  gefahrlos 
erheblich  weiter  gehen,  als  es  bis  zum  Kriege  geschah, 
sofern  nur  zugleich  der  prinzipielle  Gegensatz  bis 
zu  seinen  letzten  Folgerungen  in  dem  lebendigen,  tätig 
und  ehrlich  entschlossenen  Willen  der  „Führer"  ge- 
sichert ist  und  die  Bewegung  und  Aktion  der  Massen  un- 
gestüm und  unmittelbar  zur  Entscheidung  und  Macht 
drängt.  Aber  Marx  wußte  allerdings  auch,  daß  man  in 
solch  selbstgewählter  Rolle  auch  auf  die  beglückende 
Möglichkeit  verzichten  muß,  im  Rate  der  Götter  selbst 
den  Drang  nach  „positiver  Arbeit"  ehrenvoll  und  an- 
gesehen schäumig  zu  befriedigen.  Heute  hat  eine  Partei, 
die  ihre  Abstammung  von  Marx  durch  Papiere  und 
neuerdings  auch  durch  zivilrechtliche  Gerichtsurteile 
beweisen  kann,  eine  Lösung  für  das  Problem  gefunden, 
den  Konflikt  zwischen  Opposition  und  „positiver  Ar- 
beit" auszugleichen:  man  gibt  die  revolutionäre  Uber- 
zeugung auf  (wenn  man  auch  die  alten  Papiere  sorg- 
fältig und  stolz  aufbewahrt!),  und  —  siehe  da!  —  nun 
braucht  man  nicht  mehr  abseits  zu  stehen,  sondern 
kann  überall  dabei  sein  und  herrlich  mithelfen  an  der 
positiven  Politik,  die  doch  nur  den  kleinen  überseh- 
baren Schönheitsfehler  hat,  daß  sie  gerade  das  positiv 
erstrebt,  was  man  negierte,  und  das  negiert,  was  man 
positiv  erreichen  wollte.  Die  Hauptsache  ist  gelungen, 
daß  erlaubt  wird,  dabei  zu  sein!  Man  hat  denn  auch 
diese   wonnereiche   realpolitische   Taktik   des  Hans 


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Dampf  in  allen"  Gassen  (der  überall  und  immer  dabei 
ist)  bis  zu  dem  Grade  zu  steigern  verstanden,  daß  noch 
Anfang  1917  das  Amtsblatt  der  Generalkommission 
der  Gewerkschaften  dringend  forderte,  daß  man  den 
Kampf  um  das  preußische  Wahlrecht  bis  nach  Be- 
endigung des  Kriegs  vertage,  eine  Offenbarung,  die 
augenscheinlich  letzthin  den  Grafen  -Spee  zu  seiner 
unerwarteten  Inspiration  angeregt  hat  .  .  . 
Indem  ich  versucht  habe,  das  Bild  von  Karl  Marx 
nachzuzeichnen,  wie  es  Mehring  in  vollkommener 
Beherrschung  und  kritischer  Durchdringung  des  Ma- 
terials geformt  hat,  erstand  in  seinem  irdischen  Schick- 
sal der  größte  Geist,  der  bedeutendste  politische  Kopf 
des  19.  Jahrhunderts,  vor  dessen  universaler  Bedeutung 
all  die  Staatsmänner,  Gelehrten,  Feldherren  jenes 
Jahrhunderts,  die  bei  Lebzeiten  vergoldet  und  ver- 
göttert wurden,  verblassen  und  versinken.  Ein  künf- 
tiger Forscher,  der  die  Weltgeschichte  des  19.  Jahr- 
hunderts schreibt,  wird  Deutschland  das  abschließende 
Epigramm  widmen:  Es  zwang  seinen  gewaltigsten 
Genius,  in  der  Verbannung  zu  leben. 

III. 

Marx  ist  die  vollendete  Einheit  von  Gedanke  und 
Tat,  von  Forschung  und  Handlung.  Er  ist  Kämpfer 
und  Denker,  oder  vielmehr,  er  ist  Denker,  um  Kämpfer 
zu  sein.  So  stellt  Mehring  mit  Recht  den  Menschen, 
den  revolutionären  Kämpfer  dem  Schriftsteller,  For- 
scher, Entdecker  voran.  So  stark  ist  der  Eindruck  der 
Überfülle  dieses  Mannes  auf  den,  der  sein  Wesen  und 
seine  Leistung  zu  ermessen  vermag,  daß  Mehring,  ob- 
wohl sein  Buch  ein  zuverlässiger,  kundiger  und  kristallen 
durchsichtiger  Kommentar  ist  für  alles,  was  Marx  ge- 
schrieben, wie  für  die  Gesamtheit  seiner  geistigen  Ent- 
wicklung, dennoch  in  beinahe  verzagter  El  irr  u  rc  ht 
darauf  verzichtet,  auf  das  Titelblatt  zu  schreiben: 
Die  Geschichte  seines  Lebens  und  seiner  Schriften. 


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Nur  die  Geschichte  seines  Lebens  kündigt  er  an,  in 
dem  Bewußtsein,  daß  selbst  seine  große  Fähigkeit,  das 
Wesentliche  der  Schriften  aufzuspüren  und  lebendig 
anschaulich  zu  skizzieren,  nicht  mehr  erreichen  könne 
als  bloße  Andeutung,  nicht  eine  erschöpfende,  die  Ge- 
danken in  all  ihren  Verflechtungen,  in  Ursprung  und 
Weltvvirken  kritisch  analysierende  Darstellung. 

Damit  dies  Leben  in  voller  Frische  erscheine,  hat 
Mehring  alle  gelehrten  Spuren  seiner  mühseligen  Ar- 
beit vieler  Jahre  getilgt  und  so  jene  edle  Volkstümlich- 
keit erreicht,  die  jedem  redlich  Lesenden  zugänglich 
ist,  ohne  daß  die  geringsten  Zugeständnisse  an  die 
träge  Bequemlichkeit  einer  abplattenden  Erleichterung 
gemacht  würden.  Aber  auch  der  Leser,  der  in  den 
Urstoff  vollständig  eindringen  möchte,  findet  in 
dem  Quellenverzeichnis  des  Anhangs  jede  mögliche 
Förderung. 

Welche  Kunst  Mehring  in  der  Zergliederung  der 
wissenschaftlicher  Leistungen  von  Karl  Marx  entfaltet, 
mag  man  in  den  verhältnismäßig  wenigen  Seiten  be- 
wundern, auf  denen  es  ihm  gelingt,  den  Gedanken- 
gang des  „Kapitals"  aufzuzeigen.  Für  den  zweiten  und 
dritten  Band  wird  er  hier  durch  einen  Beitrag  von 
Rosa  Luxemburg  unterstützt,  die  mit  leichter  Hand 
in  anregendster  Form  den  spröden  Stoff  meistert. 
Natürlich  können  diese  Anleitungen  zum  Lesen  nicht 
das  Studium  des  Werks  selbst  ersetzen,  wohl  aber  er- 
leichtern. Frau  Luxemburg  kann  zwar  die  Lösung  des 
vor  dem  späten  Erscheinen  des  dritten  Buches  des 
Kapitals  undurchdringlichen  Problems  der  „durch- 
schnittlichen Profitrate"  geben,  aber  es  ist  undenkbar, 
auf  einer  knappen  Seite  den  mühseligen  Weg  vom 
Mehrwert  zu  jener  Ausgleichung  der  Profitrate  nach- 
zuschreiten, den  Marx  gehen  mußte,  um  die  letzte 
Erklärung  zu  finden,  wie  es  möglich  ward,  daß  sich 
das  kapitalistische  System  in  das  dunkle  Tyrannenreich 
mystischer  Fetischgewalten  verselbständigte,  in  dem 


23i 


seine  Existenzbedingung,  die  Aneignung  unbezahlter 
Arbeit,  der  als  Marktware  gekauften  Arbeitskraft 
völlig  ausgelöscht  schien.  Wenn  hier  für  eine  künftige 
Auflage  noch  ein  Wunsch  übrig  bleiben  möchte,  so 
der,  einige  Erläuterungen  über  die  angewandte  wissen- 
schaftliche Methode  der  Marxschen  Untersuchung 
(abgesehen  von  der  „Dialektik")  hinzuzufügen.  Diese 
Methode  ist  zwar  das  klassische  Verfahren  aller 
Wissenschaft,  wird  aber  noch  immer  nicht  begriffen 
und  ist  der  Ausgangspunkt  aller  gedankenlosen  Ein- 
wendungen gegen  ihre  Ergebnisse.  Ich  meine  vor  allem 
die  Aufklärung,  was  die  „Gesetze",  die  —  philoso- 
phisch gesprochen  —  reinen  Gesetze  bedeuten,  die 
ihre  Wahrheit  in  der  Wirklichkeit  der  Erscheinungen 
nicht  sowohl  durch  Bestätigungen  wie  durch  Ab- 
weichungen beweisen:  „Es  ist,"  sagt  Marx,  bei  der 
ganzen  kapitalistischen  Produktion  immer  nur  in  einer 
so  verwickelten  und  annähernden  Weise,  als  nie  fest- 
zustellender Durchschnitt  ewiger  Schwankungen,  daß 
sich  das  allgemeine  Gesetz  als  die  beherrschende  Ten- 
denz durchsetzt." 

Die  Geschichte  des  Lebens  von  Karl  Marx  und  die 
Weltgeschichte  seiner  Zeit  ist  untrennbar.  Mehring 
verfolgt  die  politisch-soziale  Gesamtentwicklung  der 
Jahrzehnte,  die  sein  Leben  umspannt,  die  geistigen 
Strömungen,  die  auf  ihn  einwirken,  das  Emporwachsen 
und  die  Konflikte  der  proletarischen  Bewegung.  Im 
Schatten  Hegels,  im  Berliner  Vormärz  radikaler  Ein- 
gänger  und  Sonderlinge,  ringt  sich  gewaltig  das  geistige 
Bewußtsein  des  Jünglings  zur  ersten  Klarheit  durch. 
Das  Alter  sieht  das  Erstarken  der  nationalen  sozia- 
listischen Parteien,  die  nationalen  Verfolgungen,  das 
Sozialistengesetz.  Von  Anbeginn  aber  bis  in  die  letzen 
Jahre  lugt  Marx  scharfäugig  und  sehnsüchtig  nach  den 
Anzeichen  der  Erscheinung  aus,  die  ihn  intellektuell 
und  gefühlsmäßig  sein  Leben  lang  beherrscht:  der 
Weltrevolution.  Zuletzt  erhoffte  er  aus  dem  russisch- 

232 


türkischen  Krieg  von  1878  und  aus  der  erwarteten 
Niederlage  Rußlands  dessen  sozialen  Zusammenbruch 
und  soziale  Umwälzung,  von  wo  aus  dann  der  Um- 
schwung in  ganz  Europa  sich  fortpflanzen  würde. 

Die  persönlich-literarischen  und  parteipolitischen 
Händel,  in  die  Marx  eingriff,  versteht  Mehring  nicht 
nur  in  ihrer  vergessenen,  verwickelten  Zusammen- 
hängen zu  entwirren  und  in  einfachen  Linien  dem 
heutigen  Leser  durchsichtig  und  interessant  zu  machen, 
er  steht  auch  seinem  Helden  in  freier  Unbefangenheit 
gegenüber.  Der  Historiker  hat  die  Aufgabe,  die  Kant 
einmal  in  der  Würdigung  seiner  Vorgänger  dem  Philo- 
sophen zuweist :  Piaton  besser  zu  verstehen  als  dieser  sich 
selbst.  So  übt  Mehring  Gerechtigkeit,  indem  er  Männer, 
die  Marx  parteipolitisch  bekämpfte,  gegen  Übermaß 
und  Grundlosigkeit  des  Angriffs  verteidigt.  Ein 
Kämpfer,  der  in  rastlos  ringender  Arbeit  Klarheit  ge- 
wonnen hat,  wird  notwendig  zu  Zeiten  mit  heftigerer 
Leidenschaft  als  die  Gegner  jene  Freunde  nieder- 
zuschlagen suchen,  die  gerade,  weil  sie  dasselbe  Ziel 
verfolgen  oder  vorgeben,  ihm  als  die  gefährlichsten 
Schädlinge  der  Sache  erscheinen;  denn  deren  Unklar- 
heiten, Illusionen,  Beschränktheiten,  Torheiten  drohen 
die  gemeinsame  Bewegung  von  innen  heraus  zu  ver- 
derben und  zu  zerstören.  Es  ist  zugleich  die  schlimme 
Eigentümlichkeit  aller  solcher  Bruderkämpfe,  daß  sie 
selbst  den  Reinsten  und  Stärksten  gelegentlich  herab- 
ziehen. Sind  diese  Fehden  aber  geschichtlich  geworden, 
so  hat  der  Historiker  die  Pflicht,  über  dem  Triumph 
des  Siegers  nicht  das  Recht  des  Besiegten  zu  vergessen. 
Mehrings  ritterliche  Unparteilichkeit,  die  im  Buch 
des  Siegers  den  von  Marx  Überwältigten  gerechte 
Würdigung  widerfahren  läßt,  verdient  auch  dann 
Anerkennung,  wenn  die  Ergebnisse  seiner  Forschung 
nicht  immer  überzeugen.  So  bleibt  für  mich,  im 
Gegensatz  zu  Mehring,  die  Politik  des  letzten  Lassalle 
und  noch  mehr  die  Schweitzers  auch  in  ihrer  geschicht- 


233 


liehen  Bedingtheit  heute  mehr  denn  je  unannehmbar. 
Mir  scheint  ein  nicht  zu  erklärender  Widerspruch 
zwischen  dem  elften  Kapitel  des  Marxbuches,  das  die 
preußische  Politik  der  sechziger  Jahre  behandelt, 
und  dem  vierzehnten  zu  bestehen,  das  die  Kriegs- 
probleme von  1870  darstellt.  Mehring  interpretiert 
auch  die  Äußerungen  von  Marx  und  Engels  in  ihrem 
Briefwechsel  zu  wohlwollend  zugunsten  Schweitzers, 
dessen  Fähigkeiten  die  beiden  stets  anerkannt,  dessen 
Charakter  und  Politik  sie  aber,  ohne  jede  Schwankung, 
schroff  abgelehnt  haben.  Was  sie  über  die  Politik 
Lassalles  dachten,  hat  Marx  in  dem  jüngst  von  Kautsky 
veröffentlichten  Brief  an  Kugelmann  endgültig  zu- 
sammenfassend ausgesprochen.  Noch  im  Jahre  1894 
hat  Engels  den  Lassalleanern  den  sozialistischen  Cha- 
rakter abgesprochen;  weil  sich  in  Deutschland  die 
Lasselleaner  Sozialdemokraten  nannten,  hätten  Marx 
und  er  sich  stets  als  Kommunisten  bezeichnet ;  obwohl 
die  Masse  der  Parteianhänger  Lassalles  „mehr  und  mehr 
die  Notwendigkeit  der  Vergesellschaftung  der  Produk- 
tionsmittel einsah,  blieben  die  spezifisch  lassalleschen 
Produktionsgenossenschaften  mit  Staatshilfe  doch  der 
einzig  öffentlich  anerkannte  Programmpunkt.  Für 
Marx  und  mich  war  es  daher  rein  unmöglich,  zur  Be- 
zeichnung unsres  speziellen  Standpunkts  einen  Aus- 
druck von  solcher  Dehnbarkeit  zu  wählen."  Immerhin, 
man  kann  heute  wenigstens  jene  Politik  Lassalles  und 
seines  Nachfolgers  begreifen  als  die  Verzweiflungs- 
taktik der  Ungeduld  von  Männern,  die  in  einem  in- 
dustriell noch  wenig  entwickelten  Lande  mit  einem 
sehr  geringen  Anhang  aufgeklärter  Arbeitermassen  die 
Welt  aus  den  Angeln  zu  heben  suchten,  indem  sie  den 
damals  tatsächlich  tiefgehenden  Konflikt  zwischen 
der  Bourgeoisie  und  dem  Junkertum  ausnutzten.  In 
ihrer  Politik  war  doch  Überlegung,  Energie  und  die 
Möglichkeit  unmittelbarer  Erfolge.  Welch  Absturz  der 
sozialdemokratischen   Staatsmänner  von  heute,  die, 

234 


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in  einem  durch  die  Industrie  sozial  beherrschten  Reiche, 
verfügend  über  große  organisatorische,  parlamentarische, 
journalistische  und  finanzielle  Mittel  in  der  Wende  ge- 
schichtlicher Entscheidung  das  Proletariat  in  das  Lager 
der  Gegner  überführten,  deren  innere  Gegensätze 
nur  noch  die  Oberfläche  kratzen,  während  ihre  poli- 
tische Einheit  und  Richtung  seit  Jahrzehnten  durch 
den  Pakt  des  feudalen  Agrariertums  mit  der  feudali- 
sierten  Industrie  gegeben  ist.  Erwägt  man  diese  bei- 
spiellos unfähige  und  verdächtig  zersetzende  poli- 
tische Führung,  die  sich  unmäßig  weise  in  ihrer  illusions- 
freien Realpolitik  dünkt  und  den  alten  Grundsätzen 
dabei  treu  geblieben  zu  sein  behauptet;  eine  Führung 
die  mit  nachtwandlerischer  Sicherheit  an  allen  Fenstern 
entlang  gleitet,  wo  ergiebige  Güsse  für  den  zudring- 
lichen Liebhaber  bereitstehen,  —  so  ist  man  heute  fast 
geneigt,  gegenüber  dieser  opportunistischen  Irreal- 
politik  von  Tölpeln  die  alte  wirkliche  Realpolitik  der 
Lassalleaner  zu  verteidigen. 

IV. 

Mit  besonderer  Aufmerksamkeit  wird  man  in  Meh- 
rings Marx-Buch  die  Seiten  über  den  Krieg  1870/71 
lesen.  Mehring  hat  die  Auffassung  von  Marx  in  voll- 
kommener und  umfassender  Sachlichkeit  geklärt.  Man 
vergleiche  mit  dieser  Zeichnung  geschichtlicher  Wahr- 
heit, was  neue  Marxschriften  von  Autoren  sozialistischer 
Vergangenheit  und  über  diese  Angelegenheit  zu 
sagen  wissen.  In  dem  mageren,  aber  deshalb  nicht 
inhaltschweren  Heft  eines  der  zynischen  Angestellten 
der  Parvus-Wumba  wird  diese  offenbar  ganz  unwesent- 
liche Episode  mit  Schweigen  übergangen,  abgesehen 
von  der  bedeutsamen  Mitteilung,  daß  Sedan  am  2.  Sep- 
tember gewesen  ist;  außerdem  wird  Marx  zitiert,  wie 
er  den  französischen  Freunden  riet,  die  neu  entstan- 
dene Republik,  angesichts  des  Feindes,  nicht  durch 
ein  soziale  Revolution  zu  erschüttern.  Noch  schlimmer 


235 


steht  es  um  ein  Marx-Brevier,  das  im  Vorwärts-Verlag 
erschienen  ist;  hier  geben  die  gewählten  Zitate  schein- 
bar ein  objektives  Bild,  in  Wirklichkeit  aber  sind  sie 
eine  Lappen  Verkleidung  gegenwärtiger  regierungs- 
sozialistischer Kriegspolitik,  und  müssen  den  Nicht- 
kenner  der  Materie  gründlich  in  die  Irre  führen. 

Marx  begnügt  sich  nicht  mit  der  aufregenden  Ent- 
hüllung, daß  der  Krieg  in  den  kapitalistischen  Gegen- 
sätzen verursacht  sei  (er  enthüllt  es  nicht  einmal);  daß 
die  Herrschenden  drüben  wie  hüben  gleich  schuldig 
seien,  und  daß  deshalb  das  Proletariat  jeden  Landes  die 
Kriegspolitik  der  eigenen  Schuldigen  —  zu  bekämpfen  ? 
nein,  —  zu  unterstützen  habe.  Marx  prüft  den  ge- 
schichtlichen Sachverhalt  in  allen  Einzelheiten  und 
Zusammenhängen.  Er  verkennt  niemals  die  Bedeu- 
tung leitender  Persönlichkeiten  (in  deren  Charakteristik 
er  vielmehr  seine  höchste  literarische  Kunst  bewährt; 
man  lese  seine  Palmerston- Aufsätze  der  fünfziger  Jahre!) 
Er  nimmt  eindeutig  Partei  —  immer  bestimmt  von 
seinem  obersten  Leitgedanken:  der  proletarischen  Re- 
volution. Er  hält  die  Kriegsaufgaben  des  Proletariats 
auch  nicht  damit  erledigt,  daß  es  die  Regierungen 
in  Wort  und  Schrift  ersucht,  die  Friedenshand  aus 
zustrecken  —  wobei  denn  darauf  zu  sehen  sei,  daß  auf 
keinen  Fall  die  nationale  Friedenshand  ärmer  in  die 
gewohnte  Faustlage  zurückkehrt  — ,  sondern  er  züch- 
tigt im  Gegenteil  die  französischen  Friedenshandaus- 
strecker, die  Thiers,  Jules  Favre,  Trochu  als  Verräter 
an  der  nationalen  Verteidigung,  deren  Vorkämpfer  zu 
sein  sie  sich  vor  der  Öffentlichkeit  rühmten.  Das 
Sonderbarste  aber  ist,  daß  sich  in  allen  Kundgebungen 
und  Äußerungen  von  Marx  über  die  1870er  Kriegs- 
und Friedenspolitik  (mit  einer  Ausnahme!)  kein  ein- 
ziges wirtschaftliches  Argument  findet;  er  ahnt 
nicht,  daß  es,  im  Geiste  der  Marxschen  Lehre,  die 
Aufgabe  des  Proletariats  sei,  national  die  durch  die 
gewerkschaftliche  Tätigkeit  erreichte  Lohnhöhe  zu 

236 


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verteidigen,  oder  die  Beschaffung  von  Rohstoffen  und 
handelspolitische  Interessen  zu  schützen  oder  gar  die 
„höhere  Entvvicklungsform  des  Kapitalismus**,  die  in 
der  Verbindung  von  Finanzkapital  und  Industrie  liegt, 
zum  Siege  zu  führen,  und  daß  es  deshalb  die  marx- 
gewollte  Sendung  des  deutschen  Proletariats  sei, 
zunächst  einmal  die  rückständige  englische  Weltherr- 
schaft durch  die  auf  dem  Wege  zur  sozialen  Weltrevo- 
lution vorgeschrittene  Macht  Deutschlands  zu  er- 
setzen. Aber  einmal  spricht  Marx  doch  von  wirt- 
schaftlichen Interessen,  in  jenen  Sätzen  nämlich,  da 
er  sich  mit  dem  französischen  Großindustriellen 
Pouyer-Quertier  beschäftigt,  der  als  Friedensbote  mit 
Jules  Favre  zu  Bismarck  nach  Frankfurt  wallfahrtete, 
mit  dem  festen  Entschluß,  im  Interesse  seiner  Baum- 
wollspinnerei Schutzzölle  gegen  —  Elsaß-Lothringen 
bei  Bismarck  durchzusetzen.  Marx  nennt  ihn  einen 
Mann,  „der  die  Konterrevolution  als  ein  Mittel  ansah, 
um  den  Arbeitslohn  in  Rouen  herunterzudrücken,  und 
die  Abtrennung  französischer  Provinzen  als  ein  Mittel, 
den  Preis  seiner  Waren  in  Frankreich  heraufzuschrau- 
ben". Welche  Verkennung  eines  Menschen,  der  offen- 
bar als  einziger  (Marx  inbegriffen!)  damals  die  Gabe 
besessen  hat,  über  Krieg  und  Frieden  —  marxistisch  zu 
denken!  Im  übrigen,  es  gibt  gegenwärtig  keine Marxsche 
Schrift,  die  eifriger  verdiente  gelesen  zu  werden,  als 
der  Bürgerkrieg  in  Frankreich  aus  dem  Mai  1871. 

Mehring  würde  nicht  die  Eignung  haben,  eine 
Natur  wie  Karl  Marx  zu  erfassen,  wenn  er  nicht  selbst 
auch  die  Kraft  des  Grollens,  Zürnens,  Hassens  hätte. 
Im  Text  des  Buches  führt  er  freilich  kein  Fehden 
gegen  Zeitgenossen,  die  ihm  sonst  parteigenössisch  ver- 
bunden sind,  nur  in  ein  paar  Nebenbemerkungen 
flackert  rasch  die  Erinnerung  alten  Unmuts  auf.  Aber 
in  der  Vorrede  und  den  Anmerkungen  wetterleuchtet 
es  grell,  ein  Nachfeuer  polemischer  Gewitter,  die  mit 
der  Spannung,  aus  der  sie  entstanden,  vorübergegangen 


237 


und  vergessen  sind.  Hier  wird  der  unbefangene  und 
kritische  Leser  sich  genau  so  zu  dem  Verfasser  verhalten, 
wie  Mehring  selbst  gegen  Marx  verfährt:  er  wird  sich 
selbst  die  Freiheit  historischen  Schlichtens  nehmen, 
in  diesen  persönlichen  Kämpfen  Recht  und  Unrecht 
abzuwägen  und  sich  die  eigene  Meinung  über  den 
Grad  und  die  Ausdehnung  des  Mehringschen  Urteils 
auch  dann  vorbehalten,  wenn  er  selbst  in  dem  besonde- 
ren Streitfall  das  Recht  auf  Seiten  Mehrings  sieht  .  .  . 

Die  Welt  hat  jetzt  die  erste  wissenschaftliche  Bio- 
graphie von  Karl  Marx.  Ein  Werk  strengster  wissen- 
schaftlicher Forschung,  ist  es  aber  und  soll  es  sein,  ein 
Buch  für  das  Proletariat.  Der  heillose  Aberglaube,  daß 
Arbeiter  mit  den  Suppenwürfeln  dürrer  Broschüren  ab- 
gespeist werden  müssen,  daß  sie  vor  dicken  Büchern  eine 
Scheu  haben,  wird  hoffentlich  an  dem  Buche  Mehrings 
zuschanden  werden.  Die  Arbeiter,  die  die  besten  Stun- 
den ihres  ganzen  Lebens  an  die  sinnlose  Arbeit  für 
den  Profit  des  Kapitalisten  vergeuden  müssen,  haben 
wahrhaftig  mehr  Anlaß  als  irgendeine  andere  Klasse, 
die  karge  Zeit  ihrer  Muße  der  höchsten  geistigen  Er- 
hebung hinzugeben.  Nur  dann  haben  sie,  auch  in  dem 
Grauen  heutigen  Elends,  ein  lebenswürdiges  Dasein, 
nur  dann  können  sie  auch  zur  Höhe  und  Reife  ihrer  ge- 
schichtlichen Aufgabe  emporwachsen.  Die  großen 
Probleme  des  menschlichen  Geistes,  der  Wissenschaft 
und  Gesellschaft  in  mageren  Bettelsuppen  hastig 
hinunterschlingen  wollen,  heißt  sich  mit  intellektuellem 
Nahrungsschwindel  aufblähen,  ohne  einen  Gran  echter 
Kraft  zu  genießen. 

Ich  weiß  nicht,  ob  an  der  älteren  Generation  noch 
viel  zu  erziehen  ist.  Die  Stunde  wird  ja  in  gar  nicht 
ferner  Zukunft  kommen,  wo  sich  die  „bewährten 
Führer"  nicht  genug  werden  beeilen  können,  die  ver- 
lernte Sprache  der  „internationalen,  revolutionären, 
völkerbefreienden"  Sozialdemokratie  wieder  zu  proben. 
Aber  niemand  wird  das  mehr  ernst  nehmen.  Ich  wünsche 

238 


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Mehrings  Buch  vor  allem  die  junge  Generation  (in 
die  ich  die  jung  gebliebene  einrechne)  als  Leser;  — 
die  Generation,  die  sich  nicht  mehr  damit  bescheiden 
wird,  in  frühem  Vereinsdrill  schnellfertig  und  gefügig 
ihre  Jugend  bloß  für  die  spätere  Einreihung  in  die 
verödeten  Organisationen  der  „Erwachsenen"  her- 
zugeben, sondern  die  in  ihrem  eigenen  Rechte  lebt,  die 
Sturm  und  Gärung,  Kraft  und  Begeisterung  in  sich 
fühlt,  die  herrlichen  Regungen  jener  gütigsten  und 
wunderbarsten  Naturgewalt:  der  ewigen  Regeneration 
des  Menschen  in  der  Jugend,  die  es  vollbringt,  daß  — 
trotz  der  gesellschaftlichen  Zustände  —  immer  wieder 
Leben  da  ist,  das  zum  Höchsten  langen  will. 

Karl  Marx,  dessen  Jugendfeuer  erst  an  dem  Tage 
schwand,  da  sein  Leben  erlosch,  und  sein  greiser  Bio- 
graph, dessen  Daimonion  in  ihm  die  Altarflammen 
unzermürbter,  tapferer  und  freier  Menschlichkeit 
hütet,  sind  berufen,  diese  neue  Generation  des  Prole- 
tariats zu  hellerem  Wesen,  größeren  Aufgaben,  kühne- 
ren Wagnissen  und  reichsten  Erfüllungen  zu  führen. 

Denn  wir  bedürfen  der  Genialität  der  Klasse! 


239 


Die  Heerstraße  zum  Abgrund 


Das  gelbe  Zeichen. 

„Glücklicherweise  hängt  das  Wohl 
Deutschlands  nicht  von  seinen  Fürsten 
allein  ab." 

Herzog  Ernst  II  an  den  Prinz- 
geraahl Albert  am  26.  Marz  1850. 

„Unsere  Fürsten  kommen  mir  wie  die 
egyptischen  Pharaonen  vor,  die  nach 
jeder  Plage,  die  über  sie  und  Egypten 
gebracht  worden,  sogleich  wieder  ver- 
stockten Herzens  wurden.  Leider  hat 
Deutschland  noch  nicht  den  rechten 
Moses  gefunden/1 

Aus  der  Antwort  des  Prinzgemahls. 

Als  die  Juden  noch  ihre  separierten  Stadtviertel  be- 
saßen, da  war  ihnen  vergönnt,  als  Symbol  ihres  geson- 
derten Menschentums  ein  gelbes  Zeichen  am  Haupte  zu 
tragen,  das  den  heiligen  Orden  der  Ausgestoßenen  in . 
sich  einte  und  schied  gegen  die  Träger  des  gemeinen 
Glücks.  Mit  den  Ghettos  ist  das  gelbe  Zeichen  ge- 
schwunden ;  es  gibt  keine  Orden  mehr,  die  von  Geburt 
an  sichtbarlich  getragen  werden.  Nur  ein  Rest  noch 
jener  Weltanschauung  ist  geblieben,  die  in  der  Geburt 
das  ganze  Dasein  fixiert;  nur  ein  gelbes  Zeichen  noch 
wird  in  die  Wiege  als  unveräußerliches  Patengeschenk 
gelegt.  Das  Zeichen  ist  nicht  von  grobem  Zeug,  es 
ist  von  dem  edelsten  gelben  Metall,  von  Gold,  und  die 
Träger  sind  die  höheren  Ausgestoßenen,  die  Kultus- 
gemeinde des  Herrschertums :  es  ist  die  ummauerte 
Welt  des  Fürstenghettos  und  der  gelben  Königskronen. 

Gleichartig  ist  das  Schicksal  der  Fürsten  und  Juden; 
ihre  Geburt  ist  ihr  Fatum:  abgesperrte  Kontroll- 


243 


menschen,  die  vom  ersten  bis  zum  letzten  Tage  der 
unermüdlichen  Neugier  der  freien  Mischlinge  geopfert 
sind.  Durch  Inzucht  pflanzen  sie  sich  fort,  und  enge, 
nicht  erwählte  Beschäftigung  prägt  ihren  Geist.  Auch 
die  Fürsten  sind  von  Geburt  an  auf  das  politische  Ge- 
werbe gedrängt,  auch  sie  haben  sich  einen  äußerst  leb- 
haften Geschäftssinn  erworben,  der  von  nichts  anderem 
erfüllt  ist  als  von  Vorteilen  und  von  Nachteilen,  von 
feinen  und  faulen  Abschlüssen.  Die  fortgesetzte  In- 
zucht züchtet  extreme  Geschöpfe  im  guten  und  schlim- 
men, Genies  der  Tugenden  und  Laster,  der  Kraft  und 
der  Schwäche.  Freilich  bleibt  stets  zu  erwägen,  ob  die 
grellen  Kontraste  die  Folgen  der  scharfen  Beleuchtung 
oder  der  intensiven  Leuchtkraft  sind.  Aber  selbst 
physiognomisch  ähneln  sich  die  beiden  Gattungen  von 
Ghettomenschen.  Die  Fabel  von  dem  jüdischen  Blut, 
das  in  den  Fürstengeschlechtern  fließt,  ist  entstanden 
aus  dem  „jüdischen"  Äußeren;  und  diese  physiogno- 
mische  Ähnlichkeit  entspringt  den  verwandten  Ent- 
wicklungsbedingungen. Das  Jüdische  ist  nicht  die 
Rasse  der  Juden,  sondern  des  Ghettos,  die  Dekadence 
der  Abgesperrten,  der  Inzuchtmenschen,  der  Berufs- 
beschränkung. 

Das  Fürstenghetto  hat  das  Judenghetto  überdauert. 
Die  jüdische  Emanzipation  steht  hart  vor  der  Vollen- 
dung, die  fürstliche  beginnt  schüchtern  und  ratlos 
tastend.  Und  doch  dürfte  die  Öffnung  des  Fürsten- 
ghettos weniger  Schwierigkeiten  zur  Folge  haben,  als 
die  Judenemanzipation.  Während  durch  diese  die  Juden- 
frage sich  entzündet  hat,  dürfte  die  Fürstenemanzi- 
pation die  Fürstenfrage  lösen. 

Herzog  Ernst  II.  von  Sachsen  Koburg-Gotha,  dessen 
Hinscheiden  jüngst  die  Zeitungen  zu  beklagen  ver- 
standen, gehört  zu  den,  noch  seltenen,  Fürsten,  die, 
unbewußt  zwar,  begannen,  sich  auf  ihre  Menschen- 
rechte zu  besinnen  und  den  Weg  aus  dem  Ghetto  zu 
suchen.  Er  hat  weite  Exkursionen  in  die  Freiheit  unter- 

244 


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nommen;  aber  er  kehrte  stets  und  —  gern  in  die  Ab- 
sperrung zurück,  und  das  gelbe  Zeichen  löste  sich  nicht 
von  seiner  Stirn.  Wer  dereinst  die  Geschichte  der 
Fürstenemanzipation  schreibt,  wird  mit  Fug  Ernst  den 
Zweiten  unter  den  Vorkämpfern  nennen ;  und  in  dieser 
Geschichte  wird  sein  Platz  länger  belegt  sein,  als  in  der 
Historie  der  deutschen  Einheit,  obwohl  er  sich  in  den 
krausen  Irrgängen  dieser  Entwicklung  als  unermüd- 
licher Kavalier  rüstig  getummelt  hat. 

Herzog  Emsts  Glanzzeit  fiel  in  die  dunkelste  Epoche 
Deutschlands ;  so  ward  es  leicht,  eine  Leuchte  zu  schei- 
nen. Er  war  ein  Liberaler  in  Politik  und  Kirche,  und 
er  war  stolz  auf  diesen  aufgeklärten  Liberalismus,  der 
ihn  emporhob  über  die  politischen  Nekrophilen,  die 
auf  den  Thronen  Deutschlands  saßen .  Bei  allen  Schützen, 
Sängern  und  Turnern  war  er  ein  Radikaler,  und  dieses 
Lob  des  Radikalismus  machte  ihm  Spaß,  da  es  ja  so 
ganz  und  gar  nicht  berechtigt  war.  Es  bedurfte  gar 
nicht  englischen  Einflusses,  daß  sich  der  Herzog  für 
Konstitutionalismus  begeisterte;  politische  Unter- 
haltungen gehörten  zu  seinen  Lieblingsbeschäftigungen 
und  so  förderte  er  ehrlich  die  Schaffung  eines  Instituts, 
daß  derartiger  Tätigkeit  ausschließlich  gewidmet  war. 
Aber  der  Herzog  war  ein  Idealist;  nicht  umsonst  war 
der  Mörder  einer  „Klytämnestra",  Herr  Tempeltey, 
sein  Vertrauter.  Die  Forderung  konstitutioneller 
Freiheit  durfte  nicht  durch  plump  materielle  Wünsche 
entweiht,  hinabgezogen  werden  in  das  Gemeine,  das 
uns  alle  bändigt.  Sein  Liberalismus  schwelgte  in  reiner 
Freiheit  und  Humanität,  er  trug  eine  Rose  im  Knopf- 
loch, lächelte  liebenswürdig  und  glitt  geräuschlos  und 
aufgeklärt  in  zierlichen  Lackschuhen  auf  wohlgeglätte- 
tem Parkett.  Und  dieser  Gentleman -Liberalismus, 
diese  Nektar-  und  Ambrosiahumanität  erschrak  mit 
Fug  und  Recht  vor  dem  Ansturm  der  48  er  Revolution, 
die  sich  nicht  mit  dem  enterdigten  Begriff  Freiheit  be- 
gnügte, sondern  durch  nichtsnutzig  praktische  Inter- 


245 


essen  die  selbstlose  Begeisterung  befleckte.  „Allein 
wenn  in  den  ersten  Tagen  des  März  dieser  —  man 
möchte  sagen  ideale  —  Zug  noch  vorherrschte,  so 
stellten  sich  doch  auch  in  den  kleinen  thüringischen 
Ländern  alsbald  Einflüsse  von  ganz  anderer  Art  hervor, 
und  anti monarchische,  sozialistische  und  anarchistische 
Bestrebungen  traten  an  die  Oberfläche  .  .  .  Schon 
kamen  die  bedenklichsten  Dinge  zum  Vorschein:  man 
verlangte  alsbald  die  Ablösung  aller  Feudallasten  in 
bezug  auf  die  Hütgerechtsame,  Beseitigung  der  Stände- 
unterschiede und  des  erblichen  Rechts  bei  der  Landes  - 
Vertretung,  Einverleibung  des  Domanialvermögens  in 
das  Staatsgut,  Besetzung  aller  Staatsämter  mit  „volks- 
tümlichen Männern",  Durchführung  der  Öffentlich- 
keit und  Mündlichkeit  in  der  gesamten  Verwaltung, 
Sicherstellung  der  Holzbedürfnisse  des  Volks,  Auf- 
hebung der  Verbrauchssteuern,  Ermäßigung  der  Stol- 
gebühren, Abschaffung  des  Jagdrechts  usw."  So 
schreibt  Herzog  Ernst  (oder  läßt  es  durch  seinen  Pro- 
fessor U.  Lorenz  schreiben)  schmerzlich  in  seinen  Me- 
moiren: „Aus  meinem  Leben  und  aus  meiner  Zeit". 
Und  gewiß,  es  war  zum  mindesten  unhöflich  und  un- 
dankbar, dergleichen  zu  fordern  von  einem  Fürsten, 
der  stets  bürgerlich  gesonnen  war  und  die  Freiheit  in 
freigebigster  Weise  dem  Volke  zur  Verfügung  stellte. 
Besonders  rücksichtslos  war  die  Forderung  der  Ab- 
schaffung des  Jagdrechts,  kannte  man  doch  die  Jagd- 
leidenschaft des  hochherzigen  Fürsten,  die  so  gedieh, 
daß  sein  Nachfolger  nichts  Eiligeres  zu  tun  hatte,  als 
eine  Amnestie  für  Forstvergehen  zu  erlassen. 

Die  erwähnten  Memoiren  sind  in  gewisser  Be- 
ziehung das  Widerspiel  zu  den  Büchern  Julius  Casars, 
in  denen  Cäsar  in  der  dritten  Person  eingeführt  wird, 
obwohl  er  selbst  der  Autor  der  Taten  und  ihrer  Schilde- 
rungen ist;  Herzog  Ernst  bedient  sich  in  seinen  Dar- 
legungen der  ersten  Person.  Seine  Erinnerungen 
haben  den  ausgesprochenen  Zweck,  seine  Bedeutung 

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richtig  einzuschätzen,  und  seine  Deklaration  ist  nicht 
die  eines  Hinterziehers.    „In  den  Erzählungen  der 
Nachgeborenen  wird  nur  derjenige  hoffen  können,  einen 
sicheren  Platz  zu  behaupten,  welcher  dafür  Sorge  ge- 
tragen hat,  daß  von  seinen  Bestrebungen  schriftliche 
Kunde  bestehe"  —  heißt  es  in  der  Einleitung.  Und 
weiterhin:  „Ich  kann  mich  nicht  bestimmt  finden,  mir 
mein  Recht  verkümmern  zu  lassen,  die  Dinge  dar- 
zustellen, wie  ich  dieselben  erlebt,  empfunden  und  mit- 
bewirkt habe.   Mir  war  ein  halbes  Jahrhundert  hin- 
durch Gelegenheit  geboten,  im  Vordertreffen  zu  stehen, 
ich  habe  vieles  erfahren,  die  Ereignisse  scharf  beobach- 
tet, und  kein  wirklicher  Kenner  der  Zeit  dürfte  meinen 
bescheidenen  Anteil  an  den  Gestaltungen  unseres 
Vaterlandes  in  Zweifel  ziehen  wollen."  Historische 
Forschungen  haben  manches  von  seinen  mit  der  Feder 
erworbenen  Verdiensten  korrigiert.    Der   Sieg  bei 
Eckernförde  zum  Exempel  ist  nicht  sein  Werk,  er  kam 
zu  spät  an,  sonst  wäre  er  gewiß  der  Sieger  geworden. 
Er  war  aber  immerhin  in  der  Nachbarschaft  des  be- 
deutenden Kampfes,  wie  er  überhaupt  stets  der  Nach- 
bar des  Bedeutenden  war.  Er  hospitiert  in  allen  Wissen- 
schaften und  Künsten,  auch  in  der  Kunst,  verheiratet 
und  doch  glücklich  zu  sein.  Er  ist  Meister  in  allen 
Arten  des  Sports,  sein  Gemütsleben  ist  reich  an  den 
edelsten  Ausflüssen  zärtlicher  Liebe  und  Freundschaft, 
zwischen  ihm  und  dem  Prinzgemahl  Albert  ist  ein  gerade- 
zu klassischer  Herzensbund,  er  ist  ein  tapferer  Soldat, 
ein  großer  Gelehrter,  ein  vollendeter  Weltmann,  ein 
humaner  Volksfreund  von  aristokratischen  Manieren, 
ein  freier  Geist  und  heller  Kopf  und  alles  das  nicht  etwa 
von  Gottes  Gnaden,  sondern  nach  koburg-gothaischem 
Hausgebrauch  aus  eigener  Kraft.  Er  betätigte  sich  in 
allen   hochherrschaftlichen   Bestrebungen   selbst  im 
Bauernlegen,  und  ist  doch  zugleich  ein  echter  Bürger- 
herzog, der  einen  Gustav  Freytag  den  höchsten  Trägern 
des  gelben  Zeichens  vorzieht. 

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Trotz  aller  Einwendungen  der  Historiker  haben  seine 
Memoiren  eine  merkwürdige  Akustik,  welche  die  fal- 
schen Töne  dem  feinen  Ohr  in  richtige  verwandeln.  Wir 
lernen  den  Wert  jener  Zeit  nach  1848  kennen,  welche 
die  deutsche  Einheit  ausbrüten  half,  jene  verlorene 
Zeit  der  diplomatischen  Belustigungen  des  Verstandes 
und  Witzes  —  der  Zuschauer. 

Den  einzelnen  befällt  in  Gespensterstunden  das 
Grauen  der  verlorenen  Zeit:  Wie  viel  hätte  man  tun 
können  und  wie  wenig  hat  man  getan!  Schon  tropft 
das  Leben  ab,  in  furchtbarer  Stetigkeit,  Tropfen  auf 
Tropfen,  und  bald  ist's  vorüber,  unwiederbringlich  die 
Zeit  der  Kraft  vergeudet !  Gibt  es  auch  für  die  Verant- 
wortlichen der  Weltgeschichte  solche  Gespenster- 
stunden? Wohl  kaum!  Wahnsinnig  müßten  sie  ins- 
gesamt werden,  wenn  sie  sich  der  nutzlos  verstriche- 
nen Zeit  bewußt  würden.  Die  Weltgeschichte  kennt 
nicht  nur  vertrödelte  Stunden,  sie  kennt  vertrödelte 
Jahrhunderte.  Aber  die  Verantwortlichen  kennen  nicht 
die  wilde  Pflicht  peinlicher  Zeitausbeutung.  Sie  sind 
stolz,  wenn  sie  die  Zeit  ausfüllen. 

Wir  Jüngeren  haben  leicht  die  Anschauung,  als  sei 
das  Werk  der  Blut-  und  Eisenmänner  die  Erfüllung  der 
Sehnsucht  gewesen,  die  die  Deutschen  seit  dem  An- 
fang unseres  Jahrhunderts,  seit  den  Heidelberger 
Tagen  der  jungen  Romantik  erfüllte.  Das  ist  mehr 
sedantesk  als  historisch  gedacht.  Die  offiziellen  Macht- 
leute haben  dem  wachsenden  Drängen  dreier  Genera- 
tionen nachgegeben,  haben  eine  Abschlagszahlung  dem 
Volke  geleistet  und  zugleich  den  Ruhm  dieser  Ab- 
schlagszahlung für  sich  in  Anspruch  genommen.  Auch 
die  deutsche  Einheit  bedeutet  nichts  als  ein  Entgegen- 
kommen „berechtigten"  Wünschen  gegenüber. 

Etwas  Ähnliches  hat  sich  bei  der  späteren  Sozialreform 
ergeben.  Die  Urheber  dieser  Sozialreform  gaben,  ge- 
drängt, ein  paar  Prozent  dessen,  was  man  von  ihnen 
begehrte.  Nichtsdestoweniger  ließen  sie  sich  für  diese 

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Initiative  preisen.  Wir  wissen  alle,  daß  das  Arbeiter- 
schutzgesetz z.  B.  nicht  dem  gleich  ist,  das  die  Schutz- 
bedürftigen  forderten. 

Nicht  aus  tiefstem  Herzensdrange  haben  die  Fürsten 
die  Einheitsbestrebungen  poussiert,  die  „deutschen 
Angelegenheiten"  gefördert.  In  ihren  Köpfen  nistete 
die  Furcht  vor  den  neuen  Gedanken,  die  aus  Frank- 
reich kamen.  „Deutschland  muß  vor  der  neuen  Re- 
publik gerettet  werden,"  schrieb  der  Prinzgemahl 
Albert  an  seinen  Bruder.  Von  dem  „kommunistischen 
Aufruhr  und  den  drohenden  Aufständen"  sprach 
Friedrich  Wilhelm  IV.  in  seiner  Schlußrede  auf  dem 
Berliner  Fürstentag. 

Der  Parallelismus  mit  gegenwärtigen  Strömungen  ist 
augenfällig.  Die  aus  der  Begeisterung  des  deutsch- 
französischen  Krieges  geborene  Einheit  ist  kein  Ab- 
schluß gewesen,  und  die  Volksstrebungen  von  1870 
sind  nach  den  kriegerischen  Lorbeeren  ruhig  weiter- 
gesponnen worden,  als  hätte  es  nie  die  pompöse  Eini- 
gung gegeben.  Die  Memoiren  des  Herzogs  zeigen,  wie 
es  manche  hohe  Persönlichkeiten  gab,  die  die  deutsche 
Einheit  lediglich  auffaßten  als  Präservativ  gegen  die 
„kommunistische"  Seuche  gleichwie  später  die  Sozial- 
reform. Der  Berliner  Fürstentag  von  1850  ist  in  der 
Tendenz  durchaus  verwandt  dem  vierzig  Jahre  später 
vom  deutschen  Kaiser  zusammenberufenen  Sozial- 
kongreß. Eine  geheime  Befürchtung  saß  den  fürstlichen 
Schwärmern  für  einiges  Deutschland  im  Nacken  und 
trieb  sie  vorwärts.  Wie  deutlich  spricht  dies  unruhige 
Gewissen  aus  den  zornigen  Worten  des  Herzogs  von 
Braunschweig,  der  dem  widerhaarigen  Kurfürsten  von 
Hessen  auf  dem  Berliner  Fürstenparlament  zurief: 
„Sie  sind  schon  einmal  daran  gewesen,  aus  dem  Lande 
hinausgejagt  zu  werden,  Sie  wünschen  dies  Verhängnis 
auf  alle  deutschen  Fürsten  auszudehnen." 

Die  Überwindung  des  Radikalismus  durch  Ent- 
gegenkommen, dieses  liberale  Lieblingsdogma,  beseelte 

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auch  Ernst  II.  „Auch  die  dunkle  Macht  der  Demo- 
kratie habe  ich  bei  Licht  gesehen  und  meine  Ansicht 
bestätigt  gefunden,  daß  sie  an  sich  nur  eine  negative, 
daß  sie  aber  eine  gewaltige  ist,  wenn  es  zur  positiven 
Wahrheit  wird,  daß  die  Völker  falsch  regiert  werden. 
Die  Demokratie  als  Partei  hat  sich  selbst  vernichtet; 
ihr  schwaches  Glimmen  wird  durch  die  fehlerhaften 
Bemühungen  der  extremen  Gegenpartei  erhalten." 
Also  schrieb  Herzog  Ernst  an  Friedrich  Wilhelm  IV. 
in  dem  denkwürdigen  Memorandum,  in  dem  er  Fried- 
rich Wilhelm  IV.  vom  Osten  gen  Westen,  von  Rußland 
nach  England  ziehen  wollte.  Ebenso  bezweckte  der 
Verein,  der  1853  unter  G.  Frey  tags  entscheidender 
Mitwirkung  zur  Hebung  des  konstitutionellen  Sinnes 
gegründet  war,  „sowohl  der  herrschenden  Reaktion 
als  auch  den  fortdauernden  demokratischen  Bewegun- 
gen entgegenzuwirken."  Noch  bemerkenswerter  ist  in 
dem  erwähnten  Memorandum  der  folgende  Passus: 
„Wenn  auch  von  so  vielen,  die  ich  nicht  näher  bezeich- 
nen will,  versucht  werden  wird,  Ew.  Majestät  den 
Glauben  beizubringen,  daß  ein  Abwenden  von  dem 
Osten  Ew.  Majestät  dem  Lager  jener  imaginierten 
Macht  der  Demokraten  näherführen  würde,  so  mögen 
Sie  mir  glauben,  daß  es  geradezu  die  entgegengesetzte 
Richtung  haben  wird.  Die  Demokratie  ist  besiegt, 
sobald  jener  ausländische,  von  allen  gefühlte  und  ge- 
haßte Druck  vom  Volke  und  den  Regierungen  ge- 
nommen wird."  Also  auch  hier  die  Erscheinung:  be- 
stimmend für  die  Bündnispolitik  der  Diplomaten  bleibt 
einzig  und  allein  die  Furcht  vor  der  Demokratie.  Die 
Real-  und  Gewaltpolitiker  schließen  sich  an  Rußland 
an,  nicht  aus  irgendwelchen  patriotischen,  geschichts- 
philosophischen  oder  machtstatischen  Erwägungen, 
nicht  aus  staatsmännischem  Tiefsinn  und  weltweiser 
Hellseherei,  sondern  einfach  deshalb,  weil  man  im 
Osten  den  Hort  gegen  die  Revolution  erblickt.  Um- 
gekehrt suchen  die  Liberalen  des  Ungeheuers  Herr  zu 

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werden,  indem  sie  aus  dem  Westen  konstitutionelle 
Freiheit  importieren.  Jene  wollen  die  Bestie  mit  der 
Knute  bändigen,  diese  sie  in  der  Freiheit  dressieren. 
Dort  arbeitet  man  mit  dem  Totschläger,  hier  mit 
milden  Purganzen.  Es  ist  derselbe  Gegensatz,  der  die 
Geister  beim  Sozialistengesetz  schied.  Die  Junker 
suchen  die  Gefahr  durch  Knebelung  zu  ersticken,  die 
Liberalen  durch  liebenswürdige  Unterredung  fort- 
zudisputieren.  Die  gleiche  Erscheinung  in  der  äußere- 
ren wie  in  der  inneren  Politik :  Bestimmend  wirkt  nicht 
die  Phrase  vom  europäischen  Gleichgewicht,  sondern 
im  Grunde  die  Sympathie  und  Antipathie  der  Welt- 
anschauungen. Kein  Zweifel,  daß  sich  die  Anhänger 
des  Ostens  lieber  eine  Eroberung  durch  den  Zarismus 
als  eine  freie  Etablierung,  eine  demokratische  Republik 
hätten  gefallen  lassen.  Ein  östlicher  Buonaparte  hätte 
gewiß  den  Enthusiasmus  der  preußischen  Reaktionäre 
zu  derselben  Leidenschaft  entflammt,  wie  der  west- 
liche seiner  Zeit  die  Liberalen  begeistert  hatte.  Die 
äußere  Politik  ist  nur  eine  Konsequenz  der  inneren. 
Gegen  die  demokratische  Seuche  sollten  —  nach  der 
Sehnsucht  der  Reaktion  —  innerlich  Soldaten  und 
Polizei,  äußerlich  Rußland  angewendet  werden,  wäh- 
rend die  Liberalen  innerlich  Konstitutionalismus  und 
äußerlich  England  verordneten.  So  lösen  sich  die  In- 
spirationen schöpferischen  Tiefblicks  auf  in  gewöhn- 
liche Emanationen  des  Willens,  der  Begierde,  —  wenn 
man  will  —  der  Sehnsucht.  Wer  mag  ermessen,  welchen 
Weg  die  Entwicklung  Europas  genommen  hätte,  wenn 
der  Herzog  Ernst  einmal  das  Vergnügen  gehabt  hätte, 
Preußen  für  sein  Denken,  das  immer  über  Vlissingen 
ging,  zu  gewinnen,  wenn  er  Friedrich  Wilhelm  IV. 
in  der  Tat  zum  Westen  hinübergezogen,  wenn  Europa 
Rußland  isoliert  hätte.  Wenn  1854  ein  westeuropäi- 
scher Staatenbund  zustande  gekommen  wäre,  ob 
wohl  dann  heute  noch  das  bei  der  Einigung  vergessene 
Fürstentum  Lichtenstein  das  glücklichste  deutsche 

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Land  wäre,  schwelgend  in  dem  dreifachen  Genuß  der 
Steuerfreiheit,  der  Soldatenlosigkeit  und  eines  dauernd 
abwesenden  Fürsten?  Das,  was  damals  Demokratie 
genannt  wurde,  wäre  weder  auf  die  eine  noch  die  andere 
Weise  bewilligt  worden,  die  rein  politische  Verfassung 
Europas  aber  hätte  vielleicht  ein  freundlicheres  Aus- 
sehen. Mag  sein,  daß  englisches  Geld  durch  Koburg 
floß,  die  Tatsache,  daß  Bestechungen  verübt  wurden, 
diskreditiert  nicht  die  Sache  eines  westeuropäischen, 
Bundes.  Auch  die  gute  Sache  bedarf  der  Bestechungen, 
die  Pessimisten  sagen:  mehr  noch  als  die  schlechte. 
Es  ist  anders  gekommen,  als  Ernst  II.  plante.  Rußland 
und  die  Reaktion  hat  gesiegt.  Die  deutsche  Einheit  ist 
mit  dem  Osten  gegen  den  Westen  zustande  gebracht. 
Der  gegenwärtige  politische  Zustand  Europas  ist  die 
Folge  davon,  daß  in  der  deutsch-demokratischen  Frage 
die  östlich-reaktionäre  Gewalttheorie  die  Oberhand 
gewonnen  hat.  Der  Eindruck  von  1848,  als  das  ent- 
scheidende Jugenderlebnis,  hat  die  Gründer  der  deut- 
schen Einheit  stets  geleitet.  Die  zweite  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  ist  nichts  als  die  siegreiche  Reaktion 
gegen  1848,  eine  Reaktion,  die  größtenteils  die  kon- 
servative Repressionstheorie,  zum  kleinen  Teil  das 
liberale  Prinzip  des  Entgegenkommens  handhabte. 

Die  Zeit  vor  Bismarcks  intensiver  Einheitschwei- 
ßung  ist  die  Epoche  der  westeuropäisch  geträumten 
Einheitssuche:  die  Verkörperung  ihrer  emsigen  Rat- 
losigkeit ist  Herzog  Ernst.  Unruhig  geschäftig  ist  Ernst 
wie  derCauseur  und  Moralist  des  französischen  Dramas, 
überall  und  immer  zugegen.  In  jeder  Türe,  die  sich 
öffnet,  erscheint  dieser  internationale  Unterhändler, 
er  ist  in  London,  Wien,  Paris,  Berlin  schier  zu  gleicher 
Zeit,  wenn  zwei  Unterhaltungen,  Unterhandlungen 
pflegen,  der  Herzog  ist  stets  der  eine  Partner,  er  regiert 
dabei  noch  unentwegt  volkstümlich  sein  Sachsen- Ko- 
burg-Gotha,  hält  Schützenreden,  komponiert,  schrift- 
stellert,  leitet  den  Nationalverein,  und  fährt  gelegent- 

252 


lieh  nach  Afrika  hinüber.  Selbst  die  Orsinibombe  darf 
nicht  platzen,  ohne  daß  d  erHerzog  Zeuge  der  Schreckens- 
tat gewesen  wäre.  Sein  Geist  weht  panspermistisch 
über  Europa,  aber  —  seltsam  —  sei  es,  daß  Europa 
einem  schnöden  Malthusianismus  huldigte,  oder  ob 
das  Geistessperma  der  zureichenden  Kraft  entbehrte  — 
gewiß  ist,  daß  nirgends  süße  Pfänder  dieser  feurigen 
Aktionsliebe  zu  spüren  sind.  Alle  seine  Erfolge  haben 
keine  Folgen,  all  seine  Anstrengungen,  Ausstreuungen, 
Anregungen  blieben  ohne  greifbaren  Effekt.  Er  war 
kinderlos  auch  in  der  Politik,  zum  Glück  sagen  die  einen, 
zum  Schaden  glauben  die  andern.  So  versandete  der 
Fürstentag  in  Berlin,  so  zerwehte  das  westeuropäische 
Bündnis.  Freilich  betrieb  er  die  verschiedenartigsten 
Geschäfte  mit  gleichem  Eifer  zu  gleicher  Zeit.  Wenn 
er  1854  zu  Paris  Napoleon  III.  für  seine  politischen 
Zwecke  zu  gewinnen  sucht,  so  vergißt  er  nicht,  neben- 
her seine  Oper  „Santa  Chiara"  der  Großen  Oper  an- 
zuhängen, und  freudig  konstatiert  er  die  sechzigmalige 
Aufführung. 

Es  war  im  Jahre  1866,  als  Herzog  Ernst  mit  der 
osteuropäischen  Einheitsbewegung  seinen  Frieden 
schloß.  Die  Kriegskosten  wurden  ihm  vergütet.  Herzog 
Ernst,  der  Mann  der  deutschen  Einheit  und  des  Libera- 
lismus, blieb  seitdem  verschollen. 

In  den  letzten  Jahrzehnten  führte  Herzog  Ernst 
das  Dasein  eines  Rentiers,  der  sich  von  den  Geschäften 
zurückzieht  und  nur  noch  seinen  Liebhabereien  lebt. 
Aus  einem  unverantwortlichen  Regenten  wurde  er  — 
ohne  Not !  —  verantwortlicher  Autor.  Trotz  der  eige- 
nen Produktion  förderte  er  Kunst  und  Wissenschaft  — 
natürlich  mit  Auswahl.  Daneben  entwickelte  sich  in 
dem  kleinen  Ländchen  die  Blaufärberei  zu  bedeutender 
Blüte.  Gar  mancher,  dessen  Vater,  noch  bürgerlich 
und  produktenbörslich  gesinnt,  den  „Börsenkurier41 
las,  wurde  durch  die  Koburger  Veredelungsindustrie 
ein  staatsmännischer  Abonnent  der  „Post"  und  ein 

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hochadliges  Mitglied  des  Unionklubs.  Mit  dem  Tode 
des  veredelnden  Fürsten  sind  die  Freiherren  und  Barone 
in  die  Hausse  gekommen;  sie  standen  vorher  infolge 
der  Koburger  Überproduktion  unter  pari. 

Politisch  hörte  man  allerlei  Seltsamkeiten  aus  dem 
thüringischen  Ländchen.  Die  Gefängniszustände  in 
Ichtershausen  konnten  den  ausschweifendsten  An- 
sprüchen verwöhnter  Sibirier  genügen.  In  Koburg- 
Gotha  war  der  Kriegsschauplatz  des  Streits  um  die 
vielberufene  Broschüre:  „Auch  ein  Programm  aus  den 
99  Tagen."  Man  hat  heute  das  Gefühl,  daß  der  Ver- 
fasser dieses  Pamphlets,  das  den  Freisinn  einer  Konspi- 
ration gegen  Bismarck  unter  Kaiser  Friedrich  beschul- 
digte, jemand  war,  der  den  Sturz  Bismarcks  bereits 
ahnte  und  ihn  verhindern  wollte,  indem  er  angebliche 
Verschwörungen  einer  dem  Kanzler  verhaßten  Partei 
gegen  Bismarck  ausheckte.  Wilhelm  II.  würde,  so 
nahm  man  etwa  an,  das  Odium  scheuen,  Intrigen  zu 
erfüllen,  die  an  seines  Vaters  Totenbett  von  der  Oppo- 
sition gesponnen  wurden.  Die  Broschüre  trägt  das 
Kennzeichen  der  meisten  politischen  Fehdeschriften: 
Die  Wirtschaft  mit  weitverzweigten  dunklen  Verschwö- 
rungen. Ist  Herzog  Ernst  wirklich  der  Verfasser  gewesen 
—  und  die  Behauptung  ist  unwiderlegt  geblieben  — 
so  muß  sich  der  alte  Herr  aus  einem  zahmen  Liberalen 
zu  einem  sehr  ungebärdigen  Reaktionär  entwickelt 
haben.  Es  muß  hinter  dieser  Broschüre  eine  sehr  selt- 
same Geheimgeschichte  stecken,  deren  Aufklarung  noch 
heute  interessieren  würde. 

Auch  der  schmerzlichen  Enttäuschungen  barg  sein 
Lebensabend.  Er,  der  doch  allezeit  das  Beste  des 
Volks  in  freiheitlichem  Geist  erstrebt,  mußte  es  er- 
leben, daß  Gotha  durch  einen  Sozialdemokraten  im 
Reichstag  vertreten  wurde.  Kein  Wunder,  daß  er  sich 
lieber  auf  die  Kunst  zurückzog,  die  er  allezeit  zu 
kommandieren  verstand,  wenn  auch  nicht  ganz  im 
Goethischen  Sinn.   Zuletzt  lockten  ihn  die  Erfolge 

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Sonzognos  und  er  veranstaltete  Opernpreisausschreiben 
und  Mustervorstellungen.  Bei  einer  dieser  Auffüh- 
rungen erlitt  er  einen  Unfall,  der  die  Ursache  seines 
Todes  geworden  sein  soll.  So  ist  er  gleichsam  auf  dem 
Felde  der  Kunst  gestorben. 

An  seine  Stelle  ist  ein  englischer  Fürst  getreten. 
Gegen  diese  englische  Einfuhr  hatte  man  in  manchen 
Kreisen  Bedenken.  Bisher  ist  aber  kein  Unglück  ge- 
schehen, auch  keine  Annexion.  Die  Anglophoben 
trösten  sich  wohl  mit  der  Aussicht,  daß  demnächst  ein 
Russe  in  Oldenburg  thronen  und  so  der  englische  Ein- 
fluß paralysiert  wird.  Inzwischen  scheint  die  finan- 
zielle Zerrüttung  des  Herzogtums  dringlicher  der 
Heilung  zu  bedürfen  als  die  nationale. 

Die  Gefahr,  daß  die  thüringischen  Fürsten  aus- 
stürben, ist  wieder  in  die  Ferne  gerückt,  und  damit  auch 
die  Gefahr,  daß  es  statt  der  thüringischen  Fürsten- 
tümer eine  Provinz  Thüringen  mit  einem  Regierungs- 
präsidenten in  Erfurt  gäbe.  Fürwahr,  es  wäre  ein 
unermeßlicher  Schaden.  Verloren  auf  einmal  der  Duft 
jahrhundertelanger  Lebensüppigkeit,  zerronnen  das 
Gedächtnis  kunstvoller  Filigranintrigen,  schwül  ver- 
knoteter Liebesgeschichten.  Statt  märchenschöner 
Frauengestalten  von  geheimnisvollem  Reiz  und  uner- 
gründlicher Tugend,  von  abenteuerlichem  Heißblut 
und  herrschfroher  Hingebung,  eine  biedere,  brave, 
deutsch-keusche  Hausfrau,  eine  Geborene,  welche  die 
Küchenbücher  der  Mägde  kontrolliert,  deren  Lebens- 
zenith erreicht  ist  bei  der  Verheiratung  der  letzten 
Tochter  und  deren  höchste  Tragik  die  Übergehung 
des  geliebten  großen  Mannes  beim  Ordensfest  bedeutet; 
statt  einer  chronique  scandaleuse  aus  rosafarbenen 
parfümierten  kokett  gekritzelten  Blättchen  blaue  steife 
Aktendeckel  mit  starkem  Kanzleipapier  in  Folio  gefüllt 
und  in  der  Mitte  gescheitelt  wie  das  Haupt  des  Chefs; 
vorbei  all  die  teilnahmsvollen  Erkundigungen  nach 
der  libido  und  potentia  der  Durchlauchtigen,  kurz: 


255 


preußische  legitime  Prosa  für  prickelnde  Poesie  mit 
einem  Stich  ins  Konfiszierte.  Fern  noch  möge  die 
Zeit  mitleidsvoller  Humanität  sein,  welche  die  Eman- 
zipation des  Menschengeschlechts  auch  diesen  letz- 
ten Abgesperrten  bringt,  die  Tore  öffnet  und 
das  gelbe  Zeichen  liebevoll  von  der  gedrückten  Stirne 
nimmt. 

(September  1893.) 


256 


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Wir  haben  genug! 

„Aber  seine  (Börnes)  Worte:  „Kein  euro- 
päischer Fürst  ist  so  verblendet,  daß  er  glaubt, 
seine  Enkel  werden  seinen  Thron  besteigen", 
diese  Worte  muß  ich  leider  bezweifeln.  Es 
muß  ärger  werden,  ehe  es  besser 
wird."  Der  fünfzehnjährige  Lassalle. 

„Man  muß  sich  hüten,  den  Notstand  öffent- 
lich anzuerkennen,  weil  dadurch  nur  die  Ar- 
beitsscheu und  die  Begehrlichkeit  gesteigert 
wird.  Das  Niveau  der  Menschen  im  all- 
gemeinen und  der  Arbeiter  im  besonderen 
sinkt  herab,  wenn  sich  eine  übermäßige  Hilfs- 
bereitschaft gegenüber  Arbeitslosigkeit  zeigt." 
Herr  Stadtbaurat  Hobrecht-Berlin. 

Am  23.  Januar  1894  war's  im  Sprechsaal  des  all- 
gemeinen, gleichen,  direkten,  geheimen  und  deutschen 
Volkes,  genannt  Reichstag,  recht  langweilig.  Es  roch 
förmlich  nach  Wärmehallen,  drei-Pfennig- Kaffee  und 
zehn-Pfenn:g-Diners,  und  der  schweißige  Dunst  der 
Vielzuvielen,  der  von  irgendwoher  sich  eingeschlichen 
hatte,  wurde  nur  mäßig  aromatisiert  durch  den  ur- 
kräftigen Duft  polizeilicher  Gummiartikel,  dieser 
fürtrefflichen  schlauchförmigen  Präservative  gegen  die 
üblen  Folgen  des  Hangers. 

Es  war,  wie  gesagt,  sehr  langweilig:  der  zweite  Tag 
der  allwinterlich  wiederkehrenden  Notstandsdebatten. 
Ich  bitte,  kann  man  wirklich  von  einem  seit  Jahren  ver- 
hungernden Agrarier  verlangen,  daß  er  sich  in  anderer 
Leute  private  Angelegenheiten  mischt,  wo  ihm  selbst 
das  Dach  unter  der  Last  der  Hypotheken  zusammen- 
zustürzen droht?  Nein,  das  wäre  sträflicher  Fürwitz, 
ein  unberechtigter  Eingriff  in  fremde  Familienver- 
hältnisse. Und  überdies  ist  der  Notstand  genau  das, 


sf   Eitner.  G«sammelt-»  Schrift«.  I. 


257 


was  Frühling  und  Liebe  in  der  Lyrik  ist.  Es  läßt  sich 
nichts  Neues  über  diesen  Gegenstand  sagen,  und  des- 
halb wird  ein  gebildeter  und  intelligenter  Mensch  das 
Thema  vermeiden.  Höchstens  den  Auserwählten  des 
Himmels  beschert  fromme  Spezialerleuchtung  ein 
neues  Sprüchlein,  wie  das  des  braven  Zentrumsmannes 
Fuchs,  der  da  sehr  richtig  und  originell  bemerkte: 
„Die  Geschichte  lehrt,  daß,  solange  es  Menschen  ge- 
geben hat,  auch  Notstände  existieren.  In  der  Tat,  die 
Menschheit  liegt  krank  und  elend  am  Wege  aller  Zeiten, 
auch  der  unserigen,  —  und  daran  werden  auch  Sie 
nichts  ändern;  denn  es  ist  eben  Gottes  Wille,  daß  dem 
so  sei.  Die  Erde  ist  eben  kein  Paradies,  und  wir  können 
uns  auch  selbst  hienieden  keins  schaffen.  Not  und  Elend 
füllen  das  Dasein  des  Menschen  aus ;  indem  wir  sie  mit 
Ergebung  in  Gottes  Willen  ertragen,  sollen  wir  uns 
den  Himmel  verdienen."  Womit  freilich  das  Sträuben 
gegen  den  —  nach  der  Ansicht  des  Herrn  —  teuflischen 
Zukunftsstaat  unerklärlich  wird,  dessen  verbessertes, 
d.  h.  vergrößertes  Elend  doch  eine  um  so  tüchtigere 
Vorbereitungsschule  zur  Erlangung  des  Reifezeugnisses 
für  die  himmlische  Karriere  sein  dürfte. 

Während  so  böse  Umstürzler  um  ein  bißchen  Hunger 
und  Frost  mit  der  Vorsehung  und  der  Ordnung  des 
Diesseits  haderten,  schritt  draußen  in  gewaltigem 
Gang  die  Weltgeschichte  und  rüttelte  an  den  Morse- 
apparaten und  an  den  Redaktionshirnen,  und  nachdem 
sie  sich  genistet  in  der  dämmerigen  Einsamkeit  eines 
edlen  Weingewölbes,  türmte  sie  aus  Briefen  und  Loko- 
motiven, aus  Empfangsentwürfen,  Ernennungen,  Diners, 
Wacht  am  Rhein,  Flaggen,  gebildeter  und  besitzender 
Begeisterung,  Gruppenbildern,  Leitartikeln  und  Tele- 
grammen ein  Riesenwerk  des  Reinmenschlichen:  Ver- 
söhnung zwischen  Bismarck  und  Wilhelm  II.! 
Und  die  Menschen  gingen  hin  in  den  hehren  Karten- 
dom der  Versöhnung,  in  dem  die  Legende  die  Fest- 
predigt hielt,  und  lauschten  andächtig  den  Worten 

«5» 


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des  Friedens,  und  es  war  alles  wie  ein  historischer  Akt- 
schluß mit  schöner  bedeutender  Gruppenbildung  und 
gutem  Notausgang. 

Selbst  die  gerecht  verbitterten  Agrarier,  auf  deren 
Existenz  —  ich  weiß  es  nicht  recht,  ist  es  durch  das 
alte  Rom  oder  durch  die  französische  Revolution  histo- 
risch erwiesen  —  das  Dasein  der  Welt  beruht,  ent- 
deckten, nachdem  sie  sich  zuvor  fürsorglich  vergewis- 
sert, daß  das  Ganze  nicht  etwa  eine  Intrige  zugunsten 
des  russischen  Handelsvertrages  sei,  ihre  jauchzende 
vom  Alp  befreite  Volksseele  .  .  . 

Im  Sprechsaal  des  allgemeinen,  gleichen,  direkten, 
geheimen  und  deutschen  Volkes  sprach  der  Sozial- 
demokrat Kühn  gerade  über  das  sogenannte  Weber- 
elend in  Schlesien.  Es  wohnen  dort  nämlich  jene  unan- 
genehmen Leute,  die  zu  faul  sind,  um  sich  ordentlich 
satt  zu  essen,  denen  deshalb  die  Haut  —  und  noch  dazu 
eine  schmutzige,  fleckige  Haut  —  direkt  ohne  jeden 
Zwischenhandel  von  Fleisch  und  Fett  über  das 
Knochengerüst  gespannt  scheint,  das  sich  überdies 
noch  in  wunderlichen  Windungen  und  Wendungen 
gefällt;  nirgends  sieht  man  die  Köpfe  in  so  mannig- 
facher Weise  an  den  Rumpf  genietet  wie  in  jener  unan- 
genehmen Gegend.  „Also  eine  Familie  von  zwei  Er- 
wachsenen und  einem  arbeitsfähigen  Kinde  verdient 
bei  voller  Arbeit  die  Riesensumme  von  6%  M.  pro 
Woche  im  günstigsten  Fall  —  sagt  dieses  Zentrums- 
blatt . . .  Die  Häuser  sind  so,  daß  vorne  und  hinten  so 
viele  Risse  in  der  Lehmwand  sind,  daß,  wenn  man 
gegen  die  Vorderwand  einen  Stein  wirft,  er  hinten 
wieder  hinausfliegt . . .  Das  Stückchen  Land,  das  einzelne 
haben,  ist  an  den  Berglehnen  und  Steinrücken  so 
herumgelegen,  und  von  den  mühseligen  paar  Halmen, 
die  sich  da  mit  unendlich  vieler  Mühe  die  Arbeiter  früh 
morgens  und  abends  nach  ihrer  regelmäßigen  Erwerbs- 
arbeit erzeugen,  müssen  sie  nicht  etwa  den  zehnten 
Teil,  sondern  oft  die  Hälfte  und  in  einzelnen  Fällen 


259 


das  Ganze  wieder  opfern,  und  zwar  für  die  gräflichen 
Hirsche,  Rehe  und  Hasen,  die  in  den  angrenzenden 
Forsten  ihren  Sitz  haben,  und  die  natürlich  nicht  erst 
um  Erlaubnis  fragen,  ob  sie  etwas  abfressen  oder  zer- 
trampeln dürfen  .  .  ."  Derlei  abgedroschene  Dinge 
führte  Herr  Kühn  in  eintönige!  Breite  vor,  in  dem  welt- 
historischer Moment,  da  das  hochgespannte  Empfinden 
der  Nation  die  Chamade  umjubelte,  die  aus  der  Fan- 
fare: „Le  roi  me  reverra!"  gezähmt  worden  war,  wie 
es  schien;  solche  triste  Sentimentalitäten  wagte  Herr 
Kühn  auszuspinnen,  obwohl  Herr  v.  Kardorff  —  einer 
von  denen,  ohne  die  der  Staat  nicht  leben  kann!  — 
bereits  seine  jauchzende  Volksseele  entdeckt  und  in 
stolzem  Mut  offen  bekannt  hatte.  Da  ließ  sich  die 
mißhandelte  Volksseele  nicht  länger  bändigen.  Hatte 
Herr  Kropatscheck  zuerst  in  höflicher  Verwarnung 
die  Volksstimme  eines  Bekannten  vorgeführt,  der  zu 
ihm  geäußert:  „Heute  wird  es  wohl  große  Radau- 
reden hier  im  Reichstag  geben!"  so  mußte  jetzt  etwas 
deutlicher  gegen  die  die  Feierstimmung  der  Nation 
schnöde  entweihenden  Radaureden  protestiert  werden 
und  mit  einem  kräftigen:  „Wir  haben  genug!"  verließ 
ein  Teil  der  Rechten  demonstrativ  das  Haus.  Das 
parlamentarische  Elendsschauspiel  schloß  mit  grellem, 
höhnischem  Klang,  während  das  hochpoetische,  groß- 
zügige Historiendrama,  das  sich  gleichzeitig  abspielte, 
schön  und  befriedigend  endete,  in  vollendeter  Technik 
und  mit  meisterhafter  Wahrung  der  Einheit  der  Zeit. 
Ein  schneidendes:  „Wir  haben  genug!"  dort,  ein  sehn- 
süchtiges :  „O,  währte  es  ewig !"  hier,  ungemilderte,  un- 
veredelte Wahrheit  im  ersten,  glänzende  Stilisierung, 
Glättung,  Beleuchtung  im  anderen  Fall.  Aus  den  Tiefen 
der  Volksseele  stammt  nur  die  Bewunderung,  die  weiß, 
daß  eigentlich  alles  nicht  wahr  ist,  was  sie  bewundert. 
Das  Unwahre  allein  ist  das  Befriedigende,  das  Be- 
geisternde, man  betet  das  Unwahre  an,  indem  man  das 
Unmögliche  möglich  denkt.    Selbst  historische  Fa- 

260 


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miliendramcn  sind  nur  dann  wirksam,  wenn  sie  nicht 
von  Menschenkennern  geschrieben  sind  und  keine 
Menschenkenner  als  Publikum  verlangen.  Vor  einigen 
Jahren  ereignete  sich  einmal  im  Berliner  Residenz- 
theater ein  seltsamer  Vorfall.  Herrn  Daudets  „Kampf 
ums  Dasein"  wurde  aufgeführt.  Auf  dem  Zettel 
standen  vier  Akte  vermerkt,  aber  der  dritte  Akt  war 
hinterlistigerweise  durch  eine  Verwandlung  halbiert. 
Als  nun  am  Schlüsse  des  dritten  Aktes  der  Held,  der 
bis  dahin  ein  röher,  gemütloser,  vor  keinem  Verbrechen 
zurückscheuender  Streber  war,  in  einer  reinmensch- 
lichen Aufwallung  vor  einer  edelmütigen  Dame  auf 
die  Knie  stürzte,  da  war  das  Publikum  hocherbaut  und 
tiefergriffen  und  —  eilte  nach  der  Garderobe.  Es 
kostete  einige  Mühe,  die  Leute  zu  überreden,  sich 
noch  den  vierten  Akt  zu  beschauen,  der  minder  ver- 
söhnlich war.  Es  geschieht  öfters,  daß  wir  das  zweite 
Bild  des  dritten  Aktes  mit  dem  vierten  Akte  verwechseln, 
weil  wir  alles  Menschliche  für  möglich  zu  halten  wün- 
schen, ausgenommen  das  Menschenmögliche,  was 
zumeist  das  Unversöhnliche  und  Unbefriedigende  ist. 

Wir  haben  auch  keine  Lust,  das  Wahre,  das  Wesent- 
liche würdig  zu  bewältigen,  aber  die  Anekdote  in 
Galauniform  wissen  wir  zu  feiern  und  zu  genießen. 
Ergreifend  ist  es  zu  lesen,  wie  ein  blonder  Mann  aus 
derProvinz  unlängst,  beim  Einzug  des  Fürsten  Bismarck 
in  Berlin,  zwei  Leute  von  peinlich  gekrümmtem  Äuße- 
ren barsch  zurechtwies,  weil  sie,  anstatt  „Deutschland, 
Deutschland  über  alles"  mitzusingen,  von  Kreditaktien 
sich  unterhielten.  Welch  feiner  Takt  für  das  in  ge- 
weihten Höhenzeiten  Schickliche  spricht  aus  dieser 
national-blonden  Zurechtweisung.  Und  nun  vergleiche 
man  dieses  vielleicht  übertriebene  zarte  Taktgefühl 
mit  der  Art,  wie  man  die  reichstäglichen  Notstands- 
debatten erledigte.  Wenn  man  bei  Notstandsdebatten, 
anstatt  in  feierlicher  Ergriffenheit  unserer  Regierung, 
unseren  Ersten,  unseren  Verhältnissen,  unserer  Zeit 


261 


ein  Vertrauensvotum  auszustellen,  die  Herrlichkeit 
des  Erworbenen  preisend,  von  Arbeitslosigkeit,  Elend 
und  so  weiter  spricht,  so  ist  das  genau  so,  wie  wenn  ein 
Hebräer  am  deutsch-nationalen  Versöhnungstag  von 
Kreditaktien  spricht.  Selbst  Herr  v.  Boetticher  hat 
etwas  von  seinem  alten  schönen  Pathos  eingebüßt, 
auch  er  sprach  gelegentlich  von  Kreditaktien  —  will 
sagen  von  Arbeitslosigkeit,  und  es  kostete  ihm  einige 
Mühe,  an  statistischen  Rettungsseilen  auf  den  Boden 
der  idealen  Zustände  zu  klettern.  Doch  besaß  er 
wenigstens  so  viel  Ritterlichkeit,  sich  auf  banausischen 
Abhilfgedanken  nicht  einzulassen.  Mehr  Lob  ver- 
dient Herr  v.  Stumm.  Sein  sehnsüchtiges  Ringen  nach 
einem  neuen  Sozialistengesetz  zeigt,  daß  es  immer  noch 
Männer  gibt,  die  eine  schönere,  von  der  Misere  des 
kleinen  erbärmlichen  Alltagslebens  unbefleckte  Zeit 
heraufzuführen  beflissen  sind.  Und  in  welch  hoch- 
herziger Weise  wehrte  er  die  Würde  germanischer 
Standesart,  als  er  die  Hetzer  und  Volksbeglücker  auf 
die  Schmach  hinwies,  daß  sie  sich  für  ihre  Tätigkeit 
bezahlen  ließen.  Bisher  haben  die  Führer  der  deut- 
schen Nation  von  Industrie-,  Landwirtschafts-  und 
Gottesgnaden,  die  Minister,  Staatssekretäre,  Land- 
räte, Regierungspräsidenten  niemals  sich  für  die 
Leistung  ihrer  Ehrenpflicht  besolden  lassen,  und  selbst 
die  Landbriefträger,  Weichensteller  und  Volksschul- 
lehrer, die  in  ihrem  Pöbelsinn  von  Haus  aus  soldgieriger 
sind,  werden  durch  die  weise  Einwirkung  einer  ethi- 
schen Regierung  zur  Abgewöhnung  dieses  schmutzigen 
Triebes  erzogen.  Es  gab  dann  wohl  noch  einige  Licht- 
punkte: die  herrlichen  Worte,  die  man  dem  Christen- 
tum gewidmet  hat,  der  freisinnige  Gedanke,  daß  nur 
wenn  die  Menschen  Engel  wären,  sie  für  das  Zucht- 
haus des  Zukunftsstaates  befähigt  sein  würden;  doch 
kann  dieser  Lichtpunkt  auch  eine  optische  Täuschung 
sein.  Aber  immerhin  war  das  Herrenwort :  „Wir  haben 
genug!"  wie  eine  Erlösung. 

262 


—  1 


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Sonderbar  ist  es  nur,  daß  selbst  die  Herren  Sozial- 
demokraten» trotzdem  man  ihnen  zuliebe  das  schöne 
Thema  in  die  Niedrigkeit  verkommenen  Menschen- 
tums gezogen  hat,  so  ganz  und  gar  nicht  zufrieden  mit 
dem  Verlauf  der  Verhandlungen  sind.  Es  ist  immer  der 
alte  Jammer,  daß  sie  sich,  statt  einfach  begeistert  zu 
fühlen,  in  allerlei  grauen  Abstraktionen  rationalistisch 
denken.  So  erreichte  mich,  während  ich  gerade  die 
großen  Begebnisse  der  letzten  Tage  berauscht  —  ich 
hoffe,  daß  ein  wenig  von  dieser  Stimmung  noch  in 
diesen  Zeilen  zu  spüren  ist  —  auf  dem  Sofa  nach- 
träumte, ein  bitterböser  Brief  aus  der  Provinz,  der  u.  a. 
folgende  Stelle  enthielt :  „Während  die  guten  Leute  die 
Regierung  für  unfähig  halten,  auch  nur  einem  Hungern- 
den ein  Stückchen  Brot,  einem  Frierenden  einen  Rock, 
einem  Obdachlosen  eine  Stube  zu  verschaffen,  glauben 
sie  mit  fanatischer  Inbrunst  an  die  gewaltige  Kraft- 
wirkung, die  eine  rein  menschliche  Impression  eines 
Fürsten,  der  Frieden  schließen  will  —  oder  zu  schließen- 
scheint  —  mit  einem  entlassenen  Diener  (die  Schul- 
geschichte wird  das  einst  unter  die  schönen  Züge 
buchen!)  auf  die  Gestaltung  der  Dinge  zu  üben  ver- 
mag. Nie  ist  mir  so  klar  geworden,  wie  klein  doch 
eigentlich  der  Größenkultus  ist:  niederige  politische 
Sinnlichkeit,  die  kläglich  absticht  gegen  die  reine 
Geistigkeit,  die  an  Gedanken  glaubt,  die  Ideen  in 
Taten  zu  verwandeln  strebt.  Wehe  denen,  die  all 
ihre  Leidenschaft  für  politisches  Operngepränge  ver- 
geuden, und  nichts  übrig  haben  für  das  Wesentliche 
der  modernen  Kultur,  für  die  eigentliche  Mission  der 
Zeit!" 

Pfui,  sind  diese  Provinzialen  nüchtern,  abstrakt, 
gemein! 

Ich  aber  schwärme,  und  mein  Kopf  tanzt  wie  ein 
lachender  Löwe. 
Deutschland,  Deutschland  über  alles! 

(Februar  1894.) 


263 


Der  goldene  Magnetberg. 


Karl  Kautsky  hat  unlängst  einmal  die  Bemerkung 
gemacht,  das  unterscheidende  Merkmal  der  Sozial- 
demokratie gegenüber  allen  bürgerlichen  Parteien 
sei  gar  nicht  mehr  die  Auffassung  über  den  Kapitalis- 
mus, sondern  das  Verhältnis  zum  Militarismus.  Der 
Ausspruch  wirkte  beim  ersten  Aufnehmen  überraschend 
wie  eine  unerhörte  und  dazu  unbegründete  Ketzerei. 
Überlegte  man  sich  aber  das  Paradoxon  näher,  so  ent- 
deckte man  nicht  ohne  Erstaunen,  daß  Kautsky, 
wenigstens  soweit  die  Entwickelung  der  deutschen 
Parteien  und  Richtungen  in  Betracht  kommt,  ein  kluges 
Wort  der  Selbstbesinnung  über  den  gegenwärtigen 
politischen  Tatbestand  gefunden  hat. 

In  Wahrheit,  wir  sehen  heute  innerhalb  der  bürger- 
lichen Parteien  das  ganze  Spektrum  antikapitalistischer 
und  Sozialist elnder  Nuancen  vertreten.  Das  reine 
Manchestertum,  das  als  solches  gegenüber  dem  grund- 
satzlosen, erweichten  Eklektizismus  den  nicht  verächt- 
lichen Wert  einer  zwar  falschen,  aber  wissenschaftlich 
strebenden  Lehrmeinung  beanspruchen  darf,  hat  die 
gewaltige  Geltung,  die  es  noch  vor  dreißig  Jahren  als 
Erkenntnislehre  wirtschaftlicher  Gesetzmäßigkeit  be- 
sessen, bis  auf  den  letzten  Rest  eingebüßt.  Auch  die 
paar  Azteken  des  großen  Irrtums  wagen  nur  noch  ver- 
stohlen von  dem  wundertätigen  Spiel  der  freien  Kräfte 
zu  schwärmen,  und  der  durch  die  Gesetzgebung 
überall  eingeschnürte  Kapitalismus  —  ohne  daß  diese 
bemühte  Oberaufsicht  des  Staates  imstande  wäre, 
irgendwelche  ernstliche  Schranken  seiner  Entfaltung 
entgegenzusetzen  —  wird  nirgends  und  von  niemandem 
mehr  für  eine  ewige,  unantastbare  Einrichtung  mensch- 

264 


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licher  Organisation  gehalten.  Der  bürgerliche  Staat 
hat  das  Prinzip  des  Manchester- Kapitalismus  längst 
preisgegeben.  Er  selbst  stümpert  in  sozialistischer 
Pfuscherei.  Die  bürgerliche  Gelehrsamkeit  liefert  im 
systemlosen  Kathedersozialismus  Viertel-,  Halb-  und 
Dreiviertelfabrikate  des  Sozialismus.  Es  gibt  keine 
Partei  mehr,  die  sozialistische  Argumente  verschmäht, 
und  kleinere  bürgerliche  Richtungen  sind  bereit,  sogar 
den  Klassenkampf  des  sozialistischen  Proletariats  zu 
unterstützen.  Die  gewaltige  Arbeiterbewegung  hat 
eben  alle  zu  Konzessionen  gezwungen.  In  dem  vor 
ein  paar  Jahren  zum  agrarischen  Feldgeschrei  erhobe- 
nen Antrag  Kanitz,  der  eine  Art  Verstaatlichung  des 
Getreidehandels  und  eine  fixierte  Rente  für  die  Groß- 
grundbesitzer anstrebte,  versuchte  sich  endlich  selbst 
der  Feudalismus  in  einer  Fratzesozialistischer  Gedanken. 

So  ist  allerdings  kaum  zu  leugnen,  daß  die  Grenzen 
zwischen  der  Sozialdemokratie  und  den  bürgerlichen 
Richtungen,  namentlich  wenn  man  die  Bemühungen 
radikaler  Eingänger  mit  berücksichtigt,  einigermaßen 
zu  verschwimmen  beginnen,  wenn  auch  das  eigentliche 
sozialistische  Ziel,  die  Vergesellschaftung  der  Pro- 
duktionsmittel, noch  ausschließlich  von  der  Sozialf 
demokratie  erstrebt  wird.  Die  Kluft  der  Anschauun- 
gen, die  vor  einem  Menschenalter  unüberbrückbar  war, 
hat  sich,  vornehmlich  in  der  theoretischen  Meinung, 
minder  in  der  praktischen  Übung,  unzweifelhaft 
verringert. 

Genau  den  entgegengesetzten  Weg  haben  die  Auf- 
fassungen über  den  Militarismus  genommen.  Die 
deutsche  liberale  Bourgeoisie  ist  im  Kampfe  gegen  den 
Militärstaat  erwachsen,  der  ihre  Entwickelung  hemmte. 
Bismarck  überwand  die  Abneigung  der  liberalen 
Doktrin  und  des  liberalen  Interesses  gegen  den  Mili- 
tarismus, indem  er  Gegenbeweise  der  Tat  provozierte, 
und  da  diese  Gegenbeweise  —  die  drei  Bismarckschen 
Kriege  —  erfolgreich  waren,  ging  ein  großer  Teil  des 


265 


Bürgertums,  der  noch  eben  im  wilden  Konflikt  gegen 
den  feudal  gerüsteten  Militärstaat  gekämpft,  mit 
stramm  durchgedrückten  Knien  zur  Religion  des 
Säbels  über:  Beethoven  wurde  durch  Militärmusik 
überwunden.  Immerhin  blieben  auch  nach  1870  be- 
deutende Parteien  Gegner  der  Gewalt-  und  Rüstungs- 
politik. Das  durch  den  Kulturkampf  gestählte  Zen- 
trum blieb  in  leidenschaftlicher  Opposition,  Freisinnige 
und  Demokraten  stritten,  immer  noch  ein  bißchen 
grundsätzlich,  gegen  das  gefährlichste  Machtmittel 
der  nationalen  und  internationalen  Reaktion. 

Dies  Verhältnis  hat  sich  nun  im  letzten  Jahrfünft 
von  Grund  aus  geändert.  Das  Zentrum  ward  regie- 
rende Partei  und  verfolgte  jetzt  die  Taktik,  ein  paar 
Monate  unwirsch  über  die  unersättlichen  Opfer  des 
bewaffneten  Friedens  zu  schimpfen,  um  sie  dann  zu 
bewilligen.  1893  gab  es  die  letzte  Reichtsagsauflösung 
wegen  der  Ablehnung  einer  Militärvorlage;  seitdem 
sorgten  die  Klerikalen  dafür,  daß  jede  Forderung  der 
Art  —  wenn  auch  mit  einigen  Anstandsabstrichen  — 
durchgesetzt  wurde.  Den  gleichen  Weg  ging  der  Frei- 
sinn, der  hinfort  entweder  gar  keine  oder  doch  nur 
finanzielle  oder  konstitutionelle  Bedenken  geltend 
machte.  1898  begann  dann  auch  mit  der  ersten  großen 
Marinevorlage  der  gleichmütige  Verzicht  auf  das 
jährliche  Budgetrecht,  und  es  ist  ein  offenes  Geheim- 
nis, daß  bei  der  Fünf-Milliarden-Marinevorlage  dieses 
Jahres  die  beiden  demokratischen  Fraktionen  der 
äußersten  Linken,  die  zwar  gegen  diese  konstitutionelle 
Monstrosität  stimmten,  ihre  Wähler  nicht  hinter  sich 
hatten;  prinzipielle  Gegnerschaft  gegen  die  Zu- 
mutungen des  Militarismus  und  Marinismus  wurde 
von  bürgerlichen  Vertretern  überhaupt  nicht  mehr 
geltend  gemacht. 

So  ist  es  denn  in  Wirklichkeit  allein  die  Sozialdemo- 
kratie, die  in  altem  Trotz  gegen  den  kulturwidrigen 
Militarismus  der  staubigen  und  der  wässrigen  Spielart 

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verharrt.  Die  grundsätzliche  Gegnerschaft  gegen  den 
Militarismus  ist,  wie  Kautsky  richtig  erkannte,  das 
Trennende  zwischen  dem  Proletariat  und  der  gesam- 
ten Bourgeoisie. 

In  dieser  Gegnerschaft  aber  steckt  zugleich  die  Diffe- 
renz der  sittlichen  Weltanschauung,  für  die  der  Mili- 
tarismus den  Prüfstein  bildet. 

Wenn  die  Sozialdemokratie  den  Militarismus  prin- 
zipiell bekämpft  und  die  Bourgeoisie  ihn  hätschelt,  so 
heißt  das  mit  anderen  Worten:  Das  Proletariat  hat 
von  der  liberalen  Bourgeoisie  die  von  ihr  verratene  und 
verlassene  kulturelle  Weltanschauung  weltbürgerlicher 
Humanität  übernommen,  die  sonst  nirgends  mehr  eine 
Stätte  findet.  Die  Stellung  zum  Militarismus  ist  in 
erster  Linie  das  Bekenntnis  einer  sittlichen  Weltan- 
schauung, in  ihr  scheiden  sich  die  Wege  der  Barbarei 
und  der  Sittlichkeit;  die  Sozialdemokratie  geht  den 
Weg  menschheitlicher  Sittlichkeit. 

Die  militaristische  Frage  ist  im  tiefsten  Gehalt  ein 
ethisches  Problem.  Ethisch  denken  und  handeln  aber 
heißt  nicht  ins  Blaue  schwärmen,  heißt  nicht  nach 
rauhem  Werkeltag  für  ein  paar  Feststunden  mit  glitzern- 
dem Flitter  sich  aufputzen,  sondern  Ethik  bedeutet  die 
wissenschaftliche  Erkenntnis  der  einzigen  Lebens- 
und Entwickelungsmöglichkeit  der  Völker  und  der 
Menschheit.  Die  humane  Weltanschauung  ist  in  Wahr- 
heit die  wirkliche  Realpolitik,  weil  sie  die  kulturelle 
Notwendigkeit  möglich  macht  —  die  Aufgabe 
allen  menschlichen  Handelns  ist,  nicht  das  Mögliche 
notwendig,  sondern  das  Notwendige  möglich  zu 
machen  —  weil  sie  in  tiefschauendem  Verständnis 
den  Weg  und  das  Mittel  weist  zu  dem,  was  not- 
wendig ist.  Der  überpfiffige  Realpolitiker  aber,  der 
über  das  humane  Narrentum  höhnt,  ist,  weltgeschicht- 
lich betrachtet,  der  eigentliche  Utopist,  der  in  ver- 
brecherischem Aberwitz  sich  gegen  die  Notwendigkeit 
auflehnt  und  die  Bedingungen  des  Daseins  zu  würgen 

267 


sucht.  Der  Realpolitiker  der  landläufigen  Maulwurfs- 
gattung ist  der  geprellte  Preller,  der  gemeingefährliche 
Geisteskranke. 

Hat  man  aber  diese  Bedeutung  des  Militarismus  er- 
kannt, so  wird  die  Lächerlichkeit  derer  offenbar,  die 
der  Sozialdemokratie  den  Rat  geben,  doch  auch 
„national"  zu  werden.  Das  würde  nichts  weniger  als 
die  Selbstentmündigung  und  den  Selbstmord  des 
Proletariats  bedeuten,  und  die  ganze  Menschheit  ver- 
löre darüber  die  Vernunft. 

In  dem  Problem  des  Militarismus  erscheint  überdies 
auch  in  anderer  Form  wieder  das  alte  kapitalistische 
Manchestertum,  das,  aus  den  nationalen  Verbänden 
vertrieben,  sich  auf  den  Weltmarkt  geflüchtet  hat: 
Weltpolitik,  Kolonialpolitik  ist  die  roheste,  verderb- 
lichste und  zweckwidrigste  Entartung  des  kapitalisti- 
schen Manchestertums,  es  ist  das  vom  Kapital  aus- 
gehaltene freie  Kraftspiel  der  See-  und  Landräuberei, 
das  alle  Schranken  kultureller  Satzungen  mißachtet, 
die  fessellos  tobende  Barbarei.  Weil  aber  humane  Sitt- 
lichkeit, zweckmäßige  Vernunft  und  notwendige  Ent- 
wickelung  identische  Begriffe  sind,  darum  bedeutet  die 
sittliche  Verurteilung  dieser  Politik  zugleich  ein  Urteil 
über  ihre  Möglichkeit  überhaupt.  Der  Ethiker  ist 
nicht  ein  müßiger  Phantaist,  der  die  realen  Verhält- 
nisse nicht  berücksichtigt,  sondern  er  ist  im  Gegenteil 
der  Mann  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  der  Reali- 
täten, er  ist  der  prophetische  Mahner,  der  weiß,  daß 
der  Weg  der  kurzsichtigen  „Weltkenner"  in  den  Ab- 
grund führt.  Alles  politische  Geschehen  an  den  Grund- 
sätzen sittlicher  Weltanschauung  messen  heißt  nicht 
spielen  und  träumen,  sondern  die  Zukunft  schaffen, 
die  werden  muß,  wenn  anders  die  Menschheit  nicht 
in  krystallinischer  Erstarrung  an  ihrem  Wahn  zer- 
splittern soll. 

268 


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Weltpolitik  ist  Weltmanchestertum.  Sie  bedeutet 
den  ungeheuerlichen  Versuch  des  Kapitalismus,  auf 
einem  Umwege  wieder  die  Schranken  zu  zerstören, 
die  von  der  Macht  der  Arbeiterbewegung  und,  unter 
ihrem  Zwange,  von  den  nationalen  Gesetzgebungen 
in  den  modernen  Industriestaaten  seinem  ungezügelten 
Ausleben  gesetzt  wurden.  Das  Kapital  will  wieder 
mit  freier  Willkür  über  die  ganze  Kraft  von  Arbeiter- 
massen verfügen.  So  erklärt  sich  die  tiefe  Sehnsucht 
nach  China,  nach  seinen  Millionen  willfähriger,  fleißi- 
ger bedürfnisloser  Kulis.  Darum  drängt  das  euro- 
päische Kapital  nach  diesem  Paradies  der  unerschlosse- 
nen  Bodenschätze  und  der  unerwachten  Sklaven.  Das 
Kapital  bringt  nicht  die  Kulis  nach  Europa,  wo  sie 
leicht  politisch  infiziert  werden  könnten,  es  geht 
vielmehr  selbst  zu  ihnen  —  in  der  Sache  aber  bleibt 
es  derselbe  Versuch,  durch  die  Konkurrenz  der  Kuli- 
massen der  Begehrlichkeit  der  zum  Kraftbewußtsein 
erwachten  Arbeiter  der  modernen  Industriestaaten 
Schach  zu  bieten;  es  ist  der  Kuliimport  in  anderer, 
wirksamerer  Form,  es  ist  das  Unterfangen,  moderne 
Industrie  ohne  moderne  Arbeiter  zu  produzieren,  es 
ist  —  in  der  Tendenz  —  eine  Generalaussperrung 
des  gesamten  organisierten  Proletariats. 

Aber  indem  das  kapitalistische  Weltmanchestertum 
sich  mit  der  rohen  Rückständigkeit  des  feudalen  Mili- 
tarismus verbündete,  wurde  es  utopisch.  Als  der  welt- 
politische Flottenwahn  die  Köpfe,  namentlich  der 
„Intellektuellen",  benebelte,  wies  die  Sozialdemokratie 
auf  den  Widersinn,  die  innere  Unmöglichkeit  dieses 
Weltmanchestertums  hin.  Gerade  vom  Interessen- 
standpunkt des  Kapitalismus  war  diese  Weltpolitik  mit 
Panzerschiffen  und  Kanonen  utopisch,  ein  Taumeln 
zur  Katastrophe.  Die  Nomaden  des  Kapitalismus  be- 
dürfen des  Friedens,  um  die  Weideplätze  des  Erd- 
balls abzugrasen.  Der  Kapitalismus  kann  nur  als  stiller 
Einschleichet  kommen,  der  sanfte  Goldregen  er- 

269 


öffnet  den  Schoß,  den  die  brutale  Vergewaltigung  zum 
Widerstand  reizt. 

Unerwartet  schnell  haben  die  Tatsachen  diesem 
Urteil  recht  gegeben.  Die  reichsdeutsche,  imperia- 
listische Weltpolitik,  der  deutsche  Bonapartismus,  „in 
dem"  —  um  mit  Marx  zu  reden  —  „der  Staat  zu  seiner 
ältesten  Form  zurückgekehrt  ist,  zur  unverschämt  ein- 
fachen Form  von  Säbel  und  Kutte",  ist  bei  ihrer  ersten 
Ausfahrt  furchtbar  gescheitert,  sie  ist  in  einem  blutigen 
Abenteuer  zusammengebrochen,  von  dem  sie  sich 
—  bei  allen  äußeren  militärischen  Erfolgen  —  so 
leicht  nicht  erholen  wird.  Und  nicht  nur  das  Deutsche 
Reich,  die  ganze  europäische  Politik  des  Wettrüstens, 
der  gepanzerten  Faust,  der  Völkerausraubung  ist  vom 
Krach  erfaßt,  der  dadurch  noch  verschärft  wird,  daß 
er  zusammentrifft  mit  einer  jähen  wirtschaftlichen 
Krisis  nach  dem  ungeheuren  Aufschwung,  den  man 
für  endlos  halten  wollte:  die  chinesischen  Boxerfäuste 
haben  in  wunderbarer  Fernwirkung  die  Denkerstirnen 
der  europäisch-amerikanischen  Börsianer  mit  Beulen  ge- 
schmückt, die  Kugeln  der  Krieger  Tuans  sind  in  den 
papiernen  Eiffelturm  der  Aktienkurse  gefahren  — 
der  ganze  Bau  ist  geborsten,  und  die  Marktverweser 
der  internationalen  Spekulation  haben  in  besinnungs- 
loser Panik  die  Trümmer  im  Stich  gelassen. 

Hat  der  Burenkrieg  gelehrt,  wie  ohnmächtig  inner- 
lich die  englische  Weltmacht  gegenüber  einem  Volk 
ist,  das  an  Zahl  von  deutschen  Großstädten  um  das 
Vielfache  übertroffen  wird,  so  hat  der  Aufstand  der 
Boxer  unbarmherzig  die  Fäulnis  des  ganzen  herrschen- 
den Systems,  des  militärisch-marinistisch  bewehrten 
Raubkapitalismus  bloßgelegt. 

Europa  hat  seit  1870  etwa  40  Milliarden  für  den 
Kultus  des  bewaffneten  Friedens  ausgegeben.  Gegen- 
wärtig werden  in  schnell  steigender  Progression  all- 
jährlich 4'/t  Milliarden  von  den  Staaten  Europas  für 
Heer  und  Flotte  ausgegeben  —  ungerechnet  die  Kriegs- 

270 


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mittel  der  Vereinigten  Staaten  und  Japans.  Jedes 
neue  Dutzend  Panzerschiffe,  das  die  deutschen  Re- 
gierungen fordern,  wird  mit  der  Notwendigkeit  be- 
gründet, den  deutschen  Handel  und  die  Deutschen 
im  Auslande  zu  schützen.  Deutschland  allein  begehrte 
nach  einem  Kaiserwort,  stark  genug  zu  sein,  um  der 
ganzen  Welt  den  Frieden  zu  gebieten  —  und  jetzt 
sind  die  vereinigte  Militärstaaten  der  ganzen  Erde 
wochenlang  nicht  imstande  gewesen,  150  km  von  der 
chinesischen  Küste  entfernt  wohnende  Fremde  vor 
der  Wut  eines  lange  mißhandelten  Volkes  zu  schützen, 
jetzt  vermochte  dies  Riesenaufgebot  von  Machtmitteln 
nicht  die  Vernichtung  des  Handels,  die  Zerstörung  von 
Eisenbahnen  zu  hemmen.  Die  Kanonen  haben  sich 
nicht  als  Agitatoren  des  Welthandels  und  der  Groß- 
industrie erwiesen,  sondern  als  deren  Zerstörer.  Und 
dieser  innere  Bankerott  bleibt  bestehen,  wenn  sich 
auch  die  chinesische  Affäre  vielleicht  minder  gefähr- 
lich gestalten  sollte  als  es  zuerst  schien.  Europa  hat 
seine  Ohnmacht  erwiesen,  Europäer  im  Auslande  zu 
schützen,  und  es  ist  den  Chinesen,  nicht  Europa  zu 
verdanken,  wenn  die  Fremden  nicht  den  Untergang  ge- 
funden haben.  Endigt  das  weltpolitische  Abenteuer 
für  Europa  noch  einigermaßen  glimpflich,  so  ist  das 
nicht  das  Verdienst  Europas,  sondern  der  Erfolg  chine- 
sischer Zerrissenheit  und  Unschlüssigkeit,  es  ist  die 
zufällige  Wirkung  militärischer  Minderwertigkeit,  die 
kulturelle  Überlegenheit  ist. 

In  dieser,  an  grauenhaft  humoristischen  Zügen 
reichen  chinesischen  Blutfarce,  die  aus  keinerlei  staats- 
männischen Berechnungen  geschaffen  und  geleitet, 
sondern  aus  lauter  Überraschungen  zusammengesetzt 
ist,  war  der  plötzliche  glorreiche  Vormarsch  der  ver- 
einigten Truppen  nach  Peking  ein  abenteuerlicher 
Witz.  Ruhig  blieben  die  tapferen  Krieger  in  Tientsin, 
obwohl  Tag  für  Tag  die  schlimmsten  Nachrichten  über 
die  Lage  der  Fremden  in  Peking  verbreitet  wurden. 

271 


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Die  militärischen  Fachleute  bewiesen  die  Unmöglich- 
keit eines  Vormarsches.  Als  dann  aber  Deutschland 
seine  rasselnden  Prahlereien  in  alle  Winde  schrie  — 
da  war  das  Unmögliche  plötzlich  ausführbar.  Deutsch- 
land sollte  nicht  dabei  sein,  wenn  die  flatternden 
Kulturfahnen  in  Peking  den  Frieden  diktierten.  Man 
rückte  vor,  und  die  Rettung  gelang  ohne  erhebliche 
Anstrengung. 

Vielleicht  ist  auch  das  plötzliche  Erlöschen  des 
militärischen  Widerstandes  der  Chinesen,  deren  helden- 
mütige Wehr  zuerst  das  Erstaunen  und  die  sinnlose 
Angst  der  vereinigten  „Kultur"  erregt  hat,  nicht  auf 
ganz  natürliche  Ursachen  zurückzuführen.  Es  ist  nicht 
unwahrscheinlich,  daß  von  Anfang  an  russisch-ameri- 
kanische Geheimverhandlungen  mit  China  gesponnen 
wurden,  und  daß  diese  in  dem  Augenblick  zum  Ziele 
führten,  als  Deutschland  seine  Weltverblüffungs- 
mission —  Marke:  Uns  kann  keiner!  —  proklamierte. 
Das  schöne  Fastnachtsspiel  vom  Weltgeneralissimus 
Grafen  Waldersee  mit  dem  transportablen  Asbesthaus, 
den  delikaten  Konservenbüchsen  und  dem  Pränume- 
rando-Triumphzug  sollte  dann  den  gesalzenen  Hohn 
noch  mehren,  der  Deutschland  auf  dem  Weltmarkt  des 
bestialischen  Ulks  zum  unüberwindlichen  Konkurrenten 
gemacht  hat. 

• 

Als  im  November  1897  Kiautschou  den  ahnungslosen 
Chinesen  mitten  im  tiefsten  Frieden  fortgenommen 
worden  war,  träumte  der  deutsche  Kapitalismus  von 
ungemessenen,  zauberhaften  Herrlichkeiten  endloser 
Beute.  Welche  weitschauenden  Pläne  die  deutschen 
Staatsmänner  mit  diesem  Welttheatercoup  verfolgten, 
ist  bis  zur  Stunde  unaufgeklärt.  Des  Grafen  Bülow,  des 
Heißgeliebten  der  Journalisten  beider  Welten,  tieferes 
Gedankenleben  ist  ja  bisher  nicht  von  seinen  zahlreichen 
Zeitungsgönnern  entschleiert  worden,  und  seine  eige- 

272 


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nen  Kundgebungen  sind  plumpe  Variationen  über  ein 
fehlendes  Thema.  Aber  der  Verdacht  ist  nicht  ab- 
zuweisen, daß  hinter  der  ganzen  großen  Aktion  nichts 
steckte,  wie  ein  Bedürfnis  der  inneren  Politik;  man 
wollte  Beweismaterial  für  die  Notwendigkeit  jenes 
ersten  Marineplanes  beibringen,  der  damals  den  guten 
Deutschen  noch  sehr  wenig  einleuchtete;  man  hielt 
sich  zu  jener  Zeit  noch  für  ein  Landvolk.  Das  ist  der 
ewige  Kreislauf  der  Dinge:  Man  braucht  Schiffe,  um 
Kolonien  zu  schützen,  dann  braucht  man  wieder  Ko- 
lonien, um  Schiffe  fordern  zu  können.  Kiautschou 
war  notwendig,  sonst  hätten  die  deutschen  Regierungen 
ihre  Flottenvorlage  nicht  durchgebracht. 

Und  dies  gefällige  Unternehmen  war  ja  äußerst 
erfolgreich.  Die  Chinesen  liefen  davon  und  verstanden 
sich  freudig  zu  der  Pachtung  auf  99  Jahre.  Oberhaupt 
wußte  man  von  den  Chinesen  nichts  anderes,  als  daß 
sie  davonlaufen  —  so  im  chinesisch- japanischen  Kriege, 
so  bei  dem  Einbruch  in  Kiautschou.  Merkwürdiger- 
weise hatte  man  ganz  vergessen,  welche  blutigen  Opfer 
Jules  Ferry  in  den  achtziger  Jahren  unter  dem  Fluch 
des  französischen  Volkes  brachte,  als  er  den  Bankerott 
seiner  Politik  durch  die  Ablenkung  des  Gloire-Bedürf- 
nisses  im  Tonking-Abenteuer  zu  verschleiern  suchte. 
Niemand  freute  sich  so  sehr  über  diese  Vergeudung 
französischer  Kraft,  wie  Bismarck,  und  noch  heute  er- 
fordert Tongking,  weit  entfernt,  die  ungeheuren  Opfer 
der  Erwerbung  zu  verzinsen,  bei  lächerlich  geringem 
Handelsverkehr  fortgesetzte  Aufwendungen  seitens 
Frankreichs.  Daran  dachte  man  in  Deutschland  in 
den  Flitterwochen  der  Weltpolitik  nicht.  Kiautschou 
ward  beliebt.  Die  schnelle,  glückliche  Pachtung  im- 
ponierte auch  außerhalb  der  jugendlichen  Kreise, 
die  ihre  Phantasie  an  Piratenromanen  erziehen.  Man 
bewunderte  die  Durchschlagskraft  der  europäisch- 
deutschen Kultur  und  erwartete  allerlei  märchenhafte 
Profite.  Und  damals  vollzog  sich  auch  zum  erstenmal 


18  Eisner,  Gesammelte  Schriften.  I. 


273 


in  aller  Schroffheit  jene  Scheidung  sozialdemokratisch- 
proletarischer Weltpolitik  und  bourgeoiser  Weltmacht- 
politik. Einzig  und  allein  die  Sozialdemokratie  verur- 
teilte entschieden  den  völkerrechtswidrigen  Gewaltakt, 
der  in  unübersehbare  Abenteuer  führen  und  dessen 
erhoffter  Nutzen  sich  leicht  in  eine  schwere  wirtschaft- 
liche Gefahr  für  Deutschland  verwandeln  könnte,  wenn 
erst  das  erschlossene  China  als  unterbietender  Kon- 
kurrent auf  dem  Weltmarkt  erscheinen  würde.  Die 
bürgerlichen  Parteien  lachten  ob  der  doktrinären  Be- 
denken und  gingen  freudestrahlend  und  hoffnungselig 
nach  Kiautschou. 

Seitdem  hörte  man  allerdings  wenig  Erfreuliches 
von  der  Pachtung.  Kurz  nach  dem  Einbruch  ermordete 
ein  Chinese  einen  deutschen  Wachtposten  —  ein  früher 
Beweis,  wie  irrig  die  Annahme  war,  daß  die  scheinbare 
Ruhe,  mit  der  die  Chinesen  die  Eroberung  hinnahmen, 
eine  wirkliche  Ruhe  war.  Der  Übeltäter  wurde  er- 
griffen, gefoltert,  enthauptet,  und  der  Kopf  an  das  Tor 
befestigt.  Unsere  europäischen  Kulturpioniere  besitzen 
ja  die  ertsaunliche  Fähigkeit,  wenn  sie  wirklich  einmal 
im  fremden  Land  auf  eine  Barbarei  stoßen,  die  man 
in  der  Heimat  nicht  mehr  kennt,  sich  sofort  solchen 
Sitten  anzupassen;  sie  bringen  alles  Barbarische  vom 
Vaterlande  mit  und  mehren  diesen  Schatz  dann  durch 
die  Grausamkeiten,  die  sie  in  dem  Lande  vorfinden,  das 
sie  zivilisieren  wollen. 

Weiter  erfuhr  man,  daß  die  nach  Kiautschou  de- 
portierten deutschen  Soldaten  durch  klimatische  Krank- 
heiten in  erschreckender  Zahl  dahingerafft  wurden. 
Endlich  legte  in  neuester  Zeit  eine  in  einer  Wochen- 
schrift verbreitete  photographische  Aufnahme  Zeug- 
nis ab  von  der  raschen  Ausbreitung  deutscher  Kultur: 
auf  ödem  Felde  in  gleichen  Abständen  sechs  Pfähle,  an 
jedem  Pfahl  ein  Chinese  angebunden,  und  zwanzig 
deutsche  Soldaten  zielend  auf  die  der  Hinrichtung 
Verfallenen.   Ich  weiß  nicht,  was  die  Chinesen  ver- 

274 


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brochen  hatten,  das  aber  weiß  ich,  daß  wir  damit  einen 
erhebenden  Kulturfortschritt  nach  China  gebracht 
haben;  denn  bisher  war  es  dort  nicht  üblich,  solche 
Szenen  der  höheren  Zivilisation  zu  —  Photographie  - 
ren ! . . .  Die  bürgerlichen  Parteien  äußerten  ihre  Freude 
an  der  gedeihlichen  Entwickelung  der  Pachtung,  und 
die  letzte  Denkschrift  der  Regierung  veranschaulichte 
in  Lichtbildern  die  Reize  des  Bülowschen  Platzes  an 
der  Sonne. 


Es  kann  heute  keinem  Zweifel  mehr  unterliegen,  daß 
der  Boxeraufstand,  wie  immer  er  mit  sozialen  und  anti- 
dynastischen Beweggründen  kompliziert  sein  mag,  im 
entscheidend  erregenden  Motiv  nach  Kiautschou 
zurückführt.  Die  weiteren  Pachtungen,  Port  Arthur 
und  Weihaiwei,  das  schneidige  Gerede  der  Weltmacht- 
politiker von  der  Aufteilung  Chinas,  das  Evangelium 
der  gepanzerten  Faust,  das  Wilhelm  II.  seinen  Bruder 
in  China  zu  verkünden  hieß,  mußten  den  nationalen 
Widerstand  herausfordern.  Die  christlichen  Missio- 
nare, deren  Lehren  den  wißbegierigen  Chinesen  früher 
vielfach  als  interessante  Spekulationen  des  mensch- 
lichen Intellekts  nicht  unwillkommen  waren,  mußten 
jetzt  als  hinterlistige  Spione  der  europäischen  Erobe- 
rungsgier erscheinen;  denn  welch  normaler  Kopf  hätte 
sich  anders  den  Widerspruch  erklären  können,  daß  die 
Verkündung  christlicher  Nächstenliebe  sich  mit  Raub 
und  Gewalt  paarte.  Und  die  Chinesen  erfüllten  die 
christliche  Lehre,  daß,  wer  das  Schwert  ziehe,  durch 
das  Schwert  umkomme  —  europäische  Waffenfabrikan- 
ten und  militärische  Instruktoren  lieferten  das  Schwert 
und  erwiesen  in  seinem  zweckdienlichen  Gebrauch. 
Der  nationale  Freiheitskrieg  der  Chinesen  brach  aus  — 
in  einer  plötzlichen  Explosion,  die  allem  Anschein  nach 
in  seiner  akuten  Phase,  durch  den  Einbruch  in  Taku 
veranlaßt  wurde. 


275 


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Abermals  vollzog  sich  in  der  öffentlichen  Meinung 
Deutschlands  jene  schroffe  Scheidung.  Alle  bürger- 
lichen Parteien  rasten  in  chauvinistischen  Schmähun- 
gen der  verruchten  gelben  Teufel,  die  sich  die  Seg- 
nungen der  europäischen  Kultur  nicht  gefallen  lassen 
wollten  —  niemals  hat  die  deutsche  Presse  einen  solchen 
Grad  sittlicher  und  intellektueller  Verwahrlosung  er- 
reicht, wie  in  diesen  Wochen.  Dabei  verbarg  sich  hinter 
dem  sinnlosen  Toben  nur  die  schlotternde  Angst  des 
schlechten  Gewissens  vor  ungeheuerlichen  Konse- 
quenzen, die  man  nicht  zu  übersehen  vermochte. 

Der  europäische  Kannibalismus'  der  Kulturbestien 
nahm  in  Deutschland  eine  unsagbar  verrucht -groteske 
Form  an.  Deutschland  schrieb,  redete  und  handelte 
nach  der  Moral  und  der  Intelligenz  eines  blutrünstigen 
Hintertreppenromans.  Das  erhebende  Bewußtsein, 
daß  man  unerschöpflich  viele  totschlagsfähige  Soldaten 
und  unzählige  Kanonen  habe,  hat  die  Intelligenz  des 
herrschenden  Deutschland  zerstört.  Was  hat  man 
nötig,  den  Kopf,  das  Denken  zu  bemühen,  wenn  man 
die  Fäuste  für  sich  hat !  Die  ausschweifendste  Räuber- 
romantik wurde  zum  leitenden  Prinzip.  Die  epilep- 
tische innere  Politik  erschien  —  zum  Erstaunen  und 
boshaften  Gelächter  der  Welt  —  auf  der  internatio- 
nalen Diplomatenmesse,  und  wenn  ein  Kulturhistoriker 
einmal  über  den  „Sadismus  in  der  Politik"  schreiben 
sollte,  so  wird  er  in  dem  Studium  des  Khaki-Sommers 
1900  reiche  Anregung  finden.  Dieses  Chaos  von  Kinde- 
rei, Roheit,  Mordsucht,  Ruhmredigkeit,  Kulturheuche- 
lei, Verlogenheit  und  frömmelnder  Mystik,  das  in  der 
deutschen  Presse  orgiastisch  tollte,  stellte  die  tiefste 
sittliche  und  intellektuelle  Erniedrigung  Deutschlands 
dar  —  fast  hätte  man  Sehnsucht  nach  einem  neuen 
gründlichen  Jena,  aus  dem  die  Möglichkeit  einer 
humanen  Wiedergeburt  erwüchse. 

Wir  dürfen  den  Boxern  dankbar  sein,  daß  ihre  viel- 
leicht heroischen,  vielleicht  nur  unbesonnenen  Auf- 

276 


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lehnungsversuche  mit  einem  grausamen  Griff  den 
schimmernden  Schleier  zerrissen,  der  über  der  poli- 
tischen Barbarei  Deutschlands  liegt.  Wir  kennen  jetzt 
—  dank  den  Boxern  —  die  unsägliche  Gemeinheit  und 
Dummheit  dieses  kapitalistischen  Parvenustaats,  der 
die  verwegenen  Roheiten  des  militärischen  Feudalis- 
mus und  die  Unbarmherzigkeiten  der  Kapitalmagnaten 
mit  der  Stupidität  eines  um  seine  Ersparnisse  zitternden 
Kleinkrämers  und  der  Narrheit  einer  wild  schweifen- 
den unbehausten  Romantik  zu  vereinigen  weiß. 

Die  Panik  eines  Bankruns,  Gebeteleiern  und  Flüche- 
lallen,  blindwütiges  Umherfahren  mit  geballter  Hand, 
völlige  Besinnungslosigkeit  und  Unfähigkeit  politischen 
Denkens,  grauenhaft  lächerlicher  Mangel  an  grund- 
sätzlicher und  kritischer  Überlegung  —  so  stellte  sich 
der  Gemütszustand  der  bürgerlichen  Presse  dar.  Wir 
haben  Äußerungen  abgrundtiefer  Infamie  gehört,  wie 
man  sie  in  deutscher  Sprache  bisher  für  unmöglich 
hielt.  Der  Vorschlag,  eine  Verbrecherarmee  gegen 
China  zu  entsenden,  war  weder  der  niedrigste  noch  der 
dümmste  Gehirnexzeß  aus  dieser  Zeit.  Man  hat  noch 
weit  schlimmere  Äußerungen  gehört,  ohne  daß  man 
sich  auch  nur  groß  verwundert  hätte. 

Es  ergab  sich,  daß  sich  die  Bourgeoisie,  namentlich 
die  liberale,  überhaupt  jeden  politischen  Urteils  ent- 
ledigt hat.  Die  Angst  um  die  in  China  angelegten 
Millionen  deutschen  Kapitals  und  die  Gier  nach  neuen 
Profiten  beherrschte  ausschließlich  die  Christen - 
menschen  der  weißen  Rasse.  Im  übrigen  blökten  sie 
als  verängstigte  Schafe  geduldig,  wie  die  liberalen,  frei- 
sinnigen und  demokratischen  Hammel  des  Grafen 
Bülow  blökten.  Man  vertraute  in  rührender  Unschuld 
dem  Geistreichtum  des  ministeriellen  Hofbeamten,  der 
durch  eine  blasse  Programmlosigkeit  die  leidenschaft- 
lichen Impressionen  der  Krone  zu  wässern  und  zu 
meistern  bemüht  war.  Aber  man  vertraute  auch  zu- 
gleich der  Energie  des  preußischen  Bundesfürsten  — 

277 


man  ließ  sich  bewundernd  von  jeglichem  Licht  er- 
leuchten, sofern  es  nur  von  oben  kam. 

Dabei  äußerte  sich  das  politische  Denken  der  bürger- 
lichen Presse  im  grellen  Spielzeugstil  kindischer  Naive- 
tät.  Man  wirtschaftete  mit  den  primitivsten  Instinkten 
und  trieb  den  psychologischen  Aufwand  eines  Küchen- 
romanziers.  Die  Heerscharen  der  Engel  kämpften 
gegen  die  dunklen  teuflischen  Mächte.  Das  Khakitum 
wurde  mit  einem  schön  vergoldeten  Heiligenschein 
ausgestattet.  Man  spielte  Rauber  und  Prinzessin 
mimte  den  Kampf  mit  dem  Drachen,  schwärmte  für 
Blutrache,  den  Kreuzzug  der  Hunnen  zu  einer  Ven- 
detta-Ausstattungsburleske  gestaltend.  Der  deutsche 
Michel  wurde  zum  Kasperle  der  Puppenkomödie,  der 
den  leibhaftigen  Gottseibeiuns  tot  drischt  und  selbst 
den  Tod  tapfer  und  keilefreudig  über  das  Knie  legt. 
Aus  Neu-Ruppin  bezog  man  die  historisch-geographi- 
schen Anschauungsbilder,  und  Ammenmärchen  wurden 
zur  Bibel  der  Staatsweisheit.  Dem  deutschen  Volk 
wurde  tatsächlich  von  der  bürgerlichen  Presse  angeson- 
sen,  in  Heldenpossen  Lauffschen  Stils  ernsthaft  mit- 
zuspielen —  nur  daß  das  Spiel,  das  die  blöde  Phantasie 
der  Presse  ausgeheckt,  auf  Tod  und  Leben  ging. 
Darum  konnte  der  spottende  Beobachter  keine  reine 
Freude  an  der  Mobilisierung  des  Narrentums  haben; 
die  Narren  wateten  in  echtem  Menschenblut,  und  ein 
ekelhafter  Ludergeruch  sentimentaler  Bestialität,  die 
sich  als  Patriotismus  deklarierte  —  ließ  das  Lachen 
verstummen. 

Zugleich  aber  hat  das  deutsche  Zeitungsgebaren 
das  Ausland  ermuntert,  seinen  unverschämten  Spott 
mit  Deutschland  zu  treiben.  Was  anderes  ist  es  als  Spott, 
wenn  die  englische  Presse  fortwährend  die  absurdesten 
Chinatelegramme  erfindet,  um  durch  eine  pfiffige 
Mischung  von  haarsträubenden  Greueln  und  rohen 
Schmeicheleien  die  in  Deutschland  herrschende 
psychologische  Stimmung  zu  beeinflussen,  um  für 

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England,  das  durch  den  Transvaalkrieg  militärisch 
geknebelt  ist,  in  China  einen  zu  allem  willigen  tölpel- 
haften Bravo  kostenfrei  zu  gewinnen! 

Die  deutsche  öffentliche  Meinung  hat  Ruchlosig- 
keiten das  Wort  geredet,  denen  gegenüber  die  Raub- 
züge eines  Louis  XIV.,  in  deren  Verabscheuung  unsere 
Jugend  erzogen  wird,  leuchtende  Kulturtaten  dar- 
stellen. Und  zugleich  hat  die  Bourgeoisie  in  ihrer 
jämmerlichen  Angst  um  die  bedrohten,  in  China  an- 
gelegten Millionen  wider  ihre  eigenen  Interessen  ge- 
wütet, indem  sie  sich  bedingungslos  der  Lorbeersucht 
der  militärischen  Streber  ausliefert,  denn  die  besondere 
fratzenhafte  Form  der  China-Weltpolitik  ist  nicht 
sowohl  aus  den  wohlverstandenen  Interessen  der  Bour- 
geoisie zu  erklären,  als  vielmehr  aus  den  absolutistischen 
Tendenzen  des  modernen  christlichen  Ritters  ä  la 
Waldersee  und  dem  Ruhmbedürfnis  des  friedensüber- 
drüssigen Offiziers. 

Die  im  System  des  Militarismus  angehäufte  Zerstö- 
rungskraft sucht  einen  Ausweg.  Aber  dieser  interna- 
tionale Militarismus  ist  nicht  nur  brutal  und  grausam, 
sondern  auch  feig,  und  so  tobt  er  seine  Begierde,  prak- 
tische Experimente  zu  versuchen,  möglichst  an  Wehr- 
losen aus:  die  allzu  stark  gerüsteten  Völker  Europas 
scheinen  ihm  zu  gefährliche  Gegner,  darum  wählt  er 
sich  China  zum  Exerzierplatz  für  seine  Scharfschieß- 
übungen und  veranstaltet  mörderische  Menschen- 
jagden auf  ein  von  Haus  aus  friedfertiges  Kulturvolk. 
Der  chinesische  Raubzug  ist  nicht  einmal  ein  Krieg, 
er  ist  eine  Treibjagd  auf  ohnmächtige  Menschen. 

Die  Kulturehre  Europas  inmitten  dieses  wüstenTobens 
zu  wahren,  übernahm  die  Sozialdemokratie,  das  organi- 
sierte Proletariat,  nicht  minder  beschimpft  als  die 
Boxer.  Mit  schneidender  Schärfe  wies  sie  auf  die 
Folgen  einer  abenteuerlichen  Politik  hin,  die  sie  stets 

279 


bekämpft  hat  und  deren  Verantwortung  sie  allein 
daher  ablehnen  darf.  Sie  höhnte  über  die  groteske 
Heuchelei,  daß  Europa  nichts  wolle,  als  mit  seiner  ver- 
einigten russisch-galizisch-ostelbisch-abruzzisch-spani- 
schen  Zivilisation  die  —  einer  tollen  Zeitungslegende 
zufolge —  „erstarrte"  chinesische  Kultur  flüssig  machen. 
Sie  erkannte  das  Recht  der  Chinesen  an,  sich  gegen  die 
Vergewaltigung  ihrer  nationalen  Selbständigkeit  mit 
allen  Mitteln  zu  wehren,  und  sie  wies  auf  die  völlige 
Sinnlosigkeit  eines  Krieges  hin,  den  untereinander 
todfeindlich  zerklüftete  Staaten  gegen  ein  Volk  von 
400  Millionen  unternehmen. 

Dabei  führten  die  bürgerlichen  Blätter  des  Inlands, 
sowie  die  Korrespondenten,  die  die  ausländische  Presse 
bedienten,  über  die  wirkliche  Stimmung  der  Massen 
des  Volkes  völlig  irre.  Die  Wahrheit  ist,  daß  das  Volk 
keinerlei  Begeisterung  für  den  Krieg  der  Rache  und 
des  Christentums  hegt.  Ebensowenig  hat  man  sonder- 
liches Vertrauen  zu  der  Geschicklichkeit  und  der  Weis- 
heit unserer  Staatsmänner.  Wenn  sich  herausgestellt 
hat,  daß  die  kostspieligen  Diplomaten  in  Peking  selbst 
keine  Ahnung  von  den  wirklichen  Verhältnissen  hatten, 
warum  soll  man  da  annehmen,  daß  der  durch  eine 
sechs  wöchentliche  Seereise  von  China  entfernte  glatte 
Graf  Bülow  über  die  dortigen  Zustände  wohl  erleuchtet 
sei.  Talleyrand  hat  die  Diplomaten  gewaltig  über- 
schätzt, deren  Sprache  doch  nur  dazu  dient,  die  Ge- 
dankenlosigkeit zu  verbergen. 

Gleichermaßen  ist  das  Ausland  über  die  Aufnahme 
getäuscht  worden,  die  den  verschiedenen  Reden  Wil- 
helms II.  beschieden  gewesen  ist.  Sie  haben  in  Deutsch- 
land weder  so  überraschend,  noch  so  stimulierend  ge- 
wirkt, wie  man  draußen  annimmt.  Wir  wissen,  daß  der 
Kaiser  sich  in  allen  Fragen  als  der  leidenschaftliche 
Held  eines  heroischen  Schauspiels  fühlt,  der  mit  seiner 
überlegenen  Kraft  die  Widerstände  der  Kleinlichen 
und  Engherzigen  überwindet.  In  dem  gleichen  ener- 

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gischen  Stil  seiner  Chinareden  hat  er  einst  der  Bismarck- 
sehen  Fronde  die  Zerschmetterung  angekündigt,  hat 
er  die  Sozialdemokratie  auszurotten  versprochen,  denen, 
die  zum  Streike  anreizen,  das  Zuchthaus  in  Aussicht 
gestellt,  und  den  kanalfeindlichen  Agrariern  seinen 
unbeugsamen  Willen  erklärt,  den  Mittellandkanal  zu 
bauen.  Mit  so  impulsiver  Wucht  hat  der  Kaiser  auch 
im  Januar  1 896  den  durch  den  Jameson-Einfall  belästig- 
ten Buren  seine  Sympathien  ausgesprochen.  Gleichwohl 
existiert  die  Bismarcksche  Fronde  noch  heute,  die 
Sozialdemokratie  ist  stärker  als  je,  die  Zuchthausvor- 
lage ist  schroff  abgelehnt  worden,  ohne  daß  Weiterun- 
gen erfolgt  wären,  der  Mittellandkanal  ist  immer  noch 
nicht  gebaut,  und  im  Burenkrieg  hat  der  Kaiser  Eng- 
land seine  Sympathie  geliehen. 

Freilich  findet  die  Politik  des  Kaisers  in  den  inter- 
nationalen Fragen  nicht  den  gleichen  organisierten 
Widerstand,  wie  im  Innern,  und  darin  liegt  die  schwere 
Gefahr,  die  verstärkt  wird  durch  die  listigen,  ziel- 
bewußten Provokationen  des  Auslandes,  den  byzan- 
tinischen spekulativen  Kretinismus  einer  gewissen 
Presse  und  die  geistige  Bedeutungslosigkeit  der  verant- 
wortlichen Beamten.  Wenn  der  Kaiser  den  Chinesen 
eine  Rache  ankündigt,  wie  sie  die  Welt  noch  nicht  ge- 
sehen, wenn  er  wünscht,  daß  für  jeden  ermordeten 
Deutschen  eine  chinesische  Stadt  zu  bombardieren  sei, 
wenn  er  den  deutschen  Soldaten  als  oberster  Kriegs- 
herr verbietet,  Pardon  zu  geben  und  Gefangene  zu 
machen,  wenn  er  für  unser  Volk  den  Weltruhm  der 
Hunnen  heischt  und  zugleich  die  Erfolge  christgläubiger 
Kreuzfahrer  vom  Himmel  erfleht  —  so  sind  das  für  den 
Kenner  deutscher  Zustände  keinerlei  überraschende 
Erscheinungen,  haben  doch  solche  Grundanschauungen 
—  in  der  notwendigen  formalen  Modulierung  —  auch 
die  innere  Politik  bestimmend  beeinflußt.  Aber  in 
der  inneren  Politik  hat  die  Rhetorik  des  Kaisers,  diese 
in  Kontrasten  stürmende  dramatische  Auffassung  der 

281 


Vorgänge,  niemals  Anspruch  auf  buchstäbliche 
Umsetzung  in  Handlungen  erhoben.  Der  Kaiser  will 
immer  nur  der  große  Anreger  und  Ansporner  sein, 
mag  dann  die  Politik  der  verantwortlichen  Regierung 
die  nötige  Abschwächung  vornehmen. 

Anders  in  der  auswärtigen  Politik.  Hier  wagt  die 
verantwortliche  Regierung  nicht  den  ausreichenden 
Widerstand  gegen  die  wörtliche  Auslegung  der  kaiser- 
lichen Anregungen,  wie  sehr  immer  der  Salontragiko- 
miker  der  Weltpolitik,  Graf  Bülow,  seine  ratlose  Ver- 
legenheit in  diplomatischen  Kundgebungen  abschwä- 
chend stilisieren  mag.  Die  deutsche  Regierung  hat 
weder  die  kriegerischen  Racheaktionen,  noch  die  um- 
fangreichen Truppensendungen,  die  das  Völkerrecht 
und  die  Verfassung  in  die  Luft  sprengten,  zu  ver- 
hindern gewußt.  Deutschland  hat  durch  seine  China  - 
politik  sein  europäisches  Prestige  schwer  erschüttert, 
blind  unübersehbare  Konflikte  heraufbeschworen,  die 
wirtschaftlichen  Hoffnungen,  die  man  auf  den  Handels- 
verkehr mit  China  setzen  durfte,  für  Jahre  hinaus  ver- 
nichtet —  ganz  abgesehen  von  den  demoralisierenden 
Wirkungen  des  Hunnenkults  der  Presse  und  dem  Staats- 
streich wider  die  verfassungsmäßigen  Rechte  der 
Volksvertretung. 

*  • 

Die  gewalttätige  Weltmachtpolitik  des  Kapitalis- 
mus ist  bei  ihrem  ersten  Ausflug  furchtbar  gestrandet. 
Die  in  Interessengegensätzen  hadernden  Militärstaaten 
haben  ihre  Unfähigkeit  zu  gemeinsamer  Aktion  be- 
wiesen. 

Der  Raubkrieg  in  China,  zu  dem  die  Weltpolitik 
der  gepanzerten  Faust  geführt  hat,  verschlingt  Ströme 
von  Menschenblut  und  opfert  nutzlos  die  Ernte  der 
wirtschaftlichen  Völkerarbeit.  An  seinem  Horizont 
droht  der  Weltbrand. 

Bei  alledem  wird  der  Kapitalismus,  gleichgültig, 

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wie  die  chinesische  Wirrnis  ausgehen  möge,  um  die 
erhofften  Früchte  geprellt  werden.  Die  Sehnsucht 
der  europäisch-amerikanischen  Kapitalisten  wird  sich 
nicht  erfüllen,  daß  sie  in  China  mit  den  billigen  und 
willigen  Arbeitskräften  und  den  reichen  unerschlosse- 
nen  Schätzen  des  Bodens  Waren  produzieren.  Wird 
China  der  modernen  Industrieentwicklung  erschlossen, 
so  wird  der  Chinese  selbst  als  gefährlicher  Kon- 
kurrent auf  dem  Weltmarkt  erscheinen.  Als  hervor- 
ragend begabter  Kaufmann  hat  er  sich  längst  erwiesen. 
Daß  er  eine  dem  Japaner  ähnliche  Gelehrigkeit  be- 
sitzt, haben  die  neuesten  Ereignisse  gezeigt.  Mit 
behender  Schnelligkeit  hat  er  sich  die  Geheimnisse 
der  europäischen  Mordtechnik,  wenn  auch  noch  nicht 
vollkommen,  angeeignet,  und  wir  wissen,  daß  in  den 
großen  Waffenfabriken,  die  in  China  bereits  bestehen, 
nicht  nur  chinesische  Arbeiter,  sondern  auch  aus- 
schließlich chinesische  Ingenieure  beschäftigt  werden. 
Der  Chinese  wird  sich  den  Profit,  den  die  industrielle 
Entwicklung  mit  sich  bringt,  nicht  von  den  Fremden 
aus  der  Hand  nehmen  lassen.  Die  grauenvollen  Opfer 
der  Weltpolitik  werden  sich  nicht  bezahlt  machen. 

Zwar  nicht  in  allen  Ländern  ist  die  Chinapolitik  so 
sinnlos,  wie  in  Deutschland.  Von  Anfang  an  behan- 
delten Rußland  und  die  Vereinigten  Staaten  Amerikas 
die  chinesische  Frage  mit  ausgesuchter  Behutsamkeit 
und  Höflichkeit.  Man  erbittert  nicht  Leute,  mit 
denen  man  handeln  will;  man  mißhandelt  nicht 
Menschen,  an  deren  Beeinflussung  man  interessiert  ist. 
Gerade  Amerika  und  Rußland  haben  aber  auch  ein 
besonderes  Zukunftsinteresse:  Entwickelt  sich  China 
industriell  im  modernen  Sinne,  so  wird  das  dichtbe- 
völkerte Reich,  wenn  nicht  alles  trügt,  zu  einem  In- 
dustrieartikel exportierenden  und  Lebensmittel  im- 
portierenden Land.  So  hat  Rußland  und  Amerika 
Anlaß,  ihrer  überschüssigen  Lebensmittelproduktion 
den  neuen  großen  Markt  zu  gewinnen,  und  dieser  Um- 


283 


stand  dürfte  die  Beflissenheit  hinlänglich  erklären, 
mit  der  die  beiden  Staaten  sich  als  Freunde  und  Retter 
Chinas  empfehlen. 

Müßte  man  aber  ganz  im  allgemeinen  zugeben,  daß 
die  Weltpolitik  in  weiser  Zweckmäßigkeit,  wenn  auch 
mit  abscheulichen  Mitteln,  den  Notwendigkeiten  der 
kapitalistischen  Entwicklung,  ja  dem  Augenblicks- 
interesse einzelner  oder  auch  der  gesamten  Arbeiter 
diene,  so  würde  aus  solchem  Zugeständnis  für  die  So- 
zialdemokraten nur  die  Aufgabe  folgen,  um  so  eifriger 
und  konsequenter  diese  Politik  der  kapitalistischen 
Exzesse  zu  bekämpfen;  man  scheint  sich  hier  und  da 
noch  immer  nicht  ganz  klar  darüber  zu  sein,  daß  der 
Sozialismus  nicht  der  Agent,  sondern  der  Feind  des 
Kapitalismus  ist,  daß  er  ihn  also  unter  allen  Umständen 
und  in  jeder  Entwicklungsform  zu  bekämpfen  hat,  wie 
immer  er  als  weltgeschichtliche  „Notwendigkeit" 
anerkannt  werden  mag. 

Im  alten  deutschen  Volksbuch  vom  Herzog  Ernst  wird 
das  orientalische  Märchen  vom  Magnetberg  erzählt,  der 
die  eisernen  Teile  der  Schiffe  unwiderstehlich  anzieht, 
daß  sie  zerschellen.  Schiffstrümmer,  verwesende  Leich- 
name und  gebleichte  Knochen  umkreisen  den  Berg 
des  Schreckens. 

Ein  goldner  Magnetberg  —  das  ist  die  Weltpolitik 
des  Kapitalismus,  die  militärisches  Ruhmbedürfnis 
und  abenteuernde  Romantik  in  Blut,  Grauen  und  Ge- 
lächter taucht. 

(August  1900.) 


284 


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Sozialdemokratie  und  Staatsform 


Eiue  öffentliche  Diskussion 
zwischen 

Kurt  Eisner  und  Karl  Kautsky 
1904. 

Die  Aufnahme  dieser  Diskussion,  die  mir 
mein  Freund  Kautsky  gestattet  hat,  geschieht 
nicht,  um  alten  persönlichen  Streit  zu  beleben 
—  denn  heute  besteht  zwischen  Kautsky  und 
mir  in  fast  allen  Fragen  der  politischen  Theorie 
und  Praxis  Ubereinstimmung  —  sondern  wegen 
der  urkundlichen  Bedeutung  jener  Debatte  für 
die  Erkenntnis  der  Parteientwickelung.  Ich 
stand  1904  in  der  Partei,  als  Vorwärts-Redak- 
teur,  gefährlich  isoliert,  auf  der  Seite  JaureV. 

I. 

Die  deutsche  bürgerliche  und  vor  allem  die  reak- 
tionäre französische  Presse  hat  die  Äußerungen  Bebels*) 
über  den  plutokratischen  Klassencharakter  auch  der 
bürgerlichen  Republik  dahin  mißzuverstehen  gesucht, 
daß  Bebel  oder  gar  die  ganze  deutsche  Sozialdemokratie 
die  Vorzüge  der  Monarchie  gegenüber  der  Republik 
anerkannt  habe,  ja,  zum  Apostel  der  sozialen  Monarchie 
geworden  ist. 

In  der  letzten  Nummer  der  Neuen  Zeit  weist  Ge- 
nosse Kautsky  diese  tendenziösen  Mißdeutungen  der 
Bebeischen  Bemerkungen  schlagend  zurück  und  ge- 
langt dann  zu  folgenden  Betrachtungen: 

*)  Auf  dem  Internationalen  Sozialistenkongreß  in  Amster- 
dam, 1904. 

285 


„Aber  die  Republik  ist  uns  sympathisch  nicht  bloß 
mit  Rücksicht  auf  den  mehr  oder  weniger  entfernten 
Zukunftsstaat  der  sozialen  Republik.  Auch  als  bürger- 
liche Republik  muß  sie  dem  sozialistischen  Proletariat 
wertvoller  sein  als  die  Monarchie,  so  daß  es  sich  für 
die  Republik  entscheidet,  wo  immer  es  die  Wahl 
zwischen  den  beiden  Staatsformen  hat.  Denn  die 
bürgerliche  Republik  ist  die  Staatsform,  in  der  der 
Entscheidungskampf  zwischen  Proletariat  und  Bour- 
geoisie am  ehesten  und  besten  ausgefochten  werden 
kann.  Das  wird  aber  bewirkt  dadurch,  daß  der  Klassen- 
gegensatz zwischen  Proletariat  und  Bourgeoisie  in  der 
Republik  am  schärfsten  und  klarsten  zum  Ausdruck 
kommt. 

Wohl  steht  die  Monarchie  dem  um  seine  Befreiung 
ringenden  Proletariat  notwendigerweise  feindselig 
gegenüber,  denn  diese  Befreiung  erheischt  die  Auf- 
hebung der  Klassen,  also  die  Aufhebung  der  Grund- 
bedingung der  Monarchie.  Aber  diese  hat  kein  Inter- 
esse daran,  eine  andere  Klasse  zur  Alleinherrschaft 
kommen  zu  lassen;  die  Macht  der  Monarchie  ist  am 
größten  dort,  wo  die  verschiedenen  Klassen  sich  die 
Waage  halten.  Das  kann  eine  monarchische  Regierung 
unter  Umständen  dazu  veranlassen,  das  Proletariat 
gegenüber  der  Bourgeoisie  in  Schutz  zu  nehmen. 

Andererseits  kann  sich  in  einer  Monarchie  die  Bour- 
geoisie unter  Umständen  durch  die  Regierung,  die  nicht 
direkt  ihre  Klassenregierung  ist,  mehr  beengt  fühlen 
als  durch  das  Proletariat;  sie  kann  es  zur  Schwächung 
der  Regierung  aufrufen  und  zu  diesem  Zwecke  stärken. 

Endlich  findet  in  einem  monarchischen  Lande  das 
Proletariat  selbst  zwischen  sich  und  der  Bourgeoisie  die 
Monarchie,  als  einen  von  jener  verschiedenen  Gegner. 
Dadurch  wird  seine  Aufmerksamkeit  geteilt,  die 
Schärfe  des  Klassengegensatzes  vermindert,  die  Inten- 
sität des  Klassenkampfes  geschwächt. 

Ganz  anders  in  einer  bürgerlichen  Republik  unter 

286 


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entwickelter  kapitalistischer  Produktion.  Hier  herrscht 
die  Bourgeoisie  direkt,  hier  stehen  sich  Proletariat  und 
Bourgeoisie  unvermittelt  gegenüber,  hier  hat  das  Pro- 
letariat nicht  die  trennende  Wand  einer  monarchischen 
Regierung  zu  übersteigen,  will  es  der  Bourgeoisie  an  den 
Kragen  gehen. 

In  monarchischen  Ländern  —  und  das  gilt  um  so 
mehr,  je  absoluter  die  Monarchie,  alo  am  meisten  für 
Rußland  —  ist  das  Proletariat  oft  gezwungen,  seine 
ganze  Kraft  auf  die  Bekämpfung  der  Regierung  zu  kon- 
zentrieren. Gelingt  es  ihm  dort,  die  Staatsgewalt 
niederzuwerfen,  so  steht  es  nicht  am  Ende  seiner 
Kämpfe,  sondern  nur  am  Beginn  einer  neuen,  inten- 
siveren Phase  des  Klassenkampfes.  Gelingt  es  ihm  da- 
gegen in  der  bürgerlichen  Republik,  die  bestehende 
Staatsgewalt  zu  stürzen,  so  hat  es  damit  endgültig  über 
die  Bourgeoisie  gesiegt,  ihre  politische  Expropriation 
vollzogen  und  ihre  Ökonomische  Expropriation  unab- 
wendbar gemacht. 

Deshalb  die  große  Bedeutung,  welche  schon  die  bür- 
gerliche Republik  für  das  Proletariat  hat.  Aber  gerade 
deswegen  ist  auch  in  der  Republik  das  Klassenbewußt- 
sein und  der  Klassenhaß  der  Bourgeoisie  gegenüber 
dem  Proletariat  mehr  entwickelt,  und  ist  dort  die 
Bourgeoisie  um  so  skrupelloser  in  ihrem  Klassenkampfe 
gegen  das  Proletariat,  unbedenklicher  in  der  Wahl  ihrer 
Mittel,  sei  es  brutaler  Niederwerfung,  sei  es  heim- 
tückischer Überlistung  und  Korrumpierung. 

So  hoch  uns  daher  die  Republik,  auch  die  bürger- 
liche, steht,  so  wichtig  sie  uns  für  den  Befreiungskampf 
des  Proletariats  erscheint,  so  darf  uns  das  noch  nicht 
blind  machen  gegen  den  arbeiterfeindlichen  Cha- 
rakter, den  jede  bürgerliche  Republik  und  jede  Regie- 
rung einer  bürgerlichen  Republik  entwickeln  muß. 
Gerade  in  dieser  Erkenntnis  unterscheiden  wir  uns 
von  der  bürgerlichen  Demokratie,  die  der  Republik 
eine  geheimnisvolle  Kraft  der  Schwächung  der  Klassen- 


287 


gegensätze  zuschreibt  und  wähnt,  der  republikanischen 
Bourgeoisie  wohne  eine  weit  größere  Neigung  inne, 
die  Befreiung  der  Arbeiterklasse  zu  fördern,  als  der 
Monarchie  und  der  monarchistischen  Bourgeoisie. 

Dieser  republikanische  Aberglaube  gehört  aber  auch 
zu  den  Illusionen,  die  dank  dem  Revisionismus  selbst 
in  unsere  Reihen  hier  und  da  Eingang  gefunden  haben. 
Da  war  es  sehr  am  Platze,  wenn  Bebel  demgegenüber 
wieder  unseren  Standpunkt  darlegte,  der  den  des 
Republikaners  mit  dem  des  proletarischen  Klassen- 
kämpfers vereinigt." 

Indem  Kautsky  hier  zutreffend  darlegt,  daß  auch 
die  bürgerliche  Republik  ihren  Klassencharakter  bei- 
behält, sind  doch  zugleich  seine  Darlegungen  über  den 
—  wie  man  aus  einzelnen  Wendungen  schließen  könnte, 
nach  seiner  Meinung  —  abgestumpften  oder  doch 
wenigstens  verwischten  Klassencharakter  in  der  Mon- 
archie und  sein  Wort  vom  republikanischen  Aber- 
glauben geeignet,  neuer  Verkennung  Bebelscher  und 
sozialdemokratischer  Auffassungen  wider  die  Absicht 
Vorschub  zu  leisten. 

Es  könnte  der  Anschein  entstehen,  als  ob  Bebel  tat- 
sächlich der  Meinung  wäre,  daß  in  der  Monarchie  die 
Klassen  nicht  so  unmittelbar  und  so  brutal  aufeinander- 
stoßen, wie  in  Republiken.  Solche  Meinung,  die  natürlich 
Bebel  nicht  hat  und  haben  kann,  wäre  aber  eine  Kon- 
zession an  jene  grundverlogene  „Theorie"  dynastischer 
Hauslehrer  des  Staatsrechtes,  die  der  Monarchie  die 
geheimnisvolle  Wunderkraft  des  Über-den-Parteien- 
Stehens  und  der  zwischen  den  Klassen  ausgleichenden 
Gerechtigkeit  zuschreiben.  Tatsächlich  lehrt  die  ge- 
schichtliche Erfahrung  und  zeigt  die  innere  Logik 
der  gesellschaftlich-staatlichen  Organisationsform,  daß 
keine  herrschende  Klasse  eine  mit  starker  staatsrecht- 
licher Machtvollkommenheit  ausgestattete  Monarchie 
erträgt,  die  sich  ihr  nicht  mit  Haut  und  Haaren  ver- 
schreibt. Deshalb  gleicht  eine  Monarchie,  sofern  sie 

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nicht  zur  bloßen  dekorativen  Formalität  verflüchtigt 
ist,  sondern  mehr  oder  minder  tief  im  Absolutismus 
stecken  geblieben  ist,  nicht,  in  wenn  auch  noch  so 
bescheidener  Form,  die  Interessen  zwischen  den  be- 
herrschten und  den  herrschenden  Klassen  aus,  sondern 
sie  sucht  lediglich  die  verschiedenen  Interessen  zwi- 
schen den  herrschenden  Klassen  selbst  auszugleichen. 
Sie  muß  fortwährend  bedacht  sein,  die  diversen 
„Stützen  des  Thrones"  bei  guter  Laune  zu  erhalten, 
und  deshalb  muß  sie  ihnen  —  auf  Kosten  der  proleta- 
rischen Masse  —  abwechselnd  alle  erdenklichen  Vor- 
teile zuschanzen  —  Die  Notwendigkeit,  sich  auf  die 
herrschenden  Klassen  zu  stützen  und  die  innerhalb  der 
besitzenden  Gesellschaft  infolge  der  wirtschaftlichen 
Entwickelung  vielfach  ausbrechenden  Gegensätze  zu 
versöhnen,  damit  sie  nicht  selbst  zwischen  den  herr- 
schenden Klassen  zerrissen  wird,  zwingt  die  Mon- 
archie zu  immer  verstärkten  Anstrengungen  in  der 
Verleihung  wirtschaftlicher  und  gesellschaftlicher  Pri- 
vilegien. 

Auf  der  anderen  Seite  werden  die  herrschenden 
Klassen  im  Wettstreit  um  die  Gunst  der  Krone  immer 
reaktionärer  und,  indem  sie  sich  der  höfischen  Natur 
und  der  Art  der  für  die  dynastischen  Bedingungen 
tauglichsten  und  stärksten  Klasse  anzupassen  suchen, 
offenbart  sich  der  Klassencharakter  nicht  nur  in  der 
rohesten,  sondern  auch  oft  in  der  ihren  eigenen  wirt- 
schaftlichen Interessen  zuwiderlaufenden  unsinnigsten 
Form.  In  keiner  Republik  ist  deshalb  der  Klassen- 
kampf brutaler  und  zugleich  absurder,  wie  in  dem 
monarchischen  Preußen  und  in  dem  monarchischen 
Sachsen. 

Während  so  auf  der  einen  Seite  die  absolutistische 
oder  halb  absolutistische  Monarchie  ihre  Politik  auf 
den  Ausgleich  der  Interessen  der  herrschenden  Klassen 
zuungunsten  des  Proletariats  richten  muß,  fühlen 
sich  andererseits  die  herrschenden  Klassen  hinter  dem 

19   Eisner.  Gesammelt«  Schriften.  I.  289 


Schutzwall  einer  starken  Monarchie  so  sicher,  daß  sie 
gar  keine  Notwendigkeit  einsehen,  sich  mit  dem  Prole- 
tariat zu  verständigen,  es  durch  Konzessionen  zu  be- 
friedigen. Und  wenn  die  Monarchie  es  für  gut  halt, 
dem  Proletariat  für  den  auf  seinem  Rücken  ver- 
mittelten Ausgleich  der  Interessen  der  herrschenden 
Klassen  untereinander  auch  einige  Scheinkonzessionen 
zukommen  zu  lassen,  so  widersetzen  sich  solchen  Ver- 
suchen die  herrschenden  Klassen  aufs  hartnäckigste. 
So  wird  schließlich  nur  so  viel  „monarchische  Sozial- 
reforra"  gewährt,  als  die  herrschenden  Klassen  es  ge- 
statten. Es  gibt  deshalb  nirgends  so  rückständig  bor- 
nierte Klassenherrschaft,  wie  sie  das  Junkertum  und  der 
mit  ihm  versippte  bürgerliche  Fabrikfeudalismus 
wiederum  in  dem  monarchischen  Preußen  und  in  dem 
monarchischen  Sachsen  ausübt. 

Umgekehrt  sind  in  demokratischen  Republiken  und 
in  den  konstitutionellen  Scheinmonarchien,  wie  Eng- 
land, die  herrschenden  Klassen  genötigt,  in  ihrem 
inneren  Interessenstreit  das  Proletariat  durch  Zu- 
geständnisse auf  ihre  Seite  zu  locken.  Die  sozialen 
Konzessionen  in  diesen  Staaten  mögen  nicht  immer 
so  aufdringlich  sichtbar  werden,  wie  die  bureaukratisch- 
selbstgefällige  Sozialreform  in  monarchischen  Staaten, 
aber  ihr  innerer  Wert  ist  vielfach  überlegen.  Und  vor 
allen  müssen  die  herrschenden  Klassen  in  der  Demo- 
kratie durch  politische  Freiheiten  sich  die  Sympathie 
und  Hilfe  der  für  ihre  Herrschaft  unentbehrlichen 
Massen  zu  gewinnen  trachten. 

Es  widerspricht  den  Tatsachen  und  stellt  das  wirk- 
liche Verhältnis  auf  den  Kopf,  daß  die  reinere  und 
schroffere  Form  des  Klassenkampfes  in  den  Repu- 
bliken zur  Geltung  komme.  In  der  bürgerlichen  Re- 
publik und  verwandten  Staatsformen  versucht  man 
die  Arbeiter  durch  Geschenke  zu  korrumpieren,  in 
der  absolutistischen  Monarchie  durch  Gewalt  einzu- 
schüchtern.   Der  „republikanische  Aberglaube"  ist 

290 


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sonach  eine  recht  revolutionäre,  sehr  radikale  und  in 
allen  Fällen  eine  unbedingt  notwendige  Anschauung. 

Der  beste  und  einzige  Interpret  seiner  Anschau- 
ung ist  schließlich  Bebel  selbst.  Gerade  vor  einem 
Jahre  hat  Bebel  in  seinem  Aufsatz  über  die  Vize- 
Präsidentenfrage  mit  großer  Scharfe  und  durchaus 
zutreffend  gegen  die  Genossen  polemisiert,  die  nach 
seiner  Meinung  sich  gegenüber  der  fundamental  wich- 
tigen Staatsform  zu  gleichgültig  verhielten.  Er  führte 
in  der  Neuen  Zeit  vom  5.  September  1903  unter  der 
Kapitelüberschrift  „Die  Staatsform  mehr  Neben- 
sache für  die  Sozialdemokratie"  aus: 

„Wir  sollten  nicht  das  Hauptgewicht  auf  die  Staats- 
form legen  und  nicht  annehmen,  daß  man  durch 
eine  Audienz  bei  dem  Kaiser  eine  Art  Reverenz  vor 
ihm  mache.  Nicht  auf  die  Staatsform,  auf  den  sozialen 
Inhalt  der  Gesellschaft  komme  es  nach  unseren 
eigenen  Grundanschauungen  hauptsächlich  an,  rufen 
übereinstimmend  Vollmar  und  Göhre.  Letzterer  wid- 
met diesem  Thema  in  der  Chemnitzer  Volksstimme 
einen  ganzen  Leitartikel,  aus  dem  ich  die  Überzeugung 
gewann,  daß  dem  Genossen  Göhre  der  Nationalsoziale 
noch  sehr  im  Nacken  sitzt. 

Es  fällt  mir  nicht  ein,  die  Staatsform  zu  überschät- 
zen. Aber  sie  ist  sehr  wesentlich.  Es  gibt  allerdings 
Monarchien,  wie  zum  Beispiel  die  englische,  die  ich 
mancher  Republik  vorziehe,  zum  Beispiel  den  süd- 
amerikanischen. Aber  auch  zwischen  den  Monarchien 
ist  ein  gewaltiger  Unterschied.  Eine  starke  Monarchie 
bedeutet  ein  schwaches  Parlament.  Und  wenn  das 
Königtum  durch  Heer  und  Flotte  und  Beamten- 
hierarchie usw.  schon  stark  ist  und  durch  die  herr- 
schenden Klassen  noch  besonders  gestützt  wird,  dann 
ist  es  für  jede  Demokratie  eine  ganz  besondere  Gefahr! 
Daher  ist  die  Monarchie  in  Preußen  die  Monarchie 
par  excellence,  die  es  in  der  ganzen  Welt  nicht  zum 
zweiten  Male  gibt.    Und  der  jeweilige  preußische 


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Monarch,  der  zugleich  deutscher  Kaiser  ist,  ist  auch 
der  systematische  Stärker  des  Junkertums,  in  dem  er 
seine  vornehmste  Stütze  sieht.  Er  ist  es  auch,  an  dem 
das  Dreiklassen- Wahlsystem  mit  all  seinen  Ungleich- 
heiten in  Staat  und  Kommune  für  die  Arbeiterklasse 
seinen  Grund-  und  Eckstein  findet,  der  alles  billigt, 
was  bisher  die  Sozialdemokratie  in  Preußen  rechtlos 
gemacht  und  geschädigt  hat .  .  . 

Wäre  dagegen  Preußen-Deutschland  eine  Republik 
und  wäre  sie  noch  so  blau,  so  besäßen  wir  höchst 
wahrscheinlich  das  allgemeine,  gleiche,  direkte  und 
geheime  Wahlrecht  für  alle  Vertretungskörper,  Diäten- 
zahlung an  die  Abgeordneten,  eine  gerechtere  Eintei- 
lung der  Wahlkreise,  womöglich  das  Proportionalwahl- 
system, ein  viel  freieres  Vereins-  und  Versammlungs- 
recht, eine  größere  Preßfreiheit,  eine  vollkommenere 
Sozialreform,  für  die  dann  unsere  Macht  ganz  anders 
in  die  Wagschale  fiele  wie  jetzt,  ein  demokratischer 
gestaltetes  Militärsystem,  eine  dem  Parlament  ver- 
antwortliche Regierung,  kurz,  es  wäre  eine  Reihe 
unserer  nächsten  Programmforderungen  erfüllt,  um 
die  wir  jetzt  noch  lange  und  voraussichtlich  sehr 
schwere  Kämpfe  zu  bestehen  und  große  Opfer  zu  brin- 
gen haben. 

Wollen  Vollmar  und  Göhre  auch  jetzt  noch  behaup- 
ten, daß  die  Staatsform  mehr  nebensächlich  sei  ?  Was 
werden  die  belgischen,  französischen,  österreichischen, 
italienischen  Genossen  denken,  wenn  sie  ihre  Aus- 
führungen lesen  ?" 

Man  braucht  nur  an  diese  Darlegungen  zu  erinnern, 
um  ein-  für  allemal  der  Legende  der  deutschen  und 
französischen  bürgerlichen  Presse  ein  Ende  zu  machen, 
die  der  deutschen  Sozialdemokratie  monarchische  Nei- 
gungen, republikanischen  Skeptizismus  oder  auch  nur 
Gleichgültigkeit  gegenüber  der  Staatsform  zuschreiben 
möchte. 

Gewiß,  es  läßt  sich  denken,  daß  die  Monarchie 
292 


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keine  direkte  Klassenregierung  ist,  es  läßt  sich  denken, 
daß  in  der  Monarchie  der  Klassenkampf  minder  rauhe 
Formen  annimmt  wie  in  der  Republik;  es  läßt  sich 
denken,  daß  in  der  Monarchie  dem  Proletariat  ein 
größerer  Schutz  zuteil  wird  —  und  niemand  wäre 
so  zufrieden,  wenn  die  Monarchie  diese  Eigenschaften 
hätte,  wie  die  deutsche  Sozialdemokratie.  Aber,  nach 
einem  Philosophenwort:  Ein  gedachter  Taler  ist  kein 
wirklicher  Taler.  Die  Erfahrung  lehrt  das  Gegenteil. 
Und  Bebel,  der  vor  einem  Jahre  den  monarchistischen 
Aberglauben  der  Revisionisten  oder  doch  den  der 
monarchistischen  Indifferenz  bekämpfte,  hat  sich 
besser  gegen  falsche  Interepreten  gesichert,  als  sein 
heutiger  Verteidiger,  der  vor  dem  Revisionismus  des 
„republikanischen  Aberglaubens"  warnt.  Beiderlei 
Aberglauben  ist  vom  Übel  —  aber  einstweilen  steckt 
in  dem  „republikanischen  Aberglauben"  noch  ein  so 
schweres  und  unumgängliches  Problem,  daß  es  uns 
gar  nicht  wichtig  genug  sein  kann. 

Im  übrigen  scheint  uns  die  binnen  Jahresfrist  so 
seltsam  veränderte  Umschreibung  revisionistischer 
Ziele  —  vom  monarchischen  zum  republikanischen 
Aberglauben  —  die  Einsicht  dafür  zu  schärfen,  ob 
es  der  tieferen  Erkenntnis  und  der  fruchtbaren  Klärung 
parteigenössischer  Streitfragen  dient,  mit  dem  Stempel 
fester  „Richtungsworte"  allzu  eifrig  zu  arbeiten. 

II. 

K.  E.  bringt  im  Vorwärts  vom  30.  August  eine 
Polemik  gegen  meine  Ausführungen  in  der  Neuen  Zeit 
über  die  Bedeutung  der  Republik  für  den  proleta- 
rischen Klassenkampf  Ich  hatte  diese  Darlegungen 
im  Anschluß  an  Bebels  Äußerungen  in  Dresden  ge- 
macht, K.  E.  aber  glaubt  nachweisen  zu  können, 
daß  ich,  statt  Bebel  zu  interpretieren,  mich  in  Wider- 
spruch zu  ihm  gesetzt  habe,  der  vor  einem  Jahr^  in 

293 


der  Neuen  Zeit  über  die  Republik  ganz  anders  ge- 
urteilt habe,  wie  ich  in  meinem  letzten  Artikel. 

Ich  muß  darauf  bemerken,  daß  ich  nicht  den  Artikel 
vom  vorigen  Jahre,  sondern  die  jüngste  Rede  Bebels 
zu  interpretieren  suchte.  Will  K.  E.  behaupten, 
meine  Ausführungen  ständen  im  Widerspruch  zu  dieser 
Rede? 

Ich  glaube  kaum;  dann  aber  liefe  seine  ganze  Dar- 
legung auf  den  Versuch  hinaus,  indirekt  einen  Wider- 
spruch zwischen  dem  Bebel  von  heute  und  dem  vom 
vorigen  Jahre  zu  konstruieren.  Und  allerdings,  wer 
nur  nach  Äußerlichkeiten  urteilt,  mag  leicht  auf  die 
Idee  kommen,  zwischen  den  beiden  Darlegungen  be- 
stehe ein  Gegensatz.  Ganz  anders,  wenn  man  naher 
zusieht. 

Es  ist  ein  großer  Fehler,  der  sich  aber  immer  wieder- 
holt und  der  namentlich  bei  den  Beweisen  für  angeb- 
lich vollzogene  Mauserungen  der  Sozialdemokratie 
eine  bedeutende  Rolle  spielt,  daß  man  Sätze  aus  ein- 
zelnen polemischen  Reden  oder  Artikeln  ohne  Rück- 
sicht auf  den  Zusammenhang,  in  dem  sie  stehen, 
und  die  Situation,  der  sie  entstammen,  gebraucht. 
Es  ist  klar,  daß  man  in  der  Polemik  stets  diejenigen 
Seiten  hervorhebt,  in  denen  man  sich  vom  Gegner 
unterscheidet.  Wenn  ich  heute  mit  einem  Anarchisten 
und  morgen  mit  einem  Konservativen  polemisiere, 
werde  ich  jedesmal  ganz  andere  Argumente  gebrau- 
chen, und  wer  diese  ohne  weiteres  nebeneinander- 
stellt, kann  dann  oft  Widersprüche  konstruieren,  wo 
in  Wirklichkeit  völlige  Einheitlichkeit  des  Denkens 
besteht. 

So  auch  hier.  Was  als  Widerspruch  zwischen  dem 
Bebel  vom  September  1903  und  dem  vom  August  1904 
erscheinen  mag,  ist  in  Wirklichkeit  ein  Widerspruch 
zwischen  den  Genossen,  gegen  die  er  seinen  Stand- 
punkt zu  verfechten  hatte  —  Vollmar  und  Göhre 
einerseits,  die  da  meinten,  die  Staatsform  sei  ziemlich 

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gleichgültig,  und  Jaures,  der  die  Bedeutung  der  Re- 
publik überschätzt.  Bebel  bekämpft,  und  mit  Recht, 
die  eine  Anschauung  ebenso,  wie  die  andere.  Es  ist 
jedoch  klar,  daß  man  nicht  beide  mit  den  gleichen 
Argumenten  bekämpfen  kann. 

Sind  aber  seine  Argumente  in  dem  einen  und 
dem  anderen  Fall  verschieden,  so  sind  sie  nicht  mit- 
einander unvereinbar;  auch  mit  dem,  was  ich  jetzt 
in  der  Neuen  Zeit  entwickelt  habe,  ist  der  Stand- 
punkt, den  dort  Bebel  vor  einem  Jahre  darlegte,  sehr 
wohl  zu  vereinigen. 

Wie  Bebel  damals,  erklare  ich  jetzt,  daß  die  Repu- 
blik für  das  kämpfende  Proletariat  von  äußerster 
Wichtigkeit  ist,  daß  es  dort  seiner  Befreiung  näher 
steht  als  in  der  Monarchie.  Was  ich  „republikani- 
schen Aberglauben"  nenne,  ist  der  Wahn,  „der  repu- 
blikanischen Bourgeoisie  wohne  eine  weit  größere 
Neigung  inne,  die  Befreiung  der  Arbeiterklasse  zu 
fördern,  als  der  Monarchie  und  der  monarchistischen 
Bourgeoisie". 

Man  muß  scharf  unterscheiden  zwischen  republi- 
kanischer Bourgeoisie  und  republikanischer  Staats- 
form. Die  Anerkennung  der  Wichtigkeit  der  einen 
für  den  Befreiungskampf  des  Proletariats  darf  uns 
nicht  blind  machen  gegen  die  große  Tatsache,  daß, 
gerade  weil  die  Republik  diesen  Befreiungskampf  be- 
günstigt, die  Bourgeoisie  in  der  Republik  dem  Prole- 
tariat gegenüber  nervöser  und  skrupelloser  verfährt 
als  in  der  Monarchie  —  unter  sonst  gleichen  Um- 
ständen, das  heißt,  bei  gleicher  politischer  und  ökono- 
mischer Kraft  des  Proletariats. 

In  der  Republik  entwickeln  sich  bei  gleicher  ökono- 
mischer Höhe  die  Klassengegensätze  zwischen  Bour- 
geoisie und  Proletariat  früher  und  schärfer  als  in  der 
Monarchie.  Nichts  ist  irriger,  als  die  Behauptung 
K.  E.s: 

„Es  widerspricht  den  Tatsachen  und  stellt  das 


295 


wirkliche  Verhältnis  auf  den  Kopf,  daß  die  reinere 
und  schroffere  Form  des  Klassenkampfes  in  den 
Republiken  zur  Geltung  komme.  In  der  bürgerlichen 
Republik  und  verwandten  Staatsformen  versucht  man 
die  Arbeiter  durch  Geschenke  zu  korrumpieren,  in  der 
absolutistischen  Monarchie  durch  Gewalt  einzu- 
schüchtern." 

Ein  Blick  auf  die  Geschichte  genügt,  diese  Schablone 
über  den  Haufen  zu  werfen.  Es  war  die  französische 
Republik,  die  Baboeuf  köpfte,  die  die  Blutbäder  vom 
Juni  1848  und  Mai  1871  auf  dem  Gewissen  hat.  Auf 
die  Praxis  der  Schweiz,  bei  jedem  erheblichen  Streik 
Militär  gegen  die  Streikenden  aufzubieten,  hat  der 
Vorwärts  erst  jüngst  aufmerksam  gemacht.  Und 
einen  Kampf,  wie  er  sich  seit  Monaten  in  Colorado 
abspielt,  haben  wir  bei  uns  noch  nie  gekannt. 

Es  war  andererseits  die  Monarchie,  die  versuchte, 
die  deutschen  Arbeiter  durch  die  Geschenke  des  all- 
gemeinen Wahlrechts  und  der  Arbeiterversicherung  zu 
gewinnen.  Und  wir  haben  in  Preußen  eine  Steuer- 
gesetzgebung, die  hoch  über  der  französischen  und 
amerikanischen  steht. 

Damit  wollen  wir  natürlich  nicht  sagen,  daß  die 
Monarchie  dort,  wo  sie  sich  bedroht  fühlt,  gegen  ihre 
Widersacher  weniger  brutal  vorgeht  als  die  bürger- 
liche Republik  gegen  die  Arbeiter.  Es  fällt  uns  nicht 
ein,  die  Unterdrückungsmethoden  der  Monarchie 
beschönigen  zu  wollen.  Nur  den  Glauben  an  die 
Arbeiterfreundlichkeit  der  republikanischen  Bour- 
geoisie wollen  wir  erschüttern  und  zeigen,  daß  mit 
gleicher  Rücksichtslosigkeit,  mit  der  die  Monarchie  den 
Republikanern  aller  Klassen,  die  republikanische  Bour- 
geoisie dem  Proletariat  gegenübersteht,  daß  der 
Klassenkampf  in  der  Republik  daher  ein  energischerer, 
der  Klassengegensatz  ein  schrofferer  ist  als  in  der 
Monarchie,  wo  er  vielfach  durch  den  Kampf  gegen 
das  monarchische  System  verschleiert  wird.  Das  be- 

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zeichnet  keineswegs  die  Bedeutungslosigkeit,  sondern 
vielmehr  die  große  Bedeutung,  welche  die  Staats- 
form für  den  Sozialismus  hat. 

Wenn  aber  der  angebliche  Widerspruch  zwischen 
Bebel  und  mir  oder  zwischen  dem  Bebel,  der  Voll- 
mar  und  Göhre  kritisiert,  und  dem,  der  Jaures  kriti- 
siert, sich  in  Wirklichkeit  in  einem  Widerspruch 
zwischen  Jaures  und  seiner  deutschen  Gesinnungs- 
genossen auflöst  —  beweist  das  nicht,  daß  man  unter 
dem  Wort  „Revisionismus"  sehr  verschiedene  An- 
schauungen zusammenfaßt,  die  gar  nicht  zusammen- 
gehören? In  der  Tat  meint  K.  E.  am  Schlüsse  seines 
Artikels: 

„Im  übrigen  erscheint  uns  die  binnen  Jahresfrist 
so  seltsam  veränderte  Umschreibung  revisionistischer 
Ziele  —  vom  monarchischen  zum  republikanischen 
Aberglauben  —  die  Einsicht  dafür  zu  schärfen,  ob  es 
der  tieferen  Erkenntnis  und  der  fruchtbaren  Klärung 
parteigenössischer  Streitfragen  dient,  mit  dem  Stempel 
fester  ,Richtungsworte*  allzu  eifrig  zu  arbeiten." 

Diese  „Einsicht"  wurde  bei  mir  leider  nicht  „ge- 
schärft", denn  ich  bin  der  Meinung,  daß  auch  der 
Widerspruch  zwischen  dem  „monarchischen  und  dem 
republikanischen  Aberglauben"  —  um  diese  Termino- 
logie beizubehalten  —  nur  ein  äußerlicher  ist  und  bei 
„tiefererJSinsicht"  sich  in  eine  höhere  Einheit  auflöst. 
Vor  allem  ist  der  Widerspruch  kein  zeitlicher,  son- 
dern ein  räumlicher.  Wir  haben  nicht  vor  Jahresfrist 
den  „monarchischen  Aberglauben"  des  Revisionis- 
mus und  heute  den  republikanischen,  sondern  wir 
haben  in  monarchischen  Ländern,  so  am  auffallend- 
sten in  Italien  und  England,  den  monarchischen, 
in  republikanischen  den  republikanischen  „Aber- 
glauben" des  Revisionismus,  das  heißt,  wir  finden 
überall  bei  ihm  den  gleichen  „Aberglauben",  daß 
mit  dem  bestehenden  Staatswesen  sich  auskommen 
lasse.    Ja,  wie  finden,  daß  der  Republikaner  Jaures 


297 


selbst"**seinem  „republikanischen  Aberglauben"  nur 
für  die  Republik  huldigt,  an  deren  Regierung  er  Anteil 
nimmt. 

Derselbe  Jaur£s,  der  jetzt  in  seiner  Humanit6  die 
Einigungsaktion  damit  einleitet,  daß  er  als  ihre  Vor- 
bedingung verlangt,  die  sozialistische  Partei  Frank- 
reichs solle  die  Ausführungen  über  die  bürgerliche 
Republik  desavouieren,  die  Guesde  in  Amsterdam 
getan,  er  hat  vor  Jahresfrist  die  wärmsten  Sympathien 
für  die  in  Deutschland  beantragte  Hofgängerei  an 
den  Tag  gelegt,  er  hat  den  König  von  Italien  als 
Vertreter  des  italienischen  Volkes  begrüßt  und  hat 
Teil  an  seiner  Tafelrunde  genommen  —  im  Gegensatz 
zu  den  Republikanern  Italiens. 

Löst  sich  also  der  anscheinende  Gegensatz  zwischen 
republikanischem  und  monarchischem  Aberglauben 
im  Revisionismus  in  die  höhere  Einheit  auf,  daß  er 
trachtet,  sich  mit  jeder  jeweiligen  Regierung  abzu- 
finden, so  löst  sich  auf  der  anderen  Seite  der  anschei- 
nende Gegensatz  zwischen  der  Bekämpfung  des  monar- 
chischen und  des  republikanischen  Aberglaubens  dahin 
auf,  daß  wir  überall  am  schärfsten  jene  bürgerliche 
Regierung  bekämpfen,  die  uns  gerade  gegenübersteht, 
daß  wir  daher  in  der  bürgerlichen  Republik  dem  repu- 
blikanischen Aberglauben  ebenso  zu  Leibe  gehen 
müssen,  wie  in  der  Monarchie  dem  monarchischen. 
Wenn  Bebel  in  Dresden  anders  sprach  als  in  Amster- 
dam, so  erklärt  sich  das  nicht  daraus,  daß  er  binnen 
Jahresfrist  seine  Auffassung  vom  Revisionismus  ge- 
ändert hat,  sondern  daraus,  daß  er  das  eine  Mal  zur 
deutschen,  das  andere  Mal  in  erster  Linie  zur  fran- 
zösischen Sozialdemokratie  sprach.  Der  Gedanke,  von 
dem  er  ausging,  war  aber  jedesmal  derselbe:  Kampf 
gegen  jedes  bürgerliche  Regime,  Zerstörung  aller 
Illusionen  über  die  Möglichkeit,  durch  ein  Abkommen 
mit  einer  oder  der  anderen  Art  bürgerlicher  Regierung 
dem  Proletariat  größere  Kraft  zu  verleihen. 

298 


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Ich  hätte  mir  gern  diese  Erneuerung  einer  Revisio- 
nistendebatte erspart,  nach  der  ich  nicht  das  geringste 
Verlangen  trage.  Nachdem  K.  £.  sie  aber  einmal 
aufs  Tapet  gebracht,  war  es  notwendig,  jedem  mög- 
lichen Mißverständnis  vorzubeugen.  K. 

III. 

Kautsky  stellt  also  eine  „höhere  Einheit"  her, 
welche  die  von  ihm  als  scheinbar,  als  äußerlich  zu- 
gegebenen Widersprüche  zwischen  der  schroffen  und 
unbedingten  Verherrlichung  der  Republik  im  Vor- 
jahre und  der  neuerlichen  seltsamen  Neigung,  der 
Monarchie  sogar  einige  Vorzüge  gegenüber  der  Repu- 
blik zuzugestehen,  auflösen  soll. 

Eine  „Einheit"  mag  Kautsky  zustande  gebracht 
haben,  eine,  ,höhere"  aber  ist  sie  sicher  nicht.  Denn 
wenn  die  Einheit  lediglich  darin  bestehen  soll,  daß 
sowohl  der  republikanische  wie  der  monarchische 
Aberglauben  vom  Übel  ist,  so  wäre  das  ein  sehr  mäßiger 
Ertrag  dieser  und  der  Amsterdamer  Debatte.  Dal'» 
die  bürgerliche  Demokratie  keine  sozialistische  Demo- 
kratie ist,  bedarf  unter  Parteigenossen  ebensowenig 
einer  Debatte,  wie  etwa  die  Weisheit,  daß  der  Kapi- 
talismus kein  Sozialismus.  Und  daß  die  Monarchie 
nicht  die  Vorzüge  hat,  die  etwa  Nationalsoziale  ihr 
beimessen,  ist  doch  auch  keine  lohnende  Erörterung 
für  Sozialdemokraten.  Es  handelt  sich  vielmehr  darum, 
ob  es  noch  richtig  ist,  was  Bebel  vor  einem  Jahre 
schrieb,  daß  „eine  Republik  und  wäre  sie  noch  so  blau", 
das  heißt  noch  so  kapitalistisch,  aus  unzähligen  Grün- 
den einer  Monarchie  von  der  Art  der  preußisch- 
deutschen  vorzuziehen  und  als  proletarische  Lebens- 
frage zu  erstreben  sei.  Es  handelt  sich  darum,  ob  in 
den  demokratischen  Republiken,  zu  denen  auch  Eng- 
land zu  rechnen  ist,  oder  den  absolutistischen  Monar- 
chien der  Klassenkampf  schärfer  und  brutaler  ist. 

Nun  meint  Kautsky,  im  Dienste  der  „höheren  Ein- 


299 


heit"  des  scheinbaren  Widerspruches,  es  sei  ja  selbst- 
verständlich, daß  man  in  der  Polemik  je  nach  dem 
Gegner  die  Argumente  wähle  und  wechsle.  In  der  Tat : 
selbstverständlich.  Aber  welche  Argumente  man  auch 
immer  vorzieht,  das  jeweilige  Argument  selbst  muß 
richtig,  eindeutig  sein.  Ein  Argument  ist  entweder 
wahr  oder  falsch,  niemals  aber  kann  es  im  Kampf 
mit  einem  Gegner  heute  wahr,  und  im  Kampf  mit 
dem  anderen  morgen  falsch  sein.  Würde  man  nicht 
nur  die  Argumente,  sondern  auch  Wert  und  Inhalt 
der  Argumente  wechseln,  so  lassen  sich  mit  dieser 
Methode  vielleicht  Augenblickserfolge  in  polemischen 
Schlachten  erringen,  aber  sie  wäre  auch  das  Ende 
einer  prinzipiellen  und  aufrichtigen  Aufklärung  und 
der  Anfang  geistiger  Verwirrung  und  Meinungs- 
vergiftung. Zum  Glück  wird  niemand  eine  solche 
Methode  anwenden  und  empfehlen. 

Ich  habe  nun  behauptet  und  nachzuweisen  versucht, 
daß  Kautskys  jetzige  Argumente  mit  denen  Bebels 
vom  Vorjahre  nicht  zu  reimen  sind,  daß  die  jetzigen 
falsch,  die  damaligen  der  alten  richtigen  sozialdemo- 
kratischen Tradition  entsprechen.  Kautsky  freilich 
meint,  dann  liefe  die  Polemik  eigentlich  auf  die  Be- 
hauptung von  Widersprüchen  zwischen  dem  Bebel 
von  Dresden  und  dem  Bebel  von  Amsterdam  hinaus; 
er  habe  ja  nur  Bebels  Amsterdamer  Darlegungen 
interpretiert. 

Ich  gebe  zu  —  weil  ich  das  ehrlicher-  und  offener- 
weise muß  — ,  daß  einzelne  Wendungen  Bebels  in 
Amsterdam  befremdend  klangen.  Aber  jedes  Miß- 
verständnis wurde  durch  die  weiteren  Ausführungen 
Bebels  ausgeschlossen,  in  denen  er  vollständig  seine 
Überzeugungen  vom  Vorjahre  vertrat.  Es  wäre 
kleinlich  gewesen,  jene  im  Feuer  des  Geisteskampfes 
allzu  stark  geschmiedeten  Bemerkungen  —  nichts 
begreiflicher  als  dies  —  hervorzuzerren,  da  an  der 
Tendenz  des  Ganzen  kein  Zweifel  war.  Nachdem  aber 

300 


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Kautsky  gerade  jene  auffallenden  Äußerungen  in  eine 
Art  festes,  wenn  auch  —  ganz  gegen  Kautskys  son- 
stigen Charakter  —  sonderbar  schillerndes  und  schwan- 
kendes System  gebracht  hat,  fühlte  ich  aus  gewichtigen 
Gründen,  die  ich  weiter  unten  erörtern  werde,  die 
Fflicht  zum  Widerspruch. 

Ich  habe  in  meinem  ersten  Artikel  den  Unterschied 
zwischen  der  bürgerlich-republikanischen  oder  auch 
nur  parlamentarischen  Demokratie  und  der  im  Ab- 
solutismus stecken  gebliebenen  Monarchie  dahin  prä- 
zisiert, daß  in  der  bürgerlichen  Demokratie  aus  ihren 
eigenen  Existenzbedingungen  heraus  das  Proletariat 
von  den  verschiedenen  Gruppen  der  herrschenden 
Klassen  weit  intensiver  umworben  werden  muß  als 
in  der  Monarchie,  daß  daher  in  ihr  der  Klassenkampf 
verschleierter  erscheint.  In  einer  Demokratie,  in  der 
das  allgemeine  Wahlrecht  für  alle  Körperschaften 
Grundbedingung  ist,  würde  natürlich  keine  Gruppe 
der  herrschenden  Gesellschaft  auch  nur  einen  Tag 
an  der  politischen  Macht  bleiben,  wenn  sie  nicht  auf 
die  Stimmen  des  Proletariats  rechnen  könnte.  Daher 
das  Interesse  am  Arbeiterfang!  Welches  Interesse 
aber  hätte  Junkertum  und  Bourgeoisie  in  Preußen 
oder  Sachsen  mit  ihrem  Dreiklassen-Wahlrecht,  um  die 
Freundschaft  der  Arbeiter  durch  Konzessionen  zu 
buhlen  ?  Andererseits  ist  die  Monarchie  gerade,  sofern 
sie  von  starker  staatsrechtlicher  Machtvollkommenheit 
ist,  der  Gefangene  dieser  borniertesten  Klassen,  die  es 
nicht  dulden  können,  daß  diese  Macht  gegen  sie 
gerichtet  sei. 

Ich  weiß  nicht  recht,  ob  Kautsky  die  Anschauung 
nicht  auch  hat;  aber  einzelne  Ausführungen  über  mili- 
tärische Aufgebote  gegen  Streiks  usw.  scheinen  meiner 
Auffassung  doch  zu  widersprechen.  Man  braucht 
aber  nicht  bis  zur  französischen  Revolution,  auch 
nicht  bis  zur  Kommune  zurückzuschweifen,  um  die 
Tatsache  zu  erhärten,  daß  es  keine  borniertere  und 


301 


grausamere  Klassenherrschaft  gibt,  als  in  der  absolu- 
tistischen Monarchie.  Das  Erfahrungsmaterial  der 
Gegenwart  reicht  vollständig  aus,  um  den  Beweis  zu 
führen. 

Es  ist  immer  dasselbe  Argument  der  militärischen 
Streikbekämpfung  und  der  preußischen  Steuer-Gesetz- 
gebung, welche  gegen  die  französische  Republik  und 
für  die  preußische  Monarchie  angeführt  werden.  Es 
ist  begreiflich,  wenn  solche  dürftigen  Schaustücke 
in  dem  französischen  Parteistreit  von  französischen 
Genossen  vorgetragen  werden;  aber  es  ist  unverständ- 
lich, daß  man  in  dem  Deutschland  des  Sozialisten- 
gesetzes, der  Zuchthausvorlage,  der  Gesindeordnung, 
des  Kontrakt bruchsgesetzes,  in  dem  Deutschland  von 
Löbtau  und  Laurahütte  solche  Argumente  ausspielt. 
Hat  man  denn  ganz  vergessen,  daß  es  der  ewige  Traum 
Bismarcks  war,  in  einer  blutigen  Militärschlacht  das 
deutsche  Proletariat  niederzuwerfen  ?  Wenn  in  Deutsch- 
land gegen  Streiks  in  der  Regel  kein  Militär  auf- 
geboten wird,  so  ist  das  das  Verdienst  des  Polizei  - 
Staates  und  der  wunderbaren  Disziplin  des  sozial- 
demokratischen Proletariats.  Die  Polizei  nimmt  so 
rechtzeitig  schon  den  ersten  Demonstranten  fest,  daß 
das  Militär  gar  nichts  mehr  zu  tun  haben  würde.  Auf 
wen  sollte  das  Militär  schießen  ?  Es  würde  höchstens 
demonstrierende  Arbeitgeber  und  Streikbrecheragenten 
treffen.  Und  die  Sozialdemokratie  hat  das  deutsche 
Proletariat  dazu  erzogen,  sich  dieser  Polizeidisziplin 
zu  unterwerfen  und  auf  Demonstrationen  zu  verzich- 
ten. Wenn  in  Deutschland  ähnlich  wie  in  Chalons 
demonstriert  werden  würde,  wie  viele  Jahre  Zuchthaus 
und  wie  viele  Tote  würde  es  dann  geben  ?  Es  ist  keine 
Eigentümlichkeit  der  Republik,  auf  Streikende  zu 
schießen  und  kein  Vorzug  der  Monarchie,  die  Sol- 
daten in  der  Kaserne  zu  lassen.  Nirgends  wird  soviel 
Arbeiterblut  vergossen  wie  in  der  österreichischen 
Monarchie. 

302 


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Aber^weiter.  rHat  man  denn  wirklich~ganz  ver- 
gessen, wieviel  Hunderte  von  Jahren  Zuchthaus  und 
Gefängnis  deutsche  Gerichte  über  Arbeiter  verhängen, 
die  im  Kampf  um  ihre  Existenz  kaum  auch  die  schärfste 
Polizeiverordnung  nur  ein  wenig  übertreten,  wenn 
sie  sie  überhaupt  übertreten.  Hört  man  von  solchen 
Bluturteilen  aus  Frankreich?  Im  Gegenteil.  Man 
hört  vom  „guten  Richter".  Diese  blutrünstige  fran- 
zösische Bourgeoisie  hat  ihre  Richter  so  schlecht  er- 
zogen, daß  sie  ihr  im  Kampf  gegen  streikende  Arbeiter 
nicht  helfen  und  diese  monarchisch  abgeschwächte 
deutsche  Bourgeoisie  hat  ihre  Richter  so  vorzüglich 
ausgebildet,  daß  jede  Strafkammer  ein  Regiment  er- 
setzt. Mit  dieser  neuesten  Legende  sollte  man  also 
schnell  aufhören.  Das  zweite  Schaustück  ist  die  fran- 
zösische Steuergesetzgebung,  auch  eine  ganz  neue 
Entdeckung.  Eine  Eigentümlichkeit  der  bürgerlichen 
Demokratie  ist  es  nicht,  sich  gegen  die  direkte  Ein- 
kommenbesteuerung zu  sträuben.  Das  englische  Bür- 
gertum besteuert  sich  gegenüber  dem  deutschen  in 
einer  geradezu  bewunderungswürdigen  Weise.  Es  ist 
richtig,  daß  Frankreich  eine  starke  Abneigung  gegen 
die  direkte  Einkommensteuer  hat,  aber  das  ist  nicht 
die  Schuld  der  Republik,  auch  nicht  der  demokra- 
tischen Bourgeoisie,  sondern  die  Folge  der  eigentüm- 
lichen sozialen  Struktur  Frankreichs.  Ein  wesentlich 
kleinbürgerliches  Land,  dessen  Bürger  den  Ehrgeiz 
haben,  Rentner  zu  werden,  haben  naturgemäß  keine 
Vorliebe  dafür,  von  ihrer  Rente  bare  Abzüge  an  den 
Staat  zu  entrichten;  und  gar  so  schlimm  ist  die  Be- 
steuerung auch  nicht. 

Man  bedenke,  daß  die  Grundsteuer  außerordentlich 
hohe  Beträge  in  Frankreich  liefert,  während  in  Preußen 
die  Grundsteuerregulierung  auf  eine  Liebesgabe  für 
die  Großgrundbesitzer  hinausläuft.  Ferner  ist  zu 
bedenken,  daß  Frankreich  große  Erträge  aus  der  Erb- 
schaftssteuer   zieht,    jährlich    etwa    200  Millionen 


303 


Franks,  in  Preußen  15  Millionen  Mark.  Der  Ertrag 
der  französischen  Erbschaftssteuer  ist  also  größer  als 
die  berühmte  preußische  Einkommensteuer,  die  im 
Jahre  1901  185  Millionen  Mark  eingebracht  hat,  genau 
so  viel  wie  in  Frankreich  die  Grundsteuer  ergibt. 

Aber,  so  sagt  Kautsky,  die  deutsche  Monarchie  ver- 
sucht, die  Arbeiter  durch  die  Arbeiterversicherung 
zu  gewinnen.  Auch  dieser  Hinweis  ist  eine  bedenkliche 
Revision  unsrer  bisherigen  Anschauung.  Bisher  pfleg- 
ten wir  zu  sagen,  daß  die  ganze  Arbeiterschutz-Gesetz- 
gebung  nicht  so  viel  wert  ist,  wie  ein  freies  Koalitions- 
recht und  eine  Verkürzung  der  Arbeitszeit.  Beides 
haben  wir  in  Preußen  und  Deutschland  nicht,  dagegen 
erfreut  sich  das  französische  Proletariat  des  freien  und 
geschützten  Koalitionsrechts,  das  auch  auf  die  Staats- 
betriebe ausgedehnt  ist.  Die  französischen  Arbeiter 
haben  zum  größten  Teil  den  Zehnstundentag  gesetz- 
lich festgelegt  erhalten  und  für  die  Staatsbetriebe 
ist  der  Achtstundentag  durchgeführt.  Ich  meine, 
Bebel  hat  recht,  daß  auch  die  blaueste  Republik  in 
Hinsicht  der  sozialen  Reform  unendlich  der  Monarchie 
überlegen  ist.  Was  die  Monarchie,  was  der  Imperialis- 
mus oder  Cäsarismus  leisten  kann,  das  ist  einmal  sehr 
lebendig  gezeichnet  worden:  Die  widerspruchsvolle 
Aufgabe  einer  solchen  Monarchie  erkläre  die  Wider- 
sprüche ihrer  Regierung:  „Das  unklare  Hin-  und 
Hertappen,  das  bald  diese,  bald  jene  Klasse  bald  zu 
gewinnen,  bald  zu  demütigen  sucht  und  alle  gleich- 
mäßig gegen  sich  aufbringt,  dessen  praktische  Un- 
sicherheit einen  hochkomischen  Kontrast  bildet  zu 
dem  gebieterischen  kategorischen  Stil  der  Regierungs- 
akte .  .  ." 

Die  Monarchie  „möchte  als  der  patriarchalische 
Wohltäter  aller  Klassen  erscheinen.  Aber  sie  kann 
keiner  geben,  ohne  der  andern  zu  nehmen"  .  .  . 
„Von  den  widersprechenden  Forderungen  ihrer  Situa- 
tion gejagt,  zugleich  wie  ein  Taschenspieler  in  der  Not- 

304 


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wendigkeit,  durch  beständige  Überraschung  die  Augen 
des  Publikums  auf  sich  .  .  .  gerichtet  zu  halten  .  .  ., 
bringt  sie  die  ganze  bürgerliche  Wirtschaft  in  Wirr- 
warr, tastet  alles  an,  was  der  Revolution  von  1848 
unantastbar  schien,  macht  die  einen  revolutions- 
geduldig, die  andern  revolutionslustig  und  erzeugt 
die  Anarchie  selbst  im  Namen  der  Ordnung,  während 
sie  zugleich  der  ganzen  Staatsmaschine  den  Heiligen- 
schein abstreift,  sie  profaniert,  sie  zugleich  ekelhaft 
und  lächerlich  macht." 

Das  ist  ungefähr  das  Höchste,  was  die  Monarchie, 
„die  keine  direkte  Klassenherrschaft  ist",  leisten  kann. 
Karl  Marx  hat  das  Bild  im  18.  Brumaire  gezeichnet. 
Ich  ziehe  mit  Bebel  auch  die  blaueste  Republik  diesem 
„Interessenausgleich"  vor. 

Ich  glaube  ja  nicht,  daß  für  Deutschland  es  sehr  not- 
wendig ist,  über  das  Wesen  der  Monarchie  und  der 
Republik  Diskussionen  anzustellen.  Die  Monarchie 
der  deutschen  Gegenwart  läßt  eine  Konfusion  der 
Vorstellungen  über  die  Staatsform  nicht  aufkommen, 
eine  Konfusion,  die  entweder  zu  Naumann  oder  — 
Friedeberg  führen  müßte.  Was  die  bürgerliche  Presse 
über  unsere  monarchistischen  Anwandlungen  sagen 
mag,  ist  gleichgültig.  Vereinzelt  ist  auch  ein  Partei- 
blatt aus  dem  Gleichgewicht  geworfen  worden,  wenn 
es  Bebel  in  Amsterdam  fälschlich  dahin  verstand  (am 
14.  August): 

„Die  bürgerliche  Republik  ist  eine  unverhüllte 
Klassenherrschaft  der  Bourgeoisie;  sie  würde  die 
Schandzustände,  die  heute  der  Berliner  Kommunal- 
freisinn in  der  Residenz  und  die  Sonnemannokratie  in 
Frankfurt  am  Main  geschaffen  hat,  zu  deutschen 
Staatseinrichtungen  erheben;  sie  würde  in  Deutsch- 
land ein  Ministerium  Richter-Sonnemann-Bassermann 
mit  einem  Ministerium  Richter-Sonnemann-Spahn  ab- 
wechseln lassen  und  die  beispiellose  Niedertracht  des 


to  Biso  er.  Gesammelte  Schrift««.  !. 


305 


deutschen  Unternehmertums  bei  Arbeitskämpfen  mit 
blauen  Bohnen  und  Kartätschen  bewaffnen." 

Wenn  die  Dinge  allerdings  so  stehen,  wenn  das  der 
einzige  Fortschritt  einer  deutschen  Republik  ist, 
daß  sie  zur  bisherigen  Niedertracht  des  Unternehmer- 
tums noch  die  blauen  Bohnen  fügt,  dann  wäre  es  ja 
ein  Frevel,  auch  nur  republikanisch  zu  denken,  ge- 
schweige eine  Republik  zu  erstreben.  Auch  Kautskys 
Kunst  der  höheren  Einheit  würde  es  nicht  fertig 
bringen,  diese  Wendung  mit  Bebels  Meinung  zu  ver- 
einigen, daß  auch  die  blaueste  Republik  unendlich 
besser  sei  als  die  deutsche  Monarchie.  Solche  momen- 
tane Verwirrung  ist  schon  deshalb  nicht  tragisch  zu 
nehmen,  weil  dasselbe  Blatt  gleichzeitig  sich  bereits 
korrigierte,  indem  es  wieder  zu  der  Erkenntnis  der 
Wahrheit  gelangt  ist:  „Wo  die  politische  Demokratie 
ausgebildet  ist,  wie  in  England,  in  der  Schweiz,  auch 
in  Frankreich,  ist  der  Einfluß  des  Unternehmertums 
auf  die  Staatsorgane  durch  zahlreiche  Einrichtungen 
anderer  Art  abgeschwächt  und  durchkreuzt." 

Aus  einem  anderen  sehr  ernsten  Grunde  habe  ich 
diese  Auseinandersetzung  begonnen.  Ich  halte  für 
die  wichtigste  Frage  der  Zukunft  des  Sozialismus 
die  Bildung  einer  starken  und  einheitlichen  franzö- 
sischen Sozialdemokratie.  Hiervon  hängt  das  nächste 
Schicksal  der  proletarischen  Bewegung  ab.  Eine  starke, 
einheitliche  deutsche  und  eine  starke  einheitliche 
französische  Sozialdemokratie  ist  unüberwindlich  und 
von  unermeßlichem  Einfluß  auf  die  Ent Wickelung  der 
europäischen  Verhältnisse. 

Um  dies  Ziel  zu  erreichen,  müßten  die  Mißver- 
ständnisse zwischen  der  deutschen  und  der  franzö- 
sischen Arbeiterbewegung  beseitigt  werden.  Und  um 
die  Mißverständnisse  zu  beseitigen,  ist  es  notwendig, 
daß  wir  im  Interesse  der  französischen  Einheit  nicht 
eine  individuelle  Richtung  unterstützen,  deren  Taktik 
in  jedem  Punkte  der  deutschen  Taktik  widerspricht 

306 


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und  die  sich  doch  mit  einem  Schein  von  Recht  auf  die 
deutsche  Sozialdemokratie  berufen  kann. 

Kautsky  gilt,  ich  weiß  nicht,  ob  mit  Recht  oder 
Unrecht,  als  der  Sachwalter  der  Guesdisten  für 
Deutschland.  Kautskys  Darlegungen  über  Monarchie 
und  Republik  stimmen  nun  zwar  nicht  überein  mit 
denen  Guesdes  in  Amsterdam,  aber  gerade  in  ihrer  un- 
sicheren Zwiespältigkeit  sind  sie  geeignet,  Guesdes 
Theorien  wieder  zu  bestärken,  und  deshalb  glaubte  ich 
eine  bestimmte  und  unzweideutige  Antwort  auf  die 
Frage  veranlassen  zu  sollen. 

Guesde  sagte  in  Amsterdam: 

„Sie  —  zu  den  Jauresisten  gewandt  —  haben  gar 
nicht  das  Gefühl  des  Klassenkampfes,  von  dem  Sie 
sprechen,  Sie  haben  ihn  niemals  praktisch  geführt. 
M  an  sieht  das  sehr  gut,  wenn  Sie  auf  das  Gebiet  der 
historischen  Entwickelung  der  Völker  abschweifen, 
auf  Ihre  ,Rettung  der  Republik*.  Nehmen  wir  einen 
Augenblick  an,  daß  die  Republik  durch  Ihre  Freunde 
gerettet  worden  sei,  wieso,  frage  ich  Sie,  würde  die 
Form  der  Republik  die  Befreiung  des  Proletariats  um 
einen  Tag  beschleunigen  ?  Bebel  sagte  Ihnen  gestern, 
daß  die  republikanische  Form  das  Gebiet  sei,  auf  dem 
alle  Fraktionen  der  bürgerlichen  Klasse  sich  vereinen, 
und  daß  in  gewissem  Sinne  die  Monarchie,  sofern  sie 
über  den  Klassen  steht,  ihr  überfegen  ist.  Er  hätte 
vielleicht  auch  an  das  Wort  Thiers'  erinnern  können, 
das  der  Ausdruck  des  Empfindens  einer  ganzen 
Klasse  ist:  ,Die  Republik  ist  diejenige  Regierungsform, 
welche  uns  am  wenigsten  trennt*.  Also  selbst  wenn  Sie 
die  Republik  gerettet  hätten,  so  würden  sie  damit 
nichts  für  das  Proletariat  getan  haben.  Wenn  das 
Proletariat,  um  sie  zu  retten,  wenn  sie  in  Gefahr  ist, 
jedesmal  seine  Forderungen  aufgeben  muß,  dann  ist 
die  Republik  die  schlimmste  der  Regierungen  .  .  . 
Schauen  wir  uns  einmal  die  Reformen  an,  mit  denen 
Sie  das  Proletariat  beglückten.  Sie  rühmen  die  Ver- 


307 


weltlichung  der  Schule,  die  Trennung  von  Staat  und 
Kirche?  Nehmen  wir  an,  daß  die  republikanische 
Bourgeoisie  alles  das  durchführen  würde,  so  würde 
dies  keine  Wirkung  haben.  Schauen  Sie  nach  Amerika, 
wo  die  Kirche  vom  Staate  getrennt  ist!  Der  Unter- 
richt ist  trotzdem  konfessionell,  weil  eben  keine  geistige 
Befreiung  möglich  ist  vor  der  völligen  Umwandlung 
der  kapitalistischen  Gesellschaft.  Jaures  hat  uns 
weiter  gesagt,  daß  die  Majorität  Herrn  Combes  viel- 
leicht nicht  fragen  werde,  da  beginne  dann  die  Komö- 
die des  Antiklerikalismus  wieder  von  vorn.  Soll  ich 
noch  vom  Zehnstundengesetz  sprechen,  von  dem  Sie 
sich  das  Verdienst  zuschreiben  l  Das  Gesetz  ist  mitten 
in  der  Reaktion  1892  beschlossen  worden,  und  Sie 
haben  nur  die  Ausführung  um  zehn  Jahre  verzögert. 
(Zwischenruf:  Das  stimmt  nicht!  Vaillant  hat  das 
Gegenteil  in  der  Kammer  erklärt.)  Sie  haben  an- 
gekündigt, daß  eine  Arbeiter- Invalidenunterstützung 
in  Vorbereitung  sei;  aber  sie  gewährt  den  Arbeitern 
nur  den  zehnten  Teil  dessen,  was  die  Monarchie  der 
Hohenzollern  den  Arbeitern  gewährt  hat.  (Zwischen- 
ruf: Sie  wissen,  daß  das  nicht  wahr  ist.)  Und  was 
den  Krieg  anbetrifft,  so  haben  wir  ihn  1877  und  1880 
vorausgesehen,  Sie  aber  bereiten  ihn  vor,  indem  Sie 
das  Militärbudget  bewilligen.  (Zwischenruf:  Das 
ist  wiederum  falsch!)  Es  ist  übrigens  nichts  Wunder- 
bares, daß  Sie  so  handeln.  Ihr  Irrtum  ist  ein  funda- 
mentaler. Sie  verbinden  den  Sozialismus  mit  der 
Republik  und  mit  der  französischen  Revolution.  Wir 
aber  sagen,  daß  der  Sozialismus  das  Resultat  rein 
wirtschaftlicher  Erscheinungen  ist,  und  diese  Grund- 
auffassung steht  in  unversöhnlichem  Gegensatz  zu 
Ihrer  Auffassung.  Sie  machen  aus  der  Republik  das 
erste  Kapitel  oder  das  Vorwort  des  Sozialismus.  Wenn 
das  wahr  wäre  für  Frankreich,  dann  wäre  es  auch 
wahr  für  alle  Länder,  deshalb  bringen  wir  eben  diese 
Frage  vor  das  Proletariat  aller  Länder.  Glaubt  man, 


308 


daß  die  Eroberung  der  Republik  die  Lebenslage  des 
Proletariats  verbessern  würde  ?  Aber  Ihr  habt  so  wenig 
sozialistisches  Verständnis,  daß  Ihr  annehmt,  es  gebe 
in  dem  historischen  Ursprung  und  in  der  Augenblicks- 
situation begründete  Unterschiede,  die  dem  Gedan- 
ken widersprechen,  daß  es  eine  einheitliche  sozialisti- 
sche Praxis,  eine  gleichmäßige  internationale  Aktion 
des  Sozialismus  gebe.** 

Man  braucht  diese  Bemerkungen  nur  zu  lesen,  um 
sofort  zu  erkennen,  daß  die  deutsche  Sozialdemokratie 
nichts  mit  diesen  Anschauungen  gemein  hat.  Bebel 
zieht  die  blaueste  Republik  der  Monarchie  vor,  Guesde 
hält  die  Staatsform  für  gänzlich  gleichgültig.  Ja, 
wenn  die  Republik  nur  gerettet  werden  könne,  wenn 
die  Arbeiter  ihre  Forderungen  aufgeben,  dann  ist 
sie  ihm  die  schlechteste  Staatsform.  Welch  unsinnige 
Hypothese!  Die  demokratische  Republik  bleibt  die 
beste  bürgerliche  Staatsform  in  jedem  Fall,  und  wenn 
zu  ihrer  „Rettung**  die  Arbeiter  ihre  Forderungen 
aufgeben,  dann  würde  nicht  die  Republik  die  Schuld 
tragen,  sondern  die  mangelhafte  Aufklärung  der 
Arbeiter  oder  die  schlechte  Führung  der  Sozialdemo- 
kratie. 

Guesde  hält  den  Kampf  gegen  den  Klerikalismus 
für  wertlos,  eine  gute  Schule  könne  erst  in  der  soziali- 
stischen Gesellschaft  hergestellt  werden.  Insofern 
ist  das  richtig,  als  unsere  Ideale  erst  mit  Vollendung 
unserer  Mission  erreicht  werden  können.  Aber  hat 
jemals  die  deutsche  Sozialdemokratie  deshalb  unter- 
lassen, auch  die  kleine  positive  Verbesserungsarbeit 
des  Tages  zu  leisten?  Guesdes  Konsequenz  ist  der 
völlige  Verzicht  auf  den  Parlamentarismus,  auf  die 
Beeinflussung  des  Gesetzgebers,  sie  ist  das  Warten 
auf  den  einen  großen  Tag.  Mit  einem  solchen  Guesde 
könnte,  wenn  er  in  Deutschland  wirkte,  die  Sozial- 
demokratie niemals  einig  werden,  er  würde  sich  unter 
anarchistischen  Eingängern  verlieren.   Kann  man  es 


309 


da  für  möglich  halten,  daß  auf  Grundlage  dieses  Pro- 
gramms eine  Einheit  in .  Frankreich  zustande  kommen 
kann  ? 

Das  ist  unmöglich,  und  deshalb  sollten  wir  im  In- 
teresse der  französischen  Einheit  ernst  und  nachdrück- 
lich gegen  derartige  Auffassungen  Stellung  nehmen, 
anstatt  sie  scheinbar  zu  unterstützen.  Damit  dienen 
wir  der  Einheit  des  französischen  Sozialismus,  andern- 
falls wirken  wir  mit  an  der  Spaltung. 

Gerade  wenn  wir  diese  guesdistischen  Meinungen 
ablehnen,  können  wir  dann  um  so  fruchtbarer  auch 
die  jauresistische  Taktik  kritisieren^  Es  ist  ja  der 
Fluch  jeder  Sozialdemokratie,  die  sich  spaltet,  daß  im 
Gegensatz  der  Richtungen  jede  über  sich  selbst  hinaus 
entartet.  Um  diese  Bemerkungen  nicht  ins  Ungebühr- 
liche auszudehnen,  verzichte  ich  für  heute  auf  eine 
Auseinandersetzung  mit  dem  Jaur&ismus,  dessen 
schlimmster  Fehler  mir  zu  sein  scheint,  daß  er  die 
Block-Politik  nicht  als  der  Übel  verhältnismäßig  ge- 
ringstes widerstrebend  mitmacht,  sondern  sie  über- 
schwenglich als  der  Güter  höchstes  preist. 

Wir  sollten  unsere  französischen  Genossen  nicht 
in  ihren  Irrungen  bestärken,  weder  die  einen  noch  die 
anderen.  Dann  fördern  wir  unsererseits  den  Weg 
zur  Einheit,  die  —  wie  Bebel  in  seinem  begeisternden 
Schlußwort  zu  Amsterdam  prophetisch  kündete  — 
der  größte  Glücksfall  der  internationalen  Sozial- 
demokratie wäre.  Ich  halte  die  Dresdener  Resolution 
für  ein  Manifest  der  richtigen  Taktik,  aber  es  wider- 
spricht dieser  Taktik,  wenn  man  —  wie  Guesde  es 
tut  —  den  Kampf  um  die  Republik,  gegen  den  Kleri- 
kalismus für  ein  Nichts  erklärt.  Deshalb  wollte  ich 
dem  möglichen  Mißverständnis  vorzubeugen  suchen, 
daß  die  Ausführungen  Kautskys  wieder  im  Bruder- 
zwist der  französischen  Genossen  verschärfend  und 
verwirrend  benutzt  werden  könnten.  E. 

310 


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IV. 

Daß  eine  Reihe  bürgerlicher  Blätter  aus  Bebels 
Äußerungen  über  den  republikanischen  Aberglauben 
den  Schluß  zogen,  er  wolle  für  den  monarchischen 
Aberglauben  Propaganda  machen,  war  sonderbar 
genug.  Nun  fühlt  sich  aber  gar  der  leitende  Kopf 
unseres  Zentralorgans  genötigt,  die  Republik  vor  mir 
zu  retten,  der  ich  den  gleichen  Gedankengang  wie  Bebel 
entwickelt,  und  mir  die  Idee  zu  unterschieben,  ich 
wollte  für  die  preußische  Monarchie  gegenüber  der 
französischen  Republik  eine  Lanze  einlegen. 

Ein  wenig  mehr  Verständnis  für  den  Einfluß,  den 
wir  der  Staatsform  auf  den  Klassenkampf  zuschreiben, 
hätte  ich  allerdings  an  dieser  Stelle  erwartet,  nament- 
lich angesichts  meiner  wiederholten  ausdrücklichen 
Anerkennung  der  Wichtigkeit  der  republikanischen 
Staatsform  für  den  Befreiungskampf  des  Proletariats. 

Ich  sehe  jetzt,  daß  ich  zu  viel  vorausgesetzt,  und 
muß  daher,  um  jedes  Mißverständnis  auszuschließen, 
nochmals  den  Gegenstand  eingehender  behandeln. 
Dazu  erscheint  mir  aber  der  Vorwärts  nicht  geeignet; 
ich  werde  mich  darüber  in  der  Neuen  Zeit  äußern, 
und  zwar  nach  dem  Bremer  Parteitag,  wo  für  diese 
theoretische  Frage  in  der  Neuen  Zeit  mehr  Platz 
und  bei  den  Lesern  mehr  Interesse  vorhanden  sein 
dürfte  als  jetzt,  wo  der  nahende  Parteitag  andere  Dinge 
in  den  Vordergrund  drängt. 

Aber  eines  möchte  ich  nicht  bis  dahin  verschieben. 

Ich  hatte  die  Empfindung,  Genosse  K.  E.  habe 
den  Streit  mit  mir  ohne  jeden  ersichtlichen  Zweck 
vom  Zaune  gebrochen.  Er  belehrt  mich  eines  Besseren. 
Eine  sittliche  Pflicht  habe  ihn  dazu  gedrängt  im  In- 
teresse —  der  Einigung  des  französischen  Sozialismus. 
Dieser  dienten  wir  am  besten  dadurch,  daß  wir  „ernst 
und  nachdrücklich"  gegen  Jules  Guesde  Stellung 
nehmen  und  ihn  entschieden  desavouieren,  der  nur 

3" 


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eine  „individuelle  Richtung"  vertritt  und  dessen 
„Taktik  in  jedem  Punkte  der  deutschen  widerspricht". 

So  viel  Worte,  so  viel  Unrichtigkeiten. 

Guesde  sprach  in  Amsterdam  nicht  im  Namen 
einer  „individuellen  Richtung",  sondern  im  Namen 
der  stärksten  sozialistischen  Organisation  Frankreichs. 
Nichts  falscher  als  die  Angabe,  die  Jauresisten  bilde- 
ten die  stärkere  Fraktion.  Der  Parti  socialiste  de 
France  hat  seine  Mitgliederzahl  im  letzten  Jahre  von 
15000  auf  17000  wachsen  sehen,  während  die  Mit- 
gliederzahl der  jauresistischen  Organisation  von  11 000 
auf  8000  zurückging.  Vor  der  Öffentlichkeit  freilich 
erscheint  die  letztere  Organisation  als  die  mächtigere, 
weil  ihr  die  Mehrzahl  der  sozialistischen  Abgeord- 
neten angehört  und  sie  über  genügend  Geldleute  ver- 
fügt, um  sich  den  Luxus  zweier  täglicher  Blätter  in 
Paris  erlauben  zu  können,  ganz  abgesehen  davon,  daß 
die  bürgerliche  Presse  ausschließlich  von  ihr  Notiz 
nimmt  und  die  andere  Fraktion  totschweigt.  Aber 
als  Organisation  ist  diese  weitaus  die  stärkste. 

Mit  dieser  soll  nun  die  deutsche  Sozialdemokratie 
einen  Streit  beginnen,  mit  derselben  Leichtigkeit, 
mit  der  K.  E.  seinen  Streit  mit  mir  begann  —  im 
Interesse  der  Einigkeit  des  Proletariats! 

Und  der  gewichtige  Grund,  der  ihm  diese  „sittliche 
Pflicht"  auferlegt?  Seine  Deutung  der  Rede,  die 
Guesde  in  Amsterdam  gehalten  hat.  Ich  sage,  seine 
Deutung,  denn  ihr  Inhalt  ist  ein  anderer  als  die 
Deutung  besagt. 

Vor  allem  ist  der  Wortlaut  des  Berichtes,  nach  dem 
K.  E.  zitiert,  keineswegs  einwandfrei.  Einige  der  am 
anstößigsten  klingenden  Wendungen  erinnere  ich 
mich  nicht  gehört  zu  haben,  obwohl  gerade  sie  hätten 
auffallen  müssen,  und  auch  der  Bericht  der  Rede,  den 
der  Socialiste,  das  Zentralorgan  des  P.  S.  de  F.  gibt, 
enthält  diese  Wendungen  nicht. 

Was  aber  den  Inhalt  der  Rede  anbelangt,  so  muß 

312 


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man  zu  ihrem  Verständnis  wissen,  daß  die  Frage,  um 
die  es  sich  damals  handelte,  nicht  etwa  die  war,  ob 
wir  die  Republik  wollen  oder  nicht,  ob  wir  die  Tren- 
nung der  Kirche  vom  Staate  wollen  oder  nicht;  das 
erschien  allen  als  selbstverständlich.  Sondern  es 
handelte  sich  darum,  ob  die  Taten  der  bürgerlichen 
Republik  für  das  Proletariat  wirklich  so  immense 
Erfolge  bedeuteten,  wie  Jaures  behauptete.  Wenn 
man  das  in  Betracht  zieht,  erhält  die  Rede  einen  ganz 
anderen  Sinn,  als  K.  E.  ihr  gibt. 

So  läßt  z.  B.  K.  E.  Guesde  sagen : 

„Selbst  wenn  sie  die  Republik  gerettet  hätten,  so 
würden  sie  damit  nichts  für  das  Proletariat  getan 
haben.  Wenn  das  Proletariat,  um  sie  zu  retten,  wenn 
sie  in  Gefahr  ist,  jedesmal  seine  Forderungen  auf- 
geben muß,  dann  ist  die  Republik  die  schlimmste  der 
Regierungen." 

Darauf  erwidert  K.  E.  entrüstet : 

„Guesde  hält  die  Staatsform  für  gänzlich  gleich- 
gültig, ja,  wenn  die  Republik  nur  gerettet  werden 
kann,  wenn  die  Arbeiter  ihre  Forderungen  aufgeben, 
dann  ist  sie  ihm  die  schlechteste  Staatsform  Welch 
unsinnige  Hypothese!  usw." 

Nach  dem  Berichte  im  Socialiste  hat  Guesde  in 
Wirklichkeit  gesagt: 

„Wenn  es  wahr  wäre,  daß  Ihr  die  Republik  gerettet 
habt,  was  habt  Ihr  dann  durch  Rettung  der  Bour- 
geoisrepublik zur  Befreiung  des  Proletariats  getan? 
Ihr  habt  die  Idee  des  wahren  Klassenkampfes  ver- 
dunkelt, der  darin  besteht,  daß  dem  Block  des  Pro- 
letariats der  Block  der  Bourgeoisie  gegenübersteht. 
Wenn  man  die  Republik  so  auffaßt,  dann  wird  sie 
zum  schlimmsten  Bankerott  der  Demokratie." 

Hier  wendet  sich  Guesde  nicht  gegen  die  Republik, 
erklärt  sie  nicht  für  gleichgültig,  stellt  keine  Hypo- 
these auf,  sondern  er  erklärt:  Um  die  Republik  zu 
retten,  habt  Ihr  den  Klassenkampf  verdunkelt,  einen 


3i3 


Block  mit  der  Bourgeoisie  gebildet,  also  ein  Mittel 
erwählt,  das  die  Vorteile  aufhebt,  welche  die  Republik 
für  das  Proletariat  haben  kann. 

War  Guesde  nicht  berechtigt,  das  zu  sagen?  Wie 
darf  man  daraus  schließen,  die  Republik  sei  ihm  gleich- 
gültig ? 

Man  denke  sich  einen  analogen  Fall  in  Deutschland. 
Nicht  die  Republik,  wohl  aber  das  allgemeine  Wahl- 
recht ist  bei  uns  gefährdet.  Nehmen  wir  nun  an, 
ein  kluger  Staatsmann  erstünde  in  unserer  Mitte  und 
riete  uns,  um  das  Wahlrecht  zu  retten,  sollten  wir  mit 
der  Regierung  Frieden  machen,  auf  jede  Opposition 
verzichten  und  dem  Proletariat  raten,  von  der  Ver- 
fechtung seiner  Forderungen  abzustehen.  Und  nun 
wendete  sich  dagegen  ein  deutscher  Guesde  und 
riefe:  „Nein,  wenn  das  Wahlrecht  nur  gerettet  werden 
könnte  durch  den  Verzicht  auf  unseren  Kampf  und 
unsere  Forderungen,  dann  würde  der  Versuch,  es 
auf  diese  Weise  zu  retten,  uns  mehr  schädigen,  als 
der  Verlust  des  Wahlrechtes  selbst."  Würde  dann 
wohl  K.  E.  mit  derselben  Logik  behaupten,  diesem 
deutschen  Guesde  sei  das  Wahlrecht  etwas  Gleich- 
gültiges, seine  Taktik  widerspreche  in  jedem  Punkte 
der  deutschen  Taktik  und  es  sei  unsere  sittliche  Pflicht, 
einen  Mann,  der  uns  so  kompromittiert,  entschieden 
abzuschütteln  ? 

Wie  mit  der  Staatsform,  ist  es  mit  der  Trennung 
von  Kirche  und  Staat.  Guesde  hat  nirgends  behauptet, 
daß  „das  keine  Wirkung  haben  würde",  wie  K.  E. 
ihn  sagen  läßt;  er  hat  bloß  Jaures  gegenüber,  der  von 
der  „Befreiung  der  Gehirne"  sprach,  darauf  hingewiesen, 
und  mit  Recht,  daß  man  auch  die  Wirkungen  einer 
so  entschiedenen  Maßregel,  wie  die  Trennung  von 
Kirche  und  Staat,  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
nicht  überschätzen  und  nicht  erwarten  dürfe,  daß 
daraus  schon  die  Entchristianisierung  des  Volkes 
hervorginge.    In  den  Vereinigten  Staaten  sei  das 

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* 


Christentum  ebenso  mächtig  wie  in  Frankreich.  Ist 
das  etwa  nicht  auch  richtig? 
Was  macht  K.  E.  mit  flinker  Hand  daraus  f 
„Guesde  hält  den  Kampf  gegen  den  Klerikalismus 
für  wertlos,  eine  gute  Schule  könne  erst  in  der  sozia- 
listischen Gesellschaft  hergestellt  werden.  Insofern 
ist  das  richtig,  als  unsere  Ideale  erst  mit  Vollendung 
unserer  Mission  erreicht  werden  können.  Aber  hat 
jemals  die  deutsche  Sozialdemokratie  deshalb  unter- 
lassen, auch  die  kleine,  positive  Verbesserungsarbeit 
des  Tages  zu  leisten?  Guesdes  Konsequenz  ist  der 
völlige  Verzicht  auf  den  Parlamentarismus,  auf  die 
Beeinflussung  des  Gesetzgebers,  sie  ist  das  Warten 
auf  den  einen  großen  Tag.  Mit  einem  solchen  Guesde 
könnte,  wenn  er  in  Deutschland  wirkte,  die  Sozial- 
demokratie niemals  einig  werden,  er  würde  sich  unter 
anarchistischen  Eingängern  verlieren.  Kann  man 
'es  da  für  möglich  halten,  daß  auf  Grundlage  diese?  ' 
Programms  eine  Einheit  in  Frankreich  zustande  kom- 
men wird?" 

So  wird  Jules  Guesde  feierlich  in  der  Lindenstraße 
aus  der  Sozialdemokratie  ausgeschlossen,  um  die  Ein- 
heit in  Frankreich  zustande  zu  bringen.  Vergeblich 
fragt  man,  welche  Worte  Guesdes  diese  große  Ent- 
rüstung K.  E.s  rechtfertigen.  Sie  sollen  ein  Pro- 
gramm sein,  wo  sie  tatsächlich  eine  Kritik  sind.  Wenn 
aber  Genosse  K.  E.  das  Programm  Guesdes  kennen 
lernen  will,  braucht  er  bloß  das  der  sozialistischen 
Partei  Frankreichs  von  1903  anzusehen,  an  dem 
Guesde  mitgearbeitet.  Er  findet  da  in  45  Paragraphen 
eine  sehr  ins  Detail  gehende  Liste  von  Forderungen 
„für  die  kleine  positive  Verbesserungsarbeit  des  Tages", 
und  gleich  im  3.  Artikel  findet  er  die  Forderung: 
Trennung  des  Staates  von  der  Kirche,  Aufhebung 
des  Kultusbudgets. 

Oder  will  K.  E.  Guesde  lieber  nach  seinen  Taten 
beurteilen?  Nun,  Guesde  kämpfte  für  die  Republik, 

3*5 


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als  dies  in  Frankreich  noch  eine  revolutionäre  Tat 
war,  nicht  ein  Kampf  um  Konservierung  der  be- 
stehenden Regierung.  Die  erste  seiner  vielen  Gefäng- 
nisstrafen erlitt  er  unter  dem  Kaiserreich,  1870,  wegen 
eines  Artikels,  in  dem  er  die  Bevölkerung  aufforderte, 
sie  sollte  lieber,  statt  gegen  die  Deutschen,  gegen  das 
Kaiserreich  zu  Felde  ziehen. 

Als  nach  der  Niederschlagung  der  Kommune  in  der 
zweiten  Hälfte  der  siebziger  Jahre  wieder  eine  Arbeiter- 
bewegung in  Frankreich  begann,  da  war  Jules  Guesde 
einer  der  Ersten,  der  seine  ganze  Energie  und  Be- 
gabung einsetzte,  um  Theorie  und  taktische  Prinzipien 
der  deutschen  Sozialdemokratie  nach  Frankreich  zu 
verpflanzen  und  im  Gegensatz  zu  Anarchismus,  Nur- 
gewerkschafderei  und  Putschmacherei  eine  parla- 
mentarische sozialdemokratische  Partei  zu  begründen. 
Es  waren  schwere  Kämpfe,  die  er  zu  führen  hatte, 
nicht  bloß  gegen  die  Bourgeoisie,  sondern  auch  gegen 
die  eben  gekennzeichneten  Richtungen  der  fran- 
zösischen Arbeiterbewegung.  Die  einen  wie  die  an- 
deren hielten  ihm  gern  als  vernichtendes  Argument 
den  deutschen  Charakter  seiner  Agitation  entgegen. 
Seine  Haltung  war  damals  die  gleiche  wie  heute, 
Marx  und  Engels  haben  sie  mit  Freuden  begrüßt  — 
sie  wußten  freilich  wahrscheinlich  nicht  so  gut,  wie 
K.  E.,  welches  die  Taktik  der  deutschen  Sozialdemo- 
kratie sei,  und  konnten  weniger  scharf  als  er  einen 
vollkommenen  Sozialdemokraten,  für  den  sie  Guesde 
hielten,  von  einem  „anarchistischen  Eingänger"  unter- 
scheiden. 

Als  Guesde  endlich  ins  Parlament  kam  (1893),  da 
war  er  unermüdlich  im  Einbringen  von  Reform- 
regeln zum  Schutze  der  Arbeiterschaft.  Ebenso  großen 
Wert,  wie  auf  diese  parlamentarische  Reformarbeit, 
legte  er  auf  die  Gewinnung  von  Majoritäten  in  den 
Gemeinden  und  deren  Ausnutzung  für  die  „kleine 
positive  Verbesserungsarbeit".  Die  besten  Leistungen 

316 


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des  sogenannten  Munizipalsozialismus  sind  in  Frank- 
reich mit  dem  Namen  Guesdes  und  seiner  Partei 
verknüpft.  Endlich  hat  er  die  Gewerkschaftsbewegung 
stets  gefördert  soviel  er  konnte. 

Wenn  diese  seine  Tätigkeit  seit  einigen  Jahren  ge- 
hemmt ist,  haben  wir  das  nicht  einer  Veränderung 
Seiner  Anschauungen  über  die  Reformarbeit  zuzu- 
schreiben, sondern  einfach  den  Wechselfällen  des 
Wahlglückes,  das  z.  B.  auch  einen  Viktor  Adler  hart- 
näckig vom  Parlament  fernhält. 

Sollte  die  Schroffheit  und  Kürze  der  Guesdeschen 
Rede,  von  Amsterdam  wirklich  einem  Leser  ihre 
Deutung  im  Sinne  von  K.  E.  nahelegen,  so  muß 
dies  für  jeden  ausgeschlossen  sein,  der  Guesde  und 
seine  Geschichte  kennt.  Wenn  K.  E.  sie  nicht  kennt, 
so  ist  diese  Unkenntnis  ein  schlechter  Grund,  einen 
der  verdientesten  Parteigenossen  vor  dem  deutschen 
Proletariat  herunterzureißen. 

Ist  auch  Guesde  nicht  mehr  in  der  Kammer,  so 
steht  er  doch  auf  gleichem  Boden  mit  seinen  Ge- 
nossen dort,  deren  Anschauungen  und  Taktik  er  völlig 
billigt.  Da  ist  nun  bemerkenswert  die  Tatsache,  daß 
derselbe  Jaures,  der  jetzt  die  Wirkungen  einer  Tren- 
nung von  Kirche  und  Staat  so  enorm  übertreibt, 
diese  Trennung  erst  praktisch  fördert,  seitdem  die 
Regierung  sich  nicht  mehr  ablehnend  dagegen  verhält. 
Ich  habe  im  vorigen  Jahre  in  einem  Artikel  der 
Neuen  Zeit  über  „Jaures'  Kirchen politik"  dargelegt, 
wie  zweideutig  seine  Haltung  1902  war,  als  es  sich 
in  der  Kammer  darum  handelte,  die  Regierung  zur 
Anerkennung  dieser  Forderung  zu  zwingen. 

Als  im  Oktober  1902  in  der  Kammer  der  Kultur- 
kampf gegen  die  Kongregationen  verhandelt  wurde, 
suchte  die  sozialistisch-revolutionäre  Gruppe  —  die 
Freunde  Guesdes  —  den  Kampf  zuzuspitzen  und 
brachte  eine  Resolution  ein,  welche  die  Regierung 
einlud,  das  Konkordat  aufzuheben  und  die  Trennung 


317 


von  Staat  und  Kirche  herbeizuführen.  Jaures  aber, 
weit  entfernt,  sich  dieser  Resolution  anzuschließen, 
wußte  die  Abstimmung  über  sie  zu  vereiteln,  indem 
er  eine  andere  einbrachte,  die  einfach,  ohne  ein  Wort 
über  die  Trennung  von  Staat  und  Kirche  zu  ent- 
halten, der  Regierung  ihr  Vertrauen  aussprach.  Ich 
habe  aber  noch  nie  vernommen,  daß  K.  E.  deswegen 
Jaures  seine  Mißbilligung  ausgesprochen  hätte.  Noch 
mehr.  Guesde  wird  von  K.  £.  aus  dem  Rahmen  der 
Sozialdemokratie  ausgeschlossen,  weil  er  sich  über 
die  Wirkungen  einer  Trennung  von  Kirche  und 
Staat  skeptisch  äußert.  Was  tat  aber  Millerand?  Er 
stimmte  für  das  Kultusbudget,  lieferte  der  Priester- 
schaft 40  Millionen  Staatsgelder  jährlich  aus.  Das 
vermochte  aber  den  warmen  Sympathien  keinen  Ein- 
trag zu  tun,  die  Jaures  und  K.  E.  für  diesen  würdigen 
Sozialisten  empfanden. 

Und  derselbe  K.  E.,  der  sich  vor  Entrüstung  nicht 
fassen  kann,  weil  Guesde  meinte,  die  bürgerliche  Re- 
publik wäre  durch  Preisgebung  der  Forderungen  und 
der  Selbständigkeit  des  Proletariats  zu  teuer  erkauft, 
er  trug  es  Millerand  nicht  nach,  als  dieser  dem  abso- 
luten Despoten  Rußlands  die  Hand  küßte,  und  ich 
habe  auch  nicht  mehr  gesehen,  daß  er  sich  entrüstete, 
als  Jaures  dem  König  von  Italien  seine  Reverenz 
erwies.  Derartiges  hätte  Guesde  nie  zustande  ge- 
bracht, dazu  ist  er  ein  zu  guter  Republikaner.  Er 
bekämpft  das  bürgerliche  Regiment  auch  in  der 
Republik,  aber  er  bleibt  der  unversöhnliche  Feind 
jeglicher  Monarchie. 

Man  kann  nach  alledem  ermessen,  wie  tief  die  sitt- 
liche Pflicht  empfunden  war,  die  K.  E.  zwang,  gerade 
jetzt  wegen  einiger,  wahrscheinlich  nicht  richtig 
berichteten,  sicher  falsch  gedeuteten  Worte  jede  Eini- 
gung eines  Sozialdemokraten  mit  Guesde  für  unmög- 
lich zu  erklären.  Das  Wesen  dieser  sittlichen  Pflicht 
wird  aber  noch  deutlicher,  wenn  man  erfährt,  daß 

318 


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der  Ausfall  des  K.  E.  gegen  Guesde  nichts  ist  als 
der  getreue  Abklatsch  des  Ausfalles,  den  wenige  Tage 
vorher  Jaures  in  seiner  Humanite"  gemacht. 

In  Amsterdam  hatte  Renaudel,  ein  Angehöriger 
der  Minorität  der  Jauresisten,  die  in  Opposition  zu 
Jaures  steht,  erklärt,  seine  Freunde  seien  bereit,  die 
Einigung  mit  der  Gegenseite,  also  Guesde  und  seinen 
Freunden,  anzustreben.  Er  gab  diese  Erklärung  ohne 
jede  Einschränkung  ab  unter  dem  frischen  Eindrucke 
der  Guesdeschen  Rede.  Vaillant  antwortete  ent- 
gegenkommend in  seinem  und  seiner  Partei  —  also 
auch  in  Guesdes  Namen.«  Jaures  hatte  den  Kongreß 
schon  verlassen,  als  diese  Erklärungen  ausgetauscht 
wurden.  Aber  nach  Paris  zurückgekehrt,  beeilte  er 
sich,  in  der  Humanne"  zu  erklären,  nach  der  Guesde- 
schen Rede  sei  eine  Einigung  unmöglich,  solange  nicht 
Guesde  von  seiner  Partei  desavouiert  werde.  Das 
heißt,  indirekt,  er  lehnt  die  Einigung  ab,  die  er  direkt 
freilich  nicht  gut  ablehnen  konnte.  Das  ist  nicht  sehr 
erfreulich,  aber  begreiflich,  denn  für  Jaures  steht 
viel  auf  dem  Spiele,  wenn  sich  die  Einigung  auf  den  in 
Amsterdam  geschaffenen  Grundlagen  vollzieht. 

Weniger  aber  ist  es  begreiflich,  daß  nun  K.  E.  in 
dasselbe  Horn  stößt  und  die  Jaur£ssche  Beweisführung 
für  das  Zentralorgan  der  deutschen  Sozialdemokratie 
kopiert,  wodurch  er  dieses  zum  Werkzeug  von  Be- 
strebungen macht,  die  mühsam  angebahnte  und  schwer 
durchzuführende  Vereinigung  der  französischen  Sozia- 
listen zu  durchkreuzen.  Das  ganze  große  Ansehen, 
das  der  Vorwärts,  dank  der  Bedeutung  der  deutschen 
Sozialdemokratie,  bei  den  Parteigenossen  des  Aus- 
landes genießt,  wird  so  von  seinem  Chefredakteur 
in  den  Dienst  der  Gegner  der  Einigung  gestellt. 

Das  ist  trotz  aller  sittlichen  Pflichten,  die  er  empfin- 
det, die  notwendige  Folge  seines  Eingreifens  in  die 
französische  Einigungsaktion.  Es  bedeutet  eine  ganz 
grundlose,  ja  geradezu  mutwillige  Störung  des  Kon- 


3X9 


solidierungsprozesses  der  Sozialdemokratie  Frankreichs, 
wogegen  man  nicht  energisch  genug  Front  machen 
kann. 

Friedenau,  den  4.  September  1904. 

K. 

V. 

Die  Leser  werden  mit  Verwunderung  bemerkt 
haben,  welchen  Gang  die  Debatte  genommen  hat. 
Sie  begann  mit  dem  Protest  gegen  die  Kautskysche 
„Interpretation",  daß  die  Monarchie  „keine  direkte 
Klassenregierung"  sei  —  daß  aus  tiefsinnigen  Gründen 
die  Bourgeoisie  in  demokratischen  Republiken  einen 
noch  brutaleren  Klassenkampf  führe  als  in  Monar- 
chien — ,  sie  endigt  mit  dem  liebenswürdigen  Hin- 
weise, daß  ich  die  Partei  und  den  Vorwärts  „kompro- 
mittiere". Da  ich  aber  in  dieser  Kompromittierung 
beim  besten  Willen  kein  neues  Argument  für  die  relativ 
größere  sozialpolitische  Aufgeklärtheit  der  Monarchien 
und  für  die  Verruchtheit  der  demokratischen  Republik 
anerkennen  kann,  ist  in  diesem  Punkte  jede  weitere 
Erwiderung  überflüssig.  Kautsky  redet  nicht  mehr 
von  der  preußischen  Steuergesetzgebung  —  er  wird 
sich  inzwischen  überzeugt  haben,  daß  der  französische 
Etat  weit  antikapitalistischer  ist  als  die  preußisch- 
deutsche Steuerschröpfung  —  und  er  erinnert  auch 
nicht  mehr  an  die  französischen  Streikmetzeleien. 
Ich  bin  so  optimistisch,  anzunehmen,  daß  er  sich  von 
diesen  verzweifelten  Argumenten  hat  abbringen  lassen. 

Dafür  unterhält  er  sich  nur  noch  über  Guesdismus 
und  Jauresismus.  Er  erweist  mir  die  Ehre,  mich  für 
einen  „Jauresisten"  zu  erklären,  obwohl  ich  ausdrück- 
lich meine  Gegnerschaft  bekannt  habe,  ja,  er  schreibt 
mir  einstige  Sympathien  für  Millerand  zu,  die  ich  zwar 
nicht  für  kompromittierend  halten  würde  —  denn 
warum  sollte  ich  mich  nicht  aus  der  Ferne  über  den 
Charakter  eines  mir  persönlich  unbekannten  Mannes 

320 


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irren  dürfen  ?  — ,  aber  Kautsky  ist  doch  wohl  Leser 
der  Neuen  Zeit,  und  er  weiß  also,  daß  ich  das  einzige 
Mal,  wo  ich  mich  über  die  Frage  des  Ministerialismus 
geäußert  habe  —  in  Ausführungen,  die  ich  noch  heute 
in  jedem  Wort  aufrecht  erhalte  — ,  rein  theoretisch 
argumentiert  und  ausdrücklich  jedes  Urteil  über  den 
besonderen  Fall  Millerand  abgelehnt  habe. 

Freilich,  wie  soll  Kautsky  noch  richtig  meine  Aus- 
führungen vom  Jahre  1901  wiederzugeben  imstande 
sein,  wenn  er  nicht  einmal  korrekt  wiederholt,  was 
ich  gestern  geschrieben  habe.  Ich  habe  mit  keiner 
Silbe  die  Ausschließung  Guesdes  aus  der  Partei  ver- 
langt; mir  ist  es  fremd,  solche  Bannflüche  für  Be- 
weise zu  halten.  Ich  habe  einfach  festgestellt,  ohne 
über  Guesdes  Vergangenheit  ein  Wort  zu  sagen, 
daß  Guesde  unter  dem  psychologischen  Drucke,  den 
Spaltungen  immer  bewirken,  gegenwärtig  Anschau- 
ungen vertritt,  die  mit  der  deutschen  Auffassung 
nicht  übereinstimmen.  Ich  habe  gemeint,  daß  auf  der 
Grundlage  solcher  Ansichten  sich  keine  Einheit  in 
Frankreich  verwirklichen  ließe.  Darin  hat  Jaur£s 
vollkommen  recht,  der  —  wie  ich  glaube,  wieder  mit 
Recht  —  gegen  Guesdes  Intransigenz  sich  auf  Vaillants 
Anschauungen  beruft.  Schließlich  hat  ja  auch  die 
deutsche  Delegation  in  Amsterdam  ganz  entschieden 
jenen  „Guesdismus"  zurückgewiesen,  der  auf  dem 
merkwürdigen  Wege  der  Übersetzung  —  „nicht  er- 
streben" wurde  in  „nicht  annehmen"  übersetzt  — 
die  Dresdener  Resolution  grundsätzlich  zu  verschärfen 
suchte.  Mein  „Ausschlußantrag"  aber  beschränkt  sich 
auf  die  ebenso  bescheidene  wie  dringlich  notwendige 
Mahnung,  man  solle  Guesdes  unmögliche  Meinungen 
von  gewisser  deutscher  Seite  nicht  noch  unterstützen, 
ihn  nicht  in  Äußerungen  bestärken,  die  eine  Einheit 
in  Frankreich  aussichtslos  machen  mußten.  Die  offen- 
bare Tendenz  dieser  meiner  Darlegung  war,  Guesdes 
deutsche  Freunde  selbst  müßten  ihn  dahin  beeinflussen, 


31    Eisner,  OsaniraeUe  Schriften.  I. 


daß  er  sich  den  klaren  Anschauungen  der  deutschen 
Partei  nähere,  auf  deren  Basis  eine  Einigung  auch  in 
Frankreich  möglich  wäre.  Guesdes  Anschauungen,  die 
er  in  Amsterdam  vortrug,  stehen  —  ohne  Über- 
setzungskünste —  nicht  auf  dem  Boden  der  Dresdener 
Resolution  und  der  Pariser  Resolution  Kautskys.  Er 
war  tatsächlich  ebenso  isoliert  wie  Jaures. 

Es  wäre  leicht,  aus  den  letzten  Jahren  reiches  Ma- 
terial zusammenzubringen,  um  zu  erhärten,  daß 
Guesde  neuerdings  nicht  die  deutsche  Taktik  vertritt; 
man  denke  z.  B.  an  die  Frage  der  Staatsschule,  die 
Guesde  ablehnt,  weil  man  dem  Bourgeoisiestaate 
jegliche  Herrschaftsmittel  verweigern  müsse.  Solche 
Unklarheit  ist  denn  auch  die  Ursache,  daß  man  auf 
dem  letzten  Liller  Guesdistenkongresse  die  eigene 
guesdistische  Fraktion  arg  gescholten  hat,  weil  sie  in 
der  Kammer  ganz  —  jauresistisch  sei.  Daher  auch  die 
bedenkliche  Erscheinung,  daß  heute  die  französischen 
Scharfmacher,  welche  die  „Kanaille",  die  in  Marseille 
ausgesperrt  ist,  zu  füsilieren  auffordern,  dem  ehrlichen 
Guesde,  gegenüber  dem  Geschäftssozialisten  Jaures, 
die  Brüderschaft  antragen.  Bebel  hat  in  Dresden 
gesagt,  wenn  er  von  den  Gegnern  gelobt  werde,  fürchte 
er  immer,  eine  Dummheit  begangen  zu  haben.  Das 
trifft  nicht  immer  zu,  bleibt  aber  doch  eine  goldene 
Regel.  Man  wende  sie  nur  —  unbeschadet  aller  ver- 
ständlichen und  zu  billigenden  Kameradschaft  —  auf 
den  Fall  Guesde  an! 

Noch  ein  Wort  über  mein  Zitat  aus  Guesdes  Taktik- 
rede. Kautsky,  der  übrigens  meine  Kritik  der  guesdisti- 
schen  Äußerungen  an  der  entscheidenden  Stelle  ab- 
bricht, bezweifelt  den  von  mir  gegebenen  Wortlaut. 
Ich  habe  allerdings  das  Verbrechen  begangen,  wört- 
lich aus  dem  Manuskript  —  des  amtlichen  Protokolles 
des  Amsterdamer  Kongresses  zu  zitieren.  Ich  finde 
aber,  daß  der  Text,  wie  ihn  Kautsky  gibt,  noch  viel 
kompromittierender  für  Guesde  ist.    Danach  hätte 

322 


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Guesde  in  Amsterdam  gemeint,  wenn  man  die  Repu- 
blik nur  durch  einen  „Block"  mit  der  Bourgeoisie 
retten  könne  (d.  h.  doch  nur  mit  gewissen  Gruppen 
der  Bourgeoisie),  so  sei  diese  „Verdunkelung  des 
Klassenkampfes"  die  ganze  Republik  nicht  wert.  Und 
Kautsky  fügt  hinzu,  wenn  wir  nur  durch  solch  einen 
„Block"  mit  der  Bourgeoisie  das  Wahlrecht  in  Deutsch- 
land retten  könnten,  so  wäre  das  auch  verwerflich.  Der 
Vergleich  ist  schon  deshalb  sinnlos,  weil  es  in  Deutsch- 
land gar  keine  demokratische  Bourgeoisie  gibt,  die  sich 
auf  einen  „Block"  mit  der  Sozialdemokratie  einlassen 
würde.  Gäbe  es  aber  solche  Hilfe,  so  würde  nur  der 
sie  zurückweisen,  „der  dem  Wahlrecht  keine  Träne 
nachweint". 

Aber  freilich,  Kautsky  macht  sich  das  Beweisen 
leicht.  Als  Bedingung  des  „Blockes"  setzt  er  den  Ver- 
zicht des  Proletariats  auf  seine  Forderungen  voraus. 
Warum  geht  er  nicht  weiter  und  nimmt  als  Bedingung 
solchen  Zusammengehens  an,  daß  sich  alle  Sozial- 
demokraten aufhängen  sollen;  dann  ließe  sich  noch 
leichter  beweisen,  daß  dann  das  Wahlrecht  für  die 
Sozialdemokraten  keinen  Wert  habe.  Ich  gestehe, 
daß  ich  solche  Scherze  für  kompromittierend  halte. 
Selbstverständlich  muß  man  unter  allen  Umständen 
die  Republik  retten,  selbstverständlich  muß  man  mit 
allen  Mitteln  das  Wahlrecht  retten.  Solche  Verzicht- 
leistungen, wie  sie  Kautsky  an  die  Wand  malt,  sind 
weder  jemals  in  Frankreich  vorgekommen,  noch  sind 
sie  sonst  denkbar  —  nur  ein  Tollhäusler  von  Bourgeois 
könnte  solche  Verpflichtungen  auch  nur  fordern,  weil 
er  ja  genau  weiß,  daß  keine  Macht  der  Welt  ihre  Er- 
füllung erzwingen  könnte. 

Um  schließlich  noch  zu  dem  ernsten  Ausgang  der 
Debatte  zurückzukehren.  Will  man  den  Unterschied 
zwischen  der  Sozialpolitik  in  einer  demokratischen 
Republik  und  der  Monarchie,  „die  keine  direkte  Klassen  - 
regierung"  ist,  so  braucht  man  nur  an  Krimmitschau 

ii«  323 


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zu  erinnern,  wo,  obwohl  es  sich  um  eine  von  den 
Unternehmern  provozierte  Machtprobe  handelte,  die 
Regierung  durch  alle  Organe  nicht  nur  nicht  zu- 
gunsten der  Arbeiter  vermittelte,  sondern  mit  gepan- 
zerter Faust  jede  öffentliche  Ausübung  des  Koalitions- 
rechtes verhinderte,  sogar  die  Weihnachtsfeier  unter- 
drückte. 

Gegenwärtig  spielt  sich  in  Marseille  ein  gewaltiger 
Konflikt  zwischen  Arbeitern  und  Unternehmern  ab. 
Die  ganze  reaktionäre  Presse  fordert  unablässig  zur 
gewaltsamen  Niederschlagung  der  Hafenarbeiter  und 
Matrosen  auf.  Im  monarchischen  Staate  der  deutschen 
Sozialreform  ist  es  unseren  Genossen  auch  gelungen, 
das  Koalitionsrecht  für  die  Matrosen  der  Handels- 
marine zu  erringen.  In  diesem  „brutalen*4  Frankreich 
aber,  das  sogar  ein  Koalitionsverbot  für  Matrosen 
aus  dem  Kaiserreich  bewahrt  hat,  verhält  sich  die 
Regierung  nach  der  Schilderung  eines  bürgerlichen 
Blattes,  des  Hamburger  Korresp.,  wie  folgt: 

„Der  Präsident  der  Pariser  Handelskammer,  der  mit 
unermüdlichem  Eifer  eine  Verständigung  zwischen 
den  Reedern  und  den  ausgesperrten  und  streikenden 
Hafenarbeitern  und  Handelsmatrosen  herbeizuführen 
sucht,  hat  sich  nach  der  Unterredung  mit  den  Ver- 
tretern der  Reeder  und  Spediteure  überaus  ent- 
mutigt gezeigt,  da  alle  seine  versöhnlichen  Bemühungen 
abgelehnt  wurden.  Die  Reeder  verlangen  als  Grund- 
bedingung für  den  Eintritt  in  weitere  Unterhandlungen 
erstens  die  strenge  Durchführung  des  Dekrets  von 
1852,  das  die  ein  Schiff  verlassenden  Handelsmatrosen 
den  Deserteuren  hinsichtlich  der  zu  verhängenden 
Strafen  gleichstellt.  Die  Reeder  beharren  bei  dieser 
Forderung,  obwohl  der  Marineminister  Pelletan  er- 
klärt hat,  daß  er  sich  nie  und  nimmer  dazu  verstehen 
würde,  jenes  absolut  undurchführbare  Dekret  anzu- 
wenden, wie  dies  übrigens  auch  sein  direkter  Vorgänger 
im  Amte,  Herr  de  Lanessan,  auf  Grund  eines  Gut- 

324 


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achtens  einer  Kommission  von  Admirälen  getan  hat. 
Unter  den  Hafenarbeitern  und  Matrosen  hat  die 
Haltung  der  Reeder  eine  sehr  gereizte  Stimmung  ver- 
ursacht, die  bereits  in  dem  Beschlüsse  der  Hafen- 
arbeiter zutage  getreten  ist,  von  der  Föderation  in 
Cette  zu  verlangen,  daß  diese  den  allgemeinen  Aus- 
stand aller  Hafenarbeiter  der  französischen  Mittel- 
meerhafen des  Festlandes  und  Algeriens  anordne,  falls 
den  Marseiller  Arbeitern  nicht  sofort  die  verlangte 
Genugtuung  gewährt  wird.  Die  Ausdehnung  der 
Arbeitseinstellung  auf  die  anderen  französischen  Häfen 
des  Mittelmeeres  würde  so  schwere  wirtschaftliche 
Folgen  nach  sich  ziehen,  daß  man  denn  doch  noch 
auf  eine  gütliche  Beilegung  des  Konfliktes  zählen  zu 
dürfen  glaubt.  Die  Aussichten  darauf  sind  aber  sehr 
gering,  zumal  die  Reeder  als  zweite  Bedingung  für 
eine  Verständigung  mit  den  Arbeitern  und  Matrosen 
von  der  Regierung  ernstliche  Bürgschaften  dafür  ver- 
langen, daß  die  zukünftigen  Abmachungen  von  den 
Arbeitern  vollinhaltlich  respektiert  werden.  Der- 
artige Bürgschaften  wird  die  Regierung  aber  kaum 
bieten  können.  Sehr  energisch  verwahren  sich  die 
Reeder  gegen  das  Schreiben  des  Handelsministers 
Trouillot,  der  sie  bekanntlich  an  die  in  den  abgeschlos- 
senen Verträgen  enthaltenen  Strafbestimmungen  er- 
innerte. Die  Reeder  glauben  in  dem  Schreiben  des 
Handelsministers  einen  nicht  zu  rechtfertigenden  Ein- 
schüchterungsversuch der  Regierung  erblicken  zu 
müssen." 

Zu  bemerken  ist  dazu,  daß  trotzdem  de  Pressens6 
in  JaureV  Humanite"  die  Schwäche  und  Halbheit  der 
Regierung  gegenüber  den  Unternehmern  sehr  ent- 
schieden tadelt. 

E. 


325 


Der  Sultan  des  Weltkrieges. 
I. 

Auswärtige  Politik  in  der  deutschen  Sozialdemokratie. 
Persönliche  Erfahrungen. 

Am  30.  Mai  1905  wurde  der  Reichstag  plötzlich  in 
die  Ferien  geschickt.  Der  deutsche  Sommerschlaf  be- 
gann, der  von  der  Fortsetzung  im  gewohnten  Winter- 
schlaf sich  dadurch  unterscheidet,  daß  man  in  jenem 
schweigend  träumt,  in  diesem  aber  sehr  redselig  aus 
dem  Schlafe  spricht. 

Bald  darauf  erhielt  ich  von  französischen  Partei- 
freunden einen  angstvoll  beschwörenden  Brief,  der 
mir  erklärte,  warum  der  Reichstag  vom  Grafen  Bülow 
beseitigt  worden  war:  Der  Kanzler  wünschte  un- 
gestört mit  dem  Weltkrieg  zu  spielen.  In  solchen 
Zeiten  kann  man  das  Parlament  nicht  brauchen 
(auch  1914  nicht !).  In  Berlin  wußte  niemand  —  außer- 
halb des  engen  Zirkels  der  Pangermanisten,  der  hohen 
militärischen  „Domköpfe",  der  führenden  Rüstungs- 
und Schwerindustriellen  — ,  daß  sich  irgend  etwas 
Besonderes  auf  der  Weltbühne  vorbereitete.  Der 
Pariser  Brief,  der  mir  die  unmittelbare  Gefahr  des 
Ausbruchs  eines  Weltkrieges  bewies  und  aus  dem 
schaudernden  Gewissen  der  Humanität  das  deutsche 
Proletariat  um  Hilfe  anflehte,  war  für  mich  eine 
furchtbare  Erschütterung.  So  also  kam  für  uns  der 
Weltkrieg,  wie  der  Einbrecher  in  der  Nacht,  während 
wir  ahnungslos  uns  im  Bette  streckten.  In  jenem 
Augenblick  stand  es  für  mich  fest,  daß  die  deutsche 
Weltpolitik  nicht  nur  rhetorische  Romantik  sei, 
nicht  nur  schwärmende  Ägirlogik  und  dilettierendes 

326 


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Nibelungen-Ästhetentum,  auch  nicht  nur  unerschöpf- 
liches Lieferungsgeschäft. 

Auf  meine  Anregung  luden  die  Berliner  Partei- 
genossen Jaures  zu  einer  Versammlung  ein.  Jaures 
sagte  sofort  zu.  Aber  Bülows  Ausweisungsdrohung 
sperrte  dem  Sendboten  des  Völkerfriedens  die  deutsche 
Grenze.  Die  gleichzeitig  geplante  Reise  August  Bebels 
nach  Paris  scheiterte  an  dem  Widerstand  des  deutschen 
Parteiführers;  er  war  Aktionen  abgeneigt,  die  ohne 
sein  Zutun  unternommen  waren:  er  rebellierte  zwar 
gern  gegen  „Instanzen",  vorausgesetzt,  daß  er  nicht 
selber  diese  Instanz  war,  in  der  ihm  die  Identität  von 
Person  und  Sache  mehr  und  mehr  unlösbar  verkörpert 
schien.  Im  Vorwärts  erschien  dann  JaureV  ungehaltene, 
aber  auch  im  gedruckten  Wort  überwältigende  Berliner 
Rede. 

Seit  jenen  erregenden  Wochen  wußte  ich,  daß  der 
Weltkrieg  wie  ein  unentrinnbares  Verhängnis  sich 
heranwälzte,  ungeschlacht,  unbemerkt,  unaufhaltsam. 
Ich  war  mir  klar,  daß  das  im  eigenen  Lande  insgeheim 
gemästete  Ungeheuer  ein  völlig  ahnungsloses  Volk 
eines  Tages  überfallen  würde.  Ich  bemühte  mich, 
die  Gleichgültigkeit  der  deutschen  Arbeiterschaft 
gegen  die  auswärtige  Politik,  soviel  an  mir  lag,  zu 
überwinden.  Das  war  ein  hoffnungsloses  Beginnen. 
Das  ganze  deutsche  Volk  wußte  nichts  von  auswärtiger 
Politik,  wollte  nichts  wissen.  Die  Presse  verarbeitete 
und  verbreitete  lediglich  das  Vorzimmergewäsch  des 
auswärtigen  Amtes  wie  Theaterreklamen  der  Direk- 
torenbureaus; diese  Dramaturgen  der  auswärtigen 
Politik  und  ihre  gefälligen  Preßhelfer  sitzen  zu  oberst 
auf  der  Bank  der  Verantwortlichen.  Im  deutschen 
Reichstag  wurde  niemals  eine  Rede  über  Probleme 
der  internationalen  Politik  gehalten,  die  von  selbstän- 
digem Studium  der  Probleme  zeugte.  Als  bester 
Renner  galt  grundloserweise  Herr  v.  Hertling,  der 
es  freilich  verstand,  nicht  ohne  elegante  Bosheit  den 


327 


Herrn  v.  Bülow  kasuistisch  in  seiner  Marokko-Blöße 
zu  demonstrieren,  aber  gerade  in  dieser  wirksamen 
Rede  bewies,  daß  ihm  die  Kenntnis  elementarer  Dinge 
abging.  Als  einmal  ein  Parteijournalist  in  fremden 
Parlamentsakten  las  und  einiges  übersetzte  als  Material 
für  die  Etatsrede  eines  sozialdemokratischen  Vertreters, 
erschien  dieser  Redner  den  Regierungskommissaren 
als  ein  unheimlicher  Kenner  und  unterirdischer  In- 
spirister,  den  sie  fortan  staunend  und  beklommen 
schätzten  und  fürchteten;  diese  zwar  leicht  beschaffte, 
aber  unerhörte  Aktenkenntnis  wurde  der  Beginn  seines 
späteren  Aufstiegs. 

Mit  dem  November  1905  verlor  ich  den  Vorwärts 
als  Tribüne  für  meine  Bestrebungen;  die  bekannten 
Vorgänge  veranlaßten  mich,  die  Redaktion  nieder- 
zulegen. Das  französische  Gelbbuch  über  die  Marokko- 
affäre war  erschienen  und  enthüllte  die  possenhaften 
Teufeleien  der  deutschen  Diplomatie.  In  Berlin  kannte 
und  besaß  niemand  das  Heft;  auch  die  Parlamentarier 
nicht.  Ich  bemühte  mich  umsonst,  mir  das  Gelbbuch 
zu  verschaffen.  Schließlich  nahm  ich  die  Dienste 
des  französischen  Botschafters  Bihourd  in  Anspruch, 
der  mir  dann  aus  Paris  ein  Exemplar  beschaffte.  An- 
fangs des  Jahres  1906  veröffentlichte  ich  die  Ge- 
schichte der  Marokkokrisis  unter  dem  Titel:  „Der 
Sultan  des  Weltkrieges.  Ein  marokkanisches  Sitten- 
bild deutscher  Diplomatenpolitik."  Es  war  wohl,  in 
der  neueren  Zeit  der  deutschen  Sozialdemokratie  die 
erste  Broschüre,  die  sich  mit  den  konkreten  Vor- 
gängen der  auswärtigen  Politik  beschäftigte.  Jaures 
interessierte  sich  für  die  Arbeit,  in  Deutschland  blieb 
sie  gänzlich  unbeachtet.  Der  Vorwärtskonflikt  ward 
Anlaß,  daß  mein  Name  und  meine  Sache  wochenlang 
durch  die  gesamte  Presse  geschleift  wurde;  mein  Be- 
mühen, zu  gleicher  Zeit  die  Hirne  und  Gewissen  zu 
den  katastrophalen  Weltfragen  der  Gegenwart  auf- 
zuraffen, zerrann  spurlos  —  innerhalb  und  außerhalb 

328 


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der  Partei.  Der  Broschürenballen  blieb  in  ungestörter 
Ruhe  beim  Verleger  liegen.  Zehn  Jahre  später, 
im  Weltkrieg,  begann  man  das  Pamphlet  zu  lesen;  es 
brachte  manchem  jähe  Aufklärung.  Heute  ist  es 
vergriffen. 

Mir  genügte  aber  nicht  das  gedruckte  Wort.  Ais 
ich  sah,  daß  sich  niemand  um  diesen  düster  drohenden 
Verhängnisprozeß  kümmerte,  entschloß  ich  mich, 
meine  Scheu  vor  öffentlichem  Zurschaustellen  zu  über- 
winden. So  kam  es,  daß  ich  mit  vierzig  Jahren  meine 
erste  Volksversammlungsrede  hielt.  Ich  sprach  über 
die  Marokkopolitik.  Vom  ersten  Wort  fühlte  ich  den 
passiven  Widerstand  der  Hörer.  Das  waren  alles  Dinge, 
die  weit  außerhalb  ihres  Interesses  lagen.  Und  daß  es 
mal  Krieg  geben  würde,  nun  das  wußte  man  ja  ohne- 
hin längst;  übrigens  hatte  das  noch  Zeit,  sich  damit 
zu  beschäftigen:  der  Krieg  gehört  zu  den  vielen 
Glaubensartikeln,  an  die  man  —  nicht  glaubte,  oder 
vielleicht  richtiger:  an  die  man  sich  so  als  Versamm- 
lung«- und  Zeitungsphrasen  gewöhnt  hatte,  daß  sie 
wesenlos  geworden  waren.  In  den  Jahrzehnten  der 
sozialdemokratischen  Agitation  war  auch  der  Krieg, 
wie  vieles  andere  in  unserer  Parteitätigkeit,  zum  bloßen 
dekorativen  Wort  verblaßt,  das  die  Phantasie  und  den 
Willen  nicht  mit  seiner  Realität  erfüllte.  Man  nahm 
nichts  mehr  ernst  außer  die  allernächsten  und  aller- 
gröbsten  Sorgen.  Das  radikal-ideale  Bedürfnis  befrie- 
digte man  in  der  Schwärmerei  für  Revolutionen,  die 
andere  Völker  machten.  Dafür  bezahlte  man  auch 
begeistert  und  saß  auch  mit  leidenschaftlicher  Hin- 
gabe im  Theater,  um  sich  Revolutionsstücke  vorspielen 
zu  lassen.  Ich  gab  gelegentlich  das  Rezept  für  eine 
deutsche  Revolution:  Man  solle  einige  Zehntausend 
ausländischer  Proletarier  beschaffen  und  sie  bei  uns 
gegen  anständige  Diäten  —  unsere  Kassen  waren  ja 
immer  in  Ordnung  und  Fülle  —  Revolution  machen 
lassen.  Es  ist  doch  ein  sehr  merkwürdiges  Kapitel  der 


329 


Völkerpsychologie,  wie  ähnlich  die  geistige  Entwick- 
lung des  deutschen  Proletariats  der  des  deutschen 
Bürgertums  in  seiner  idealistischen  Periode  war. 

Als  ich  dann  die  Leitung  des  Nürnberger  Partei - 
blattes  übernahm,  ging  ich  mit  zäher  Konsequenz 
daran,  es  zu  einem  Organ  weltpolitischer  Aufklärung 
zu  machen.  Das  ging  eine  Weile  ganz  gut.  EinesTages 
aber  gab  es  eine  —  sehr  wohlwollende  und  freund- 
schaftliche —  Auseinandersetzung  in  der  Preß- 
kommission: Man  sei  doch  ein  deutsches,  insbesondere 
ein  bayrisches  und  ganz  speziell  ein  Nürnberger  Blatt, 
was  sollten  da  die  ewigen  Artikel  über  auswärtige 
Politik.  Eis  war  die  allgemeine  Meinung.  Ich  ant- 
wortete, ich  könnte  keine  Besserung  versprechen,  ich 
würde  so  fortfahren.  Bald  darauf  trat  die  bosnische 
Annexionskrisis  ein.  Die  Weltkriegsgefahr  reckte  sich 
blutig  und  nah  empor.  Jetzt  fühlten  auch  die 
Massen  seine  Schauer.  In  der  Preßkommission  gab 
es  für  mich  eine  Überraschung.  Es  erhob  sich  einer 
und  stattete  mir  den  einmütigen  Dank  der  Partei- 
genossen ab.  Man  habe  eingesehen,  daß  die  frühere 
Kritik  an  meiner  Redaktionsführung  falsch  gewesen 
sei,  sie  hätte  einen  weiteren  Blick  bewiesen  als  sie 
selbst  gehabt  hätten.  Diese  ehrliche  Bekehrung  und  ihr 
offenes  Geständnis  gehört  zu  meinen  liebsten  Partei - 
erinnerungen,  wenn  auch  mit  dem  Vorübergehen  der 
Katastrophe  das  Interesse  an  der  auswärtigen  Politik 
wieder  erlosch.  Auf  dem  Leipziger  Parteitag  der 
Sozialdemokratie  aber  wurde  ein  Ulkblatt  verbreitet,  in 
dem  die  Nürnberger  diplomatische  Weltpolitikasterei 
und  Kriegsprophetie  verspottet  wurde;  der  leitende 
Redakteur  der  Leipziger  Volkszeitung  war  damals 
Herr  Lensch! 

Ich  erzähle  diese  persönlichen  Erfahrungen  nicht, 
um  mich  zu  rühmen,  als  ob  ich  in  diesen  Dingen  eine 
besondere  Leistung  vollbracht  hätte,  sondern  um  aus 
der  Kenntnis  der  inneren  Vorgänge  und  Verhältnisse 

330 


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begreiflich  zu  machen,  wie  die  Partei  dann,  als  die 
Katastrophe  eintrat,  jene  Politik  trieb,  die  zum  Welt- 
verhängnis wurde.  Der  Krieg  überraschte  sie,  traf 
sie  unvorbereitet,  geistig  völlig  ungerüstet.  Schließlich 
konnte  es  gar  nicht  anders  sein.  Die  deutsche  Verfassung 
ist  eine  Fiktion.  In  ihr  leben,  sie  dulden,  heißt 
auch  die  Massenpolitik  zur  Fiktion  werden  lassen.  Erst 
wenn  das  Volk  über  sich  selbst  bestimmt  und  verant- 
wortlich über  sich  entscheidet,  können  die  Probleme 
der  Politik  zum  triebkräftig  bestimmenden  Inhalt 
des  wirklichen  Lebens  werden,  des  lebendigen  Wirkens 
der  Köpfe,  Willen  und  —  Arme. 

Als  urkundlicher  Beleg  für  diese  persönlichen 
Erinnerungen  seien  aus  meiner.  Marokko-Broschüre 
von  1906  das  Vorwort  und  das  Schlußkapitel  wieder- 
gegeben. 

[September  191 8.] 

II. 

Vorwort. 

Diese  Flugschrift  ist  bestimmt,  dem  deutschen  Pro- 
letariat und  der  deutschen  Öffentlichkeit  den  Inhalt 
des  französischen  Gelbbuchs  über  Marokko  zugänglich 
zu  machen.  Ich  kenne  keine  Sammlung  von  diplo- 
matischen Aktenstücken,  die  auf  so  erbarmungslose 
Weise  das  gemeingefährliche  Wesen  aller  Weltpolitik 
bloßlegt,  einer  Weltpolitik,  die  aber  zugleich  in  der 
deutschen  Fassung  den  Schrecken  mit  dem  Unsinn 
vereinigt.  Keine  Regierung  eines  zivilisierten  Staates, 
in  dem  das  Volk  sein  Geschick  leitet,  wäre  nach  der- 
artigen Enthüllungen  nur  eine  Stunde  möglich. 
Bei  uns  hat  es  die  durchweg  von  Galopins  des  Aus- 
wärtigen Amtes  korrumpierte  bürgerliche  Presse  er- 
reicht, daß  man  in  Deutschland  nicht  einmal  ahnt, 
was  geschehen  ist;  nur  in  der  „Zukunft"  wurden 
etliche  Notwendigkeiten  schart  gesagt.  Die  Lächerlich- 
keit des  deutschen  Weißbuchs  hat  vollends  die  Un- 


33i 


geheuerlichkeiten  dieser  Politik  der  Wirrnis  und  des 
Verderbens  entblößt.  Wenn  es  nicht  mehr  zu  bezwei- 
feln ist,  daß  Europa  in  den  letzten  zwölf  Monaten 
zweimal,  vielleicht  dreimal,  vor  der  unmittelbaren 
Gefahr  eines  Krieges  stand,  in  den  die  Proletarier 
gegeneinander  gehetzt  werden  sollten,  ohne  daß  sie 
wußten,  aus  welchem  Grunde  und  zu  welchem  Zweck, 
so  ist  es  wahrlich  Zeit,  daß  die  Sozialdemokratie  hüben 
und  drüben  rücksichtslos  die  Tollheiten  einer  frevel- 
haften und  dabei  zwecklosen  Politik  brandmarkt,  die 
die  inneren  Tendenzen  des  Kapitalismus  in  blinden 
und  perversen  Leidenschaften  ausprägt.  Wir  wollen 
uns  endlich  ein  Vaterland  erobern,  indem  wir  es  von 
der  Tyrannei  des  blutigen  Zufalls  erlösen. 

Die  internationale  Politik  ist  in  Deutschland  der  Beein- 
flussung, ja  selbst  der  Kontrolle  und  Kritik  der  Nation 
entzogen,  die  auf  dem  Proletariat  ruht.  Der  Bundes- 
rat versagt  stets  gegenüber  der  preußischen  Barbarei, 
die  Einzelstaaten,  insonderheit  Preußen  und  Sachsen, 
schließen  das  Volk  von  der  politischen  Mitarbeit  aus, 
auch  die  Reichs  Verfassung  ist  immer  noch  nur  eine 
Verkleidung  des  Absolutismus,  in  der  man  ein  wenig 
das  Recht  hat,  die  eigene  Ohnmacht  zu  kritisieren. 
So  ist  auch  der  Marokko- Skandal  letztes  Endes  für 
Deutschland  eine  Wahlrechtsfrage,  und  es  erhebt 
sich  immer  bedrohlicher  die  Entscheidung:  Freie 
demokratische  Selbstbestimmung  oder  Völkerkrieg. 

Unsere  Parteigenossen  in  Frankreich  halten  mit  be- 
wunderungswürdiger Selbstentsagung  und  großem 
Erfolg  ihre  Diplomatie,  als  die  Sachwalter  des  repu- 
blikanischen Kapitalismus  und  Militarismus,  am  Zügel. 
Es  ist  unsere  Pflicht,  im  Deutschen  Reiche  endlich 
die  Hand  zu  legen  auf  die  Entscheidung  über  unser 
Leben. 

[Am  preußischen  Wahlrechtssonntage, 
21.  Januar  1906.] 

33» 


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III. 

Ergebnis. 

Wie  eine  läppische  Phantasie  aus  Grauen  und  Ge- 
lachter ist  dieser  Marokkohandel  in  nüchternen  Akten- 
stücken an  dem  Leser  vorübergezogen,  und  er  wird 
des  öfteren  den  Zweifel  nicht  haben  zurückdrängen 
können,  ob  denn  das  wirklich  alles  wahr  sei. 

Drohte  wirklich  der  blutigste  Völkerkrieg,  den  Eu- 
ropa jemals  gesehen?  Und  warum?  Wegen  Marokko! 
Ja,  nicht  eigentlich  einmal  wegen  Marokko,  sondern 
wegen  —  ja,  das  ist  nicht  so  einfach  zu  sagen. 

Die  deutsche  Marokkopolitik  hätte  vom  Standpunkt 
eines  abenteuernden  und  brutalen  Imperialismus 
wenigstens  noch  Zweck  und  Sinn,  wenn  Deutschland 
wirklich  beabsichtigte,  auf  irgendeine  Weise  über 
Marokko  in  den  Kreis  der  Mittelmeerstaaten  einzu- 
dringen, wenn  der  Admiral  des  atlantischen  Ozeans 
ein  realer  Begriff  zu  werden  begehrte,  nachdem  freilich 
der  Admiral  des  stillen  Ozeans  ganz  still  geworden  ist. 
Eine  solche  Politik  würde  eine  internationale  Revolu- 
tion bedeuten,  wäre  aber  dann  wenigstens  aus  den 
Tendenzen  der  kapitalistischen  Weltraubpolitik  zu 
begreifen.  Aber  Deutschland  denkt  ja,  so  schwört  es, 
an  nichts  dergleichen,  es  tut  auch  nichts,  um  solche 
Pläne  zu  verwirklichen. 

Warum  also  hat  die  deutsche  Regierung  nun  das 
Schwert  aus  der  Scheide  ziehen  wollen?  Erinnern 
wir  uns: 

Erstens :  Weil  sie  den  französisch-englischen  Vertrag 
nicht  in  einem  besonderen  an  sie  adressierten  Briefe 
erhalten  hatte.  Aber  sie  kannte  ihn  schon  vor  der 
Veröffentlichung. 

Zweitens:  Weil  die  Souveränität  des  Sultans  von 
Marokko  auf  alle  Fälle  geschützt  werden  muß.  Aber 
der  Sultan  ist  niemals  Souverän  im  Vollbegriff  des 
Wortes  gewesen,  sein  Rest  von  Souveränität  dient 


333 


nur  zum  Verderben  des  Landes,  und  Deutschland 
selbst  wollte,  wenn  es  sein  müßte,  durch  einen  Krieg, 
den  Sultan  unter  die  Vormundschah  einer  —  inter- 
nationalen Konferenz  stellen. 

Drittens:  Weil  Herr  Taillandier  ein  europäisches 
Mandat  behauptet  habe.  Aber  er  hat  es  bestritten 
und  maurische  Despoten  sind  schlechte  Zeugen. 

Viertens :  Weil  die  Handelsfreiheit  und  die  deutschen 
Interessen  in  Marokko  geschützt  werden  müssen.  Aber 
diese  Handelsfreiheit  ist  garantiert,  und  diese  Inter- 
essen existieren  nicht. 

Fünftens:  Weil  dem  Sultan  von  Deutschland  Ver- 
sprechungen gemacht  worden  sind.  Aber  diese  Ver- 
sprechungen, wenn  sie  wirklich  erfolgt  sein  sollen,  sind 
von  keinem  verantwortlichen  Vertreter  der  Reichs- 
gewalt gegeben  worden.  Die  Nation  haftet  nicht  für. 
persönliche  Zusicherungen  eines  einzelnen. 

Sechstens:  Weil  nicht  geduldet  werden  könne,  daß 
Frankreich  in  Marokko  eine  singulare  Stellung  bean- 
spruche. Aber  die  deutsche  Regierung  hat  schließlich 
wiederholt  dieses  Recht  anerkannt. 

Siebentens:  Weil  Frankreich  erst  die  Konferenz  an- 
nehmen und  dann  über  ihr  Programm  verhandeln 
sollte,  während  Frankreich  meinte,  sie  müsse  erst 
den  Zweck  der  Konferenz  kennen  lernen,  ehe  es  für  die 
Konferenz  sich  erklären  könnte.  Aber  auch  hier  hat 
Deutschland  schließlich  durch  die  Tat  den  französi- 
schen Anspruch  anerkannt. 

Achtens:  Weil  Deutschland  für  Gleichberechtigung 
aller  Nationen,  für  die  Integrität  in  Marokko  und  gegen 
alle  Annexionspolitik  ist.  Aber  was  liegt  ihm  dann 
überhaupt  an  Marokko  ? . . . 

Das  sind  die  Gründe,  die  von  der  Regierung  de» 
Fürsten  Bülow  öffentlich  und  amtlich  als  einzige 
Motive  und  einzige  Zwecke  ihres,  selbst  zum  Kriege 

334 


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entschlossenen  Vorgehens  bezeichnet  wurden.  Kann 
man  sich  vorstellen,  daß  irgendein  Ausländer  an  solche 
Art  zu  regieren  glaubt  ?  So  niedrig  mag  auch  der  Feind- 
seligste nicht  von  der  Regierung  eines  großen  Kultur- 
volkes denken.  Weltkriege  provozieren,  fortwährend 
mit  den  Waffen  drohen,  ohne  irgendein  Machtziel  — 
nein,  das  ist  selbst  der  Regierung  des  Fürsten  Bülow 
nicht  zuzutrauen.  Nein,  die  reichlich  albern  erson- 
nenen  deutschen  Vorwände  müssen  nur  machiavellisti- 
sche  Kniffe  sein  —  so  ist  man  überall  überzeugt.  Wozu 
baut  sich  Deutschland  denn  auch  sonst  seine  Riesen- 
flotte i  Und  man  studiert  die  alldeutschen  Marokko- 
pläne, und  diesen  Text  legt  man  den  friedlichen  Flöten- 
liedern der  deutschen  Regierung  unter,  um  zu  er- 
klären, warum  die  harmlosen  und  idyllischen  Hirten- 
gesänge auf  einmal  ohne  sichtbaren  Grund  in  wildem 
Schlachtenlärm  endigen. 

„Marokko  verloren  l"  —  so  betitelt  sich  im  Sommer 
1904  „ein  Mahn  wort  in  letzter  Stunde"  von  einem 
alldeutschen  Rechtsanwalt  Claß. 

„Wir  sehen  uns  übergangen,"  schrie  der  Germane 
schmerzbewegt.  „Auf  eine  Stufe  mit  Spanien  ge- 
stellt, sehen  wir  uns  betrogen  um  einen  Besitz,  auf  den 
wir  ebenso  viel  Anspruch  hatten  wie  Frankreich  — 
dies  alles,  obgleich  dereinst  verkündet  wurde,  keine 
große  Entscheidung  darf  mehr  fallen  in  der  Welt, 
ohne  daß  der  deutsche  Kaiser  mitredet." 

Was  ist  das  Ziel? 

„Die  deutsche  Staatsleitung  ist  verpflichtet,  von 
sich  aus  sofort  die  marokkanische  Frage  dadurch  für 
uns  zur  Erledigung  zu  bringen,  daß  sie  alles  südwest- 
lich der  Wasserscheide  liegende  Land  einschließlich 
der  ganzen  atlantischen  Küste  Marokkos  für  das 
Deutsche  Reich  in  Besitz  nimmt."  Das  sei  unbedingt 
zu  verlangen,  „kraft  des  sittlichen  Rechtes  der  Not- 
wendigkeit, die  am  letzten  Ende  allein  der  richtige 
Maßstab  im  Völkerleben  ist  und  bleiben  wird." 

335 


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Und  das  Mittel? 

Auf  die  Frage  des  im  Frühjahr  1904  noch  harmlos 
friedfertigen  Bülow,  ob  wir  denn  um  Marokko  einen 
Krieg  führen  sollten,  antwortete  der  Alldeutsche  mit 
der  Gegenfrage,  „ob  er  den  Frieden  haben  wolle  t 
koste  es,  was  es  koste": 

„Wenn  die  Ehre  des  Reiches  angetastet  wird,  sollen 
wir  dann  vor  einem  Krieg  zurückschrecken?  Wir 
werden  behandelt  wie  Spanien,  greift  das  nicht  an 
unsere  Ehre  t  Das  letzte  Volksansiedelungsgebiet  wird 
uns  entrissen  —  verstößt  das  nicht  gegen  ein  Lebens- 
interesse ?  Für  was  geben  wir  ungeheuere  Summen 
jahraus  jahrein  für  unser  Heer,  für  unsere  Flotte  aus, 
wenn  man  von  vornherein  entschlossen  ist,  keinen 
Krieg  zu  führen  ?  Dazu  sind  wir  nicht  reich  genug, 
um  beide  für  Paradezwecke  zu  unterhalten." 

Schluß:  Wir  sollen  unverzüglich  den  Südwesten 
Marokkos  besetzen;  um  aber  den  Franzosen  zu  zeigen, 
daß  wir  auch  noch  da  sind  und  daß  man  uns  doch 
nicht  ungestraft  auf  der  Nase  herumtanzen  darf, 
heben  wir  auch  gleich  noch  die  Meistbegünstigungs- 
klausel des  Frankfurter  Friedens  auf. 

Noch  lauter  forderte  der  Graf  Pfeil  zum  Kriege 
auf,  dem  wir  nebst  Karl  Peters  durch  eigenmächtige 
Flaggenhissung  die  erste  deutsche  Kolonie  und  damit 
den  Anfang  unserer  Kolonialpolitik  verdanken.  „Wa- 
rum brauchen  wir  Marokko?"  fragte  dieser  immer 
noch  frei  umherlaufende,  die  Sicherheit  nicht  von  ein 
paar  Straßen,  sondern  von  ganz  Europa  bedrohende 
Pizzarro  in  einer  gleichfalls  alldeutschen  Flugschrift. 
Wir  brauchen  Marokko :  was  soll  sonst  uns  eine  Marine 
ohne  Flottenstationen  nützen!  Wir  brauchen  es, 
weil  es  das  Idealland  zur  Besiedelung  mit  Deutschen 
sei.  Wir  brauchen  es,  weil  —  man  höre  den  grau- 
samen Schwärmer  für  Steuergerechtigkeit  in  —  — 
Marokko!  —  „die  Bevölkerung  durch  ein  rücksichts- 
loses Steuersystem  ausgebeutet  (wird),  so  daß  ihre 

336 


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Kaufkraft  sich  jährlich  mindert  statt  zu  steigen,". 
Weil  wir  Marokko  aber  brauchen,  müssen  wir  es  haben, 
und  erhalten  wir  es  nicht  gutwillig,  dann  „tausendmal 
ja":  Krieg!  „Wir  sind  von  Hammergottes-Geschlecht 
und  es  ziemt  uns,  mit  dem  Hammer  Land  zu  erwer- 
ben." Unter  dem  Hammer  meint  der  Wotangläubige 
aber  nicht  die  produktiv  schmiedende  Arbeit,  son- 
dern Granaten,  Maschinengewehre,  Kavallerieattacken ! 
Ohne  kriegerische  Unternehmungen  würde  es  nun 
einmal  nicht  gehen:  „Aber  was  schadet  das?"  Alles 
ist  „seit  langem  vorbereitet"  —  also  los! 

Krieg!  Krieg!  Krieg!  Während  das  offizielle 
Deutschland  für  die  Souveränität  des  Sultans  die 
Menschen  und  Kanonen  übers  Meer  fahren  lassen  will, 
heischen  die  Kolonialpolitiker  den  blutigen  Hammer- 
Gottesdienst,  um  die  Herrschaft  Abd-el-Aziz  durch  die 
des  befreundeten  Wilhelm  II.  zu  ersetzen,  wobei  frei- 
lich dann  die  neuen  Untertanen  ein  nicht  sehr  viel 
besseres  Steuersystem  eintauschen,  dafür  aber  nach 
aüdwestafrikanischem  Vorbild  Gelegenheit  erhalten 
könnten,  ausgerottet,  und  mit  Prämien  auf  ihre  Köpfe 
(auch  nach  sultanischer  Sitte)  beschenkt  zu  werden. 

Wenn  nun  das  Ausland  sieht,  daß  die  Regierung 
des  Fürsten  Bülow  tatsächlich  im  Laufe  eines  Jahres 
wiederholt  mit  dem  Hammer  politisiert  hat,  kann 
irgend  jemand  noch  glauben,  das  Wort:  Deutschland 
steht  hinter  Marokko,  bedeute  nur,  daß  wir  für 
Abd-el-Aziz  und  für  die  2  bis  3  Millionen  deutschen 
Export  sterben  wollen  ?  Oder  wird  man  nicht  vielmehr 
folgern,  daß,  wo  die  vom  großen  Pfeil  angekündig- 
ten Mittel  offenkundig  angedroht  werden,  auch  die 
Pfeilschen  Zwecke  vorhanden  sein  müssen! 

Daher  vermutet  man  blutigen  Ernst  hinter  den 
wirren  Kreuz-  und  Querzügen  der  deutschen  Diplo- 
matie. Man  glaubt,  daß  Deutschland  nach  Marokko, 
nach  Kleinasien,  ja  nach  Brasilien  und  Indien  die 
Hände  ausstreckt! 


*t   El »oer,  Gesammelte  Schriften.  !. 


337 


.  Und  das  ist  der  drohende  Quell  steter  Katastrophen. 
Wir  haben  gesehen,  wie  aufmerksam  der  französische 
Vertreter  in  Berlin  die  russische  Krisis  in  die  welt- 
politische Rechnung  setzt. 

Der  ostasiatische  Krieg  und  die  russische  Revolution 
hat  das  europäische  Gleichgewicht  gestört.  Solange 
die  ungeheuere  russische  Masse  scheinbar  unbeweglich 
durch  die  Gravitation  des  Kosakentums  die  Staaten 
Europas  im  Bann  hielt,  fühlt  sich  Deutschland  und 
Frankreich  sicher  zugleich  und  gefesselt.  Seitdem  die 
russische  Militärmacht  ausgeschaltet  ward,  geriet  alles 
in  eine  tolle  Bewegung  lüsterner  Begierden  und  banger 
Furcht.  Das  Deutsche  Reich  hat  so  lange  mit  dem 
Dreizack  drohend  gefuchtelt,  daß  England  ernstlich 
für  seine  Weltherrschaft  bangt.  Soll  es  ruhig  zusehen, 
wie  Deutschlands  Flotte  üppig  wächst?  Oder  ist 
es  nicht  billiger,  dem  Spuk  mit  einem  Male  ein 
Ende  zu  machen?  Auf  dem  Grunde  des  Meeres 
haben  ebensoviel,  wie  auf  seinem  Spiegel  wenige 
Panzerschiffe  Platz!  Nur  der  Tod  kennt  keine  Kon- 
kurrenz. 

Die  französische  Demokratie  hat  ihren  Delcasse* 
davongejagt.  Der  deutsche  bürgerliche  Scheinparla- 
mentarismus  sprach  zu  Beginn  der  Reichstagssession 
seinem  Bülow  das  vollste  Vertrauen  der  Nation  aus, 
nachdem  ihre  schreibenden,  telegraphierenden  und 
telephonierenden  Zeitungsritter  vorher  einen  ver- 
gnügten parlamentarischen  Abend  bei  ihrem  Kanzler- 
fürsten angeregt  verschwatzt  und  in  gesegnetem  Appe- 
tit verschmatzt  hatten! 

Nachdem  die  Welt  die  wilden  sinnlosen  Kriegs- 
drohungen um  Marokko  willen  erlebt  hat,  kann  kein 
Vertrauen  und  Frieden  mehr  werden.  Geht  Marokko 
vorüber,  irgendwo  taucht  aufs  neue  eine  Frage  auf, 
bis  einmal  doch  die  verheerende  Katastrophe  losbricht. 
Der  Hunnenzug  und  Südwestafrika,  das  waren  schon 
Erdbeben  der  Weltpolitik.    Marokko  wäre  beinahe 

338 


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ein  Weltbrand  geworden.  Was  birgt  nun  das  Morgen 
und  welche  Macht  haben  wir,  um  dem  wahnwitzig 
schaltenden  Ungefähr  entgegenzuwirken  ? 

Die  Sphinx  der  Weltpolitik  gibt  uns  nur  das  ungelöste 
Rätsel  der  inneren  Politik  dräuend  auf.  Lösen  wir  dies 
Rätsel,  so  stürzt  jene  sich  in  das  Nichts. 

Die  französische  Demokratie,  die  unter  dem  be- 
fruchtenden Einfluß  der  Sozialisten  sichln  der  Ge- 
schichte wieder  einmal  als  stärkste  Kulturmacht  be- 
hauptete, hat  gegenwärtig  den  Kampf  gegen  die 
Maffia  der  Diplomatie  aufgenommen.  Auch  die 
Volksvertretung  der  Republik  hat  bisher  gar  keinen 
oder  doch  nur  sehr  geringen  Einfluß  auf  die  aus- 
wärtige Diplomatenpolitik  nehmen  können,  für  welche 
der  kriminelle  Begriff  der  Verschleierung  höchstes 
Gesetz  und  Wurzel  ihrer  Existenz  ist. 

Die  bürgerliche  Öffentlichkeit  Deutschlands  hat 
vollends  den  ganzen  Marokkokonflikt  tatenlos  und  un- 
wissend verschlafen.  Von  irgendeinem  obskuren  Ge- 
heimrat läßt  sich  die  ganze  Presse  der  Bourgeoisie 
.  narren,  der  ihnen  selbst  die  Traumtexte  für  den  Schlaf 
fertig  liefert.  Aber  das  ist  schließlich  nur  eine  jammer- 
volle Teilerscheinung  der  einen  großen  Tatsache,  daß 
es  in  Deutschland  überhaupt  noch  kein  Öffentliches, 
kein  aktives  politisches  Volksleben  gegeben  hat.  Deutsch- 
land ist  noch  lange  kein  Verfassungsstaat,  und  was  die 
Bourgeoisie  versäumt  hat,  wird  erst  das  Proletariat 
erobern  müssen.  Die  Marokkoaffäre  hat  gezeigt,  was 
wir  von  einer  in  Klassen- Inzucht  entarteten  Bureau- 
kratie  zu  erwarten  haben,  die  nicht  einmal  fähig  ist, 
das  niedrige  Handwerk  einer  kapitalistischen  Geschäfts- 
politik mit  leidlichem  Anstand  und  rechnender  Voraus- 
sicht zu  bewältigen.  Selbst  mit  dem  rohen  Appell 
an  die  Gewalt  der  Zerstörung  hat  sie  nichts  erreicht 
und  viel  verloren!  Indem  das  deutsche  Proletariat 
um  die  politischen  Elementarrechte,  um  die  Erobe- 
rung des  Parlaments,  um  das  demokratische  Wahl- 


339 


System  in  allen  gesetzgebenden  Körperschaften  ringt, 
arbeitet  es  zugleich  für  den  Frieden  und  die  Kultur 
Europas!  . 

• 

Und  schon  genug  deutsches  Blut  hat  dieses  Land 
der  Ruinen  und  des  Schutts,  der  versandenden  Häfen 
und  verfaÄnden  Mauern,  der  Verwesung  und  des 
Kots  getrunken.  Mit  dem  Gestank  menschlicher  und 
tierischer  Ausscheidungen,  den  jeder  Regen  wie  aus 
den  Tiefen  und  Anlagerungen  von  Jahrtausenden 
aufwühlt,  scheint  sich  der  Ludergeruch  des  nutzlos 
vergossenen  Menschenbluts  zu  mengen.  Alles,  was 
eine  unbewegte  tausendjährige  Herrschaft  des  welt- 
lichen und  geistlichen  Despotismus  an  Entartung  und 
Greueln  hervorbringen  kann,  ist  in  diesem  verfluchten 
Boden  erstanden  und  versunken.  Bei  Alcazar  brach 
1578  Portugals  Weltmacht  zusammen;  an  diesem 
von  der  Dichtung  versponnenen  Kreuzzug  Dom 
Sebastians  nahmen  auch  3000  Deutsche  teil;  sie  ver- 
westen unbeerdigt  auf  dem  Felde  der  Dreikönigschlacht 
von  Alcazar.  Deutsche  wurden  ja  immer  für  fremde 
Zwecke  als  Kriegstiere  verkauft;  auch  die  Weltpolitik 
von  heute  ist  fremder  Zweck!  Hier  sind  ungezählte 
Deutsche  in  den  Jahrhunderten  marokkanischer  See- 
räuberherrschaft als  Sklaven  verreckt;  Sultan  Ismael, 
der  Bluthund,  hat  allein  in  den  ersten  Jahren  seiner 
Regierung  20000  seiner  Sklaven  —  welch  herrliche 
Strecke!  —  mit  eigner  Hand  erlegt.  Von  den  Zinnen 
dieser  westlichen  Veste  des  Islam  grinsen  gerade  deut- 
sche Häupter! .  .  . 

Von  dem  bei  Tanger*)  kraft  des  ersten  internatio- 
nalen Marokko  Vertrags  —  von  einem  Franzosen  — 
erbauten  Leuchtturm  bei  Kap  Spartel  erzählt  ein 
Marokkoforscher,  wie  die  Vögelzüge,  die  im  Herbst 

*)  Beiläufig:  Sprich  „Tandscha". 
340 


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Europa  verlassen,  an  ihm  zugrunde  gehen.  In  dichten 
Massen  richten  sie  ihren  Flug  auf  jenen  hellen  Punkt, 
und  werfen  sich  in  voller  Wucht  gegen  den  Turm, 
den  sie  umkreisen,  einhüllen  und  an  dessen  starkem, 
die  Laterne  schützenden  Drahtgitter  die  Vögel  zer- 
schellen, geblendet  von  dem  großen  und  ungewohnten 
Lichte.  Das  Geschrei  und  die  dumpfen  Töne  des 
Massenanpralls,  die  das  Toben  des  Meeres  selbst  über- 
tönen, hält  stundenlang  an,  bis  zuletzt  die  erschöpften 
Tiere  weiterziehen.  Ein  furchtbares  Schauspiel,  am 
nächsten  Morgen  die  entsetzliche  Verheerung  anzu- 
sehen; zu  hunderten  liegen  die  Vögel  mit  zerstoßenen 
Köpfen,  gebrochenen  Flügeln  und  zersplitterten  Schnä- 
beln überall  umher,  oder  hängen  noch  in  den  Draht- 
gittern. .  .  . 

Im  Laufe  dieses  Marokkohandels  hat  es  wiederholt 
geschienen,  als  ob  es  wirklich  das  Los  europäischer 
Völker  sei,  an  dem  die  Weltmeerstraßen  des  Kapitalis- 
mus lockend  bestrahlenden  Leuchtturm  von  Cap 
Spartel  das  Leben  zu  zerschellen!  Schon  glaubte  man 
das  Unheil  zu  sehen,  wie  diese  wirren,  ins  Licht  des 
fernen  Gewinns  treibenden,  flatternden,  taumelnden 
Zugvögel  heranstürmen,  nur  daß  es  nicht  freie  Vögel 
waren,  die  den  Sommer  suchen  und  an  Lichtgittern 
zerschellen,  sondern  wehrlose  Schwärme,  die  blind- 
lings hinausgestoßen  — ,  gegen  den  Turm  geschleudert 
werden  sollten.  .  . 

Proletarier  Europas, 
schützt  die  heiligsten  Güter  der  Völker! 


34i 


Die  Tragikomödie  des  deutschen  Liberalismus. 

„Geist  genug  zu  allen  Fragen  und  Zweifeln 
und  kein  Genie  zu  ihrer  Lösung." 

Rudolf  v.  Bennigsen  an  seine  Mutter. 
17.  September  1847. 

I. 

Vom  deutschen  Liberalismus,  der  immer  und  über- 
all dabei  war  und  doch  niemals  zur  Macht  gelangte, 
erzählt  Hermann  Oncken  auf  fast  anderthalbtausend 
großen  Lexikonseiten,  indem  er  aus  den  nachgelassenen 
Papieren  Rudolf  v.  Bennigsens  das  Leben  des  liberalen 
Führers  schreibt  und  die  von  ihm  selbst  nicht  auf- 
gezeichneten Memoiren  eines  im  Vordergrund  ge- 
schäftigen Daseins  zu  rekonstruieren  versucht.  Her- 
mann Oncken  hat  damit  ein  Quellenwerk  ersten  Ranges 
für  die  deutsche  Parteigeschichte  geliefert  und  reiche 
Beiträge  zu  der  Durchdringung  des  Problems  gespen- 
det, warum  wir  in  Deutschland  immer  nur  einen 
zugrunde  gehenden,  sich  verlierenden,  faulenden  Libe- 
ralismus gehabt  haben. 

Wir  kannten  aus  persönlicher  Anschauung  nur  den 
Bennigsen  des  neuen  Deutschen  Reiches  und  des 
.  Reichstages.  Auch  damals  unterschied  sich  der  Führer 
der  älteren  nationalliberalen  Generation  noch  wesent- 
lich von  seinen  Epigonen,  den  platten  politischen 
Geschäftsleuten  von  der  Rasse  der  Paasche,  Basser- 
mann, Semler.  Er  hatte  doch  etwas  von  einem  gebil- 
deten europäischen  Politiker,  er  hatte  Kenntnisse,  ein 
idealistisch  gerichtetes  Wollen,  oder  besser  Wünschen, 
und  durch  seine  blasse,  ein  wenig  müde  Rhetorik 
schimmerte  doch  zuweilen  eine  vornehme  Gesinnung 

342 


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und  feinere  Geistigkeit  durch,  die  sich  an  allerlei 
Schätzen  der  Kultur  genährt  hatte.  Aber  dieser  Mann 
war  schon  zugrunde  gegangen,  als  er  im  Deutschen 
Reich  zu  wirken  begann,  ein  Liberaler,  der  am  deut- 
schen Liberalismus  verkommen  war.  Er  war  von  Haus 
aus  in  Wahrheit  eine  politische  Natur.  Der  bei  uns  so 
seltene  politische  Dämon  wohnte  und  wirkte  in  ihm, 
wenn  auch  ein  deutsch  temperierter  Dämon.  Aber 
diese  Zeit  politischer  Kraft  und  geschichtlicher 
Charaktere  lag  längst  hinter  ihm,  als  wir  ihn  in  der 
Nähe  agieren  sahen.  Auch  er  war  zerschellt  an  dem 
unpolitischen  Krämer-  und  Philistersinn  des  deutschen 
Bürgertums.  Er  wollte  kein  Verbannter  sein,  wie  die 
großen  Vorkämpfer  deutscher  Freiheit,  er  wollte  das 
Mögliche,  das  Erreichbare  durchsetzen,  und  so  riß 
er  vom  Liberalismus  Stück  für  Stück  los,  bis  er  nur  noch 
ein  wirres  Gefüge  treibender  Trümmer  war. 

Von  zwei  Klippen  ist  die  deutsche  bürgerliche 
Politik  niemals  losgekommen:  von  einem  starren  Dok- 
trinarismus, der  seine  Feigheit  tätiger  Verantwortung 
hinter  die  Pflicht  verschanzt,  unantastbare  Grund- 
sätze in  voller  Reinheit  zu  erhalten,  und  von  seinem 
Gegenspiel,  wirklich  grundsätzliches  Handeln  in  eine 
überzeugungs-  und  richtungslose  leere  Betriebsam- 
keit aufzulösen,  die  immer  siegt,  indem  sie  nie  eine 
Schlacht  wagt.  Bennigsen  hatte  in  jungen  Jahren 
diese  beiden  Todsünden  der  Politik  erkannt,  dann 
aber,  um  nicht  doktrinär  zu  sein,  ward  er  der  macht- 
politisierende Opportunist  der  Ohnmacht,  der  echte 
Irrealpolitiker  im  Wahne  realistischer  Politik. 

Rudolf  v.  Bennigsen  stammt  aus  einem  uralten  nieder- 
deutschen Adelsgeschlecht.  Die  Bennigsen  —  nach 
einem  Dorf,  südlich  von  Hannover  —  sind  schon 
als  Herren  von  Bennucheshusen  im  14.  Jahrhundert 
nachweisbar;  sie  gehörten  zu  den  80  herrschenden 
Rittergeschlechtem,  die  Hannover  als  ihre  Domäne 
ausbeuteten,  wenn  auch  nicht  zu  dem  Kern  der  20 


343 


Familien,  die  die  Minister-  und  alle  höheren  Posten 
im  Staate  einnahmen.  Sie  waren  mäßig  begütert, 
leisteten  vielfach  Kriegsdienste  im  Ausland;  der 
russische  General  v.  Bennigsen  gab  1801  das  Signa! 
zur  Familienermordung  des  Zaren  Paul  I.  Bennigsens 
Großvater  war  preußischer  Offizier,  der  den  ruhm- 
losen Feldzug  gegen  die  französische  Revolution  mit- 
machte und  dann  1806  zu  den  Kapitulanten  von 
Magdeburg  gehörte;  eine  in  jeder  Hinsicht  zerrüttete 
und  verbitterte  Existenz,  unglücklich  in  seinem  Fa- 
milienleben, gebrochen  in  seiner  Laufbahn,  von 
Schulden  belastet,  das  Familiengut  dem  Konkurs 
ausliefernd.  Sein  Sohn,  Rudolfs  Vater,  baute  dann 
in  zäher  Hingebung  die  verfallene  Familienexistenz 
auf,  auch  er  ein  Militär,  in  Wahrheit  mehr  eine  hu- 
mane Gelehrtennatur,  beschaulich  und  philosophisch 
gestimmt,  kein  Sklave  seiner  Kaste  und  voll  zärtlicher 
Sorgfalt  für  seine  Söhne,  deren  freie  Entwicklung  er 
opfernd  und  verständnisvoll  förderte.  Von  mütter- 
licher Seite  hat  Rudolf  v.  Bennigsen  Hugenottenblut 
ererbt. 

Die  englische  Fremdherrschaft  ersparte  Hannover 
das  Schicksal  der  anderen  deutschen  Vaterländer, 
von  ihren  angestammten  Fürstenhäusern  ausgesogen 
zu  werden;  die  fremde  Monarchie  kostete  Hannover 
durchschnittlich  nur  12542  Taler  jährlich.  Auch 
gestattete  die  englische  Herrschaft  eine  größere 
geistige  Freiheit.  Auf  der  hannoverschen  Universität 
Göttingen  wirkte  der  erste  liberale  deutsche  Publizist, 
Schlözer,  der  die  zweite  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts 
mit  seinem  Ruhm  erfüllte,  und  freilich  auch  gleich 
„nationalliberal"  gesinnt  war,  mit  seinem  Kultus 
des  „gemäßigten  Fortschritts"  und  seiner  Angst  vor 
radikalen  Forderungen  und  Taten  als  Teufeleien,  die 
nur  die  „Reaktion"  fördern.  Aber  die  liberale  Ge- 
sinnung war  doch  nur  ein  zartes  Pflänzchen  literarischer 
Zivilisation.  Sonst  drückte  auf  dem  Staat  eine  extrem 

344 


Digitiz 


konservative  Adelsherrschaft;  zwei  Drittel  aller  Ritter- 
güter waren  in  den  Händen  des  Adels,  der  alle  Staats- 
stellen als  seine  Majorate  erblich  inne  hatte. 

Rudolf  verbringt  seine  Kindheit  in  Hameln,  Lüne- 
burg, Hannover.  Er  ist  eine  „Primus"-Natur,  ein 
ausgezeichneter  Schüler,  der  in  einem  freien,  geistigen 
und  innigen  Familienleben  seine  Gaben  entfalten 
kann.  Er  ist  ein  Büchervertilger  und  Schillerschwär- 
mer; Wilhelm  Teil  ist  sein  Held.  Aber  in  dieser 
später  so  glatt  harmonisch  erscheinenden  Natur  geht 
doch  ein  Gespenst  jäher  Leidenschaft  um:  Der  sech- 
zehnjährige Knabe  unternimmt  einen  höchst  ernst- 
haften Selbstmordversuch,  vermutlich  in  der  Zer- 
rissenheit einer  jungen  Liebe.  Mit  einem  Reife- 
zeugnis „erster  Klasse"  verläßt  er  das  Lyzeum.  Vier 
Jahre  später  nennt  er  die  Schulmethode  „geistes- 
tötend" und  spricht  von  seiner  „glänzenden  Ober- 
flächlichkeit", die  für  Genie  gehalten  worden  sei. 
Er  studiert  in  Göttingen  die  Rechte.  Die  Universität 
stand  noch  ganz  unter  dem  Eindruck  der  Maßregelung 
der  „Sieben"  im  Jahre  1837.  Was  da  noch  lehrte, 
war  öde  Mittelmäßigkeit;  so  bezog  Bennigsen  seinen 
ersten  volkswirtschaftlichen  Unterricht  von  dem  jun- 
gen Roscher,  dem  Begründer  der  „historischen  Schule", 
dem  ebenso  platten  wie  erfolgreichen  übervulgären 
Kompendienschreiber  der  Nationalökonomie,  der  in 
seiner  „Geschichte  der  Nationalökonomie"  noch  1874 
Karl  Marx  in  einer  Fußnote  erledigte. 

Bennigsen  wird  aus  rein  persönlichen  Gründen 
Korpsstudent,  obwohl  er  politisch  zu  den  Burschen- 
schaften neigt.  Er  ist  lebenslustig,  auch  wild  und 
stürmisch,  macht  Schulden,  aber  niemals  roh  und 
gemein.  Als  die  Familie  1842  —  der  Vater  wurde 
militärischer  Bundesbevollmächtigter  beim  Bundes- 
tag —  nach  Frankfurt  a.  M.  übersiedelt,  gerät  der  Stu- 
dent in  die  liberale  Luft  der  Heidelberger  Universität, 
wo  Gervinus  und  Schlosser  wirkten.  Er  vertieft  sich 

345 


hier  in  politisch-radikale  Schriften,  ist  empfänglich 
für  den  Romansozialismus  Eugene  Sues,  dessen  „sehr 
anregende  Diskussionen  über  jetzige  soziale  Verhält- 
nisse, besonders  über  die  Erleichterung  des  traurigen 
Loses  der  arbeitenden  Klassen"  ihn  mächtig  bewegen. 

Er  verbummelt  ein  wenig,  bleibt  nicht  ohne  studen- 
tische Disziplinarstrafen,  mit  einem  schlechten  Zeugnis, 
der  Wirkung  eines  alsbald  von  ihm  selbst  beklagten 
„wilden  und  leidenschaftlichen  Studentenlebens"  tritt 
er  in  die  hannoversche  Beamtenlaufbahn  ein,  die  er 
unruhig  und  unzufrieden  sofort  wieder  aufgeben  will. 
Er  denkt  an  den  akademischen  Beruf,  er  träumt  von 
dem  Professor  als  Schöpfer  und  Former  eines  neuen 
staatlichen  und  gesellschaftlichen  Lebens:  „Die  Wis- 
senschaft muß  sich  vom  Schulstaub  immer  mehr  be- 
freien und  nur  in  einer  höheren  Auffassung  und  Ge- 
staltung des  Lebens  ihr  Ziel  suchen,  dann  hört  sie 
aber  von  selbst  auf,  reine  Theorie  zu  sein,  und  wird 
gewiß  in  edlerem  Sinne  „eine  praktische"  genannt 
werden  können  als  die  gesamte  Beamtenschreiberei", 
schreibt  er  1846  an  den  Vater.  Er  sieht  den  Sturm 
kommen,  der  alle  europäischen  Verhältnisse  aufzu- 
wühlen droht  und  schwärmt :  „Soll  nicht  zum  zweiten 
Male  in  Europa  eine  jahrhundertelange  Barbarei, 
folgend  auf  eine  ebenso  lange  dauernde  Umwälzung 
an  die  Stelle  einer  dem  Untergange  nahen  Kultur- 
epoche treten,  so  ist  das  nur  durch  eine  Vereinigung 
der  im  Volke  liegenden  schöpferischen  Kraft  und  noch 
ungebrochenen  Leidenschaft  und  des  wärmsten,  auf- 
opferndsten wissenschaftlichen  Eifers  aller  derer  aus 
unseren  sogenannten  gebildeten  Klassen  möglich,  die 
für  das  Wohl  der  Menschheit  noch  einer  Begeisterung 
fähig  sind  und  die  an  einer  glücklichen  Entwicklung 
zu  einer  besseren  Epoche  noch  nicht  verzweifelt  haben." 
Schon  regt  sich  in  solchen  Wendungen  ein  radikaler 
Geist. 

Aber  Bennigsen  ist  schon  früh  ein  Mensch  von 
346 


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schnellem  Verzicht.  Die  nebensächliche  Hemmung, 
daß  er  als  Beamter  keinen  Urlaub  erhält,  um  sich  auf 
die  Universitätskarriere  vorzubereiten,  bestimmt  ihn, 
den  Plan  überhaupt  aufzugeben.  Doch  er  geht  von 
der  Verwaltung  in  die  freiere  Richterlaufbahn  über. 
Noch  hat  er  einen  Hang  zur  goldenen  Mitte 
der  Lebensauffassung.  Er  verabscheut  in  seiner  reli- 
giösen Weltanschauung  Atheismus  und  Materialis- 
mus, aber  ebenso  den  Katholizismus  und  die  protestan- 
tische Orthodoxie,  und  erwartet  eine  neue  Reformation. 
Ein  Besuch  im  Kölner  Dom  erfüllt  ihn  mit  Wider- 
willen: „Kein  Ende  nahm  das  Knien  und  Knixen  und 
Räuchern  und  Klingeln.  Bequem  ist  die  katholische 
Religion  wahrlich,  aber  wo  bleibt  die  menschliche 
Würde  bei  diesen  Spielereien?"  Und  er  sehnt  sich 
nach  einem  Befreier:  „Wann  wird  endlich  der  für 
das  schwer  ringende  Deutschland  so  notwendige 
Genius  erstehen,  der  an  die  Stelle  des  verfallenden, 
in  dem  Bewußtsein  der  größeren  Menge  der  gebildeten 
Männerwelt  wenigstens  verloren  gegangenen  Christen- 
tums einen  Ideenkreis  von  gleicher  Fülle  und  Inner- 
lichkeit und  gleicher  Gestaltungskraft  für  alle  Lebens- 
verhältnisse zu  setzen  imstande  ist  r" 

II. 

Die  tolle  Wunderkraft  des  Jahres  1848  läßt  Bennig- 
sens Ideen  rasch  zum  äußersten  Radikalismus  klären. 
Er  bleibt  Zuschauer  der  Ereignisse,  aber  ein  tief  hin- 
gerissener Zuschauer.  Er  ist  Republikaner,  Demokrat, 
ein  wenig  selbst  Sozialist.  Er  findet  die  bittersten 
Worte  über  die  Monarchen  und  Monarchien,  die 
herrschenden  Klassen  und  Parteien.  Aber  er  verbindet 
mit  dem  Enthusiasmus  für  die  Ideen  ein  helläugiges 
Mißtrauen  für  die  Menschen,  die  sie  verwirklichen 
wollen  —  bis  zur  verzweifelnden  Menschenverachtung, 
die  ihn  zugleich  scharfsichtig  macht  und  ihn  bald  den 


347 


Zusammenbruch  der  überschwenglichen  Hoffnungen 
voraussehen  läßt. 

Der  Anfang  des  Jahres  1848  findet  Bennigsen  als 
Auditor  in  Osnabrück,  wo  mit  ihm  Windthorst  und 
Planck,  der  spätere  Hauptschöpfer  des  deutschen 
bürgerlichen  Gesetzbuchs,  wirken.  Mit  23  Jahren 
erlebt  er  die  Revolution.  Er  neigt  zum  linken  Zentrum 
in  Frankfurt  a.  M.  und  dilettiert  in  sozialistischen 
Gedanken  französisch-utopistischer  Herkunft.  Und 
am  Anfang  des  Jahres  erwartet  er  naiv  die  unblutige 
deutsche  Revolution,  die  Deutschland  die  Einheit 
und  Freiheit  bringen  soll,  von  den  Fürsten,  die  sich 
freiwillig  durch  die  Parlamente  auf  die  Stellung 
englischer  Lords  herabdrücken  lassen.  „Wäre  eine 
Politik,  die  freiwillig  den  Übergang  von  der  Monarchie 
zur  Republik  herbeiführt,  indem  sie  sich  mit  der  Rolle 
eines  konstitutionellen  Königs  begnügt,  eines  deutschen 
Königs  nicht  würdig  .  .  .!"  (6.  März.)  Er  hofft 
auf  Männer  wie  Lamartine  und  Louis  Blanc,  deren 
Partei  „durch  den  Sozialismus  den  Kommunismus 
und  mit  ihm  die  Anarchie"  bewältigen  könnte.  Eine 
„großherzige  Politik"  vermöchte  das  mittlere  und 
westliche  Europa  vor  Kriegen  zu  bewahren,  „die 
endlich  zu  einem  furchtbaren  Prinzipienkampfe  zwi- 
schen Dynastien  und  Völkern  nicht  bloß  —  da  wäre 
der  Sieg  schon  entschieden  — ,  sondern  auch  zwischen 
Besitz  und  Arbeit  führen,  wo  der  geistige  Kampf  erst 
begonnen  hat  —  also  zur  Barbarei".  So  trübe  werde 
es  jedoch  nicht  werden.  Deutschlands  Werk  wäre  es 
vielmehr,  „nachdem  ihm  durch  Frankreichs  letzte  Re- 
volution die  politische  Entwickelung  gesichert  ist",  jene 
„Einheit  von  Altertum  und  Christentum"  heraufzube- 
schwören, die  neue  Religion  einer  praktischen  Liebe, 
die  von  dieser  Welt  wäre  und  die  die  Aufgabe  durch- 
führte, „das  physische  und  geistige  Elend  der  arbeiten- 
den Klassen  durch  die  Energie  der  Vernunft  und  der 
Liebe  in  dem  neuen  sozialen  Staate  zu  bewältigen". 

34« 


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In  dem  Wirbelsturm  der  rasenden  Ereignisse  ver- 
wehen schnell  solche  Illusionen  und  Phantasien.  Ganz 
anders  schreibt  Bennigsen  wenige  Tage  später,  nach 
den  deutschen  Märztagen,  am  22.  März:  „Schwarz- 
rot-goldene Fahnen  wehen  von  vielen  Häusern,  die 
deutsche  Kokarde  trägt  beinahe  jeder.  Alle  paar  Tage 
große  Volksversammlungen,  sogar  auf  offenem  Markte . . . 
Mit  Freiheit  und  Gleicheit  wird  man  in  den  Schlaf 
gesungen  und  wieder  aufgeweckt."  Er  berichtet  be- 
geistert der  Mutter  von  der  einstimmig  angenommenen 
Petition  um  ganz  allgemeines  Wahlrecht  und  um  so- 
fortige Beeidigung  des  Militärs  auf  die  Verfassung. 
Er  interessiert  sich  für  das  Landproletariat:  „Die 
Lage  der  hiesigen  Heuerleute  (Zeitpächter)  den 
Kolonen  (Grundeigentümer)  gegenüber  soll  sehr 
drückend  sein,  die  französischen  sozialistischen  Zu- 
sicherungen sind  in  gedruckten  Proklamationen  von 
der  äußersten  Partei  auch  hier  schon  unter  das  Volk 
geworfen."  Er  zeichnet  mit  unverhohlener  Genug- 
tuung dieses  revolutionäre  Erlebnis,  das  seinem 
Standesgenossen  Schele-Schelenburg  passierte.  Der 
hat  einem  seiner  bäuerlichen  „Untertanen"  einen 
Hund  totgeschossen.  Die  Bauern  lassen  einen  großen 
schönen  Sarg  für  den  Hund  zimmern,  legen  ihn  hinein, 
tragen  ihn  in  feierlicher  Prozession  vor  das  Erbbegräb- 
nis des  Herrn  v.  Scheie.  Eine  Deputation  erscheint 
vor  dem  Herrn  und  fordert  ihn  auf:  „Er  möge  diesen 
Hund  zu  den  anderen  Hunden  in  die  Gruft  stellen 
lassen." 

Der  ganz  unwiderstehliche  Zug  der  Bewegung  werde 
nun  auch  dem  Blindesten  klar:  Deutschland  einig  und 
das  Volk  frei!  Eine  Demonstration  vor  dem  Schloß 
dünkt  Bennigsen  recht  angenehm':  „Tausende  hatten 
das  Schloß  belagert.  Als  der  König  nicht  nachgeben 
wollte,  ist  ein  Zettel  mit  den  Konzessionen  dem  Herrn 
v.  Münchhausen  (dem  Kabinettsrat  des  Königs)  über- 
geben worden  mit  dem  Bedeuten,  „wenn  nicht  binnen 


349 


fünf  Minuten  alle  diese  Punkte  bewilligt  seien,  so 
würde  man  das  Schloß  und  Palais  an  allen  Ecken 
anzünden".  Diese  Drohung  hat  durchgeschlagen. 
Zwei  Jahrzehnte  später  durfte  Graf  Münster,  der 
spätere  Pariser  Botschafter,  an  jene  Hannoversche 
Schloßszene  von  1848  in  folgender  Weise  zu  erinnern 
wagen  —  in  einem  Brief  an  Bennigsen:  „Ich  sehe  den 
Mann  (Münchhausen)  noch  immer,  wie  er  ....  sich 
auf  der  Leinestraße  durch  zwei  Hoflakaien  auf  einen 
Stuhl  heben  ließ  und  dem  versammelten  Pöbel,  den 
hundert  Bummlern,  zweihundert  Straßenjungen  und 
einigen  Zuschauern  ...  die  verlangten  Konzessionen . . . 
in  langer  Rede  im  Namen  des  Königs  zugestand". 
Pöbel,  Bummler  und  Straßenjungen  waren  nach  der 
Bismärckischen  Restauration  aus  dem  Volk  von  1848 
•  geworden,  dessen  Kundgebung  damals  Bennigsen  so 
gewaltig  schien,  daß  er  die  Frage  aufwirft:  ob  der 
König,  „überzeugt  von  dem  Recht  dieses  überein- 
stimmenden deutschen  Willens,  die  gänzliche  Ret- 
tungslosigkeit  seines  Systems  eingesehen  und  aufge- 
geben habe,  um  seinem  Enkel  den  Thron  zu  sichern  ? 
Armes  Kind !  Wenn  du  erwachsen  bist,  wird  es  keinen 
Thron  mehr  zu  besteigen  geben".  Eine  Prophezeiung, 
die  freilich  nur  für  die  Weifen,  nicht  für  die  Throne 
in  Erfüllung  ging.  1848  aber  dachte  Bennigsen  über 
das  Schicksal  der  Hohenzollern  nicht  anders,  wie  über 
das  der  Hannoveraner: 

Über  das  schandliche  Verfahren  des  Königs  von 
Preußen  ist  auch  bei  allen  Konservativen  nur  eine 
Stimme.  Diese  unselige  Nacht  hat  aber  den  großen 
Erfolg,  daß  keine  freie  Nation  ihr  Schicksal  ferner 
dem  Zufall  der  Geburt  anvertrauen  wird  und  einem 
solchen  frömmelnden,  unfähigen  Scheusal  die  Macht 
gibt,  ein  Volk  in  den  Abgrund  zu  stürzen.  Während 
einer  solchen  Nacht  hat  sich  seine  Eitelkeit  und 
Frömmelei  endlich  in  ihrer  wahren  Nacktheit  ge- 
zeigt. Die  gezwungene  Demütigung  war  aber  auch 

350 


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eine  furchtbare  Rache  für  einen  Frömmler."  (Brief 
vom  22.  März.) 

Über  das  Recht  der  Revolution  wird  in  diesen  Früh- 
zeiten Bennigsens  nicht  diskutiert;  mit  keiner  Silbe 
wird  darüber  vernünftelt,  die  ganze  Rechtsfrage 
fehlt  so  völlig  in  seinem  Bewußtsein,  daß  er  gar  nicht 
an  sie  denkt.  Alle  Lügen  des  feudal-absolutistischen 
Zeitalters  sind  auf  einmal  zerstoben,  die  bewährten 
germanischen  Gefühle  für  Thron  und  Altar,  für  Ord- 
nung und  Sitte  entkleidet  und  verloren.  Selbst  der 
alte  Vater  bereitet  sich  ernsthaft  auf  den  neuen  Zu- 
stand der  Dinge  vor,  er,  der  Militärbevollmächtigte 
des  Deutschen  Bundes,  macht  Vorstudien  für  eine 
Verbindung  des  stehenden  Heeres  mit  der  Volks- 
bewaffnung. Seine  Vorschläge  wurden  auch  gedruckt, 
sie  zielen  zugleich  auf  höhere  Wehrhaftigkeit,  Besei- 
tigung des  militärischen  Kastengeistes  und  eine 
innigere  Verbindung  zwischen  Volk  und  Heer  ab 
(Linie  mit  stark  verkürzter  Dienstzeit,  Bürgerwehr, 
militärischer  Unterricht  in  den  Schulen,  Abschaffung 
der  Garde  und  der  Kadettenhäuser).  Der  Sohn 
grübelt  derweilen  über  die  Demokratisierung  der 
Rechtsinstitute.  Öffentlichkeit  und  Mündlichkeit  des 
Strafprozesses  ist  nur  ein  Anfang.  „Das  Recht,  wie 
es  doch  seine  Natur  verlangt,  wieder  vollständig  in 
Volksbewußtsein  und  Sitte  wurzeln,  daher  sein  leben- 
diges Bestehen  und  seine  gute  Fortbildung  nehmen 
zu  lassen,  das  ist  freilich  das  Ziel,  in  welchem  alle 
einig  sind."  Die  beginnende  Wiederbelebung  des 
Adels  ist  ihm  ein  Abscheu.  Er  ist  mit  den  Demo- 
kraten, „die  durch  Eifer  und  Talent  ihre  Zahl  ver- 
doppeln", erbittert  über  den  „krassen  Egoismus  der 
hiesigen  Patrizierfamilien",  und  er  legt  das  Bekenntnis 
ab:  „Ich  glaube  jetzt  an  den  Sieg  der  Freiheit  in  der 
Demokratie  so  fest  wie  an  mein  eigenes  Dasein  und 
nicht  minder  daran,  daß  wir  nicht  wie  Frankreich 
58  Jahre  mit  fünf  Revolutionen  mit  Strömen  von  Blut 

551 


zu  demselben  werden  nötig  haben."  (16.  Mai  1848.) 
Einen  Monat  später  ist  er  mit  der  Politik  der  äußersten 
Linken  in  Frankfurt  höchst  unzufrieden,  deren  Ziele 
er  sich  doch  zu  eigen  macht: 

„Schade  ist  es  immer,  daß  sich  so  kräftige  Persön- 
lichkeiten wie  Hecker  und  Rüge  bislang  so  traurige 
Rollen  auferlegt  haben,  um  so  mehr,  als  man  doch 
jede  Stunde  mehr  sich  überzeugt,  daß  das  Prinzip 
der  linken  Partei  Deutschlands,  die  reine  Demokratie, 
und  damit  die  frühere  oder  spätere  Errichtung  der 
Republik  siegen  muß.  Was  ist  aus  der  Kaiseridee  ge- 
worden ?  Was  überhaupt  aus  den  Doktrinen  von  Gervi- 
nus  und  Dahlmann  ?  Ohne  Diskussion  sind  diese  Ge- 
danken eines  konstitutionellen  monarchischen  Ober- 
hauptes zu  Boden  gefallen,  und  doch  ist  es  an  sich  klar 
und  von  der  doktrinellen  Partei  evident  bewiesen, 
daß  ein  republikanisches  Haupt  und  monarchische 
Fürsten  sich  gegenseitig  nicht  dulden  können.  Wer 
aber  da  siegen  wird,  scheint  mir  trotz  aller  äußerer 
Eventualitäten  bei  der  in  geometrischer  Progression 
täglich  wachsenden  Energie  des  demokratischen  Geistes 
keinen  Augenblick  zweifelhaft.  Umsonst  hat  die  Neme- 
sis der  Geschichte  nicht  auf  fast  alle  Throne  Europas 
und  speziell  Deutschlands  Fürsten  gesetzt,  entweder 
an  Geist  oder  an  Willen  oder  auch  an  beiden  unfähig 
für  die  Bewältigung,  und  wäre  es  auch  nur  eine  mo- 
mentane, der  heutigen  Bewegung."  (23.  Juni  1848.) 

Er  eilt  im  Sommer  1848  nach  Frankfurt,  hört  in 
fiebernder  Erregung  die  Verhandlungen  in  der  Pauls- 
kirche und  denkt  daran,  in  das  Reichsministerium  des 
Äußeren  zu  treten,  wie  der  junge  Chlodwig  von  Hohen- 
lohe, ohne  sich  doch  ganz  die  Laufbahn  in  Hannover 
verderben  zu  wollen.  Der  Septemberaufstand  zerstört 
den  Plan  Bennigsens;  er  kehrt  im  Herbst  in  die  Osna- 
brücker Gerichtsstube  zurück.  In  Hannover  vollzieht 
sich  eine  radikale  Beseitigung  der  Junkerherrschaft. 
Die  erste  Kammer,  bisher  die  unumschränkte  Domäne 

352 


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der  Ritter,  wird  eine  „zweite  zweite"  Kammer,  in  der 
die  Bauern  die  Mehrheit  haben.  Trotzdem  ist  sein 
Radikalismus  nicht  befriedigt.  In  verzweifelnder 
Resignation  und  doch  zukunftsgläubig  sieht  er  die 
neue  Erde  wieder  im  Nebel  verschwinden.  Sein  enger 
Beruf  ekelt  ihn;  wird  er  doch  täglich,  stündlich  daran 
erinnert,  „daß  eine  Welt  in  Trümmer  geht,  in  der  man 
doch  lebte,  wenn  man  sie  auch  haßte".  Der  Sieg 
kommt  nicht  so  rasch.  „Sind  wir  doch  nur  die  vor- 
dersten Linien  eines  stürmenden  Heeres,  und  erst 
wenn  wir  mit  unseren  Leibern  den  Graben  ausgefüllt 
haben,  wird  es  der  nachdringenden  Generation  ge- 
lingen, über  uns  hinweg  die  Bresche  zu  nehmen.  Den 
Staat  der  Liebe  sollen  wir  gründen  helfen,  und  unsere 
Waffen  sind  der  Haß,  unser  Ziel  die  Vernichtung. 
Und  alle  träumten  doch  so  schön,  die  Alten  von  ihrer 
demokratischen  Monarchie,  die  alles  versöhnen,  und 
die  Jungen  von  der  sozialen  Republik,  die  den  Himmel 
auf  Erden  verwirklichen  sollte.  Aber  das  Register 
hatte  ein  Loch."  Den  deutschen  Fürsten  und  Aristo- 
kraten sei  es  ebensowenig  ernst  mit  einer  konstitu- 
tionellen Monarchie,  wie  Ludwig  XVI.,  und  trotz 
Louis  Blanc  und  G.  Sand  sei  der  gemeine  Mann 
ebenso  roh  wie  die  mittleren  und  höheren  Klassen. 
Seine  Bekannten  wollten  von  seinen  radikalen  Grund- 
sätzen nichts  wissen,  und  mit  den  Osnabrücker  Radi- 
kalen möchte  er  wieder  nichts  zu  tun  haben,  da  sie 
an  Engherzigkeit  und  Roheit  ihresgleichen  suchen, 
klagt  er  der  Mutter  am  4.  November  1848. 

In  düsterster  Volksfeindstimmung  beendigt  er  das 
Jahr  der  zertrümmerten  Verheißungen: 

„In  unseren  deutschen  Angelegenheiten  sehe  ich 
auch  täglich  schwärzer.  Der  Enthusiasmus  ist  überall 
verflogen,  und  der  Bodensatz,  der  geblieben,  stinkt. 
Trunkene  Reformatoren  und  jugendliche  Helden 
haben  wir  gehabt,  und  den  Intriganten  und  Jesuiten 
sind  wir  wieder  in  die  Hände  geraten.  Nüchtern  ist 


33  Bim  er,  Gesammelt«  Schrift«.  I. 


353 


man  geworden;  aber  der  Katzenjammer  ist  noch  keine 
Klarheit.  Und  dazu  als  breiteste  demokratische  Basis 
unser  deutsches  Gelehrten-  und  Philistertum!  Man 
könnte  rasend  werden  . .  .  Wenn  uns  nicht  bald  große 
Ereignisse  packen  und  zusammenschütteln,  daß  wir 
etwas  munter  und  frisch  werden,  so  liefern  wir  mit 
allen  Märzerrungenschaften  nichts  als  den  aller- 
elendesten  Abklatsch  des  16.  und  17.  Jahrhunderts. 
So  ein  Stück  dreißigjährigen  Krieges,  im  Lichte  der 
neuesten  Zeit.  Wie  würden  unsere  Nachbarn  Chorus 
machen:  Hot  Österreich,  hü  Preußen,  faß  ihn,  Pro- 
testant, pack  ihn,  Katholik !  Für  diese  dicken,  dummen 
deutschen  Schädel  ist   nichts  unmöglich." 

Im  März  1849,  nach  der  Frankfurter  Kaiserwahl, 
zuckt  die  Hoffnung  wieder  empor,  um  bald  wieder 
für  immer  zu  verlöschen.  Schon  taucht  das  national- 
liberale  Dogma  auf  „von  dem  Grundübel  der  Deut- 
schen, dem  eigensinnigen  Beharren  auf  der  sofortigen 
und  vollständigen  Verwirklichung  ihrer  Prinzipien". 
Noch  aber  ist  er  gegen  die  Gemäßigten.  Unerbittlich 
werde  die  Geschichte  die  ins  Deutsche  übertragenen 
Girondiers  richten,  die  sich  so  jämmerlich  in  der  Natur 
der  deutschen  Fürsten  getäuscht,  die  in  feiger  Ver- 
zweiflung den  Platz  verlassen,  auf  den  das  deutsche 
Volk  sie  gestellt.  „Ich  hasse  diese  Männer,  und  doch 
sehe  ich  klar,  daß  nur  mit  ihrer  Hilfe  Deutschland  zu 
retten  ist."  Und  zum  erstenmal  schaut  er  klarer  in 
den  sozialen  Urgrund  der  Dinge:  „Was  bedeuten  heut- 
zutage das  absolute  Veto,  die  Monarchie  selbst,  wo 
in  der  nächsten  Zukunft  ein  zufälliges  Ereignis,  ein 
paar  Mißernten  oder  irgendein  an  sich  gänzlich 
äußerlicher  Umstand  einen  sozialen  Kampf  hervor» 
rufen  kann,  in  dem,  so  roh  und  aller  oragnisierenden 
Kraft  bar,  wie  die  sozialen  Lehren  bis  jetzt  noch  sind, 
alle  Kultur  und  Menschlichkeit  zugrunde  gehen 
müßte."  (22.  Mai  1849.)  »»Auf  die  niederträchtigen 
preußischen  Mittelklassen  mit  ihrer  besonnenen  Bettel- 

354 


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Weisheit"  kann  er  im  Juni  1849  nicht  mehr  rechnen, 
und  wie  in  einer  Ahnung  seines  eigenen  späteren 
Schicksals  spottet  er  über  die  „politischen  Handlanger, 
die  ewig  nur  von  einem  Tage  zum  anderen  leben", 
über  die  „Politik  des  fait  accompli".  Ja,  er  weiß  auch 
die  letzte  Ursache  deä  Scheiterns  der  Revolution: 
„Da  kam  die  Furcht  vor  der  roten  Anarchie,  und  die 
ewige  Halbheit  und  süßliche  Gutmütigkeit,  alles  läuft 
davon;  die  großen  liberalen  Blätter  liebäugeln  mit  der 
Frankfurter  Verfassung  links  und  den  Berliner  Pro- 
jekten rechts." 

Sein  Abschied  von  der  Revolution  ist  bitter.  Er 
sagt  allen  Hoffnungen  auf  Freiheit  und  politische 
Macht  in  Deutschland  Lebewohl.  „Denn  was  die 
Regierungen  von  geschenkter  Freiheit  halten,  wenn 
an  die  Stelle  der  Furcht  bei  ihnen  die  Verachtung 
getreten  ist,  haben  wir  doch  zur  Genüge  gesehen." 
(9.  Juni  1849.) 

III. 

Auf  den  unerhörten  Aufschwung  des  Revolutions- 
jahrs —  mehr  ein  Aufschwung  des  Gefühls  als  der 
Tat  —  folgt  die  trostlose  Zeit  der  reaktionären  Starre, 
in  der  alles  Hoffen  versiegt  und  alles  Handeln  polizei- 
lich verboten  ist.  Der  unpolitische  Deutsche  pflegt 
sich  in  politischen  Perioden,  ohne  sonderliche  Ungeduld 
und  Qual,  in  Philosophie,  Kunst  und  Familienkultus 
zu  flüchten.  So  folgen  auch  bei  Bennigsen  auf  revolu- 
tionäre Ergüsse  gänzlich  unpolitische  Liebesbriefe  an 
die  Verlobte,  die  bald  sein  Eheweib  ward;  Briefe  von 
einer  eigentümlichen  kühlen  Zartheit,  ohne  leiden- 
schaftliche Ausbrüche,  mehr  Umschreibungen  des 
bürgerlichen  Rechts  als  Offenbarungen  innerster 
Empfindungsglüt.  Es  sind  —  fast  möchte  man  voraus- 
nehmend sagen  —  nationalliberale  Liebesbriefe.  Sie 
kennzeichnen  in  der  Tat  auch  den  Politiker  und  seine 
Partei :  Die  große  revolutionäre  Phantasie,  die  Grund* 

»3-  355 


bedingung  des  starken,  geschichtlich  wirkenden  Gei- 
stes, das  Ungestüm,  das  brennende  Hirn  in  der  Ver- 
wirklichung seiner  verzehrenden  Gebilde  zu  löschen, 
ist  ihm  fremd.  Der  Mann,  der  einmal  Raimunds 
Märchen-  und  Zauberspiele  „scheußlichen  Unsinn" 
nennt  —  nach  zwei  Akten  vom  „Bauer  als  Millionär" 
wurde  ihm  übel  und  er  ergriff  die  Flucht  — ,  hatte 
nichts  von  einem  Romantiker.  Aber  vielleicht  gerade 
deshalb  war  er  auch  niemals  das,  was  er  sein  wollte, 
ein  Realpolitiker.  Indem  er  immer  auf  Gelegenheiten 
lauerte,  ergriff  er  keine.  Sein  jugendlicher,  demo- 
kratisch und  selbst  sozialistisch  gefärbter  Radikalismus 
wandelte  sich  schnell  in  einen  staatsmännischen  Libe- 
ralismus, der  idealer  Zielgedanken  nicht  entbehrte. 

Bennigsen  wird  der  Gründer  der  ersten  großen 
Parteibildung  in  Deutschland,  des  Nationalvereins, 
er  ist  sein  Präsident  von  Anfang  bis  zum  Ende,  und 
er  steht  an  seinem  raschen,  ruhmlosen  Grabe,  wie  an 
seiner  hoffenden  Wiege.  Der  deutsche  Liberalismus 
vor  den  Bismarckschen  Kriegen  hat  noch  politisches 
Feuer,  aber  es  genügt  gerade  nur,  um  die  Öffentliche 
Meinung  ein  wenig  anzuwärmen  und  im  übrigen 
seinem  Todfeind,  Bismarck,  damit  das  Brennmaterial 
zu  liefern,  mit  dem  er  Deutschland  anzündete,  um 
Preußen  auszubauen;  mit  dem  er  das  liberale  Bürger- 
tum ausräucherte,  um  die  dynastische  Junkerherrschaft 
des  Ostens  zu  verewigen. 

Von  allem  geschah  das  Gegenteil  des  Erstrebten: 
Das  war  das  Schicksal  des  deutschen  Liberalismus 
und  Bennigsens.  Einmal  —  1866,  am  Vorabend  des 
deutschen  Krieges  —  trat  an  ihn  das  Angebot  regie- 
render Macht  heran,  aber  in  der  Form  einer  schamlos 
entehrenden  Bismarckschen  Aufforderung  zum  Hoch- 
und  Landesverrat;  für  solche  Dienste  war  Bennigsen 
nun  wieder  zu  wohlanständig.  Und  ab  schließlich  der 
Traum  seines  Lebens  sich  erfüllte,  die  deutsche  Ein- 
heit, da  war  es  doch  gerade  nur  das  verhaßte  und  be- 

356 


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kämpfte  Großpreußen  ohne  Freiheit,  und  Bennigsen 
selbst  und  seine  National  vereinler  waren,  wie  er  in 
einem  Brief  vom  26.  Juli  1866  schrieb,  in  dem  ent- 
scheidenden Augenblick  nicht  die  Sieger,  sondern  unter 
den  Zuschauern. 

In  den  wirren,  ohnmächtigen  und  zielzittrigen  Stre- 
bungen des  Nationalvereins  erkennt  Bennigsen  wohl 
bisweilen  die  Ursache  aller  Mißerfolge,  und  er  sehnt 
sich  nach  der  Hilfe  der  großen  starken  Volksmasse  der 
Besitzlosen,  aber  er  beruhigt  sich  doch  immer  gleich 
wieder  bei  jener  redefrohen  und  kongreßlustigen 
Politik,  die  nicht  einmal  bürgerliche  Klassenpolitik  ist, 
sondern  nur  betriebsame  Honoratiorenpolitik.  Er 
schilt  über  dieses  feige,  unlustige,  zu  keinem  Opfer 
fähige  deutsche  Bürgertum,  aber  er  geht  über  seine 
Grenzen  nicht  hinaus.  Er  sieht  wohl  das  schnelle 
Ende  aller  rein  demonstrativen  Politik,  die  bald  die 
Grenze  der  Steigerungsmöglichkeit  und  damit  des 
Erfolges  erreicht,  aber  er  stürmt  doch  nur  —  von 
Demonstrationen  zu  Demonstrationen.  So  ist  der 
Liberalismus  von  Anbeginn  der  Lärm  eines  Dinges, 
das  im  Grunde  nicht  existiert.  Nur  eins  mag  ihm 
in  seinen  Anfängen  zum  Ruhm  dienen:  seine  An- 
hänger wurden  verfolgt  und  sie  hielten  den  Ver- 
folgungen stand  .  .  . 

Die  preußische  Reaktion,  die  nach  Hannover  über- 
greift, begleitet  Bennigsen  zunächst  mit  brieflichen 
Flüchen.  Er  versteht  die  Schandtaten  der  preußischen 
Machthaber;  „der  Ärger,  vor  einem  so  feigen  Gesindel 
—  den  „konstitutionellen  Helden"  — ,  das  freilich 
die  Peitsche  täglich  verdient  und  freudig  empfängt, 
jemals  gezittert  zu  haben,  mag  groß  genug  sein", 
schreibt  er  Anfang  1850  an  die  Mutter.  Eher  werde 
der  Prinz  von  Preußen  eine  Palastrevolution  machen, 
„als  die  preußische  konstitutionelle  Partei  mit  ihrer 
langweiligen  Philist erhaftigkeit  und  überklugen  Feig- 
heit das  Verständnis  erhält,  daß  man  nach  einem 


357 


jahrelangen  Nachgeben  wenigstens  in  der  einen  Stunde 
eine  so  wohlfeile  Festigkeit  zeigen  muß,  wo  es  .  .  . 
alles  zu  gewinnen  und  gar  nichts  zu  verlieren  gibt'*. 
Aber  man  brauche  ihnen  nur  mit  dem  Arnim  und 
Gerlach  zu  drohen:  „Wartet  nur!  Seid  artig,  oder  der 
Butzemann  kommt!  Und  sie  waren  artig."  —  Die 
ewige  liberale  Furcht  vor  der  noch  schlimmeren 
Reaktion!  Bald  sollte  Bennigsen  selbst  mit  dem  „Ge- 
sindel" Politik  treiben  müssen. 

Noch  sieht  er  bisweilen  den  Sieg  der  freilich  schon 
geläuterten  Revolution  voraus.  Der  fürstliche  Wahn- 
witz wird  in  wenigen  Jahren  auch  die  ruhigsten 
Männer  zur  Verzweiflung  und  Leidenschaft  und  an 
die  Seite  der  Partei  treiben,  welche  vor  Jahren  aller- 
dings zum  großen  Teil  aus  unreifer  Jugend,  blinder 
Wut  und  entfesselter  Roheit  zusammengesetzt  war, 
die  aber  dann  auch  gewiß  durch  äußere  und  innere 
Erfahrungen  gekräftigt  und  geläutert  den  Kampf 
beginnen  und  den  Sieg  festhalten  wird.  (i.  Juli  1850.) 

Drohender  klingt  es  am  Ende  des  Jahres  aus  Bennig- 
sens Briefen:  „Die  Ruhe  unserer  europäischen  Kön:gs- 
geschlechter  über  so  viel  Gräbern  soll  nicht  durch 
böse  Erinnerungen  und  Träume  allein  gestört  werden. 
In  höchstens  einem  Dutzend  Jahren  wird  es  ja  wohl 
wieder  gewittern  und  dreinschlagen,  und  von  uns 
Jüngeren  schwören  täglich  mehrere  im  stillen,  daß 
man,  einerlei  ob  Konstitutioneller  oder  Radikaler, 
durch  elende  Versprechungen  im  Augenblicke  der 
Furcht  sich  nicht  wieder  täuschen  lassen  wird.  Man 
wird  die  ganze  Gesellschaft  nach  Amerika  schicken 
und  nachher  sich  zu  einigen  suchen,  ob  man  sich  einen 
König  oder  Präsidenten  setzen  will." 

Doch  diese  königsmörderischen  Stimmungen  ver- 
ebben mit  den  Jahren,  und  ein  halb  Jahrhundert 
später,  beim  Jubiläum  der  Revolution,  war  es  Bennig- 
sen, der  gegen  Bebels  Verherrlichung  der  Märztage 
im  deutschen  Reichstage  auftrat! 

358 


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Die  äußeren  Schicksale  Bennigsens  zeigen  den  Mann 
von  Charakter.  Er  wird  Richter  und  Staatsanwalt 
(1850 — 1856};  einsam  und  unbefriedigt  in  klein- 
städtischer Enge.  Die  Reaktion  lastet  auf  seinem 
Gemüt.  Scharf  erkennt  er  im  konterrevolutionären 
Preußentum  den  klerikalen  Grundzug.  Alle  Re- 
aktion in  der  modernen  Zeit  ist  irgendwie  klerikal. 
„Tut  Buße,  kreuzigt  eure  Vernunft  und  fallet  vor 
uns  nieder,  predigen  die  Jesuiten  schon  am  Rhein, 
in  Münster,  in  Osnabrück.  Das  protestantisch  pieti- 
stische Gesindel,  welches  freilich  der  Kreuzigung  der 
Vernunft  überhoben  bleibt,  drängt  sich  zu  ihren 
Predigten  .  .  .  Und  der  preußische  Minister  lächelt 
blödsinnig  über  die  Niederlagen  der  Revolution  und 
bereichert  die  Literatur  mit  albernen  Gleichnissen 
und  Noten,  während  die  „Kreuzzeitung"  lehrt,  daß 
die  Zeit  erfüllt  ist  und  die  Rückkehr  in  den  Schoß 
der  alleinseligmachenden  Kirche  kommt.  Die  Träume 
der  Romantiker  und  die  Phantasien  von  Radowitz 
erhalten  Form  und  Wirklichkeit.  In  dem  einen 
Jesuitenorden  ist  wieder  mehr  Wille  und  Kraft  als 
in  sämtlichen  protestantischen  Regierungen  .  .  .  Was 
seine  Macht  nicht  tut,  bewirkt  der  entsetzliche  Taumel 
und  jene  angstvolle  Verblendung,  die  in  einer  Zeit, 
wo  die  Reiche  zerfallen,  die  Kirchen  sich  auflösen,  wo 
den  Gesetzen  die  Furcht  und  dem  Glauben  die  Hoff- 
nung genommen  ist,  alle  Menschen  überwältigte, 
welche  den  festen  Halt  nicht  in  sich,  sondern  nur  in 
äußeren  Schranken  und  Mächten  tragen."  So  schreibt 
er  1851  an  die  Mutter.  Aber  solche  briefliche  Ge- 
ständnisse eines  aufrechten  Liberalismus  hindern  ihn 
doch  wieder  nicht,  recht  peinliche  Adelsvorrechte  für 
seine  hannoversche  Laufbahn  eifrig  nutzbar  zu  machen. 
Staatsanwalt  in  Hannover,  geht  er  aus  Gründen  poli- 
tischer Unabhängigkeit  in  das  Richtertum  über  — 
nach  Göttingen.  Er  neigt  zur  Menschenfeindschaft, 
verliert  die  Lust  an  Leben  und  Wissenschaft.  Er  tritt 


359 


nicht  öffentlich  hervor.  Die  hannoversche  Reaktion 
begleitet  er  zunächst  nur  als  zorniger  Beobachter. 
Dann  aber  wird  er  in  die  Verfassungskämpfe  seines 
Heimatstaates  hineingestoßen,  unfreiwillig,  und  nun 
wächst  er  rasch  zum  tapferen  Vorkämpfer  des  Libera- 
lismus empor,  wird  der  anerkannte  Führer  im  Parlament 
und  in  der  Parteibewegung,  gehört  zu  den  volkstüm- 
lichsten Gestalten  der  bürgerlichen  Opposition  in 
Deutschland  und  gewinnt  europäischen  Ruf.  Als  die 
Regierung  ihm  nicht  erlaubt,  sein  Mandat  in  der 
Ständeversammlung  auszuüben  —  das  soeben  ok- 
troyierte Wahlgesetz  forderte  für  die  Beamten  solche 
Erlaubnis  — ,  zieht  er  entschlossen  die  letzte  Konse- 
quenz, scheidet  aus  dem  Staatsdienst  aus  (1856)  und 
widmet  sich  der  Bewirtschaftung  seines  Familiengutes. 
Seitdem  ist  er  ein  unabhängiger  Landwirt. 

Die  hannoversche  Reaktion  ist  ein  Werk  des  deut- 
schen Bundes,  der  dort  die  vorher  beseitigte  Adels- 
herrschaft gewaltsam  wiederherstellte,  gerufen  von 
einem  geistig  verwirrten  Gottesgnädling  auf  dem 
Throne!  Es  ist  der  Fluch  der  deutschen  Einheit,  daß 
ihre  Form  immer  ohnmächtig  zu  allem  Guten  und 
Freien  war,  dagegen  stets  brutal  in  der  Exekution  der 
Unterdrückung  und  des  Rückschritts.  Der  preußische 
Bundesrat  des  Deutschen  Reichs  hat  in  dieser  Hin- 
sicht das  Erbe  des  seligen  Bundes  angetreten:  Die 
nationale  Konzentration  als  Werkzeug  reaktionärer 
Absonderung! 

In  den  parlamentarischen  Kämpfen  verteidigt  Bennig- 
sen mit  besonderer  Energie  die  völlige  Unabhängig- 
keit der  Beamten.  „Man  will  diesen  unteren  Organen" 
—  ruft  er  dem  Minister  v.  Borries  entgegen  —  „alle 
eigene  Meinung,  Freiheit  und  Selbständigkeit  nehmen 
und  sie  unbedingt  der  Willkür  der  konzentrierten 
Organe,  speziell  des  Ministerii,  preisgeben."  Er  weist 
auf  das  Beispiel  Frankreichs  hin:  „Was  nutzten  die 
Maschinen,  zu  denen  man  die  Staatsdiener  herab- 

360 


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gewürdigt  hatte,  als  es  ernstlich  darauf  ankam,  die 
Monarchie  zu  stützen  ?"  Die  Charakterfestigkeit,  die 
freudige  Erfüllung  der  schwierigen  Pflichten  müsse 
für  den  Beamtenstand  verloren  gehen,  wenn  man 
von  ihm  verlange,  sich  den  Ansichten,  den  wechselnden 
Ansichten  der  Regierung  stets  unterzuordnen,  wenn 
man  ihm  den  Stolz  nehme,  selbständig  zu  handeln, 
wenn  man  ihn  darauf  hinweise,  politische  Belohnungen 
zu  suchen,  politische  Strafe  zu  fürchten.  Er  fordert 
die  Vereidigung  der  Beamten  auf  die  Verfassung,  die 
nicht  Bediente  des  Königs  sein  dürfen. 

Bennigsens  hannoversche  Opposition  ist  durchaus 
radikal.  Er  verweigert  dem  Staat  1857/58  die  Aus- 
gaben für  Kasernenbauten,  weil  es  sich  bei  derartigen 
Bewilligungen  um  die  Gesamtheit  des  politischen 
Systems  handelt,  dem  das  Volk  Opfer  zu  bringen  hat. 
Er  greift  die  Politik  der  Pfaffen,  der  „kleinen  Nach- 
folger eines  großen  Apostels"  an,  die  sich  als  diejenigen 
darstellen,  „welche  allein  den  Zorn  und  das  Gericht 
Gottes  zu  verwalten  haben".  Er  verteidigt  das  Recht 
auf  Revolution:  Die  Inhaber  der  Gewalt  verzichten 
nie  freiwillig  auf  sie.  Man  muß  sie  ihnen  entreißen. 
Wenn  man  derartige  zwingende  Verhältnisse  als  ein 
Unrecht  auffasse,  so  hebe  man  damit  die  Möglichkeit 
aller  geschichtlichen  Entwicklung  der  rechtlichen  und 
politischen  Verhältnisse  auf,  man  gebe  sich  dem 
Dogma  unpraktischer  Stubengelehrter  hin,  demzufolge 
lediglich  die  Gewalt  der  Stärkeren  über  den  Schwä- 
cheren bestimmend  sei.  Bennigsen  tritt  für  die  Bürger- 
wehr ein.  Wenn  die  Regierung  so  wenig  Vertrauen 
im  Volke  genieße,  daß  man  sich  scheuen  müsse,  Waffen 
in  den  Händen  der  Bürger  zu  sehen,  dann  werde 
doch  alles  gar  nichts  helfen. 

IV. 

Die  große  europäische  Krisis  des  Jahres  1859,  in 
der  die  Marx,  Engels,  Lassalle  den  Weg  des  Sozialis- 


361 


mus  und  der  Demokratie  kündeten,  gedeiht  für 
Bennigsen  zur  Schöpfung  der  Partei  des  Liberalismus. 
Der  National  verein  wird  begründet. 

Die  große  Auseinandersetzung  zwischen  Frankreich 
und  Österreich  im  Jahre  1859  brachte  alle  deutschen 
Fragen  in  Fluß.  Die  aufsteigende  Bourgeoisie  bedurfte 
für  wirtschaftliche  Zwecke  der  politischen  Einheit. 
Darüber  herrschte  Übereinstimmung.  Nur  über  Form 
und  Mittel  gingen  die  Meinungen  immer  weiter  aus- 
einander. Sollte  Österreich  ein-  oder  ausgeschlossen 
werden?  Sollte  es  die  Führung  übernehmen?  War 
Süddeutschland  einzubeziehen  ?  Oder  mußte  man 
sich  vorerst  mit  der  Einigung  Norddeutschlands  be- 
gnügen? Einheitsstaat  oder  föderative  Verfassung? 
Monarchie  oder  Republik  ?  Preußische  Spitze  oder 
rheinbundähnliche  Organisationen  mit  süddeutschem 
Übergewicht  ?  Einheit  oder  Freiheit  oder  beides 
zugleich  oder  in  welcher  Rangordnung,  erst  die  Freiheit, 
dann  die  Einheit  oder  umgekehrt  ?  Zwei  Strömungen 
sonderten  sich :  Die  großdeutschen  Einheitsbestrebun- 
gen, demokratisch  süddeutsch,  alle  deutschen  Stämme 
umfassend.  Die  großpreußische  Bewegung,  nord-  und 
mitteldeutsch,  liberalisierend,  bundesstaatliche  Ver- 
fassung mit  gemeindeutschem  Parlament  und  preu- 
ßisch-monarchischem Oberhaupt.  Die  großpreußische 
Bewegung  fand  in  der  1859  erfolgten  Gründung  des 
Nationalvereins  ihre  Parteiorganisation.  Aber  unter 
den  Leuten  des  Nationalvereins  war  man  wiederum 
in  keiner  Frage  einig.  Nur  das  Ziel  irgendeiner  Einheit 
stand  fest.  Mit  den  Vokabeln  Einheit  und  Freiheit 
wurde  jongliert,  und  die  Freiheit  ließ  man  gern  auf  den 
Boden  rollen  —  Jongleur  und  Parodist  komischen  Un- 
geschicks zugleich.  Auch  über  die  preußische  Vormacht- 
stellung war  man  sich  ziemlich  einig,  nur  wollte  man 
mit  dieser  Ehre  nicht  das  wirkliche,  das  reaktionäre,  ver- 
junkerte  und  verpfaffte  Preußen  betrauen,  sondern  ein 
ideales  Preußen,  das  man  aus  Illusionen  auferbaute. 


362 


Der  Nationalverein  begann  seine  die  Gründung  vor- 
bereitende Tätigkeit  mit  jener  Erklärung,  die  Preußen 
mit  allen  schönen  Aufgaben  vertrauensvoll  belehnte: 
„Möge  Preußen  nicht  länger  zögern,  möge  es  offen 
an  den  patriotischen  Sinn  der  Regierungen  und  den 
nationalen  Geist  des  Volkes  sich  wenden  und  schon  in 
nächster  Zeit  Schritte  tun,  welche  die  Einberufung 
eines  deutschen  Parlaments  und  die  mehr  einheitliche 
Organisation  der  militärischen  und  politischen  Kräfte 
Deutschlands  herbeiführen,  ehe  neue  Kämpfe  in  Eu- 
ropa ausbrechen  und  ein  unvorbereitetes  und  zersplit- 
tertes Deutschland  mit  schweren  Gefahren  bedrohen.*4 
Eine  Erklärung,  die  auf  Preußen  den  Eindruck  machte, 
daß  der  Versuch  unternommen  werden  könnte,  ein 
paar  einflußreiche  nichtpreußische  Politiker  für  Preu- 
ßen zu  kaufen;  Preußen  treibt  ja  seit  jeher  den  Ankauf 
nichtpreußischer  Geheimagenten  im  großen  Stil. 
Mit  Bennigsen  wurde  durch  den  Staatsrechtslehrer 
Karl  Aegidi  verhandelt,  der  bis  in  unsere  Tage  als 
zählebiges,  preußisches  Reptil  wirkte.  So  viel  wurde 
erwirkt,  daß  man  mit  den  preußischen  Liberalen 
Fühlung  bekam.  Zudem  wendete  das  herrschende 
Preußen  den  anderen,  immer  wiederholten  Trick  an, 
liberal  zu  schillern.  Auf  die  wilhelminische  „neue 
Ära"  und  den  „völligen  Umschwung"  nach  den  Toll- 
hauszeiten Friedrich  Wilhelms  IV.  fielen  alle  liberalen 
Gründlinge  gründlich  herein.  In  der  hannoverschen 
Ständeversammlung  feierte  damals  Bennigsen  das  neue 
Preußen,  das  die  Ideale  von  1848  praktisch  durch- 
führe. Schon  seien  Konstitutionelle  und  Demokraten 
einig.  Aber  auf  diese  radikalen  Preußenträume  ant- 
wortete der  Minister  v.  Borries  (nicht  mit  Unrecht),  das 
seien  alles  Utopien,  und  dazu  strafwürdige  Utopien, 
weil  man  an  die  Massen  bis  zu  den  „unteren  Hand- 
werkerklassen" hinab  appelliere. 

Der  Koburger  Herzog  Ernst,  der  dem  National- 
verein   als    gefürsteter    „Volkstribun"  betriebsam, 


363 


eitel  und  ungeschickt  'voranmarschierte,  wollte  ur- 
sprünglich einen  straff  zentralisierten  Geheimbund 
organisieren.  Aber  die  Männer  des  Nationalvereins 
wollten  in  der  Mehrzahl  loyale  Untertanen  bleiben. 
So  wurde  er  als  öffentlicher  Verein  gegründet.  Mit 
Bismarck,  dem  Erzjunker,  versuchte  man  vergebens 
anzuknüpfen.  Bald  sollte  der  Sturz  Bismarcks,  als 
Vorbedingung  jeden  Einheitskampfes,  die  lauteste 
und  wirksamste  Losung  der  Nationalvereinler  werden. 
Und  Bismarck  hatte  man  in  Verdacht,  daß  er  bereit 
sei,  die  nationale  Todsünde  zu  begehen  und  das  linke 
Rheinufer  an  Frankreich  auszuliefern,  um  sich  in 
Norddeutschland  zu  arrondieren.  Der  bekannte  Pro- 
fessor Biedermann  beruft  sich  in  einem  Brief  an 
Bennigsen  vom  Februar  1860  auf  derlei  Pariser  Infor- 
mationen. Es  sei  darüber  schon  mit  „gewissen  diplo- 
matischen Persönlichkeiten  (nicht  unmittelbar  im 
Ministerium,  aber  demselben  nahestehend)  korre- 
spondiert worden".  Damit  war  Bismarck  gemeint. 
Bismarck  selbst  hat  das  als  eine  vom  Koburger  Herzog 
ausgehende  Verleumdung  bezeichnet.  Bennigsen  je- 
doch war  von  der  Richtigkeit  der  Meldung  überzeugt, 
sie  hätte  übrigens  auch  nur  der  hundertjährigen  Tra- 
dition preußischer  Politik  entsprochen. 

Die  großdeutschen  Demokraten  bekämpfen  die 
Gothaer:  „Unland  ist  mehr  für  Österreich  und  hat 
den  Beitritt  abgelehnt  .  .  .  Auch  jetzt  spukt  die 
rote  Demokratie  wieder  allenthalben.  Vogt  in  Genf  .  .  . 
empfiehlt  jetzt  einen  Bund  der  Republiken  und  arbei- 
tet gegen  den  Nationalverein,  bei  dem  es  ihm  zu  ge- 
setzlich zugeht.  Er,  der  mit  fremdem  Gelde  nur 
aufwühlt,  um  keine  Saat  aufkommen  zu  lassen,  findet 
aber  Glauben  bei  vielen  .  .  ."  So  klagt  es  aus  einem 
Briefe  an  Bennigsen.  Aber  ebensowenig  Vertrauen 
haben  die  Regierungen  zum  Nationalverein.  Warnend 
künd:gt  Gustav  Freytag,  zugleich  Vertrauter  des  Ko- 
burgers,  preußischer  Agent  und  Nationalvereinler, 

364 


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die  Exekution  des  Vereins  durch  den  Bund  an.  Tat* 
sächlich  hat  es  ihm  nie  an  Verfolgungen  gefehlt,  vor 
allem  nicht  von  Preußens  Seite,  obwohl  die  leitenden 
Männer  des  Nationalvereins  immer  aufs  neue  zur 
„strengsten  Legalität"  auffordern  und  die  „radikalen 
Elemente"  zurückscheuchen. 

Die  Illusionen  von  preußischer  Freiheit  zerstieben 
bald,  doch  bleibt  die  „preußische  Spitze"  als  Dogma 
des  National  Vereins.  Man  entwirft  Programme  und 
Resolutionen:  Deutsche  Einheit  unter  der  Führung 
eines  befreiten  Preußens.  Auf  ein  Ideal  mehr  oder 
weniger  kam  es  so  genau  nicht  an.  Schon  1860  schreibt 
Bennigsen  von  dem  „beschränkten  spezifischen  Preu- 
ßentum",  von  seiner  „unfähigen,  erbärmlichen  Diplo- 
matie". In  Berlin  findet  er  das  „alte  Lied  oder  Leid, 
Uberweisheit  oder  Beschränktheit  des  politischen 
Gesichtskreises  bei  den  älteren,  Mangel  an  Selbst- 
vertrauen, an  Beruf,  selbständig  aufzutreten,  seinen 
Ruf,  seinen  Einfluß  einmal  zu  riskieren,  bei  den 
jüngeren  Politikern,  das  Interesse  für  die  preußischen 
Krisen  ganz  vorherrschend,  das  Verständnis  und 
Pathos  für  Weltfragen  kaum  vorhanden  oder  zu  gering, 
um  zur  Tat  zu  treiben".  Die  angestammte  Regierung 
Bennigsens  aber  verhängte  die  Acht  über  alle  Männer 
des  Nationalvereins  und  spielte  geraume  Zeit  hin- 
durch mit  dem  Gedanken,  Bennigsen  wegen  Hoch- 
und  Landesverrats  zu  verfolgen.  Das  gelang  nicht. 
Dafür  ließ  man  den  strebsamen,  ehemaligen  preußi- 
schen Regierungsassessor  Oskar  Meding  (den  späteren 
Verfasser  vielgelesener  „zeithistorischer"  Kolportage- 
romane) eine  Schmähschrift  gegen  Bennigsen  ver- 
fassen, die  ihm  den  ewigen  deutschen  Vorwurf  wider 
jede  radikale  Politik  entgegenhielt:  er  habe  sich  „in 
dem  Dienste  der  Negation"  einen  wohlfeilen  Ruhm  zu 
erwerben  gesucht.  Bennigsen  wurde  darin  als  blutiger 
Umstürzler  behandelt:  „Wenn  Sie  .  .  .  mit  daran 
arbeiten,  dem  Bauernstande  seine  innere  und  äußere 


365 


Grundlage  zu  zerstören  und  an  die  Stelle  dieses  ge- 
sunden Kerns  der  staatlichen  Gliederung  ein  faules 
und  nichtsnutziges  Proletariat  zu  setzen,  so  werden 
Sie  freilich  —  im  Falle  des  Gelingens  —  ein  vortreff- 
liches Material  der  Revolution  geschaffen  haben  .  .  . 
Sie  haben  die  misera  contribuens  plebs  (die  besitzlose, 
steuerzahlende  Masse)  gegen  Adel  und  Beamtentum  ins 
Feld  geführt."  Meding,  der  eben  erst  Hannoveraner 
geworden  war,  wütete  ebenso  als  streng  hannöverscher 
Legitimist  wie  die  vielen  Nicht-Preußen,  die  preußisch 
wurden,  dann  sich  schwarz- weiß  überechrien;  man 
denke  an  den  Sachsen  Treitschke. 

Wie  bürgerlich  gemäßigt  immer  der  National  verein 
begann  —  er  radikalisierte  sich  erst  in  der  Konflikts- 
zeit — ,  so  erweckte  er  doch  die  Angst  der  deutschen 
Fürsten.  Das  Jahr  1848  war  noch  nicht  vergessen, 
und  das  Verlangen  nach  Wiederherstellung  der  Frank- 
furter Reichsverfassung  von  1849  dünstete  für  die 
höchsten  Herrschaften  den  Ludergeruch  der  Revolu- 
tion aus.  Als  der  ehemalige  preußische  Minister 
Heinrich  von  Arnim  1860  eine  Zusammenkunft  aller 
Abgeordneten  deutscher  Landtage  in  Heidelberg 
anregte,  schrieb  der  Prinzregent  von  Preußen,  Wilhelm, 
in  einem  Brief  an  den  Koburger  Herzog,  er  würde 
solchem  Plane  einer  Art  von  Vorparlament  bestimmt 
entgegengeschritten  sein,  „weil  dies  die  Repetition 
des  schmählichen  Anfanges  von  1848  gewesen  wäre 
und  wir  keine  Repetition  der  Volksbeglückung  von 
unten  herauf  brauchen  können".  Das  schrieb  der 
Heros  liberaler  Hoffnungen  Dabei  trat  das  Verlangen 
nach  der  Reichsverfassung  von  1849  erst  später  in  den 
Vordergrund,  als  sich  der  Nationalverein  dem  Kampf 
gegen  Bismarck  anschloß.  1860  ersuchte  Bennigsen 
seine  Freunde  noch  dringend,  „in  dieser  Sache  sich 
nicht  zu  weit  avancieren".  Das  Zustandekommen  der 
Reichsverfassung  ist  mit  so  erbärmlichen  Intrigen 
verknüpft.   Von  der  preußischen  Regierung  zurück- 

366 


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gewiesen,  von  der  Partei,  welche  sie  schuf,  im  Stich 
gelassen,  von  der  demokratischen  als  Vehikel  benützt 
zur  Erreichung  anderweitiger  Parteizwecke,  durch 
Kot  und  Blut  geschleift,  hat  sie  der  trüben  Erinnerun- 
gen und  gefährlichen  Bedenken  zu  viel,  um  große 
Chancen  zu  bieten,  unter  ihrer  Form  eine  Einigung 
zustande  zu  bringen." 

Von  den  deutschen  Fürsten  hofften  die  National- 
vereinler  nichts.  Sie  sind  österreichisch  und  preußen- 
feindlich gesinnt.  Bei  der  Zusammenkunft  der  deut- 
schen Fürsten  mit  Napoleon  III.  in  Baden-Baden 
(Sommer  1860)  machen  die  deutschen  Potentaten  vor 
dem  kleinen  Napoleon,  als  ob  er  der  große  gewesen 
wäre,  den  „untertänigen  Katzenbuckel,  wie  denn  zum 
Beispiel  der  König  von  Sachsen  im  Wagen  aufstand, 
um  zu  grüßen",  schreibt  Rochau  an  Bennigsen.  Dafür 
bemühten  sich  die  deutschen  Fürsten  um  Einschrän- 
kung des  Nationalvereins  und  seiner  „bouleversieren- 
den  Zwecke". 

Doch  worauf  stützte  sich  denn  nun  der  National- 
verein ?  Verfolgt  man  seine  Tätigkeit  an  der  ausführ- 
lichen Darstellung  des  Oncken-Werkes  in  all  seinen 
Kreuz-  und  Querzügen,  so  büßt  diese  erste  bürger- 
liche Parteibewegung  Ruhm  und  Glanz  völlig  ein. 
Es  sind  die  eifrigen  Leute  mit  Namen,  die  der  Reporter 
bei  großen  Leichen  zu  bemerken  pflegt,  die  ihre  Unter- 
schriften unter  gemeinnützige  Aufrufe  zu  setzen 
pflegen:  Höhere  Beamte,  Professoren,  Publizisten, 
einzelstaatliche  Parlamentarier,  Industrielle  bearbeiten 
unter  duodezfürstlicher  Protektion  die  öffentliche 
Meinung.  Sie  veranstalten  Kongresse,  Demonstra- 
tionen, Versammlungen;  halten  Reden  und  inspirieren 
Zeitungsartikel  (für  3500  Gulden  jährlich  bearbeitete 
man  auch  die  ausländische  Presse!).  Weder  haben  sie 
die  Einheit  der  Überzeugung  und  des  Ziels,  noch 
irgendeine  Klarheit  über  die  Mittel.  Das  Ganze  ist 
redselige  Ohnmacht.   Bennigsen  selbst  fühlt  tief  die 


367 


politische  Unfruchtbarkeit.  Was  seien  Verfassungen, 
die  man  durch  Verordnungen  umwerfen  könne!  Der 
neue  Versuch,  den  Kampfplatz  auf  däs  nationale 
Gebiet  zu  verlegen,  sei  recht  schwächlich  geblieben, 
„und  der  Rest  des  politischen  Kampfes  ist  —  selbst 
Preußen  nicht  ausgenommen  —  so  durchaus  unwahr 
und  verlogen  und  so  bar  allen  Ernstes,  welcher  Ent- 
scheidungen nicht  scheut  und  herbeizuführen  imstande 
ist  .  .  .",  schreibt  Bennigsen  Weihnachten  1860, 
zugleich  eine  Kritik  über  die  Tätigkeit  seines  National- 
vereins, für  den  er  doch  unermüdlich  arbeitet.  Schon 
zeigt  sich  auch  bereits  die  liberale  Klage  über  den 
schlechten  Ton  der  Leute,  der  ein  Zusammengehen 
hindere.  Diese  Klassengegensätze  innerhalb  der  libe- 
ralen Schichten  verkleiden  sich  von  Anbeginn  gern  als 
Anstandsregeln.  „Wir  können  mit  Leuten  nicht  um- 
gehen," schreibt  ein  Frankfurter  Gesinnungsgenosse  an 
Bennigsen,  „die  uns  fortwährend  feig,  Kretin,  Eunuch 
usw.  benennen  .  .  .  wir  halten  uns  für  zu  gut,  um 
mit  derartigen  Leuten  innig  zusammenzugehen." 
Und  dabei  waren  die  Nationalvereinler  zum  Teil 
Barrikadenkämpfer  von  1848! 

Schließlich  erwartete  man  alles  Heil  von  irgend- 
einem Umschwung  draußen,  in  der  Ferne,  der  ohne 
ihr  Zutun  wie  ein  Göttergeschenk  kommen  sollte. 
Irgendein  äußeres  Ungefähr  mußte  helfen.  Deshalb 
hatte  man  kriegerische  Stimmungen,  man  wollte  einen 
nationalen  Krieg.  Waren  einmal  die  Waffen  losgebun- 
den, so  würde  es  sich  auch  im  Innern  wandeln;  im 
Kriegstaumel  brauchte  man  sich  dann  auch  nicht  vor 
Schutzmann  und  Staatsanwalt  zu  fürchten.  Es  kam 
ja  dann  auch  die  Umwälzung  von  einem  Kriege,  aber 
gerade  einem,  den  sie  nicht  wollten,  von  dem  Bruder- 
krieg 1866,  in  dem  nicht  der  deutsche  Liberalismus, 
sondern  die  preußische  Reaktion  triumphierte. 

Der  National  verein,  als  Organisation  von  Besitz  und 
Bildung,  widerstrebte  der  Masse;  das  wurde  sein  Ver- 

368 


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hängnis,  wie  das  des  deutschen  Liberalismus.  Und 
diese  Massenscheu  behauptete  sich  selbst  in  den  Zeiten 
radikalster  Opposition ! 

V. 

Die  liberale  Furcht  vor  der  Masse  nahm  dem 
Nationalverein  die  Macht.  Wir  finden  in  dieser  Partei 
neben  Radikalen  wie  Johann  Jacoby  und  dem  (später 
sozialdemokratischen)  Schweriner  Hofbaurat  Demm- 
ler  Großindustrielle  wie  Werner  Siemens,  Hermann 
Gruson,  Georg  Egestorff,  den  Begründer  des  Nord- 
deutschen Lloyd  H.  H.  Meier,  Graf  Henckel  von 
Donnersmarck,  Schriftsteller,  Advokaten,  Gutsbesitzer, 
Studenten  und  als  breite  Staffage  den  bürgerlichen 
Mittelstand.  Aber  die  Masse  fehlte  und  sollte  fehlen, 
obwohl  man  sie  doch  wieder  zu  gewinnen  begehrte 
als  anspruchslose  Gefolgschaft  für  gutbürgerliche 
Zwecke.  Der  hannoversche  Industrielle  Egestorff, 
der  aus  geschäftlichen  Gründen  für  den  anrüchigen 
Verein  mit  seinem  Namen  nicht  hervorzutreten  wagte, 
gab  insgeheim  Unterstützungsgelder  zur  Gründung 
eines  Blattes  für  Bauern,  Handwerker  und  Arbeiter; 
„denn  in  den  Massen  liegt  die  Macht".  Der  National- 
verein hat  1862  die  höchste  Zahl  der  Mitglieder 
erreicht,  nicht  viel  mehr  als  25000;  mit  der  Unter- 
drückungs-  und  Abtreibungspolitik  Bismarcks  schmolz 
die  Zahl  rasch  und  unaufhaltsam  zusammen  —  nach 
den  kriegerischen  Erfolgen  Bismarcks  war  es  mit 
Verein  und  Liberalismus  gleichermaßen  aus.  Immer- 
hin war  es  bis  dahin  in  Deutschland  unerhört,  daß 
ein  Agitationsverein  über  so  große  Geldmittel  ver- 
fügte, die  freilich  an  heutigen  Verhältnissen  gemessen, 
lächerlich  gering  waren:  er  nahm  1861  bis  1867 
300000  Gulden  ein.  Die  Presseunternehmungen  ge- 
diehen nur  kümmerlich. 

Man  sehnte  sich  nach  den  Massen  und  hielt  sie 
<loch  künstlich  fern.  Deshalb  lehnte  man  den  Antrag 


34   Eisner,  Gesammelte  Schrift«.  I. 


369 


ab,  den  Vereinsbeitrag  von  einem  Taler  jährlich  in 
monatlichen  Raten  zahlen  zu  lassen. 

Das  sperrte  die  Arbeiter  aus,  die  man  dann  wieder 
durch  so  läppische  Mittel  zu  ködern  versuchte,  daß 
man  auf  Kosten  des  Vereins  zwölf  richtige  Proletarier 
zur  Londoner  Weltausstellung  sandte. 

So  kam  es,  daß  der  Nationalverein  in  demselben 
Maße,  als  er  sich  während  der  Konfliktszeit  radikali- 
sierte  —  so  daß  ihn  Gustav  Freytag  in  einem  Briefe 
an  Treitschke  aus  dem  Jahre  1865  „eine  Kleinkinder- 
bewahranstalt  für  zuchtlose  Demokratie"  nannte  — , 
zerbröckelte  statt  zu  erstarken.  Zwar  hielt  es  Bennigsen 
persönlich  für  erwiesen  und  erfreulich,  daß  der  intelli- 
gente Arbeiterstand  Deutschlands  fähig  und  bereit  sei, 
an  den  nationalen  Bestrebungen  teilzunehmen,  aber  er 
drang  bei  den  Freunden  nicht  durch,  denen  vor  einer 
Überflutung  durch  „Handwerbgesellen"  bangte;  und 
wenn  ihm  selbst  eine  Sache  am  Herzen  lag,  wie  etwa 
die  Angliederung  von  militärischen  Turnvereinen  an 
den  Nationalverein  (als  eine  Art  Volkswehr),  so  möchte 
er  am  liebsten  sogar  den  verdächtigen  Nationalverein 
im  Hintergrund  halten.  Bei  solcher  Gelegenheit 
schreibt  er  zum  Beispiel  einmal  an  den  Sekretär  des 
Herzogs  von  Koburg:  „Soll  die  Sache  in  größerem 
Umfange  ermöglicht  werden,  so  müssen  außer  den 
Geldern,  die  der  Verein  zahlt,  um  die  Sache  in  Gang 
zu  bringen,  Gemeindebehörden,  reiche  Privaten,  wo- 
möglich auch  wohlmeinende  Regierungen  sich  der 
Sache  öffentlich  annehmen.  Letzteres  hat  den  großen 
Vorteil,  der  Sache  in  den  Augen  der  Piepmeier  jeden 
bedenklichen  revolutionären  Beigeschmack  zu  nehmen." 
Mit  diesen  Piepmeiern  aber  wollte  Bennigsen  Politik 
treiben,  obwohl  er  über  das  deutsche  Bürgertum  keine 
Illusionen  hatte.  In  einem  Briefe  vom  Jahre  1862 
schreibt  er  über  den  „empörenden  Mangel  an  wirk- 
lichem Verständnis  für  das,  was  zu  politischen  Erfolgen 
nötig  ist  und  an  wahrer  Opferwilligkeit".  Er  hält  es 

370 


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für  fraglich,  „ob  das  «deutsche  Bürgertum  für  die 
Dauer  zur  politischen  Herrschaft  berufen  ist",  und  er 
beweist  sich  als  ein  wahrer  Prophet,  wenn  er  dieses 
Zukunftsbild  des  deutschen  Liberalismus  malt:  „In- 
mitten der  kirchlichen  und  politischen  Reaktion  auf 
der  einen  Seite  und  der  drohenden  Arbeiterfrage  auf 
der  anderen,  wird  der  deutsche  Bürger  sich  bald  ent- 
schließen müssen,  die  unendliche  Wertschätzung  seiner 
kostbaren  Person  und  des  nervus  rerum  etwas  herab- 
zusetzen, sonst  wird  er  dem  wohlverdienten  Schicksal 
des  französischen  Bourgeois  schwerlich  entgehen. 
Feigheit  und  Geiz  sind  die  verderblichsten  Laster  für 
jede  politische  Partei.  Für  eine  Partei  aber,  die  es 
darauf  angelegt  hat,  durch  ihre  allgemeine  Haltung  — 
vorläufig  also  jedenfalls  durch  bloße  Worte  —  ihren 
Gegnern  zu  imponieren,  könnte  schon  der  bloße  Ver- 
dacht solcher  Untugenden  tödlich  werden." 

Aber  es  war  doch  wieder  nur  ein  Ausdruck  solcher 
bürgerlicher  Angstpolitik,  wenn  Bennigsen  selbst  in 
den  hannoverschen  Parlamentskämpfen  an  der  Spitze 
einer  festen  liberalen  Majorität  nichts  Durchgreifendes 
zu  unternehmen  wagte,  um  nicht  durch  vorzeitigen 
Sturz  des  lauliberalen  Ministeriums  Erzreaktionäre 
von  der  Art  des  Grafen  Borries  wieder  ans  Ruder  zu 
bringen.  Damals  —  1864  —  verleidete  ihm  diese 
seine  höchst  fatale  Stellung  noch  die  ganze  Politik. 
Er  findet  solche  Diplomatie  aufreibend  und  verzweifelt, 
und  doch  erscheint  ihm  die  Politik  des  ewigen  Ab  War- 
tens als  das  einzig  mögliche.  So  trieb  man  im  Grunde 
doch  nur  von  einer  großartigen,  aber  wirkungslosen 
Versammlung  zu  einer  noch  großartigeren  und  noch 
wirkungsloseren.  Nicht  als  ob  man  dem  Aberglauben 
der  unbedingten  Gesetzlichkeit  gefrönt  hätte.  Be- 
sonders war  es  Miquel,  der  nächste  Gefährte  Bennig- 
sens, der  die  jugendlichen  Aufstandsstimmungen  seiner 
Briefe  an  Karl  Marx  durchaus  noch  nicht  überwunden 
hatte  und  immer  wieder  leidenschaftlich  mahnte,  es 


37i 


käme  nicht  auf  Resolutionen,-  sondern  aufs  Handeln 
an:  „Ehe  wir  an  dem  Erfolg  der  gesetzlichen  Mittel 
verzweifeln,  müssen  wir  mit  nachhaltiger  Kraft  sie 
gebrauchen;  schlägt  dann  ohne  unsere  Schuld  der 
Versuch  fehl,  scheitert  derselbe  .  .  .  dann  .  .  .  findet 
sich  das  andere."  Aber  das  andere  fand  sich  eben  nicht, 
sondern  es  fanden  sich  nur  abermals  Resolutionen, 
Versammlungen,  Kongresse,  und  zur  Abwechslung 
höchstens  Volksfeste.  Deutsche  Politiker  sollten  die 
Seiten  494  und  folgende  des  ersten  Bandes  des  Oncken- 
schen  Werkes  gründlich  studieren. 

Es  war  ein  Zusammentreffen  von  symbolischer  Be- 
deutung, wie  damals  der  künftige  Massenführer  August 
Bebel  flüchtig  an  den  schwankenden  Kahn  des  National- 
vereins streifte.  Von  ihm  als  dem  Vorsitzenden  des 
Leipziger  Arbeiterbildungsvereins  unterschrieben,  aber 
nicht  verfaßt  ist  jener  Brief  vom  24.  Juli  1865,  in  dem 
der  Leipziger  Verein  den  Ausschluß  des  National- 
vereins um  200  Gulden  zur  Unterstützung  gegen  die 
Agitation  Lassalles  bittet:  ,,Denn  das  Gift  jener  Irr- 
lehren schleicht  sich  unvermerkt  in  die  Massen  ein, 
und  die  grellen  Farben,  mit  denen  man  das  Elend  der 
arbeitenden  Klassen  gegenüber  der  Tyrannei  derer 
schildert,  „die  sich  auf  ihren  Geldsäcken  wälzen", 
der  ewige  Refrain,  daß  man  „nicht  dafür  könne,  wenn 
man  zur  Revolution  gezwungen  werde",  dürften  uns 
deutlich  zeigen,  daß  die  Fahne  des  roten  Kommunis- 
mus nur  auf  die  Gelegenheit  harre,  um  mit  all  ihren 
Schrecken  entfaltet  zu  werden."  Bebels  Dankschreiben 
für  die  Bewilligung  der  Summe  stammt  von  ihm  per- 
sönlich und  enthält  dergleichen  Phrasen  nicht,  vielmehr 
versichert  Bebel  in  taktvoller  Klugheit  dem  Präsidenten 
des  Nationalvereins,  daß  „eine  solche  Unterstützung 
der  guten  Sache  das  beste  Mittel  sein  wird,  diese  häu- 
fig ausgesprochenen  Vorwürfe  und  Verdächtigungen 
gegen  den  Nationalverein  zu  entkräften  und  dafür 
Hochachtung  und  Anerkennung  zu  verbreiten". 

372 


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Bald  war  Bebel  Führer  der  Masse,  während  Bennig- 
sen an  der  Spitze  liberaler  Piepmeier  von  der  preußi- 
schen Gewaltpolitik  elend  zerbrochen  wurde.  Mit 
welchen  Mitteln  aber  die  Politik  Bismarcks  arbeitete, 
daran  zu  erinnern  ist  nicht  unnütz  in  unseren  Tagen, 
da  die  preußischen  Junker  und  das  liberale  Bürgertum 
schon  darüber  aus  den  Fugen  geraten,  wenn  Sozial- 
demokraten den  Verfassungseid  der  Abgeordneten 
nicht  höher  einschätzen  als  was  er  ist:  eine  erzwungene 
Formel  und  Formalität. 

VI. 

Für  Bennigsen  ward  mehr  und  mehr  Bismarck  das 
Hemmnis  aller  nationalen  Einheits-  und  Freiheits- 
bestrebungen. Preußen,  die  einzige  Macht,  die  er  für 
fähig  hielt,  Deutschland  zu  einigen,  mußte  zunächst 
von  Bismarck  befreit  werden.  Die  militärische  Diktatur 
Preußens  genügte  ihm  nicht;  mit  der  Machtentfaltung 
müsse  die  freiheitliche  Entwicklung  Hand  in  Hand 
gehen.  Er  mißtraut  auch  den  Rechten,  die  monar- 
chisches Wohlwollen  schenkt  und  die  durch  keine  An- 
strengung des  Volks  erworben.  1863  schreibt  einmal 
Gustav  Freytag  an  Bennigsen :  „Das  ganze  Unglück 
der  Preußen  läßt  sich  in  die  Worte  zusammenfassen, 
daß  sie  nach  dem  Eintritt  der  Bewegungszeit  für 
Deutschland  das  große  Unglück  gehabt  haben,  zwei 
Fürsten  zu  erhalten,  die  in  der  öden  Zeit  Metternichs 
und  der  Karlsbader  Beschlüsse  aufgewachsen  sind. 
Das  hatte  auch  das  Volk  zurückgehalten.  Der  Kampf 
gegen  eine  abgestandene  Generation,  die  gespenster- 
haft alle  wichtigen  Stellen  des  Staates  besetzt  hält, 
ist  wie  ein  Kampf  gegen  Tote."  Drohend  antwortet 
Bennigsen  auf  diesen  im  Grunde  doch  byzantinischen 
Seufzer:  „Wenn  nicht  in  wenigen  Wochen  das  Bis- 
marcksche  Regiment  beseitigt  ist  und  König  Wilhelm 
oder  «ein  Nachfolger  sich  für  die  Einberufung  eines 
wirklichen  (deutschen)  Parlaments  erklärt  und  wirksam 


373 


auftritt,  so  steht  für  Preußen  das  Äußerste  auf  dem 
Spiele  und  der  Verlauf  der  deutschen  Geschichte 
wird  auf  Jahre  hinaus  ganz  abnorm  und  unberechen- 
bar. Halbe  Maßregeln  und  Verbesserungen  in  Preußen 
würden  höchst  nachteilig  sein." 

Auf  diesen  Ton  sind  alle  Äußerungen  Bennigsens 
über  Preußen  und  Bismarck  in  jenen  Jahren  gestimmt. 
Aber  Bennigsen  drohte  doch  wieder  immer  nur  mit 
der  Revolution,  die  andere  machen  würden,  wenn 
man  die  Wünsche  der  Gemäßigten,  die  selber  durch- 
aus keine  Revolution  machen  wollen  und  können, 
nicht  berücksichtige.  Das  waren  Wendungen,  die 
den  Hohn  Lassalles  in  seiner  (sonst  höchst  bedenklichen 
und  offenbar  krankhaft  erregten)  letzten  Solinger  Rede 
rechtfertigten,  wenn  er  auch  fälschlich  den  Anschein 
zu  erwecken  suchte,  als  ob  der  Führer  des  National- 
vereins mit  seiner  verhüllten  Revolutionsankündigung 
für  immer  die  Revolution  abgeschworen  habe:  „Er- 
heben wir  also  unsere  Arme"  —  rief  Lassalle  den 
Arbeitern  zu  —  „und  verpflichten  wir  uns,  wenn  je- 
mals dieser  Umschwung,  sei  es  auf  diesem,  sei  es  auf 
jenem  Wege,  käme,  es  den  Fortschrittlern  und  Natio- 
nalvereinlern  gedenken  zu  wollen,  daß  sie  bis  zum 
letzten  Augenblicke  erklärt  haben:  sie  wollen  keine 
Revolution !  Verpflichtet  euch  dazu,  hebt  eure  Hände 
empor."  Der  jähe  Tod  hat  Lassalle  vor  dem  furcht- 
baren Schicksal  bewahrt,  die  demokratische  und 
sozialistische  Sache  mit  Bismarck  gewinnen  zu  wollen ; 
sein  Zusammenbruch  wäre  noch  verheerender  gewesen 
als  der  des  Liberalismus,  der  die  Einheit  und  Freiheit 
gegen  Bismarck  zu  erringen  versuchte!  Dennoch  er- 
kannte Lassalle  durchaus  richtig  die  Neigung  Bennig- 
sens zur  „realpolitischen"  Halbheit.  Mußte  doch 
selbst  Miquel  den  Freund  vor  Konzessionen  bei  einem 
klerikalen  Synodenentwurf  warnen,  indem  er  —  Ok- 
tober 1863  —  ihm  schrieb:  „Man  ist  im  Volke  durch- 
aus nicht  mehr  auf  dem  alten,  starren  Glaubensgrunde, 

374 


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der  in  der  Kirche  noch  zu  Recht  besteht.  Wenn  die 
Bewegung  dies  auch  nicht  laut  proklamiert  hat,  so 
ist  dies  nur  die  Folge  des  richtigen  Instinkts  in  den 
Massen,  daß  man  erst  die  Pfaffenherrschaft  brechen, 
sich  selbst  zum  Herrscher  machen  und  dann  weiter- 
gehen müßte." 

„Ist  es  nicht  geraten,  gegen  diesen  gemeingefähr- 
lichen Menschen  alle  Minen  springen  zu  lassen," 
schreibt  Bennigsen  im  Herbst  1863,  als  ihm  kompro- 
mittierende Enthüllungen  über  Bismarcks  Verhalten 
in  der  Holsteinschen  Sache  angekündigt  werden.  Der 
gemeingefährliche  Mensch  war  Bismarck.  Im  National- 
verein war  man  damals  dafür,  in  Schleswig-Holstein 
einen  Aufstand  zu  entfesseln,  ein  Freikorps  für  einen 
Handstreich  zu  werben,  und  in  der  nationalen  Begeiste- 
rung Bismarck  zu  stürzen.  „Es  gilt  einen  General- 
sturm auf  die  Regierungen,  vor  allen  anderen  auf  die 
preußische  und  hannoversche.  In  Preußen  muß  der 
Schrei:  ,Nieder  mit  Bismarck!*  organisiert  werden," 
heißt  es  in  einem  Brief  Rochaus  an  Miquel.  „Preußische 
Spitze  unter  allen  Umständen  ist  unser  Programm 
nicht."  —  „Im  Norden  nimmt  die  Bismarcksche  Rich- 
tung, das  ist  die  Anbetung  der  militärischen  Macht 
und  diplomatischen  Erfolge,  in  erschreckender  Weise 
überhand."  —  „Eine  militärische  Vergewaltigung 
Nord-  und  Mitteldeutschlands  von  Berlin  aus  (wird) 
um  so  sicherer  eintreten  und  um  so  länger  die  all- 
gemeine Einigung  Deutschlands  aufhalten,  je  träger 
und  gleichgültiger  das  Bürgertum  den  Akten  und  Er- 
folgen preußischer  Gewalt  zusieht  oder  je  mehr  eine 
feige  Überklugheit  dem  Altpreußentum  speichelleckt 
und  auf  Süddeutschland  verzichtet"  —  so  tönt  es 
aus  Bennigsens  Briefen  im  Jahre  1864.  Und  selbst 
als  Bismarck,  am  Vorabend  der  kriegerisch-dynastischen 
Revolution  von  1866,  plötzlich  das  Ideal  des  National- 
vereins, das  deutsche  Parlament  auf  Grund  des  all- 
gemeinen Wahlrechts,  zu  seinem  eigenen  Programm 


375 


erhebt,  meint  Bennigsen,  er  wolle  der  Frontverände- 
rung Bismarcks,  angesichts  der  Vergangenheit  des 
Mannes,  eine  gewisse  Großartigkeit  nicht  absprechen, 
„eine  Großartigkeit,  die  aber  zum  Ridikülen  (Lächer- 
lichen) doch  in  einer  näheren  Beziehung  zu  stehen 
scheint  als  zum  Tragischen".  Am  15.  April  1866 
prophezeit  Bennigsen:  „Treibt  Bismarck  die  deutschen 
Fürsten  auf  das  unbeschiffte  Meer,  zerstört  er  die  Fun- 
damente und  alle  Prinzipien  der  konservativen  Par- 
teien, so  kann  sich  daraus  eine  ungeheure  Entwicklung 
gestalten,  in  der  nicht  allein  Bismarck,  sondern  auch 
ganz  andere  Existenzen  schleunigst  verschwinden." 
Ja  sogar  nach  1866,  als  Bennigsen  sich  im  treuesten 
Gefolge  Bismarcks  befand,  konnte  er  über  seine  zu 
inneren  Zwecken  angestifteten  Kriegstreibereien  gegen 
Frankreich  schreiben:  „Er  hat  die  Franzosen  in  einer 
ganz  fabelhaften  Weise  hinters  Licht  geführt.  Napo- 
leon, früher  in  den  Augen  der  Welt  sein  eigentlicher 
Lehrmeister,  ist  wie  der  dümmste  Junge  von  ihm 
genarrt.  Die  Diplomatie  ist  eins  der  verlogensten  Ge- 
schäfte, aber  wenn  sie  im  deutschen  Interesse  in  einer 
so  großartigen  Weise  der  Täuschung  und  Energie  ge- 
trieben ist  wie  durch  Bismarck,  kann  man  ihr  eine  ge- 
wisse Bewunderung  nicht  versagen."  (Bennigsen  an 
seine  Frau,  8.  April  1867.)  Ein  hübsches  Beispiel 
zu  dem  unergründlichen  Kapitel  bürgerlicher  Heuche- 
lei: Ethik  und  Politik! 

Für  Bismarck  gab  es  in  der  Tat  keinerlei  Skrupel 
in  der  Wahl  seiner  Mittel:  er  schoß  wirklich  nicht 
mit  öffentlicher  Meinung,  wie  die  Liberalen,  sondern 
mit  Pulver  und  Blei,  und  obendrein  mit  Bestechung, 
Verrat,  Treubruch,  Lüge  und  jeglichem  Verbrechen. 
Bismarcks  plötzliche  Bekehrung  zum  deutschen  Parla- 
ment erregte  gradezu  eine  Panik  unter  den  Vorkämpfern 
dieses  Ideal  von  1849.  War  es  nur  ein  listiger  Trick, 
um  die  Gemüter  für  seine  andern  Zwecke  preußischer 
Machterweiterung  zu  gewinnen?    Das  glaubten  die 


376 


meisten,  und  die  wenigsten  ahnten,  daß  es  ihm  ernst 
war,  ganz  ernst  —  mit  dem  Parlament  des  demokra- 
tischen Wahlrechts:  Das  Aufgebot  der  unaufgeklärten 
Masse  gegen  die  bürgerliche  Opposition,  die  pommer- 
schen  Grenadiere  nicht  nur  gegen  Österreich,  sondern 
auch  gegen  die  liberale  Intelligenz! 

Bennigsen  aber  begann,  mit  Bismarck  zu  rechnen* 
Und  so  wagte  der  hannoversche  Politiker,  nach  dessen 
Vaterland  Preußen  bereits  die  Hand  ausstreckte,  im 
Mai  1866  den  zwar  nicht  unehrenhaft  gemeinten,  aber 
höchst  zweideutig  wirkenden  Besuch  bei  Bismarck, 
einer  Einladung  folgend.  Bismarcks  Absicht  war,  den 
Führer  der  hannoverschen  Opposition  für  Preußen 
zu  gewinnen.  Zwar  bot  Bismarck  ihm  damals  nicht  die 
persönliche  Mitwirkung  an  der  preußischen  Regierung 
an,  aber  er  unterließ  diese  direkte  Aufforderung  zum 
Landesverrat  nur  deshalb,  weil  er  an  dem  Verhalten 
Bennigsens  merkte,  daß  er  dafür  nicht  zu  haben  sei. 
Am  16.  Mai  1866  „beruhigte"  Bennigsen  seine  Frau 
mit  der  Mitteilung,  „daß  ich  zwar  bei  meiner  Ankunft 
eine  bestimmte  Nachricht  aus  dem  kronprinzlichen 
Lager  bekam,  Bismarck  beabsichtige  mich  und  Herrn 
N.  N.  (der  ursprünglich  hier  geschriebene  Name  des 
Badener  Staatsmannes  Roggenbach  ist  durchstrichen) 
ins  Ministerium  zu  nehmen,  daß  mir  Bismarck  selbst 
aber  in  der  langen  Besprechung  .  .  .  kein  solches 
Anerbieten  gemacht  hat".  Jedenfalls  gelang  es  Bis- 
marck, durch  diese  Unterredung  Bennigsen  schwer 
zu  kompromittieren.  Als  jedoch  das  Los  Hannovers 
entschieden  war,  schreckte  Bismarck  auch  davor  nicht 
mehr  zurück,  dem  Hannoveraner  das  äußerste  Ver- 
brechen anzusinnen. 

Bennigsen  lag  ernstlich  an  der  Rettung  der  hanno- 
verschen Selbständigkeit.  Nur  war  es  eine  Illusion, 
wenn  er  glaubte,  sein  Vaterland  könnte  sich  durch 
neutrales  Wohlverhalten  retten.  Die  Frucht  war 
längst  reif  für  den  preußischen  Hunger  —  so  oder  so. 


377 


Die  hannoversche  Regierung  wußte  es  besser,  als  sie 
sich,  gegen  Bennigsens  Rat,  entschloß,  an  der  Seite 
Österreichs  das  Waffenglück  zu  probieren;  Bennigsens 
Neutralitätspolitik  hätte  Hannover  nicht  erhalten 
können,  es  wäre  doch  —  unter  irgendeinem  Vorwand 
—  verschluckt  worden. 

Unmittelbar  vor  der  Katastrophe  Hannovers  be- 
mühte sich  Bismarck,  den  Führer  der  hannoverschen 
Opposition  zu  gewinnen.  Zunächst  beauftragte  er  den 
preußischen  Gesandten,  Prinzen  Ysenburg,  mit  Ben- 
nigsen über  die  Übernahme  der  Verwaltung  Hanno- 
vers nach  dem  Einmarsch  der  preußischen  Truppen 
zu  verhandeln;  der  wich,  unter  allerlei  Vorwänden, 
der  Aufforderung  aus,  den  Kuppler  solchen  Hoch- 
und  Landesverrats  zu  spielen.  Dann  schickte  Bismarck 
den  Bürgermeister  Duncker  aus  Berlin  zu  Bennigsen. 
Der  brachte  ihm  die  Botschaft,  die  Besetzung  Hanno- 
vers durch  preußische  Truppen  und  Errichtung  einer 
preußischen  Regierung  stünde  unmittelbar  bevor. 
„Bismarck  machte  mir,"  so  skizziert  ein  Jahrzehnt 
später  Bennigsen  seinem  Freunde  Lasker  die  Dar- 
legungen Dunckers,  „den  Vorschlag,  an  die  Spitze 
dieser  Regierung  zu  treten.  Ich  erwiderte  Herrn 
Duncker  in  continenti,  daß  ich  die  Proposition  ab- 
lehnen und  mir  jede  weitere  Verhandlung  darüber 
verbitten  müsse.  Nachdem  .  .  .  Herr  Duncker  sich 
entschuldigt  hatte,  daß  er  mir  den  Vorschlag  über- 
brachte, da  er  den  Auftrag  nicht  gut  habe  ablehnen 
können,  bat  er  um  Erlaubnis,  noch  mit  einem  anderen 
Auftrag  herauskommen  zu  dürfen,  wogegen  ich  natür- 
lich nichts  einwendete.  Bismarck  wünschte  eine  Er- 
klärung von  mir,  ob  ich  bereit  sei,  meinen  Einfluß 
dafür  zu  verwenden,  daß  in  Deutschland  zu  einem 
Reichstage  mit  allgemeinem  Wahlrecht  gewählt  werde, 
wenn  Preußen,  in  dem  Kriege  gegen  Österreich  sieg- 
reich, dazu  auffordere." 

Die  Absichten   der   Bismarckschen  Niedertracht 

378 


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waren  offenbar.  Einmal  wollte  er  durch  den  Verräter 
im  feindlichen  Lager  sich  den  Sieg  erleichtern  und 
dann  zugleich  in  dem  Verräter,  nach  dem  Siege,  die 
liberale  Opposition  für  immer  unschädlich  machen! 
Bennigsen  aber  widerstand  dem  äußeren  Verrat, 
jedoch  nicht  der  inneren  Unterwerfung. 

Österreich  wurde  besiegt,  Hannover  wie  Hessen - 
Nassau,  Frankfurt  a.  M.  von  Preußen  aufgezehrt. 
Bennigsen  und  seine  hannoverschen  Freunde  waren 
Preußen  geworden.  Sie  wußten,  was  bevorstand. 
Noch  während  des  Krieges  schrieb  Planck  an  Bennig- 
sen: „Daß  Preußen,  welches  unter  diesem  Junker- 
regiment gesiegt  hat,  nach  dem  Siege  von  selbst  eine 
liberale  Regierung  erhalten  sollte,  ist  mir  innerlich 
höchst  unwahrscheinlich,  und  wir  werden,  wenn 
auch  die  Einheit  erreicht  wird,  aber  mit  jenem  bitteren 
Zusätze  (des  preußischen  Junkerregiments),  der  der 
Masse  des  Volkes  sofort  fühlbar  wird,  während  sie 
Segnungen  der  Einheit  nicht  so  bald  fühlt,  einen 
schweren  Stand  haben.  Indessen  .  .  .**  Ähnlich 
äußerte  sich  Bennigsen  selbst;  und  auch  er  fügte  das 
„indessen"  hinzu,  das  heißt,  den  Entschluß  nach  dem 
Scheitern  aller  liberalen  Jugendträume  nun  mit  Bis- 
marck im  Tauschhandel  den  Liberalismus  sacht  in  den 
Junkerstaat  einsickern  zu  machen.  Und  während 
Bismarck  nun  die  erste  Probe  jener  echt  preußischen 
Blockpolitik  unternahm,  die  den  Liberalen  gestattete, 
konservative  Politik  zu  treiben,  begannen  die  deut- 
schen Liberalen  jene  verhängnisvolle  Taktik,  ihre  un- 
vermeidlichen Siege  zu  organisieren,  indem  sie  den 
Liberalismus  Stück  für  Stück  preisgaben.  Jeder  neue 
Erfolg  der  liberalen  Führer  ward  eine  neue  Niederlage 
der  liberalen  Idee! 

VII. 

Es  gehört  zu  den  eisernen  Geschichtslegenden,  aus 
denen  in  Deutschland  die  Geschichtswissenschaft  be- 

379 


I 


steht,  daß  die  Gründung  des  Deutschen  Reiches  sich 
seit  1866  unter  liberalem  Gestirn  vollzogen.  Auch 
Oncken  huldigt  diesem  Märchen,  das  ihm  ja  allein 
ermöglicht,  seinen  Helden  —  wenn  zwar  unter  star- 
kem Vorbehalt  —  liberale  Siege  gewinnen  zu  lassen. 
Das  liberale  Gestirn  stand  in  der  Tat  prangend  am 
Himmel.  Aber  es  hatte  ebensowenig  Einfluß  auf 
die  Geburt  des  Deutschen  Reiches,  wie  sonst  ein  Zu- 
sammenhang zwischen  Sternen  und  öeburten  besteht 
—  trotz  Horoskop  und  Hokuspokus. 

Der  Liberalismus  in  Preußen-Deutschland  bestand 
zu  jener  Zeit  genau  in  derselben  Erscheinung  wie  vor- 
her und  seitdem :  daß  sich  die  preußische  Politik  durch- 
setzt im  Kampfe  gegen  die  Junker  der  rabiaten  Fär- 
bung. Aber  deshalb,  weil  die  Regierung  in  Preußen 
stets  mit  den  wilden  Männern  der  feudalen  Welt 
sich  raufen  muß,  ist  sie  niemals  liberal.  Im  Gegenteil: 
die  Reibereien  mit  den  Junkern,  die  Verweigerung 
ihrer  blödesten  Tollheiten  Hat  doch  stets  nur  den 
Zweck  und  stets  den  Erfolg,  das  konservative  preußi- 
sche System  zu  erhalten.  Dem  deutschen  Liberalismus 
ist  die  Aufgabe  zugefallen,  die  konservative  Sache 
gegen  die  Konservativen,  das  Junkerwesen  gegen 
das  Junkertum  zu  retten.  Das  war  der  liberale  Sieg, 
der  mit  so  viel  staatsmännischer  Selbstentäußerung 
erkauft  wurde.  Die  Liberalen  wurden  Sieger,  indem 
der  Liberalismus  besiegt  wurde,  und  die  liberalen  Füh- 
rer blieben,  nach  einem  ebenso  hübschen  wie  bos- 
haften Wort  Bismarcks  —  Bennigsen  teilt  die  Äußerung 
seiner  Frau  in  einem  Brief  vom  2.  Dezember  1867 
mit  —  „die  Minister  des  Kronprinzen".  In  Wahrheit, 
das  war  die  Rolle  des  deutschen  Liberalismus:  sie 
blieben  immer  die  Minister  des  zukünftigen  Herrn, 
und  um  diese  große  Gunst  nicht  zu  verscherzen, 
opferten  sie  für  die  Gegenwart  ein  Stück  des  Liberalis- 
mus nach  dem  anderen.  Die  endlosen  Reibungen  Bis- 
marcks mit  seinen  junkerlichen  Standesgenossen,  deren 

380 


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klügster  er  war,  hinderten  ihn  ebensowenig,  deren 
sonst  verlorene  und  verfallene  Sache  zu  restaurieren, 
wie  er  auch  die  kirchliche  Reaktion  stärkte,  obwohl  er 
die  Pfaffenmacht,  persönlich  ein  Ungläubiger  —  trotz 
seiner  angeblichen  Jugendbekehrung  nach  wüster 
Gottlosigkeit  —  bekämpfte;  wie  er  endlich  die  hoff- 
nungslos erschütterte  Monarchie  wieder  belebte, 
wenngleich  er  vor  den  Trägern  der  Krone  nicht  die 
mindeste  Achtung  hatte  und  weder  vor  dem  Groß- 
vater, noch  vor  dem  Sohne,  noch  vor  dem  Enkel, 
seinen  drei  königlichen  Herren,  Achtung  hatte! 
Auch  vor  dem  Heldengreis  nicht!  Bennigsen  sagt  die 
Wahrheit,  wenn  er  1867  seiner  Frau  schreibt:  „Der 
König  und  er  haben  eher  Haß  wie  Freundschaft  gegen- 
einander; mit  dem  Nachfolger  hat  Bismarck  ein  ganz 
kaltes  Verhältnis." 

Die  liberale  Konzessions-  und  Kompromißpolitik 
blieb  also  ohne  jede  Frucht.  Man  erntete  nur  liberale 
Atrappen,  die  wie  Früchte  aussahen.  Das  zeigte 
sich  sofort,  als  Bennigsen  seine  Wirksamkeit  im  Reichs- 
tage des  Norddeutschen  Bundes  und  im  preußischen 
Landtag  begann.  Er  und  die  Seinen  hatten  von  vorn- 
herein alle  weiterstrebenden  liberalen  Grundsätze 
als  Ballast  über  Bord  geworfen,  um  vorerst  wenigstens 
ein  paar  „unveräußerliche"  liberale  Forderungen  zu 
sichern.  Aber  auch  diese  setzen  sie  nicht  durch,  Bis- 
marck bewilligte  ihnen  allenfalls  einige  personale 
Liebenswürdigkeiten  —  Sturz  eines  besonders  dumm- 
reaktionären  Ministers  und  dergleichen  mehr!  — , 
aber  die  konservative  preußische  Sache  ließ  er  im  Kern 
nicht  antasten.  So  scheiterten  die  Liberalen  sofort 
mit  ihren  beiden  dringendsten  Forderungen:  mit  den 
konstitutionellen  Sicherheiten  in  der  Reichs-(Bundes-) 
Verfassung  und  bei  der  Regelung  des  Verhältnisses 
von  Preußen  zum  Reich.  Und  wenn  sich  die  Liberalen 
damals  trösteten,  das  augenblicklich  „Unerreichbare" 
werde  durch  die  innere  Naturgewalt  der  Dinge  sich 


38i 


doch  bald  durchsetzen,  so  sind  auch  jene  bescheiden- 
sten liberalen  Forderungen  von  1866  bis  1870,  jenes 
liberale  Mindestprogramm,  bis  zur  Stunde  so  wenig 
der  Erfüllung  auch  nur  angenähert,  daß  es  die  Libera- 
len heute  selbst  nicht  mehr  fordern. 

„Bismarck  ist  jetzt  der  Damm  gegen  das  Herein- 
brechen der  Reaktion"  —  das  ist  der  große  Wahn 
(er  ist  schon  im  Herbst  1866  in  einem  Brief  an  Bennig- 
sen in  diese  Formel  gefügt!)  — ,  mit  dem  die  Liberalen 
unmittelbar  nach  dem  preußischen  Kriegserfolg  ihr 
gründliches  Umlernen  rechtfertigen.  „Die  Zeit  der 
Ideale  ist  vorüber.  Die  deutsche  Einheit  ist  aus  der 
Traumwelt  in  die  prosaische  Welt  der  Wirklichkeit 
hinuntergestiegen.  Politiker  haben  heute  weniger 
als  je  zu  fragen,  was  wünschenswert,  als  was  erreichbar 
ist,"  rief  Miquel  1867  aus.  „Das  Erreichbare"  —  das 
ist  seitdem  die  Begräbnisformel  geblieben,  mit  der 
jeder  liberale  Grundsatz  zur  Ruhe  bestattet  worden  ist. 
Unerreichbar  dünkte  Bennigsen  natürlich  die  parla- 
mentarische Verfassung.  „Die  Physiognomie  des  Par- 
laments wird  von  der  des  achtundvierziger  außerordent- 
lich abweichen  und  dasselbe,  nach  dem  damaligen 
Maß  gemessen,  eine  sehr  bescheidene  Rolle  spielen." 
Die  Nation  könne  „vorerst  gar  keinen  begründeten 
Anspruch  erheben,  von  der  preußischen  Krone  und 
dem  deutschen  Richelieu  den  Parlamentarismus  und 
den  ganzen  Komplex  von  Freiheiten  in  Gnaden  ver- 
liehen zu  erhalten".  Für  die  Durchsetzung  des  Er- 
reichbaren wurde  die  nationalliberale  Partei  gegründet, 
deren  Mission  es  wurde,  das  „Nichts"  zu  erreichen, 
weil  sie  das  „Alles"  schreckte.  Nach  den  Wahlen  für 
den  konstituierenden  Reichstag  schrieb  Bennigsen 
an  seine  Frau:  „Sehr  befriedigend  wird  das  Resultat 
für  die  verfassungsmäßigen  Rechte  nicht  werden. 
Dazu  sind  die  Wahlen  in  Preußen  viel  zu  konservativ 
ausgefallen."  Aber  als  später  die  Wahlen  ganz  national- 
liberal  ausfielen,  wurde  der  Liberalismus  erst  recht 

382 


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aussichtslos.  Was  man  in  der  Ohnmacht  nicht  konnte, 
traute  man  sich  nicht  in  der  Macht.  Zum  Überfluß 
begann  Bismarck  gleich  mit  der  Politik,  durch  Ein- 
fadelung  auswärtiger  Verwicklungen  die  innere  Politik 
zu  fesseln.  Seit  1867  begann  er  die  Kriegshetze  gegen 
Frankreich.  Er  hatte  immer  eine  Affäre  bei  der  Hand, 
hieß  sie  nun  „Luxemburg"  oder  sonstwie,  und  vor 
lauter  Eifer,  in  so  kritischen  Augenblicken  national 
zu  blasen,  hatten  die  Liberalen  keine  Zeit  und  Kraft, 
liberal  zu  pfeifen.  Die  ganze  Arbeit  an  der  Verfassung 
des  Norddeutschen  Bundes  —  der  heutigen  Reichs- 
verfassung —  wurde  durch  auswärtigen  Lärm  ein- 
geschüchtert. Bennigsen  kannte  die  Triebfedern 
dieser  Politik :  „Hier  (in  Berlin)  ist,  wie  überall,  die 
Politik  zu  neun  Zehnteln  persönliches  Interesse, 
was  man  auch,  wenn  man  die  Politik  anders  auffaßt 
und  betreibt,  sich  stets  klar  und  gegenwärtig  halten 
muß,  um  nicht  düpiert  zu  werden"  (an  seine  Frau, 
10.  März  1867).  Bennigsen  trieb  keine  Politik  persön- 
lichen Interesses.  Er  ist  auch  aus  der  Gründerzeit 
unbefleckt  hervorgegangen,  und  als  man  ihn  solcher 
Gründungsgelüste  beschuldigte,  konnte  er  wahrheits- 
gemäß die  Erklärung  abgeben,  die  für  die  heutigen 
Liberalen  tödlich  sein  dürfte:  „Ich  bin  kein  Ge- 
schäftsmann. Deshalb  und  mit  Rücksicht  auf  meine 
öffentliche  Stellung  würde  ich  es  für  unpassend  und 
für  wenig  ehrenvoll  halten,  wenn  ich  die  Mitwirkung 
bei  der  Begründung  einer  Eisenbahn  dazu  hätte  be- 
nutzen wollen,  irgendeinen  derartigen  Geschäftsgewinn 
zu  erstreben  oder  anzunehmen."  Aber  er  machte  auch 
für  den  Liberalismus  keine  Geschäfte.  Er  ließ  sich 
düpieren ! 

Zwei  „unerläßliche"  Forderungen  stellte  Bennigsen 
für  die  Bundesverfassung  auf:  ein  verantwortliches 
Bundesministerium  und  Diäten  für  die  Abgeordneten. 
Der  Regierungsentwurf  der  Verfassung  sah  ursprüng- 
lich als  Bundeskanzler  nur  eine  Art  untergeordneten 


383 


Sekretär  des  preußischen  Ministers  der  auswärtigen 
Angelegenheiten  vor.  Der  Antrag  Bennigsens  auf 
Schaffung  eines  verantwortlichen  kollegialen  Bundes- 
ministeriums unter  dem  Vorsitz  eines  Bundeskanzlers 
brachte  Bismarck  auf  den  Gedanken,  bloß  einen  „ver- 
antwortlichen Kanzler"  zu  schaffen.  Damit  wurde 
das  Gegenteil  der  liberalen  Absicht  erreicht.  Im  Reichs- 
kanzler wurde  das  Reich  nicht,  wie  die  Liberalen 
wollten,  verselbständigt,  sondern  zur  Filiale  Preußens. 
Statt  einer  wirklichen  Verfassung  bekam  der  Bund 
einen  paragraphierten  Menschen;  ein  zufälliger  Mensch 
—  Bismarck  —  wurde  in  der  deutschen  Verfassung 
staatsrechtlich  verewigt.  Dazu  war  dieser  Kanzler 
nur  auf  dem  Papier  verantwortlich.  Die  nähere 
Regelung  wurde  einem  besonderen  Gesetz  vorbehalten. 
Dieses  besondere  Gesetz  gibt  es  noch  heute  nicht. 
Die  Konzessionen  der  Liberalen  haben  das  „Erreich- 
bare" in  Wirklichkeit  für  Generationen  unerreichbar 
gemacht.  Ebenso  ging  es  mit  den  Diäten;  Bennigsen 
beharrte  auf  ihnen.  Bismarck  weigerte  sich.  Bennigsen 
hielt  es  „für  ein  ganz  bedenkliches  Experiment,  daß 
in  einem  deutschen  Parlament  die  Diäten  beseitigt 
werden  sollen";  er  hielt  „die  Folgen  für  durchaus 
unberechenbar".  Dennoch  überließ  er  und  die  Libe- 
ralen auch  dieses  „Erreichbare"  der  Zukunft,  die  erst 
unter  dem  Fürsten  Bülow  kam! 

Es  war  auch  kein  Erfolg  der  Liberalen,  daß  Bismarck 
ihren  Antrag  des  geheimen  Wahlrechts  akzeptierte. 
Denn  Bismarck  gewährte  ja  das  Reichstagswahlrecht, 
um  die  unaufgeklärten  Massen  gegen  die  Liberalen 
auszuspielen.  Und  die  Liberalen  wußten  das;  es  war 
im  Gründungsprogramm  der  nationalliberalen  Partei 
vom  12.  Juni  1867  klar  ausgesprochen  worden:  „Das 
allgemeine,  gleiche,  direkte  und  geheime  Wahlrecht 
ist  unter  unserer  Mitwirkung  zur  Grundlage  des 
öffentlichen  Lebens  gemacht.  Wir  verhehlen  uns 
nicht  die  Gefahren,  welche  es  mit  sich  bringt,  solange 

384 


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Preßfreiheit,  Versammlungs-  und  Vereinsrecht  polizei- 
lich verkümmert  sind,  die  Volksschule  unter  lahmen- 
den Regulativen  steht,  die  Wahlen  bureaukratischen 
Einrichtungen  unterworfen  sind,  zumal  da  die  Ver- 
sagung der  Diäten  die  Wählbarkeit  beschränkt."  Man 
erkennt  die  ganze  Entartung,  der  der  Liberalismus 
seitdem  verfallen:  damals  sah  man  noch  die  Gefahren 
für  das  allgemeine  Wahlrecht  in  der  durch  die  Reak- 
tion bewirkten  Unfreiheit  des  Gebrauchs;  heute  be- 
kämpft man  es,  weil  das  Volk  den  freien  Gebrauch 
zu  lernen  begonnen  hat. 

Noch  elender  als  im  Reichstag  war  der  Zusammen- 
bruch des  Liberalismus  gleich  in  Preußen.  Im  national- 
liberalen Programm  hieß  es:  „Als  Ziel  schwebt  uns 
vor,  daß  die  parlamentarischen  Funktionen  des  Staates 
möglichst  vollständig  in  den  Reichstag  verlegt  werden. 
Auch  der  preußische  Landtag  soll  sich  nach  und  nach 
mit  einer  Stellung  begnügen,  welche  in  keiner  Weise 
geeignet  sei,  dem  Ansehen  und  der  Wirksamkeit  des 
Reichstages  Eintrag  zu  tun."  Man  verlangte  ferner 
„Ausbau  und  Revision  der  preußischen  Verfassung", 
„Ausführung  der  in  der  Verfassung  verheißenen  Ge- 
setze und  die  Reform  des  Herrenhauses  als  Vorbedin- 
gung aller  Reformen",  „Aufhebung  der  gutsherrlichen 
Obrigkeit  und  gutsherrlichen  Polizei".  Keine  der  libe- 
ralen Vorbedingungen  ist  bis  heute  erfüllt  worden. 

Noch  schärfer,  als  im  Programmentwurf,  deuten 
Äußerungen  Bennigsens  auf  das  Ziel  dieser  annektierten 
Preußen  hin.  Sie  erstrebten  die  vollständige  Beseiti- 
gung der  preußischen  Zentralgewalt.  Bennigsen  war 
durchaus  der  Meinung  seines  Freundes  Friedrich 
ötker,  der  in  der  kurhessischen  Opposition  die  Ge- 
schäfte Preußens  besorgt  hatte :  die  ganze  preußische 
Landesgesetzgebung  müsse  allmählich  zugunsten  der 
Bundes-  und  der  Provinzialgesetzgebung  aufhören, 
also  der  Landtag  allmählich  trockengelegt  werden. 
Man  dachte  sich  die  Vereinigung  aller  Zentralgewalt 


23   Eisner,  Gesammelte  Schriften.  I. 


385 


im  Reich  und  die  Dezentralisation  Preußens  in  provin- 
ziale  Selbstverwaltungsgebiete.  Die  Provinzen  erhiel- 
ten ja  allerdings  eine  Art  Selbstverwaltung  —  Bennig- 
sen selbst  war  zwanzig  Jahre  lang  Landesdirektor  in 
Hannover  — ,  aber  der  preußische  Landtag  und  die 
preußische  Regierung,  als  Werkzeug  des  Junkertums, 
vereinigten  immer  noch  die  politische  Macht  in  und 
über  Deutschland.  Trockengelegt  wurde  der  Libe- 
ralismus und  das  Reich!  Und  die  „Vollendung"  der 
deutschen  Einheit  nach  dem  Kriege  von  1870/71  war 
die  Vollendung  dieser  Trockenlegung. 

VIII. 

»  - 

Die  Angliederung  des  deutschen  Südens  an  den 
Norddeutschen  Bund  verstärkte  keineswegs  die  libera- 
len Triebkräfte  in  der  Politik  des  Reiches  und  Preußens. 
Vielmehr  befeuerte  sie  nur  den  Eifer  des  Junkertums, 
in  demselben  Maße  vorzudringen,  in  dem  die  Liberalen 
das  Geschäft  fortsetzten,  die  schweren  Opfer  ihrer 
liberalen  Grundsätze  gewerbsmäßig  auf  dem  nationalen 
Altar  darzubringen.  Immer  wenn  die  Liberalen  gerade 
liberal  sein  wollten  oder  doch  sein  sollten,  war  irgend 
etwas  geschehen,  was  ihnen  zu  Gemüte  führte,  „daß 
jetzt  die  Zeit  nicht  da  ist",  um  liberaler  Forderungen 
willen  Konflikte  zu  versuchen.  Bennigsen  sprach  dies 
Wort  1874  aus,  als  die  Liberalen  das  militärische 
Budgetrecht  preisgaben.  Aber  diese  Zeit  war  nie  da; 
immer  gab  es  gerade  Umstände,  die  für  den  Liberalis- 
mus hinderlich  waren,  liberal  zu  sein.  Und  wenn  die 
Liberalen  dergestalt  sich  überwunden  hatten,  so 
jubelten  sie  jedesmal,  daß  es  den  Gegnern  nicht  ge- 
lungen sei,  sie  auszuschalten  —  sie  auszuschalten  näm- 
lich von  der  Möglichkeit,  antiliberale  Politik  treiben  zu 
dürfen.  Dieses  Argument  des  „Ausschaltens"  finden 
wir  in  dem  liberalen  Sprach-  und  Denkgebrauch  von 
Anbeginn.  So  schrieb  damals  —  1874  — ,  als  es  ge- 
lungen war,  durch  das  Septennatskompromiß  den 

386 


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wichtigsten  liberalen  Grundsatz,  das  Budgetrecht,  zu 
verraten,  so  ein  Liberaler  triumphierend  in  sein  Tage- 
buch: „Beispielloser  Jubel  .  .  .  Wir  freuten  uns 
sehr  .  .  .  Alle  Gemüter  waren  voll  davon,  daß  der 
vom  Zentrum  und  den  Konservativen  gehoffte,  von 
uns  gefürchtete  Konflikt  vermieden  ist.  Die  Kon- 
servativen sind  wütend  .  .  .  Die  Wut  der  Konser- 
vativen, daß  wir  eine  Verständigung  herbeigeführt 
und  daß  der  von  ihnen  sicher  gehoffte  Konflikt  ver- 
mieden ist,  übersteigt  alle  Grenzen." 

Die  Politik  Bismarcks,  durch  äußere  Verwicklungen 
die  innere  dynastisch-junkerliche  Herrschaft  zu  sichern, 
forderte  ihren  Abschluß  durch  den  deutsch-französi- 
schen Krieg.  Sofort  nach  1866  sehen  wir  die  deutsch- 
französischen  Zwischenfälle  aufwuchern,  mit  denen  auch 
Bennigsen  bewußt  operiert.  Dauerndes  Kriegsgeschrei 
übertönt,  verwirrt  und  verstümmelt  die  liberale  Ver- 
fassungsarbeit. „Jetzt  ist  die  Zeit  nicht  da!"  ...  In 
militärischen  Kreisen  wird  sofort  nach  dem  Siege  von 
1 866  nur  noch  über  den  Termin  des  Losschlagens,  nicht 
über  die  Notwendigkeit  des  Krieges  selbst  debattiert. 
Man  will  die  Zeit  wählen,  wo  Frankreich  mitten  in  der 
Armeereform  wäre.  Wenn  auch  die  letzte  Entschei- 
dung die  Emser  Depeschenfälschung  brachte,  so  war 
dieses  weltgeschichtliche  Verbrechen  nur  die  Krönung 
eines  lang  gesponnenen  Komplotts.  Das  Kampfziel 
war  weniger  die  Demütigung  Frankreichs  und  die 
Annexion  Elsaß- Lothringens,  sondern  die  Demütigung 
des  deutschen  Bürgertums  und  die  Annexion  der  Libe- 
ralen. Das  war  auch  der  Ertrag.  1870  liquidierte  end- 
gültig 1848.  Die  aus  wirtschaftlichen  Gründen  not- 
wendige, nicht  mehr  aufzuhaltende  Einigung  Deutsch- 
lands sollte  sich  unter  antiliberalen  Sicherheiten  voll- 
ziehen, und  um  diesen  Erfolg  zu  erreichen,  bediente 
sich  Bismarck  nicht  der  Konservativen,  sondern  eben 
der  Liberalen.  Seine  diabolische  Verachtung  des 
liberalen  Bürgertums  wußte,  daß  nur  eine  Klasse,  nur 


387 


eine  Partei  bereit  sei,  jederzeit  auf  ihre  Grundsätze 
zu  verzichten:  die  Bourgeoisie  und  die  Liberalen. 

Als  der  Krieg  ausbricht,  eilen,  schreiben,  telegra- 
phieren die  Liberalen  geschäftig  im  Lande  umher, 
um  dafür  zu  sorgen,  daß  in  jetziger  Zeit  nicht  von 
Freiheit  geredet  werde,  sondern  eben  nur  noch  von 
Einheit.  Am  eifrigsten  ist  in  dieser  Abschnürung  des 
zweiten  Teiles  des  Parteinamens  Lasker,  der  doch  die 
„linke  Seele"  der  Nationalliberalen  darstellte.  Als 
freiwillige  Agenten  Bismarcks  suchen  sie  Bayern,  Würt- 
temberg, Baden  zum  Anschluß  zu  gewinnen.  Dabei 
werden  sie  von  dem  Bundeskanzler  übel  behandelt. 
Glaubt  er  allein  fertig  zu  werden,  so  stellt  er  die  un- 
gebetenen Helfer  bloß,  und  erst,  wenn  er  Mißerfolge 
hat,  ruft  er  sie,  damit  sie  öffentliche  Meinung  fabrizie- 
ren und  die  „Tintenklexer"  mobil  machen.  Und  wenn 
es  Bismarck  nicht  gelingt,  die  bayerischen  Reservat- 
rechte zu  hindern,  so  beschuldigt  er  die  Liberalen, 
daß  ihr  allzu  weites  Entgegenkommen  an  die  bayeri- 
schen Forderungen  ihm  das  Geschäft  verdorben  habe. 
Dabei  mußten  gerade  bei  den  Reservatrechten  die 
Liberalen  gleich  wieder  ihre  heiligsten  Grundsätze 
opfern;  denn  ihren  unitarischen  Bestrebungen  waren 
die  Bismarckschen  Konzessionen  viel  zu  weitgehend. 
Und  vertraulich  telegraphiert  Bamberger  Ende  No- 
vember 1870,  daß  man  die  Bundesverträge  trotz  ihrer 
Mängel  nicht  verwerfen  und  auch  nicht  amendieren 
dürfe. 

Auch  für  Bennigsen  war  der  deutsch-französische 
Krieg  ein  gewolltes  Mittel  der  inneren  deutschen 
Politik,  was  immer  er  auch  öffentlich  über  den  gerech- 
ten Verteidigungskrieg  reden  mochte.  In  seinen 
Privatbriefen  verschwindet  die  Kriegsglorie.  So  lesen 
wir  in  einem  an  seine  Frau  gerichteten  Schreiben  vom 
2.  Mai  1871:  „Hört  man  von  den  zurückkehrenden 
Beamten  manche  interessante  Details  über  den  Krieg, 
so  ist  man  doppelt  froh,  daß  das  Kriegführen  unserer 

388 


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Truppen  aufhört  und  die  diktatorische  Verwaltung  zu 
Ende  geht.  Von  Erschießenlassen  und  Niederbrennen 
der  Dörfer  erzählen  die  Herren  mit  größter  Gemütlich- 
keit. Daß  diese  Maßregeln  notwendig  waren,  begreife 
ich  bei  dem  wahnsinnigen  Verhalten  der  französischen 
Bevölkerung.  Zuletzt  stumpft  sich  das  menschliche 
Gefühl  unserer  Truppen  und  Beamten  aber  doch  in 
einer  entsetzlichen  Weise  ab.  Auch  über  die  Zahl 
bedenklicher  Krankheitsfälle  in  den  Lazaretten  bei 
verheirateten  Landwehrleuten  machte  Prinz  Hohen- 
lohe sehr  fatale  Mitteilungen.  Manches  Hundert 
Landwehrleute  wird  ihren  Frauen  kein  schönes  An- 
denken von  den  liederlichen  Französinnen  mit- 
bringen." 

War  der  französische  Krieg  für  Bismarck  eine  Not- 
wendigkeit der  inneren  preußischen  Politik,  so  war  er 
insbesondere  das  letzte  Mittel  nicht  nur,  um  die  Reste 
einer  bürgerlichen  Opposition  zu  vernichten,  sondern 
auch  um  sein  „nationales"  Programm  eines  Groß- 
preußen durchzuführen  und  zu  sichern.  Der  deutsche 
Krieg  von  1866  hatte  den  deutschen  Süden  durch- 
aus nicht  preußisch  gestimmt.  Die  Wahlen  zum  deut- 
schen Zollparlament  waren  im  Süden  gegen  Preußen 
ausgefallen.  Der  Norddeutsche  Bund  war  eine  durch- 
aus preußische  Organisation.  Bismarck  dachte  niemals 
daran,  ihn  durch  die  Anfügung  gleichberechtigter, 
unabhängiger  Südstaaten  aus  dem  Preußischen  ins 
Deutsche  übersetzen  zu  lassen.  Dieser  nationalen 
Auffassung  von  deutscher  Einheit  widerstrebte  er 
aufs  äußerste.  Die  Aufnahme  Süddeutschlands  war 
nur  unter  Formen  zu  dulden,  in  denen  Sicherheit 
geboten  war,  daß  die  süddeutschen  Staaten  in  einem 
schwachen  Verbände  nicht  als  Rivalen  Preußens  er- 
starken könnten.  Die  Überschreitung  der  Mainlinie 
auf  dem  Wege  zur  deutschen  Einheit  durfte  nur  den 
Zweck  haben,  die  Alleinherrschaft  Preußens  auch  im 
Süden  zu  gründen.  Eine  deutsche  Verfassung,  wie  sie 

389 


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I 


Bismarck  dachte,  war  immer  nur  eine  mildere  Form 
der  Annexion,  die  scheinbar  freiwillige  Unterwerfung 
unter  die  preußische  Vormacht.  Der  Süden  war  aber 
für  diese  preußische  Einheit  nicht  zu  haben,  und  des- 
halb bedurfte  Bismarck  zur  Krönung  seines  Werkes 
des  nationalen  Krieges. 

Aus  derselben  Politik  der  Niederbrechung  des 
nichtpreußischen  Deutschlands,  nicht  etwa  aus  irgend- 
welchen geistigen  Idealen,  entfesselte  Bismarck  dann 
auch  den  Kulturkampf.  Die  katholische  Kirche  wur- 
zelte im  Süden;  sie  war  gegen  das  als  protestantisch 
geltende  Preußen  gestimmt  und  war  so  eine  ernst- 
hafte und  nicht  leicht  zu  überwindende  Schutzmacht 
für  die  Erhaltung  eines  selbständigen  Südens;  darum 
bediente  sich  Bismarck  des  Kampfmittels  des  Anti- 
klerikalismus. 

Wenn  Oncken  den  Kulturkampf,  trotz  durchschim- 
mernder besserer  Einsichten,  doch  gern  als  eine  welt- 
geschichtliche Auseinandersetzung  zwischen  Katho- 
lizismus und  Protestantismus  zu  nationalen  Zwecken 
der  Einheit  rechtfertigen  möchte,  so  ist  das  unklare 
und  phrasenhafte  Mystik.  Der  Jahrhunderte  durch- 
geführte Rivalenkampf  zwischen  Hohenzollern  und 
Habsburgern  war  1866  beendigt.  Man  hat  mit  Bayern 
ein  Stück  südliches  Großdeutschland  in  das  nord- 
deutsche gefügte  Reich  bekommen,  vielmehr  gewalt- 
sam gepreßt;  denn  nur  mit  dem  Revolver  in  der  Hand 
hatte  man  dem  schon  geisteskranken  Ludwig  II.  von 
Bayern  die  Unterschrift  für  die  „deutsche  Einheit" 
abgerungen.  In  der  katholischen  Kirche  organisierten 
sich  diese  zentrifugalen  Kräfte.  Also  redete  man  auf 
preußische  Weise  mit  ihr.  Man  dachte  nicht  daran, 
Deutschland  vom  Klerikalismus  zu  reinigen.  Keine 
Trennung  von  Kirche  und  Staat;  keine  Trennung 
der  Schule  von  der  Kirche  —  wo  herrschte  mehr 
Klerikalismus  als  in  dem  protestantischen  Ostelbien!  — 
nur  ein  paar  polizeiliche  und  staatsanwaltliche  Schi- 

390 


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kancn  für  die  Träger  der  kirchlichen  Organisation,  nur 
einige  Sprengungs versuche  ihrer  unbequemen  Macht 
—  das  war  der  so  jämmerlich  zusammenbrechende 
Kulturkampf, 

Aber  zugleich  verfolgte  auch  hier  wieder  Bismarck 
die  Politik  der  Ablenkung.  Er  warf  den  Liberalen 
den  Kulturkampf  hin,  damit  sie  einen  hübschen 
liberalen  Zeitvertreib  hätten,  während  der  innere 
Ausbau  des  Deutschen  Reiches  sich  reaktionär  vollzog. 
Die  Spekulation  auf  die  liberalen  Philister  gelang. 
Die  liberalen  Führer  freilich  waren  sich  des  Spiels 
zum  Teil  wohl  bewußt.  Zwar  erfreute  der  Kultur- 
kampf Bennigsens  von  Jugend  an  genährte  antiklerikale 
Stimmung,  seine  Abneigung  gegen  die  „Römlinge"; 
aber  die  rein  machtpolitische  Tendenz  der  Bismarck- 
schen  Ausnahmegesetze  war  ihm  nicht  verborgen. 
Das  zeigt  schon  der  Ton,  in  dem  er  über  die  klerikale 
Gefahr  spottet,  so  wie  die  preußischen  Polizeihirne 
und  die  von  ihnen  verdunkelten  Leute  immer  Ge- 
fahren ausmalen,  handle  es  sich  nun  um  Demagogen, 
Demokraten,  liberale  Umstürzler,  Sozialisten,  Anar- 
chisten oder  wer  sonst  gerade  als  Feind  der  preußischen 
Ordnung  zu  kennzeichnen  ist.  Bennigsen  schildert 
seiner  Frau  (am  i.  Dezember  1874)  seine  Unterredun- 
gen mit  Bismarck:  „Er  sprach  wiederholt  davon,  daß 
er  seine  Entlassung  nehmen  müsse;  er  könne  den 
Ärger  am  Hofe  und  mit  einer  unsicheren  Reichstags - 
.mehrheit  nicht  mehr  aushalten.  Zweimal  sei  bereits 
auf  ihn  geschossen.  Täglich  erhalte  er  jetzt  Warnungen 
der  Polizei,  nicht  mehr  auszugehen  oder  im  offenen 
Wagen  auszufahren.  Jetzt  möge  einmal  ein  anderer 
Kanzler  von  fanatischen  katholischen  Gesellen  auf 
sich  schießen  lassen.  Leider  regen  seine  Frau  und 
Tochter,  wie  schon  in  Kissingen,  ihn  hier  mit  ihrer 
Angst  und  Sorge  wohl  auch  immer  mehr  auf.  Die 
Fürstin  Bismarck,  mit  welcher  ich  mich  heute  nach 
dem  Diner  längere  Zeit  unterhielt,  glaubt  erstens  an 

39i 


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eine  große  ultramontane  Mordverschwörung,  wo  täg- 
lich neue  Attentate  auf  Order  erfolgen  können.  Der 
armselige  Tiroler  Priester  Hanthaler  war  wie  Kull- 
mann  im  Komplott ;  darauf  will  sie  einen  Glaubenseid 
leisten"  usw. 

Uber  dieser  klerikalen  Gefahr  war  dann  nicht  die 
Zeit  da,  das  Deutsche  Reich  liberal  auszubauen.  Man 
war  sicher  stolz  darauf,  daß  man  bei  der  Feststellung 
der  Heeresstärke  das  verlangte  Äternat  durch  ein  im 
Grunde  dasselbe  besagendes  Septennat  ersetzte;  denn 
ob  man  das  Budgetrecht  für  „ewig"  oder  über  sieben 
Jahre  beseitigen  ließ,  war  ein  unerheblicher  Unter- 
schied. Und  Bennigsen,  der  Vater  dieses  Kompro- 
misses, wußte  sehr  gut,  wie  tief  der  monarchische 
Militärabsolutismus  in  Preußen  eingefressen  war. 
Schrieb  er  doch  einmal  (am  17.  Dezember  1874)  an 
seine  Frau:  „Soeben  war  ich  auf  einem  Diner  beim 
Kaiser,  wo  dieser  sich  mir  dafür  bedankte,  daß  wir  die 
Offiziers-  und  Löhnungsverhältnisse  der  Garderegi- 
menter intakt  gelassen  hätten  ...  Er  könne  sich 
doch  jetzt  vor  seinen  Garden  wieder  sehen  lassen. 
Solche  Dinge  nimmt  doch  auch  ein  ungewöhnlicher 
Fürst,  wie  der  alte  Kaiser,  seltsam  persönlich." 

Gleich  unheilvoll  war  die  liberale  Kompromißsucht 
in  den  Justizgesetzen.  Willig  unterwarf  man  sich 
dem  sich  steigernden  Anspruch  Bismarcks,  den  linken 
Flügel  der  Nationalliberalen  zu  unterdrücken.  So 
kam  denn  das  unerhörte  Schauspiel  zustande,  daß  nicht 
nur  der  Führer  der  Partei,  die  Jahre  hindurch  sowohl 
im  Reichstag  wie  im  Landtag  (Bennigsen  war  Präsi- 
dent des  preußischen  Abgeordnetenhauses)  die  stärkste 
und  schlechterdings  ausschlaggebende  Partei  war, 
einmal  in  spottender  Wehmut  äußern  konnte,  daß 
die  richtige  konstitutionelle  Theorie  in  diesem  Jahr- 
hundert nicht  mehr  vollständig  realisiert  werden 
würde  (Brief  vom  16.  November  1873),  sondern  daß 
auch  sein  feiernder  Biograph  bekennen  muß:  „Von 

392 


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einer  nationalliberalen  Ära  der  siebziger  Jahre  im  all- 
gemeinen kann  man  nicht  sprechen.  Weder  haben  die 
Führer  der  Fraktion  selbst  an  der  Leitung  der  Ge- 
schäfte teilgenommen,  noch  hat  die  Politik  im  Reich 
und  in  Preußen  sich  in  den  Linien  des  nationalliberalen 
Programms  bewegt."  In  der  Tat  war  der  höchste 
Erfolg  Bennigsens,  daß  er  einmal  zum  Nachfolger 
Bismarcks  ernannt  wurde,  —  aber  nur  von  der  „Wiener 
Neuen  Freien  Presse"! 

Über  den  Kulturkampf  verzichtete  man  auf  die 
liberale  Rechtsausgestaltung  des  neuen  Reiches.  Und 
als  nun  1877/78  auch  die  liberale  Wirtschaftspolitik 
verlassen  werden  sollte,  warf  Bismarck  den  Liberalen 
eine  andere  Schreckpuppe  hin:  die  Arbeiterbewegung. 
Wieder  wirkten  die  Liberalen,  bewußt  der  Lüge, 
an  dieser  ablenkenden  Politik  Bismarckschen  Terrors 
mit.  In  solchem  äußersten  Frevel  ist  denn  der  deutsche 
Liberalismus  völlig  verwest. 

IX. 

Der  deutsche  Liberalismus  hatte  am  Ausgang  seiner 
parlamentarischen,  zahlenmäßig  gegebenen  Macht 
nur  noch  eins  zu  verlieren,  den  Lebens-  und  Wesens- 
kern der  liberalen  Weltanschauung:  die  Erkämpfung 
und  Verteidigung  der  staatsbürgerlichen  Rechts- 
gleichheit. Diese  Seele  ihm  aus  der  Brust  zu  reißen, 
war  die  Aufgabe  Bismarcks,  als  er  sich  entschloß,  mit 
den  Nationalliberalen  zu  brechen  oder,  besser,  den 
deutschen  Liberalismus  vollständig  zu  zerbrechen; 
was  er  als  äußerlicher  Freund  der  Nationalliberalen 
begonnen  hatte',  wollte  er  nunmehr  als  ihr  Gegner 
vollenden.  Es  war  die  Zeit  der  agrarisch-schutzzöll- 
nerischen  Wendung  in  der  Wirtschaftspolitik,  als  der 
Gewaltige  sich  entschloß,  die  Nationalliberalen  an  die 
Wand  zu  drücken,  daß  sie  Sauce  gäben!  (So  soll  die 
vornehme  Wendung  in  Wirklichkeit  gelautet  haben.) 
Diesem  Bismarckschen  Pogrom  gegen  die  Liberalen 

393 


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ging  ein  Kaufversuch  Bennigsens  voraus,  die  ernst- 
hafteste Verhandlung  wegen  Übernahme  eines  preußi- 
schen Ministerpostens. 

Man  konnte  noch  im  Zweifel  sein,  ob  nicht  schon 
mit  ihrer  Zustimmung  zu  den  Kulturkampfgesetzen 
die  Liberalen  die  bürgerlichen  Rechtsgleichheit  ver- 
lassen hatten.  Immerhin  waren  das  eher  Spezial- 
gesetze gegen  eine  bestimmte  Institution  (wie  etwa  ein 
Börsengesetz),  als  Ausnahmegesetze.  An  dem  Aus- 
nahmecharakter des  Sozialistengesetzes  aber  war  kein 
Zweifel;  es  richtete  sich  gegen  eine  ganze  Weltan- 
schauung, gegen  eine  Klasse,  gegen  eine  Partei.  Gerade 
diesen  Bruch  der  Verfassung,  der  Rechtsgleichheit, 
diese  Peitschung  der  Liberalen,  mit  denen  er  solange 
zusammengearbeitet  hatte,  wollte  Bismarck.  Als  die 
Liberalen  ihm  ihre  Bedenken  gegen  den  (ersten) 
Entwurf  äußerten,  beharrte  Bismarck  auf  seiner  An- 
sicht —  wie  sein  ehemaliger  Chef  der  Reichskanzlei, 
Tiedemann,  berichtet  — ,  „daß  man  die  Sozialdemo- 
kratie nur  wirksam  ins  Herz  treffen  könnte,  wenn 
man  berechtigt  sei,  über  die  Barrieren  hinwegzusetzen, 
die  die  Verfassung  in  übergroßer  doktrinärer  Fürsorge 
zum  Schutze  des  einzelnen  und  der  Parteien  in  den 
sogenannten  Grundrechten  errichtet  habe".  In  Wahr- 
heit meinte  er:  daß  man  die  Liberalen  nur  wirksam 
ins  Herz  treffen  könnte.  „Das  war  die  Kriegserklärung 
gegen  den  liberalen  Geist,  mit  dem  zusammen  er 
die  Verfassung  des  Reiches  aufgebaut  hatte,"  bekennt 
Oncken. 

Es  gibt  keine  Veröffentlichung,  in  der  die  ganze 
Verruchtheit  des  Bismarckschen  Spiels  mit  dem  roten 
Schrecken  so  erschreckend  grell  hervorgeht,  wie  aus 
dem  Bennigsen- Werk.  Die  Niederhetzung  der  großen 
Masse  des  Volkes  war  für  den  infamsten  aller  Terro- 
risten nur  ein  taktisches  Manöver.  Man  kann  die 
Fäden  dieser  Verschwörung  jetzt  genau  verfolgen. 

Das  Sozialistengesetz  diente  Bismarck  dazu,  einmal 

394 


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die  liberale  Partei  zu  sprengen,  ihre  Linke  in  die 
Opposition  zu  drängen,  ihre  Rechte  als  wehrlose 
Regierungspartei  zu  knechten.  Zugleich  galt  es,  gegen 
den  Liberalismus  die  eigene  Gefolgschaft  aufzuhetzen. 
Das  konnte  auf  keine  Weise  bequemer  geschehen,  als 
durch  die  Aufreizung  der  brutalsten  großbürgerlichen 
Klasseninstinkte  gegen  die  Arbeiterbewegung.  Bis- 
marck stellte  mit  diabolischer  Kunst  die  Liberalen 
vor  die  Entscheidung:  entweder  liberal  zu  bleiben, 
die  Verfassung  zu  achten,  das  Ausnahmegesetz  abzu- 
lehnen und  dann  das  liberale  zahlungsfähige  Gefolge 
zu  verlieren,  oder  sich  Bismarck  zu  beugen  und  damit 
den  Liberalismus  zu  verlieren.  Auf  beiderlei  Weise 
ward  der  Weg  frei,  die  letzten  Regungen  eines  politi- 
schen bürgerlichen  Parteiidealismus  zu  vernichten  und 
die  Partei  umzuwandeln  in  eine  nackte  Interessen- 
vertretung von  Berufsgruppen,  denen  das  Parlament 
nur  eine  Tribüne  der  unmittelbaren  Geschäftsförde- 
rung  war:  so  konnte  die  Schutzzollpolitik  möglich 
werden,  gegen  die  sich  ja  auch  die  Arbeiterschaft 
—  durch  das  Ausnahmegesetz  niedergeworfen  — 
nicht  wehren  können  sollte.  Mit  dem  Sozialisten- 
gesetz begann  jene  Auflösung  bürgerlicher  Parteien 
in  reine  Geschäftsagenturen,  die  wir  heute  vollendet 
sehen.  Es  begann  die  Entpolitisierung  des  Bürger- 
tums, die  wieder  anfing,  noch  ehe  es  zur  Politik  recht 
gereift  war. 

In  dieses  Intrigenspiel  der  Jahre  1877/78  platzt 
das  Hödelsche  Attentat  so  zur  rechten  Zeit  hinein, 
wie  auf  das  Stichwort  im  Komödienspiel,  daß  an  einen 
Zufall  zu  glauben,  das  Bekenntnis  zum  Wunder  zu- 
muten hieße.  Man  wird  den  Verdacht  nicht  los,  daß 
der  höchst  wahrscheinlich  blind  geladene  Revolver 
des  christlich-sozialen  Narren  ihm  von  Leuten  in  die 
Hand  gesteckt  war,  die  das  Attentat  brauchten.  Das 
zweite  ernste  Attentat  läßt  sich  durch  den  Nach- 
ahmungstrieb von  Geisteskranken  erklären,  das  die  Re- 


395 


gierung  denn  auch  weit  mehr  —  freudig  —  über- 
raschte, als  das  erste,  auf  das  man  geradezu  vorbereitet 
zu  sein  schien. 

Die  „Gefahr  der  Sozialdemokratie"  taucht  erst 
genau  in  dem  Augenblick  auf,  als  der  Terror  gewünscht 
wurde.  Auf  all  den  Hunderten  von  Blättern  des 
Bennigsen-Werkes,  die  vorausgehen,  findet  man  nicht 
die  leiseste  Andeutung,  daß  der  Führer  der  National- 
liberalen von  dieser  Gefahr  etwas  wußte.  Uber  seine 
jugendlichen  Sympathien  für  den  utopischen  Sozialis- 
mus war  er  freilich  langst  hinausgekommen,  aber  ein 
gewisses  Verständnis  für  soziale  Fragen,  auch  für  die 
Arbeiterbewegung,  War  ihm  geblieben.  Jetzt  sollte 
er  plötzlich  nicht  nur  an  die  rote  Gefahr  glauben, 
sondern  sie  auch  durch  Preisgabe  der  elementaren 
liberalen  Grundsätze  zu  bannen  versuchen.  Aber 
Bennigsen  glaubte  nicht  an  den  Popanz,  sondern  er 
wußte  vielmehr  ganz  genau,  daß  Bismarck  den  Libera- 
lismus treffen  wollte;  und  dennoch  beugte  er  sich 
schließlich  dem  Bismarckschen  Terror. 

Mit  den  Reichstagswahlen  von  1877  hatte  der  Zer- 
fall der  Nationalliberalen,  der  Aufstieg  der  Konser- 
vativen begonnen.  Die  nationalliberale  Fraktion  zählte 
immerhin  noch  127  Mitglieder.  Die  Abrechnung  mit 
den  Nationalliberalen  wurde  eingeleitet  durch  Ver- 
handlungen mit  Bennigsen  über  seinen  Eintritt  ins 
Ministerium.  Diese  Verhandlungen  sind  zumeist, 
so  namentlich  von  Eugen  Richter,  als  ein  nicht  ernst 
gemeintes  Manöver  aufgefaßt  worden,  die  den  späteren 
jähen  Bruch  aus  nationalliberalem  Verschulden  er- 
scheinen lassen  sollten.  Das  vorliegende  Material 
zwingt,  diese  Auffassung  preiszugeben.  Bismarck 
wollte  wirklich  den  einflußreichsten  Mann  des  Libe- 
ralismus aus  seiner  Partei  herausholen,  und  indem  er 
ihm  das  Polizei ministerium  anbot,  wo  jeder  Mensch 
konservativ  regieren  muß  —  der  liberale  Bennigsen 
hätte  gleich  das  Sozialistengesetz  machen  dürfen!  — , 

396 


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hatte  Bismarck  den  Liberalismus  zugleich  regierungs- 
fähig und  unschädlich  gemacht.  Der  Plan  scheiterte 
einmal  an  Bennigsen,  der  klug  genug  war,  als  Bedingung 
seines  Eintritts  den  gleichzeitigen  Eintritt  zweier 
anderer  Liberalen  zu  fordern  und  an  der  greisenhaften 
Halsstarrigkeit  Wilhelms  I.,  der  wieder  ganz  zum  Kar- 
tätschenprinz geworden  war  und  in  jedem  Liberalen 
einer  Revoluzzer  sah.  Als  dem  Kaiser  die  Verhand- 
lungen mit  Bennigsen  zugetragen  wurden,  schrieb 
er  dem  Kanzler  einen  aufgeregten  und  groben  Brief. 
Er  verlangte  von  Bismarck,  daß  er  die  Gerüchte  demen- 
tiere, „da  niemand  besser  weiß,  als  Sie  selbst,  daß  Sie 
mir  keine  Silbe  über  diesen  Gegenstand  mitgeteilt 
haben".  „Dies  hat  mich  denn  doch  in  einem  Maße 
frappiert,  daß  ich  anfangen  muß,  zu  glauben,  es  sei 
wirklich  etwas  derart  im  Werke,  von  dem  ich  gar  nichts 
weiß."  Der  Brief  schloß:  „Ich  muß  Sie  also  ersuchen, 
mir  Mitteilung  zu  machen,  was  denn  eigentlich  vor- 
geht? Was  Bennigsen  betrifft,  so  würde  ich  seinen 
Eintritt  in  das  Ministerium  nicht  mit  Vertrauen  be- 
grüßen können,  denn  so  fähig  er  ist,  so  würde  er  den 
ruhigen  und  konservativen  Gang  meiner  Regierung, 
den  Sie  selbst  zu  gehen  sich  ganz  entschieden  gegen 
mich  ausgesprochen  haben,  nicht  gehen  können." 
Damit  war  denn  der  Plan  für  Bismarck  erledigt,  ohne 
daß  er  es  für  nötig  hielt,  Bennigsen  von  dieser  Wen- 
dung in  Kenntnis  zu  setzen.  Bismarck  hat  in  seinen 
„Gedanken  und  Erinnerungen"  diese  Vorgänge  ge- 
flissentlich falsch  dargestellt  —  eine  Kunst  der  Fäl- 
schung, die  Oncken  mit  der  bewundernden  Wendung 
umschreibt:  „Er  macht  Geschichte,  auch  wenn  er 
Geschichte  schreibt." 

Solange  die  Verhandlungen  zwischen  Bismarck  und 
Bennigsen  noch  schwebten,  solange  also  der  Plan  noch 
nicht  gescheitert  war,  den  rechten  Flügel  der  Liberalen 
für  die  neue  Wirtschaftspolitik  hinüberzuziehen, 
wurde  mit  dem  roten  Schrecken  noch  nicht  gearbeitet. 

397 


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Erst  als  Bennigsens  Kandidatur  unmöglich  geworden 
war,  begann  das  Spiel  mit  dem  Umsturz. 

Die  nationalliberale  Fraktion  beschloß  einstimmig, 
das  erste  Ausnahmegesetz  abzulehnen.  Bennigsen 
deutete  in  seiner  Reichstagsrede  vom  23.  Mai  1878  an, 
„daß  es  bei  dieser  Vorlage  weniger  abgesehen  gewesen 
ist  auf  wirksame  Maßregeln  gemeinschaftlich  mit  dem 
Reichstag  gegen  die  Sozialdemokratie,  als  auf  ander- 
weitige politische  Coups".  Bennigsen  verzichtete 
in  dieser  bedeutsamen  Rede  nicht  auf  Umsturzgeschrei 
und  Klagen  über  sozialdemokratische  Ausschreitungen, 
aber  er  weigerte  sich,  den  Boden  des  gemeinen  Rechts 
zu  verlassen  —  seien  denn  „die  Zustände  in  Deutsch- 
land auf  einmal  über  Nacht  so  verhängnisvoll  geworden, 
daß  wir  zu  diesem  äußersten  und  verzweifelten  Mittel 
greifen  müssen"  —  und  er  bewies  sein  Verständnis 
für  den  Sozialismus:  „Unter  diesen  Zielen  sind  nun 
viele,  von  denen,  ich  möchte  sagen,  jeder  Menschen- 
freund, jede  wohlmeinende  Regierung  einen  Teil 
auch  unter  ihre  Aufgaben  aufnimmt .  .  .  Wir  haben 
auch  gesehen,  daß  Ziele  der  Sozialdemokratie,  wo  es 
sich  um  Schonung  der  Gesundheit  der  Arbeiter,  um 
Schutz  der  Frauen,  der  Kinder  gegen  Ausbeutung 
durch  die  Fabrikanten  handelt  —  daß  ebenso  wie 
die  Gesetzgebung  anderer  Länder  auch  die  deutsche 
Gesetzgebung  sich  mit  Aufgaben  beschäftigt,  die 
zugleich  von  den  Sozialdemokraten  unter  ihre  Ziele 
aufgenommen  sind."  Auch  bekundete  er  Einsicht 
in  die  geschichtliche  Wandlung  aller  wirtschaftlichen 
Produktionsformen . 

Dann  kam  das  Attentat  Nobilings.  Das  erste  Wort 
Bismarcks  war:  „Jetzt  habe  ich  sie  —  jetzt  lösen  wir 
den  Reichstag  auf."  Die  „sie"  waren  die  National- 
liberalen. Wir  kennen  die  verschiedenen  Entwürfe, 
die  Bismarck  bei  der  Reichstagsauflösung  als  Wahl- 
anweisung für  die  Behörden  ausarbeitete.  Das  Akten- 
stück wurde  immer  aufs  neue  so  korrigiert,  daß  die 

398 


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Sozialdemokratie  nahezu  verschwand,  und  der  linke 
Flügel  der  Nationalliberalen  an  ihre  Stelle  trat.  Ben- 
nigsen wußte  wohl,  daß  auch  der  zweite  Entwurf 
ganz  andere  Zwecke  verfolgte,  als  er  vorspiegelte. 
Noch  am  15.  September  1878  schrieb  er  an  seine 
Frau:  Die  nationalliberale  Fraktion  werde  sich  bei 
der  ersten  Lesung  möglichst  reserviert  halten,  „da  ihr 
die  Entscheidung  schließlich  zufallen  wird  und  wir 
auch  gar  nicht  wissen,  was  Bismarck  eigentlich  will, 
das  heißt,  ob  es  ihm  darum  zu  tun  ist,  ein  Sozialisten- 
gesetz zustande  zu  bringen,  oder  ,uns  an  die  Wand 
zu  drücken*,  wie  sein  beliebter  Ausdruck  sein  soll." 
Dennoch  unterhandelte  er  mit  Bismarck  und  er  hat 
schließlich  die  Annahme  möglich  gemacht,  nachdem 
die  Laskersche  Forderung  der  zeitlichen  Begrenzung 
von  Bismarck  zugestanden  war;  mit  dieser  Konzes- 
sion beschwichtigten  die  Liberalen  ihr  Gewissen, 
in  ihrer  ewigen  Kompromißpolitik  hatten  sie  ganz 
das  Gefühl  verloren  für  den  Schimpf  und  die  Dumm- 
heit dieses  Frevels.  Sie  wollten  sich  eben  nicht  aus-  . 
schalten  lassen,  und  so  verteidigte  Bennigsen,  was 
er  wenige  Monate  vorher  verurteilt  hatte.  Damit 
begann  der  Zusammenbruch  des  Liberalismus.  Das 
Ausnahmegesetz  war,  so  gesteht  Oncken,  „vom  liberalen 
Standpunkt  eine  weit  größere  Aufgabe  ihrer  Ideale, 
als  der  Partei  bisher  jemals  zugemutet  worden  war". 

X. 

Die  Bismarcksche  Politik  der  achtziger  Jahre  hat 
zwei  Jahrzehnte  später  durch  den  zwerghaften  Plagia- 
tor des  ersten  Kanzlers,  durch  den  Fürsten  Bülow,  ihre 
lächerliche  Nachäffung  gefunden.  Die  Reichsfinanz- 
reform von  1909  hat  ihr  Vorspiel  in  der  ersten  großen 
Reichsfinanzreform  von  1879.  Zugleich  mit  dem 
Sozialistengesetz  vollzieht  sich  die  Abrüstung  des 
Kulturkampfes  und  die  Bildung  des  schwarz- blauen 
Blocks,  der  Verbindung  von  Konservativen  und  Zen- 


399 


trura.  Schon  diese  erste  Finanzreform,  mit  der  die 
Massenbelastung  durch  Zölle  und  indirekte  Steuern 
beginnt,  wird  von  Konservativen  und  Zentrum  ge- 
gemacht, und  die  Liberalen  werden  rücksichtslos 
hinausgeworfen. 

Nicht  als  ob  Bennigsen  Bedenken  gegen  die  Schutz- 
zollpolitik gehabt  hätte.  Der  Hinweis  auf  die  alten 
englischen  Kornzölle  sei  eine  ungeheure  Übertreibung ; 
damals  hätte  der  Zoll  für  Weizen  2—4  Mark  betragen, 
jetzt  werde  für  Roggen  nur  25  Pfennige  verlangt. 
„Glauben  Sie",  führt  er  beruhigend  aus,  „daß  es 
möglich  ist,  in  Deutschland  Kornzölle  auf  die  Dauer 
einzuführen,  die  eine  wesentliche  Verteuerung  der 
Lebensmittel  herbeiführen,  glauben  Sie,  daß  solche 
Kornzölle  irgendeine  politische  Komplikation  über- 
leben würden?  Nein,  ein  wirklicher  Schutzzoll  auf 
Getreide,  wenn  Sie  ihn  einführen  wollten,  wäre  von 
vornherein  zum  Tode  verurteilt,  und  es  würde  nur  auf 
die  Umstände  und  Gelegenheit  ankommen,  einige 
Jahre  früher  oder  später,  wann  das  Todesurteil  voll- 
zogen würde.  Der  Schutz,  der  darin  für  die  Land- 
wirtschaft liegen  soll,  ist  eine  reine  Illusion."  War 
Bennigsen  also  für  einen  kleinen  mehr  Finanz-  als 
Schutzzoll  zu  haben,  so  war  doch  der  rein  freihändle- 
rische Teil  der  Nationalliberalen  stark,  und  alle  waren 
einig,  daß  man  das  parlamentarische  Einnahme- 
Bewilligungsrecht  nicht  preisgeben,  ebensowenig  das 
Reich  abhängig  machen  dürfe  von  den  Einzelstaaten. 
Daher  der  Antrag  Bennigsens,  gewisse  indirekte 
Reichssteuern  jährlich  zu  quotisieren.  Bei  diesem 
Punkte  brach  der  Konflikt  mit  Bismarck  aus.  Die 
Führung  übernahm  Windthorst,  Bennigsens  alter 
Gegner  aus  der  hannoverschen  Zeit,  und  mit  der 
Franckensteinschen  Klausel  kettete  er  das  Reich  an 
die  Einzelstaaten.  Im  Reichstag  geht  das  Präsidium 
von  den  Nationalliberalen  auf  die  Konservativen  über. 
Die  nationalliberale  Partei  zerfasert  sich,  erst  bröckelt 

400 


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sie  rechts,  dann  links  ab.  Bismarck  verfolgt  und  ver- 
hetzt die  Liberalen,  die  er  zerbricht,  nachdem  er  sie 
all  die  Jahre  hindurch  entnervt  hat.  Der  Kanzler 
arbeitet  mit  zwei  Mehrheiten.  Er  macht  den  National- 
liberalen antiliberale  Politik  und  mit  dem  Zentrum 
antiliberale  Wirtschaft.  Frühzeitig  taucht  aber  bei 
Bismarck  auch  schon  der  mittelparteiliche  Kartell- 
gedanke auf.  Unmittelbar  nach  dem  schroffen  Bruch 
läßt  Bismarck  Bennigsen  durch  einen  Vetter  die  Bot- 
schaft übermitteln  (September  1880):  Er  solle  den 
Sezessionisten  (den  Lasker  und  Bamberger)  die  Türe 
zumachen.  „Mit  nur  negierenden  Parteien  kann  die 
Staatsregierung  nicht  gehen.  Ich  hoffe  (meinte  Bis- 
marck), daß  eine  Einigung  zwischen  der  nationalen 
Partei  und  den  Konservativen,  natürlich  ausgeschlossen 
der  Kreuzzeitungspartei,  stattfinden  wird."  Über  die 
Schutzzollfrage  werde  man  sich,  meint  Bismarck, 
einigen:  „Findet  eine  derartige  Einigung  nicht  statt, 
so  treiben  wir  dem  Absolutismus  direkt  entgegen. 
Ein  Wechsel  im  System  der  Verwaltung  ist  von  der 
Nation  bedingt,  hat  längere  Zeit  Freihandel  statt- 
gefunden, so  wird  durch  die  unvermeidlichen  Aus- 
wüchse desselben  dem  Schutzzoll  in  die  Arme  gearbei- 
tet, wird  der  Schutzzoll  längere  Zeit  eingeführt  sein, 
so  wird  auch  hier  wieder  ein  Wechsel  naturgemäß 
werden." 

Dem  Manchestertum  war  Bennigsen  nie  ganz  ver- 
fallen. Deshalb  wird  es  ihm  auch  leicht,  Bismarck  in 
seinen  sozialpolitischen  Täuschungsversuchen  zu  unter- 
stützen. Aber  wie  zaghaft  und  mißtrauisch  ist  man 
damals,  während  man  heute  es  den  Sozialdemokraten 
als  Verbrechen  anrechnet,  gegen  jene  ersten  Entwürfe 
gestimmt  zu  haben.  Noch  1881  wandte  sich  Bennigsen 
in  einer  Magdeburger  Rede  gegen  den  Gedanken  einer 
staatlichen  Alters-  und  Invalidenversicherung:  Der 
Staat  müsse  sich  auf  Aufstellung  gewisser  allgemeiner 
Normen  und  gesetzlicher  Vorschriften  beschränken, 


«6    Bisner,  Gesammelte  Schriften.  I. 


401 


könne  das  Werk  aber  nicht  in  die  Hand  nehmen,  son- 
dern müsse  die  Durchführung  Privaten,  großen  Fabri- 
kanten, Aktiengesellschaften,  Gemeinden,  größeren 
Kommunalverbänden  und  Korporationen  überlassen ; 
dem  deutschen  Charakter  sei  so  etwas,  was  aussieht 
wie  Sozialbureaukratie,  ebenso  fremdartig  wie  Sozial- 
demokratie. Und  von  der  „herrlichen"  kaiserlichen 
Botschaft  von  1881,  die  von  dem  „engeren  Anschluß 
an  die  realen  Kräfte  des  christlichen  Volkslebens" 
frömmelte,  meinte  gar  Bennigsen  in  einem  späteren 
Brief  an  Hammacher,  Bismarck  sollte  „solche  Schleu- 
dercoups, wie  die  lediglich  auf  Windthorst  zugespitzte 
kaiserliche  Botschaft  .  .  .  unterlassen.  Mit  solchen 
Kunststücken  kommt  er  nicht  zum  Ziel."  Aber  dem 
Manchestertum  ist  er  doch  geistig  überlegen,  und 
1882  (15.  Juni)  äußert  er  gegen  Bamberger  über  die 
sozialdemokratische  Bewegung:  „Ich  glaube  nicht, 
daß  wir  es  hier  mit  einer  Bewegung  zu  tun  haben, 
die  nur  durch  Agitatoren  hervorgerufen  und  unter- 
halten wird ;  ich  glaube,  daß  wir  hier  an  einem  Wende- 
punkt der  ganzen  Geschichte  der  zivilisierten  Mensch- 
heit in  Europa  angelangt  sind,  wo  es  notwendig  ist, 
zu  prüfen,  was  in  diesen  Bewegungen,  welche  so  un- 
geheure Massen  schon  an  sich  gerissen  haben,  der  ge- 
sunde Kern  ist  und  was  nur  an  Auswüchsen  durch 
revolutionäre  und  agitatorische  Arbeit  hinzugetan  ist." 
Man  erkennt  das  liberale  Verhängnis,  die  ewige  un- 
heilbare Erkrankung  am  „gesunden  Kern".  So  ver- 
bindet sich  die  Fähigkeit  weltpolitischen  Erkennens 
mit  der  Zustimmung  zu  allen  Verlängerungen  des 
Sozialistengesetzes . 

Unterdessen  ist  Bennigsen  zum  Führer  einer  kleinen 
Mittelpartei  geworden.  Die  Wahlen  von  1881  haben 
die  Nationalliberalen  zerrieben.  Bennigsen  leidet 
längst  unter  politischem  Ekel.  Bisweilen  flackert  noch 
ein  gewisser  liberaler  Trotz  auf,  so  wenn  er  die  politi- 
sche Freiheit  der  Beamten  gegen  Bismarck  verteidigt. 

402 


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Wiederholt  will  er  sich  vom  politischen  Leben  zurück- 
ziehen. 1883  führt  er  den  Entschluß  aus,  er  legt  die 
Mandate  zum  Reichstag  und  preußischen  Landtag 
nieder  und  bleibt  bis  1887  den  Parlamenten  fern.  In 
demselben  Jahre  verlaßt  auch  Lasker  Europa  und  stirbt 
in  Amerika.  Als  das  Repräsentantenhaus  der  Ver- 
einigten Staaten  dem  Reichskanzler  eine  Beileidsadresse 
zur  Übermittelung  an  den  Reichstag  übersendet, 
lehnt  Bismarck  diese  „Briefträgerrolle"  ab  und  schickt 
die  Adresse,  die  seinem  liberalen  Helfer  zur  deutschen 
Einheit  huldigte,  nach  Washington  zurück! 

Die  liberale  Führung  gleitet  jetzt  von  Bennigsen 
auf  Miquel  über,  den  durch  keinerlei  Grundsätze 
mehr  belasteten  Geschäftsmann,  der  in  allen  kapita- 
listischen Wässern  sich  gebadet  hat  und  als  preußischer 
Agrarier  endigt.  Erst  bei  den  Septennats wählen  von 
1887  —  der  Militärkonflikt  ist  von  Bismarck  lange,  seit 
1884,  vorbereitet,  um  angesichts  des  zu  erwartenden 
Thronwechsels  und  des  fortschrittlich  spielenden 
Kaiser  Friedrichs  sich  mit  einer  konservativ-liberalen 
Mehrheit  zu  gürten  —  tritt  Bennigsen  wieder  hervor. 
Aber  zu  liberaler  Betätigung  hat  er  keinen  Raum  mehr. 
Der  kleine  liberale  Lärm  gegen  das  christliche  Volks- 
schulgesetz, für  das  die  Liberalen  im  neuen  Jahr- 
hundert dann  doch  stimmten,  ist  nur  eine  Tages- 
episode geblieben.  Endlich  schließt  Bennigsen  auch 
Frieden  mit  den  Klerikalen,  und  in  den  schwarzen 
Block,  den  er  früher  für  ein  „verrücktes  Projekt" 
erklärt  hatte,  tritt  er  selbst  noch  ein.  Bei  den  Ver- 
handlungen über  das  Bürgerliche  Gesetzbuch  teilt  ihm 
Karl  Bachem  mit,  daß  dem  Zentrum  die  Zustimmung 
zu  dem  „großen  nationalen  Werk"  nur  durch  „den 
selbstlosen  Beirat  der  Jesuiten"  möglich  werde;  Bennig- 
sen solle  nun  dankbar  für  die  Aufhebung  des  Jesuiten- 
gesetzes eintreten.  Dies  hübsche  Aktenstück  klerikaler 
Politik  wird  freilich  von  Bennigsen  ablehnend  beant- 
wortet. 


96' 


403 


Wie  Schattenbilder  gleiten  die  letzten  Jahrzehnte 
flüchtig  vorüber:  Der  Leichenhandel  um  Kaiser 
Friedrich,  der  Regierungsantritt  Wilhelms  II.  (der 
Bennigsen  gleich  zum  Oberpräsidenten  von  Hannover 
macht  und  Miquel  das  Oberpräsidium  der  Rhein- 
provinz anbietet,  um  seinen  Liberalismus  zu  beweisen), 
Bismarcks  Sturz,  Caprivi,  die  Handelsverträge,  die  Um- 
sturzvorlage, Hohenlohe,  die  Zuchthausvorlage.  Die 
mitgeteilten  Urkunden  sind  sehr  instruktiv  für  die 
Erkenntnis  der  wirklichen  politischen  Beziehungen, 
die  zum  Beispiel  Bennigsen  mit  dem  Finanzminister 
Miquel  verbinden,  manche  öffentliche  Legende  wird 
durch  diese  vertrauten  Äußerungen  vernichtet.  Aber 
der  Herausgeber  hat  hier  sehr  vorsichtige  Auswahl 
getroffen;  so  teilt  er  nur  einen  Brief  über  die  Zucht- 
hausvorlage mit,  der  freilich  schon  beweist,  daß  Ben- 
nigsen hinter  der  Büsinggruppe  stand,  die  den  Kadaver 
zu  retten  versuchte.  So  sehr  war  Bennigsen  jenseits 
aller  liberalen  Grundsätze  abgeglitten,  —  trotz  ge- 
legentlicher Sehnsüchte  nach  einem  kräftigen  einheit- 
lichen Gesamtliberalismus  und  obwohl  es  ein  gütiges 
Geschick  gefügt  hat,  daß  er  am  Ende  seiner  politischen 
Laufbahn  seine  Entlassung  als  Oberpräsident  nehmen 
mußte,  weil  er  im  Reichstag  im  Sommer  1897  für  die 
Aufhebung  des  Vereinsverbindungsverbots  (Antrag 
Rickert)  gestimmt  hatte,  der  sich  gegen  das  preußische 
Vereinsgesetz  richtete. 

Im  Kompromiß  vollzog  sich  der  Untergang  des 
deutschen  Liberalismus.  Dennoch  will  Bennigsens 
Biograph  gerade  in  dieser  Vorurteilslosigkeit  die  staats- 
männische Bedeutung  seines  Helden  erkennen.  Diese 
Ausführungen  sind  offenbar  in  den  Honigmonden  des 
Bülowblocks  geschrieben,  und  der  Verfasser  hat  sie 
später  herauszukorrigieren  vergessen,  —  das  Lob 
„positiver  Politik",  die  eben  nur  gerade  für  die  liberalen 
Ideen  ganz  und  gar  negativ  bleibt. 

Versöhnend   wirkt   menschlich,  wie  der  —  am 

404 


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Schluß  seines  Lebens  durch  schweres  Familienmiß- 
geschick bedrängte  —  Mann  nach  seinem  Ausscheiden 
aus  der  aktiven  Politik  ab  greiser  Student  wieder  zu 
den  Füßen  der  Göttinger  Professoren  saß  und  Natur- 
wissenschaften studierte.  Und  so  beweist  wohl  dieser 
Ausgang  eines  tätigen,  reich  bewegten  und  doch  inner- 
lich unfruchtbaren  Lebens  wieder  die  Gemeineigen- 
tümlichkeit des  deutschen  Bürgertums  in  seinem  vor- 
nehmsten Vertreter:  weitschauende  Ideen  zu  spinnen, 
um  sie  in  der  Praxis  des  Lebens  zu  verlieren.  Das 
war  Bennigsens  Schicksal  und  zugleich  das  des  deut- 
schen Liberalismus,  der  mit  seinem  bedeutendsten 
Führer  aufstieg,  zerrann  und  endigte. 

[1910.] 


405 


Anekdoten  vom  Tage. 
I. 

Der  Schwindler. 

Es  war  einmal  ein  frommer  Knabe,  der  lernte  fleißig 
Bibelsprüche,  und  sonst  nichts.  Gott  liebte  ihn  und  er 
bestand  viele  Prüfungen,  wurde  Professor,  Geheimrat, 
Exzellenz.  Da  entdeckte  man  eines  Tages  zufällig, 
daß  die  Leuchte  des  Landes  ein  Einfaltspinsel  war,  gar 
nichts  wußte  und  nicht  fähig  war,  zwei  Gedanken  logisch 
zu  entwickeln.  Als  man  das  sah,  berief  man  ihn  als 
erbliches  Mitglied  in  die  Erste  Kammer  und  alle  Welt 
bewunderte  ihn:  Wie  groß  muß  doch  ein  Mann  sein, 
der  nichts  weiß,  und  es  doch  so  weit  gebracht  hat. 

Und  es  war  ein  anderer  Knabe,  ein  gottloser  Bube, 
der  immer  nur  hinter  den  Büchern  saß  und  es  deshalb 
nur  zum  Hausdiener  brachte.  Nicht  einmal  das  ver- 
stand er.  Er  lief  davon,  durchwanderte  die  Welt, 
lernte  viele  Sprachen  und  mancherlei  Wissenschaft. 
Schließlich  kehrte  er  in  die  Heimat  zurück,  voll  Tücke 
und  Bosheit.  Und  er  benutzte  eine  schwache  Stunde 
seiner  Mitmenschen,  nistete  sich  unbemerkt  als  Lehrer 
ein,  gab  Sprachunterricht  und  schrieb  Bücher,  die  die 
Welt  lobte.  Die  Schüler  verehrten  ihn,  und  eine 
Schülerin  heiratete  ihn  sogar.  Der  Frau  aber  offen- 
barte er  sich,  daß  er  nicht  das  kleinste  Examen  bestan- 
den habe.  Die  fiel  erst  in  Ohnmacht,  verweigerte  dann 
die  eheliche  Pflicht  und  denunzierte  schließlich  den 
Unhold.  So  erfuhr  man,  daß  der  treffliche  Gelehrte 
ein  ganz  gemeiner  Hausdiener  gewesen  sei,  und  alle 
Welt  fluchte  dem  Schwindler,  der  sich  in  die  gebildeten 
Kreise  eingeschlichen,  und  er  ward  ausgestoßen.  Jetzt 
ist  er  Kohlengräber! 

406 


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II. 


Der  Mord. 

Der  Richter:  Gestehe,  Scheusal,  du  hast  dein  Kind 
in  der  Geburt  erstickt. 

Die  Mutter:  Ich  gestehe.  Ich  war  bettelarm  und 
einsam  auf  eisiger  Landstraße.  Da  erbarmte  ich  mich 
des  Wurms. 

Der  Richter:  Auf  das  Schaffot,  Verruchte! 

Der  Ri  ch  t  er :  Du  hast  deinen  Feind  getötet.  Weißt 
du  nicht,  daß  geschrieben  steht:  Liebe  deinen 
Nächsten. 

Der  Mörder:  Er  hat  mich  aber  nicht  geliebt.  Er 
hat  mich  mit  Wucherzinsen  verfolgt,  mir  mein  Letztes 
geraubt  und  mich  in  Elend  und  Verzweiflung  gestoßen. 
So  zertrat  ich  ihn. 

Der  Richter:  Du  verhöhnst  noch  das  Gericht,  und 
kennst  keine  Reue!  Du  erhältst  einen  Tag  Haft  wegen 
Ungebühr  und  verfällst  dem  Henker,  weil  du  aus 
Eigennutz,  um  einen  Vermögensvorteil  zu  haben, 
einen  unbemakelten  Bürger  grausam  hingeschlachtet 
hast. 

Der  Richter:  In  deiner  Fabrik  stirbt  jährlich  ein 
Viertel  deiner  Arbeiter  an  Schwindsucht  ? 

Der  Unternehmer:  Jawohl,  ich  habe  es  zu  einem 
großen  Betrieb  gebracht. 

Der  Richter:  Der  scharfe  Staub  zerfetzt  ihre  Lun- 
gen ?   Das  weißt  du  ? 

Der  Unternehmer:  Jawohl,  wo  eine  große  Pro- 
duktion ist,  gibt  es  viel  Staub. 

Der  Richter:  Und  das  läßt  sich  nicht  vermeiden? 

Der  Unternehmer:  Nein,  denn  es  würde  die 
Unkosten  steigern. 

407 


Der  Richter:  Dein  Geschäft  geht  aber? 

Der  Unternehmer:  Ich  kann  nicht  klagen.  Wir 
verteilten  im  letzten  Jahre  zwanzig  Prozent  Dividende 
und  gaben  außerdem  ein  halb  Prozent  in  die  Waisen- 
kasse. 

Der  Richter:  O  du  wohltätiger  Mann,  würdest 
du  wohl  die  Gnade  haben,  mir  zwei  bis  drei  Aktien 
zu  verkaufen? 

III. 

Das  freie  Opfer. 

Der  Strom  schwoll.  Er  brach  ein  in  alle  Winkel, 
Höhlen  des  Bodens,  sprengte  alle  Wölbungen,  zer- 
brach die  sichere  Decke  der  Erde,  stürzte  tausend- 
jährige Heiligtümer  der  Kunst,  warf  die  Behausungen 
der  Menschen  ein,  tötete  Menschen,  Tiere,  schwemmte 
Brot  und  Früchte  fort,  löschte  das  Licht  und  zer- 
nagte den  Verkehr,  und  trug  auf  seinen  tückischen 
Wogen  Hunger  und  Seuchen. 

Die  Menschen  traf  das  Ungeheure  über  Nacht. 
Sie  hatten  sich  alle  so  geborgen  gefühlt,  und  waren 
nun  hilfloser  als  Robinson  auf  der  Insel.  Aber  schnell 
erwachte  in  ihnen  der  Mut  und  Stolz  der  gemeinsamen 
Tat  der  opfernden  Solidarität.  Sie  verzweifelten  nicht 
und  wichen  nicht  vor  dem  Unheil.  Sie  waren  eins 
geworden  durch  das  Unglück,  halfen  einander,  ver- 
richteten Wunder  an  Tapferkeit  und  Selbstpreisgabe. 
Niemand  sicherte  das  eigene  Leben  und  das  eigene 
Gut,  um  das  der  anderen  zu  schützen.  Der  Strom 
hatte  die  Menschen  zu  Brüdern  und  Helden  ge- 
tauft .... 

Längst  floß  der  Strom  in  ruhigem,  seichtem  Bett. 
Aber  über  den  Wassern  verwehten  ohne  Unterlaß 
ungestört  die  Seufzer  der  Leidenden,  die  Schreie 
der  Verzweifelnden,  das  Keuchen  der  Verfolgten  und 
Bedrohten. 

Da  rief  einer  das  Volk  zum  Strom  und  sagte  zu  ihm: 
408 


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Sehet,  dort  unten  auf  dem  Grunde  liegt  ein  goldner 
Schlüssel.  Wer  ihn  bringt,  der  kann  endlich  dieser 
armen  Menschheit  die  versiegelte  Pforte  zum  Paradies 
eröffnen,  und  alle  Not  ist  vorüber. 

Das  Volk  richtete  die  Köpfe  in  jäher  Hoffnung  be- 
gehrend empor  und  wartete. 

Und  die  Stimme  erscholl  wieder:  „Wer  holt  uns  den 
goldnen  Schlüssel  der  Erlösung?" 

Einer  trat  kühn  an  den  Rand  des  Stroms,  beugte 
sich  hinab,  netzte  die  Fingerspitze  und  sagte: 

„Nein,  die  Temperatur  ist  noch  zu  niedrig.  Ich 
könnte  mich  doch  erkälten." 

Ein  zweiter  lief  zum  Ufer.  Im  Spiegel  des  Wassers 
sah  er  sich  und  sagte  dann: 

„Wie  schade,  gerade  heut  habe  ich  meinen  Sonn- 
tagsanzug an.  Ich  würde  ihn  verderben  " 

Und  ein  dritter  drängte  sich  vor,  lief  mit  einem  An- 
satz und  blieb  stehen,  versuchte  es  nochmals  und  noch 
einmal,  und  immer  kam  ihm  im  letzten  Augenblick 
ein  Gedanke,  der  ihn  lähmte.  Endlich  kehrte  er  zurück, 
senkte  den  Kopf  und  lachte  bitter: 

„Wer  weiß,  ob's  denn  was  hilft,  ob's  auch  kein 
Schwindel  mit  dem  Schlüssel  und  dem  Paradies  ist. 
Dazu  ist  mir  schließlich  mein  Leben  zu  wertvoll .  .  ." 

IV. 

Ein  Leutnant  und  zehn  Mann* 

Dreimal  hatte  der  Landtag  das  allgemeine,  gleiche, 
direkte  und  geheime  Wahlrecht  abgelehnt.  Dreimal 
war  der  Landtag  aufgelöst.  Aber  am  Ende  ward  es 
den  Abgeordneten  zu  dumm  und  sie  ließen  sich  nicht 
mehr  auflösen. 

Da  kam  ein  Leutnant  und  zehn  Mann! 

Am  Tor  empfing  sie  freundlich  der  Präsident :  „Ah, 
welche  Ehre,  Kameraden.  Grüßen  Sie  Ihren  Herrn  von 
uns  und  bestellen  Sie  ihm,  daß  wir  Kröchers  früher 
in  der  Mark  waren  als  die  Hohenzollern.  Wir  werden 

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also  auch  später  in  der  Mark  sein,  wenn  Ihr  Herr 
durchaus  nicht  lange  leben  will.  Im  übrigen  haben 
Sie  sich  in  der  Adresse  geirrt.  Drüben  im  Reichstag 
haben  "sie  sich  erfrecht,  eine  Erbschaftssteuer  anzuneh- 
men. Bitte,  meine  Herren,  es  wird  mir  ein  Vergnügen 
sein,  Sie  zu  führen." 

Und  der  Präsident  geleitet  den  Leutnant  und  die 
zehn  Mann  in  den  Reichstag. 

Als  die  kleine  Schar  rasch  ihre  Aufgabe  erledigt 
hatte,  fand  man  beim  Aufkehren  zwei  Papierblätter 
im  leeren  Saal.  Auf  dem  einen  stand: 

Resolution. 

„Indem  wir  erneut  unser  unverbrüchliches  Be- 
kenntnis zur  monarchischen  Staatsordnung  ablegen 
und  im  Heer  die  Grundlage  nationaler  Sicherheit  bis 
zum  letzten  Blutstropfen  verteidigen,  bedauern  wir 
ebenso  lebhaft  und  entrüstet,  daß  durch  den  Über- 
griff eines  Leutnants  der  Reichstag  an  weiterer  ge- 
deihlicher Arbeit  gehindert  worden  ist.  Wir  vertrauen 
aber  auf  den  gesunden  Sinn  des  Volkes  und  behalten 
uns  weitere  Schritte  vor." 

Auf  dem  anderen  Zettel  war  zu  lesen: 

Resolution. 

„In  Erwägung,  daß  die  Schließung  des  Reichstags 
durch  die  bewaffnete  Macht  geeignet  ist,  das  monar- 
chische Bewußtsein  im  Volke  auf  das  schwerste  zu 
schädigen,  fordern  wir  den  verantwortlichen  Herrn 
Reichskanzler  auf,  den  tiefgekränkten  Gefühlen  der 
Nation  und  ihrer  berechtigten  Vertreter  Genugtuung 
zu  verschaffen  und  beim  Monarchen  alle  geeigneten 
Schritte  zu  tun,  um  mit  möglichster  Beschleunigung 
eine  Wiedereröffnung  des  so  schwer  geschädigten  Par- 
laments zu  ermöglichen." 

Unter  dem  ersten  Zettel  stand  der  Name  Basser- 
mann, unter  dem  zweiten  v.  Payer  .  .  . 

Februar  1910. 
410 


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Luise. 

Eine  Heiligengeschichte  aus  dem  19.  Jahrhundert. 

Ein  wahrhaftes  Königspaar  ist  für  den  gan- 
zen Menschen,  was  eine  Konstitution  für  den 
bloßen  Verstand  ist.  Man  kann  sich  für  eine 
Konstitution  nur  wie  für  einen  Buchstaben 
interessieren. . .  Ist  nicht  ein  Mensch  ein  kür- 
zerer, schönerer  Ausdruck  eines  Geistes  als  ein 
Kollegium?. . .  Der  König  und  die  Königin 
beschützen  die  Monarchie  mehr  als 
200000  Mann. 

Novalis  auf  Friedrich  Wilhelm  III.  und  die 
Königin  Luise,  1798. 

I. 

Es  war  einmal  eine  wunderschöne,  engelgleiche 
Fürstin,  die  hatte  ein  Herz  von  purem  roten  Golde. 
Das  Volk  liebte  sie  und  wo  sie  erschien,  fiel  alles  in 
Ehrfurcht  vor  ihr  nieder.  Sie  bezwang  die  Sünder 
und  richtete  die  Unglücklichen  auf.  Niemand  aber 
vermochte  ihr  zu  widerstehen,  und  wem  sie  ein  Wort 
ihrer  purpurnen,  hold  geschwungenen  Lippen  gönnte, 
der  ward  bereit  zu  jeglicher  Guttat,  ob  er  auch  sonst 
hart  und  verstockt  sein  mochte.  Es  war  die  Königin 
Schneewittchen,  der  das  Spieglein  an  der  Wand  tau- 
sendmal am  Tage  kündete,  daß  sie  schöner  sei  als  die 
schönsten  Frauen  des  Landes. 

Über  so  viel  Tugend  und  Holdseligkeit  ergrimmte 
der  Teufel.  Er  machte  eine  schreckliche  Revolution 
an  den  Grenzen  des  Landes,  errichtete  sich  selber  ein 
Blutmeer,  einen  Thron  und  krönte  sich  zum  Kaiser 
der  Welt.  Dann  überfiel  er  grausam  das  friedliche 
Reich  der  Fürstin,  tötete  ihr  Volk  und  vertrieb  die 


411 


reine  Frau.  Sie  aber,  in  unbesieglichem  Vertrauen  auf 
Gott  und  die  Tugend,  voll  unendlicher  Liebe  für  ihr 
gequältes  Land,  nahm  tapfer  unsägliche  Leiden  auf 
sich,  wanderte  unter  Schmerzen  und  Qualen  in  ferne 
eisige  Wüsten,  kaum  daß  sie  hatte,  ihre  Blößen  zu 
decken.  Der  böse  Feind  ließ  sich  durch  so  viel  Schön- 
heit, Unschuld,  Reinheit  und  Heldentum  nicht  rühren. 
Die  hohe  Frau  aber  stellte  sich  dem  Satan  stolz  gegen- 
über und  rang  mit  seiner  schwarzen  Seele,  um  ihr 
Vaterland  zu  retten.  Doch  der  Unhold  triumphierte 
höhnend. 

Der  frommen  und  herrlich  blondlockigen  Fürstin 
Vertrauen  zur  ewigen  Macht  des  Guten  war  dennoch 
nicht  zu  brechen.  Sie  hungerte  und  dürstete  um  ihres 
Volkes  willen  und  verlor  nicht  den  Glauben.  Wie  aber 
Satan  nicht  weichen  wollte,  brachte  sie  ein  letztes 
Opfer.  Sie  riß  ihr  Herz  von  purem  roten  Golde  aus 
dem  schönen  Busen  und  warf  es  ihrem  Volke  zum 
Heile  hin.  So  starb  sie. 

Ihr  Herz  aber  hörte  nicht  auf  zu  klopfen.  Und  all- 
mählich klopften  all  die  bisher  stummen  und  feigen 
Herzen  ihres  Volkes  mit,  so  groß  und  tapfer  wie  das 
geopferte  Herz  der  Fürstin.  Und  bald  erhob  sich  das 
Volk  in  grimmem  Zorne  und  zog  in  den  heiligen  Krieg 
gegen  den  Satan  und  vernichtete  seine  Herrschaft. 

Das  Land  der  Fürstin  aber  ist  das  mächtigste  und 
tugendhafteste  Reich  der  Erde  geworden,  unsterblich 
und  unbesieglich,  weil  das  geopferte  Herz  der  Fürstin 
purpurn  und  rot  ewig  in  ihm  klopft . .  . 

Das  ist  die  Legende  von  der  Königin  Luise,  die  im 
19.  Jahrhundert  entstanden  ist,  eine  Legende  voll 
Süßigkeit,  Tugend  und  Wunderkraft,  und  dazu  eine 
protestantische  und  preußische  Legende.  Eine  Ge- 
schichte, der  Zeit  nach  und  seltsam  genug,  daß  man 
—  hundertster  Todestag  der  Märtyrerin  und  Heldin  — 
die  modische  Frage  auf  werfen  und  beantworten  darf: 
„Hat  die  heilige  Luise  gelebt?" 

412 


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II. 

I 

Die  monarchische  Verehrung  des  guten  Bürgers  ist 
mit  einer  Dosis  gallig  verkleinernder  Mißgunst  ver- 
setzt. Indem  er  den  Fetisch  über  sich  erhebt,  möchte 
er  doch,  sein  eigenes  Werk  neidend,  sich  wieder  über 
ihn  erheben.  So  fügt  er  seiner  Vergottung  hoher 
Herrschaften  lüstern  ehrfürchtigen  Klatsch  hinzu, 
Dinge,  die  ängstlich  geheimgehalten  werden,  die  ihm, 
dem  guten  Bürger,  aber  doch  nicht  verborgen  geblie- 
ben sind. 

In  meiner  Kindheit  war  in  den  besseren  Bürger- 
familien Berlins  die  Königin  Luise  eine  vertraute  Ge- 
stalt. Sie  wurde  bewundert  und  geliebt,  obwohl  sie 
niemand  mehr  mit  Augen  gesehen  hatte  und  niemand 
etwas  Bestimmtes  von  ihr  wußte.  Sie  galt  als  etwas 
sehr  Schönes,  Feines,  Edles,  wie  ein  verkörperter  herr- 
licher Roman,  der  aber  zum  Erbarmen  traurig  endigt, 
eine  Mischung  von  übermenschlichen  Reizen,  Fürsten- 
glanz und  Opferblut.  In  dem  lieblichsten  Eck  des 
Tiergartens  begeisterte  ihre  marmorne  Huldgestalt; 
und  Sonntags  pilgerte  man  wohl  nach  Charlottenburg 
ins  Mausoleum,  wo  sie,  von  Rauch  gemeißelt,  weiß 
und  friedlich,  die  feinen  schlanken  Hände  wie  schüt- 
zend über  das  schmerzende  Herz  gekreuzt,  griechisch 
stilisiert  in  magischem  Lichte  schlummert.  Wenn  man 
aber  all  das  Feierliche  gehört  und  gefühlt  hatte,  so  brach 
unvermittelt  am  Schluß  flüsternd  wie  eine  gefährliche 
Enthüllung,  schadenfroh,  die  Frage  in  den  Heiligen- 
dienst ein:  ob  man  wisse,  warum  Luise  immer  ein 
breites  Band  um  den  Hals  getragen  habe.  Nein,  man 
wußte  nicht  einmal  etwas  von  dem  Bande.  „Sie  hatte 
nämlich  einen  Kropf."  Der  Knecht  wurde  glücklich 
Herr  über  seinen  Fetisch. 

Der  armen  Luise  ist  es  übel  mit  ihrem  Kropf  ge- 
gangen, der  vielleicht  auch  nur  Legende  ist.  Eine 
Heilige  darf  keinen  Kropf  haben,  wie  etwa  ein  Schlach- 


4i3 


tendenker  unter  keinen  Umständen  auf  dem  Klosett 
sterben  darf,  was  aber  der  alte  Moltke  dennoch 
gewagt  hat.  Also  retouchierte  man  den  Kropf  weg. 
Dieses  Bemühen  aber  stachelte  nun  wieder  die  Wiß- 
begier. Man  forschte  und  forschte,  bis  es  auf  ein- 
mal schien,  als  sei  auf  diesem  Fleck  der  Geschichte 
überhaupt  keine  Heilige,  nicht  einmal  ein  gewöhn- 
licher Mensch,  sondern  nur  ein  Kropf,  nichts  weiter 
als  ein  Kropf. 

Der  ausschweifende  Luisenkult  der  Hofgeschichts- 
und Hofgeschichtenschreiber  hat  sich  bitter  an  dem 
Gedächtnis  einer  hübschen,  liebenswürdigen  Frau  ge- 
rächt. Indem  man  sie  um  und  um  durchstöberte  und 
durchleuchtete,  hat  man  die  Historie  schließlich  ernst 
nehmen  müssen  und  vor  die  Schranken  des  Welt- 
gerichts gefordert.  Das  Ergebnis,  das  unumstößliche 
Ergebnis  war  denn,  daß  diese  reizende,  wenn  auch  der 
Fülle  schillernder  Beweglichkeit  entbehrende  Prin- 
zessin von  Mecklenburg,  deren  Schicksal  einst  fügte, 
die  Königin  des  preußischen  Zusammenbruches  zu 
sein;  daß  diese  Luise,  weit  entfernt,  die  Heilige  und 
der  gute  Genius  in  dunkler  Nacht  zu  sein,  vielmehr 
die  gefährliche  Mitschuldige  der  schimpflichsten  Kata- 
strophe gewesen  ist,  die  jemals  einen  Staat  betroffen 
hat.  Die  heilige  Luise  hat  niemals  gelebt. 

III. 

Zu  Luisens  Zeiten  las  der  Deutsche  nicht  Goethe 
und  dachte  nicht  Fichte.  Er  las  und  dachte  im  Gegen- 
teil Lafontaine,  den  deutschen  Lafontaine,  der  in  Hun- 
derten von  Bänden  die  tränenreichen  Schicksale  edler 
Weiblichkeit  geschildert  hatte,  wie  sie  sich  durch 
Tugend  und  Standhaftigkeit  aus  schweren  Bedräng- 
nissen schließlich  rettete.  Lafontaine  wollte  nicht  nur 
spannen,  sondern  auch  belehren.  So  streute  er  Briefe 
zur  Einwirkung  auf  schöne  Seelen  ein.  Er  war  der 
unermüdliche  Lobredner  weiblicher  Tugend,  ohne 

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beängstigende  und  unbequeme  Strenge,  sondern  einer 
milden,  erträglichen  Tugend,  die  so  lange  nicht  als 
„gefallen"  gewertet  wird,  so  lange  sie  sich  dem  Äußer* 
sten  nicht  hingab. 

Luisens  Lieblingsschriftsteller  war  dieser  Lafontaine 
und  seine  Familiengeschichten  erfüllten  ihre  Welt  und 
Weltanschauung.  Während  aber  die  Literarhistorie 
den'  platten  Aufklärungsromancier  verächtlich  oder 
gutmütig  spottend  auf  dem  Schindanger  des  Tages- 
schrifttums verscharrt,  haben  die  preußischen  Ge- 
schichtsschreiber die  Lafontaineschen  Geistesäußerun- 
gen der  schreibfrohen  Luise  bis  in  die  neueste  Zeit  zu 
dicken  Bänden  ausschweifend  huldigend  ausgewalzt 
und  all  die  unendlichen  Wiederholungen  von  Tugend, 
Liebe  und  Gerechtigkeit  als  die  rührend  erhabenen 
Zeugnisse  einer  in  unmenschlichen  Prüfungen  über- 
irdisch gesteigerten  Frauenseele  beschwatzt  und  be- 
staunt. 

In  Wahrheit  aber  war  Luise  wirklich  nichts  weiter 
ab  die  Femelette,  als  das  Weibchen,  als  das  sie  sich 
selbst  einmal,  halb  abwehrend,  halb  zugebend,  im 
Sinne  des  Freiherrn  v.  Stein,  bezeichnet,  mit  jener 
leichten  Neigung  zur  spaßenden  Selbstironie,  die  der 
liebenswürdigste  Zug  ihres  Charakters  ist. 

Das  Luisenproblem  kann  auf  eine  ganz  kurze  und 
doch  erschöpfende  Formel  gebracht  werden:  Diese 
Frau  versucht,  in  einer  Zeit  ungeheuerster  Spannungen, 
Weltgeschichte  als  eine  romanhafte  Familiengeschichte 
zu  bewältigen,  in  der  eine  hinreißende,  durch  persön- 
liche Huldigungen  und  Erfolge  verwöhnte  Frau  durch 
die  Macht  ihrer  Weiblichkeit  das  Schicksal  meistert. 
Niemals  war  eine  Frau,  die  sich  der  Politik  vermaß,  so 
erschreckend  ohnmächtig,  auch  nur  zu  begreifen,  was 
Politik  bedeutet,  oder  auch  nur  die  Staatsidee,  ein 
Allgemeininteresse  zu  verstehen. 

Luise  kennt  keinen  anderen  Lebenszweck  als  das 
•  Glück  und  den  Glanz  ihrer  Familie.  Wo  sie  flüchtig 

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von  Volk  und  Vaterland  redet,  da  erscheint  „ihr"  Volk 
und  „ihr"  Vaterland  als  bloße  Staffage  ihrer  Familie. 
Den  Zusammenbruch  Preußens  empfindet  sie  als  eine 
unverdiente  Zerstörung  ihres  dynastischen  Behagens. 
Die  Weltgeschichte  besteht  für  sie  aus  Luise  und 
Friedrich  Wilhelm  nebst  dero  Kindern,  aus  Schwestern 
und  Vettern,  aus  dem  Zar  Alexander  und  dem  Kaiser 
von  Österreich,  aus  dem  Herzog  von  Braunschweig 
und  dem  General  Bennigsen,  aus  Hardenberg  und 
Haugwitz,  und  vor  allem  —  als  dem  bösen  Prinzip  — 
aus  Napoleon,  dem  Menschen,  dem  Manne  Napoleon, 
der  keine  Politik  treibt,  nicht  Geschichte  macht,  son- 
dern lediglich  ein  Teufel  'St,  der  sich  aus  dem  Kot 
emporgeschwungen  hat  und  der  kein  fühlendes  Herz 
hat,  weil  er  den  Tränen  und  Bitten  einer  schönen, 
in  entzückendem,  weich  wallendem  und  durchsichtig 
schimmerndem  Gewände  erscheinenden  Dame  wider- 
steht. Jede  politische  Handlung  Napoleons  hat  Luise 
als  eine  Beeinträchtigung  ihres  Familiengutes  auf- 
gefaßt, und  wenn  der  Eroberer  die  Hand  nach  den 
preußischen  Domänen  auszustrecken  droht,  so  denkt 
die  Königin  nur  an  den  Verlust  „ihrer"  Domänen  oder 
der  Domänen  ihres  Mannes  als  an  einen  Raub  ihres 
privaten  Eigentums. 

Diese  Frau,  die  in  der  furchtbarsten  Zeit  Preußens 
ihre  schlanken  Finger  in  allen  entscheidenden  Wen- 
dungen hatte,  hat  niemals  eine  politische  Äußerung 
sachlichen  Inhalts  getan.  An  der  Seite  eines  unbeweg- 
lich stumpfen  und  unerträglich  störrischen  Gemahls 
spielt  sie  das  Schicksal  der  Monarchie,  obwohl  sie  nichts 
kennt  als  ein  paar  moralische  Gefühle  —  wie  Tugend, 
Gerechtigkeit,  Stolz,  Ehre  — ,  als  den  Gegensatz  des 
verruchten  Feindes  Napoleon  und  des  göttlichen 
Freundes,  des  Zaren  —  als  das  eine  Ziel,  der  Familie 
die  Krone,  das  Land,  das  Glück  zu  erhalten. 

Und  eine  Figur  solcher  Enge  und  Kleinheit  nimmt 
den  Kampf  gegen  einen  Giganten  wie  Napoleon  auf, 

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der  nichts  ist  als  der  Träger  des  ungeheuren  Welt- 
kampfes der  Revolution  wider  die  alten  Mächte: 
England  und  Rußland. 

IV. 

Gewohnt,  alle  Dinge  durch  die  bewährte  Beredsam- 
keit ihrer  Frauenanmut  zu  entscheiden,  läßt  sich  Luise 
auch  wieder  leicht  von  starken  Persönlichkeiten  beein- 
flussen. Die  leidenschaftliche  Liederlichkeit  des  stür- 
misch jungen  Louis  Ferdinand  und  ihre  an  Ver- 
zückung grenzende,  von  ihr  selbst  bekannte  „Seelen- 
liebe" für  den  schönen  Zaren  Alexander  —  die  all- 
gemein verbreitete  Soldatensage  deutete  diese  Schwär- 
merei derb  als  Buhlschaft,  um  derentwillen  man  sich 
habe  totschlagen  lassen  müssen  —  beeinflussen  sie  vor 
1806  kriegerisch.  So  durchkreuzen  ihre  schlanken 
Hände  ahnungslos  die  durchaus  ernsthafte  und  auf- 
richtige Politik  Napoleons,  der  in  dem  von  ihm  zuerst 
auch  noch  überschätzten  Militärstaat  einen  Bundes- 
genossen wider  England  und  Rußland  zu  werben 
wünschte  und  erst  dann  den  Krieg  erklärte,  als  die 
Zaren politik  Luisens  die  Unmöglichkeit  bewies,  sich 
auf  Preußen  zu  verlassen. 

Hilft  Luise  derart  am  Sturz  Preußens  mit,  so  tut 
sie  nach  der  Katastrophe  nichts,  um  zur  Wiedergeburt 
des  Staates  zu  helfen.  Im  Gegenteil.  Für  die  Refor- 
men des  Freiherrn  v.  Stein  hatte  sie  gar  kein  Ver- 
ständnis, sein  idealistisches  Ungestüm  war  ihr  eher 
widerwärtig.  Sie  hielt  ihn  nicht,  als  ihr  Mann  ihn  als 
frechen  Dienstboten  davonjagte.  Sie  wendete  sich 
an  Stein  als  Retter,  als  keine  andere  Hilfe  aus  der 
Bedrängnis  sich  mehr  bot.  Als  sie  aber  sah,  daß  Stein 
an  den  Staat  dachte  und  nicht  an  das  hohenzollernsche 
Familienglück,  da  trat  sie  an  die  Spitze  seiner  Feinde 
und  half  zu  seinem  zweiten  Sturze.  Luise  verlangte 
180S  als  Entschädigung  für  zweieinhalb  Jahre  Unglück 
eine  Reise  nach  Petersburg.   Als  Stein  widersprach 


17   Eisoer,  Gesammelte  Schriften.  I. 


417 


—  wegen  der  Kosten  und  aus  politischen  Erwägun- 
gen — ,  mußte  er  Königsberg  verlassen. 

Das  war  das  „Märtyrertum".  Während  der  unsäg- 
lichsten Not  des  Landes,  als  den  Bauern  das  Korn 
zur  Aussaat  fehlte,  als  man  vielfach  mit  Baumrinde 
den  Hunger  zu  stillen  suchte,  hielt  das  Königspaar  in 
Memel  wie  in  Königsberg  einen  höchst  kostspieligen 
Hofhalt,  der  einen  erheblichen  Teil  der  Landes- 
einkünfte verschlang  und  bei  dem  zu  sparen  sich  Luise 
entschiedenst  weigerte.  Gleichwohl  jammerte  sie  end- 
los über  ihre  Not. 

Aus  diesem  verhaßten  Memel  herauszukommen,  das 
erfüllte  all  ihr  Sinnen  und  Trachten.  Darum  wesent- 
lich (und  um  Magdeburg  für  ihren  Mann  zu  retten) 
ging  sie  uneingeladen  zu  dem  vordem  roh  und  einfältig 
beschimpften  Napoleon  nach  Tilsit  und  versuchte,  ihn 
zu  beeinflussen.  Als  sie  nichts  ausrichtete,  schmähte 
sie  den  Menschen  ohne  Herz  wieder,  wollte  aber  noch 
im  gleichen  Jahre  nach  Paris  fahren,  um  ihn  wiederum 
anzuflehen.  Ja  wir  kennen  sogar  seit  kurzem  den  würde- 
losen Brief,  den  Luise  damals  an  Napoleon  schrieb. 
Sie  will  durchaus  nach  Berlin  zurückkehren;  denn  in 
Memel  leide  sie  mehr  als  irgendein  anderer.  „Meine 
Gesundheit  ist  völlig  zerstört,  da  ich  das  feuchte  und 
kalte  nordische  Klima  nicht  vertragen  kann."  Sie 
unterbreitet  diese  Bitte  dem  Kaiser,  weil  sie  weiß,  daß  er 
sich  für  ihre  Person  interessiert.  „Ich  schmeichle  mir, 
daß  Sie  diesmal  der  Stimme  Ihres  Herzens  folgen 
und  Preußen,  dem  König  und  mir  das  Glück  zurück- 
geben werden,  ein  Glück,  dessen  Wert  wir  doppelt 
schätzen  werden,  wenn  wir  es  aus  den  Händen  Eurer 
Majestät  empfangen." 

Ein  Jahr  später  fleht  sie  den  Zaren  an,  sich  nicht 
mit  Napoleon  einzulassen:  „Ich  beschwöre  Sie,  lieber 
Vetter,  mit  aller  Zärtlichkeit,  deren  meine  Freund- 
schaft fähig  ist,  seien  Sie  auf  Ihrer  Hut  gegen  diesen 
gewandten  Lügner  und  hören  Sie  auf  meine  Stimme, 

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die  nur  für  Sie  spricht,  für  Ihren  Ruhm,  den  ich  liebe 
wie  den  meinigen;  lassen  Sie  sich  nicht  zu  Unter- 
nehmungen gegen  Österreich  hinreißen."  Sie  will  ihn 
als  „guter  Genius"  nach  Erfurt  begleiten.  In  einem 
persönlichen  Zusammentreffen  mit  dem  Zaren  be- 
nimmt sich  Luise  mit  einer  Überschwenglichkeit,  mit 
Ausbrüchen  ihrer  weiblichen  Empfindungen,  die  selbst 
den  preußischen  Hofhistoriographen  Sorge  einflößen. 
Der  gute  Genius  schwebt  eifersüchtig  über  den  Ver- 
gnügungen von  Erfurt,  sie  möchte  den  Freund  vor  fri- 
volen Zerstreuungen  behüten,  ihn  —  in  Erfurt  — 
auf  der  Bahn  der  Tugend  festhalten.  Als  dann  aber 
der  Zar  trotzdem  seinen  Frieden  mit  dem  Lügner 
schließt,  findet  sich  Luise  sofort  drein,  daß  Preußen 
als  Schmarotzer  im  französisch-russischen  Bunde  em- 
porwächst. Und  sie,  die  eben  noch  an  Erhebungs- 
plänen gegen  Napoleon  geholfen,  läßt  jetzt  Stein 
stürzen,  weil  er  durch  die  ernsten  Vorbereitungen 
einer  solchen  Organisation  die  Ruhe  der  königlichen 
Familie  gefährdet!  Sie  geht  nach  Steins  Beseitigung 
zu  den  rauschenden  Festen  am  Zarenhof  und  kehrt 
zurück  —  voll  bitterer  Äußerungen  über  den  ange- 
beteten Alexander.  Der  Zar  hatte  nämlich  die  Ge- 
legenheit benützt,  sich  von  dem  Verdacht  eines  Ver- 
hältnisses mit  Luisen  zu  reinigen,  indem  er  in  ihrer 
Gegenwart  brutal  seine  Maitresse  auszeichnete. 

Auf  einer  Vergnügungsreise  ist  Luise  im  Juli  1810 
von  einer  Lungenentzündung  weggerafft  worden. 

V. 

Der  Luisenkult  begann  früh.  Der  Heiligenschein 
dieser  Frau  sollte  das  Dunkel  von  Jena  gnädig  über- 
strahlen. Heute  ist  Luise  geradezu  zur  Schutzpatronin 
des  Reichsverbandes  gegen  die  Sozialdemokratie  ge- 
worden. Jede  historische  Feststellung  über  diese  Frau 
gilt  als  Schändung  des  Erhabensten. 

Die  Heilige  wirkt  in  der  Tat  auch  nach  ihrem  Tode 


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Wunder,  freilich  Wunder  preußischer  Art.  1855  wurde 
ein  Artikel  des  Züricher  „Sozialdemokrat"  über  die 
Königin  Luise  von  dem  Minister  Puttkamer  als  wich- 
tigster Beweis  für  die  Notwendigkeit  des  Sozialisten- 
gesetzes verwendet.  In  unseren  Tagen  hat  der  Di- 
rektor der  Spirituszentrale,  der  konservative  Abgeord- 
nete Kreth  im  Reichstag,  wegen  eines  Luisenartikels 
der  „Leipziger  Volkszeitung"  Strafgesetze  gegen  die 
Geschichtsforschung  verlangt.  Und  auch  ohne  dieses 
Gesetz  und  obwohl  das  deutsche  Strafgesetzbuch  nicht 
die  Ahnen  des  regierenden  Königs  schützt,  wurde  der 
Redakteur  der  „Königsberger  Volkszeitung'*  am  4.  Jänner 
1908  zu  fünfzehn  Monaten  Gefängnis  verurteilt,  weil 
er  einige  unzweifelhafte  geschichtliche  Tatsachen  über 
die  Königin  Luise  zusammengestellt  hatte. 

So  wirkt  die  preußische  Heilige  noch  nach  einem 
Jahrhundert,  die  Mächte  zu  fördern,  die  einst  die 
Katastrophe  Preußens  verschuldet  haben  und  die  in 
ihr  mit  Recht  ihren  Schutzengel  verehren  mögen. 

[Juli  1910.] 


420 


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Die  Meineidslinde  von  Essen 

In  Preußen  wird  nicht  nach  der  preußischen,  auch 
nicht  nach  der  deutschen  Verfassung  regiert.  Schon 
deshalb  nicht,  weil  diese  feierlichen,  aber  konfusen 
Papiere,  nicht  die  Quelle  des  staatsbürgerlichen  Rechts, 
sondern  lediglich  die  Quelle  staatsrechtlicher  Diskus- 
sionen sind.  Die  Grundrechte  eines  Preußen  sind 
Streitfragen  Bediensteter  an  den  Universitäten.  Und 
die  herrschende  Lehre  stellt  über  alle  gedruckten  Para- 
graphen die  Staatsnotwendigkeit.  Was  aber  eine 
Staatsnotwendigkeit  ist,  entscheidet  Wilhelm  II.  oder 
Herr  Bethmann  .  .  . 

Die  Wahrheit  ist:  Es  wird  in  Preußen  noch  immer 
nach  dem  allgemeinen  Landrecht  regiert,  in  dem  schon 
die  Gelehrten  Friedrichs  des  Zweiten  die  Kunst  jenes 
preußischen  Jargon  übten,  durch  liberale  Rechts- 
phrasen die  Diktatur  der  Gewalt  (der  Staatsnotwendig- 
keit) zu  verkleiden. 

Nach  dem  Landrecht  aber  ist  die  wichtigste  Obrig- 
keit die  Polizei.  Ihre  Rechte  sind  ungemessen.  Ihre 
Aufgabe  ist  ganz  allgemein,  die  innere  Ordnung 
aufrecht  zu  erhalten.  Was  die  innere  Ordnung  ist, 
verfügen  wieder  die  jeweiligen  Machthaber. 

Die  Polizei  ist  zur  Vollendung  der  Staatsnotwendig- 
keiten da.  Demgemäß  sind  die  ausführenden  Organe 
der  Polizei  mit  höchster  Machtvollkommenheit  aus- 
gestattet. Das  ewige  Menschenrecht  der  Notwehr 
bricht  vor  einem  preußischen  Schutzmann  ehrfürchtig 
zusammen  . .  .  Ein  Polizist  kann  ohne  Untersuchung 
und  Verhandlung  ein  Todesurteil  fällen  und  sofort 
vollstrecken.  Zu  seiner  tatkräftigen  Ausrüstung  gehört 

421 


der  Säbel,  der  Browning  (man  darf  gewisse  technische 
Fortschritte  gegen  die  Zeit  Friedrichs  des  Zweiten 
nicht  leugnen,  wenn  man  nicht  in  den  Verdacht  bös- 
williger Verkleinerungssucht  geraten  will!)  und  der 
Gerichtseid.  Auch  dieser  Polizisteneid  gehört  zu  den 
staatsnotwendigen  Mitteln.  Es  wird  beschworen,  was 
staatsnotwendig  ist.  So  tief  wurzelt  in  dem  schlichten 
Marin  mit  dem  Browning  der  Instinkt  für  das  Preußisch- 
Notwendige,  daß  in  seinem  Bewußtsein  alle  Vorgänge 
der  Außenwelt  so  gerinnen,  wie  sie  der  innere  Dienst- 
betrieb erfordert.  Ist  der  Eid  gar  zu  kompliziert 
und  droht  das  Bewußtsein,  der  gute  Glaube,  zu 
versagen,  so  springt  der  Vorgesetzte  ein,  der  die 
Erlaubnis  zur  Aussage  verweigert  —  aus  Gründen  der 
Staatssicherheit. 

Wer  das  preußische  Wesen  nicht  kennt,  entrüstet 
sich  über  häutige  Bevorrechtung  des  Schutzmannseides 
vor  zivilen,  besonders  vor  proletarischen  Eiden.  Wenn 
man  aber  in  das  allgemeine  Landrecht  schaut,  so 
schwindet  die  Entrüstung  und  man  beugt  sich  er- 
griffen vor  dem  zähen  Leben  des  alten  ständischen 
Rechts,  das  in  der  preußischen  Justiz  heute  noch  auto- 
matisch wirkt,  obwohl  es  längst  durch  allerlei  windige 
neumodische  Gesetze  abgelöst  ist.  Im  ständischen 
Staat  der  absoluten  Monarchie  kannte  man  eben  nicht 
den  gleichen  Eid.  Die  Bedeutung  des  Eides  wurde 
bewertet  nach  dem  Stande  dessen,  der  ihn  leistete. 
Waren  die  Eide  nicht  miteinander  vereinbar,  so  wur- 
den sie  nach  ständischen  Points  berechnet  und  be- 
wertet. Es  war  gesetzliche  Vorschrift,  daß  ein  unifor- 
mierter einem  bürgerlichen  Eid  vorgezogen  werden 
mußte.  Die  alte  gute  Vorschrift  ist  zwar  heut  im 
Sinne  des  papiernen  Rechts  gesetzwidrig,  dafür  aber 
Praxis  —  ein  herrlicher  Beweis  für  die  Lebenskraft 
des  friderizianischen  Gesetzbuchs . .  . 

422 


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All  vor  15  Jahren  der  Gendarm  Münter  den  Eid 
leistete,  daß  er  den  Vertrauensmann  der  Bergarbeiter 
nicht  zu  Boden  geschlagen,  erzielte  er  damit  den 
Erfolg,  daß  sieben  sozialdemokratische  oder  sozial- 
demokratischer Gesinnung  verdächtige  Männer  i8l/t 
Jahre  Zuchthaus  und  6  Monate  Gefängnis  erhielten. 
Die  Güte  eines  Eides  bewährt  sich  in  der  Nützlich- 
keit für  den  Staat.  Herr  Münter  hatte  also  einen 
sehr  guten  Eid  geschworen  .  .  . 

Dieser  eine  Eid  berauschte  die  Geschworenen,  unter 
denen  sich  kein  Arbeiter  befand,  daß  sie  das  Schuldig 
aussprachen.  Dieser  Polizisteneid  befeuerte  so  die 
staatsanwaltliche  Energie,  daß  er  mit  stürmischer 
Leidenschaft  die  höchsten  Strafen  forderte.  Dieser 
Münter-Eid  beherrschte  die  gelehrten  Richter,  die  aus 
einer  dünnen  bürgerlichen  Oberschicht  sich  rekrutieren, 
daß  sie  die  furchtbarsten  Strafen  verhängten.  Dieser 
Eid  eines  Halunken  blieb  15  Jahre  lange  in  unge- 
schwächter Kraft. 

Mochten  die  Zuchthäusler  ihre  Unschuld  beteuern, 
mochte  das  ganze  Proletariat  aufschreien  in  Schmerz 
und  Zorn,  mochte  der  eidschwürige  Polizist  sofort  als 
ein  höchst  verdächtiger  Patron  entlarvt  werden, 
mochte  die  gesunde  Vernunft  die  innere  Unmöglich- 
keit, den  Widersinn  des  ganzen  Prozesses  nachweisen, 
mochte  der  Verteidiger  der  Angeklagten  unermüdlich 
für  das  Recht  kämpfen  —  die  herrschende  Welt  fügte 
sich  dem  Eid  des  Gendarmen,  und  alle  wurden  mit- 
schuldig an  dem  Verbrechen  .  .  . 

Bis  zur  letzten  Minute  mußten  die  Unglücklichen 
die  Strafe  auskosten,  und  die  ungezählten  Schuldigen 
und  Mitschuldigen  scheinen  in  ihrem  ruhigen  Schlum- 
mer nicht  gestört  worden  zu  sein;  sonst  hätte  das 
herrschende  Deutschland,  unter  dem  Fluch  der  Zucht- 
häusler, von  einer  Pest  der  Schlaflosigkeit  befallen 
werden  müssen. 

423 


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Der  Freispruch  nach  fünfzehn  Jahren  ist  keine 
Sühne. 

Den  Opfern  ist  der  Freispruch  eine  späte,  leise 
Freude,  die  Geldentschädigung  mag  das  Gröbste  mil- 
dern —  all  das  ist  keine  Sühne. 

Man  pflanze  zu  Essen  eine  Meineidslinde;  man 
pflanze  sie  mit  diesem  Gelöbnis:  Wenn  dein  Stamm 
sich  reckt,  deine  Äste  sich  breiten,  deine  Blätter 
schatten,  dann  soll  —  das  werden  wir  erfüllen  —  die 
Jugend  eines  glücklicheren  Geschlechts  um  dich  tanzen ! 

[Februar  191 1.] 


424 


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Chefredakteur  Wilhelm. 

Die  Independance  Beige  meldet:  Kaiser 
Wilhelm  werde  eine  eigene  große  Zeitung  grün- 
den, deren  Besitzer,  Direktor  und  Redakteur 
er  selbst  sein  werde,  während  der  Fürst  von 
Fürstenberg  das  Geld  hergibt.  Die  Tendenz 
des  Blattes  ist  Kampf  gegen  den  Sozialismus. 

Der  Präsident  der  Vereinigten  Staaten  Roosevelt  ist 
nach  dem  Ablauf  seines  Amtes  der  Redakteur  irgend- 
eines Blattes  geworden,  nicht  einmal  der  leitende, 
sondern  nur  einer  für  selbsterlebte  Reiseabenteuer  und 
weltgeschichtliche  Auszüge  aus  dem  Konversations- 
lexikon. Immerhin  ist  er  nur  Redakteur  und  nicht 
auch  Präsident.  Die  überlegene  europäische  Erbkultur 
vermag  natürlich  höhere  Leistungen  hervorzubringen. 
Hier  vermag  ein  Monarch  zugleich  ein  großes  Reich 
zu  regieren  und  eine  große  Zeitung  zu  redigieren, 
deren  Eigentum  und  geschäftliche  Direktion  ihm 
selbstverständlich  auch  noch  zufällt. 

Feinfühlige  Propheten  haben  diese  Entwicklung 
kommen  sehen.  Seitdem  Wilhelm  II.  dem  Fürsten 
Bülow  den  Revers  unterschrieben  hat,  daß  er  nicht 
mehr  reden  und  telegraphieren  werde,  war  ihm  seine 
geistige  Betätigung  nahezu  unterbunden,  und  mehr 
und  mehr  fühlte  er  sich  von  seinem  Volke  abgesperrt, 
bis  zur  Entfremdung  losgelöst.  In  jenen  Tagen  des 
November  beschlich  Wilhelm  II.  ein  Gefühl,  als  ob 
er  vielleicht  doch  seinen  Beruf  verfehlt  habe,  und 
dieses  Gefühl  bestätigte  ihm  seine  journalistische  Be- 
gabung; denn  ein  Journalist  ist  ja  ein  berufsmäßiger 
Berufsverfehler.  Dazu  kamen  die  materiellen  Sorgen, 
die  durch  die  Teuerung  aller  Lebensmittel  und  die 

4^5 


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große  Familie  hervorgerufen  waren,  und  die  ihm  den 
Gedanken  an  die  Laufbahn  eines  Hungerkandidaten 
besonders  nahelegten.  Endlich  hatte  der  Kaiser  so 
viele  Jahre  hindurch  mit  Zeitungsausschnitten  zu  tun 
gehabt,  daß  ihm  auch  die  notwendige  technische  Vor- 
bildung nicht  ermangelte,  zumal  er  auf  dem  Casseler 
Gymnasium  mit  der  Schulbildung  gründlich  zerfallen, 
mithin  für  den  journalistischen  Beruf  geradezu  be- 
rufen war.  Und  da  Freund  Egon  das  Geld  hergeben 
wollte,  stand  der  Ausführung  des  Unternehmens  nichts 
mehr  im  Weg. 

Als  August  Scherl  von  der  furchtbaren  Konkurrenz 
hörte,  bot  er  sofort  unter  fabelhaften  Bedingungen 
die  Chefredaktion  des  Lokalanzeigers  an,  aber  Wil- 
helm II.  lehnte  dankend  ab:  er  wolle  endlich  einmal 
sein  eigener  Herr  sein.  August  Scherl  gedachte  einen 
Augenblick  sein  Haupt  unter  seine  Einschienenbahn 
zu  legen,  dann  aber  fiel  ihm  rechtzeitig  ein,  daß  Wil- 
helm II.  ein  politisches  Tendenzblatt  herausgeben 
wollte,  daß  er  mit  seinem  Zeitungspapier  die  Sozial- 
demokratie zu  vernichten  gedenke.  Sofort  wurde  seine 
Seele  ruhig,  er  lächelte  fein,  beschloß  zu  warten  und 
sich  zwei  neue  Redakteure  für  Mordprozesse  anzu- 
werben. 

Die  zu  erwartende  Konkurrenz  bedroht  auch  unser 
Blatt.  Wir  haben  deshalb  erhöhte  Aufwendungen 
gemacht  und  es  ist  uns  gelungen,  dank  unseren  vor- 
züglichen Verbindungen  schon  heute  mitteilen  zu 
können,  was  das  Kaiserblatt  künftig  bringen  wird,  und 
welche  Schicksale  ihm  beschieden  sein  werden.  Wir 
greifen  in  unsere  Aktenmappe  und  geben  zur  Probe 
aus  unserem  geschwollenen  Schatz  vorläufig  nur  ein 
paar  Häppchen  wieder,  mit  dem  Versprechen,  unsere 
Leser  weiter  vorzeitig  über  das  Kaiserblatt  auf  dem 
Laufenden  zu  erhalten. 

426 


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Aus  der  Abonnementseinladung...  und  so 
fällt  denn  das  gefährliche  Steigen  der  roten  Flut  zu- 
sammen mit  jenem  unglückseligen  Versprechen,  das 
ich  dem  gewesenen  Reichskanzler  Fürsten  Bülow  ge- 
geben habe.  Nichts  ist  begreiflicher,  als  daß  mein 
Volk,  das  seinen  Kaiser  nicht  mehr  reden  hört,  den 
Verführungen  von  Narren,  Schurken  und  Verbrechern 
zum  Opfer  fällt.  Ich  aber  werde  meine  Feder  so 
führen,  daß  für  tausend  Jahre  kein  vaterlandsloser 
Geselle  einen  Deutschen  scheel  anzusehen  wagen  wird. 
Das  Blatt  Papier,  das  jetzt  täglich  dreimal  zwischen 
mir  und  meinem  Volke  stehen  wird,  beseitigt  die 
Schranken  zwischen  dem  Thron  und  der  Nation.  Ein 
Gott,  ein  König,  eine  Zeitung  —  das  ist  die  Losung 
meines  Blattes. 

Ich  werde  die  Welt  von  dem  Irrwahn  des  Sozialis- 
mus befreien,  ich  werde  der  Kunst  und  der  Wissen- 
schaft die  richtigen  Wege  weisen,  Religion  und  Sitte 
erhalten,  sowie  auf  allen  Gebieten  mein  Volk  herr- 
lichen Tagen  entgegenführen  . .  .  Inserate  finden  in 
allen  Kreisen  der  Gesellschaft  die  größte  Verbreitung, 
Wirkung,  deshalb  garantiert .  .  . 

• 

Aus  einem  Artikel  „Das  Wesen  des  Sozialis- 
mus" ..  .  Der  Sozialismus  besteht  also  darin,  daß 
eine  Rotte  von  Menschen,  die  nicht  wert  ist,  den 
Namen  Deutscher  zu  tragen,  den  armen  Mann  aus 
der  Werkstatt  um  seine  mühsam  erarbeiteten  Groschen 
bringt,  mit  denen  die  sogenannten  Führer  sich  dann 
im  Sumpfe  aller  Laster  wälzen.  Zu  jeder  Arbeit  un- 
lustig und  unfähig,  wollen  sie  auch  die  berufenen 
Führer  der  gesitteten  Menschheit  am  Arbeiten  hin- 
dern :  die  Fürsten  am  Regieren,  die  Offiziere  am  Krieg- 
führen, die  Priester  Gottes  an  der  religiösen  Propa- 
ganda, die  Kapitalisten  an  der  Unternehmerintelligenz, 
die  Familie  an  der  ehelichen  Liebe.  Auf  den  Trüm- 


427 


mern  unserer  tausendjährigen  Kultur  werden  sie,  wenn 
das  verblendete  Volk  ihnen  weiter  Vertrauen  schenkt, 
dann  die  wüsten  Orgien  der  freien  Liebe  feiern.  Ich 
aber  werde  das  hindern  .  .  . 

• 

Parlamentarisches  .  .  .  Wie  wir  aus  zuverlässiger 
Quelle  vernehmen,  hat  die  sozialdemokratische  Reichs- 
tagsfraktion sich  als  eine  Bande  organisiert,  die  plan- 
mäßig jene  Einbruchsdiebstähle  und  Raubmorde  ver- 
anstaltet hat,  die  unsere  treue  Bevölkerung  von  Berlin 
in  letzter  Zeit  mit  Angst  und  Schrecken  erfüllt  hat. 
Die  Verhaftung  steht  unmittelbar  bevor  .  .  . 

• 

Eine  Berichtigung...  Die  sozialdemokratische 
Reichstagsfraktion  sendet  uns  eine  Berichtigung,  in 
der  sie  behauptet,  wir  seien  einer  Verwechslung  der 
Sozialdemokratie  mit  den  bürgerlichen  Parteien  zum 
Opfer  gefallen,  deren  Raubzüge  sich  aber  nicht  auf 
den  Stadtkreis  Berlin  beschränkten.  Die  sozialdemo- 
kratische Fraktion  will  Gesetzgeber  spielen  und  kennt 
noch  nicht  einmal  den  wichtigsten  Satz  der  Reichs- 
verfassung, sonst  müßte  sie  doch  wissen,  daß  unser 
Blatt  es  nicht  notwendig  hat,  eine  Berichtigung  auf- 
zunehmen, da  unser  verantwortlicher  Redakteur  im- 
mun ist  und  überhaupt  über  den  Gesetzen  steht.  Aus 
demselben  Grunde  sehen  wir  auch  der  angedrohten 
Beleidigungsklage  mit  Fassung  entgegen.  Wir  sind 
nur  Gott  und  unserem  Gewissen  verantwortlich. 

Das  größere  Deutschland  .  .  .  Die  englische 
Regierung  will  uns  lächerlicherweise  unsere  wohlbe- 
gründeten Rechte  auf  Schottland  streitig  machen. 
Wir  werden  in  der  nächsten  Nummer  die  geheimen 
Aktenstücke  veröffentlichen,  die  den  sonnenklaren 

428 


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Beweis  für  unsere  Rechte  führen  werden.  Außerdem 
marschieren  binnen  zwei  Tagen,  wenn  es  sein  muß, 
zwei  Millionen  Soldaten,  stechen  500  Panzerschiffe 
erster  Ordnung  in  die  See  und  fliegt  eine  Zeppelin- 
brigade in  die  Luft.  Die  Times  möchten  wir  also 
dringend  ermahnen,  eine  ruhigere  Sprache  zu  führen. 

• 

In  eigener  Sache...  Unsere  gestrige  Nummer, 
welche  die  geheimen  Aktenstücke  veröffentlichte,  ist 
nicht  in  die  Hände  unserer  Leser  gelangt,  weil  die 
Staatsanwaltschaft  die  ganze  Auflage  angeblich  wegen 
Verrats  von  Staatsgeheimnissen  hat  konfiszieren  lassen. 
Der  schuldige  Staatsanwalt  wurde  sofort  verhaftet. 

•  • 

• 

Aus  dem  Briefkasten.  Nörgler.  Sie  haben  sich 
erdreistet,  unser  Blatt  abzubestellen,  weil  Sie  solchen 
Quatsch  nicht  länger  lesen  mögen;  wenn  Sie  nicht 
sofort  auf  ein  Jahrzehnt  weiter  abonnieren,  so  hängen 
wir  Ihnen  eine  Klage  wegen  Majestätsbeleidigung  an. 
—  Inserent.  Sie  haben  ganz  recht,  auch  uns  ist  schon 
wiederholt  aufgefallen,  daß  unsere  geschätzten  In- 
serenten bald  Kommerzienräte  wurden.  —  Amtsrichter 
in  Bomst.  Wie  können  Sie  Beförderung  erwarten,  wenn 
Sie  nicht  einmal  unser  Blatt  abonnieren. 

• 

Krieg  in  Sicht .  .  .  Neuseeland  hat,  wie  uns 
soeben  gekabelt  wird,  den  Fünf  stundentag  eingeführt. 
Da  wir  nicht  gesonnen  sind  zu  dulden,  daß  irgendwo 
in  der  Welt  sich  der  Zukunftsstaat  einnistet,  haben 
wir  Neuseeland  ein  Ultimatum  gestellt.  Auch  unser 
Verhältnis  zu  Belgien  nimmt  eine  bedrohliche  Wen- 
dung an,  da  die  belgische  Regierung  sich  hartnäckig 
weigert,  die  Karl-Marx-Straße  in  Brüssel  in  einer  den 
zivilisierten  Anforderungen  entsprechenden  Weise  um- 


429 


zu  benennen;  die  Berufung  auf  die  völkerrechtlich 
gewährleistete  Neutralität  können  wir  bei  solchen 
Verletzungen  des  Völkerrechts  nicht  anerkennen.  Lei- 
der sind  auch  unsere  Beziehungen  zu  unserem  öster- 
reichischen Bruderstaat  getrübt,  da  Kaiser  Franz  Josef 
sich  geweigert  hat,  vorgeblich  aus  Gesundheitsrück- 
sichten anläßlich  seines  hundertsten  Geburtstages  un- 
sern  Chefredakteur  an  der  Spitze  sämtlicher  deutscher 
Bundesfürsten  zu  empfangen  und  ihm  ein  Interview 
zu  gewähren.  So  ballen  sich  Wolken  ringsum  zusam- 
men, und  um  so  wichtiger  ist  es,  unser  Blatt  zu  abon- 
nieren, das  allein  in  der  Lage  sein  wird,  sämtliche 
Kriegspläne  vorher  zu  veröffentlichen. 

• 

Kunst  und  Wissenschaft  . . .  Unser  Chef- 
redakteur hat  soeben  mit  Hermann  Sudermann  eine 
monatfüllende  Oper  vollendet,  zu  der  er  auch  das 
eigens  zu  erbauende  Festspielhaus,  die  Dekoration,, 
die  Instrumente  und  die  Kritik  entworfen  hat.  Die 
Titelrolle  wird  der  Verfasser  selbst  kreieren.  —  Gegen- 
über den  vielfach  geübten  Angriffen  auf  die  Marmor- 
statuen der  Siegesallee  und  am  Brandenburger  Tor 
haben  wir  nunmehr  festgestellt,  daß  sie  sämtlich  von 
Leonardo  da  Vinci  stammen.  Welche  Blamage  für 
gewisse  Rinnsteinverehrer ! . . . 

•  • 
• 

An  den  Chefredakteur  Wilhelm...  Lieber 
Freund!  Hierdurch  muß  ich  Dir  leider  zum  ersten  Ok- 
tober kündigen.  Kein  Mensch  will  das  Blatt  lesen. 
So  viele  Millionen  besitze  auch  ich  nicht,  wie  so  eine 
Zeitung  frißt.  Du  bist  nicht  schuld,  sondern  das 
stupide  deutsche  Publikum.  Komm  mal  bald  zur 
Jagd,  das  ist  billiger.  In  alter  Treue 

Dein  Freund  Egon. 

•  • 

430 


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An  unsere  Leser...  Der  erfreuliche  Aufschwung 
unseres  Blattes  legt  uns  die  Pflicht  ob,  unseren  Lesern 
immer  neue  Verbesserungen  zu  bieten.  Zu  diesem 
Zwecke  wird  vom  i.  Oktober  ab  unser  Blatt  mit  dem 
rühmlichst  bekannten  Lokalanzeiger  des  Herrn  August 
Scherl  verschmolzen  werden,  und  bitten  wir  unsere 
geschätzten  Abonnenten,  ihr  Wohlwollen  auch  dem 
verschmolzenen  Unternehmen  zu  erhalten. 

[August  1910.] 


43i 


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Die  Steuerlampe. 

Plan  einer  Zeitschrift. 

Höchst  vertraulich! 

Ort  und  Datum  des  Poststempels. 

Euer  Hochwohlgeborert 

beehren  wir  uns  ganz  ergebenst  die  Aufmerksamkeit 
auf  unser  neues  Unternehmen  zu  lenken,  das  schon  im 
bevorstehenden  Wahlkampf  der  Sache  der  Ordnung 
wertvolle  Dienste  leisten  wird. 

Die  peinliche  Feststellung,  daß  eine  der  hervor- 
ragendsten Persönlichkeiten  des  Landes,  in  dem  Über- 
maß seiner  gemeinnützigen  Tätigkeit,  vergaß,  einige 
kleine  Steuerirrungen  richtigzustellen,  hat  den  roten 
Hetzern  den  willkommenen  Anlaß  geboten,  nun  alle 
führenden  Heroen  der  Nation  in  ihrem  Patriotismus 
zu  verdächtigen  und  das  tiefste  Mißtrauen  gegen  alles 
zu  erregen,  was  Rang,  Stand,  Besitz,  Bildung  und 
vornehme  Gesinnung  in  unserem  Vaterlande  hat. 
Diese  subversiven  Elemente  sagen,  und  man  glaubt 
ihnen  jetzt,  wenn  sie  den  giftigen  Samen  aussäen :  Uns 
wirft  man  vor,  daß  wir  den  Privatbesitz  zugunsten  des 
Staates  der  Allgemeinheit  enteignen  wollen,  ihr  aber 
enteignet  den  Staat  zugunsten  des  Privatbesitzes. 

Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  diese  allgemeine  Ver- 
dächtigung aller  Besitzenden  seit  jener  bedauerlichen 
Steuerirrung  einen  gewissen  Schein  von  Recht  erhalten 
hat.  Wenn  also  die  gegenwärtige  Ordnung  noch  vor 
dem  immer  ungestümer  andrängenden  Umsturz  sich 
behaupten  will,  so  müssen  die  oberen  Stände  der  Ge- 
sellschaft Sorge  tragen,  sich  gegen  die  Verdächtigung 
und  Verleumdung  zu  verteidigen. 

433 


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Unsere  Zeitschrift  Die  Steuerlampe  soll  diesem  er- 
habenen, ja  eminent  nützlichen  Zweck  dienen.  Wäh- 
rend aus  dem  Mißtrauen  und  dem  Haß  des  Pöbels 
jene  schmutzige  Revolverpresse  aufgewuchert  ist,  die 
durch  ihre  schamlosen  Angriffe  gegen  alle  bevorzugten 
Persönlichkeiten  des  Landes  gemeinen  erpresserischen 
Verdienst  zu  raffen  versucht,  wird  Die  Steuerlampe 
das  Vertrauen  und  die  Verehrung  für  die  gute  und 
beste  Gesellschaft,  für  den  Adel  der  Geburt  und  des 
Besitzes  fördern.  Wir  wollen  den  Optimismus  gegen- 
über dem  beklemmenden  Mißtrauen  und  die  nationale 
Lebensfreude  wieder  stärken.  Die  Steuerlampe  ist 
lediglich  zu  dem  Zweck  gegründet,  um  den  Verdienst 
und  die  Verdienste  der  leitenden  Gesellschaftskreise 
nicht  nur  ins  Licht  zu  rücken,  sondern  auch  unwider- 
leglich zu  beweisen. 

Durch  die  Steuerlampe  erhält  jeder  zu  den  höheren 
Einkommensstufen  emporgestiegene  Mitbürger  das 
Mittel,  um  offen  vor  aller  Welt  zu  beweisen,  daß  er 
nicht  nur  entsprechend  seinem  Einkommen  und  Ver- 
mögen dem  Staate  Steuern  entrichtet,  sondern  daß  er 
aus  lauterer  Vaterlandsliebe  auch  über  das  Maß  seiner 
Verhältnisse  hinaus  dem  Staate  zu  opfern  bereit  ist. 

In  dieser  Absicht  wird  Die  Steuerlampe  alljährlich 
die  genauen  Steuerdeklarationen  aller  wohlhabenden 
Personen  veröffentlichen.  Und  zwar  soll  das  in  folgen- 
der Weise  geschehen: 

In  wöchentlichem  Erscheinen  beginnen  wir  nach 
dem  Alphabet  mit  dem  Buchstaben  A,  um  mit  dem 
Schluß  des  Jahrganges  bei  Z  zu  endigen.  Im  folgen- 
den Jahre  wiederholt  sich,  auf  Grund  der  neuen  Er- 
gebnisse, das  Verfahren. 

Die  Steuerdeklarationen  beruhen  auf  den  direkten 
Erkundigungen  bei  den  Steuerzahlern.  Aber  wir  wer- 
den zugleich  das  Beweismaterial  für  die  Richtigkeit 
dieser  Deklarationen  veröffentlichen.  Der  Inseraten- 
teil wird  für  die  Veröffentlichung  der  Privatwirtschaft  - 


48   Eisner,  Gesammelte  Schriften.  I. 


433 


liehen  Bilanzen  zur  Verfügung  stehen.  Im  redaktio- 
nellen Teil  erfolgt  dann  die  Besprechung  dieser  Bi- 
lanzen. 

Die  Steuerlampe  wird  sich  nicht  damit  begnügen, 
nur  die  Einkommen-  und  Besitzverhältnisse  im  ein- 
zelnen nachzuweisen  und  sie  mit  den  Steuerzahlungen 
zu  vergleichen,  sondern  alle  finanziellen  Beziehungen 
sollen  ausführlich  dargestellt  werden.  Die  Steuerlampe 
wird  die  Einkünfte  aus  Tantiemen,  Dividenden,  Pro- 
visionen beleuchten.  Sie  wird  bis  ins  kleinste  zeigen, 
was  für  Aktienbesitz  der  einzelne  hat,  damit  die  be- 
törte Öffentlichkeit  einsieht,  in  welch  hochherziger 
Weise  unsere  begüterten  Volkskreise  die  Industrie 
fördern,  zu  welchen  Unternehmungen  sie  Beziehungen 
unterhalten.  Damit  erhalten  zugleich  die  in  der  Öffent- 
lichkeit wirkenden  Politiker,  Staatsmänner,  Parlamen- 
tarier, Parteiführer  (einschließlich  der  deutschen  Mon- 
archen) die  Möglichkeit,  nicht  nur  zu  zeigen,  daß 
sie  steuerehrlich  sind,  sondern  auch,  daß  sie  ihre  öffent- 
liche und  beamtete  Tätigkeit  niemals  zu  ihrem  per- 
sönlichen Vorteil  ausüben. 

Die  Steuerlampe  begnügt  sich  aber  nicht  nur  mit 
dem  Nachweis  der  Einnahmen,  sondern  sie  wird  auch 
der  Darlegung  der  Ausgaben  gewidmet  sein.  Dadurch 
wird  sie  das  aufrührerische  Gerede  zum  Schweigen 
bringen,  daß  nur  die  Armen  indirekte  Steuern  zahlen. 
Und  indem  Die  Steuerlampe  selbst  in  die  intimen  und 
intimsten  Ausgaben  eindringt,  wird  endlich  einmal 
festgestellt  werden,  welches  ungeheure  Maß  von  Le- 
benskraft, Schönheitssinn  und  Opfermut  in  der  Klasse 
deutscher  Herrenmenschen  und  Damenmenschen  noch 
pulst.  Um  jede  Ungenauigkeit  auszuschalten,  werden 
diese  Ausgaben  mit  genauer  Mitteilung  der  Namen, 
Datum  und  Adressen  spezifiziert. 

Wir  sagten  schon,  daß  alle  Informationen  auf  den 
direkten  Angaben  der  Betroffenen  beruhen  werden. 
Wir  haben  das  felsenfeste  Vertrauen  zu  unseren  führen- 

434 


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den  Gesellschaftskreisen,  daß  sie  unser  Bemühen,  ihre 
Steuerreinheit  nachzuweisen,  nicht  durch  falsche  Mit- 
teilungen durchkreuzen. 

Gleichwohl  aber  übernehmen  wir  natürlich  vor  dem 
Publikum  die  Pflicht,  auch  unsererseits  durch  selbst- 
ständige und  unabhängige  Nachprüfung  die  Mittei- 
lungen der  Interessenten  zu  verifizieren.  Zu  diesem 
Zweck  steht  uns  ein  über  ganz  Deutschland  verzweigter 
Stab  von  wohlunterrichteten  Mitarbeitern  und  Ver- 
trauensleuten zur  Verfügung.  Dieser  Dienst  ist  so 
eingerichtet,  daß  niemand  sich  mehr  dem  Licht  Der 
Steuerlampe  zu  entziehen  vermag. 

Ebenso  selbstverständlich  ist  es,  daß  wir,  wenn  doch 
gelegentlich  eine  Differenz  zwischen  den  Informatio- 
nen der  Beteiligten  und  unseren  eigenen  Erkundigun- 
gen sich  herausstellen  sollte,  wir  —  vor  der  Veröffent- 
lichung —  zunächst  den  betreffenden  Steuerzahlern 
Gelegenheit  geben  werden,  sich  zu  äußern. 

Die  Steuerlampe  will  nur  die  Wahrheit  ans  Licht 
bringen. 

Da  unser  Unternehmen  nur  gemeinnützige  Zwecke 
verfolgt  und  da  wir  unter  keinen  Umständen  daran 
verdienen  wollen  —  wir  haben  das  nicht  nötig  — ,  so 
wird  Die  Steuerlampe  gratis  verteilt.  Nur  für  Lieb- 
haber einzelner  Nummern  stellen  wir  eine  Bibliophilen- 
Ausgabe  her  (kaiserliches  Japanpapier,  eigens  geschnit- 
tene Kunsttype,  mit  der  Hand  gesetzt,  gedruckt,  ge- 
falzt und  gebunden!),  deren  Preis  besonderer  Verein- 
barung vorbehalten  bleibt.  Wegen  des  Insertions- 
preises  erhalten  Interessenten  den  Tarif  auf  Verlangen 
zugesandt. 

Unser  Lohn  liegt  allein  in  der  Förderung  des  öffent- 
lichen Wohles  und  in  der  moralischen  Rechtfertigung 
der  besitzenden  Klassen  der  Nation.  Sollten  infolge 
unserer  Veröffentlichung  dann  doch  gelegentlich  einige 
Steuerirrungen  hervorgezogen  werden,  so  erwarten 
wir  allerdings,  daß  die  Finanzminister  uns  einen  kleinen 


435 


Anteil  an  den  durch  unsere  Bemühungen  gewonnenen 
Mehreinnahmen  zukommen  lassen. 

Indem  wir  Euer  Hochwohlgeboren,  in  Ihrem  und 
Ihrer  Standesgenossen  eigenem  Interesse,  ersuchen, 
Die  Steuerlampe  auf  alle  Weise  zu  fördern, 

zeichnen  wir  hochachtungsvoll  ergebenst 

Verlag,  Expedition  und  Redaktion  der  Steuerlampe. 
(Gemeinnützige  Zeitschrift.) 

[August  191 1.] 


436 


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Meinungsbetrieb. 

Glücklich  der  Mann,  der  noch  imstande  ist,  gegen 
seine  Überzeugung  zu  schreiben!  Er  würde  beweisen, 
daß  er  im  tiefsten  Innern  eine  eigene  Uberzeugung 
verborgen  hält,  während  er  vor  der  Welt  seiner  Auf- 
traggeber erzählt,  was  sie  zu  hören  wünschen.  Er  hat 
eine  Moral,  wenn  er  sie  auch  nicht  ausübt.  Er  wahrt 
die  Distance  zwischen  seinem  Selbst  und  den  Bedürf- 
nissen seiner  Existenz. 

Ein  tapferer  Gentleman,  der  sich  für  seine  Artikel 
von  den  Gebrüdern  Mannesmann  in  bar  bezahlen 
läßt!*  Es  ist  ein  glattes  und  verantwortliches  Geschäft; 
denn  kommt  es  heraus,  so  ist  er  geliefert ;  er  wird  der 
öffentlichen,  höchst  öff entlichen  Sittlichkeit  geopfert. 

Ein  Kerl,  der  gegen  seine  Überzeugung  schreibt,  ist 
ein  Lump.  Also  ist  jedermann  von  dem  überzeugt, 
was  er  schreibt. 

Ein  Kerl,  der  gegen  Bezahlung  schreibt,  ist  abermals 
ein  Lump,  also  schreibt  er  gratis,  was  man  von  ihm 
wünscht,  aus  nationalem  oder  sonstigem  Idealismus, 
sogar  mit  Herzblut  und  Uberzeugung.  In  Deutschland 
hat  nur  der  Verleger  das  Recht,  reich  zu  werden,  nicht 
der  Journalist.  Im  Falle  des  Journalisten  wäre  solch 
wirtschaftlicher  Aufschwung  unanständig,  sogar  ehrlos. 

Ich  ziehe  den  Mann  vor,  der  gegen  seine  Über- 
zeugung schreibt  und  schätze  den  Ritter  vom  Geist, 
dessen  Geist  direkt  und  lohnend  bestechlich  ist.  Die 
Uneigennützigen,  die  alles  kostenlos  tun  —  gegen  ein 
ärmliches  Verlegerfixum  —  schänden  den  Stand.  Dar- 
um spielt  der  deutsche  Journalist  eine  so  untergeord- 
nete Rolle,  weil  er  kostenlos  leistet,  was  man  von  ihm 
verlangt.  Würde  er  auf  feste,  aber  hohe  Preise  halten, 


437 


käme  er  in  der  bürgerlichen  Gesllschaft  schnell  zu  An- 
sehen, wie  alles,  was  hoch  bezahlt  wird.  Es  wäre  eine 
dankbare  Aufgabe  einer  betriebsamen  Standesorgani- 
sation, das  Bestechungshonorar  zur  Pflicht  zu  machen. 

• 

Die  deutsche  Presse  ist  gegenwärtig  in  einem 
„Reichsverband"  beruflich  vereinigt.  Er  tagte  neulich 
in  Eisenach,  und  in  einer  Begrüßungsrede  fand  der 
Vorsitzende  die  feierlichen  Töne  eines  intellektuellen 
Kriegervereins:  „Der  Reichsverband  tritt  in  erster 
Linie  ein  und  muß  immer  eintreten  für  die  Ehre  und 
Würde  des  Standes.  Diese  Arbeit  ist  die  erste.  Wir 
haben  dafür  zu  sorgen,  daß  der  blanke  Ehrenschild  der 
deutschen  Presse  rein  gehalten  und  hoch  gehalten 
wird  .  .  .  Die  Hauptsache  für  uns  ist  die  sittliche 
Grundlage  der  deutschen  Presse  .  . .  Dieses,  die  Rein- 
heit, Ehrlichkeit  und  Lauterkeit  der  deutschen  Presse 
festzuhalten,  wird  und  muß  die  erste  Aufgabe  der 
deutschen  Presse  sein." 

Das  war  der  ethische  Heldentrotz  der  Leute,  die 
sich  gegen  die  Bestrebungen  empören,  die  niemand 
ihnen  zumutet;  die  unkäuflich  sind,  weil  keine  Käufer 
da  sind.  Es  ist  allgemein  bekannt,  daß  der  deutsche 
Journalist  nichts  nimmt,  daß  er  entschlossen  ist,  aus- 
schließlich von  seinem  Verleger  zu  leben.  (Kleine  Vor- 
fälle im  Handelsteil  und  im  Polizeibereich  ausge- 
nommen!) Die  Kapitalisten  und  ihre  regierenden 
Agenten  treiben  einen  abscheulichen  Mißbrauch  mit 
dieser  Billigkeit  im  öffentlichen  Meinungsbetrieb. 
Man  sollte  anfangen,  sich  höher  einzuschätzen  und  seine 
wertvollen  Überzeugungen  nur  an  den  Höchstbieten- 
den loszuschlagen. 

Was  man  jetzt  den  blanken  Ehrenschild  nennt,  ist 
nicht  nur  eine  wirtschaftliche  Schädigung  der  Journa- 
listen, sondern  auch  eine  schwere  Kulturgefahr.  Durch 
solche  sträfliche  Verbilligung  der  öffentlichen  Meinung 

438 


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sind  alle  Hemmungen  ausgeschaltet.  Jeder  nationale 
Sturm  ist  sofort  lieferbar!  Ich  würde  keinen  Artikel 
für  Herrn  Kiderlen  unter  tausend  Mark,  und  keinen 
für  die  Herren  Mannesmann  unter  5000  Mark  schreiben. 
Und  ich  würde  ausdrücklich  mir  dabei  den  Vorbehalt 
ausbedingen,  daß  die  Artikel  gegen  meine  Überzeu- 
gung verfertigt  sind. 

* 

Friedlich  spann  die  deutsche  Presse  Ferienträume, 
keine  Sorge  bedrängte  das  Herz  des  Patrioten.  Höch- 
stens hielt  man  den  blanken  Ehrenschild  über  Herrn 
Jatho.  Der  Reichstag  war  mit  seinen  Schlußprämien 
nach  Hause  gegangen,  ohne  am  internationalen  Hori- 
zont das  bescheidenste  Wölkchen  geahnt  zu  haben. 

Kaum  aber  war  die  Kunde  von  Agadir  in  den  Re- 
daktionen, und  schon  explodierten  gewaltig  die  all  die 
Jahre  mühsam  aber  erfolgreich  gebändigten  Überzeu- 
gungen. Die  blanken  Ehrenschilde  stürmten  in  klir- 
rendem Wettlauf  zur  Wilhelmstraße,  und  nachdem 
sie  ein  Weilchen  im  Vorzimmer  den  alten  Sauhatz- 
gobelin begafft,  drang  einer  nach  dem  andern  zu  dem 
Geheimrat  der  deutschen  öffentlichen  Meinung  vor 
und  nötigte  ihm  die  Überzeugung  der  unbestechlichen 
Presse  auf;  kostenlos. 

Weil  die  Deutschen  im  Sustal  von  möglichen  Ge- 
fahren bedroht  waren,  haben  wir  den  Panther  nach 
Agadir  geschickt,  —  die  Auskunft  genügte.  Was  sind 
das  für  Deutsche,  wie  heißen  sie?  Was  treiben  sie? 
Was  besitzen  sie?  Seit  wann  besteht  die  deutsche 
Herrlichkeit  im  Sustal?  Und  was  sind  da^s  für  Ge- 
fahren ? 

Die  neue  Überzeugung  von  der  Notwendigkeit, 
Agadir  zu  besetzen,  hinderte  nicht  die  Beibehaltung 
der  altbewährten  Unwissenheit  über  dieses  ersehnte 
Bewährungsgebiet  deutscher  Expansionskraft.  Nie- 
mand kennt  das  verschlossene  Gebiet.  Man  spricht 


439 


von  märchenhaften  Kupfer-  und  Eisenschätzen.  Kein 
Geologe  hat  sie  jemals  erforscht.  Der  letzte  deutsche 
Reisende,  der  in  Südmarokko  gewesen,  hat  vor  mehr 
als  25  Jahren  seine  höchst  eilfertigen  Beobachtungen 
drucken  lassen.  Er  war  froh,  wie  er  aus  dem  Sustal 
herauskam,  ohne  als  Zielscheibe  für  die  erregten  ber- 
berischen Kunstschützen  erprobt  worden  zu  sein.  Aber 
diese  fliehende  Wissenschaft  ist  seitdem  immer  wieder 
ausgeschrieben  worden.  Sie  bot  auch  jetzt  das  einzige 
Material  für  die  Ehrenschildpresse.  Hier  entstammte 
—  durch  Verkürzung  des  Zitats  —  die  Sage  vom 
idealen  Hafen  Agadir.  Das  andere  holte  man  aus  der 
bewährten  Schatzkammer  marokkanischer  Wissenschaft, 
aus  Tanger,  dem  nordafrikanischen  Bernau. 

Ein  leidenschaftlicher  Marokkaner,  der  jüngst  in 
die  ewigen  Jagdgründe  eingegangene  alldeutsche  Geo- 
.  graphieprofessor  Theobald  Fischer,  urteilte  anders 
über  Agadir  und  sein  Hinterland.  Er,  der  wohl  als 
erster  die  Erwerbung  Marokkos  durch  Deutschland 
gefordert  hat,  war  zwar  auf  Grund  seiner  dreißig- 
jährigen Beschäftigung  und  seiner  (nicht  sonderlich 
tief  eindringenden)  drei  Reisen  in  dem  Land  schließ- 
lich zu  der  Uberzeugung  gelangt,  daß  derjenige  Staat, 
dem  es  gelingt,  sich  dieses  Land  ganz  zu  eigen  zu 
machen,  daraus  einen  so  gewaltigen  Machtzuwachs 
erlangen  wird,  „daß  dies  alle  anderen  Staaten,  vor 
allem  England,  Spanien  und  das  Deutsche  Reich  als 
einen  unerträglichen  Druck  empfinden  werde".  Aber 
er  fügte  der  1908  ausgesprochenen  Bemerkung  hinzu: 
niemals  habe  in  der  Geschichte  ein  marokkanischer 
Hafen  südlich  von  Mogador  Bedeutung  gehabt,  und 
die  Franzosen  haben  soeben  nachgewiesen,  daß  auch 
Agadir  n'Iri,  das  Seetor  des  Sus,  keineswegs  irgend- 
welchen Schutz  bietet. 

Die  lautere  Presse  ließ  es  bei  der  einzigen  erschöp- 
fenden Information  bewenden,  daß  das  deutsche  Volk 
seine  nationalen  Interessen  gegen  Frankreich  und  Eng- 

440 


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land  zu  verteidigen  wissen  werde,  und  wäre  es  durch 
einen  Krieg,  den  der  zum  Hüter  der  deutschen  In- 
teressen berufene  Schwabe  aus  Bukarest  nicht  fürchte, 
gleichwohl  zu  vermeiden  streben  werde.  Mit  weiteren 
informatorischen  Einzelheiten  wurde  das  beneidens- 
werte deutsche  Volk  verschont.  Die  Verhandlungen 
verlaufen  glücklich,  sie  stocken,  sie  sind  abgebrochen, 
die  Lage  ist  ernst,  drohend,  gewitterschwül,  hoffnungs- 
voll, glänzend.  Das  deutsche  Volk  ist  entschlossen, 
seine  Würde  und  sein  Recht  zu  wahren.  Was  es  will, 
wird  ihm  schon  im  gegebenen  Augenblick  gesagt 
werden,  Kiderlen  ist  stumm  und  Wilhelm  II.  hält 
keine  Reden  mehr. 

• 

Übrigens  hat  man  auch  im  Sommer  1870  erst  etwas 
erfahren,  als  man  schon  marschierte.  Ein  oder  zwei 
Tage,  bevor  Bismarck  in  die  friedliche  Emser  Depesche 
den  Krieg  hineinredigierte,  reisten  der  König  von 
Sachsen  und  sein  leitender  Minister  geruhig  ins  Bad, 
weil  alle  deutsch-französischen  Wirrnisse  aufs  schönste 
erledigt  schienen.  Das  deutsche  Volk  ist  Objekt  der 
deutschen  Politik  geblieben. 

Jetzt  aber  wollte  man  durch  das  Parlament  den 
Kaiser  wie  einen  Jagowschen  Schutzmann  ermuntern : 
bei  Strafe  gleich  zu  schießen.  Bei  dieser  Gelegenheit 
gab  es  dann  eine  hübsche  staatsrechtliche  Offenbarung. 
Der  Geheimrat  in  der  Wilhelmstraße  wurde  witzig. 
In  Kolonialdingen,  soweit  es  nicht  Geldsorgen  seien, 
habe  kein  Reichstag,  kein  Bundesrat  dem  Kaiser  drein- 
zureden: Er  kann  alle  Kolonien  verschenken,  wenn  er 
will,  er  ist  unumschränkter  Herr  über  sie.  Man  hat 
bisher  keine  Zeit  in  der  deutschen  Politik  gefunden, 
um  diese  kleine  Sonderbarkeit  auszumerzen. 

Nun  teilten  sich  die  Uberzeugungen  der  Presse.  Die 
alldeutschen   Absolutisten   wurden  parlamentarisch, 


441 


Liberale  und  fortschrittliche  Geister  absolutistisch. 
Dieser  in  afrikanischem  Fieber  geborene  Reichstag  wäre 
in  der  Tat  fähig,  marokkanisch  zu  enden. 

• 

An  allen  Dingen  der  Welt  läßt  sich  verdienen,  außer 
an  Lyrik,  Philosophie  und  Streichquartetten.  Auch  in 
Marokko  gibt  es  zu  verdienen,  recht  viel  sogar,  und  ein 
Krieg  vollends  ist  für  die,  welche  verkaufen  statt  Krieg 
zu  führen,  ein  ganz  außerordentliches  Geschäft.  Wenn 
die  Gebrüder  Mannesmann  mit  Aufbietung  der  deut- 
schen Weltmacht,  es  durchsetzen  würden,  daß  ihnen 
in  Marokko  Eisenerzgruben  erschlossen  werden,  für 
sie  ist  das  ganz  gewiß  ein  unermeßlicher  Gewinn,  sie 
können  dann  billig  produzieren.  Aber  welches  In- 
teresse hat  der  deutsche  Journalist  an  den  Bezugs- 
interessen einer  Firma  ?  Für  die  deutsche  Gesamtwirt- 
schaft ist  die  ganze  Kolonialpolitik  günstigenfalls  kein 
Gewinn.  Wir  haben  seit  1901  für  unsere  Kolonien 
über  eine  halbe  Milliarde  mehr  ausgegeben,  als  aus 
ihnen  eingenommen.  Diese  halbe  Milliarde  ist  die 
aus  der  Besteuerung  der  deutschen  Lebensführung 
geschürfte  Subvention  für  die  kolonialkapitalistischen 
Interessen  einzelner  Firmen.  Im  Welthandel  bildet 
der  Kolonialhandel  ein  verschwindendes  Nichts.  Auch 
wenn  wir  den  Kongo  und  Marokko  erwürben,  würde 
sich  das  Verhältnis  nicht  ändern.  Aber  verdient  wird 
auch  am  kolonialen  Bankerott.  Wenn  wir  im  Jahre 
1910  für  21 200  Mark  Bier  in  Fässern  und  für  644  Mark 
Bier  in  Flaschen  nach  Südwestafrika  ausführten,  so 
haben  einige  Personen  beträchtlichen  Gewinn  aus 
diesem  Handel  gezogen,  aber  bezahlt  wurde  er  aus 
den  deutschen  Lohnpfennigen. 

*  • 

Im  Marokkohandel  hat  sich  die  Presse  als  eine  Welt- 
gefahr  erwiesen.  Die  Heilung  kann  nur  kommen,  wenn 

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man  aufhört,  die  kapitalistischen  Begierden  durch 
journalistische  Selbstlosigkeit  zu  verwöhnen.  Ich  sehe 
kein  rascheres  und  wirksameres  Mittel,  als  daß  die 
Presse  endlich  aufhört,  ihre  Überzeugung  zu  ver- 
schenken, und  daß  sie  sich  recht  schnell  organisiert, 
sich  so  hoch  wie  möglich  zu  verkaufen.  Wenn  dann 
noch  in  die  deutsche  Verfassung  der  Artikel  aufgenom- 
men wird,  daß  mit  dem  Augenblick  der  Mobilmachung 
eine  ausreichende  Kriegssteuer  auf  Einkommen,  Ver- 
mögen und  Erbe  des  Besitzenden  in  Kraft  tritt,  so 
sind  die  Weltfriedenskongresse  überflüssig  geworden, 
und  den  Haager  Schiedsgerichtshof  darf  man  in  eine 
Spielbank,  ein  Kino  oder  einen  Eispalast  umbauen. 

[August  191 1.] 


443 


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Preßprobleme. 

Die  folgende  Kritik  an  der  sozialdemokra- 
tischen Presse  wurde  unmittelbar  vor  Ausbruch 
des  Krieges  veröffentlicht.  Wesen  und  Wirk- 
samkeit der  Arbeiterpresse  ist  und  bleibt  eine 
allererste  politische  und  kulturelle  Angelegen- 
heit. Sie  bedeutet  für  die  Presseverhältnisse 
im  allgemeinen,  was  die  Freien  Volksbühnen 
für  das  Theater.  Deshalb  seien  jene  Erörte- 
rungen —  gekürzt  —  hier  aufgenommen. 

Die  Kriegserfahrungen  haben  mich  gelehrt, 
daß  Parteien,  um  ihrer  Aktionsfähigkeit  wil- 
len, sich  nicht  unmittelbar  mit  geschäftlichen 
Unternehmungen  belasten  dürfen.  Diese  und 
andere  Gründe  lassen  ein  neues  wichtiges  und 
dringendes  Preßproblem  erscheinen ;  ob  es  nicht 
ratsam  ist,  daß  künftig  die  sozialdemokratische 
Presse  als  freie,  aber  der  Partei  verantwortliche, 
von  kapitalistischen  Rücksichten  und  Privat- 
interessen gesicherte  unabhängige  Privat- 
unternehmung entwickelt  werde. 

I. 

Das  bürgerliche  Preßgeschäft. 

Die  sozialdemokratische  Presse  ist  das  einzige  Mittel, 
das  dauernd  die  große  Erziehungsarbeit  des  Prole- 
tariats zu  bewältigen  vermag;  das  einzige  auch,  was 
die  Kraft  hat,  die  Arbeiterbewegung  nicht  nur  vor 
Rückschlägen  zu  bewahren,  sondern  sie  auch  sicher 
zur  endlichen  Herrschaft  zu  fördern.  Unsere  Presse 
hat  innerlich  und  äußerlich  einen  großen  Aufschwung 
genommen.  Aber  die  Zahl  unserer  Blätter  und  die 
Ziffer  unserer  Abonnenten  verschwindet  immer  noch 

444 


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in  der  unübersehbaren  Menge  der  bürgerlichen  Preß- 
papiere. Daher  kommt  es,  daß  die  Parteipresse  gerade 
in  entscheidend  schweren  Zeiten  immer  noch 
von  dem  zahllosen  Chor  der  bürgerlichen  Presse  über- 
schrien wird,  und  gerade  dann  nicht  die  Macht  über 
die  öffentliche  Meinung  zu  erringen  vermag,  die 
„öffentliche  Meinung",  die,  so  unbestimmt  und  bei- 
nahe mystisch  unheimlich  sie  ist,  dennoch  eine  uner- 
meßliche Kraft  in  der  weltgeschichtlichen  Entwick- 
lung ist. 

Das  aber  ist  unsere  Aufgabe :  die  sozialdemokratische 
Presse  muß,  dem  Umfange  ihrer  Verbreitung  wie  dem 
inneren  Gehalt  nach,  die  unbedingte  Führung  in  der 
deutschen  Presse  erhalten.  Das  ist  das  Ziel,  das  erreich- 
bare Ziel.  Was  kann  und  muß  geschehen,  um  dieses 
Ziel  zu  gewinnen  ?  Wie  muß  unsere  Presse  überall 
werden,  damit  sie  zu  herrschen  vermag  ? 

Unsere  inneren  Unterhaltungen  über  die  Parteipresse 
erschöpften  sich  in  den  letzten  Jahren  meist  in  Klagen 
über  wachsende  Uniformität.  Man  sah  die  Uniformi- 
tät  aber  gerade  da  nicht,  wo  sie  wirklich  bisweilen 
steckt.  Es  scheint  mir  sehr  gleichgültig,  ob  ein  guter, 
lebendiger,  sachkundiger  und  persönlicher  Artikel  in 
einem  oder  in  drei  Dutzend  Blättern  zugleich  ver- 
öffentlicht wird.  Durch  die  Zahl  der  Abdrücke  wird 
ein  individuelles  geistiges  Erzeugnis  nicht  uniform, 
ebensowenig,  wie  ein  hervorragendes  wissenschaftliches 
Werk  durch  die  Zahl  der  Auflagen.  Es  ist  nicht  einzu- 
sehen, warum  ein  Artikel  in  einem  einzigen  Blatt, 
das  über  150000  Exemplare  verbreitet,  wo  ein  jedes 
denselben  Artikel  enthält,  nicht  uniform  ist,  wohl  aber, 
wenn  er  in  zehn  Blättern  von  je  15000  Auflage  er- 
scheint. Die  Uniformität  hängt  nicht  an  dem  Umfang 
des  Verbreitungsgebiets.  Wohl  aber  kann  ein  Blatt 
außerordentlich  uniform  sein,  das  bis  auf  die  letzte 
Zeile  lauter  Originalbeiträge  bringt,  nur  für  sich  allein, 
sogar  sämtlich  im  Hause  gearbeitet  —  sofern  nämlich 


445 


die  Verfasser  der  Beiträge  selbst  Uniformseelen, 
Klischeegehirne  sind.  Ich  glaube  sogar,  daß  wir  in 
der  Zentralisierung  —  da  wir  mit  den  vorhandenen 
menschlichen  Kräften  uns  einrichten  müssen  —  sogar 
noch  weitergehen  werden  müssen,  wenn  wir  das  Ziel 
erreichen  wollen:  Die  bürgerliche  Presse  auch  technisch- 
journalistisch  zu  schlagen.  Betrachtungen  über  all- 
gemeine Politik  —  beim  politischen  Nachrichtendienst 
ist  das  ja  selbstverständlich  —  werden  am  besten  in 
den  Zentralen  dieser  Politik  verfaßt,  wo  die  unmittel- 
bare politische  Anschauung  möglich  ist;  wie  viel 
Journalisten  sich  in  diese  Arbeit  teilen,  das  hängt  ganz 
von  der  Zahl  fähiger  Parteigenossen  ab,  die  zur  Ver- 
fügung stehen.  Dasselbe  gilt  von  dem  allgemeinen 
Teil  des  Feuilletons.  Die  Besonderheit  des  einzelnen 
Blattes  muß  sich  in  der  allseitigen  Spiegelung  und 
führenden  Durchdringung  des  Lebens  im  engeren 
Verbreitungsgebiet  entfalten.  Nicht  nötig  zu  sagen, 
daß  auch  die  Diskussion  innerer  Parteifragen  nicht 
zentralisiert  werden  kann. 

Das  Grundproblem,  das  zu  erörtern  ist,  wird  von 
den  Uniformdebatten  nicht  einmal  gestreift:  welche 
Aufgabe,  welches  Ziel  stellen  wir  überhaupt  unserer 
Presse  ?  Was  wollen  wir  mit  ihr  ?  Dieses  Problem  löst 
sich  in  die  Entscheidung  auf:  Was  soll  werden,  Pro- 
pagandaorgane (mit  Vereinscharakter)  oder  Zeitun- 
gen ?  Unsere  Presse  ist  durchweg  aus  vereinsmäßigen 
Propagandaorganen  hervorgegangen.  Heute  ist  sie  das 
nicht  mehr,  aber  das  Wesen  haftet  ihr  noch  an.  Wir 
haben  uns  noch  nicht  ganz  entschlossen,  Zeitungen 
zu  schaffen,  die  allein  durch  sich  selbst  wirken.  Bruno 
Schönlank  hat  diese  Notwendigkeiten  zuerst  erkannt, 
er  hat  auch  sofort  die  Möglichkeit  sozialdemokratischer 
Zeitungen  gegen  alle  Zweifel  durch  die  Tat  be- 
wiesen; die  Kraft  dieses  genialen  Pressereformers  ist 
zu  früh  gebrochen  worden. 

Gerade  die  Entwicklung  der  deutschen  Presse  zeigt, 

446 


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wie  lose,  ja  fast  wie  gegensätzlich  die  Beziehungen 
zwischen  Presseverbreitung,  Parteistärke  und  Partei- 
einfluß sind.  Wir  haben  besonders  hervorragende  bür- 
gerliche Blätter,  die  sich  die  Weltstellung  erworben 
haben,  obwohl  die  Partei,  der  sie  dienen,  zu  einem 
Häuflein  letzter  und  allerletzter  Mohikaner  ent- 
schwindet. Umgekehrt  verfügt  die  herrschende  Partei 
Deutschlands,  die  konservative,  fast  nur  über  wenig 
verbreitete  und  journalistisch  wertlose  Organe.  Nicht 
viel  besser  steht  es  mit  der  Zentrumspresse,  von  der 
nur  ein  paar  Blätter  durch  sich  selbst  Bedeutung 
haben.  In  Bayern,  wo  das  Zentrum  parlamentarisch 
wie  organisatorisch  gebietet,  verfügt  diese  Partei  zwar 
über  eine  Anzahl  kleiner  Blätter,  aber  über  kein  ein- 
ziges, das  größere  Verbreitung  und  Einfluß  auf  die 
öffentliche  Meinung  hätte. 

Die  Bedeutung  der  Presse  hängt  sonach  lediglich  von 
ihren  journalistischen  Qualitäten  ab.  Sie  wird  genau 
soviel  gelesen,  als  sie  gelesen  zu  werden  verdient.  Auf 
Erfüllung  einer  Parteipflicht  allein  kann  man  keine 
Zeitung  gründen. 

Aber  in  dieser  selbständigen  Entwicklung  der  bür- 
gerlichen Presse,  abseits  des  Parteiwesens  und  im  Ge- 
gensatz zu  ihm,  verbirgt  sich  zugleich  jene  gemein- 
gefährliche Abhängigkeit  gerade  ihrer  verbreitetsten 
Organe  —  von  anonymen  Gewalten.  Sie  machen  die 
Politik  von  offiziellen  und  privaten  Presse bureaus. 
Die  Wilhelmstraße  in  Berlin  dirigiert  die  ganze  aus- 
wärtige Politik  der  bürgerlichen  deutschen  Presse  und 
teilt  ihre  Herrschaft  nur  gelegentlich  mit  dem  Presse- 
bureau Krupps  und  sonstiger  Rüstungsindustrieller, 
die  mit  Hilfe  gewisser  Journalistenkonzerne  in  den 
Agadirzeiten  —  entgegen  den  Bemühungen  der  Re- 
gierung —  das  Feuer  eines  Weltkrieges  schürten.  Der 
„ideologische  Überbau"  dieser  Presse  heißt  liberal 
oder  national  oder  parteilos,  die  solide  Basis  ist  die 
Börse,  die  Großreederei,  das  Getreidegeschäft,  die 

447 


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Aktiengesellschaft,  der  Unternehmerverband,  der  In- 
serent, die  Brauerei,  der  Schnapsbrenner.  Am  harm- 
losesten ist  fast  noch  die  Presse,  die  nur  den  Profit- 
rücksichten des  Verlegers  dient ;  aber  in  der  Regel  wird 
auch  sie  die  eine  große  Abhängigkeit  mit  zahlreichen 
kleineren  Abhängigkeiten  von  allerlei  wirtschaftlichen 
Interessenten  teilen.  Die  bürgerliche  Presse  dient 
jeder  Sache,  nur  nicht  der,  für  die  sie  zu  wirken 
vorgibt. 

Die  unwürdige  Stellung  des  bürgerlichen  Journa- 
listen in  Deutschland  verschärft  die  innere  Unwahrheit 
der  bürgerlichen  Presse.  Niemand  hat  so  wenig  Ein- 
fluß auf  die  Zeitung,  wie  die  Leute,  die  sie  schreiben 
und  redigieren.  Diese  Redakteure  sind  Privatange- 
stellte geschäftlicher  Unternehmungen,  nichts  anderes, 
wie  Bankbeamte,  Warenhaus  Verkäufer  oder  Fabrik- 
chemiker. Sie  sind  nicht  Vorkämpfer  einer  Sache,  der 
sie  leidenschaftlich  ergeben  sind,  sondern  unlustige 
müde  Techniker  für  die  Erzeugung  des  geistigen  Teils 
der  Zeitungen,  deren  beste  Vertreter  höchstens  ein 
gewisser  literarischer  Ehrgeiz  beseelt.  Sie  dürfen  keine 
Charaktere  sein,  das  wäre  störend;  man  fordert  nur 
fachliche  Routine  von  ihnen.  Sie  sind  allenfalls  ge- 
duldete, nun  einmal  notwendige  Werkzeuge  für  die 
Ausstattung  des  Zeitungsgeschäfts.  In  Deutschland 
ist  nicht  die  Vorbedingung  der  Laufbahn  von  Parla- 
mentariern und  Staatsmännern,  wie  in  Frankreich, 
Italien,  England,  Amerika,  daß  sie  als  Publizisten  sich 
zuvor  bewährt  haben.  In  den  letzten  Jahren  haben 
wir  wiederholt  gesehen,  wie  große  Zeitungsunterneh- 
mungen mitsamt  allen  Redakteuren  und  Mitarbeitern 
verkauft  wurden,  genau  so  wie  in  den  Zeiten  der  Erb- 
untertänigkeit die  Güter  mit  totem  und  lebendem  In- 
ventar verkauft  wurden,  wobei  dann  unter  dem  leben- 
den Inventar  neben  der  Zahl  des  Viehes  auch  die  der 
zugehörigen  Bauern  angegeben  wurde. 

Und  diese  innerlich  entwürdigte  Presse  beherrscht 

448 


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dennoch  den  Markt  der  öffentlichen  Meinung,  weil 
es  —  Zeitungen  sind,  vor  denen  die  Lehre  Karl  Marx' 
von  der  Überlegenheit  des  Großbetriebs  am  aller- 
wenigsten halt  macht. 

Welche  Entwicklungsmöglichkeiten  stecken  da  erst 
in  der  sozialdemokratischen  Presse,  die  allein  in  tapferer 
Freiheit  und  unabhängiger  Wahrheit,  um  der  Sache 
willen,  nicht  des  Geschäfts  und  dunkler  Hintermänner 
wegen,  geschrieben,  gedruckt,  verbreitet  wird  — , 
welche  Möglichkeiten,  wenn  wir  uns  nur  entschließen 
wollen,  journalistische  Großbetriebe  zu  schaffen. 

II. 

Die  Grundlegung  der  Größe  der  Parteipresse. 

Die  sozialdemokratische  Presse  ist  die  freieste  der 
Welt.  Unsere  Zeitungen  sind  keine  Geschäftsuntfer- 
nehmungen  zur  Erzeugung  direkter  oder  —  durch 
Beeinflussung  der  Öffentlichen  Meinung  —  indirekter 
Profite,  sondern  sie  sind  Organe  politischer  und  wirt- 
schaftlicher Aufklärung.  Demgemäß  ist  die  Stellung 
des  sozialdemokratischen  Journalisten  durchaus  ver- 
schieden von  der  bürgerlicher  Redakteure  und  Schrift- 
steller. Er  wirkt  als  Vertrauensmann  der  proletari- 
schen Organisation,  die  ihn  berief;  er  ist  kein  Verlags- 
angestellter, sondern  ein  politischer  Führer.  Weil 
unsere  Presse  kein  Werkzeug  für  Profitinteressen  ist, 
darum  ist  sie  ein  um  so  reineres  Werkzeug  idealer  Be- 
strebungen. Nur  der  sozialdemokratische  Journalist 
kann  jene  Lebensluft  geistigen  Schaffens  atmen:  die 
Betätigung  freier  Gesinnung  innerhalb  der  frei  ge- 
wählten Parteiüberzeugung.  In  den  vielen  Jahren 
meiner  sozialdemokratischen  Redakteurtätigkeit  habe 
ich  wohl  manchen,  und  nicht  ganz  angenehmen  Kon- 
flikt zu  bestehen  gehabt,  aber  niemals  haben  die  Partei- 
genossen, deren  Vertrauen  ich  genoß,  auch  nur  den 
leisesten  Versuch  gemacht,  meine  Überzeugungen  zu 

J9   Eitoer,  Getamindte  Schriften.  I.  449 


beeinflussen.  Das  ist  notwendig,  öffentlich  zu  erklären, 
weil  die  Gegner  häufig,  aus  gänzlich  mißverstandenen 
Fällen,  einen  Gesinnungsterrorismus  sozialdemokra- 
tischer Arbeitgeber  behaupten.  Hier  und  da  mögen 
vielleicht  bureaukratische  Neigungen  ein  wenig  be- 
engend wirken.  Aber  auch  das  ist  nicht  gar  so  schlimm 
und  wirkt  nur  deshalb  bisweilen  verdrießlich,  weil 
nichts  so  wenig  bureaukratischen  Zwang  irgendeiner 
Art  verträgt,  wie  die  Presse.  Die  Weltgeschichte, 
deren  Spiegel  und  Webstuhl  die  Presse  ist,  kennt  keine 
Bureaustunden.  Gerade  die  Preßkommissionen  schei- 
nen mir  eine  durchaus  notwendige  und  nützliche  Ein- 
richtung, sofern  sie  sich  auf  ihren  natürlichen  Beruf 
beschränken  und  ihn  erfüllen,  Mittler  zwischen  der 
Redaktion  und  den  Lesern  zu  sein.  Sie  sollten  auch 
ihre  eigentliche  und  wesentliche  Aufgabe  nicht  sowohl 
darin  sehen,  eine  zumeist  überflüssige  „Aufsicht"  zu 
üben  oder  „Beschwerden"  vorzubringen,  die  in 
99  Fällen  von  100  bedeutungslos  sind,  als  vielmehr 
Propagandaorgane  zu  sein,  die  an  die  Redaktion  die 
Bedürfnisse  der  Leser  vermitteln  und  andererseits  nach 
außen  hin  auf  die  Verbreitung  und  geschäftliche  Unter- 
stützung des  Blattes  hinwirken.  Vielleicht  werden  wir 
einmal  dazu  kommen,  daß  die  Parteigenossen  zum 
Vorsitzenden  der  Preßkommission  eine  redaktionell 
und  kaufmännisch  zugleich  geschulte  Kraft  wählen, 
der  sein  Amt,  gegen  angemessene  Bezahlung,  ausschließ- 
lich dieser  doppelten  Propaganda  widmet  und  es  nicht 
nur  nebenbei  versieht. 

Im  großen  und  ganzen  ist  die  Organisation  der  so- 
zialdemokratischen Presse  vorbildlich,  und  gerade  in 
ihr  liegen  die  Vorbedingungen  für  die  Erweiterung 
unserer  Presse  zur  beherrschenden  Macht  der  öffent- 
lichen Meinung.  Man  hat  letzthin  des  öfteren  dis- 
kutiert, ob  eine  Chefredaktion  oder  eine  kollegiale  Re* 
daktion  vorzuziehen  sei.  Auch  dies  scheint  mir  eine 
nebensächliche  Frage.  Hat  eine  Redaktion  einen  wirk- 

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lieh  leitenden  Kopf,  so  ist  es  ganz  gleichgültig,  ob  er 
Chefredakteur  oder  sonstwie  genannt  wird.  Jeder  ver- 
ständige Kollege  wird,  bei  aller  Selbständigkeit,  sich 
von  selbst  dem  Einfluß  seiner  größeren  Erfahrung, 
reicheren  Wissens  und  höherer  Begabung  freiwillig 
unterwerfen.  Eines  sollte  allerdings  geändert  werden; 
man  sollte  diesem  leitenden  Kopf  einen  entscheidenden 
Einfluß  auf  die  Zusammensetzung  der  Redaktion 
geben.  Redaktionen  müssen,  wenn  sie  schaffensfreudig 
bleiben  sollen,  eine  harmonische  Arbeitsgemeinschaft 
bilden,  die  durchaus  nicht  in  einer  Gleichförmigkeit 
der  Ansichten  und  Richtungen  zu  bestehen  braucht, 
wohl  aber  in  einer  Verträglichkeit  der  Charaktere  und 
Intelligenzen. 

In  dieser  idealen  Unabhängigkeit,  in  dieser  nur  von 
der  sachlichen  Überzeugung  geleiteten  Freiheit  der 
sozialdemokratischen  Presse  liegt  ihre  reichste  Ent- 
wicklungsmöglichkeit. Die  sozialdemokratische  Presse 
wird  von  selbst,  über  die  eigentlichen  proletarischen 
Organisationen  hinaus,  zum  natürlichen  Organ  für 
alle,  die  unter  der  kapitalistischen  Gewaltherrschaft 
leiden,  für  alle  Unterdrückten,  Vergewaltigten  und 
nicht  zuletzt  für  alle  —  Idealisten.  Nichts  wäre  so 
töricht,  als  unsere  Presse  zu  engen  Vereinsorganen  zu 
machen;  und  die  Redaktionen  sollten  keiner  Beein- 
flussung so  entschieden  Widerstand  leisten,  als  den 
immer  einseitigen  Wünschen  einzelner  in  den  ver- 
schiedenen proletarischen  Körperschaften  tätigen  Per- 
sönlichkeiten. Unsere  Blätter  sind  nicht  für  Reichs- 
tags- und  Landtagsabgeordnete,  auch  nicht  für  Ge- 
meindevertreter, Vereinsvorsitzende,  Gewerkschafts- 
führer, Agitatoren  da,  sondern  sie  müssen  alle  Interes- 
sen der  breiten  Massen  berücksichtigen,  das  Weltleben 
einfangen  und  immer  von  dem  Bewußtsein  sich  erfüllen 
lassen,  daß  sie  eine  geschichtliche  Mission  haben.  Je 
weiter  der  Kreis  der  Aufgaben  gespannt  ist,  um  so 
größer  ist  auch  der  Kreis  der  Interessenten,  denen  das 


451 


Blatt  zur  Lebensnotwendigkeit  wird.  Die  unbestech- 
liche Kritik  aller  öffentlichen  Erscheinungen,  zu  der 
nur  die  sozialdemokratische  Presse  fähig  ist,  gewinnt 
dadurch  noch  eine  ganz  besondere  schöpferische  Be- 
deutung, daß  diese  Kritik  eben  sozialistisch  ist.  Diese 
sozialistische  „Parteilichkeit"  wirkt  an  sich  nicht  ab- 
schreckend und  verengend,  sondern  im  Gegenteil:  sie 
erhöht  die  geistige  Bedeutung  der  Presse  über  alles 
hinaus,  was  das  bestredigierte  bürgerliche  Blatt  zu 
leisten  vermöchte.  Denn  wie  auch  immer  die  Gegner 
den  Sozialismus  bekämpfen  mögen,  eines  müssen  sie 
alle  zugeben:  der  sozialistische  und  der  demokratische 
Gedanke  sind  die  einzigen  konstruktiven  Ideen,  die  es 
in  der  heutigen  Welt  gibt.  Auch  der  bornierteste 
Klopffechter  der  herrschenden  Klassen  muß,  wenn  er 
irgend  etwas  Fruchtbares,  Emporführendes  leisten  will, 
auf  irgendeine  Art  in  irgendeiner  Verdünnung  aus 
dem  Quell  der  sozialistischen  und  demokratischen  Welt- 
richtungsgedanken schöpfen. 

So  sind  in  der  sozialdemokratischen  Presse  alle  Vor- 
bedingungen gegeben,  sie  zu  den  schlechthin  leitenden 
Organen  der  öffentlichen  Meinungen  auszugestalten. 
Wie  aber  wird  diese  Möglichkeit,  ja  diese  innere  Not- 
wendigkeit eine  Wirklichkeit?  Wir  müssen  einfach 
wagen,  uns  das  Ziel  einer  in  jeder  Hinsicht  der  bür- 
gerlichen Presse  technisch  ebenbürtigen,  ja  überlegenen 
Presse  zu  stellen.  Das  kann  selbstverständlich  nicht 
auf  einmal  erreicht  werden,  und  nicht  von  allen  Blät- 
tern zugleich.  Aber  wir  müssen  unermüdlich  auf 
dieses  Ziel  hinarbeiten  und  keinen  Tag  verstreichen 
lassen,  ohne  uns  ihm  zu  nähern. 

Die  Vollendung  der  Zeitungstechnik  beginnt  mit 
dem  Bau,  in  dem  der  Zeitungsbetrieb  untergebracht 
ist.  Wir  müssen  die  leistungsfähigsten  Maschinen  auf- 
stellen, jeden  Fortschritt  der  Technik  einführen.  So 
sind  zum  Beispiel  auf  dem  Gebiete  der  Stereotypie 
Neuerungen  vorhanden,  deren  Einführung  die  bür- 

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gerliche  Presse  zu  außerordentlich  beschleunigter  Her- 
stellung des  Blattes  und  damit  zu  größerer  Aktualität 
befähigt.  Wir  bedürfen  geschäftlicher  Leiter,  die  sich 
nicht  damit  begnügen,  ein  ordentlich  und  mit  genü- 
gendem Erfolg  arbeitendes  Geschäft  so  eben  nur  zu 
verwalten,  sondern  die  unermüdlich  in  organisatori- 
schen Maßnahmen  sind  um  das  Unternehmen  zu  ver- 
größern. Hierher  gehört  auch  die  zweckmäßige  Or- 
ganisation eines  Filialbetriebes  und  der  raschen  Zu- 
stellung des  Blattes.  Vor  allem  aber  muß  die  Inseraten- 
propaganda durchaus  über  das  Zufällige  hinaus  syste- 
matisch ausgestaltet  werden. 

Im  Inseratenteil  liegen  die  finanziellen  Möglich- 
keiten, journalistische  Großbetriebe  zu  schaffen.  Die 
Höhe  des  Abonnementspreises  hat  ihre  natürlichen, 
durch  die  proletarische  Leistungsfähigkeit  gesetzten 
Grenzen.  Aber  es  kommt,  nach  den  deutschen  Ver- 
hältnissen, auch  gar  nicht  auf  die  Höhe  des  Abonne- 
mentspreises an.  Es  gibt  große,  über  die  höchsten 
Auflageziffern  sozialdemokratischer  Blätter  weit  hinaus 
verbreitete  bürgerliche  Blätter,  die  billiger  sind  als 
unsere  Parteipresse,  in  anderen  Fällen  vielleicht  um 
zehn  oder  zwanzig  Pfennige  mehr  kosten,  dabei  zwei- 
mal täglich  erscheinen  und  technisch-journalistisch 
erheblich  mehr  leisten.  Der  Inseratenteil  ist  durchaus 
nicht  bloß  ein  lästiges  Zubehör  des  redaktionellen 
Stoffes.  Im  Gegenteil,  die  Inseratenseiten  dienen  dem 
Austausch  verkehr  und  dem  Publikationsbedürfnis  der 
großen  Masse.  Die  Inserate  bilden  insofern  eine  Er- 
gänzung und  Bereicherung  des  redaktionellen  Stoffes. 

Man  wird  natürlich  sofort  den  Einwand  erheben, 
daß  dem  unbegrenzten  Ausbau  des  Inseratenteils  sich 
der  unüberwindliche  Widerstand  entgegensetzt,  daß 
sozialdemokratische  Blätter  eben  in  erster  Linie  Or- 
gane für  das  Proletariat  sind,  daß  wir  also  von  vorn- 
herein auf  die  Inserate  verzichten  müssen,  die  nur 
auf  die  besitzenden  Klassen  berechnet  sind.  Das  ist 


453 


ein  verhängnisvoller  Irrtum.  Es  wäre  eine  sehr  nütz- 
liche Aufgabe  der  Geschäftsleitungen  unserer  Presse, 
statistisch  zu  ermitteln,  welcher  Prozentsatz  der  An- 
zeigen in  den  örtlichen  Inseratenblättern  entweder 
von  Proletariern  ausgehen  oder  für  Proletarier  berech- 
net sind.  Man  wird  das  überraschende  Ergebnis  fin- 
den, daß  auch  diese  bürgerlichen  Inseratenplantagen 
zum  größten  Teil  von  Proletariern  bestellt  werden, 
zum  mindesten  von  kleinen  Leuten.  Die  Millionen- 
Masse  der  Besitzlosen  verfügt  ;n  der  Tat  über  jene 
entscheidende  Kaufkraft,  die  den  Inseratenteil  be- 
stimmt. Man  versuche  durch  systematische  Organisa- 
tion —  durch  besondere  Propagandastellen  —  die 
proletarischen  und  halbproletarischen  Inserenten  für 
unsere  Parteipresse  zu  gewinnen,  man  gewöhne  die 
kapitalistischen  Inserenten  daran,  wenn  sie  proletari- 
sche Kauf-  oder  Arbeitskraft  suchen,  sich  unserer 
Presse  zu  bedienen  (weil  sie  nämlich  in  der  bürger- 
lichen Presse  keine  proletarischen  Leser  mehr  finden) 
und  die  finanziellen  Grundlagen  für  eine  sozialistische 
Groß  presse  sind  gegeben. 

Sind  alle  diese  technisch  geschäftlichen  Maßnahmen 
getroffen,  dann  gilt  es,  die  inhaltliche  Ausgestaltung 
des  Blattes  zu  vollenden  und  damit  die  unbezwing- 
liche  Anziehungskraft  der  sozialistischen  Presse  zu 
entfalten.  Ich  meine  durchaus  nicht,  daß  wir  die 
Verbreitung  unserer  Presse  auf  Kosten  ihres  geistigen 
Ernstes  fördern  sollen.  Wir  sollen  nicht  nur  keine 
Zugeständnisse  an  den  niedrigen  und  widrigen  Typ 
der  bürgerlichen  Massenpresse  machen,  sondern  um- 
gekehrt: Durch  die  technisch-journalistische  Bereiche- 
rung, Vergrößerung  und  Verbreiterung  unserer  Presse 
die  Möglichkeit  gewinnen,  die  geistigen  Anforderun- 
gen unserer  Presse  noch  erheblich  anzuspannen  und 
zu  vertiefen. 


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III. 


Die  notwendigen  Reformen. 

Ein  Parteiblatt  erzählte  kürzlich  von  den  Erfahrun- 
gen der  „Roten  Woche4',  wieviele  Frauen  der  Arbeiter- 
klasse noch  von  spießbürgerlichen  Anschauungen  er- 
füllt seien  und  die  merkwürdigsten  Einwendungen 
gegen  das  sozialdemokratische  Blatt  geltend  gemacht 
haben.  Einer  Frau  waren  zu  wenig  Wohnungsanzeigen 
im  Parteiblatt,  einer  anderen  zu  wenig  Traueranzeigen, 
einer  dritten  zu  wenig  Käufe  und  Verkäufe.  Anstatt 
auf  diese  Einwendungen  sorgfältig  zu  hören,  nennt 
man  sie  spießbürgerlich,  rückständig.  Aber  jeder  Blick 
in  ein  bürgerliches  Inseratenblatt  beweist  doch  gerade 
durch  die  Unzahl  proletarischer  Inserate  der  Art,  daß 
dies  Bedürfnis  vorhanden  ist.  Und  da  die  Befriedigung 
dieses  Bedürfnisses  obendrein  die  finanzielle  Leistungs- 
fähigkeit des  Blattes  erhöht  und  damit  die  redaktionelle 
Ausgestaltung  ermöglicht,  ist  es  wirklich  bei  einigem 
Nachdenken  unerfindlich,  warum  man  auf  das  Be- 
dürfnis schilt,  anstatt  es  zu  befriedigen.  Auch  das 
schärfst  entwickelte  Klassenbewußtsein  hindert  nicht, 
daß  ein  Proletarier  gelegentlich  ein  altes  Kanapee  zu 
kaufen  oder  zu  verkaufen  wünscht;  und  jenes  Partei- 
blatt hat  sich  den  Beweis  der  Philisterhaftigkeit  der 
inseratenbegehrlichen  Frauen  sehr  leicht  gemacht, 
wenn  es  behauptete,  gerade  die  befragten  Frauen 
hätten  kein  persönliches  Bedürfnis  nach  solchen  In- 
seraten gehabt.  Dieses  kleine  Bild  aus  dem  proletari- 
schen Familienleben  von  Nichtabonnenten  der  Partei- 
presse unterstützt  meine  Ausführungen,  daß  auch  der 
Inseratenteil  zum  textlichen  Inhalt  des  Blattes  gehört. 

Genau  so  wie  es  mir  sehr  nützlich  scheint,  die  In- 
seratenseiten der  bürgerlichen  Presse  auf  ihren  prole- 
tarischen Inhalt  zu  studieren,  genau  so  wäre  es  die 
Aufgabe  der  in  irgendeiner  Form  jedem  Blatte  not- 
wendigen Propagandakommission,  auch  den  redak- 


455 


tionellen  Teil  der  weitverbreiteten  billigen  bürger- 
lichen Presse  ständig  daraufhin  durchzusehen,  welche 
Stoffgebiete  sie  pflegt,  um  den  Forderungen  ihrer  Leser 
zu  genügen.  Solche  tatsächlichen  Bedürfinsse  aber 
werden  dadurch  nicht  aus  der  Welt  geschafft,  daß  man 
sie  als  kleinlich  und  unwürdig  bespöttelt.  Es  kann  für 
diese  Gebiete  der  kleinen  alltäglichen,  persönlichen 
Publizität  Raum  geschaffen  werden,  wenn  wir  eben 
mehr  Papier  zur  Verfügung  stellen. 

Im  Gegensatz  zu  meiner  Auffassung,  daß  unsere 
Blätter  räumlich  noch  zu  klein  sind,  hört  man  in 
Kollegenkreisen  nicht  selten  die  umgekehrte  Mei- 
nung, daß  unsere  Presse  viel  zu  umfangreich  ist,  daß 
niemand  mehr  sich  durch  sie  hindurchzufinden  ver- 
mag. Diese  Ansicht  verkennt  völlig  die  Aufgabe  eines 
Zeitungsblattes,  das  nicht  dazu  da  ist,  von  Anfang  bis 
zu  Ende  durchbuchstabiert  zu  werden,  sondern  das  je- 
dem Interesse  irgend  etwas  bieten  soll.  Der  Redak- 
teur darf  das  Blatt  nicht  nach  seinem  Interesse  zu- 
sammenstellen, freilich  auch  nicht  —  was  öfter  als 
man  denkt  geschieht  —  gerade  über  das  nicht  be- 
richten, was  ihn  selber  zwar  lebhaft  interessiert,  was  er 
aber  nicht  ernst  und  großartig  genug  findet,  um  nun 
auch  vor  den  Lesern  erörtert  zu  werden. 

Die  Mannigfaltigkeit  der  Zusammensetzung  der 
Lesermasse  bedingt  schon  die  Mannigfaltigkeit  des 
Inhalts  Die  Schwierigkeit  der  Parteipresse  Hegt  nicht 
darin,  daß  sie  zu  hohe  Ansprüche  an  die  Aufnahme- 
fähigkeit ihrer  Leser  stellt,  daß  ihre  Ideen  nicht  leicht 
faßlich  genug,  ihre  Sprache  zu  wenig  volkstümlich,  zu 
beladen  mit  Fremdwörtern  ist.  Die  Empfänglichkeit 
gerade  für  abstrakte  schwere  Gedanken,  für  dialektische 
Untersuchungen,  für  wissenschaftliche  Theorien,  welt- 
geschichtliche Perspektiven,  ist  durchaus  menschliches 
Allgemeingut,  das  —  wenn  anders  der  Verfasser  solcher 
Betrachtungen  überhaupt  zu  seinem  Amt  berufen  ist 
—  jedem  natürlichen  Verstände  zugänglich  ist.  Die 

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„Schwerfaßlichkeit"  liegt  durchaus  nur  in  der  Fülle 
des  Rohstoffes,  in  der  unübersehbaren  Menge 
der  als  bekannt  vorauszusetzenden  Tat- 
sachen, Namen,  Ereignisse,  Gesetze,  die  zu  begreifen 
(und  nur  was  man  begreift,  interessiert)  eine  regel- 
mäßige, langjährige,  ununterbrochene  Zeitungslektüre 
erfordert.  Nur  diese  Unmenge  als  bekannt  notwendig 
vorauszusetzender  stofflicher  Einzeltatsachen,  die  der 
Leser  nicht  beherrscht,  lassen  namentlich  das  Poli- 
tische als  langweilig  erscheinen.  Die  Parteipresse  in 
ihrer  heutigen  Entwicklung  kommt  nicht  mehr  mit  ein 
paar  großen  feurigen  und  befeuernden  Formeln  der 
Aufklärung  aus.  Sie  muß  eindringen  in  die  Unermeß- 
lichkeit der  Erscheinungen  unseres  Lebens. 

Jede  Woche  aber  bringt  junge  Leute  in  den  Kreis 
unserer  Leser,  die  nichts  oder  wenig  von  den  Tat- 
sachen der  Gegenwart  wissen.  Vom  Lande  strömen 
in  die  Industriezentren  Massen  von  Proletariern,  die 
ebenfalls  nur  sehr  dunkle  Vorstellungen  von  den  stoff- 
lichen Einzelheiten  des  öffentlichen  Lebens  haben. 
Eine  Zeitung  kann  aber  nicht  jeden  Tag  von  vorn 
beginnen,  und  so  muß  ein  großer  Teil  des  Stoffes 
den  Neulingen  anfangs  fremd  und  tot  bleiben.  Auf 
diese  Tatsache  baute  die  unpolitische  Presse  ihre  Be- 
rechnung und  ihren  Erfolg.  Sie  fütterte  die  Leser 
mit  den  ewigen  Alltäglichkeiten,  die  durch  sich  selbst 
verständlich  sind  und  nichts  voraussetzen.  Auf  der 
andern  Seite  hat  die  Parteipresse  Leser,  die  die  höch- 
sten geistigen  Ansprüche  stellen,  die  weiter  gebildet 
werden  wollen,  die  den  Stoff  des  politisch-sozialen 
Lebens  beherrschen,  die  durstig  nach  neuer  Erkenntnis, 
nach  lebendiger  Anregung  sind,  und  die  auch  durch 
die  Form  der  Zeitung  ästhetisch  befriedigt  zu  werden 
wünschen.  Für  diese  Leser  schmeckt  das  Zeug  schal, 
an  dem  die  andern  ihre  Freude  haben.  Es  gibt  für 
diese  Gegensätze  innerhalb  des  Leserpublikums  nur 
eine  Lösung:  umfassende  Erweiterung  des  Stoffes. 


457 


In  jedem  Zeitungsblatt  sollte  sich  das  Nebeneinander 
der  Entwicklungsphasen  der  Leser  spiegeln.  Aber 
keine  Zeile  sollte  in  der  Zeitung  stehen,  die  nicht  fähig 
wäre,  den  Leser  jeder  Entwicklungsstufe  über  sich 
selbst  hinauszuheben. 

Erweiterung  des  Stofflichen  ist  das  erste,  was  not 
tut.  Das  zweite  wäre  die  Vervollkommnung  des  Nach- 
richtendienstes. Auf  diesem  Gebiet  müssen  wir  in 
der  Schnelligkeit  und  der  Allseitigkeit  des  Dienstes 
mit  der  großen  bürgerlichen  Presse  konkurrieren 
können.  Und  wir  werden  sie  durch  die  Gunst  unserer 
unabhängigen  Stellung  an  Zuverlässigkeit  und  Bedeu- 
tung des  Nachrichtendienstes  überflügeln  können. 
Um  diese  unerläßliche  Aufgabe  zu  erfüllen,  müssen 
wir  freilich  loskommen  von  der  Zufälligkeit  der  in- 
und  ausländischen  telegraphischen,  telephonischen  und 
brieflichen  Korrespondenz.  Eine  zweckmäßige  Organi- 
sation würde  ohne  unerschwinglichen  Aufwand  an 
Kosten  und  Personen  diese  Aufgabe  für  die  Gesamt- 
heit unserer  Parteipresse  leisten. 

Eine  Entwicklung  dieses  internationalen  Nachrich- 
tendienstes wäre  nicht  nur  zeitungstechnisch  ein  ge- 
waltiger Fortschritt,  sondern  erhielte  auch  eine  inter- 
nationale politische  Bedeutung,  die  gar  nicht  groß 
genug  zu  werten  ist.  Gerade  die  auswärtige  Politik 
ist  in  der  deutschen  bürgerlichen  Presse  jämmerliches 
Reptilienelend.  Nirgends  eine  unabhängige  Meinung, 
und  was  sich  als  offiziöse  Information  aufspielt,  ist  in 
Wirklichkeit  nur  ein  Kniff,  die  Wahrheit  zu  verhehlen. 
Wer  sich  über  die  deutsche  auswärtige  Politik  unter- 
richten will,  muß  sich  seine  Kenntnisse  aus  der  großen 
ausländischen  Presse  holen.  Durch  rasche  Information, 
durch  sachverständige  Urteile  in  der  internationalen 
Politik  könnte  die  sozialdemokratische  Presse  Deutsch- 
lands zu  einer  unüberwindlichen  politischen  Macht 
werden. 

Allerdings  dürfte  sich  weder  der  sozialdemokratische 
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Redakteur  noch  der  sozialdemokratische  Korrespon- 
dent und  Mitarbeiter  von  dem  Leben  der  Allgemein- 
heit absperren  und  sich  in  seine  engeren  Aufgaben  ein- 
spinnen. Er  muß  Beziehungen  zu  allen  Institutionen 
des  öffentlichen  Lebens  unterhalten,  und  die  Lauter- 
keit seiner  Gesinnung  und  die  Fähigkeit  seiner  jour- 
nalistischen Auffassung  werden  ihm  die  Autorität  ver- 
schaffen, daß  er  gar  nicht  Beziehungen  zu  suchen 
braucht,  daß  man  sie  vielmehr  mit  ihm  sucht.  Zei- 
tungsblätter sollten  nicht  am  Schreibtisch  entstehen, 
sondern  mitten  heraus  aus  dem  flutenden  Leben  ge- 
staltet werden. 

Wie  wir  die  journalistisch-technischen  Vorzüge  der 
bürgerlichen  Presse  uns  aneignen  müssen,  so  sollten  wir 
uns  bewußt  und  schroff  von  ihrem  geistigen  Typ  ab- 
heben. Hier  und  da  scheint  bei  uns  aber  gerade  die 
Neigung  zu  bestehen,  nachzuahmen,  was  vom  Übel 
ist.  Die  bürgerliche  Geschäftspresse  strebt  immer  mehr 
zum  reinen,  kurzgehackten  Nachrichtenblatt.  Der 
Sensation  vom  Tage  wird  möglichst  viel  Raum  ge- 
währt; man  reckt  und  dehnt,  um  ja  nur  die  Kon- 
kurrenz zu  schlagen.  (Am  ekelhaftesten  ist  dieses 
Strecksystem  in  der  Wiener  Presse  entwickelt.)  Aller 
andere  Stoff  aber  wird  möglichst  kurz  und  flach  zu- 
sammengedrängt. Man  hat  da  ganz  bestimmte,  zeilen- 
mäßig begrenzte  Tarife.  Das  Feuilleton  darf  immer 
nur  höchstens  150  Zeilen  haben,  ob  darin  nun  die 
schwierigsten  Weltfragen  erörtert  werden  oder  über 
irgendeine  Nichtigkeit  geschwatzt  wird.  Die  Theater- 
kritik über  Novitäten  wird  streng  auf  80  Zeilen  ab- 
gezirkelt, die  der  Rezensent  erreichen  muß,  wenn  er 
über  die  ödeste  Geschäftsware  berichtet,  die  er  nicht 
überschreiten  darf,  wenn  er  ein  ewiges  Meisterwerk 
würdigen  soll.  Die  sozialdemokratische  Presse  sollte 
sich  dieser  blöden  Mechanisierung  verschließen  und 
den  Raum  nach  der  Bedeutung  des  Stoffes,  nach  seiner 
Schwierigkeit  und  Wichtigkeit,  ohne  Schablone  und 

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Zeilenmaß  zur  Verfügung  stellen.  Das  Publikum 
der  sozialdemokratischen  Presse  soll  mit  Recht  den 
Anspruch  erheben,  die  Zeit,  die  es  der  Zeitungs- 
lektüre  widmet,  zu  seiner  geistigen  Bereicherung  aus- 
zunutzen. Die  Zeiten  sind  ja  wohl  vorüber,  als  Engels 
mit  seinem  Anti-Dühring  eine  Zeitung  monatelang 
füllen  durfte;  aber  es  ist  durchaus  nicht  verwerflich, 
wenn  der  Leser  der  sozialdemokratischen  Presse  ge- 
legentlich eine  Woche  sich  mit  demselben  Problem 
beschäftigt. 

Der  Unterhaltungteil  unserer  Presse  wird  von  bür- 
gerlichen Sozialethikern  wegen  seines  Ernstes,  seines 
künstlerischen  und  wissenschaftlichen  Ehrgeizes  ge- 
rühmt. Wer  zu  Proletariern  redet,  hat  in  der  Tat  die 
Pflicht,  nur  den  Ertrag  gewissenhafter  Arbeit  und 
erlesener  geistiger  Kraft  zu  produzieren.  Die  leicht- 
herzige und  darmflüssige  Art,  am  Abend  wieder  zu 
lehren,  was  man  am  Morgen  hastig  gelernt  hat,  darf 
in  unserer  Presse  keine  Stätte  finden.  Schmock  mag 
nach  allen  Richtungen  schreiben,  für  die  Sozialdemo- 
kratie ist  er  ungeeignet.  Unser  Feuilleton  (im  wei- 
testen Sinne)  aber  sollte  noch  mehr  wie  bisher  von 
dem  Zufall  der  Stofflese  befreit  werden  und  auch 
mehr  durchweg  von  der  sozialistischen  Weltan- 
schauung durchdrungen  sein.  Von  der  Erziehung 
durch  eine  sozialistische,  künstlerisch  und  wissen- 
schaftlich vollendete  Unterhaltungsbeilage  dringt  der 
Neuling  am  ehesten  zum  politischen  Teil  vor.  Hierfür 
brauchen  wir  besonders  auch  darstellungsbegabte  par- 
teigenössische  Fachschriftsteller.  Wir  sollten  auch  in 
der  Akzentuierung  der  Interessen  uns  von  dem  bür- 
gerlichen Vorbild  befreien.  Ich  finde,  daß  man  dem 
Theater  eine  allzu  große  Bedeutung  beimißt,  —  die 
kapitalistischen  Blätter  bevorzugen  das  Theater,  weil 
eben  die  Theater  provozierend  kapitalistische  Unter- 
nehmungen sind  — ,  während  wir  der  wissenschaftlichen 
und  künstlerischen  Buchliteratur,  in  der  die  Kultur 

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unserer  Zeit  weit  mehr  lebt  als  in  der  Bühnenfabrika- 
tion, viel  zu  wenig  Aufmerksamkeit  widmen.  Auch 
die  mit  lebendiger  Anschaulichkeit  und  gründlicher 
Sachkenntnis  geschriebene  soziale  Zustandsschilderung 
mangelt  uns  noch.  Hierfür  müßten  wir  junge,  begabte, 
drängend  unruhige  Schriftsteller  gewinnen,  die  wan- 
dern und  reisen,  die  mit  hellen  Augen  Leben  sehen  und 
mit  knappem  Wort  es  festzuhalten  verstehen. 

Die  Befreiung  der  Zeitung  von  allem  aktenhaften 
Rohstoff  ist  eine  weitere  wesentliche  Aufgabe.  Wir 
haben  eine  gründlich  verkehrte  Rangordnung  in  der 
Wertung  der  Kräfte,  die  an  einer  Zeitung  mitarbeiten. 
Voran  marschiert  feierlich  der  politische  Redakteur, 
und  dann  kommen  nach  und  nach  die  Bearbeiter  der 
anderen  Ressorts,  Den  Redakteuren  schließen  sich  die 
Mitarbeiter  an,  und  ganz  zuletzt  folgt  bescheiden  der 
Berichterstatter.  Ich  halte  umgekehrt  den  technisch 
leistungsfähigen,  gebildeten,  künstlerisch  begabten 
Berichterstatter  für  die  Seele  der  Zeitung.  Er  ist  be- 
rufen, die  Fülle  des  Lebens  in  der  Zeitung  auferstehen 
zu  lassen.  Wie  wenig  wird  bis  jetzt  noch  das  Gericht 
ausgenutzt.  Die  Vorgänge  in  den  Gerichtssälen  der 
kleineren  Orte  stehen  fast  nirgends  unter  Kontrolle, 
und  selbst  bei  Sensationsprozessen  in  den  Großstädten 
vernehmen  wir  höchstens  das  Gestammel  der  Worte, 
anstatt  daß  wir  den  sozialen  und  juristischen  Gehalt 
der  kriminellen  Vorgänge  unmittelbar  erfahren.  Auch 
die  parlamentarische  Berichterstattung,  die  heute  un- 
seren Raum  verschlingt,  scheint  mir  sehr  wenig  glück- 
lich, wie  es  auch  barbarisch  ist,  Versammlungsvorträge 
in  ein  paar  Fetzen  in  die  Zeitung  zu  schleifen.  Ich 
glaube,  daß  wir  dahin  kommen  müßten,  Stimmungs- 
bild und  stenographischen  Bericht  insofern  zu  verbin- 
den, als  wir  im  allgemeinen  die  Rede  nur  frei  nach- 
zeichnen, wichtige  Stellen  und  Zwischenfälle  dann 
aber  auch  mit  aller  stenographischen  und  photographi- 
schen Genauigkeit  wiedergeben.    Nur  so  wird  die 

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lebendige  Rede  nicht  ausgedörrt,  sondern  lebendig 
wiedergegeben. 

Noch  ein,  allerdings  fast  unbegreiflicher  Mangel  der 
sozialdemokratischen  Presse  sei  kurz  erwähnt:  daß  sie 
zwar  den  Kapitalismus  bekämpft  in  seinen  Formeln, 
Tendenzen,  sozialen  Wirkungen,  daß  sie  ihn  aber  nicht 
verfolgt  in  seinem  realen  inneren-  Getriebe.  Unsere 
Parteipresse  hat  nur  bescheidene  Spuren  eines  Handels- 
teils. Und  doch  wäre  gerade  die  unabhängige  sozia- 
listische Kritik  der  Erscheinungen  des  kapitalistischen 
Lebens  der  ungeheuerste  Zuwachs  an  Einfluß  und 
Ansehen  unserer  Zeitung.  Und  hier  wäre  Dezentrali- 
sation am  Platze.  Es  sollte  kein  Parteiblatt  geben,  das 
nicht  einen  Redakteur  oder  Mitarbeiter  hat,  der  alle 
finanziellen,  industriellen,  kaufmännischen,  landwirt- 
schaftlichen Unternehmungen  des  Verbreitungsbezir- 
kes seiner  sachkundigen  Beobachtung  unterstellt.  Die- 
ser Mitarbeiter  des  Blattes  wäre  dann  auch  zugleich 
der  berufene  Berater  der  Gewerkschaften  in  ihren 
Kämpfen  gegen  das  Unternehmertum. 

Ich  habe  keine  Phantasien  vorgetragen,  sondern 
ganz  nüchtern  Möglichkeiten  und  Notwendigkeiten 
aufgezeigt,  die  verwirklicht  werden  müssen,  wenn  an- 
ders wir  die  Schranken  in  der  bisherigen  Entwicklung 
unserer  Presse  überschreiten  wollen. 

[April  19 14.] 


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Dynastische  Geschichtsauffassung 


Soll  nicht  irgend  einmal  in  grauer  Vorzeit  ein  deut- 
scher Kaiser  seinem  Kanzler  in  die  Hand  geschworen 
haben,  nicht  mehr  zu  telegraphieren  ?  Der  römische 
Flüchtling  des  deutschen  Kanzleramts  hat  dergleichen 
einmal  behauptet.  Aber  es  muß  wohl  nicht  wahr  sein. 
Denn  es  wird  weiter  telegraphiert,  und  von  all  den 
kaiserlichen  Telegrammen,  die  unablässig  fließen, 
scheint  uns  keines  so  irrig  wie  jenes,  das  er  am  27.  März 
191 1  nach  Rom  schickte: 

Die  Kaiserin  und  ich  sind  glücklich,  Dir  vom 
gastlichen  Boden  Deines  schönen  Landes  unsere 
aufrichtigsten  und  herzlichsten  Wünsche  auszu- 
drücken, die  wir  mit  ganz  Deutschland  für  Dich 
und  für  die  befreundete  Nation  zu  der  heutigen 
Feier  des  50.  Jahrestages  hegen.  Wir  nehmen  den 
lebhaftesten  Anteil  an  der  Erinnerungsfeier,  die  dem 
Werke  Deines  erlauchten  Großvaters,  des  Schöpfers 
des  Königreichs  und  der  Einheit  Italiens,  gilt.  Wir 
bitten  Gott,  daß  er  all  seinen  Segen  auf  Dich,  Dein 
Haus  und  Deine  Regierung  ausbreite  und  daß  er 
stets  seine  mächtige  Hilfe  leihe  zum  wachsenden  Ge- 
deihen und  zum  Ruhme  Italiens.  Unsere  herzlichen 
Grüße  der  Königin. 

Das  Telegramm  wird  nicht  gerade  die  Dreibundsliebe 
Italiens  stärken;  denn  es  macht  aus  der  wirklichen 
italienischen  Volksgeschichte  eine  preußische  Familien- 
historie, wie  sie  die  unglücklichen  deutschen  Schüler 
auswendig  lernen  müssen.  Zugegeben,  daß  das  Tele- 
gramm schwierig  war,  da  man  an  das  Auskunftsmittel 
offenbar  nicht  gedacht  hat,  gleichzeitig  ein  Trost- 

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telegramm  an  den  Leidtragenden  des  27.  März  in  den 
Vatikan  zu  senden.  (Man  hat  doch  einst  sowohl  den 
russischen  Hochverräter  und  den  japanischen  Sieger 
gleichermaßen  schwarz  beadlert!)  Indessen,  die  Stil- 
schwierigkeit des  Glückwunsches  war  noch  kein  Grund, 
das  italienische  Volk  durch  das  Telegramm  seiner  ur- 
eigenen Nationalfeier  für  verlustig  zu  erklären  und 
zugleich  den  beglückwünschten  König  um  seinen 
höchsten  Stolz  zu  bringen,  daß  er  ein  echter  König  der 
Revolution  ist. 

Aus  welchen  Quellen  beziehen  preußische  Könige 
ihre  geschichtlichen  Kenntnisse  ?  Der  erlauchte  Groß- 
vater Wilhelms  II.  hat  vor  fünfzig  Jahren)  keineswegs 
dem  erlauchten  Großvater  Humberts  II.  gehuldigt ;  und 
Preußen  entschloß  sich  durchaus  nicht  so  bald,  das 
neue  Königreich  Italien  anzuerkennen.  Der  alte  Wil- 
helm wünschte  als  Prinzregent  in  der  Krisis  von  1859 
die  Herrschaft  Österreichs  in  Italien  durchaus  unver- 
sehrt zu  erhalten,  das  Vorgehen  Viktor  Emanuels  war 
für  ihn  die  leibhaftige  Revolution,  und  er  dachte  im 
Grunde  über  die  Art  der  italienischen  Einigung  so, 
wie  der  zentrümliche  Verfasser  eines  unlängst  in  Mün- 
chen erschienenen  weltgeschichtlichen  Bilderbuches: 
„Früher  als  Deutschland  errang  Italien  seine  Einheit, 
weil  hier  von  jeher  der  allgemeine  Drang  stärker  als 
die  Stimme  des  Einzelrechts  war,  die  Scheu  des  Ge- 
wissens geringer  als  die  Stärke  des  Willens."  (Der 
Mann  sieht  übrigens  als  die  wichtigste  Wirkung  dieser 
gewissenlosen  nationalen  Einigung  die  dräuende  Er- 
scheinung an,  daß  es  heute  außer  in  Rußland  nirgends 
so  viele  Anarchisten  gebe  wie  in  Italien!)  Wenn 
schließlich  Preußen  doch  die  italienische  Revolution 
gelten  ließ  und  sie  indirekt  sogar  förderte,  so  geschah 
es  aus  dem  Interesse  der  hohenzollerischen  Macht - 
Vergrößerung.  Auch  solche  Begünstigungen  des  Um- 
sturzes —  im  Ausland  —  gehören  ja  seit  jeher  zu  den 
Gepflogenheiten   preußischer  Politik.    Ein  anderer 

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erlauchter  Ahn  Wilhelms  II.  hat  sogar  einst  mit  den 
Jakobinern  seinen  Frieden  geschlossen,  ihnen  das  linke 
Rheinufer  überlassen  und  die  gemeinsame  Sache  der 
europäischen  Legitimität  verraten,  um  Polen  schlucken 
zu  können.  Aber  wegen  dieser  preußischen  Begünsti- 
gung der  Revolution  bleibt  die  italienische  Einigung 
doch  das  Werk  der  Revolution,  die  Schöpfung  eines 
umstürzenden  Volkes,  dessen  Gesinnungsgenossen  in 
Deutschland,  die  Märzgefallenen,  noch  heute,  auf  Be- 
fehl des  Königs,  kein  Portal  vor  ihrer  Ruhestätte 
haben  dürfen. 

Ein  preußischer  Geschichtsschreiber,  der  nach  Bis- 
marcks Äußerung  zu  den  Geschichtstrübern  gehörte 
und  dem  der  alte  Zyniker  deshalb  eine  für  die  Trübung 
der  geschichtlichen  Vorgänge  besonders  geeignete  Aus- 
wahl der  geheimen  preußischen  Staatsakten  unter  die 
Nase  schieben  ließ,  durfte  —  ohne  dem  allgemeinen 
Hohn  zu  verfallen  —  seine  vielbändige  Klitterung  be- 
titeln: Die  Begründung  des  Deutschen  Reiches  durch 
Wilhelm  I.,  so  nach  dem  Beispiel:  Die  Erschaffung  der 
Welt  durch  den  lieben  Gott.  Kein  italienischer  Ge- 
lehrter würde  sich  erniedrigen,  eine  Geschichte  zu 
schreiben:  Die  Begründung  des  Königreichs  Italien 
durch  Viktor  Emanuel,  obwohl  dieser  Mann,  im  Gegen- 
satz zu  Wilhelm  I.,  der  die  deutsche  Einigung  nur 
gestört  und  verkümmert  hat,  wirkliche  Verdienste  um 
das  nationale  Werk  erworben  hat.  Am  wenigsten  aber 
ist  der  Enkel  Viktor  Emanuels  selbst,  der  unmittelbar 
vor  der  Nationalfeier  einen  Sozialisten  zum  Eintritt 
in  sein  Ministerium  zu  bewegen  suchte,  geneigt,  die 
Einigung  Italiens  als  seine  Familienleistung  aufzufassen. 

Es  hätte  dies  doch  Wilhelm  II.  stutzig  machen 
sollen,  ob  seine  telegraphische  Geschichtsauffassung 
richtig  sei,  daß  nicht  der  Tag,  da  Viktor  Emanuel  zum 
König  Italiens  gewählt  wurde,  gefeiert  wird,  sondern 
der  andere,  da  Rom  in  einem  revolutionären,  ein  Jahr- 
tausend der  Weltgeschichte   aufhebenden  Akt  als 


30  Eisner,  Gesammelte  Schriften.  I. 


465 


Hauptstadt  des  neuen  Nationalstaats  beschlossen 
wurde.  So  hat  denn  auch  der  Empfänger  des  kaiser- 
lichen Telegramms  in  seiner  rein  und  feierlich  klingen- 
den Ansprache  auf  dem  Kapitol  mit  keiner  Silbe  die 
Einigung  Italiens  als  das  Verdienst  seines  Hauses  in 
Anspruch  genommen,  wie  er  denn  an  keiner  Stelle 
den  Namen  Gottes  im  Munde  führte,  sondern  nur 
eines  alten  heidnischen  Kaisers  gedachte.  Vielmehr 
hat  Humbert  II.  in  Ehrfurcht  sich  vor  dem  revolu- 
tionären Volk  gebeugt,  vor  der  „titanischen  Anstren- 
gung der  Nationalseele",  die  sich  fähig  zeigte,  „das 
Los  des  erniedrigten  Pöbels  in  das  eines 
freien,  auf  seine  Rechte  eifersüchtigen  Vol- 
kes umzuwandeln/* 

Wie  von  einem  fremden  Erdteil  und  aus  einer 
fernen  Vergangenheit  dringen  in  diese  Worte  die 
Wünsche  und  Meinungen  Wilhelms  II.  Die  Worte 
Humberts  sprechen  die  Sprache  der  demokratischen 
Zivilisation  des  westlichen  Europa,  das  Telegramm 
Wilhelms  II.  wählt  den  Stil  des  östlichen  Zarismus. 
In  der  Geschichte  der  Auflösung  des  Dreibunds  wird 
einmal  der  kaiserliche  Glückwunsch  eine  gewisse  Be- 
deutung finden.  Die  europäische  Demokratie  schließt 
sich  zusammen.  Das  herrschende  Deutschland  sucht 
sich  dieser  Entwicklung  zu  entziehen.  Die  Geschichts- 
auffassung Wilhelms  II.  ist  ein  Ausdruck  dieser  Strö- 
mung. Sie  macht  den  deutschen  Kaiser  aber  deshalb 
auch  vielleicht  geeignet,  Leo  X.  Trost  und  Ermunte- 
rung zu  telegraphieren,  aber  höchst  ungeeignet,  die 
Gefühle  eines  republikanischen  Königs  und  eines  die 
siegreiche  Revolution  feiernden  Volkes  zu  verstehen 
und  zu  —  gewinnen. 

[März  191 1.] 


466 


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♦ 

Aus  der  Panther- Zeit. 


I. 

Sus  —  die  deutsche  Existenzfrage. 

Ein  sich  als  Marokkokenner  aufspielender  Schrift- 
steller, Herr  Albrecht  Wirth,  stellt  den  dem- 
nächstigen Untergang  der  deutschen  Industrie  in 
sichere  Aussicht,  falls  Deutschland  nicht  Marokko  er- 
würbe. Das  „ganze  Krämchen"  —  nämlich  die  deut- 
sche Industrie  —  sei  futsch,  und  Millionen  Arbeiter 
lägen  auf  der  Straße,  wenn  Deutschland  keine  Eisen- 
erze mehr  hätte.  Die  Vorräte  an  Eisenerzen  sollen 
aber  nur  noch  für  dreißig  Jahre  reichen.  Da  können 
nur  die  ungeheuren  Eisenschätze  Marokkos  retten,  die 
nicht  nur  6b— ioo  Millionen  Mark,  wie  bisher  an- 
genommen/sondern  eine  volle  Milliarde  betrügen. 

Die  Schätzung  der  marokkanischen  Eisenvorräte  ist 
zwar  nicht  aus  den  dortigen  Eisenerzen  selbst,  sondern 
aus  den  Fingern  des  Schätzers  geschürft.  Aber  wir 
wollen  die  Milliarde  glauben.  Was  hülfe  sie,  um  das 
ganze  Krämchen  und  die  Millionen  deutscher  Arbeiter 
vor  dem  Untergange  zu  bewahren! 

Wenn  dieser  Weltwirtschaftspolitiker  sich  in  die 
Statistik  des  deutschen  Eisenverbrauches  statt  in  die 
Geheimnisse  von  Marokko  versenkt  hätte,  so  würde  er 
bemerkt  haben,  daß  Deutschland  schon  heute  nur  die 
kleinere  Hälfte  des  Eisenbedarfs  im  Inlande  ge- 
winnt, dagegen  für  125  und  mehr  Millionen 
Mark  alljährlich  aus  dem  Auslande  einführt. 

Die  Rechnung  ist  demnach  klar,  die  ebenso  impo- 
nierende wie  aus  der  Phantasie  bezogene  marokkanische 
Eisenmilliarde  wäre  weniger  als  nichts.  Selbst  unter 


30* 


der  Annahme,  daß  der  ganze  Vorrat  vorhanden  wäre, 
daß  er  gefördert  werden  könnte  und  bis  auf  den  letzten 
Rest,  dank  der  Erwerbung  Marokkos,  nach  Deutsch- 
land käme,  so  würde  ja  auch  dieser  marokkanische  Zu- 
schuß in  weniger  als  eineni  Jahrzehnt,  und 
unter  der  Voraussetzung,  daß  die  deutschen  Eisen- 
vorräte erschöpft  wären,  in  weniger  als  einem  Jahr- 
fünft verbraucht  sein. 

Der  Bankerott  des  ICrämcheüs  würde  mithin  durch 
Marokko  im  günstigsten  und  märchenhaftesten  Falle, 
wenn  man  nämlich  alle  Behauptungen  der  Marokko- 
wippchen  für  bare  Münze  nähme,  nur  um  ein  paar 
Jahre  hinausgeschoben  werden. 

Es  scheint  uns  unter  diesen  Umständen  denn  doch 
das  Risiko  eines  Weltkrieges  in  keinem  Verhältnis  zu 
der  möglicherweise  zu  erzielenden  winzigen  Frist- 
verlängerung für  die  deutsche  Industrie  zu 
stehen.  Dann  leben  wir  lieber  im  Frieden,  und  wenn 
nach  dreißig  Jahren  das  Krämchen  der  deutschen  In- 
dustrie aus  Mangel  an  Eisenerzen  zu  Ende  sein  sollte, 
dann  wird  Herr  Albrecht  Wirth  auf  alle  Fälle  bereit 
sein,  aus  seinen  Fingern  den  weiter  notwendigen  Be- 
darf an  Eisenerzen  zur  Verfügung  zu  stellen,  sogar  in 
Deutschland,  wenn  er  sich  nur  einige  Mühe  gibt. 

[30.;  Juli  191 1.] 

IL 

Innere  und  äußere  Kolonisation. 

In  einer  kleinen  politischen  Satire  nahm  ich  kürzlich 
die  „diplomatische  Verständigung"  in  der  Marokko- 
frage vorweg;  ich  empfahl  die  Formel:  „wirtschaft- 
liche Aufteilung  Marokkos",  Südmarokko  als  deut- 
sches Interessengebiet.  Das  sei,  meinte  ich,  das  gün- 
stigste diplomatische  Kompromiß,  weil  es  der  Quell 
unendlicher  neuer  gefährlicher  Verwickelungen  wer- 
den müßte. 

468 


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Fast  scheint  es*  als  ob  die  Satire  Wahrheit  werden 
wollte.  Aus  Furcht  vor  der  goldströmenden  Agitation 
der  Gebrüder  Mannesmann  besteht  Deutschland  auf 
der  Überweisung  des  „souverän4*  bleibenden  Südens 
Marokkos  als  eines  wirtschaftlichen  Ausbeutungsgebiets 
für  deutsche  Kapitalisten.  Für  die  Anerkennung  der 
wirtschaftlichen  Gleichberechtigung  Deutschlands  in 
Marokko  tritt  selbstverständlich  auch  die  Sozialdemo- 
kratie ein.  Ebenso  könnte  an  sich  Frankreich,  wenn  es 
Bosheitspolitik  treiben  wollte,  nichts  lieber  sein,  als 
wenn  es  Deutschland  versuchen  ließe,  den  marokkani- 
schen Alpenvölkern,  diesem  „unzähmbarsten  Volk" 
der  Erde,  die  vermuteten  (niemals  bewiesenen)  Erz- 
schätze  zu  rauben;  es  wäre  ein  furchtbares  Verbluten 
deutscher  Kraft.  Wenn  gleichwohl  Frankreich  und 
England  dieser  deutschen  Forderung  Widerstand 
leisten,  so  nur  deshalb,  weil  eine  solche  wirtschaftliche 
Aufteilung  nur  ein  lächerliches  Vorspiel  einer  wirk- 
lichen Eroberung  des  Landes  wäre.  Wenn  heute  irgend- 
ein Agent  eines  beutelustigen  deutschen  Kapitalisten 
im  Sustal  lungert  und  dabei  zu  Schaden  kommt,  weil 
die  Eingeborenen  den  Eindringling  zu  ihrem  Glück 
nicht  für  notwendig  halten,  so  hat  Deutschland  heute 
gerade  auf  Grund  der  internationalen  Verträge  nicht 
nur  keine  Pflicht,  sondern  gar  kein  Recht,  für  das 
Opfer  seiner  Spekulation  einzutreten.  Das  Sus-Gebiet 
ist  vertragsmäßig  für  Fremde  gesperrtes  Land,  und 
wenn  diese  trotzdem  sich  hineinwagen,  so  müssen  sie 
das  auf  ihre  eigene  Rechnung  und  Gefahr  tun,  und 
die  deutsche  Großmacht  wäre  ebensowenig  genötigt, 
sich  hinter  einen  solchen  Abenteurer  zu  stellen,  wie 
sie  „aus  nationaler  Ehre"  verpflichtet  wäre,  ihre  Flotte 
nach  dem  Nordpol  gegen  die  Eisbären  zu  senden,  die 
einen  deutschen  Reisenden  gefressen. 

Anders  aber  liegt  die  Sache,  wenn  sich  Deutschland 
mit  Frankreich  vertragsmäßig  verständigt,  daß  der 
Süden  Marokkos  deutscher  Ausbeutung  vorbehalten 


469 


bleibt.  Wenn  auf  Grund  dieser  Abmachung  dann 
deutsche  Freibeuter  in  das  Sustal  eindringen,  dann 
trifft  in  kurzer  Zeit  der  Fall  tatsächlich  ein,  den 
Deutschland  bei  der  Pantherfahrt  nur  plump  vor- 
getäuscht hat:  Diese  Deutschen  riefen  nach  Schutz 
gegen  die  aufrührerische  Bevölkerung.  Sicher  werden 
bald  ein  paar  Deutsche  von  den  berberischen  Kunst- 
schützen niedergeknallt,  die  keinerlei  Verständnis  für 
die  Aufgaben  der  kapitalistischen  Sendboten  Europas 
haben.  Und  der  Rachezug  ist  fertig.  Ein  Kriegs- 
geschwader schwimmt  nach  Agadir  oder  auch  Mogador. 
Deutsche  Soldaten  werden  gelandet.  Das  Gebiet  wird 
von  und  für  Deutschland  militärisch  besetzt.  Damit 
ist  nicht  nur  ein  trotz  ungeheurer  Opfer  aussichtsloses 
Unternehmen  auf  das  deutsche  Volk  geladen,  sondern 
die  Gefahr  eines  kriegerisch-weltpolitischen  Zusam- 
menstoßes mit  den  europäischen  West  mächten  in  un- 
mittelbare Nähe  gerückt. 

Darum  müssen  auch  die  deutschen  Sozialdemokraten 
sich  gegen  die  wirtschaftliche  Aufteilung  wenden,  die 
nur  ein  vorläufiger  Humbug  ist,  und  allein  für  die  im 
Vertrag  von  Algeciras  zugesicherte  wirtschaftliche 
Gleichberechtigung  eintreten.  Darum  aber  müssen 
auch  die  europäischen  Mächte,  die  den  Marokko- 
Konflikt  lösen,  nicht  verschärfen  wollen,  diesen  deut- 
schen Vorschlag  ablehnen,  der  kein  Ausgleich,  son- 
dern eine  Täuschung,  keine  Erledigung  alter,  sondern 
ein  Anfang  neuer  Händel  ist. 

Das  deutsche  Volk  hat  nicht  das  mindeste  Interesse, 
sich  mit  den  Bezugs-  und  Profitsorgen  von  ein  paar 
deutschen  Kapitalisten  solidarisch  zu  erklären.  Zudem 
ist  es  mehr  als  fraglich,  ob  auch  nur  diese  Spekulanten 
auf  ihre  Rechnung  kommen  würden,  wenn  selbst  das 
ganze  Volk  für  sie  zu  bluten  bereit  wäre. 

Freilich  sagt  man  uns  nicht,  wir  sollen  unsere  Söhne 
auf  dem  goldenen  Altar  der  Gebrüder  Mannesmann 
opfern,  sondern  man  malt  uns  ungeheure  Kultur- 

470 


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aufgaben  vor,  die  geradenwegs  aus  dem  windigen  Ge- 
hirn des  seligen  Barons  Münchhausen  stammen.  In 
einer  alldeutschen  Broschüre  wurde  es  für  die  dring- 
lichste Aufgabe  des  deutschen  Volkes  erklärt,  die  Sus- 
Wüste  zu  bewässern;  denn  wenn  auch  der  Sus  zumeist 
unterirdisch  flösse,  so  sei  doch  nichts  leichter,  als  das 
Wasser  emporzupumpen.  Ein  anderer  Alldeutscher, 
der  kürzlich  Sachsen  unsicher  gemacht  hat,  empfahl 
in  einem  von  ihm  verfaßten  hirnverbrannten  Wisch  aus 
einem  anderen  Grunde  die  Besiedelung  Marokkos: 
weil  dort  die  Menschen  sich  wie  die  Blattläuse  ver- 
mehren. Der  hochselige  Massinissa  habe  es  in  Nord- 
afrika fertig  gebracht,  mit  94  Jahren  noch  einen  echten 
Sohn  zu  zeugen;  Mulay  Ismail,  habe  1200  Kinder 
gehabt.  Die  Geschichte  vom  Greisensäugling  des 
Massinissa  ist  zwar  2100  Jahre  und  mehr  alt;  immerhin, 
wes  Lebensideal  ist,  noch  mit  94  Jahren  einen  echten 
Sohn  zu  zeugen,  der  mag  ruhig  ins  Sustal  pilgern, 
aber  einen  Krieg  brauchen  wir  doch  wegen  dieser 
Lendensehnsucht  nicht  gerade  zu  führen;  eine  fröh- 
liche Berberin  wird  schon  aus  Neugier  bereit  sein,  in 
friedlicher  Verständigung  sich  für  ein  solch  alldeut- 
sches Experiment  herzugeben.  Die  1200  Kinder  des 
Mulay  Ismail  würden  uns  erst  dann  imponieren,  wenn 
behauptet  würde,  daß  sie  von  Einer  Mutter  stam- 
men; denn  daß  ein  Vater  so  fruchtbar  sein  kann,  das 
lehrt  uns  nicht  erst  Marokko,  so  etwas  ist  auch  auf 
sächsischen  Thronen  schon  vorgekommen. 

Bis  zu  solchen  Narrenspossen  sinken  unsere  Koloni- 
sationswüteriche. Je  weniger  es  wirklich  zu  koloni- 
sieren gibt,  um  so  toller  delirieren  die  bezahlten  und 
unzurechnungsfähigen  Agenten  kapitalistischer  Erz- 
sucher,  die  —  auf  Kosten  des  deutschen  Volkes  — 
Erz  billiger  holen  wollen,  als  sie  es  aus  Deutschland, 
Schweden  oder  Spanien  bisher  beziehen.  (Übrigens 
verlangt  man  doch  auch  nicht  die  Eroberung  Schwe- 
dens und  Spaniens,  obwohl  die  deutsche  Eisenindustrie 

47t 


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auf  deren  Erzgruben  angewiesen  ist!)  In  Südmarokko 
aber  ist  überhaupt  nichts  zu  holen,  außer  etwa 
berberische  Flintenschüsse.  Eines  der  am  gierigsten 
nach  Südmarokko  lechzenden  Blätter,  das  Organ 
der  bayerischen  Regierung,  die  „Augsburger  Abend- 
zeitung", mußte  sich  kürzlich  dazu  verstehen,  sich  von 
einem  Sachkenner  über  das  „Märchen  vom  Sus"  be- 
lehren zu  lassen.  Der  Gelehrte  höhnte  über  den  Schrei 
nach  Marokko,  der  von  den  „Bramarbassen  und  Braten- 
barden" täglich  ausgestoßen  werde.  Es  sei  schleierhaft, 
wo  in  den  Wüsten  Marokkos  das  Heidengeld  stecken 
solle.  Die  Kaufkraft  der  Eingeborenen  sei  lächerlich 
gering;  unsere  Kaufleute  müßten  allenfalls  für  ihre 
Waren  Wüstensand  in  Zahlung  nehmen.  Der  Erz- 
reichtum  sei  ganz  und  gar  problematisch.  Bisher  be- 
ziehe man  in  Südmarokko  das  nötige  Erz  —  aus  dem 
Auslande : 

„Aber  selbst  den  Erzreichtum  des  Hinterlandes  von 
Agadir  als  Tatsache  angenommen,  vermöchte  dies  uns 
besonders  zu  locken  ?  Wohl  kaum ! 

Die  Franzosen  haben  für  ihren  Blumenkohl,  den 
sie  in  Zukunft  in  Nordmarokko  bauen  werden,  natür- 
lich nur  wenig  die  räuberischen  Gelüste  der  Berber 
zu  fürchten;  Blumenkohl  ist  nun  einmal  kein  Tausch- 
objekt für  Halbwilde.  Mit  Erzen  ist  dies  aber  eine 
andere  Sache.  Jeder  Kenner  Marokkos  versichert,  daß 
Erztransporte  im  Sustale  alle  dreihunderttausend  Ber- 
berkrieger zum  „heiligen  Krieg"  gegen  die  Eindring- 
linge anlocken  würden.  Am  besten  wissen  dies  natür- 
lich aber  die  Herren  Mannesmann,  denen  es  recht  ge- 
legen käme,  wenn  sie  unter  der  Obhut  des  Reiches 
ihre  jetzt  sehr  problematischen  Schürfrechte  ausüben 
dürften.  Doch  für  das  Reich  wäre  dies  ein  teurer 
Spaß;  denn  durch  eine  ständige  „Schutzwache"  von 
mindestens  20000  Mann  würden  sich  die  fanatischen 
Atlasstämme  wohl  kaum  dauernd  zurückhalten  lassen." 

Diese  Darlegungen  in  dem  sonst  marokkofanatischen 

472 


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bayerischen  Regierungsblatt  genügen  allein,  um  die 
ganze  Gefahr  der  „wirtschaftlichen"  Aufteilung  er- 
kennen zu  lassen.  Es  gibt  nur  eine  für  das  deutsche 
Volk  gedeihliche  Losung:  Weg  vom  Sus! 

Alle  Kolonialpolitik  ist  günstigstenfalls  ein  Berciche- 
rungswerkzeug  für  einige  Kapitalisten  und  Aben- 
teurer. Die  bisherigen  deutschen  Kolonien  haben  uns 
im  letzten  Jahrzehnt  500  Millionen  mehr  gekostet  als 
eingebracht.  Damit  einige  Kolonialspekulanten  ver- 
dienen, wurde  der  Hunger  der  Massen  furchtbar  be- 
steuert, wurde  die  innere  Kolonisation  in  Deutsch- 
land gelähmt. 

Man  rät  uns,  ferne  Wüsten  aus  unterirdischen 
Flüssen  zu  bewässern  und  um  dieses  Zieles  willen  einen 
Weltkrieg  zu  wagen.  Derweilen  gehört  Deutschland 
selbst  noch  zu  den  dürftig  kolonisierten  Ländern. 
Jeder  Wolkenbruch  schafft  ungeheure  Verheerungen, 
weil  unser  Wasserverteilungssystem  noch  in  den  An- 
fängen steht.  Jeder  regenlose  Sommermonat  verbrennt 
die  Felder,  weil  die  Bewässerung  noch  nicht  durch- 
geführt ist.  Wir  könnten  für  ungezählte  Menschen 
fruchtbaren  Ackerboden  dem  Wattenmeere  abgewin- 
nen ;  dazu  haben  wir  kein  Geld !  Wir  haben  in  Deutsch- 
land 500  Quadratmeilen  Moor,  deren  Kultur  erst 
zum  kleinen  Teile  durchgeführt  ist.  Wie  traurig  und 
armselig  steht  es  um  die  deutsche  Obstbaumzucht! 
Welche  gewaltigen  Flächen  liegen  brach  und  öde! 
Deutschland  hat  bei  einer  Bodenfläche  von  54  Millionen 
Hektar  6,2  Millionen  Brache  und  Ödland;  Frankreich 
bei  der  gleichen  landwirtschaftlichen  Fläche  nur 
3,8  Millionen.  Die  weltpolitischen  Milliarden  für 
Deutschland  selbst  aufgewandt,  und  unser  Vaterland 
könnte  ein  blühender  Garten  werden. 

So  sind  unsere  Alldeutschen  in  Wahrheit  nicht  die 
Mehrer,  sondern  die  Zerstörer  deutschen  Volkstums. 
Damit  einige  Kolonialräuber  die  Welt  für  ihre  schmut- 
zigen Privatinteressen  abgrasen  können,  wird  deutsche 


473 


Arbeit  sinnlos  vergeudet.  Indem  die  internationale 
Sozialdemokratie  aber  diese  „Weltpolitik"  bekämpft, 
treibt  sie  echte  Heimatpolitik. 

[4.  September  191 1.] 

III. 

Frankreichs  Friedensbürgschaft. 

Am  Ausgang  der  Marokkokrisis  veröffentlicht  Ca- 
mille  Pelletan  im  Matin  Betrachtungen,  die  in 
Deutschland  gehört  und  beherzigt  zu  werden  ver- 
dienen. Um  so  mehr,  als  die  deutsche  Presse  ihr  skan- 
dalöses Sommertreiben  eben  damit  beschließt,  daß  sie 
nach  der  Franzosenhetze  jetzt  Frankreich  gegen  Eng- 
land auszuspielen  sucht,  und  die  übereinstimmenden, 
der  Auslassung  Pelletans  durchaus  verwandten  Urteile 
der  englischen  Zeitungen  und  Revuen  als  boshafte 
und  gehässige,  lediglich  englische  Verleumdungen 
denunziert. 

Lange  Zeit  hindurch,  schreibt  Pelletan,  hatte  der 
deutsche  Kaiser  die  Gewohnheit  geübt,  in  recht  nahen 
Zwischenräumen  irgendein  Drohwort  auszusprechen, 
dessen  Explosion  die  Welt  alarmierte.  Man  hörte  hin; 
unterrichtete  sich;  die  Journale  der  ganzen  Welt 
waren  voll  von  Erläuterungen  über  die  Redewendung, 
oder  von  mehr  oder  minder  richtigen  Informationen 
über  ihre  möglichen  Folgen.  Dann  legten  sich  die 
Beängstigungen  des  ersten  Augenblicks,  und  Europa 
wurde  wieder  ruhig. 

Auch  in  Deutschland  war  man  über  diese  lärmenden 
Überraschungen  wenig  erfreut,  und  die  öffentliche 
Meinung  wünschte,  daß  der  Kaiser  auf  solche  Kund- 
gebungen verzichte.  Jetzt  sei  es  nicht  mehr  der  Kaiser, 
sondern  sein  Kanzler,  der  durch  solche  heftige  Tam- 
tam-Schläge die  Welt  störe.  „Diesmal  war  der  Lärm 
ernster,  länger;  er  scheint  jetzt  fast  vorüber;  aber  er 
hat  lange  genug  gedauert,  und  was  noch  ärgerlicher, 

474 


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er  droht  zukünftig  sich  zu  erneuern."  Beunruhigt 
fragt  Pelletan,  wie  lange  die  jetzige  Verständigung 
dauern  werde.  Man  verspricht  uns,  fährt  Pelletan 
fort  (der  übrigens  ein  Gegner  der  Expansionspolitik 
ist),  die  Vorherrschaft  in  Marokko.  Ich  fürchte  ein 
wenig  dies  gefährliche  Geschenk,  wenn  wir's  haben 
werden,  wird  unsere  Grenze  nicht  weniger  offen  sein; 
das  kaiserliche  Militärreich,  das  unser  furchtbarer 
Nachbar  ist,  wird  nicht  weniger  bewaffnet  sein;  und 
seine  Regierung  wird  wahrscheinlich  nicht  auf  die 
Tamtam-Schläge  verzichtet  haben.  Nach  Erwerbung 
eines  Teiles  des  Kongo  wird  man  nur  um  so  mehr 
Lust  haben,  wieder  anzufangen.  In  den  wirtschaft- 
lichen Zugeständnissen  in  Marokko,  d.  h.  in  den  Kon- 
zessionen an  einflußreiche  Kapitalisten,  wird  Deutsch- 
land so  viel  Vorwände  zur  Klage  und  zum  Konflikt 
finden,  wie  es  wünscht. 

Pelletan  ist  nichts  weniger  ab  ein  Chauvinist.  Aber 
er  stellt  doch  fest,  daß  Frankreich  in  den  letzten  ge- 
fährlichen Monaten  durchaus  kaltes  Blut  bewahrt  hat. 
Es  ließ  sich  weder  nationalistisch  erhitzen,  noch  durch 
die  Schrecken  und  Verwüstungen  eines  möglichen 
Krieges  in  Angst  jagen.  Selbst  die  Geschäftswelt  blieb 
völlig  ruhig.  Das  Kapital,  das  furchtsamste  Ding  der 
Welt,  hat  nicht  das  leiseste  Symptom  einer  Panik  ge- 
zeigt. Aber  in  Deutschland  wurden  Sparkassen  ge- 
stürmt, aus  den  Banken  die  Gelder  zurückgezogen, 
eine  wirtschaftliche  Deroute  hervorgerufen.  Und 
Pelletan  weist  sehr  zutreffend  auf  die  Ursachen  dieses 
Unterschiedes  hin: 

„Es  scheint  mir  schwer,  unseren  republikanischen 
Einrichtungen  ihr  Verdienst  an  dieser  verschiedenen 
Lage  zu  verweigern.  Frankreich  weiß  sich  Herr 
über  sein  Geschick;  es  braucht  nicht  zu 
fürchten,  daß  eine  Regierung,  die  es  in  sei- 
ner Hand  hält,  es  in  das  Ungefähr  eines 
Krieges  stürzen  könnte,  gegen  seinen  Willen. 


475 


Frankreich  wäre  wahrscheinlich  weniger  ruhig  ge- 
wesen, wenn  es  noch  einen  Kaiser  gehabt  hätte,  wie 
den,  der  unsere  Heere  nach  Sedan  geführt  hat.  Und 
man  begreift,  daß  Deutschland  nicht  eben  so 
viel  Vertrauen  gehabt  hat,  weil  es  nicht  die- 
selben verfassungsmäßigen  Garantien  hat. 
Auf  jeden  Fall  bezahlt  Deutschland  heute  auf  dem 
finanziellen  und  wirtschaftlichen  Gebiete  die  Kosten 
der  Krisis,  die  seine  Regierung  geschaffen  hat.  Ein 
solches  Ergebnis  ist  ohne  Zweifel  nicht  geeignet, 
Deutschland  die  Politik  der  Tamtam- Schläge  lieben 
zu  lassen." 

[5.  Oktober  191 1.] 

IV. 
Was  nun? 

Bis  in  die  Reihen  der  Nationalliberalen  hinein  ist 
jetzt  zugegeben  worden,  daß  die  Entsendung  des 
„Panthers"  nach  Agadir  ein  Fehler  gewesen  ist.  Das 
ist  ein  gefährlich  verspätetes  Zugeständnis,  das  erst 
unter  dem  Gefühle  sich  hervorwagte,  daß  die  lärmende 
Aktion  zu  Anfang  in  keinem  Verhältnis  zu  dem  dürf- 
tigen Ertrag  am  Ausgange  stehe.  Aber  erinnern  wir 
uns:  In  jenen  ersten  Julitagen,  da  Europa  bewußtlos 
am  Abgrund  des  furchtbarsten  aller  Weltkriege  tau- 
melte, jauchzte  die  gesamte  bürgerliche  Presse,  ohne 
Ausnahme,  nur  in  verschiedenen  Abtönungen,  über 
die  befreiende  Tat  des  Herrn  v.  Kiderlen.  Für  eine 
befreiende  Tat  konnte  das  Geschehnis  doch  nur  des- 
halb angesehen  werden,  weil  man  von  ihr  den  Anfang 
weltpolitischer  Besitzergreifungen  erwartete.  In  jenen 
Tagen  hatte  alles  tripolitanische  Stimmungen,  und  alles 
Preßgesinde  erklärte  heldenmütig,  daß  das  deutsche 
Volk  zu  den  äußersten  Konsequenzen  entschlossen  sei. 
Die  Sozialdemokratie  war  in  jenen  Sommertagen  mit 
ihren  Protesten,  ihren  Warnungen,  ihren  Hinweisen 
auf  die  drohenden  Katastrophen  völlig  einsam. 

476 


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All  die  deutschen  „geheimen"  Aufklärungen  haben 
bisher  keine  Aufklärung  über  Grund  und  Absicht  des 
Unternehmens  gegeben.  Herr  v.  Kiderlen  hat  immer, 
wieder  behauptet,  niemals  sei  an  eine  Besitzergreifung 
in  Marokko  gedacht  worden.  Er  hat  jene  unerhörte 
Aktion  nur  als  so  etwas  wie  einen  ein  wenig  energi- 
scheren offiziösen  Zeitungsartikel  erklären  wollen.  Das 
ist  natürlich  eine  so  kindische  Begründung,  daß  sie 
kein  ernsthafter  Mensch  glaubt.  Dennoch  hat  Herr 
v.  Kiderlen  wirklich  vielleicht  nicht  mehr  gewollt  als 
eine  schöne  Geste.  Die  einzige  Erklärung  ist  immer 
noch,  daß  sich  die  Berliner  Regierung  durch  die  fal- 
schen Berichte  des  unfähigen  deutschen  Botschafters 
in  London,  Wolff-Metternich,  hat  in  den  Wahn  locken 
lassen,  England  sei  unzufrieden  mit  der  französischen 
Marokkopolitik  und  würde  ein  hemmendes  Eingreifen 
Deutschlands  nicht  ungern  sehen. 

Indessen,  es  hat  keinen  Zweck  mehr,  über  die  fatalen 
Ursachen  beispielloser  Fehler  zu  grübeln.  Das  Unheil 
ist  geschehen,  es  kann  durch  gar  nichts  mehr  in  seinen 
Wirkungen  abgeschwächt  werden. 

Mag  man  jetzt  Verträge  schließen,  Friedensreden 
halten  und  sich  in  Beteuerungen  internationaler  Loyali- 
tät überbieten,  der  „Panthersprung"  wird  niemals  mehr 
vergessen  und  er  wird  überall  in  der  Welt  als  ein  erster, 
mißglückter  Versuch  aufgefaßt,  die  deutsche  Welt- 
herrschaft zu  beginnen. 

Wir  debattieren  nicht  über  das  Recht,  daß  auch 
Deutschland  sich  eine  Weltherrschaft  gründe.  Recht 
oder  Unrecht  —  so  viel  ist  sicher,  daß  unter  den  heu- 
tigen geschichtlichen  Bedingungen  eine  solche  Politik 
nicht  durchgesetzt  werden  kann,  ohne  daß  die  Völker 
Europas  in  einen  Krieg  gestürzt  werden,  der  einen 
Weltuntergang  bedeutet.  Deshalb  ist  jede  imperia- 
listische Politik  für  die  Sozialdemokratie  undiskutabel. 

Das  internationale  Proletariat  aber  hat  Eile,  einen 
entscheidenden  Einfluß  auf  das  Schicksal  der  Völker 


477 


geltend  zu  machen.  Die  Katastrophe  lauert  an  der 
Schwelle.  Die  Gefahr  ist  größer  denn  je.  Die  Sozial- 
.  demokratie  allein  ist  der  Friede. 

Der  neue  Reichstag  wird  sich  bald  nach  seinem  Zu- 
sammentritt mit  einer  neuen  Flottenvorlage  zu 
beschäftigen  haben.  Eine  Flottenvorlage  aber  be- 
deutet mehr  als  eine  neue  schwere  Belastung  der 
Volksmassen.  Eine  neue  deutsche  Flottenvorlage  wirkt 
als  ein  neuer,  stärkerer  Panthersprung,  als  eine  aber- 
malige Bekräftigung  der  internationalen  Uberzeugung, 
daß  Deutschland  sich  heute  noch  nicht  stark  genug 
f  ülüt,  den  Kampf  um  die  Weltherrschaft  mit  England  zu 
beginnen,  daß  es  aber  morgen,  übermorgen  losschlagen 
wird.  Diese  allgemeine,  und  immer  wieder  durch  die 
deutsche  Politik  genährte  Überzeugung  ist  die  furcht- 
bare Gefahr,  unter  der  wir  leben.  Denn  dadurch 
muß  bei  den  anderen  Mächten  der  politische  Gedanke 
die  unheimliche  Gewalt  einer  nie  rastenden  Zwangs- 
vorstellung gewinnen,  ob  man  so  lange  warten  soll,  bis 
die  deutsche  Rüstung  vollendet  ist,  ob  man  nicht 
zuvorkommen  kann. 

Über  diese  Gefahr  dürfen  wir  uns  keinen  Augenblick 
täuschen  und  beruhigen. 

Ein  französischer  Offizier  und  Militärschriftsteller, 
Pierre  Felix,  veröffentlicht  soeben  in  Paris  eine  Schrift, 
die  für  jene  verruchten,  aber  nun  einmal  vorhandenen 
Stimmungen  eine  aufklärende  Urkunde  ist.  Unter  dem 
Titel:  „Et  maintenant  ?"  —  „Und  nun ?**  —  veröffent- 
licht er  Betrachtungen  über  die  durch  den  französisch- 
deutschen Vertrag  geschaffene  Lage  und  er  setzt  bereits 
auf  das  Titelblatt  die  drohende  Losung  und  Lösung: 
„Le  Desarmement  ou  la  guerre"  —  Abrüstung  oder 
Krieg. 

Es  hilft  nicht,  daß  man  den  Verfasser  als  einen 
Nationalisten  (klerikaler  Färbung)  abtut  (der  Sozialis* 
mus  wird  von  ihm  wie  eine  einfältige  Utopie  behan- 
delt) —  die  Gedanken,  die  er  entwickelt,  haben  ihre 

47« 


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Logik,  und  was  er  schreibt,  ist  trotzdem  herrschende 
Meinung. 

Pierre  Felix  geht  von  der  Vorstellung  aus,  daß 
Deutschland  dieWeltherrschaft  erstrebt :  „Was  Deutsch- 
land noch  zügelt,  ist  die  englische  Flotte  . .  .,  aber  in 
zehn  Jahren  wird  sich  die  deutsche  mit  der  englischen 
Flotte  messen  können."  Dann  ist  Deutschland  eine 
schlechthin  unüberwindliche  Macht.  Also  darf  man 
nicht  warten,  also  muß  man  heute  handeln.  Es  gibt 
nur  noch  zwei  Möglichkeiten:  die  gleichzeitige,  all- 
gemeine und  vollständige  Abrüstung  oder  den  Welt- 
krieg mit  all  seinen  unermeßlichen  und  unausdenkbaren 
Folgen.  Man  muß  Deutschland  zur  Abrüstung  zwin- 
gen, mit  allen  Mitteln  politischen,  wirtschaftlichen, 
militärischen  Zwanges.  Die  Abrüstung  aller  Mächte 
muß  vollständig  sein.  Zur  Aufrechterhaltung  der  euro- 
päischen Sicherheit  gegen  plötzliche  Störungen  soll 
nur  noch  eine  Art  internationaler  Gendarmerie 
gestattet  sein:  höchstens  iooooo  Berufssoldaten  und 
vier  Kreuzer,  Macht  genug,  um  Friedensstörungen 
abzuwehren,  nicht  stark  genug,  um  zu  erobern.  Wei- 
gert sich  Deutschland,  sich  dieser  Abrüstung  anzu- 
schließen, so  muß  sofort  die  Entscheidung  durch  einen 
Krieg  herbeigeführt  werden,  in  dem  Deutschland 
unterliegen  muß,  da  es  England,  Frankreich  und  Ruß- 
land gegen  sich,  nur  Österreich  für  sich  haben  würde. 
England  soll  alsbald  diese  Entscheidung  herbeiführen: 
Abrüstung  oder  Krieg!  .  .  . 

Weltfricdlich-blutrünstige  Hirngespinste !  Gewiß  1 
Wenn  sie  nur  nicht  zugleich  bis  zum  Ende  durch- 
dachte tatsächliche  Erscheinungen  wären !  Zum  Glück 
hat  die  Beweisführung  dieser  (im  doppelten  Sinne!) 
Gewaltabrüstung  doch  eine  Lücke;  und  der  Verfasser 
fühlt  sie.  Darum  schaltet  er  das  Proletariat,  die 
Sozialdemokratie,  aus  seiner  Berechnung  aus,  wenn 
er  auch  Bebels  Jenaer  Kriegsschilderung  ausdrück- 
lich bekräftigt.  Er  will  die  proletarische  Weltmacht 


479 


nicht  sehen,  weil  seinem  reaktionären  Kopf  vor  ihr 
graut. 

Zum  Heil  der  Welt  ist  diese  Macht  dennoch  vorhan- 
den. Pierre  Felix  hätte  recht,  wenn  das  Proletariat 
nicht  vorhanden  wäre.  Gewinnt  bei  den  nächsten 
Wahlen  die  deutsche  Sozialdemokratie  entscheiden- 
den Einfluß  auf  die  deutsche  Politik,  so  wird  sie  ebenso 
sehr  für  die  Entfaltung  aller  nationalen  Kulturkraft  im 
friedlichen  Wettbewerb  sorgen,  wie  sie  —  durch  ihre 
unbezweifelbare  Friedensentschlossenheit —  das  Welt- 
mißtrauen gegen  die  finsteren  Pläne  des  deutschen 
Imperialismus  beseitigen  wird,  nicht  zum  wenigsten 
dadurch,  daß  sie  durch  Sicherung  der  Volksrechte  und 
durch  ein  Budget  von  Besitzsteuern  den  Friedenswillen 
des  Proletariats  betätigen,  den  Rüstungswahn  der  Herr- 
schenden beugen  wird. 


Anmerkung  191 8.  Das  ward  am  28.  November  191 1 
veröffendicht.  Die  „nächsten  Wahlen"  ließ  man  noch  zu; 
es  kamen  110  Sozialdemokraten.  Auf  200  Sozialdemokraten 
aber  wollte  man  nicht  mehr  warten.  Man  wußte  noch  nicht, 
daß  man  auch  mit  200  Sozialdemokraten  im  Reichsparlament 
ohne  innere  Schwierigkeiten  einen  Weltkrieg  führen  könnte. 


480 


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Die  hohen  Stühle. 


Wenn  das  aussterbende  Geschlecht  der  Kunstreiter, 
die  unter  freiem  Himmel  ihre  Wunder  spielen  lassen, 
einem  hohen  Adel  und  verehrlichen  Publikum  ihr 
Naturtheater  hinstellen,  dann  pflegen  sie  wohl  die 
bedeutsamen  Rang-  und  Preisunterschiede  ihres  Pu- 
blikums dadurch  zu  kennzeichnen,  daß  sie  über  die 
hölzernen  Wirtshausstühle  der  ersten  Reihen  bunte 
Zeugfetzen  breiten,  also  daß  jedermann  die  adelige 
Besessenheit  dieser  Sitzwerkzeuge  auf  den  ersten  Blick 
zu  erkennen  vermag. 

Dieses  Klassenverständnis  der  Freilichtzirkus-Direk- 
toren bildet  auch  das  Prinzip  eines  deutschen  Parla- 
ments. In  einem  intimen  Ballräumchen  der  Pranner- 
straße  zu  München  veranstalten  sie  von  Zeit  zu  Zeit 
—  nicht  allzu  oft  —  Festspiele  der  Gesetzgebung, 
deren  dekorative  Stimmung  durch  die  sorgsame  Ab- 
tönung der  Sitzgelegenheiten  bewirkt  wird.  Es  geht 
ein  altes  naturwissenschaftliches  Gerücht,  daß  die 
Vornehmheit  der  Lebewesen  an  der  Farbe  jener 
Körperteile  zu  erkennen  ist,  die  zur  Erzeugnis  der  not- 
wendigsten Beihilfen  für  die  Landwirtschaft  Tür  und 
Tor  öffnen.  In  der  Tat,  wer  jemals  den  Südpol  eines 
Pavians  nachdenklich  betrachtet  hat,  der  wird  geneigt 
sein,  am  farbigen  Glanz  der  gescheitelten  Unterwangen 
den  Grad  edler  Abstammung  zu  ermessen. 

Aber  die  vornehmen  Figuren  in  dem  Parlamentlein 
der  Prannerstraße  sind  viel  zu  bescheiden,  als  daß  sie 
diese  fleischlich- farbigen  Urkunden  ihrer  gesetzgeberi- 
schen Vollmacht  vor  der  gemeinen  Welt  zur  Schau 
stellen.  Vielmehr  haben  der  Schreiner  und  der  Tape- 
zierer den  unsichtbaren  Adel  des  Gesäßes  in  das  Ge- 


ji   Bitner,  Gesammelte  Schriften.  I. 


stühl  hineingedichtet,  auf  dem  die  natürlichen  Zeug- 
nisse erhabener  Würde  zu  ruhen  pflegen. 

Der  Zuschauer,  den  der  Verein  zur  Hebung  des 
Fremdenverkehrs  in  die  besagten  Festspiele  gelockt 
hat,  sieht  von  seiner  engen  Galerie  auf  eine  sinnver- 
wirrende Ausstellung  von  Stühlen  herab.  Da  sind 
breite,  dunkelblaue  Samtlehnstühle  mit  hellroten 
Lederkissen,  weißlackiertem  Holzwerk  und  goldenen 
Krönchen  über  der  Lehne.  Eine  Ansiedelung  dunkel- 
roter  Polstersessel  in  reichgeschnitzten  Goldrahmen 
deutet  vielleicht  auf  noch  vornehmere  Hintergründe 
des  bayerischen  Verfassungslebens.  Die  bordeauxroten 
Samtlehnstühie  mit  braunem  Holzwerk  weisen  offenbar 
schon  auf  zweifelhafte  Färbung  ihrer  Inhaber,  und  die 
schmalen,  harten,  blaubezogenen  Stühle  ohne  Seiten- 
lehne endlich  veranschaulichen  die  unzweifelhaft  min- 
dere Güte  ihrer  hier  eben  nur  geduldeten  Besitzer; 
diese  letzteren  Stühle  sind  in  der  Tat  nur  als  Stehplätze 
für  das  gemeine  Volk  gedacht;  da  die  einzelnen  Mit- 
glieder des  gemeinen  Volks  (der  Minister  nämlich)  das 
lange  Stehen  nicht  vertragen  können,  schob  man  ihnen 
huldvoll  das  kümmerliche  Holz  unter  das  Fleisch  ihrer 
unedlen  Abstammung. 

Jetzt  ahnt  der  Leser,  daß  wir  uns  im  bayerischen 
Reichsrat  befinden,  in  dem  die  Stühle  schon  die  Klas- 
senunterschiede der  Mitglieder  verdeutlichen. 

Das  ist  das  hohe  Haus,  in  das  man  nicht  durch  den 
Wahlzettel,  sondern  durch  die  —  Hebeamme  hinein- 
gerät. Hier  ist  man  nicht,  weil  man  durch  das  Ver- 
trauen des  Volks  geschickt  wurde,  sondern  in  der  großen 
Mehrzahl  lediglich  deshalb,  weil  man  sich  auch  nach 
Beaumarchais  noch  immer  die  Mühe  gegeben  und  das 
Verdienst  erworben,  geboren  worden  zu  sein.  Nun 
sind  zwar  die  Menschen  in  der  Regel  geboren,  aber 
deshalb  sind  sie  doch  nicht  sämtlich  Reichsräte  der 
Krone  Bayerns.  Vielmehr  muß  man  auf  besondere  Art 
geboren  sein.  Die  Ahnen  dieser  Herren  sind  nicht,  wie 

482 


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unsere  Vorfahren  (nach  Darwins  Behauptung)  auf  ge- 
wöhnlichen Bäumen  herumgeklettert,  sondern  sie 
haben  auf  merkwürdigen  Stammbäumen  genistet.  Da- 
her sitzen  sie  jetzt  im  bayerischen  Reichsrat.  Daß  sie 
aus  edlem  Blut  geboren  sind,  ist  der  Befähigungsnach- 
web für  ihre  gesetzgeberische  Wirksamkeit.  Nun  ist 
es  eine  gewisse,  auf  populäre  Vorurteile  allzu  ängstlich 
Rücksicht  nehmende  Inkonsequenz,  daß  man  durch- 
aus auf  lebendiger  Geburt  besteht.  Warum  ?  Wenn  es 
einmal  auf  das  alte  edle  Geschlecht,  auf  Ahnen,  Blut, 
Rasse  ankommt,  warum  muß  dieser  Gesetzgeber  durch- 
aus erst  nach  neun  oder  mindestens  nach  sieben  Mo- 
naten atmend  zur  Welt  gekommen  sein  ?  Ist  sein 
Recht  nicht  das  gleiche,  auch  wenn  er  ungeduldig 
schon  nach  fünf  Monaten  ins  Licht  gefallen  ist  ?  Wie, 
wenn  nun  aus  diesem  Grunde  eine  uralte  Familie  ihre 
Reichsratsfähigkeit  verliert  ?  Weil  der  einzige  Sproß 
nach  den  plumpen  Vorurteilen  der  Masse  vorzeitig 
und  tot  geboren  ist!  Es  ist  nicht  einzusehen,  warum 
man  das  edle  Geschöpf  nicht  in  einer  feingeschliffenen 
Kristallvase  in  köstlichem  tausendjährigem  Weinspiri- 
tus verwahrt  und  so  jedesmal  durch  das  Familien- 
automobil auf  den  erbeigentümlichen  Reichsratssessel 
bringt.  Auch  dieser  Embryo  stammt  ja  ab  und  ist  da- 
mit zur  bayerischen  Gesetzgebung  legitimiert.  Könnte 
sonst  nicht  die  Gefahr  sich  ereignen,  daß  unsere  er- 
habenste parlamentarische  Schöpfung  ausstirbt  ? 

Man  sage  nicht,  daß  der  Reichsrat  Standesdünkel 
zeigt.  Er  verlangt  zwar  „Abstammung",  aber  er 
duldet  auch  Produkte  niederen  Schoßes,  sogar  Mi- 
nister in  seiner  Mitte,  natürlich  nach  Art  und  Stuhl 
geschieden. 

Wer  sitzt  im  Reichsrat  ? 

Zunächst  18  Wittelsbacher,  Prinzen  und  Herzöge. 
Man  präge  sich  die  Namen  ein:  Ludwig,  Rupprecht, 
Karl,  Franz,  Leopold,  Georg,  Konrad,  Heinrich,  Lud- 
wig Ferdinand,  Ferdinand  Maria,  Adalbert,  Alfons, 


483 


Karl,  Ludwig  Wilhelm,  Franz  Joseph,  Siegfried, 
Christoph  und  abermals  Ludwig. 

Dann  kommen  51  erbliche  Reichsräte,  denen  drei 
Vertreter  der  katholischen  und  einer  der  protestanti- 
schen Kirche  hinzugesellt  sind.  Um  diese  55  Edlen 
vom  Stuhl  aber  mit  Namen  und  Stand  aufzurufen,  be- 
darf man  nach  einer  genauen  Zahlung  sechshundert- 
neunzig —  und  was  für  —  Worte.  Man  erkennt  also 
schon  am  bloßen  Namensaufruf,  um  wieviel  bedeu- 
tender diese  hohen  Herrn  sind  als  die  Gewählten  der 
zweiten  Kammer,  die  nur  „Joseph  Filser,  Ökonom" 
heißen.  Hier  aber  nennt  man  sie:  „Seine  Durchlaucht 
Fürst  Albrecht  zu  Oettingen-Oettingen  und  Oettingen- 
Spielberg,  k.  Kronobersthofmeister".  Oder:  „Seine 
Durchlaucht  Fürst  Bertram  von  Quadt  zu  Wykradt 
und  Isny,  Standesherr,  Oberst  &  1.  s.  der  Armee". 
Oder:  „Seine  Durchlaucht  Fürst  Karl  zu  Oettingen- 
Oettingen  und  Oettingen  Wallerstein,  Graf  zu  Oettin- 
gen-Baldern  und  Herr  von  Sötern,  Standesherr". 

Die  „Erblichen"  selbst  zerfallen  in  verschiedene 
Gruppen:  die  „Kronbeamten  des  Reichs",  die  Häupter 
der  ehemals  regierenden  Familien  —  die  französische 
Revolution  und  Napoleon  haben  diesen  Regierungen 
ein  Ende  bereitet!  —  und  die  Herrschaften,  die  vor- 
mals in  Bayern  keine  reichsständischen  Besitzungen 
gehabt  haben. 

Den  „Pöbel"  der  erlauchten  Versammlung  bilden 
neben  dem  Gesinde  in  den  Ministerien  etliche  Per- 
sonen, die  nicht  geboren,  sondern  nur  berufen  sind. 
Es  gibt  17  solcher  zu  lebenslänglichem  Reichsrat  Ver- 
urteilten, und  es  befindet  sich  kein  Spenglermeister 
darunter,  wie  neuerdings  im  preußischen  Herrenhaus, 
sondern  diese  Lebenslänglichen  sind  vielmehr  Groß- 
grundbesitzer, Generäle,  ehemalige  Minister,  hoch- 
beamtete Juristen,  Kommerzienräte,  und  sogar  zwei 
Professoren  und  ein  Künstler.  Man  sieht,  unter  den 
Geborenen  kommt   Kunst  und  Wissenschaft  noch 

484 


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weniger  zur  Geltung  als  in  irgendeinem  „Pöbelparla- 
ment": unter  88  drei  Vertreter  von  Kunst  und  Wis- 
senschaft ! 

• 

Welches  Recht  aber  hat  diese  ewigen  und  erblichen 
Gesetzgeber  gezeugt?  Eigenes  Verdienst  kann  man 
allenfalls,  wenn  man  sehr  gutmütig  und  vertrauensvoll 
ist,  bei  den  17  Lebenslänglichen  voraussetzen.  Aber 
die  anderen,  die  erdrückende  Mehrheit  ?  Es  ist  nicht 
ganz  leicht,  verständlich  zu  machen,  warum  diese  Ge- 
borenen —  kraft  einer  verwesten  Vergangenheit  — 
so  viel  gesetzgeberische  Macht  haben,  wie  das  ganze 
lebendige  Volk  der  Gegenwart  in  den  Männern  seines 
Vertrauens. 

Es  ist  einmal  das  alte,  vornehme,  bayerische  Blut. 
Sodann  liegt  ihre  Berechtigung  in  dem  ererbten  Besitz 
und  den  Verdiensten  der  ungezählten  Ahnen. 

Alle  Menschen  haben  ungefähr  gleich  viel  Ahnen. 
Nur  kennen  wir  gewöhnlichen  Sterblichen  glücklicher- 
weise unsere  Ahnen  nicht;  glücklicherweise,  denn  je 
weniger  man  von  seinen  Vorfahren  weiß,  desto  we- 
niger braucht  man  sich  erblich  belastet  zu  fühlen.  Die 
besondere  märchenhafte  Vornehmheit  des  Blutes  be- 
steht also  darin,  daß  man  möglichst  viele  Ahnen  kennt 
oder  zu  kennen  —  glaubt.  Wenn  man  ganz  vornehm 
ist,  kann  man  den  Stammbaum  lückenlos  bis  zur  Sint- 
flut nachweisen.  In  dieser  Lage  sind  aber  keine  baye- 
rischen Reichsräte  und  wohl  nur  die  französischen 
Montmorency,  in  deren  Stamm- Kirche  ein  Gemälde 
zeigt,  wie  auf  die  Arche  Noah  ein  Lakai  in  der  Livree 
dieser  Familie  zuschwimmt,  aus  dessen  Mund  ein 
Zettel  heraushängt  mit  den  Worten:  Monsieur  Noa, 
vous  etes  pri£  de  sauver  les  papiers  de  la  tres  nobel 
famille  de  Montmorency!  (Herr  Noah,  Sie  werden 
ersucht,  die  Papiere  der  sehr  vornehmen  Familie 
von  Montmorency  zu  retten!)  Der  bayerische  Adel 


485 


muß  sich  begnügen,  daß  bestenfalls  seine  ältesten 
Ahnen  in  den  Kreuzzügen  Ungläubigen  die  Schädel 
gespalten  und  die  Taschen  geleert  haben.  Aber  wer 
mag  sich  verbürgen,  daß  der  Wein  immer  aus  der 
Lage  stammt,  den  die  Etikette  zeigt!  Graf  Berchem, 
der  Minister  des  Kurfürsten  Maximilian  III.  von 
Bayern,  der  es  doch  wissen  mußte,  liebte  die  Äuße- 
rung: „Die  Mutter  weiß  man  gewiß,  aber  mit  dem 
Herrn  Vater  hat  es  bisweilen  Hitze,  denn  man  findet 
traurige  Exempla,  daß  oft  Haiducken  und  andere  in 
die  Ahnenbäume  gepfuscht  haben."  Wozu  nur  zu 
ergänzen  wäre,  daß  auch  die  Mutter  gelegentlich  —  im 
Interesse  der  Erhaltung  der  Art  —  nur  vorgeschützt 
ist.  Aber  sieht  man  selbst  von  dieser  schreckhaften 
Möglichkeit  ab,  daß  wir  der  geheimen  Wirksamkeit 
von  Haiducken  den  bayerischen  Reichsrat  verdanken, 
so  genügt  auch  das,  was  geschichtlich  bekannt  und 
anerkannt  ist,  um  zu  wissen:  man  kann  auch  ohne 
uraltes  Ahnenblut  geborener  Gesetzgeber  sein.  Wie 
deutsche  Könige,  so  sind  auch  bayerische  Reichsräte 
erst  von  Napoleons  Gnaden.  Die  Familie  Seiner 
Durchlaucht  des  Fürsten  Karl  Philipp  von  Wrede, 
k.  Kämmerer,  wußte  z.  B.  noch  am  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts nichts  von  Ahnen,  ja  nicht  einmal  etwas  von 
einem  Vaterland;  wenigstens  kämpfte  ein  Wrede  in 
den  verschiedensten  Kriegslagern,  er  befehdete  heute 
die  Kameraden  von  gestern.  Daß  Seine  Erlaucht  Graf 
Karl  Ernst  Fugger  von  Glött  auf  einen  einfachen  Leinen- 
weber, der  im  Graben  auf  dem  Lechfeld  rackerte,  als 
Urahn  zurückblickt,  ist  allbekannt;  und  diese  einst 
reichste  Familie  der  Welt  hat  nicht  einmal  das  Geld 
zusammenhalten  können,  sonst  hätte  ein  jüngerer 
Ahn,  der  Graf  Fidel  Fugger,  im  19.  Jahrhundert  nicht 
nötig  gehabt,  mit  der  von  seinen  „Untertanen"  ge- 
speisten Sparkasse  übel  zu  spekulieren.  Auch  der  Graf 
Otto  von  und  zu  Lerchenfeld  auf  Köfering  und  Schön- 
berg, k.  Kämmerer,  geht  aus  dem  Leinenhandel  her- 

486 


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vor,  den  der  Straubinger  Bürger  Haimeran  Lerchen- 
felder betrieb.  Säßen  die  bayerischen  Freiherren  von 
Eichthal  im  Reichsrat,  so  könnten  sie  sich  gewiß  noch 
an  jenen  Armeelieferanten  Aaron  Scligmann  erinnern, 
von  dem  sie  abstammen.  Auch  hochgradige  Unehelich- 
keit hindert  nicht  die  erbliche  Gesetzgeberei.  Weil 
irgendein  Hoffräulein  die  Ehre  hatte  (wie  es  in  einer 
alten  Schrift  heißt),  dem  bayerischen  Kurprinzen  Karl 
Albrecht  die  ersten  Gefühle  der  Liebe  einzuflößen, 
wurde  im  Jahre  1723  ein  Bube  geboren  und  sitzt  jetzt 
ein  Graf  Ludwig  von  Holnstein  im  Reichsrat.  Jenes 
Hoffräulein  teilte  hernach  mit  Unzähligen  ihres  Ge- 
schlechts die  Ehre,  Karl  Albrecht  weitere  Gefühle  der 
Liebe  einzuflößen.  Auf  diese  Weise  wurde  viel  Ahnen- 
blut erzeugt,  wenn  auch  bloß  ein  „Kammermensch" 
Gegenstand  der  höchst  unehelichen  Neigungen  ge- 
wesen sein  mochte.  Übrigens  blieben  die  Holnsteins 
dem  Bürgerlichen  und  dem  Unehelichen  noch  weiter- 
hin treu :  der  Sohn  des  frisch  gepfropften  Stammvaters 
heiratete  nämlich  die  uneheliche  Tochter  des  Kur- 
fürsten Karl  Theodor,  die  er  der  Mannheimer  Schau- 
spielerin Josephine  Seyffert  einzuflößen  geruht  hatte. 
Bürgerliches  Bastardblut  verwässert  auch  die  fürst- 
liche Familie  Löwenstein,  die  zu  den  vornehmsten 
der  vornehmen  gehört. 

Ist  es  somit  weder  das  alte,  noch  das  adelige,  noch 
auch  das  legitime  Blut,  das  Bedingung  und  Voraus- 
setzung reichsrätlicher  Fähigkeiten  ist,  so  braucht  es 
auch  durchaus  kein  bayerisches  Blut  zu  sein.  Ein  er- 
heblicher Teil  der  bayerischen  Reichsräte  stammt  aus 
allen  möglichen  Winkeln  Deutschlands  sowie  des  Aus- 
landes: „wälsches"  Blut  ist  ebenso  häufig  wie  das 
Haiduckenblut. 

Aber  lassen  wir  die  geheimnisvollen  Pfade  des  Bluts 
und  der  zärtlichen  Gefühle,  untersuchen  wir  die  Rechts- 
titel des  Besitzes  und  der  Verdienste.  Hier  haben  wir 
festeren  Boden  unter  uns,  aber  auch  einen  mit  Gewalt- 


487 


tat  und  Verbrechen  blutig  gedüngten  Boden.  Wollen 
diese  von  Geburt  regierenden  Familien  die  Verdienste 
ihrer  Vorfahren  für  ihr  heutiges  Vorrecht  geltend 
machen,  so  müssen  sie  es  sich  schon  gefallen  lassen, 
daß  man  ihnen  auch  die  unermeßlichen  Frevel  ihrer 
Ahnen  noch  heute  anrechnet. 

Jeder  große  Besitz  ist  durch  die  Arbeit  —  der  an- 
deren erzeugt,  die  man  ausplündert.  Vor  allem  aber 
kleben  an  allem  Großgrundbesitz  die  tausendfältigen 
Flüche  armer  Bauern,  die  beraubt,  geschunden,  ge- 
mordet worden  sind.  Besitz  und  Verdienst  adeliger 
Geschlechter  beruht  nicht  am  wenigsten  darauf,  daß 
sie  sich  hervorragend  an  der  Niederwerfung  der 
Bauern  beteiligt  haben.  Wollte  man  erzählen,  wie  sich 
manche  Reichsratsfamilien  in  den  vergangenen  Jahr- 
hunderten ihren  Besitz  gerafft  und  erhalten,  wie  sie 
sich  dem  Vaterland  und  Volk  verdient  gemacht  haben, 
man  müßte  ein  Buch  schreiben,  das  so  dick  wäre,  wie 
sämtliche  Protokolle  des  Reichsrats  seit  Anbeginn  zu- 
sammengenommen, und  jedes  Blatt  tröffe  von  Blut 
und  Grauen. 

Begnügen  wir  uns  mit  ein  paar  Stichproben.  Der 
berühmteste  Sproß  der  Familie  Pappenheim  —  sie 
gehört  zu  dem  Reichsratsadel,  aber  gegenwärtig  scheint 
kein  Mitglied  gesetzgeberisch  vertreten  zu  sein  —  ist 
ein  Ungeheuer  des  Dreißigjährigen  Krieges,  der  nicht 
nur  in  erster  Linie  für  die  Verbrennung  Magdeburgs 
verantwortlich  ist,  sondern  vor  allem  die  grausame 
Hinschlachtung  der  aufrührerischen  Ober-Ens-Bauern 
besorgt  hat.  Den  Erfolg  von  Magdeburg  kennzeich- 
nete Pappenheim  in  einem  Brief:  „Ich  halt*  dafür,  es 
sind  ob  20000  Seelen  darauf  gegangen;  all'  unsere 
Soldaten  sind  reich  geworden."  Von  den  Bauern  des 
Ober-Ens-Tals  kamen  gar  40000  um;  den  Über- 
lebenden, die  sich  ergaben,  verpfändete  Pappenheim 
das  Ehrenwort,  daß  ihnen  verziehen  werden  sollte; 
darauf  wurden  sie  furchtbar  gefoltert  und  hingerichtet. 

488 


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Unter  den  Vorfahren  der  Preysings  trieb  es  ein  Herr 
Kristof  so  arg  als  Bauernschinder,  daß  ihn  die  allzu 
Geduldigen  15 12  vor  der  Kirchentür  erschlugen.  Ein 
Max  v.  Preysing  war  1807  bis  181 3  Landrichter  zu 
Miesbach.  Von  ihm  berichtet  der  Ritter  von  Lang: 
„Dreißigtausend  Gulden  Amts-  und  Vormundschafts- 
gelder waren  bereits  durchgebracht,  davon  die  Schuld 
auf  sich  zu  laden  Sr.  Gnaden  natürlich  nicht  zuzu- 
muten war.    Die  gemeine  Seele  eines  sterbenden 
Schreibers  schien  dazu  vollkommen  hinlänglich.  Der 
treue  Landgerichtsdiener  stürzt  also  eines  Abends 
plötzlich  in  die  Amtsstube,  versetzt  dem  armen  Ober- 
schreiber mehrere  Dolchstiche  und  läßt  ihn  blutend 
und  als  tot  auf  der  Erde  liegen;  er  eilt  nun,  einige 
Gerichtspersonen  herbeizuholen,  die  über  den  Selbst- 
mord des  Schreibers  ein  Protokoll  aufnehmen  und 
unter  diesen  aufgeregten,  verdächtigen  Umständen  die 
Kasse  aufschließen  sollen,  nachdem  Seine  Gnaden  der 
Herr  Landrichter  alle  Ursachen  hätte,  zu  fürchten, 
daß  es  damit  nicht  richtig  sei.  Als  aber  die  Kom- 
mission eintrat,  hatte  der  vermeintliche  Kadaver  sich 
schon  wieder  erhoben  und  besaß  noch  so  viel  Kraft, 
ins  nächste  Haus  zu  gehen,  wo  er  der  Hilfe  eines 
Arztes  übergeben  wurde."  Der  edle  Max  floh  darauf 
nach  München  und  wurde  nebst  seinem  Gerichts- 
diener —  Patriot.  Er  stellte  sich  nämlich  zum  allge- 
meinen Aufgebot  und  ward  Major,  der  Gerichtsdiener 
Hauptmann.   Vergebens  suchte  der  arme  Schreiber 
sein  Recht.  Als  aber  nach  dem  Frieden  dessen  Klagen 
allzu  laut  wurden,  stellte  man  endlich  den  Herrn 
v.  Preysing  vor  Gericht,  das  ihn  auch  verurteilte.  Aber 
das  Urteil  wurde  nicht  bestätigt  —  und  dem  Schreiber 
durch  Schenkung  eines  Brauhauses  in  Tölz  der  Mund 
gestopft. 

Einen  wackeren  Raufbold  darf  der  Reichsrat  Graf  Karl 
Theodor  von  und  zu  Sandizell,  k.  Kämmerer  und  Ritt- 
meister der  Reserve  des  1.  Schweren  Reiterregiments, 

489 


als  Ahnherrn  verehren;  dessen  ruhmreichste  Leistung 
mag  in  diesen  frommen  Zeitlauften  zu  allgemeiner 
Erbauung  erzählt  werden.  Dieser  Wilhelm  von  Sandi- 
zell  nahm  nach  mancherlei  blutigen  Familienhändeln 
an  der  Spitze  deutscher  Landsknechte  1 527  am  Sturm 
auf  Rom  teil,  um  den  Papst  Klemens  VII.  wegzujagen. 
Das  gelang  denn  auch  und  der  Papst  ist,  wie  die  alten 
Quellen  berichten,  „so  schnell  gelaufen,  daß  ihm  der 
Schweiß  ausging,  als  ob  man  ihn  mit  Wasser  begossen 
hätt'".  In  den  Straßen  Roms  dauerte  das  Morden 
acht  Tage.  Zu  Tausenden  lagen  die  Leichen  auf  der 
Straße,  unbeerdigt,  so  daß  die  Pest  ausbrach.  Die 
Kaiserlichen  und  Herr  von  Sandizell  aber  plünderten 
Rom  aus.  „Die  Landsknecht  haben  die  Cardinals-HüY 
aufgesetzt,  die  roten  langen  Röck'  angetan  und  sind 
auf  Eseln  in  der  Stadt  umgeritten,  haben  also  ihr 
Kurzweil  und  Affenspiel  gehalten.  Wilhelm  von  San- 
dizell ist  oftermals  mit  seiner  Rott',  als  römischer 
Papst  gekleidet,  mit  den  drei  Kronen  (der  Tiara)  vor 
die  Engelsburg  gezogen,  da  haben  die  Knecht  in  den 
Kardinals-Röcken  ihrem  Papst  Reverenz  getan,  ihre 
langen  Rock*  vornen  mit  den  Händen  aufgehebt,  den 
hinteren  Schweif  aber  auf  der  Erd'  lassen  nachschleifen ; 
sie  haben  sich  mit  Haupt  und  Schultern  vor  ihrem 
Papst  tief  gebogen,  niedergeknieet  und  ihm  Händ' 
und  Fuß*  geküßt.  Alsdann  hat  der  v.  Sandizell  mit 
einem  Glas  voll  Wein  den  Segen  geben  und  dem 
rechten  Papst  Clementi  (welcher  zu  einem  Fenster 
der  Engelsburg  herabblickte)  einen  Trinkspruch  zu- 
gebracht." Und  dann  haben  sie  den  Luther  zum 
Papst  ausgerufen.  (Ein  Nachkomme  dieses  Trefflichen 
ist  heute  vom  Zentrum  im  Wahlkreise  Aichach  als 
Reichstagskandidat  aufgestellt.) 

Oder  sollen  wir  die  Chronik  der  Törrings  aufblättern, 
die  mit  dem  Unhold  des  Raubritters  von  Stein  an- 
hebt, dessen  Missetaten  sich  zu  der  Blaubartsage  vom 
Heinz  von  Stein  verdichteten?  Oder  sollen  wir  von 

490 


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den  wilden  Kämpfen  zwischen  Kaspar  v.  Törring  und 
dem  Wittelsbacher  Herzog  erzählen,  die  wider  ein- 
ander das  Gericht  der  Feme  anriefen,  bis  schließlich 
der  verurteilte  Wittelsbacher  den  freigesprochenen 
Törring  beseitigte:  das  wäre  wieder  nicht  zur  Freude 
der  Wittelsbacher  Reichsratsstühle  .  . . 

• 

Das  sind  die  Rechtstitel  des  Ahnenparlaments,  die 
aus  dem  Dreibund  von  Blut,  Besitz  und  Verdienst 
geworben.  Heute  haben  die  Herren  es  bequemer, 
Besitz  und  Verdienst  zu  erwerben.  Sie  brauchen  keine 
so  rohen  Gewaltmittel  mehr  anzuwenden.  Dafür 
geben  sie  heute  Gesetze  —  als  „Parlament"  —  wie 
sie  ihnen  gefallen.  Sie  treiben  unverhüllte  Familien- 
politik, und,  keinem  Wahlrecht  verantwortlich,  nutzen 
sie  die  Gesetzgebung  zu  ihren  allerhöchsten  Zwecken. 
Das  ist  auch  eine  Art  Ahnentreue. 

Das  Zentrum  aber,  die  Vorkämpferin  einer  Kirche, 
die  auf  ihre  Demokratie  stolz  ist  und  deren  Führer 
selber  keine  Ahnen  sein  dürfen,  hat  niemals  etwas  gegen 
dieses  Gespensterhaus  unternommen;  sondern  es  ist 
im  Gegenteil  insgeheim  mit  ihm  verbündet  und  mutet 
heute  den  Wählern  zu,  die  Macht  des  Adels  noch  da- 
durch zu  stärken,  daß  sie  diese  Herren  auch  noch  als 
„Volksvertreter"  ins  Reichsparlament  entsenden.  Er- 
laubt doch  der  Reichsrat  der  Mehrheit  der  zweiten 
Kammer,  gelegentlich  „volksfreundliche"  Beschlüsse 
zu  fassen,  im  Vertrauen  darauf,  daß  die  erste  Kammer 
sie  dann  doch  streichen  würde  und  die  zweite  dann 

« 

„schweren  Herzens"  gezwungen  sein  würde,  die  eige- 
nen Beschlüsse  zu  opfern.  In  Bayern  kann  die  Re- 
gierung keinen  Gesetzentwurf  machen,  ohne  sich  vor- 
her mit  den  Geborenen  zu  verständigen. 

Gerade  in  der  letzten  Tagung  erwiesen  sich  die 
Herren  ihrer  Ahnen  würdig.  Wie  wüteten  sie  gegen 

49  t 


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die  5  Proz.  Einkommensteuer!  Beinahe  hätten  sie 
deshalb  die  ganze  Steuerreform  demoliert.  Wie  be- 
kämpften sie  dazu  alle  Steuererleichterungen  für  die 
Besitzlosen !  Auch  beseitigten  sie  den  von  der  zweiten 
Kammer  beschlossenen  Achtstundentag  für  die  Berg- 
arbeiter! In  dieser  erlauchten  Körperschaft  ist  dann 
schließlich  auch  das  Wort  des  Bischofs  von  Regens- 
burg gefallen:  „Knecht  muß  Knecht  bleiben!" 

Die  „Knechte"  vergelten  nicht  Gleiches  mit  Glei- 
chem. Sie  verlangen  durchaus  nicht,  daß  Herr  Herr 
bleiben  müsse.  Im  Gegenteil,  sie  wollen  so  rasch  wie 
möglich  die  Geborenen  von  der  Last  befreien,  gesetz- 
geberisch zu  arbeiten. 

Vor  fast  einem  halben  Jahrhundert  schrieb  der  ur- 
wüchsige Otto  Titan  von  Hefner,  der  fleißige  und 
ehrliche  Chronist  des  bayerischen  Adels:  Er  habe  das 
gute  Vertrauen,  „daß  das  letzte  Überbleibsel  unserer 
adeligen  Privilegien  in  Bayern  —  die  erste  oder  so- 
genannte Adelskammer  —  eine  nahe  und  begrenzte 
Ewigkeit  habe,  so  daß  sie,  als  ein  unnützes  und  des- 
halb schädliches  Bollwerk,  als  ein  Hemmschuh  der 
staatlichen  Entwicklung  über  kurz  oder  lang  seligen 
Todes  verbleichen  werde".  Es  widerspricht  dem 
Wesen  unserer  Zeit,  „daß  man  den  Willen  und  die 
Tatkraft  der  übergroßen  Mehrzahl  eines  Volkes  von 
der  Einsicht  oder  dem  guten  Willen  einer  verhältnis- 
mäßig unbedeutenden  Anzahl  größerer  Grundbesitzer 
und  Ober-Staatshämorrhoidalisten  abhängig  macht 
und  dadurch  oft  die  bestgemeinten  Bestrebungen  der 
Abgeordneten  der  steuerzahlenden  Masse  durch  die 
egoistischen,  größtenteils  antiquierten  Ansichten  einiger 
weniger  wirkungslos  macht". 

Über  dieser  Hoffnung  ist  der  wackere  Herr  v.  Hefner 
längst  dahingestorben  und  sein  Vertrauen  ist  immer 
noch  nicht  erfüllt,  daß  die  Herren  mit  Würde  vom 
Schauplatz  ihrer  Tätigkeit  abtreten  würden,  wenn  die 
Zeit  ernstlich  an  die  hohen  Stühle  klopfte.  Vielmehr 

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regieren  sie  immer  noch  mit  ihrer  nach  den  Ahnen 
abgestuften  Würde. 

Indessen,  schon  hört  man  die  Zeit  pochen  —  drin- 
gend und  drängend  .  . . 

Aber,  so  meint  vielleicht  dieser  oder  jener,  wäre  es 
am  Ende  nicht  doch  schade,  wenn  wir  diese  Rarität 
verlieren  müßten,  wenn  die  hohen  Stühle  in  die 
Rumpelkammer  wanderten  ?  Wer  sagt  denn,  daß  wir 
den  Reichsrat  ganz  verlieren  sollen  ?  Wozu  haben  wir 
ein  Oktoberfest  in  München!  Der  ewigen  Sa- 
moaner  sind  wir  ohnehin  längst  überdrüssig.  Wozu 
sollen  wir  die  wilden  Völkerschaften  aus  der  Ferne 
holen  ?  Wenn  alljährlich  der  selige  Reichsrat  auf- 
ersteht und  vor  dem  staunenden  Publikum  ein  paar 
Tage  lang  auf  der  Theresienwiese  Regierungs-Vor- 
stellungen gibt,  zu  zeigen,  wie  es  in  der  guten  alten 
Zeit  gewesen,  dann  hat  endlich  das  ruhelose  Ahnenblut 
eine  nützliche  Verwendung  gefunden  und  wir  können 
uns  auch  fürderhin  an  den  hohen  Stühlen  weiden 
ohne  ihre  Inhaber  ernst  nehmen  zu  müssen. 

[1911.] 


493 


Hertling. 


I. 

Die  Ernennung  des  Philosophieprofessors  v.  Hert- 
ling zum  Ministerpräsidenten  Bayerns  hatte  für  die 
Zunft  der  Lehrstuhlphilosophen  ein  ganz  besonderes 
Interesse.  Auch  bisher  nannte  man  schon  Minister 
bisweilen  Philosophen,  aber  nur,  um  mit  diesem  Bei- 
namen zu  bezeichnen,  daß  sie  sich  auf  ihr  Regierungs- 
amt nicht  sonderlich  verstünden;  oder  vielleicht  auch 
deshalb,  um  das  Erstaunen  zu  bekunden,  daß  in 
Deutschland  Minister  den  Nachweis  erbringen,  sie 
vermöchten  sogar  Titel  von  Kantischen  Schriften  leid- 
lich korrekt  anzugeben  und  drei  bis  vier  Königsberger 
Zitate,  allerdings  minder  zuverlässig,  zu  bewältigen. 

Jetzt  aber  ward  ein  gelernter  Philosoph  berufen. 
Seit  Piatos  Zeiten  hört  man  nie  auf,  sich  vorzuspiegeln, 
daß  Philosophieren  im  letzten  Grunde  Regieren  be- 
deute; denn  warum  sollte  man  über  die  tiefsten  Ge- 
danken des  Menschenhirns  mühselig  grübeln,  wenn 
nicht  zu  dem  Zwecke,  mit  den  Ergebnissen  des  Den- 
kens und  Forschens  die  Gesellschaft  zu  erfüllen,  sie 
geistig  zu  stimmen,  d.  h.  eben  sie  zu  regieren!  Also 
sind  Philosophen  die  geborenen  Minister,  und  Minister 
die  geborenen  Philosophen.  Der  ewige  Traum  wurde 
in  Bayern  endlich  erfüllt:  Philosoph  und  Minister 
war  eines  geworden. 

Die  Zunft  aber  fragte  sich  nun  —  aus  rein  philoso- 
phischem Interesse  natürlich,  nicht  etwa,  um  sich 
selbst  für  ähnliche  Laufbahn  einzurichten  —  welche 
Philosophie  ein  Professor  in  Deutschland  haben  und 
lehren  müsse,  um  bei  uns  leitender  Staatsmann  zu 

494 


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werden.  (In  den  nüchternen,  ruinenlosen  Vereinigten 
Staaten  glaubt  man  ebensowenig  an  die  esoterische 
Professorengeweihtheit,  wie  an  die  Begnadung  eines 
mystischen  Herrscherwillens,  allein  das  rechte  Werk- 
zeug finden  zu  können;  deshalb  wählte  dort  der  Plebs, 
als  ob  gar  nichts  Besonderes  dabei  wäre,  durch  die 
rohe  Zahl  einen  tüchtigen  Gelehrten  zum  Präsidenten !) 

Was  Herr  v.  Hertling  als  Ministerpräsident  geleistet, 
das  mögen  meinetwegen  die  Blätter  der  Geschichte 
verzeichnen;  ich  will  mich  heut  in  deren  Buchführung 
nicht  einmischen.  Aber  ich  nehme  an,  daß  der  Philo- 
sophieprofessor v.  Hertling,  als  er  sein  Amt  übernahm, 
sein  philosophisches  Löwenfell  nicht  ebenso  aus- 
gezogen hat,  wie  —  der  eigenen  Versicherung  nach  — 
die  parteipolitische  Haut.  Denn  ein  rechter  Philosoph^ 
der  Minister  wird,  kann  solche  Last  sich  doch  nur  in 
der  Absicht  aufbürden,  endlich  die  Gelegenheit  zur 
Verwirklichung  seiner  Gedanken  zu  gewinnen.  Philo- 
sophie ist  nie  Privatsache,  ist  es  wenigstens  nur  not- 
gedrungen; sie  lauert  nur  auf  die  Möglichkeit,  Staats- 
sache zu  werden.  Philosophie  ist  gedachtes  Leben, 
das  wirkliches  Leben  werden  will.  Mithin,  wenn  ein 
Philosoph  zur  Regierung  kommt,  muß  die  Regierung 
zur  Philosophie  kommen,  zu  seiner  Philosophie. 

Alles,  was  seit  bald  einem  Jahre  in  Bayern  geschehen, 
muß  demnach  als  angewandte  Philosophie  sich  er- 
klären. Und  das  bisher  ununtersuchte  Zentralproblem 
der  Ära  Hertling  bleibt:  welche  Philosophie  gegen- 
wärtig Tat  zu  werden  ringt,  als  welcher  Philosophie 
begnadete  Opfer  wir  erwarten  dürfen,  regiert  zu 
werden. 

Im  allgemeinen  läßt  sich  die  Frage  a  priori  beant- 
worten :  es  dürfe  wohl  eine  Mischung  des  alten  Heiden 
Aristoteles  und  des  neueren  Christen  Lehmkuhl  (S.  J.) 
sein,  angewandt  auf  das  zweite  Jahrzehnt  des  20.  Jahr- 
hunderts bayrischer  Zeitrechnung  und  angepaßt  an 
die  Daseinsgewohnheiten  der  Reichsräte  der  Krone 


495 


Bayerns.  Wir  erfuhren  eben  erst,  wie  mühselig  die 
Hertlingsche  Philosophie  noch  vor  ein  paar  Jahren 
auf  Erden  schlich.  Sie  herrschte  nicht,  wie  ehedem, 
offen  über  die  Welt  und  scheuchte  ihre  Widersacher 
mit  Feuer  und  Schwert.  Der  arme  Hertling  war  schon 
froh,  wenn  es  ihm  gelang,  durch  einen  bescheidenen 
geheimen,  ganz  geheimen  Vertrag  zwischen  dem  Papst 
und  dem  hochmodernen  deutschen  Kanzler  Bülow 
wenigstens  einen  Lehrstuhl  deutscher  Universitäten 
für  alle  Zeiten  den  Anhängern  seiner  Philosophie  zu 
sichern.  Der  eine  der  Vertragsgegner,  Herr  v.  Bülow, 
kam  bald  darauf  an  der  also  zu  Kräften  gelangten 
Philosophie  Hertlings  (Abteilung  für  Ethik)  um.  Seit- 
dem wuchsen  dieser  Philosophie  die  Schwingen.  Und 
jetzt  gelang  es  gar,  einen  Lehrstuhl  für  scholastische 
Experimentalphilosophie  über  einem  ganzen  Lande 
zu  errichten,  die  Weltanschauung  des  Professors  an 
einigen  Millionen  Menschen  zu  vollstrecken.  Die  allge- 
meine Richtung  dieser  philosophischen  Vollstreckungs- 
urteile fühlen  wir  bereits. 

Indessen,  die  persönlichen  Einzelheiten  des  Systems 
erst  können  unser  genaueres  politisch-philosophisches 
Schicksal  ins  Bewußtsein  rücken.  Wir  müssen  uns 
folglich  in  die  Urkunden  dieses  Geistes,  Professors  und 
Ministerpräsidenten  vertiefen. 

Auch  die  weltlichen  Philosophiekompendien  un- 
serer Zeit  verschweigen  uns  den  Namen  Hertling  nicht. 
Ich  finde  da  z.  B.,  daß  Georg  v.  Hertling  über  die  Be- 
ziehungen Descartes  zur  Scholastik  in  den  Sitzungs- 
berichten der  bayrischen  Akademie  1897  und  1899 
sich  verbreitet  hat.  Auch  hat  er,  verläßlichen  Quellen 
zufolge,  gezeigt,  daß  Lockes  Polemik  sich  hauptsäch- 
lich gegen  die  Cartesianische  Schule  richtet;  ebenso 
hat  er  wahrscheinlich  gemacht,  daß  Lockes  Voraus- 
setzung einer  festen  Ordnung  der  Beziehungen  zwi- 
schen den  Ideen  aus  einer  Einwirkung  der  Cambridger 
Schule  stamme.  Das  ist  gewiß  alles  sehr  lehrreich,  wie 

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ich  es  durchaus  als  eines  meiner  Lebensziele  betrachte, 
einmal  die  Muße  zu  finden,  um  Hertlings  Werk  (aus 
der  Zeit  des  Versailler  Friedens)  über  „Materie  und 
Form  und  die  Definition  der  Seele  bei  Aristoteles" 
lesen  zu  können.  Dem  seligen  Eduard  Zeller  scheint 
schon  das  gleiche  Ziel  vorgeschwebt  zu  haben  und 
dennoch  die  Lektüre  unerreichbar  geblieben  zu  sein. 
Aber  alle  diese  Kenntnisse  erklären  mir  nicht  die 
heutige  politische  Lage  Bayerns.  Ich  finde  keinen  Weg 
von  der  Seele  des  Aristoteles  zu  Materie  und  Form 
des  Dr.  Pichler. 

Hingegen  fallen  sofort  alle  Schleier,  wenn  wir  in  die 
von  keinem  Philosophiehistoriker  erwähnten  Frank- 
furter zeitgemäßen  Broschüren  blicken.  Da 
philosophiert  Hertling  im  Kreise  seiner  Lieben  und 
Getreuen,  die  sich  gegenseitig  und  damit  auch  uns 
erhellen.  In  der  Neuen  Folge  erstem  Bande  (1880) 
steuert  Dr.  G.  Freiherr  von  Hertling  einen  Beitrag 
bei:  „Der  Darwinismus  —  eine  geistige  Epidemie". 
Vorher  handelt  in  dem  Sammelbande  ein  Herr  Dr. 
Paul  Haffner  über  „Goethes  Faust  als  Wahrzeichen 
moderner  Kultur".  Hertlings  Gedankenkamerad  nennt 
Goethe  zwar  den  „begabtesten  der  deutschen  Dichter", 
leider  aber  fehle  es  Fausten  durchaus  an  sittlicher 
Umkehr  und  an  Streben  nach  Gott :  „Wenn  Faust  im 
Schlafe  von  den  Elfen  gereinigt  wird,  wenn  er  dann 
später  im  Tode  von  den  Engeln  emporgetragen  wird, 
so  ist  das  eine  sehr  bequeme  religiöse  Anschauung, 
eine  Anschauung,  welche  ganz  der  modernen  Humani- 
tät entspricht;  aber  sittlich  ernst  ist  sie  nicht  und 
darum  auch  nicht  tragisch,  sondern  komisch;  eine 
Variation  des  Lieds,  so  sagt  Eichendorff,  des  bekann- 
ten Lieds:  „Lustig  gelebt  und  selig  gestorben!" 

Hinter  Hertling  aber  philosophiert  Herr  Fr.  Ibach 
über  den  Sozialismus  im  Zeitalter  der  Reformation. 
Hier  erfahren  wir:  „Was  Wunder,  wenn  bei  diesem 
brutalen  Umsturz  aller  Ordnung  in  der  Kirche  der 


33   Eisner,  Vor  d«r  Revolution. 


497 


Umsturz  auch  auf  das  soziale  und  politische  Ge- 
biet übertragen  wurde  und  man  sich  dabei  mit  ganz 
gleichem  Recht  auf  dieselbe  Heilige  Schrift  stützte, 
auf  die  Luther  mit  seiner  religiösen  Revolution  sich 
gestützt  hat.  Wie  leicht  es  gewesen,  auch  für  den 
tollsten  Umsturz  und  himmelschreiende  Gewalttat  das 
Zeugnis  der  Heiligen  Schrift  und  der  Religion  für  sich 
zu  bekommen,  haben  die  Greuel  des  Bauernkrieges  nur 
zu  sehr  gezeigt.  Der  Unterschied  zwischen  dieser  in 
dem  Zeitalter  der  Reformation  sich  vollziehenden 
Revolution  und  dem  Unglauben  des  heutigen  Sozialis- 
mus ist  nur  ein  gradueller  .  .  .  Auch  sie  (die  Sozia- 
listen) verstehen  so  gut  wie  die  Reformatoren  den 
Sturz  der  geistlichen  Autorität  mit  der  weltlichen  und 
sozialen  Revolution  in  Verbindung  zu  bringen." 

Hier  atmet  man  schon  die  zeitgemäß  philosophische 
Regierungsluft  des  gegenwärtigen  Bayern.  Lassen  wir 
nun  gar  Hertling  selbst  philosophieren.  Der  Darwi- 
nismus, sagt  er,  ist  eine  geistige  Epidemie  wie  das 
Tischrücken.  Er  wurde  zu  einer  neuen  Waffe  des  Ma- 
terialismus: „Natürlich,  der  Materialismus  darf  nicht 
dulden,  daß  bei  dem  Ursprünge  des  Menschen  das 
Eingreifen  einer  höheren  Macht  anerkannt  bliebe. 
Nicht  Gott  also  hat  ihn  geschaffen,  geschaffen  nach 
seinem  Bilde,  er  ist  vielmehr  die  letzte  Stufe,  bis  zu 
welcher  der  Prozeß  natürlicher  Züchtung  hingeführt 
hat,  der  glückliche  Emporkömmling  aus  einem  Ge- 
schlechte affenähnlicher  Vorfahren." 

Herr  v.  Hertling  lehnt  es  für  seine  Person  entschie- 
den ab,  als  ein  Emporkömmling  aus  einem  Geschlechte 
affenähnlicher  Vorfahren  zu  gelten,  vermutlich,  weil 
sein  Adel  bereits  älter  ist  als  jene  tierischen  Vorfahren 
darwinistisch  gesinnter  Menschen.  Diese  grundsätz- 
liche Ablehnung  führt  unmittelbar  in  die  bayrische 
Gegenwart:  immer  ist  es  ein  schöpferischer  Herrscher- 
willen, der  die  Kreaturen  eingreifend  erfindet.  Hert- 
ling erfuhr  es  selbst.  Denn  war  es  nicht  der  91jährige 

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Herrscherwillen  des  Prinzregenten  Luitpold,  der  ihn 
—  als  leitenden  Staatsmann  —  hervorbrachte  ?  Hert- 
ling  ist  mithin  in  der  Tat  kein  Emporkömmling  aus 
eigener  Kraft,  sondern  geschaffen  durch  einen  Eingriff. 

Selbst  wenn  es  bewiesen  wäre,  fährt  Heuling  fort, 
daß  aus  dem  bloßen  Zusammentreffen  von  Kohlen- 
stoff und  Wasserstoff  und  anderen  Elementen  das  erste 
Leben  entstand,  wenn  es  ebenso  bewiesen  wäre,  daß 
in  eben  jener  Art,  wie  die  Hypothese  Darwin  es  ver- 
neint, aus  so  dürftigen  unscheinbaren  Anfängen  durch 
Variabilität  und  erbliche  Übertragung  und  natürliche 
Züchtung  der  ganze  Reichtum  organischer  Gebilde 
entstand,  der  heute  unsere  Erde  schmückt,  —  wie  kam 
es  denn,  daß  jenes  erste  Leben  zu  einer  bestimmten 
Zeit  auf  der  Erde  auftrat,  da  es  zuvor  nicht  vorhan- 
den war?  Fragt  Georg  v.  Hcrtling,  Philosoph. 

Wir  nähern  uns  immer  mehr  der  bayrischen  Regie- 
rungsphilosophie:  zu  fragen,  wo  keine,  weil  jede 
Antwort  möglich  ist;  und  nicht  zu  fragen,  wo  mög- 
liche Lösungen  Leben  bilden. 

Hcrtling  beantwortet  die  Frage,  die  ihn  quält,  mit 
der  ewigen  Wahrheit:  Dann  stände  eben  dort  am 
Anfange  dieses  Prozesses  die  schöpferische  Tat  Gottes, 
der  den  Prozeß  so  einrichtete.  „Das  ist  ein  notwen- 
diges Ergebnis,  zu  welchem  das  logische  Denken 
führt.**  Ein  verstorbener  Kollege  Heulings,  Herr 
Professor  Kant,  hat  über  den  Wert  solchen  logischen 
Denkens  einiges  gesagt,  was  ihn  freilich  auf  den  Index 
gebracht  hat  und  Hertling  also  nicht  kümmern  darf. 

Noch  tiefer  gräbt  Hertling.  Woher  denn  die  furcht- 
bare Erscheinung,  daß  dieser  von  ihm  selbst  klipp  und 
klar  widerlegte  Darwinismus  dennoch  so  viele  An- 
hänger gefunden  hat?!  Wir  hören  die  Antwort:  der 
Darwinismus  „ist  das  krankhafte  Ringen  der  vor  Gott 
fliehenden  Vernunft,  mit  Hilfe  der  modernen  Natur- 
wissenschaft die  Spuren  zu  verwischen,  welche  der  all- 
weise  und  allmächtige  Schöpfer  unauslöschlich  seinem 


499 


Gebilde  eingeprägt  hat.  Aus  dem  Glänze,  der  die 
moderne  Naturwissenschaft  umgibt,  schöpft  er  die 
Hoffnung  des  Gelingens,  und  in  dieser  Hoffnung 
—  es  ist  furchtbar  zu  sagen  —  liegt  seine  ansteckende 
Gewalt." 

Wir  sehen :  Hertling  ist  nicht  nur  durch  den  Buch- 
binder mit  den  anderen  Frankfurter  Zeitgemäßen 
vereinigt  worden.  Es  sind  wahrhafte  Mitphilosophen: 
Goethes  Faust  —  „das  krankhafte  Ringen  der  vor  Gott 
fliehenden  Vernunft".  Die  Reformation  —  „das 
krankhafte  Ringen  der  vor  Gott  fliehenden  Vernunft". 
Der  Sozialismus  —  „das  krankhafte  Ringen  der  vor 
Gott  fliehenden  Vernunft".  Und  immer  —  es  ist 
furchtbar  zu  sagen,  —  hat  dieses  krankhafte  Ringen 
ansteckende  Gewalt.  Nach  so  fragender  und  so  ant- 
wortender Philosophie  wird  nun  wahrhaftig  in  Bayern 
regiert.  Alles  was  dem  Professor  v.  Hertling  zuwider, 
sind  Epidemien  krankhaft  ringender  gottflüchtiger 
Vernunft:  Liberalismus  und  Sozialismus,  Demokratie, 
Republik,  Gleichberechtigung,  Koalitionsrecht,  mo- 
derne Kunst,  Wissenschaft,  Literatur  —  alles  Epide- 
mie, alles  krankhaftes  Ringen,  alles  Vernunft  auf  der 
Flucht  vor  Gott. 

Gegen  die  staatssozialistischen  Gedanken  seines  Par- 
teigenossen Hitze  hat  Hertling  einmal  jede  derartige 
Ausdehnung  der  staatlichen  Kompetenz  für  unzu- 
lässig und  aufs  höchste  gefährlich  erklärt.  Und  er 
sprach  also  vom  Wesen  des  Staats:  „Aus  dem  Zwecke 
des  Menschen,  wie  ihn  der  vom  Christentum  vertiefte 
und  verklarte  Theismus  kennen  lehrt,  und  aus  der 
erfahrungsmäßigen  Natur  des  Menschengeschlechtes 
ergibt  sich  der  Begriff  und  die  Aufgabe  des  Staates. 
Der  Staat  ist  kein  direkt  naturwüchsiges  Gebilde.  Das 
Kriterium  seines  Wesens  und  der  Ursprung  seiner 
Würde  ist  seine  Beziehung  zum  Recht.  Es  ist  ein 
Grundzug  der  göttlichen  Weltordnung,  daß  der  von 
Ewigkeit  her  im  göttlichen  Geiste  beschlossene  Welt- 

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plan  durch  die  eigene  Betätigung  der  Geschöpfe  in 
der  Zeit  verwirklicht  wird.  Die  Norm  für  diese  Be- 
tätigung ist  in  jenem  Plane  enthalten,  und  darum  eben 
ist  der  Weltplan  zugleich  ewiges  Weltgesetz  (lex 
aeterna)  . .  .  Nur  darf  die  Fähigkeit  des  Geschöpfes, 
das  Gesetz  nicht  zu  erfüllen,  die  Realisierung  des 
Weltplans  nicht  vereiteln  und  die  Weltordnung  nicht 
dauernd  stören."  Genau  unser  heutiger  bayrischer 
Zustand!  Die  nicht  klerikalen  Parteien  haben  ja  leider 
von  der  Vorsehung  auch  die  Fähigkeit  des  Geschöpfes 
erhalten,  das  Hertlingsche  Gesetz  nicht  zu  erfüllen, 
aber  auch  sie  dürfen  die  Realisierung  des  Weltplans 
nicht  vereiteln  und  die  Weltordnung  nicht  dauernd 
stören  (vergleiche  Programmreden  Hertlings  und  Seid- 
leins in  der  bayrischen  Abgeordnetenkammer,  Session 
191 2).  Nur  ist  der  Unterschied:  wenn  Hertling  den 
Weltplan  realisiert,  so  handelt  er  als  Vollstrecker  der 
lex  aeterna.  Wenn  wir  aber  auf  unsere  Art  den  Welt- 
plan zu  erfüllen  suchen,  so  sind  wir  geistige  Epidemie 
und  müssen,  weil  wir  die  Weltordnung  dauernd  stören, 
unschädlich  gemacht,  zum  mindesten  am  weiteren  An- 
stecken gehindert  werden. 

Wir  wissen  nun,  welche  Philosophie  man  haben 
muß,  damit  ein  Professor  Miniserpräsident  werde.  Man 
muß  behaupten,  den  Weltplan  aller  besseren  Ge- 
walten realisieren  zu  wollen,  vom  Reichsrat  aufwärts 
über  Bischöfe  und  Monarchen  bis  zum  lieben  Herr- 
gott zur  Vollstreckung  der  lex  aeterna  autorisiert 
zu  sein. 

Da  können  wir  weltplanlose  Leute  freilich  nicht  mit, 
die  wir  schon  froh  sind,  sofern  wir  nur  als  ein  bißchen 
glückliche  Emporkömmlinge  über  ein  Geschlecht  affen- 
ähnlicher Vorfahren  uns  emporzurappeln  vermögen. 

Eines  aber  möchten  wir  doch  noch  wissen,  ein 
Problem  für  die  Bayrische  Staatszeitung: 

In  welchem  Verhältnis  stand  der  Jesuitenerlaß  zum 
ewigen  Weltplan  ?  Und  mahnt  hier  nicht  offenbar  ein 

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trauriges  Beispiel  für  die  Ohnmacht  des  gesunden 
Ringens  der  zu  Gott  geflohenen  Vernunft,  die  —  es 
ist  furchtbar  zu  sagen  —  niemanden  und  nichts  anzu- 
stecken vermag? 

[Januar  191 3.] 

II. 

Der  Jubilar  (zum  70.  Geburtstag). 

Wenn  einer  an  seinem  siebzigsten  Geburtstag  immer 
noch  darauf  wartet,  daß  seine  Zeit  komme,  so  zeugt 
das  von  einem  nicht  gewöhnlichen  Vertrauen  in  die 
eigene  Leistungsfähigkeit  und  Unentbehrlichkeit.  Der 
Zufall,  daß  Georg  von  Hertling  katholisch  geboren 
wurde,  hinderte  ihn,  nationalliberal  zu  werden,  und 
der  weitere  Zufall,  daß  das  katholische  Bayern  dem 
preußisch  gewordenen  Hessen  in  München  eine  pro- 
fessorale  Zuflucht  gewährte,  ließ  ihn  den  vom  Um- 
sturz geängsteten  Reichsräten  und  Prinzessinnen  der 
Krone  Bayerns  als  den  ministeriellen  Retter  in  der 
Not  erscheinen,  als  das  vom  Zentrum  entwurzelte 
Ministerium  Podewils  durch  den  Schrecken  des  liberal- 
sozialdemokratischen  Wahlbündnisses  vollends  um- 
geblasen wurde.  So  wurde  Hertling  ein  Führer  der 
schwarzen  Internationale,  obwohl  er  seiner  innersten 
Gemütsart  nach  nationalliberal  ist,  und  so  wurde  er 
vorübergehend  der  Leiter  der  bayrischen  Staats- 
geschäfte, obwohl  er  preußisch  gesinnt  und  ihm  das 
besondere  Wesen  der  bayrischen  Politik  zeitlebens 
fremd  geblieben  ist,  am  fremdesten,  als  er  sie  leitete. 
Ist  Hertling  klerikal?  Gewiß,  er  beherrscht  als  Phi- 
losophieprofessor auch  den  Sprachgebrauch  der  Hier- 
archie. Er  spricht  von  ewigen  Wahrheiten,  unantast- 
baren Autoritäten,  er  erkennt  alle  Ansprüche  der 
Kirche  an,  beschäftigt  sich  mit  der  römischen  Frage, 
und  zwingt  sich  sogar  einen  kleinen  Zornanfall  ab, 
wenn  er  von  den  Säkularisationen  des  allzu  aufgeklär- 

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ten  Ministeriums  Montgelas  redet.  Auch  ist  das  Haupt 
der  Görresgesellschaft  gelegentlich  durchaus  bereit, 
über  die  nachaugustinischen  Richtungen  der  Wissen- 
schaft und  der  Weltanschauung  in  volkstümlich  be- 
mühten Schriften  derbere  Sprüche  zu  prägen  —  dem 
Darwinismus  war  er  besonders  unhold  — ,  aber  alle 
diese  Arbeit  an  der  Erhöhung  der  klerikalen  Macht 
diente  doch  nur  der  Kräftigung  der  Gesellschaft,  die 
ihn  selbst  um  so  höher  zu  tragen  vermochte,  je  kräf- 
tiger sie  war.  Dieser  kleine  Herr  mit  dem  kahlen 
Schädel  und  dem  vorgestülpten  Munde  eines  schmol- 
lenden Knaben,  der  sicher  mit  seiner  eigentlichen  und 
edleren  Haut,  dem  peinlich  zugeknöpften  schwarzen 
Gehrock,  zu  Bette  geht,  ist  kein  Fanatiker,  und  man 
kann  ihm  schon  glauben,  wenn  er  einmal  im  Reichsrat 
versicherte,  er  würde  als  Ministerpräsident  zum  Schutz 
der  katholischen  Sache  durchaus  nicht  die  immerhin 
ein  wenig  strengen  Mittel  der  Gegenreformation  an- 
wenden. Hertling  begnügt  sich  in  der  Tat  mit  Ge- 
heimanweisungen und  Verwaltungsmaßnahmen,  um 
seine  Pläne  zu  fördern.  Dagegen  ist  immer  noch  kein 
Scheiterhaufen  von  ihm  angezündet  worden. 

Als  Hertling  das  bayrische  Ministerpräsidium  auf 
.eine  nicht  mehr  ganz  geheimnisvolle  Weise  erwarb, 
glaubten  seine  Gegner  es  mit  einem  tüchtigen,  ge- 
schickten Politiker  zu  tun  zu  haben.  Dagegen  miß- 
trauten ihm  von  Anbeginn  seine  engeren  Parteifreunde. 
In  wenigen  Monaten  enttäuschte  Hertling  von  Grund 
aus  die  Gegner  und  rechtfertigte  die  Gefühle  seiner 
zärtlichen  Freunde.  Er  hatte  die  Mission  von  Berlin 
mitgenommen,  das  Abgleiten  der  bayrischen  Politik 
nach  links  zu  verhindern  und  alle  Bürgerlichen  gegen 
die  Sozialdemokratie  zu  sammeln.  Man  setzte  große 
Hoffnungen  auf  ihn.  Im  Reichstag  galt  dieser  Vor- 
sitzende der  Zentrumsfraktion  als  ebenso  verschlagener 
wie  geschliffener  Staatsmann.  Er  trat  in  Berlin  nur 
selten  hervor.  Wenn  er  es  aber  tat,  war  seine  wohl- 


503 


vorbereitete,  sorgsam  abgezirkelte  und  gefällig,  beinahe 
anmutig  vorgetragene  Beredsamkeit,  nie  ohne  Wir- 
kung. Er  sprach  über  die  auswärtige  Politik  in  einem 
Parlament,  das  dieses  Gebiet  ehrfürchtig  der  Weisheit 
der  Diplomaten  überläßt.  Auch  Hertling  redete  als 
ein  Salonrhetor  national-klerikaler  Weltpolitik  gemein- 
hin nur  jeweils  Komplimente  für  den  leitenden  Staats- 
mann. Es  kam  ihm  auf  die  auffälligsten  Ungenauig- 
keiten  nicht  an,  wenn  es  ihm  galt,  —  in  der  Zeit, 
da  das  Zentrum  im  Reiche  regierte  —  auch  die  schwer- 
sten Niederlagen  des  Kanzlers  zu  rechtfertigen.  So 
war  Hertling  der  einzige  Verteidiger  der  Marokko- 
politik Bülows.  Als  dann  freilich  das  Zentrum  in  Un- 
gnade gestürzt  war,  da  benutzte  derselbe  Mann  die- 
selbe Marokkopolitik,  denselben  Kanzler  zu  vergiften. 
Er  tat  das  nach  allen  Regeln  klerikaler  Kunst.  Und  an 
jenem  Tage,  da  Hertling  im  Reichstag,  in  der  from- 
men Maske  eines  mild  verteidigenden  Kritikers  des 
Grafen  Bülow  marokkanische  Irrungen  mit  lauter 
kleinen  aber  um  so  zahlreicheren  Messerstichen  zer- 
schlitzte, galt  Hertling  als  ein  Staatsmann  von  unfehl- 
barer Sicherheit;  und  als  es  ihm  dann  schließlich  ge- 
lang, den  verhaßten  Kanzler  zu  beseitigen,  schien  er 
berufen,  sein  Nachfolger  zu  werden.  Aber  im  bay- 
rischen Landtag,  wo  er  nun  nicht  nur  als  deus  ex 
machina  auftreten  durfte,  war  in  wenigen  Wochen 
Ruf  und  Ruhm  zerronnen.  Seine  parlamentarische 
Geschicklichkeit  erwies  sich  als  das  Kunsterzeugnis 
gewissenhaften  Memorierens.  Er  vermochte  nicht  den 
geringsten  unerwarteten  Widerstand  mit  einer  schlag- 
fertigen Improvisation  zu  überwinden.  Er  geriet  viel- 
mehr bei  solchen  Gelegenheiten  sofort  aus  den  Fugen, 
und  die  Ungeschicklichkeiten  seines  Auftretens  sam- 
melten schnell  alles  nicht  sowohl  gegen  die  Sozial- 
demokratie als  vielmehr  gegen  Zentrum  und  Regie- 
rung. Bald  stöhnte  der  Reichsrat,  dessen  Geschäfts- 
empfehlung Hertling  seine  Ministerschaft  verdankte: 

504 


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Er  ist  doch  nur  ein  Professor!  In  der  Tat  ist  niemals 
so  weltfremd  regiert  worden,  wie  unter  dem  Mini- 
sterium Hertling. 

Die  herrschende  Partei  Bayerns  hatte  zum  ersten- 
mal seit  dem  Vormärz  ein  Ministerium  ihres  Schlags. 
Aber  Herr  von  Hertling  war  diesen  bayrischen  Zen- 
trumsleuten im  Innersten  mehr  zuwider,  als  irgend- 
ein Liberaler  oder  Sozialdemokrat.  Der  Mann  hatte 
so  gar  nichts  von  Oberbayern,  Niederbayern  oder 
Oberpfalz  an  sich.  Er  hatte  den  doppelten  Hochmut 
des  Preußen  und  des  Professors.  Er  war  unnahbar. 
Konnte  man  sich  etwa  Hertlings  Gehrock  und  Zylin- 
der im  Franziskaner  bei  Märzenbier  und  Weißwürst 
vorstellen  ?  Und  welcher  Sterbliche  hätte  ihn  jemals 
in  der  Schwemme  des  Hofbräu  gesehen?  Nein,  der 
Mann  gehörte  nicht  nach  Bayern.  Natürlich,  nichts 
wäre  verfehlter,  als  anzunehmen,  daß  wegen  dieser 
Abneigung  des  Zentrums  gegen  den  vornehmen  Herrn 
man  weniger  mit  ihm  durch  dick  und  dünn  gehen 
würde,  wo  Zentrumsinteressen  auf  dem  Spiele  stehen. 
Aber  wo  man  es  ohne  Gefahr  konnte,  tat  man  ihm  doch 
gern  jeden  Schabernack  an.  Das  mußte  der  Prinz- 
regent von  Bayern  bei  der  Königssache  erfahren.  Es 
war  der  Meisterstreich  eines  führenden  Zentrums- 
abgeordneten, daß  er  zugleich  die  bayrische  Regierung 
beruhigte,  seine  Partei  würde  der  Proklamation  eines 
Königs  aus  eigenem  Recht  sich  nicht  widersetzen, 
und  dann  das  Zentrum  selbst  gegen  diesen  Plan  auf- 
regte. So  war  Hertling  in  Sicherheit  gewiegt,  und 
rührte  keine  Hand,  um  die  Plebs  für  seinen  Plan  zu 
gewinnen,  und  war  völlig  überrumpelt,  als  die  herr- 
schende Partei  seine  Absicht  durchkreuzte. 

Durch  die  Mißerfolge  der  bayrischen  Politik  wurde 
Hertlings  staatsmännisches  Ansehen  so  gründlich  er- 
schöpft, daß  nun  auch  das  Ziel  seines  Ehrgeizes  sich 
für  immer  zu  entfernen  drohte.  Hertling  hatte  die 
bayrische  Ministerschaft  immer  nur  als  Übergang  zum 


505 


Reichskanzlertum  betrachtet.  Jetzt  hielt  ihn  niemand 
mehr  für  geeignet,  in  schwierigen  Lagen  der  Reichs- 
politik den  rechten  Weg  zu  finden.*)  Er  hatte  sich 
durch  seinen  bayrischen  Zwischenposten  um  das  höhere 
Amt  politisiert.  Aber  je  mehr  ihm  das  Ziel  seiner  ehr- 
geizigen Träume  entwich,  um  so  hartnäckiger  warb 
er  um  das  Unmögliche.  Bald  klagte  man  in  den  bay- 
rischen Ministerien,  daß  der  Vorsitzende  im  Minister- 
rat sich  um  gar  nichts  mehr  kümmere;  es  ginge  alles 
drunter  und  drüber.  In  der  Tat,  Herr  v.  Hertling 
zeigte  kein  Interesse  mehr  für  innere  bayrische  Ge- 
schäfte, von  denen  er  ohnehin  niemals  viel  verstanden 
hatte.  Sein  Geist  weilte  in  weiteren  Gefilden.  Er 
mischte  seine  Hände  in  Reichsangelegenheiten  und 
preußische  Politik.  Er  suchte  sich  die  Gunst  seines 
Herrn,  der  nicht  ohne  Sorgen  den  Niedergang  seiner 
Volkstümlichkeit  unter  den  Leistungen  des  Mini- 
steriums Hertling  beobachtete,  dadurch  wieder  zu  ge- 
winnen, daß  er  ihm  gewisse  Vergünstigungen  des  höfi- 
schen Zeremoniells  in  Berlin  erwarb.  Besonders  suchte 
er  jedoch  seine  staatsmännische  Autorität  dadurch 
wieder  herzustellen,  daß  er  in  der  Militärfrage  das 
Zentrum  für  die  Reichspolitik  einfing.  Es  gelang  ihm 
wirklich,  seine  Partei  umzustimmen.  Und  wenn  er 
unlängst  aus  Berlin  ein  Dankschreiben  erhielt,  weil 
es  seinen  Bemühungen  zu  verdanken  war,  daß  das 
Zentrum  schließlich  sogar  die  gestrichenen  Kavallerie- 
regimenter bewilligte,  so  mag  ihm  solche  Anerkennung 
die  Zuversicht  stärken,  daß  er  dennoch  als  Siebziger 
noch  zu  höheren  Dingen  bestimmt  sei. 

Indessen,  wenn  Hertling  die  Zeichen  der  Zeit  recht 
zu  schätzen  vermöchte,  so  müßte  er  seinem  Selbst- 
bewußtsein doch  die  Einsicht  abringen,  daß  er  berufen 

•)  1918:  Der  Krieg  ließ  alles  vergessen.  Nach  ein  paar 
Wochen  Kanzlerschaft  des  Herrn  Michaelis  wirkte  Hertling 
wieder  fast  wie  ein  staatsmännisches  Genie.  Bald  ging  es 
freilich  mit  seinem  Ruf  in  Berlin  geradeso  wie  in  München. 

509 


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sei,  den  Rest  seiner  Tage  nicht  als  Kanzler,  sondern 
als  Professor  zu  schließen.  Schon  die  Höflichkeit  gegen 
eine  Freunde  und  Schüler  fordert  es,  daß  er  so  rasch 
wie  möglich  die  Muße  findet,  um  all  die  tiefsinnigen 
Beiträge  zu  studieren,  die  man  ihm  in  den  ihm  gewid- 
meten Festschriften  auf  den  Geburtstagstisch  legt. 
Diese  Festschriften  lassen  den  Professar  freilich  als 
Bürger  einer  recht  vergangenen  Welt  erscheinen. 
Aber  gerade  deshalb  eignet  sich  Hertling  viel  mehr 
dazu,  sich  in  die  Probleme  des  pseudo-hermetischen 
Buches  der  24  Meister  zu  vertiefen,  oder  das  Licht  in 
der  Naturphilosophie  des  Robert  Großeteste  auf  sich 
wirken  zu  lassen,  oder  chronologische  Untersuchungen 
zu  den  philosophischen  Kommentaren  Alberts  des 
Großen  anzustellen,  als  der  intellectus  agens  der  bay- 
rischen Politik  zu  sein,  der,  wenn  er  auch  noch  so  sehr 
auf  den  Lehren  der  ältesten  Franziskanertheologen 
beruht,  doch  nicht  ausreicht,  um  die  bescheidensten 
Ansprüche  des  bayrischen  Volkes  von  191 3  zu  befrie- 
digen. Schon  einmal  hat  ein  Professor  Bayern  regiert, 
und  obwohl  jener  sich  liberal  nannte,  hat  Hertling 
mit  ihm  mehr  Wesensverwandtschaft  als  mit  dem 
klerikalen  Vorgänger,  dem  Lolaminister  Abel.  Hert- 
ling treibt  die  Politik  des  Professors  und  Miniserpräsi- 
denten Freiherrn  v.  d.  Pfordten;  und  er  mag  sich  vor- 
sehen, daß  gegen  ihn  sich  nicht  dereinst  ein  ähnlicher 
Wahlaufruf  des  Zentrums  richtet,  wie  ihn  die  bay- 
rischen Klerikalpatrioten  1869  gegen  die  preußische 
Politik  des  Ministeriums  v.  d.  Pfordten  schleuderten. 
Da  hieß  es:  „Auf  dem  faulen  Fundament,  auf  dem 
dieser  moderne  Staat  (Preußen)  sich  mit  satanischen 
Mitteln  aufgebaut  hat,  ist  eine  Dauer  in  die  Länge 
unmöglich.  Nach  den  ewigen  Gesetzen  göttlicher 
Gerechtigkeit  und  sittlicher  Ordnung  wird  er  sich 
selbst  sein  Grab  graben  .  .  .  Nach  dem  Zusammen- 
sturz dieses  unnatürlichen,  unter  Lug  und  Trug  auf- 
gerichteten, mit  Blut  zusammengekitteten  Raubstaates 


507 


wird  erst  die  Zeit  kommen,  wo  man  an  eine  Aufer- 
stehung und  Einigung  des  ganzen  Deutschlands  als 
eines  friedlich  brüderlichen  Föderativstaates  denken 
kann  .  . .  Unser  Wahlspruch  sei :  die  Freiheit  Bayerns 
im  mutigen  Kampfe  für  Gott,  König  und  Vaterland 
gegen  Lug,  Trug  und  Ungerechtigkeit." 

So  spricht  das  Zentrum  freilich  heute  nicht  mehr. 
Es  geht  willig  mit  dem  Raubstaat  Arm  in  Arm  nach 
Kehlheim.  Gleichwohl  —  die  deutschen  Professoren 
haben  kein  Glück  als  Minister.  Gegen  v.  d.  Pfordten, 
den  Preußenfreund,  erhob  sich  sogar  der  Zorn  der 
schwarzen  Poeten  und  schrie  ihn  an: 

Mit  deines  leeren  Wortschwalls  eitlem  Tande 
Stehst  du  vor  uns  als  Gleißner  ohnegleichen, 
Und  traurig  sich  der  Blick  zum  Throne  hebt: 

Wie  lange  soll  ein  Wolf  im  Schafsgewande, 
O  Bayerland!  in  deinen  Gauen  schleichen, 
Derweil  dein  Todfeind  dich  zu  packen  strebt! 

[August  191 3.] 


508 


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Die  Kabinettsorder  von  1820. 

Ein  deutsches  Sittenbild  aus  dem  20.  Jahrhundert. 

I. 

Im  Innern  der  Staaten  selbst,  wo  die  Men- 
schen zur  Gleichheit  unter  dem  Gesetze  ver- 
einigt zu  sein  scheinen,  ist  es  großenteils  noch 
immer  Gewalt  und  List,  was  unter  dem  ehr- 
würdigen Namen  des  Gesetzes  herrscht;  hier 
wird  der  Krieg  um  so  schändlicher  geführt, 
weil  er  sich  nicht  ab  Krieg  ankündigt,  und  dem 
Befehdeten  sogar  den  Vorsatz  raubt,  sich  gegen 
ungerechte  Gewalt  zu  verteidigen . . . 

Die  Befreiung  des  ersten  Volks,  das  da  wahr- 
haftig frei  wird,  erfolgt  notwendig  aus  dem 
stets  wachsenden  Drucke  der  herrschenden 
Stände  auf  die  beherrschten,  so  lange,  bis  er 
unleidlich  wird;  —  ein  Fortschritt,  welchen 
man  den  Leidenschaften  und  der  Verblendung 
jener  Stände,  auch  wenn  sie  gewarnt  werden, 
sehr  ruhig  überlassen  kann. 

J.  G.  Fichte,  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

1800. 

Der  deutsche  Bürger  hegt  seit  jeher  eine  verhäng- 
nisvolle Bewunderung  für  die  Charakterfestigkeit  der 
—  andern.  Je  unterwürfiger  er  selbst  ist,  um  so 
mehr  bestaunt  er  die  Rücksichtslosigkeit  der  Eisen- 
kerle. Das  ist  das  Glück  der  Junker  gewesen  und  der 
von  ihren  Klasseninteressen  geformten  preußischen 
Soldateska.  Der  deutsche  Bürger  verfällt  gar  nicht 
auf  den  Gedanken,  daß  gerade  dann,  wenn  sich  die 
ihm  feindselige  politische  Macht  männlich  ehrenhaft 


509 


schlägt,  er  dann  um  so  unerbittlicher  sein  eigenes 
Recht  durchsetzen  müßte:  Mann  gegen  Mann!  Es 
ist  das  Geheimnis  des  Erfolgs  des  feudalen  Militaris- 
mus, der  so  gespenstisch  in  die  aufgehellte  Erde  von 
heute  hineingrinst,  daß  er  jede  schimpfliche  Handlung 
mit  schmetternden  Fanfaren  zu  verwegenem  Angriff 
führt;  daß  er,  ertappt,  sich  nicht  ergibt,  sondern 
seine  Ankläger  angreifend  zu  Paaren  treibt. 

So  wird  jetzt  dem  bürgerlichen  Liberalismus  sogar 
der  kernige  Oberst  v.  Reutter  zum  Helden,  der  zwar 
nicht  einmal  in  der  eigenen  Truppe  Zucht  zu  halten 
vermochte  —  trotz  strengen  Verbots  durfte  der  ihm 
untergebene  Leutnant  die  Bevölkerung  beschimpfen 
und  Soldaten  durch  Belohnungen  zur  Tötung  von 
Zivilisten  aufreizen  —  der  aber,  in  strammer  Bewußt- 
losigkeit der  rechtlichen  Grundlagen  des  Staats  die 
bürgerliche  Ordnung  über  den  Haufen  zu  werfen 
und  kaltblütig  Maschinengewehre  gegen  neckende  Kin- 
der bereit  zu  stellen  wagte.  Ein  ehrlicher  Haudegen 
■ —  sicher;  meinetwegen  auch  ein  sympathischer  Fana- 
tiker aus  militaristischer  Inzucht.  Aber  dürfen  die 
Verteidiger  der  bürgerlichen  Freiheit  deshalb  ihm 
mildernde  Umstände  bewilligen  ?  Müßten  sie  nun 
nicht  erst  recht  selber  Kerle  sein  und  die  wider- 
spenstige Gewalttätigkeit  zur  Fügigkeit  zwingen? 
Nein,  reizend  so  ein  kerniger  Schlagododro,  so  ein 
schneidiger  Draufgänger  ohne  alberne  juristische 
Hemmungen!  Und  wenn  die  Zivilverwaltung  so 
schlapp  versagt  —  nämlich  die  Ehre  provozierender 
Jünglinge  im  Leutnantsrock  nicht  dadurch  schützt, 
daß  sie  die  Straßen  mit  Bürgerblut  färbt  —  so  konnte 
der  prachtvolle  alte  Herr  doch  gar  nicht  anders  han- 
deln, als  einfach  selbst  in  das  Bürgerpack  hineinzu- 
fahren. Denn  schließlich,  der  liberale  Bürger  ist  doch 
selbst  Leutnant  der  Reserve,  und  sein  Sohn  vielleicht 
gar  schon  Fahnenjunker! 

In  seinem  ehrfürchtigen  Staunen  vor  dem  bewaff- 

5io 


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neten  Charakter  erkennt  er  nur  noch  wie  durch  Nebel- 
schleier, daß  bei  diesem  Vorfall  der  ganze  bürgerliche 
Rechtsstaat  in  die  Luft  gesprengt  wurde.  Und  in  An- 
dacht versunken  vor  den  ragenden  Beinen  eines  herr- 
lichen Verächters  des  zivilen  Paragraphenplunders  ge- 
winnt er  selbst  nicht  das  Bewußtsein,  daß  dieses  Jahr 
1914  mit  einer  der  wichtigsten  Entdeckungen 
begonnen  hat,  mit  der  Entdeckung  des  Ge- 
heimnisses des  letzten  Jahrhunderts  preu- 
ßisch-deutscher Geschichte,  mit  dem  Verrat 
der  geheimen  Kabinettsorder  vom  17.  Oktober 
1820. 

In  der  Tat,  jetzt  endlich  kennen  wir  das  Ergebnis 
eines  hundertjährigen  Kampfes  um  die  staatsbürger- 
liche Freiheit  und  Rechtssicherheit.  Das  öffentliche 
Recht  ist  in  Preußen-Deutschland  ein  wüster  Trüm- 
merhaufen unfertiger  Gesetze.  Die  Elementarrechte 
des  Deutschen  sind  lediglich  interressante  Streitfragen 
für  die  Professoren  des  Staatsrechts.  Die  Lebensbedin- 
gungen unseres  staatlichen  Daseins  sind  durch  un- 
bestimmte, widerspruchsvolle,  jeder  Deutung  fähige 
oder  jedem  ernsten  Gebrauch  sich  entziehende  Bruch- 
stücke rechtlicher  Normen  geregelt.  Aber  hinter  die- 
ser Mannigfaltigkeit  des  Dunklen  und  Schweifenden 
ahnten  wir  längst  das  eine  einheitliche  herrschende 
Gesetz,  das  sich  aber  bisher  vor  unseren  tastenden 
Händen  und  spähenden  Augen  verbarg:  Die  Kabinetts- 
order von  1820.  Sie  ist  —  ganz  ohne  übertreibende 
Ironie  gesprochen!  —  die  wirkliche  preußische 
und  mithin  die  wahre  deutsche  Verfassung. 

Dieses  staatliche  Grundgesetz  aber  des  preußischen 
Wesens  war  schon  zur  Zeit  seiner  Emanation  geheim, 
zur  Kenntnis  nur  bestimmt  für  die  herrschenden  Ge- 
walten, nicht  für  die  ihm  unterworfenen  Untertanen. 
Selbst  im  Jahre  1820,  in  der  Zeit  der  tiefsten  Erniedri- 
gung Deutschlands,  wagte  man  jene  hohenzollernsche 
Kabinettsorder  nicht  in  die  „Gesetzessammlung  für 

5" 


die  preußischen  Staaten"  aufzunehmen,  die  doch 
wahrlich  damals  vor  der  Kundgabe  blutiger  Gewalt- 
verordnungen nicht  zurückschreckte,  sondern  in  jenen 
Jahren  vollgepfropft  ist  mit  den  Exzessen  reaktionären 
Wahnsinns.  Das  wagte  man  selbst  damals  nicht  der 
Öffentlichkeit  zu  bieten.  Es  wußte  nur  darum,  wer 
berufen  war,  im  Ernstfall  danach  zu  handeln.  Diese 
geheime  Kabinettsorder  aber  ist  die  „Rechtsgrund- 
lage", mit  der  jede  preußische  Gewalttat  in  Deutsch- 
land sich  seitdem  begründen  kann;  wenn  man  sich 
erst  nach  fast  100  Jahren  auf  sie  beruft,  so  nur  des- 
halb, weil  man  sich  trotz  allem  nicht  mehr  stark  genug 
fühlt,  ohne  jede  rechtsartige  Begründung  Gewalt  zu 
üben. 

Selbstverständlich,  diese  Kabinettsorder  hat  keine 
Rechts geltung  mehr,  hat  sie  überhaupt  niemals  ge- 
habt, da  sie  geheim  geblieben  ist.  Und  wenn  sie  je- 
mals den  Schein  eines  Rechts  besessen  haben  sollte, 
so  ist  sie  durch  die  preußische  Verfassung  vom  31.  Ja- 
nuar 1850  aufgehoben,  deren  Bestimmungen  über  die 
Eingriffe  der  bewaffneten  Macht  in  das  bürgerliche 
Leben  durch  das  preußische  Gesetz  über  den  Be- 
lagerungszustand vom  4.  Juni  1851  im  einzelnen  näher 
umgrenzt  und  so  in  das  deutsche  Reichsrecht  über- 
gegangen sind,  da  wir  es  in  den  mehr  als  vier  Jahr- 
zehnten gesetzgeberischer  Arbeit  im  Reichstag  immer 
noch  nicht  zu  dem  angekündigten  neuen  Gesetz  ge- 
bracht haben.  Mit  diesen  Vorschriften  der  Verfassung 
von  1850  und  des  Gesetzes  von  185 1  steht  die  Kabi- 
nettsorder von  1820  in  unvereinbarem  Widerspruch, 
und  kein  preußisches  Staats  rechtswerk,  auch  das  aus- 
führlichste und  maßgebende  von  Rönne  nicht,  hat 
bisher  von  jener  Kabinettsorder  etwas  gewußt,  die 
zwar  keinerlei  Rechtskraft,  aber  eine  um  so  ent- 
schiedenere Macht  geltung  hat.  Wir  haben  ja  auch 
inzwischen  erfahren,  daß  wieder  als  geheime  Instruk- 
tion, obzwar  unter  ministerieller  Gegenzeichnung  — 


512 


die  alte  Kabinettsorder  am  23.  März  1899  vom  gegen- 
wärtigen König  von  Preußen  den  militärischen  Kom- 
mandostellen aufs  neue  eingeschärft  worden  ist. 

Es  ist  ein  Irrtum  militärischer  Schriftsteller,  wenn 
sie  jetzt  behaupten,  diese  königliche  Aufforderung  zur 
militärischen  Aufhebung  der  bürgerlichen  Verfassung 
sei  in  der  Armee  unbekannt.  Die  Kabinettsorder  ist 
in  der  Tat  Dienstbefehl  der  obersten  Kommando- 
gewalt und  durchaus  nicht  nur  auf  die  preußischen 
Truppenteile  beschränkt. 

„Findet  der  Militär-Befehlshaber,  bei  Beobachtung 
des  Auftritts  nach  Pflicht  und  Gewissen,  daß  die  Zivil- 
Behörde  mit  der  Requisition  um  Militärbeistand  zu 
lange  zögert,  indem  ihre  Kräfte  nicht  mehr  zu- 
reichen, die  Ruhe  herzustellen,  so  ist  er  befugt  und 
verpflichtet,  auch  ohne  Requisition  der  Zivilbehörde 
einzugreifen,  und  den  Befehl,  dem  diese  sich  zu  fügen 
hat,  zu  übernehmen."  Diese  Verfügung  der  alten 
Kabinettsorder,  die  jedem  militärischen  Befehlshaber 
gestattet,  auch  ohne  Verhängung  des  Belagerungs- 
zustandes die  Zivilverwaltung  durch  das  militärische 
Standrecht  außer  Kraft  zu  setzen,  ist  in  der  Tat  bis 
zur  Stunde  die  allgemeine  militärische  Instruktion. 
Die  Wendung  der  1899  aufgefrischten  Kabinettsorder 
kehrt  z.  B.,  fast  wörtlich  wieder  in  dem  Handbuch  des 
bayerischen  Kriegsgerichtsrats  Endres:  „Der  mili- 
tärische Waffengebrauch".  Da  heißt  es  kurz  und 
bündig:  „Ohne  Requisition  einer  Zivilbehörde 
sind  die  Militärbefehlshaber  behufs  Erhaltung  der 
öffentlichen  Ruhe,  Ordnung  und  Sicherheit  zum  Ein- 
schreiten mittels  Waffengewalt  zur  Unterdrückung 
innerer  Unruhen  und  zur  Ausführung  von  Gesetzen 
selbständig  befugt:  a)  wenn  der  Militärbefehls- 
haber nach  Pflicht  und  Gewissen  findet, 
daß  die  Zivilbehörde  zu  lange  zögert. 

Der  tapfere  Held  von  Zabern  wußte  also  ganz  genau, 
daß  ihm  gar  nichts  geschehen  könnte;  er  brauchte  nur 


33   Eisner,  Vor  der  Revolution. 


nach  Pflicht  und  Gewissen  zu  finden,  daß  die  Zivil- 
behörde zu  lange  zögere.  Diesen  Nachweis  aber  konnte 
er  auch  jederzeit  —  dank  uralter  militärischer  Rechts- 
belehrung —  führen.  Denn  ein  anderes  preußisches 
„Gesetz"  erklärt  hinlänglich,  warum  der  Zaberner 
Oberst  im  voraus  wissen  konnte,  daß  das  Militärgericht 
alle  unbequemen  Aussagen  von  Zivilisten  „gesetzlich" 
mißachten  durfte.  In  Übernahme  gewisser  Bestim- 
mungen des  Allgemeinen  Preußischen  Landrechts  (aus 
dem  18.  Jahrhundert!)  über  die  unterschiedliche 
Wertung  von  Zeugenaussagen,  verfügte  nämlich  das 
preußische  Gesetz  über  den  Waffengebrauch  vom 
20.  März  1837:  „Daß  beim  Gebrauch  der  Waffen  das 
Militär  innerhalb  der  Schranken  seiner  Befugnisse 
gehandelt  habe,  wird  vermutet  bis  das  Gegenteil 
erwiesen  ist.  Die  Angaben  derjenigen  Per- 
sonen, welche  irgendeiner  Teilnahme  an  dem,  was 
das  Einschreiten  der  Militärgewalt  herbeigeführt  hat, 
schuldig  oder  verdächtig  (!!!)  sind,  geben  für  sich 
allein  keinen  zur  Anwendung  einer  Strafe  hinreichen- 
den Beweis  für  den  Mißbrauch  der  Waffengewalt." 

Dem  braven  Oberst  konnte  wirklich  nichts  passieren. 
Er  war  völlig  gedeckt  (wenn  auch  nicht  durch  das 
Recht).  Er  brauchte  nur  nach  Pflicht  und  Gewissen 
zu  finden,  daß  die  Zivilbehörde  zu  lange  zögere,  und 
das  Gegenteil  pflichtmäßigen  und  gewissenhaften 
Handelns  konnte  ihm  niemals  nachgewiesen  werden, 
da  ja  alle  bürgerlichen  Zeugen  als  der  Teilnahme 
schuldig  oder  verdächtig  „gesetzlich"  unglaubwürdig 
waren !  Der  Oberst  hatte  nicht  mehr  Entschlossenheit 
aufzuwenden,  als  Rekruten,  die  blindlings  irgendeiner 
zwar  ungesetzlichen  aber  durch  den  Befehl  des  Vor- 
gesetzten eben  gedeckten  Weisung  eines  Unteroffiziers 
folgen. 

Bei  dieser  Sachlage  erblaßt  nun  doch  der  Strahlen- 
kranz des  Heldentums  so  sehr,  daß  selbst  die  liberalen 
zivilen  Charaktere  von  der  Erhabenheit  des  militäri- 

5M 


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sehen  Charakters  sich  nicht  mehr  begeistern  zu  lassen 
brauchen.  Der  sonst  bewußtlose  Oberst  war  sich  ja 
darüber  klar  bewußt,  daß  er  nicht  stürzen  würde,  es 
müßte  denn  zuvor  das  ganze  preußische  System  stür- 
zen, das  seit  jeher  nichts  ist  wie  eine  geheime  feudal- 
militaristische Verschwörung  gegen  bürgerliche  Frei- 
heit und  Sicherheit. 

Nun  aber  wissen  wir  auch,  was  in  Wahrheit  der 
Januschauer  damals  meinte,  als  er  den  Reichstag  mit 
dem  Leutnant  und  den  zehn  Mann  bedrohte.  Er 
dachte  an  die  Kabinettsorder  von  1820  . . . 

II. 

Die  Ausgrabung  der  unter  der  Erde  höchst  lebendig 
gebliebenen  Kabinettsorder  ist  der  witzigste  und  wür- 
digste Abschluß  des  Jahres  der  Feier  der  Freiheits- 
kriege. Dem  schlichten  und  ach!  so  kernigen  Obersten 
von  Zabern  war  es  vorbehalten,  uns  mit  einer  klirren- 
den Tat  zu  zeigen,  was  in  Wahrheit  die  Regierenden 
mit  der  Jahrhundertfeier  beabsichtigten.  Sie  dachten 
nicht  daran,  den  Volksaufstand  von  181 3,  die  Befreiung 
von  Napoleon,  zu  verherrlichen;  ihre  Inbrunst  galt 
den  heiligen  Errungenschaften,  die  nach  den  Kriegen 
für  das  preußische  System  gewonnen  wurden. 

Der  frechste  Spötter  würde  nicht  die  phantastische 
Erfindung  gewagt  haben,  daß  am  Ende  des  Jubel- 
jahres eine  Verordnung  als  die  Rechtsgrundlage  des 
deutschen  Reiches  produziert  werden  würde,  die  man 
sogar  im  Jahre  1820  nicht  zu  veröffentlichen  wagte. 

Man  muß  sich  nur  einmal  anschaulich  vorstellen, 
was  es  heißt,  auch  nur  zu  behaupten,  daß  ein  ab- 
solutistisches Erzeugnis  aus  dem  Preußen  von  1820  im 
zweiten  Jahrzehnt  des  20.  Jahrhunderts  Rechtskraft 
haben  könnte. 

Die  Kabinettsorder  ist  eine  der  Maßnahmen,  und 
zwar  die  tollste,  die  bestimmt  war,  die  Durchführung 
der  Karlsbader  Beschlüsse  zu  sichern.  Man  traut  den 


5i5 


Bürgern  nicht  mehr,  nachdem  sie  mit  ihrem  Blut  den 
Fürsten  die  Freiheit  erobert.  Der  deutsche  Bund 
ist  begründet  zu  dem  Zwecke,  daß  sich  seine  Mit- 
glieder gegenseitig  im  Kampfe  gegen  widersetzliche 
Untertanen  Soldaten  und  Waffen  leihen.  Jede  politische 
Bewegung  gilt  als  „gefährliche  Verbindung",  die  mit 
Zuchthaus,  Schafott,  Waffengewalt  zu  unterdrücken 
ist.  Jede  geistige  Regung,  Wissenschaft  und  Kunst 
wird  unter  Polizeiaufsicht  gestellt.  Es  ist  die  Zeit, 
da  eine  Kabinettsorder  Friedrich  Wilhelms  III.  von 
Preußen  bestimmt:  „Da  seit  einiger  Zeit  auf  mehreren 
Universitäten  Spuren  von  Verbindungen  und  anderen 
Umtrieben  unter  den  Studierenden  sich  abermals  ge- 
zeigt haben,  die  Untersuchung  derselben  aber  darüber 
die  juristischen  Beweise  nicht  immer  zu  ermitteln 
vermag;  so  will  ich,  daß  von  nun  an  die  bei  meinen 
Universitäten  angestellten  außerordentlichen  Regie- 
rungsbevollmächtigten gehalten  und  befugt  sein  sollen, 
diejenigen  Studenten,  welche  nach  ihrer  Überzeugung 
verdächtig  sind,  auf  der  Universität  förmliche  oder 
formlose  Verbindungen  zu  stiften,  einzuleiten  oder  zu 
befördern,  oder  welche  in  solchen  Verbindungen  auf 
anderen  Universitäten  stehen,  sowie  diejenigen,  welche 
Verbindungen  zwischen  den  verschiedenen  Universi- 
täten unterhalten  oder  irgendeiner  Gattung  von  dar- 
auf gerichteten  oder  anderen  Umtrieben  sich  schuldig 
machen,  ohne  weitere  gerichtliche  Untersu- 
chung und  ohne  Mitwirkung  des  Universi- 
tätsrichters oder  des  akademischen  Senats 
sofort  von  der  Universität  zu  entfernen. '* 
(Man  erkennt  die  Ähnlichkeit  mit  der  Kabinettsorder 
über  die  militärische  Diktatur.)  Es  ist  die  Zeit,  da 
der  tote  Fichte  als  der  verfluchte  Urheber  des  Um- 
sturzes gilt,  und  die  Mainzer  Zentral-Untersuchungs- 
kommission  die  Demagogenjagd  organisiert  —  gegen 
alle,  die  den  Geist  der  eben  beendigten  Feldzüge  als 
Freiheitskriege  mißverstanden  hatten. 

516 


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Nicht  nur  Studenten  und  Professoren  werden  ver- 
folgt und  zu  Tode  gehetzt.  Die  ersten  Führer  der 
nationalen  Erhebung  sind  jetzt  verdächtig.  Selbst 
Freiherr  vom  Stein  wird  von  der  Bundeskommission 
als  einer  von  den  Männern  genannt,  welche  „die  de- 
magogischen Umtriebe  besonders  angeregt"  hätten, 
ein  Urteil,  das  der  Kanzler  des  preußischen  Königs, 
Hardenberg  —  sogar  gegen  Bedenken  Metternichs  — 
verteidigte.  Ein  konservativer  Militär  wie  Gneisenau 

—  damals  Gouverneur  von  Berlin  — ,  der  sich  nicht 
genug  tun  konnte,  über  das  „jakobinische  Gesindel" 
und  über  die  damals  radikalen  Theologen  und  Priester 
von  der  Art  de  Wettes  zu  schimpfen,  „die  mit  ihrer 
verpesteten  Moral  ganze  Geschlechter  vergiften,  und 
Bibelstellen  zum  Beweis  ihrer  verbrecherischen  Mei- 
nungen zusammenlesen",  wird  als  Organisator  der 
jetzt  verfolgten  Landwehr  von  1813  geheimer  Um- 
triebe bezichtigt.  In  dem  Jahre  der  Kabinettsorder 
fand  man  bei  der  Verhaftung  des  mittelalterlich  teutsch 
schwärmenden  Görres  in  Koblenz  folgenden  Zettel: 
„Ich  muß  schon  Verräter  am  Vaterlande  werden,  in- 
dem ich  bekenne,  daß  man  heute  einen  Uberfall  gegen 
Sie  projektiert.  Coblenz,  den  9.  Mai  1 816.  Ihr  Carl 
Gröben."  Das  war  die  scherzhafte  Ankündigung,  daß 
Görres,  der  nur  einen  kleinen  Haushalt  führte,  von 
einer  Anzahl  unerwarteter  Gäste  zum  Abendessen 
„überfallen"  werden  würde.   Jetzt  nach  vier  Jahren 

—  Graf  Gröben  war  Chef  des  Generalstabes  in 
Breslau  —  wurde  dieser  Zettel  für  das  Anzeichen 
eines  hochverräterischen  Unternehmens  gehalten,  und 
sogar  der  alte  Offizier  in  Untersuchung  gezogen. 

In  diesem  Jahre  1820  schreibt  Jahn,  der  Turn- 
vater, seine  Klagebriefe  aus  Kolberg,  wo  ihm  ein 
Zwangswohnsitz  unter  steter  Polizeiaufsicht  ange- 
wiesen ist,  nachdem  er  aus  langer  willkürlicher  Unter- 
suchungshaft entlassen  war.  Am  16.  Oktober  1820, 
also  gleichzeitig  mit  der  Kabinettsorder,  schmuggelt 

517 


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er  an  Reimer  in  Berlin  einen  Brief  durch,  in  den  er 
seinen  Zorn  ausströmt:  „Freiwillig  bin  ich  nicht  in 
diesen  Bannort  gegangen.  Gleich  bei  der  ersten  An- 
kündigung habe  ich  mir  diese  Gnade  von  Scheinfreiheit 
verbeten  .  . .  Mein  Schicksal  kümmert  mich  gar  nicht, 
nur  will  ich  mich  nicht  selbst  eigenhändig  geißeln. 
Mögen  meine  Feinde  immerhin  ihr  Jagdnetz  noch 
enger  spannen.  Je  ungerechter,  je  besser.  Schlimmer 
ist  nichts  als  der  vorgespiegelte  Gnadenschein  von 
Menschlichkeit,  unter  dessen  Blendlicht  jede  Willkür 
verübt  wird.  Das  macht  unbefestigte  Gemüter  wan- 
delbar und  verwirrt  die  öffentliche  Meinung  .  . .  Wer 
sich  bei  ungerechtem  Anfall  zufrieden  gibt,  wird 
Selbstmörder  seiner  eigenen  gerechten  Sache.  Das 
kann  das  verhagelte  und  verhegelte  Gesindel  nicht 
begreifen.  Von  den  Heuchellippen  tönen  in  einem  fort : 
Demut,  Geduld,  Ergebung  und  innerer  Frieden. 
Diese  hohlen  Klänge  sollen  denn  Kriechfertigkeit, 
Faulheit,  Feilheit  und  Feigheit  beschönigen.  Das  ist 
jenes  aberwitzige  Gezücht,  für  das  Dante  in  seiner 
Hölle  selbst  nur  Gräber  hat.*' 

Im  Sommer  1818  war  Ernst  Moritz  Arndts 
„Geist  der  Zeit,  Vierter  Teil"  erschienen.  Da 
hatte  der  leidenschaftlichste  und  beredteste  Propa- 
gandist der  Freiheitskriege  in  der  Schaffung  einer 
Volkswehr,  oder  wie  er  sagte,  einer  deutschen  Wehr- 
mannschaft, die  einzige  Sicherung  nationaler  Freiheit 
erkannt  und  gefordert: 

„Die  französische  Umwälzung  hat  die  verlorene  Idee 
des  wahren  Krieges  wieder  in  die  Welt  gebracht,  sie 
hat  gezeigt,  wie  fürchterlich  und  unüberwindlich 
Heere  sein  können,  die  von  einer  Idee  oder  nur  von 
einem  dunkeln,  gemeinsamen  Triebe  beseelt  werden, 
selbst  wenn  dieser  Trieb  einer  der  untersten  und 
schlechtesten  wäre.  Alle  Mächte,  alle  Heere,  die 
durch  Rüstigkeit  und  Fertigkeit  und  Übung  und  Glanz 
auf  den  Paradeplätzen  für  die  ersten  Heere  Europas 

5i8 


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gehalten  wurden,  haben  der  Gewalt  nicht  widerstehen 
können,  welche  eine  Volksgewalt  war." 

„Was  soll  man  hieraus  lernen  ?  Und  was  haben  die 
Völker  daraus  gelernt  ?  Daß  ein  stehendes  Heer,  wenn 
es  auch  aus  lauter  Eingeborenen  besteht,  weder  die 
leibliche  noch  geistige  Kraft  hat,  ein  Land  allein  zu 
beschirmen,  sobald  die  Zeiten  irgend  gefährlich  wer- 
den. Denn  jedes  stehende  Heer,  auch  das  beste,  wird 
leicht  etwas  vom  Volke  Abgesondertes,  Insichgeschlos- 
senes,  Sichvornehmer-  und  Besserdünkendes  und  ent- 
behrt also  nur  zu  bald  aller  gewaltigsten  und  größten 
Belebung  der  wahren  Liebe  und  des  wahren  Mutes .  . ." 

„Jedes  stehende  Heer  wird  im  Frieden  gar  leicht 
etwas  Abgestandenes  und  Totes,  etwas  Geistloses, 
Eingebildetes,  woran  sich  Tand  und  Eitelkeit  genug 
hängt.  Die  stehenden  Heere  sind  seit  hundertfünfzig 
Jahren  die  Plage  und  Not  der  Völker  Europas  gewesen, 
für  ihre  fortgehende  Vermehrung  und  Unterhaltung 
haben  alle  Kräfte  der  Länder  über  das  Maß  gespannt 
und  angestrengt  werden  müssen,  für  sie  müssen  die 
meisten  Völker  noch  seufzen." 

„Mit  den  leeren  Bildern  des  Kriegs  soll  im  Frieden  am 
wenigsten  gespielt  werden,  die  sind  so  voll  Gaukeleien, 
des  Tandes  und  Wahnes,  daß  die  besten  Männer 
darüber  eitel  und  leer  werden  können,  und  das  zu- 
letzt in  einzelnen  Tritten  und  Schwenkungen  zu 
haben  meinen,  wozu  ein  ganz  anderes  Streben  und  ein 
ganz  anderes  Schwingen  und  Schwenken  gehört,  wenn 
es  einmal  Sieg  und  Ruhm  anlocken  soll.  Die  zu  viele 
Quälerei  und  Ziererei  der  Paradeplätze  und  der  blanke 
und  leere  Prunk,  welcher  Eitelkeit  und  Aufgeblasenheit 
gebiert,  macht  ungeschickter  für  den  erhabenen  Ernst 
des  Schlachtfeldes,  als  derjenige  ist,  der  vielleicht  nur 
sechs  Wochen  Rechts!  Links!  gehört  hat." 

Solche  Worte  trafen  das  preußische  System  ins  Herz. 
„Hochverrat!"  war  die  Antwort  der  gegeißelten  Sol- 
dateska. Und  der  stürmische  Patriot,  der  die  Freiheits- 


519 


kriege  mit  der  Macht  seines  Wortes  an  erster  Stelle 
rüsten  half,  wurde  seiner  Bonner  Professur  entsetzt 
und  durch  endlose  Kriminaluntersuchungen  gequält, 
hinreichend  verdächtig,  „der  Teilnahme  an  revolu- 
tionären Umtrieben  und  der  Mitwirkung  zur  Er- 
regung der  Unzufriedenheit  mit  den  Regierungen  und 
der  Unruhen  im  Volke  im  allgemeinen  und  in  speziell 
gewaltsamen  Revolutionen". 

Aus  solcher  Zeit  quoll  als  ärgstes  Erzeugnis,  licht- 
scheu in  seiner  Schamlosigkeit,  die  geheime  Kabinetts- 
order vom  17.  Oktober  1820  hervor,  wie  eine  direkte 
königliche  Erwiderung  auf  jene  Volkswehrschwär- 
mereien der  Patrioten  der  Freiheitskriege:  jeder  Offi- 
zier des  stehenden  Heeres  erhielt  nun  das  Recht,  die 
Schwärmer  für  deutsche  Freiheit,  Einheit  und  Ver- 
fassung niederzukartätschen,  wenn  er  fand,  daß  die 
Zivilverwaltung  zu  lange  zögere. 

Während  das  Volk  niemals  von  diesem  obersten  Ge- 
setz, das  über  ihm  waltete,  erfuhr,  blieb  es  als  letzte 
entscheidende  Triebkraft  gewalttätigen  Willens  leben- 
dig in  den  Schädeln  der  Herrschenden,  die  kein  Bür- 
gertrotz hemmte.  Das  ewige  geheime,  immer  dunkel 
gefühlte,  aber  niemals  in  reiner  aktenmäßigen  Formu- 
lierung gekannte  Recht  des  deutschen  Volkes  ist  seine 
—  militärische  Zerstörung. 

Die  Nationalen  und  Liberalen  von  heute,  die  sich 
mit  den  Namen  der  Stein,  Fichte,  Gneisenau,  Arndt, 
Jahn  die  Blässe  entarteter  Feigheit  zu  überschminken 
gewohnt  sind,  knien  vor  den  unveränderten  Nach- 
kommen der  Schergen  von  1820  und  ihrem  herrlich 
männlichen  Charakter! 

[Januar  1914.] 


520 


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Der  Geßlerhut 


Taktvolle  Bühnenbearbeitung  für  das  liberale  Theater. 

(Wiese.  Der  Hut  auf  einer  Stange.) 

Frießhardt.  Wir  passen  auf  umsonst.  Es  will  sich 

niemand 

Heraus  begeben  und  dem  Hut  sein*  Reverenz 
Erzeigen.  Schlecht  Gesindel  ist  das  Volk. 

Leuthold.  Was  rechte  Leute  sind,  die  machen  lieber 
Den  langen  Umweg  um  den  halben  Flecken, 
Nur  um  zu  beugen  sich  vor  diesem  Hut. 

Frießhardt.  Doch  Galgenvögel  gibt's,  die  weigern 

frech 

Den  Gruß  der  Ehrfurcht  dem  erhabnen  Kaiser. 

Leuthold.  Für  diese  Rotte  ist  der  Hut  ein  Pranger, 
Vor  dem  wir  stehn;  dieweil  die  Reverenz 
Uns  Patrioten  Hochgefühle  weckt. 

Mechthild.  Da  hängt  der  Landvogt  —  habt  Re- 
spekt, ihr  Buben. 
(Teil  kommt  mit  seinem  Sohn.) 

Teil.  Das  Land  ist  schön  und  gütig  wie  der  Himmel, 
Doch,  die's  bebauen,  sie  genießen  nicht 
Den  Segen,  den  sie  pflanzen. 

Walter.  Pfui  Vater, 

Du  redest  ja  wie'n  Sozi.  Recht  ist's  doch: 
Das  Feld  gehört  dem  Bischof  und  dem  König. 

Teil.  Weh,  Junge,  daß  du  Wehrkraftbube  wurdest! 

Walter.   O,  Vater,  Heil  dem  Hut  dort  auf  der 

Stange ! 

Teil.  Was  kümmert  uns  der  Hut!  Komm,  laß  uns 

gehen. 

(Frießhardt  mit  der  Pike  ihm  entgegen.) 

521 


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Teil.  Was  wollt  Ihr  ?  Warum  haltet  Ihr  mich  auf? 
Frießhardt.  Ihr  habt's  Mandat  verletzt,  Ihr  müßt 

uns  folgen. 

Leu t hold.  Ihr  habt  dem  Hut  nicht  Reverenz  be- 
wiesen. 

Teil.   Freund,  laß  mich  gehen. 

Frießhardt.  Fort,  fort  ins  Gefängnis! 

Walter.  Den  Vater  ins  Gefängnis!  Sagt'  es  gleich, 
Warum  hat  er  verstockt  die  Huldigung 
Dem  leeren  Hut  der  Majestät  verweigert! 

(Das  Volk  strömt  herbei.) 

Sigrist.  Was  gibt's? 

Rösselmann.  Was  legst  du  Hand  an  diesen  Mann  ? 
Frießhardt.    Er  ist  ein  Feind  des  Kaisers,  ein 

Verräter ! 

Rösselmann.  Entsetzlich!  Deß  erfrecht  sich  unser 

Teil  ? 

Walther  Fürst.  Um  Gottes  willen,  Teil,  was  ist 

geschehen  ? 

Frießhardt.  Des  Landvogts  oberherrliche  Gewalt 
Verachtet  er  und  will  sie  nicht  erkennen. 
Stauf f acher.  Das  hätt'  der  Teil  getan? 
Melchthal.  Der  brave  Teil? 

Leuthold.  Er  hat  dem  Hut  nicht  Reverenz  be- 
wiesen. 

Walther  Fürst.  (Erblassend,  dann  voll  Zorn). 
O  Teil,  hast  du  denn  allen  Takt  vergessen? 
Wir  ehren  uns,  wenn  wir  das  Zeichen  grüßen, 
Das  kraft  Verfassung  und  Gesetz  uns  beugt. 
Wie  lächerlich,  so  gegen  die  Person 
Zu  demonstrieren,  die  Gefühle  zu 
Verletzen,  die  monarchisch  heiß  uns  glühen. 

Teil  (trotzig).  Man  ächtet  uns,  verhöhnt  die  Frei- 
heit und 

Entrechtet  uns.  Ich  bin  kein  Sklave,  der 
Den  Fuß  in  Demut  küßt,  der  mich  getreten. 
Ich  huldige,  wo  mich  Gesinnung  treibt. 

522 


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Walther  Fürst.   Verblendeter,  was  sträubst  du 

dich  der  Form 
Der  Höflichkeit?  Auch  ich  bin  frei  gesinnt, 
Doch  weiß  ich,  was  der  Schicklichkeit  gebührt, 
Und  was  die  Klugheit  fordert. 

Teil.  Seid  ihr  Männer? 

Rösselmann  und  Melchthal  (Duett).  Das  sind 
wir,  Gott  sei  Dank,  doch  wissen  wir, 
Was  wir  dem  Kaiser  schulden,  den  wir  ehren, 
Mag  kommen,  was  da  mag,  auf  unsre  Rücken. 
Du  aber,  Teil,  bist  reif  für'n  Staatsanwalt. 
Wir  haben  fürder  nichts  gemein  mit  dir, 
Denn  du  kompromittierst  die  gute  Sache. 

Teil  (bitter).  Die  gute  Sache! 

Walt  her  Fürst  (beschwört).  Ja  die  beste  Sache. 
Weißt  du,  was  du  getan,  taktlos  frevelnd? 
Ich  mach's  dir  ganz  bewußt,  das  Maß  der  Torheit. 
Du  hast,  o  grenzenlose  Missetat, 
O  ungeheurer  Unsinn,  nur  das  Wasser 
Getrieben  auf  die  Mühlen  —  — 

Das   Volk  (durcheinander  schreiend).  Welche 

Mühlen  ? 

Was  für  ein  Wasser? 

Walt  her  Fürst  (mit  bebender  Stimme).  —  weh, 

der  —  Reaktion!! 

Teil  (wie  von  Blitz  getroffen).  Ich  Unglücksel'ger, 

wahrlich,  schwere  Schuld 
Hab  ich  gehäuft.  Nun  wächst  Zwinguri  uns 
Zehn  Stockwerk  höher  in  den  freien  Himmel. 
Jetzt  seh  ich  ein,  was  ich  im  Unverstand 
Taktlos  geirrt,  rhetorisch  blöd  gefaselt: 
Der  Starke  ist  am  schwächlichsten  allein! 

(Mit  schnellem  Entschluß.) 
Doch  nicht  zu  spät  ist  Umkehr.  Sieh,  o  Volk, 
O  Volk  der  freien  Schweizer  —  so  sühnt  Teil. 
(Er  wirft  sich  vor  dem  Hut  auf  die  Erde  und  bleibt 
zehn  Minuten  in  dieser  Stellung.    Das  Volk  kniet 

523 


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nieder.  Man  hört  tausendstimmige  Rufe:  Es  lebe  der 
Hut,  es  lebe  der  Kaiser.  Das  Echo  der  Berge  wieder- 
holt die  Rufe.    Geßler  erscheint.) 

Geßler.  Ein  braves  Volk!  Ihr  wißt  die  Ehre  wohl 
Zu  schätzen,  die  der  Hut  euch  gönnt.  Ich  will 
Von  nun  an  hunderttausend  Hüte  auf 
Den  Feldern  euch,  den  Almen,  vor  den  Hütten 
Errichten,  daß  die  Rücken  schneller  beugen 
Und  öfter  sich  in  treuer  Fron  für  mich 
Den  Herrn  .  . . 

Das  Volk  (jubelnd).  Heil,  Geßler,  heil! 

Walther  Fürst.  Heil,  edler  Herr! 

Teil  (immer  noch  kniend). 
Und  ich  hinfort  will  wallen  durch  das  Land, 
Und  immer  werdet  Ihr  mich  finden  vor 
Der  hunderttausend  Hüte  einem  kniend. 
Denn  grade  weil  mir  in  dem  freien  Busen 
Republikanisch  glüht  die  stolze  Seele 
Hab  ich  gelernt:  Die  Tapferkeit  ist  Takt! 

(Der  Vorhang  fällt,  da  sich  nunmehr  die  weitere 

Handlung  erübrigt.) 

[Juni  1914.] 


524 


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Inhalt 

Erster  Teil:  Wir  Toten  auf  Urlaub 

Sritf 

1.  Wir  Toten  auf  Urlaub   5 

2.  Letzter  Marsch   7 

3.  Krieg.  Drei  Szenen   9 

4.  Jaurcs    15 

Nachtrag  191 8   19 

5.  Völkerrecht.  Einige  Anmerkungen   21 

I.  Rechtmäßige  Völkerrechts  Verletzungen  23 

II.  Volkswehr  im  Völkerrecht   37 

6.  Theorien  und  Phantasien  vom  ewigen  Frieden .  .  52 

7.  Die  Theorie  des  großen  Krieges   59 

8.  Die  Neunte,  das  Werk  der  Zeit    69 

9.  Krottingen.  Eine  Erinnerung   75 

10.  Das  Kursbuch  der  Weltgeschichte   81 

11.  Bismarck  über  Kriegführung  und  Kriegsziele.  .  .  88 

12.  Preußen  —  Italien  —  Österreich.  Zur  Natur- 
geschichte diplomatischer  Verhandlungen  und  Ver- 
träge   96 

13.  Die  Presse  im  Kriege   106 

14.  Die  Wiener  Kongreß-Akte                                .  116 

15.  Hus   123 

16.  Die  Angst  der  Toten   131 

17.  Hat  es  ein  Sozialistengesetz  gegeben?   159 

18.  Zusammenbruch!  Ein  Jahrwendgespräch  .  .  .  .145 

19.  Die  Lebenswinde    155 

20.  Mensch-Ersatt- Würfel   159 

21.  Die  vier  Könige.  Die  Urform  einer  evangelischen 
Erzählung   164 

22.  Das  Abreiß-Gehirn  :  .  169 

-23.  Die  Austrocknung  des  heiligen  Geistes   176 

525 


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Seite 

24.  Aus  Tagheften.  1914— 1918  182 

Humor  und  Idylle.  —  Internationales  Gespräch. 

—  Diplomatische  Abhärtung.  —  Zuchthaus 
für  Stimmungsbilder.  —  Laute  Gedanken.  — 
Die  Kriegssprache.  —  Die  Schwierigkeiten  des 
Komparativs.  —  Die  neue  Erfindung.  — 
Französische  Gedankengänge.  —  Verdurstung 
als  Kriegsmittel.  —  Und  sie  schrieben  Briefe. 

—  Märzstürme  191 8.  —  Ein  Opfer.  —  Die 
Sorge  um  Soissons.  —  Redeoffensive. 

25.  Kleine  Kriegsmärchen  204 

Das  Merkmal  der  Rassenzüchtung.  —  Arith- 
metischer Landesverrat.  —  Die  völkerrechts- 
widrige leichte  Verwundung.  —  Grenzsiche- 
rungen. —  Das  Leichcr.gemüt.  —  Die  Oppo- 
sition. —  Der  Ur.!:c-!b-r.\  —  Führer  an  die 
Front!  —  Ich  habe  es  rieht  gewollt.  —  Kultur 
mit  Wasserspülung.  —  Die  Schule  des  Fliegens. 

—  Das  Kriegsziel.  —  Verlustliste.  —  Der 
Lebenshaß. 

26.  Marx-Feier  221 


Zweiter  Teil:  Die  Heerstraße  zum  Abgrund. 

1.  Das  gelbe  Zeichen  243 

2.  Wir  haben  genug!  257 

3.  Der  goldne  Magnetberg  264 

4.  Sozialdemokratie  und  Staatsform.  Eine  öffentliche 

Diskussion   zwischen   Kurt   Eisner   und  Karl 
Kautsky  285 

5.  Der  Sultan  des  Weltkrieges  326 

I.  Auswärtige  Politik  in  der  deutschen  Sozial- 
demokratie. Persönliche  Erfahrungen  ...  326 

II.  Vorwort  331 

III.  Ergebnis  333 

6.  Die  Tragikomödie  des  deutschen  Liberalismus  .  .  342 

7.  Anekdoten  vom  Tage  406 

Der  Schwindler.  —  Der  Mord.  —  Das  freie 
Opfer.  —  Ein  Leutnant  und  zehn  Mann. 

526 


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Seite 


8.  Luise.  Eine  Heiligengeschichte  ans  dem  19.  Jahr- 
hundert  411 

9.  Die  Meineidslinde  von  Essen   421 

10.  Chefredakteur  Wilhelm   425 

11.  Die  Steuerlampe.  Plan  einer  Zeitschrift    ....  432 

12.  Meinungsbetrieb  437 

13.  Preß-Probleme  444 

I.  Das  bürgerliche  Preßgeschäft  444 

1 1.  Die  Grundlegung  der  Größe  der  Parteipresse  449 
III.  Die  notwendigen  Reformen  455 

14.  Dynastische  Geschichtsauffassung  463 

1 5.  Aus  der  Panther-Zeit  467 

Sus  —  die  deutsche  Existenzfrage.  —  Innere  und 
äußere  Kolonisation.  —  Frankreichs  Friedens- 
bürgschaft. —  Und  nun? 

16.  Die  hohen  Stühle  481 

17.  Herging  494 

Professor  und  Ministerpräsident.  —  Der  Jubilar 

18.  Die  Kabinettsorder  von  1820  509 

19.  Der  Geßler-Hut  521 


527 


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GESAMMELTE 
SCHRIFTEN 

VON 

KURT  EISNER 


ZWEITER  BAND 


VERLEGT  BEI  PAUL  C ASSIRER  IN  BERLIN 

19  19 


Alle  Rechte, 
insbesondere  das  der  Übersetzung  vorbehalten 
Copyright  1919  by  Paul  Cassirer,  Berlin 


Druck  von  Oscar  Brandstetter  in  Leipzig 


Befreiung 


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Das  ewige  Friedensmanifest. 


Kraft  der  Allmacht  des  Kalenders  wird  wieder  unter 
den  500  Millionen  Menschen,  die  sich  —  ein  Drittel  der 
Gesamtmenschheit  —  Christen  nennen,  das  Friedens- 
manifest des  himmlischen  Gebieters  verkündet,  das 
den  „Frieden  auf  Erden"  in  weithallenden  Akkorden 
spendet.  Die  Botschaft  ist  fällig. 

Wirre  Weihnachten!  Mehr  ein  Spottlied  auf  den 
Sinn  der  Feier  als  ein  heiliger  Festchoral. 

Das  Fest  des  Friedens  beschließt  das  Jahr,  in  dessen 
Mitte  die  vom  russischen  Zaren  veranlaßte  Diplomaten- 
posse, unter  dem  lieblichen  Harfengetön  der  Ab- 
rüstung, die  Idee  des  Völkerfriedens  höhnend  geißelte. 
Über  dem  Christbaum  lastet  der  blutige  Nebel  eines 
verbrecherischen  Raubkrieges,  auf  dem  Weihnachts- 
tische der  Welt  ächzen  zerstückelte  Leiber  und  modert 
verrucht  gemordetes  Leben,  glanzlos  brechende  Augen 
starren  aus  dem  grünen  Geäst,  das  mit  Granatsplittern 
und  Hautfetzen,  als  war*  es  Buntpapier  und  Flittergold, 
übersät  ist. 

Und  wo  nicht  in  Wirklichkeit  der  Krieg  wütet,  da 
sind  doch  die  Gemüter  erfüllt  von  den  Vorstellungen 
der  Vernichtung.  Der  Menschenwitz  erschöpft  sich 
in  neuen  Mitteln,  um  das  Dasein  der  Kreatur  zu  zer- 
stören. Die  Parlamente  vergeuden  die  Mittel  der 
Völker  für  den  Bau  von  Kasernen  und  Panzerschiffen. 
Die  Lehre  von  dem  Recht  des  Stärkeren  ist  zur  Pflicht 
des  Stärkeren  gesteigert,  die  da  gebietet  zu  herrschen 
und  zu  knechten.  Das  Evangelium  des  Hammers 
kündet  am  Vorabend  des  Weihnachtsfestes  der  Minister 
des  christgermanischen  Reiches.  Und  selbst  den  Kin- 

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dem  schenkt  man  zur  Weltfeier  des  Friedens  Säbel, 
Flinten  und  Helme. 

Das  himmlische  Friedensmanifest,  das  seit  fast  zwei 
Jahrtausenden  alljährlich  in  die  Erinnerung  gerufen 
wird,  ist  noch  wirkungsloser  ab  das  des  irdischen  Herr- 
schers über  ein  Volk  von  Sklaven  —  ein  leerer  Klang, 
ein  toter  Schall.  Es  hat  keinen  anderen  Erfolg,  als  daß 
es  von  Jahr  zu  Jahr  in  leidenschaftlicherer  Form  den 
Krieg  in  der  Wirtschaft  entfacht.  Weihnachten  ist  ein 
Jahrmarkt,  auf  dem  sich  der  Umsatz  der  Waren  fieber- 
haft steigert.  Der  Konkurrenzkampf  der  großen  und 
kleinen  Händler  wird  in  diesen  Tagen  zum  grausamen 
Gemetzel,  und  die  letzten  Hoffnungen  der  Kleinen 
brechen  verzweifelnd  zusammen.  Ein  Heer  von  Han- 
delsangestellten, Frauen  und  Männern,  wird  vom 
dämmernden  Morgen  bis  in  die  Nacht  hinein  gehetzt, 
um  die  zahllosen  Hände  der  Käufer  zu  füllen;  sie 
peitschen  die  Nerven,  um  aufrecht  zu  bleiben,  und, 
wenn  die  Friedensbotschaft  über  die  Lande  fliegt, 
haben  sie  nur  das  Gefühl  teilnahmsloser  Erschöpfung. 

Auch  nicht  für  einen  Augenblick  schweigt  das  Keu- 
chen der  Arbeitssklaven,  verstummt  das  Wimmern  der 
Zertretenen  und  Versinkenden.  Hinein  in  die  stille 
heilige  Nacht  tobt  die  wilde  Jagd,  und  das  Friedens- 
manifest ist  nur  eine  flache  Hürde,  die  niemanden 
hemmt,  nicht  Jäger,  nicht  Wild. 

Aber  was  tut's.  Sie  sind  einmal  Christen  und  darum 
schuldig,  das  alte  Mirakel  wie  eine  ernste  Wirklichkeit 
zu  verehren.  Tags  zuvor  brüllen  sie  nach  dem  starken 
Mann,  der  das  Freiheit  suchende  Volk  der  Bedrückten 
würgen  möchte,  und  24  Stunden  später  haben  sie  an 
allen  Menschen  ein  Wohlgefallen.  Sie  weiden  sich 
unablässig  an  der  Wollust  des  Verfolgens,  und  plötzlich 
bekennen  sie  sich  zu  der  aufrichtenden  Wahrheit  des 
Evangelisten:  Selig  sind,  die  Verfolgung  leiden!  Sie 
scharren  Schätze,  plündern  wuchernd  die  Arbeit  der 
Armen,  um  in  üppigem  Überfluß  zu  genießen,  und 

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kehren  nun  andächtig  ein  in  den  Stall,  da  die  Not 
den  Heiland  gebar.  Jedes  Wort,  das  in  diesen  Tagen 
die  Christen  sprechen,  ist  ein  Pfeil  wider  sie  selbst. 

Es  ist  eine  der  seltsamsten  Wandlungen  der  Ge- 
schichte, wie  das  Christentum,  das  im  Ursprung  eine 
Erlösungsreligion  der  Ärmsten  war,  zu  dem  eitlen 
Schaustück  und  gefährlichen  Machtmittel  der  Herr- 
schenden ward.  Das  Demütigende  und  Entsagende, 
das  die  Lehre  in  sich  barg,  die  nur  den  Heldenmut  des 
Leidens  kannte,  ermöglichte  diese  Umkehrung  des 
Sinnes  des  Christentums.  Von  Haus  aus  ein  seelisches 
Befreiungsmittel  der  Unterdrückten,  ward  es,  wegen 
seiner  passiven  Tendenz,  zu  einer  Waffe  der  Herr- 
schenden im  Klassenkampf,  zu  einem  Instrument  der 
Zähmung  und  Bändigung  der  Massen.  Die  Geschichte 
des  wahren  Christentums  ging  schon  in  den  ersten 
Jahrhunderten  zu  Ende  —  was  hernach  kam,  war  nur 
die  Erhaltung  des  Namens,  dessen  Inhalt  von  allem 
Christlichen  gereinigt  war. 

In  den  ersten  Jahrhunderten  unserer  Zeitrechnung, 
in  den  Zeiten  des  Urchristentums,  wafd  es  als  ein 
Widerspruch  empfunden,  daß  ein  Christ  zu  den  Edlen 
und  Mächtigen  gehörte.  Tertullian,  der  um  die  Wende 
des  zweiten  und  dritten  Jahrhunderts  die  reine  Lehre 
Christi  erläuterte  und  verbreitete,  erklärte,  daß  alle 
Gewalten  und  Würden  dieser  Welt  nicht  nur  Gott 
fremd,  sondern  feindlich  sind.  Die  Verwalter  der 
höchsten  Staatsämter  durften  während  ihrer  Amts- 
dauer keine  christliche  Kirche  betreten  —  es  galt  als 
eine  Entweihung  des  christlichen  Grottesdienstes,  wenn 
staatliche  Würdenträger  an  ihm  teilnahmen.  Heute  ist 
von  dieser  Sitte  des  reinen  Christentums  nichts  mehr 
übrig;  im  Gegenteil,  der  Gottesdienst  wird  geadelt 
durch  die  Gegenwart  der  hohen  Würdenträger,  die 
ihrerseits  aus  ihrer  Christlichkeit  ein  Mittel  gestalten, 
auf  der  Stufenleiter  der  Gott  feindlichen  Herrschafts- 
ämter empor  zu  klimmen. 

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In  unserem  scheinchristlichen  Zeitalter  wird  selbst 
der  Krieg  verchristlicht,  und  es  wird  gesagt,  daß  ein 
guter  Soldat  ein  guter  Christ  sein  müsse.  Jener  Lehrer 
des  Urchristentums  aber  schrieb,  daß  ein  Christ  über- 
haupt nicht  Soldat  werden  dürfe:  „Glauben  wir  etwa, 
daß  es  erlaubt  sei,  einen  menschlichen  Fahneneid  auf 
den  göttlichen  zu  setzen,  von  einem  anderen  Herrn 
nach  Christus  uns  den  Eid  abnehmen  zu  lassen  und 
sich  von  Vater  und  Mutter  und  jedem  Verwandten 
loszusagen,  die  das  Gesetz  denn  doch  zu  ehren  und 
nächst  Gott  zu  lieben  vorschreibt,  und  welche  auch 
das  Evangelium,  sie  bloß  nicht  höher  stellend  als 
Christum,  so  geehrt  hat  ?  .  .  .  Wird  der  Sohn  des  Frie- 
dens wohl  in  der  Schlacht  mitwirken,  er,  für  den  sich 
nicht  einmal  das  Prozessieren  geziemt  ?  Wird  er  Ge- 
fangennehmungen, Kerker,  Foltern  und  Todesstrafen 
anordnen,  er,  der  nicht  einmal  die  ihm  selber  zugefüg- 
ten Beleidigungen  rächt  ?  .  .  .  Dann  wird  er  die,  welche 
er  am  Tage  durch  Exorzismen  vertreibt,  bei  Nacht 
beschützen,  gestützt  oder  ruhend  auf  der  Lanze,  womit 
die  Seite  Christi  durchbohrt  wurde." 

Wer  Krieg  führt,  der  wird  dem  Christentum  fahnen- 
flüchtig, so  schreibt  der  Bekenner  des  Urchristentums. 
Seitdem  ward  die  Lehre  ins  Gegenteil  gewendet,  und 
das  „Frieden  auf  Erden"  ward  darum  zur  leeren  For- 
mel, die  alljährlich  einmal  in  den  Rauschstunden  eines 
lärmenden  Festes  verhallt. 

Und  dennoch  ist  der  Gedanke  des  wahren  Christen- 
tums nicht  ganz  erstorben,  nur  hat  er  sich  von  den 
Christen  zu  denen  geflüchtet,  die  als  die  Bekenner 
des  Antichrist  verleumdet  und  verfolgt  werden,  und 
die  aus  der  duldenden,  mystisch  schwärmenden  Ge- 
fühlsseligkeit ein  zielklares  Programm  vernünftigen 
Handelns  gestaltet  haben.  Ihnen  ist  „der  Frieden  auf 
Erden"  keine  im  Widerhall  sich  selbst  verspottende 
Phrase,  sondern  das  Streben  ernster  Kulturarbeit. 
Das  Proletariat  ist  der  redliche  Träger  und  Kämpfer 

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für  jenes  Weihnachtsfest  der  Zukunft,  in  dem  das 
ewige  Friedensmanifest  nicht  mehr  vonnöten  ist,  um 
den  Kultus  der  brutalen  Gewalt  heuchlerisch  zu  um- 
flittern,  sondern  wo  es  eine  Erinnerungsfeier  sein  wird 
an  jene  Zeit,  da  der  Friedensschluß  unter  den  Völkern 
beschlossen  ward.  Es  wird  das  Weihnachtsfest  sein, 
von  dem  Ada  Negri  singt: 

Es  fließt  kein  Blut  mehr,  das  in  roten  Fluten 
Die  Erde  oft  so  schmerzensreich  getränkt, 
Die  Kriegsgöttin  dämpft  des  Streites  Gluten 
U.  d  hat  die  Waffen  friedlich  jetzt  gesenkt. 

Es  schweigt  der  Mitrailleusen  tolles  Knallen, 
Kein  Donner  von  Kanonen  mehr  erkracht, 
Und  Kriegslieder  hört  man  nicht  mehr  schallen 
Durch  das  Getümmel  und  den  Lärm  der  Schlacht. 

Die  Welt  ist  jetzt  ein  Vaterland,  die  Seelen 
Von  heiliger  Begeisterung  durchbebt, 
Und  sanft  ein  Friedenssang  aus  tausend  Kehlen 
Von  einem  Ufer  an  das  andre  schwebt. 

[Weihnachten  1899]. 


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Ein  Friedhof  der  Lebenden. 

Wer  die  Straße,  an  der  der  schmucklose,  fast  dörf- 
liche Saal  des  Essener  Parteitages  lag,  weiter  verfolgte, 
der  kam  nach  kurzem  Spaziergang  zu  einer  idyllischen 
Ansiedelung,  die  unwillkürlich  zum  Verweilen  einlud. 
Bunte,  zierliche  Giebelhäuschen,  einfach  und  anmutig, 
mit  freundlichen  Erkern,  mitten  in  kleinen  Gärten 

- 

versteckt,  die  voll  glühender  Herbstblumen  prangten; 
fast  wuchsen  die  üppigen  Blüten  über  die  Giebel  der 
Häuser  empor.  Jede  dieser  traulichen  Heimstätten 
ist  ein  kleines  Reich  für  sich.  An  einer  Stelle  breiten 
sich  zu  beiden  Seiten  eines  grünen  Platzes  auch  zier- 
lich gegliederte  Reihenhäuser. 

Es  ist  feierlich  still  in  der  ganzen  Ansiedelung.  Man 
sieht  keine  spielenden  und  lärmenden  Kinder.  Zwei 
Kirchlein,  eine  protestantische  und  eine  katholische, 
erheben  sich  in  ihrer  gefälligne  Holzarchitektur  nicht 
allzu  stolz  über  die  Wohnhäuser;  auch  der  liebe  Gott 
haust,  so  scheint  es,  in  diesem  Gefild  schlicht  und  be- 
scheiden, nur  ein  wenig  die  Menschen  überragend. 
Ein  größeres  Gebäude  trägt  den  Vermerk,  daß  der 
Eintritt  verboten  sei;  im  Hofraum  liegen  hohe  Haufen 
von  Weidenruten  aufgeschlichtet,  es  ist  wohl  eine 
Werkstatt,  in  der  Körbe  geflochten  werden.  Im  Vor- 
garten eines  Hauses  sieht  man  die  Kirchen  und  die 
Häuser  der  Kolonie  sauber  in  kleinen  Holzmodellen 
nachgeschnitzt ;  der  Inhaber  zeigte  sie  eben  nicht  ohne 
Selbstbewußtsein  einer  Dame,  die  vielleicht  als  Spiel- 
zeug eines  oder  das  andere  kaufen  will.  Am  Ende  der 
Kolonie  treffen  wir  einige  größere  Gebäude,  Kranken- 
häuser, Erholungsheime,  Altersasyle.  Alles  atmet  be- 
schaulichen Frieden,  künstlerisch  verfeinertes  Behagen, 

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eine  Insel  der  Ruhe.  Selbst  die  Essener  Luft,  die  im- 
mer mit  Kohlenstaub  und  Schmieröl  gesättigt  ist, 
scheint  diese  Oase  zu  verschonen;  würzige,  natürliche 
Luft  läßt  endlich  wieder  einmal  die  Lungen  freier 
atmen.  Eine  Hölle  ist  dieser  westfälische  Industrie- 
bezirk. Es  ist  ein  unerträglicher  Gedanke,  daß  hier 
Hunderttausende,  Millionen  Menschen  leben  müssen, 
in  einer  Welt,  wo  die  dürftigen  Grashalme  und  die 
Kohlblätter  der  Eisenbahnböschungen  schon  land- 
schaftliche Schönheit  darstellen.  Wie  kam  das  Para- 
dies plötzlich  mitten  in  das  Reich  gigantischer  Un- 
holde, die  sich  vom  Blut  des  Lebens  nähren  und  alle 
Schönheit  verschlingen? 

Wenn  man  in  Essen  sich  erkundigt,  was  irgendein 
Gebäude,  eine  Ansiedelung,  ein  Werk  sei,  so  hört  man 
fast  immer  das  Zauberwort:  Krupp.  Keine  absolute 
Monarchie  hat  jemals  in  allen  ihren  Teilen  so  uniform 
den  Stempel  des  Herrschers  getragen,  als  Essen  die 
Marke  Krupps.  Es  ist  eine  Stadt,  die  um  einen  In- 
dustriethron herum  gebaut  ist.  Auch  dieses  Eiland 
gehört  Krupp,  ist  eine  Kruppsche  Schöpfung.  Mitten 
in  der  Kolonie  gewahrt  man  jetzt  auch  ein  Denkmal 
—  einen  Granitblock,  in  dem  das  Medaillon  des  jun- 
gen Krupp  eingefügt  ist,  und  eine  Inschrift  belehrt 
uns,  daß  dankbare  Arbeiter  aus  ihren  Groschen  den 
Stein  ihrem  teuren  Wohltäter  errichtet  haben. 

Es  ist  Altenhof,  der  soziale  Stolz  Essens,  der  Triumph 
der  großindustriellen  Wohlfahrt,  die  Altersstätte  der 
Kruppschen  Invaliden,  wo  sie  geruhig  den  Rest  ihrer 
Tage  zubringen  können,  ohne  Arbeit,  sofern  sie  nicht 
etwa  noch  fähig  sind,  sich  mit  Flechtarbeit  einen 
letzten  Nebenverdienst  zu  schaffen.  Dieser  Rest  der 
Tage  muß  nicht  eben  groß  sein,  sonst  müßte  die 
Kolonie  viel  umfangreicher  sein.  Die  alten  Ehepaare, 
die  hier  hausen,  beeilen  sich  offenbar,  das  Paradies  zu 
verlassen.  Stirbt  einer  der  Gatten  und  kann  sich  der 
Überlebende  allein  nicht  mehr  helfen,  so  verläßt  er 


das  Einzelhaus  und  wird  in  das  Massenquartier,  das 
Altersheim,  gebracht,  bis  er  von  dem  Friedhof  der 
Lebenden  in  den  Friedhof  der  Toten  übersiedelt,  auf 
dem  es  keine  Kindergräber  gibt. 

Altenhof  —  müssen  hier  nicht  endlich  die  Lästerer 
des  Kapitalismus  verstummen  und  die  zornigsten  An- 
kläger des  Unternehmertums  schamvoll  die  giftige 
Zunge  hemmen  ?  Wie  herrlich  ist  doch  die  Entwicke- 
lung!  Nichts  mehr  davon,  daß  sich  die  Alten,  Invali- 
den, Siechen  mit  der  wimmernden  Drehorgel  an  die 
Landstraße  setzen  müssen.  Sorglos  wohnen  sie  im 
eigenen  Heim.  Und  diese  Häuser  haben  auch  nichts 
mehr  von  der  grauenhaften  Öde  der  Arbeiterhäuser, 
dieser  geschwärzten  Backsteingräber  ohne  Farbe,  ohne 
Form,  wie  sie  die  Kruppsche  Wohlfahrt  der  älteren 
Periode  noch  massenhaft  als  Zeugnisse  der  barbari- 
schen kapitalistischen  Vorzeit  hingestellt  hat.  Hier 
vermählte  sich  die  Kunst  mit  der  Arbeit  und  dem 
weisen  sozialen  Herzen  eines  Wohltäters  .  .  . 

Aber  wo  ist  die  glückselige  Bevölkerung  dieses  so- 
zialen Paradieses?  Es  scheint  wie  ausgestorben.  vOder 
sollten  etwa  diese  bleichen  greisen  Gestalten,  die  er- 
loschenen Blickes,  müde  und  interesselos  die  sauberen 
Straßen  entlang  schleichen,  die  Einwohner  sein  ?  Wozu 
dann  der  bunte  Tand,  der  dann  doch  nicht  mehr  wäre, 
als  ein  bunter  Sarg?  Aber  jetzt  sehe  ich  diese  Ge- 
stalten auch  in  den  Erkern,  an  den  Fenstern,  zwischen 
dem  lustigen  Blumengestrüpp  der  Gärten.  Haben  sie 
alle  die  Sprache  verloren,  daß  sie  nicht  plaudern,  scher- 
zen, lachen  ?  Wie  Gespenster  wandeln  sie  und  stehen 
sie.  Verlorene,  versonnene  Seelen,  fast  wie  man  sie  in 
jenen  unheimlichen  Totenhainen  der  Irrenhäuser  sieht, 
wo  die  melancholisch  Irren  stumm  beieinander  stehen, 
nur  nach  Einem  unverwandt  schauend,  dem  Tode. 

An  einem  Gartenzaun  sehe  ich  ein  altes  Ehepaar, 
das  freundlich  blickt  und  in  deren  bleichen  Gesichtern 
doch  noch  einiges  Leben  sich  regt.   Ich  bitte  um  die 

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Erlaubnis,  die  Wohnung  besichtigen  zu  dürfen.  Bereit- 
willig, fast  mit  etwas  eitler  Genugtuung,  führen  mich 
die  freundlichen  Alten.  Wie  ich  in  die  Türe  trete, 
nehme  ich  den  Hut  ab.  Der  Alte,  dem  ein  Arm  fehlt, 
wehrt  energisch  ab.  Ich  soll  den  Hut  aufbehalten,  er 
sei  nur  ein  einfacher  Arbeitsmann.  Er  wird  böse,  als 
ich  dennoch  barhäuptig  bleibe.  Und  ich  muß  mit  dem 
Hut  auf  dem  Kopf  das  kleine  Anwesen  besichtigen, 
zwei  Zimmer,  und  oben  unter  dem  Dach,  wie  er  sagt, 
noch  eine  Kammer.  Alles  ist  sauber  und  hell,  aber 
innen  ist  nichts  mehr  von  der  künstlerischen  Kultur 
des  Äußeren.  Der  Essener  Spaziergänger,  der  Wohl- 
fahrtsbummler, geht  ja  nur  vorbei.  Da  genügt  die 
Fassade.  Die  innere  Ausstattung  haben  die  Invaliden 
selbst  zu  besorgen.  Also  sind  die  billigsten,  geschmack- 
losesten Tapeten  angeklebt.  Der  Hausrat  ist  armselige 
ßazarware.  Das  lohnt  sich  für  den  Wohltäter  nicht, 
sich  auch  darum  zu  sorgen,  was  niemand  sieht.  Künst- 
lerischer Hausrat  —  das  geht  über  die  Kraft  und  die 
—  Lust.  Aber  nein,  man  soll  nicht  ungerecht  sein. 
Es  ist  zu  gestehen,  daß  Krupp  auch  für  die  Kunst  im 
Leben  der  Invaliden  sorgt.  Die  Wände  und  Schränke 
sind  behangen  und  bestellt  mit  Kruppbildern  in  Stein- 
druck und  Photographie  und  Gips.  Dutzendfach  ist 
der  alte  und  der  junge  Herr  zu  sehen,  sehr  geschmack- 
los und  sehr  billig.  Aber  der  Hausbewohner  weist  auf 
sie  mit  nicht  geringerer  Andacht  hin,  als  der  russische 
Bauer  seine  Heiligenbilder  verehrt. 

Nichts  anderes  kennt  der  alte  Mann.  Seine  ganze 
Seele  ist  ausgefüllt  mit  dem  Bilde  seines  Herrn.  Das 
hat  der  Kapitalismus  aus  dem  freien  Menschen,  dem 
Ebenbild  Gottes,  gemacht:  Unterwürfige,  demütige 
Geschöpfe,  die  noch  dankbar  sind,  daß  sie  für  ihren 
Herrn  Millionen  erarbeiten  durften,  die  in  Rührung 
vergehen,  weil  sie  in  Frieden  wohnen  können,  nach- 
dem ihnen  die  Arbeit  das  Mark  des  Lebens  bis  zum 
letzten  Atom  ausgeschürft  hat. 

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1 


Denn  kaum  einer  kommt  in  dieses  Paradies,  der  noch 
wahrhaft  lebt.  Es  ist  das  Ruheland  der  Abgeschiede- 
nen. Altenhof  ist  ein  Totenhof  von  Menschen,  die 
sich  noch  bewegen.  Aber  das  Lebensfeuer  ist  aus- 
geglüht. Wer  zwanzig  Jahre  Feuerarbeiter  gewesen, 
der  ist  kein  Mensch  mehr,  der  seines  Daseins  sich  be- 
wußt ist.  Keinen  Tag  früher  läßt  ihn  die  Arbeit  los, 
ehe  denn  alle  Kraft  bis  zum  Letzten  versiecht  ist. 
Hat  er  aber  aufgehört,  zu  denken,  zu  fühlen,  zu 
wollen,  zu  genießen,  versagen  Muskeln  und  Nerven 
völlig,  nun  dann  geht  er  ein  in  diese  geschminkten 
Gräber  als  tottraurige  Staffage  für  die  stolze  Augen- 
weide kapitalistischer  Wohlfahrt. 

So  weit  bringt  es  das  christliche  Unternehmertum 
in  seiner  unermeßlichen  Liebe  also  doch  —  bis  zum 
heiteren,  bunten,  leuchtenden  Friedhof  von  Leben- 
den, die  zwischen  ihren  eigenen  Gräbern  wandeln 
und  die  lustigen  Blumen  auf  ihnen  selber  begießen  . .  . 

[September  1907.] 


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Kommunismus  des  Geistes 


Die  ältere  Generation  der  deutschen  Sozialdemo- 
kratie hat  das  geistige  Lesen  an  zwei  Männern  gelernt, 
die  Inbegriff  und  Steigerung  aller  überkommenen  Bil- 
dung waren :  An  Lassalle  und  Karl  Marx.  Es  war  eine 
wenigstens  in  der  deutschen  Geschichte  durchaus  neue 
Erscheinung,  daß  die  tiefste  Wissenschaft  selbst  sich 
unmittelbar  an  die  ungelehrten  Massen  wandte.  Alle 
deutschen  Denker  vor  ihnen  sprachen  immer  zu  einer 
Gemeinde  von  Auserwählten,  und  sie  waren  ängstlich 
bemüht  nachzuweisen,  daß  sie  nicht  daran  dächten, 
dem  gemeinen  Volke  zu  predigen.  Sie  lehrten  die 
Menschheit  in  ihrem  Begriff,  nicht  in  ihrer  Materie. 
Der  Stil  der  deutschen  Philosophie  ist  freilich  wesent- 
lich bestimmt  durch  die  Zwangsweisungen  des  Allge- 
meinen Landrechts,  das  die  Nation  in  ihrer  Gesamt- 
heit von  der  Bildung  ausschloß  und  den  Versuch  der 
Unberufenen,  unmittelbar  dem  Volke  gefährliche  Ge- 
heimnisse zu  entschleiern,  als  Hochverrat  ahndete. 
Immerhin,  die  Scheidung  einer  gelehrten  Minderheit 
und  einer  unwissenden  Menge  wurzelte  tief  in  dem 
Bewußtsein  der  klassischen  Denker.  Fichte  entwarf 
nach  Pestalozzis  Vorbild  seine  kommunistischen  Bil- 
dungsinseln, auf  denen  in  strenger  Abgeschlossenheit 
von  der  lebendigen  Verwesung  einer  entarteten  Kul- 
tur erst  einmal  die  Gesamtheit  der  Jugend  erzogen 
werden  sollte,  damit  sie  dann  fähig  würden,  Bürger 
eines  geschlossenen  Handelsstaates  zu  sein;  seine  Re- 
den an  die  deutsche  Nation  waren  nichts  wie  eine 
Propädeutik  für  ein  kommunistisches  Gemeinwesen, 
dessen  literarische  Ausführung  den  Philosophen  die 
letzten  Lebensjahre  beschäftigte,  ohne  daß  dieses 


15 


bisher  nur  in  Bruchstücken  bekannt  gewordene  sozia- 
listische System  der  letzten  Periode  bisher  vollständig 
veröffentlicht  wäre.  Die  Meinung  war  also  besten- 
falls, daß  das  Volk,  das  gemeine  Volk,  erst  durch  eine 
allgemeine  Bildungsschule  hindurchgehen  müßte,  ehe 
es  tätiges  und  gleichberechtigtes  Bürgertum  werden 
könnte.  Der  Unterschied  zwischen  Esoterikern  und 
Exoterikern  war  doch  noch  genau  so  stark  auf  welt- 
lichem Gebiet,  wie  der  zwischen  Klerikern  und  Laien 
im  Kirchenstaat.  Mit  dem  Aufwuchs  der  proletari- 
schen Bewegung  nun  schwand  dieser  Unterschied, 
der  Tendenz  nach.  Die  höchste  Bildung  sollte  Ge- 
meingut gerade  der  tiefsten  Masse  werden;  das  Ver- 
trauen zur  schaffenden  Gleichheit  aller  menschlichen 
Vernunft  war  so  groß,  daß  man  überzeugt  war,  die 
bloße  Zwischenkunft  der  großen  Erzieherin,  der 
menschlichen  Not,  genüge,  um  die  Geister  fähig  zu 
machen,  den  Ertrag  tausendjähriger  Gedankenarbeit 
zu  erfassen,  und  zwar  nicht  nur  im  Inhalt  des  Wis- 
sens, sondern  auch  in  der  Methode  der  Forschung. 

Dieses  kühnste  Experiment  und  dieser,  wie  es 
scheint,  ausschweifendste  Anspruch  hatte  den  un- 
geheuersten Erfolg,  bloße  geistige  Forderung  be- 
stimmte von  vornherein  die  überlegene  Würde  und 
den  selbstbewußten  Stolz  der  proletarischen  Bewe- 
gung. In  dem  weltgeschichtlichen  Klassenkampf  des 
Bürgertums  mit  der  Feudalität  war  die  politisch  unter- 
drückte Klasse  nicht  nur  wirtschaftlich  herrschend 
gewesen,  sondern  sie  war  auch  im  Vollbesitz  aller 
Bildung,  in  Wissen  und  geistiger  Schulung  dem  Adel 
weit  überlegen.  In  der  proletarischen  Bewegung 
setzte  sich  das  unvergleichlich  gewaltigere  Unter- 
nehmen durch,  begehrte  sich  durchzusetzen,  daß 
eine  Klasse,  die  vom  Besitz  und  der  Bildung  aus- 
gesperrt war,  die  an  technischem  Wissen  und  in- 
tellektueller Schulung  tief  unter  der  beherrschenden 
Klasse  stand,  sofort,  anscheinend  durch  die  Auf- 

16 


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« 


Stellung  der  idealen  Forderung  allein,  sich  weit  über 
die  mit  allen  Hilfsmitteln  ausgerüstete  Klasse  in  der 
Moralität  der  geistigen  Verfassung  erheben  sollte. 
Das  hohe  Ziel  zeugte  durch  sich  selbst  erhöhte  Wirk- 
lichkeit. Die  proletarische  Bewegung  hatte  in  der 
Tat  seit  ihren  Anfängen  diese  Überlegenheit  bei- 
behalten, zu  der  sie  ihre  ersten  Meister  aufriefen; 
wenn  nicht  in  allen  Einzelleistungen,  so  durchaus  in 
ihrer  Gesamtstimmung.  Die  Grundanschauung  von 
dem  möglichen  Gemeinbesitz  der  Bildung  ist  durch 
die  Entwicklung  der  sozialdemokratischen  Kultur- 
arbeit über  jeden  Zweifel  gestellt  worden.  So  sehr 
immer  auch  die  Verwirklichung  hinter  der  Forderung 
zurückbleiben  möchte,  die  ideale  Richtung  des  sozial- 
demokratisch erzogenen  Proletariats  weist  zu  jenen 
Höhen,  die  ihm  am  Ausgang  gezeigt  waren.  Die 
proletarische  Presse  hat  sich  bisher  all  den  aufdring- 
lichen Verführungen  entzogen,  so  volkstümlich  ordinär 
wie  die  Lokal-  und  Generalanzeiger  zu  werden.  Wo 
sich  das  Proletariat  als  Kunstgemeinde  organisiert 
hat,  wie  in  den  freien  Volksbühnen  einiger  Groß- 
städte, da  begehrt  es  ausschließlich  die  höchsten 
Schöpfungen  der  Weltkünstler.  Die  Arbeiter  sind  das 
beste  Publikum  für  ernste  Kunst  geworden.  Wirk- 
liches politisches  Interesse  findet  man  außerhalb  ganz 
enger  bürgerlicher  Zirkel  nur  im  Proletariat;  insbe- 
sondere ist  der  gebildete  und  der  ungebildete  Mittel- 
stand politisch  tot.  Umfangreiche  wissenschaftliche 
Werke  schwierigen  Inhalts  werden  außer  von  Pro- 
fessoren nur  noch  von  Arbeitern  gekauft  und  gelesen. 
Eine  politische  und  soziale  Aufklärungsliteratur  stren- 
geren Stils  ist  in  Riesenauflagen  im  Proletariat  ver- 
breitet worden.  Wenn  einmal  ein  Wahlrecht  nach 
der  politischen  Bildung  abgestuft  werden  sollte,  das 
Proletariat  brauchte  um  das  Bestehen  des  Examens 
nicht  besorgt  zu  sein,  wie  denn  klar  ist,  daß  wirk- 
liches politisches  Leben  überhaupt  nur  in  der  Ar- 

-«    Eitn^r,  Gesammelt«  Sehr Htra.    II.  iy 


beiterschaft  herrscht.  Diese  durch  schwere  Tages- 
arbeit abgerackerten  Proletarier  setzen  sich  abends  in 
ihre  Stube  und  lesen  von  Anfang  bis  zum  Ende  ihre 
oft  schwerflüssige  Zeitung,  sie  gehen  in  politische  Ver- 
sammlungen und  beschäftigen  sich  in  wissenschaft- 
lichen Vorträgen  und  Diskussionsabenden  mit  den 
dunklen  Problemen  der  menschlichen  Gesellschaft. 
Von  der  Partei  und  Gewerkschaft  ist  in  der  Tat  so 
etwas  geschaffen  worden,  wie  eine  pädagogische  Pro- 
vinz, in  der  das  Proletariat  für  seine  geschichtliche 
Mission  erzogen  wird. 

Indessen,  in  demselben  Maße,  in  dem  sich  der 
Kommunismus  der  Bildung  aus  eigener  Kraft  der 
Masse,  der  Tendenz  nach,  siegreich  durchringt,  um 
so  größer  werden  doch  die  Schwierigkeiten  des  Aus- 
gleichs zwischen  den  idealen  Möglichkeiten  und  den 
harten  Realitäten.  Jeder,  dem  das  Glück  beschieden 
ist,  im  Proletariat  zu  wirken,  wird  Stunden  haben, 
in  denen  ihn  der  Zwiespalt  niederbeugt.  Und  um  die 
Depression  zu  überwinden,  muß  er  immer  dann  ein 
wenig  in  die  Öde  studentischer  und  gut  bürgerlicher 
Kreise  hinabtauchen,  um  den  ganzen  Unterschied 
proletarischer  Regsamkeit  und  bürgerlicher  Stumpf- 
heit tröstlich  zu  verspüren.  Aber  gerade  weil  in  der 
Arbeiterschaft  die  Möglichkeit  zur  vollkommenen 
Kulturentfaltung  gegeben  ist,  darum  quält  die  Ein- 
sicht in  die  scheinbar  unüberwindlichen  Schwierig- 
keiten, die  ihr  Schranken  setzen. 

Die  alte  Generation  der  Arbeiterführer  gewann  die 
Formen  ihrer  Weltanschauung,  indem  sie  die  großen 
Ideen  und  die  kühn  aufstrebende  Logik  jener  Meister 
des  Sozialismus  buchstabierte.  Das  Material  der 
aktuellen  Politik  und  der  Einzelwissenschaften  blieb 
zunächst  außerhalb  ihres  Gesichtsfeldes.  Sie  gewan- 
nen erst  den  festen  Grundriß  ihres  Geistes,  dann 
wuchsen  sie  allmählich  in  der  öffentlichen  Betätigung 
selbst  in  die  Wirklichkeit  der  lebendigen  Dinge  hin- 

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ein.  Sie  füllten  die  allgemeinen  Formen,  die  sie  be- 
herrschten, stofflich  aus.  Die  Entwicklung  der  ein- 
zelnen hielt  gleichen  Schritt  mit  dem  Aufstieg  der 
allgemeinen  Bewegung  aus  kleinsten  einfachsten  An- 
fängen. Ganz  anders  heute!  Indem  die  heutige  Ar- 
beitergeneration in  das  öffentliche  Leben  eintritt, 
flutet  über  sie  eine  unübersehbare  Menge  von  Einzel- 
erscheinungen, die  schon  ab  bekannt  vorausgesetzt 
werden.  Jede  Zeitungsnummer  redet  in  Namen,  Be- 
griffen, Tatsachen  zunächst  eine  völlig  fremde  Sprache. 
Das  ganze  Leben  in  seiner  unermeßlichen  Mannig- 
faltigkeit richtet  sich  vor  ihrem  Geiste  auf  einmal  auf 
und  heischt,  von  ihr  bewältigt  zu  werden.  In  karg 
bemessenen  ermüdeten  Stunden,  mit  den  primitivsten 
Hilfsmitteln,  ohne  vorher  irgendwie  ausgerüstet  zu 
sein,  soll  der  junge  Arbeiter  das  ganze  Chaos  der 
Probleme  im  ordnenden  Bewußtsein  einheitlich  be- 
wältigen. Die  Gefahr  liegt  nahe,  daß  er  bei  allem 
hingebenden  Eifer  dem  Anprall  erliegt  und  statt  der 
geistigen  Durchdringung  sich  auf  eine  äußerliche  buch- 
stabenmäßige, unsicher  tastende  und  flüchtig  glei- 
tende Aneignung  beschränkt.  Heutige  Zeitungen,  Ver- 
sammlungsreden, auch  Broschüren  und  Bücher,  selbst 
Bildungsvorträge  einfachster  Art  setzen  doch  immer 
schon  ein  Maß  von  Kenntnissen  voraus,  die  der  junge 
Arbeiter  nicht  besitzt.  Oft  macht  ein  einziges  Fremd- 
wort, das  er  wegen  Mangels  an  sprachlicher  Vor- 
bildung nicht  genau  erfassen  kann,  ihm  unendliche 
Schwierigkeiten,  und  das  halbe  ahnende  Verständnis 
gewöhnt  ihn  daran,  in  Worten  und  Vokabeln,  statt  in 
Sachbegriffen,  frei  nachschaffend,  zu  argumentieren. 

Die  Volksschule  versagt  völlig.  Sie  gibt  ihm  schlech- 
terdings nichts  für  das  Leben  mit.  Ich  habe  oft  in 
meinen  Bildungsvorträgen,  die  ich  auch  in  entlegenen 
kleinen  Orten  halte,  Gelegenheit,  erschreckt  zu  be- 
obachten, wie  wehrlos  die  Volksschule  die  Jugend 
macht,  anstatt  sie  zu  rüsten  für  die  künftigen  Auf- 

«•  19 


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gaben  eines  Staatsbürgers.  Die  Anfüllung  der  Ge- 
hirne mit  kirchlichen  und  geschichtlichen  Legenden 
ist  ein  Verbrechen  an  der  Schule  und  den  Menschen, 
die  ihr  anvertraut  sind.  Die  wenigen  Jahre,  die  die 
Proletarierkinder  in  einiger  Freiheit  ihrer  Ausbildung 
widmen  könnten,  werden  vergeudet.  Es  kann  gar 
nicht  anders  sein;  eine  Schule,  die  beabsichtigt,  die 
Heiligkeit  des  Vergangenen  den  Seelen  einzuprägen, 
muß  künftige  Krüppel  erziehen.  Jede  fruchtbare  Bil- 
dung kann  immer  nur  von  einem  großen  Zukunftsziel 
ausgehen.  Die  Volksschule  will  bewußt  von  der  Kul- 
tur absperren,  weil  sie  von  einem  Staate  unterhalten 
wird,  dessen  herrschende  Klassen  fürchten,  daß  eine 
zu  geistiger  Begehrlichkeit  erzogene  Jugend  und  ein 
für  die  Aufnahme  aller  Bildung  gerüstetes  Proletariat 
nicht  mehr  geneigt  ist,  sich  den  kapitalistisch-feudalen 
Arbeitsbedingungen  zu  unterwerfen,  unter  die  die 
große  Masse  der  heutigen  Menschheit  gebeugt  ist. 
So  wird  die  spätere  Selbsterziehung  des  Proletariats 
nicht  durch  die  Schule  vorbereitet  und  ermöglicht, 
sondern  im  Gegenteil:  die  Bildungsarbeit  muß  erst 
mit  der  Forträumung  des  Schulgestrüpps  beginnen. 
Die  Volksschule  liefert  die  Kinder  an  das  Leben  aus, 
ohne  wissenschaftliche,  künstlerische,  politisch-soziale 
Disposition.  Das  Lehrziel  der  heutigen  Massenschule  ist 
erreicht,  wenn  der  reifende  Mensch  in  Dunkelheit  und 
Unkenntnis  über  sich  gedrillt  ist.  Die  proletarische 
Bewegung  braucht  aber  Köpfe,  die  dem  Bürgertum 
nicht  nur  gewachsen,  sondern  überlegen  sind. 

Wie  können  die  Arbeiterorganisationen  mit  ihren 
bescheidenen  Mitteln  diese  Aufgabe  lösen  ?  Ein  ganzes 
Heer  von  Wissenschafts-  und  Kunstbeamten  wird 
besoldet,  nur  um  ein  paar  tausend  Söhne  der  besitzen- 
den Klassen  für  die  Regierung  und  Verwaltung,  für 
den  Rechts-  und  Medizinbetrieb,  für  die  Forschung 
und  die  Kunst  zu  erziehen.  Der  Staat  verfügt  über 
eine  zahllose  Menge  von  besoldeten  Sachverständigen, 

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deren  ganze  Lebensaufgabe  darin  besteht,  irgendein 
Teilproblem,  eine  einzelne  Frage  des  politischen  und 
sozialen  Lebens  zu  bearbeiten.  Was  die  gesamte 
Staatsmacht  für  eine  winzige  Minderheit,  nicht  einmal 
allzu  reichlich,  leistet,  sollen  die  Millionen  der  Besitz- 
losen aus  eigener  Kraft  sich  selber  geben.  Ist  diese 
Aufgabe  einer  wissenschaftlichen,  künstlerischen,  sitt- 
lichen und  auch  körperlichen  Gesamterziehung  durch 
sich  selbst  überhaupt  denkbar,  geschweige  zu  lösen? 
Ohne  die  stärksten  Erzieher,  das  harte  Leben  selbst 
und  den  aufs  höchste  gespannten  Willen,  wäre  die 
Aufgabe  freilich  eine  leere  Utopie.  So  aber  hat  sie 
die  moderne  Arbeiterschaft  in  der  Tat  übernommen, 
und  sie  ist  rüstig  an  das  Werk  gegangen,  ohne  vor  den 
Hindernissen  zurückzuschrecken.  Sie  weiß,  daß  sie 
helle  Köpfe  braucht.  Seit  dem  Mannheimer  Parteitag 
stehen  die  Bildungsbestrebungen  im  Vordergrund  des 
Interesses,  und  wenn  vielleicht  die  Bewegung  selbst 
äußerlich  in  den  letzten  Jahren  stiller  geworden 
scheint  und  weniger  in  die  Ohren  wirkend,  so  ist  es 
eben  die  geräuschlose  und  tiefe  Arbeit  scheinbaren 
Rastens,  die  unabhängig  von  allen  lauten  Erfolgen  des 
politischen  Marktes  vorwärtsdringt  und  Zukunft  säet. 

Unbeachtet  blieb  dieses  stille  Erziehungswerk  nicht. 
Mit  dem  Kriminalblick  des  Jahrhunderte  hindurch 
geübten  Polizei meisters  hat  die  preußische  Staats- 
gewalt die  Massenbildung  seit  jeher  nicht  aus  den 
Augen  verloren  und  stetig  beobachtet.  In  dem  mit 
Hilfe  eines  entarteten  Liberalismus  geschaffenen 
Reichsvereinsgesetzes  erkennt  man  deutlich  die  Spuren 
der  Befürchtungen.  Der  Ausschluß  der  jugendlichen 
Arbeiter  unter  18  Jahren  von  politischen  Versamm- 
lungen ist  gegen  die  neuen  Jugendbildungsbestre- 
bungen der  deutschen  Arbeiterschaft  gerichtet.  Längst 
sind  die  maßgebenden  Kreise  auf  die  Lücke  aufmerk- 
sam geworden,  die  zwischen  der  wahrhaft  preußischen 
Volksschule  und  dem  Eintritt  in  den  nicht  minder 

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wahrhaft  preußischen  Militärdienst  klafft.  In  dieser 
Zeit  vom  14.  bis  18.  Lebensjahr  rafft  sich  die  stür- 
misch aufdrängende  Kraft  die  Elemente  der  künftigen 
Weltanschauung,  die  später  nicht  mehr  überwunden 
wird,  wenigstens  nicht  bei  den  bereits  ins  Erwerbs- 
leben gestellten  drei  Millionen  Arbeiter  und  Arbei- 
terinnen unter  18  Jahren.  Es  läßt  sich  voraussehen, 
daß  die  negative  Jugendklausel  im  Reichsvereinsgesetz 
eine  positive  Ausfüllung  durch  irgendeine  Form  staat- 
lichen obligatorischen  Jugendunterrichts  finden  wird. 
Daß  man  zunächst  alle  möglichen  gutgesinnten  Ju- 
gendvereinigungen gründen  wird,  um  jene  Lücke  aus- 
zufüllen, ist  ebenfalls  selbstverständlich. 

Außerhalb  solcher  besonderen  staatlichen  Schwierig- 
keiten aber  ist  die  ganze  deutsche  Entwicklung  ein 
schweres  Hemmnis  für  die  Durchdringung  der  ge- 
samten Nation  mit  dem  Kulturbewußtsein,  das  die 
geistige  und  materielle  Arbeit  der  Jahrtausende  er- 
obert hat.  Kein  zivilisierter  Staat  ist  so  sehr  vom 
Kommunismus  der  Bildung,  dieser  Voraussetzung 
jeder  wirklichen  Nation,  entfernt,  als  gerade  Deutsch- 
land. Die  Spannung  zwischen  der  Welt  der  bürger- 
lichen Bildung  und  dem  Reich  der  handarbeitenden 
Masse  hat  nicht  nachgelassen,  sondern  zugenommen. 
In  Preußen  gibt  es  nur  ganz  selten  einen  Aufstieg  aus 
den  Massen  zu  den  Stellen  höherer  Ausbildung.  Der 
eine  Student  der  Juristerei  proletarischer  Herkunft, 
der  bestenfalls  im  Durchschnitt  jedes  Jahr  auf  preußi- 
schen Universitäten  angetroffen  wird,  ist  typisch  für 
die  antidemokratische  Richtung  der  deutschen  Ge- 
sellschaft. Niemals  hat  die  deutsche  Literatur  Männer 
hervorgebracht,  die  so  in  das  unmittelbare  staatlich - 
gesellschaftliche  Leben  und  in  alle  Breiten  und  Tiefen 
des  Volkes  gewirkt  haben,  wie  die  Heroen  in  anderen 
Kulturen.  Wie  eingesperrt  in  enge  Zirkel  ist  schließ- 
lich ein  Lessing  oder  ein  Schiller  (die  übrigens  durch 
den  Zwang  der  Rechtsordnung  apolitisch  sein  mußten) 

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gegen  die  weltbewegenden  Voltaire  oder  Rousseau. 
Wo  haben  wir  heute  in  Deutschland  einen  Zola  oder 
Anatole  France,  einen  Edmondo  de  Amicis  oder  Björn- 
son,  einen  Tolstoi  oder  Gorki,  einen  Ruskin  oder 
Crane!  Wo  ist  bei  uns  die  University  extension,  die 
in  den  angelsächsischen  Kulturen  blüht,  wo  die  Stu- 
denten, die  ihr  höheres  Wissen  dermaßen  in  den  Dienst 
des  allgemeinen  Unterrichts  stellen  ?  Steigt  einmal 
ein  Professor  zu  den  Massen  bei  uns  herab,  so  will  er 
bekehren.  Daher  das  tiefe  Mißtrauen  gegen  alle 
Volksbeglückerbestrebungen  von  oben,  das  in  der 
deutschen  Arbeiterschaft  häufig  herrscht. 

Diese  nationale  Zerreißung  wirkt  zunächst  un- 
günstig auf  die  Intellektuellen  selbst.  Wissenschaft 
und  Kunst  werden  exklusiv,  verschwenden  ihre  Kraft 
in  den  geistig  minder  begehrlichen  privilegierten  Klas- 
sen und  werden  schließlich  in  ihrem  innersten  Wesen 
deformiert,  indem  sie  sich  einerseits  den  Weisungen 
der  Staatsgewalt  und  dem  Geschmack  des  kaufkräfti- 
gen Publikums  anpassen,  sodann  aber,  ihre  innere  Un- 
fruchtbarkeit für  eine  wahrhaft  nationale  Bildung 
empfindend,  sich  in  spezialistischen  Dünkel  verlieren. 
Losgelöst  von  dem  Mutterboden  des  Volkstums  wer- 
den ihre  Träger  ein  Erzeugnis  der  Familieninzucht 
und  erreichen  so  auch  an  persönlicher  Fähigkeit  bei 
weitem  nicht  das  mögliche  Maß. 

In  der  Rückwirkung  auf  die  Masse  der  geistig  Ent- 
behrenden und  Begehrlichen  äußert  sich  diese  bekla- 
genswerte Trennung  der  Intellektuellen  von  der  auf- 
steigenden Klasse  darin,  daß  es  nun  auch  im  deut- 
schen Proletariat  an  erziehenden  Kräften  mangelt. 
Es  schwillt  zwar  das  geistige  Proletariat  an,  aber  diese 
Kraft  liegt  brach,  verkümmert  und  wird  nicht  nutz- 
bar gemacht  für  die  Kulturbewegung  des  Proletariats. 
In  den  großen  Industriezentren  kann  für  die  geistigen 
Bedürfnisse  der  Arbeiterschaft  noch  allenfalls  gesorgt 
werden.  Sowie  man  aber  von  der  Heerstraße  abbiegt, 


23 


trifft  man  überall  in  Deutschland  jene  Arbeiter- 
organisationen, die  sich  mit  unsäglich  rührendem 
Eifer  wissenschaftlich  und  künstlerisch  zu  bilden 
suchen  und  die  doch  aus  der  Wirrnis  nicht  heraus- 
kommen, weil  es  ihnen  an  jeder  Anregung  durch  eine 
berufsmäßig  geschulte  Kraft  fehlt.  Die  große  Ge- 
meinde der  Freien  Volksbühne  in  Berlin  hat  wohl  die 
Mittel,  die  Arbeiterschaft  zum  Genüsse  der  neunten 
Symphonie  zu  sammeln.  In  Berlin  ist  eine  Arbeiter- 
bildungsschule möglich,  gedeihen  gewerkschaftliche 
Fortbildungskurse,  ist  sogar  eine  Arbeiterakademie  ge- 
gründet worden.  Ähnliche  Bestrebungen  sind  noch 
in  einigen  anderen  großen  Städten  erfolgreich.  Aber 
wer  in  die  Provinz  hinausgeht,  der  hat  etwa  Gelegen- 
heit einer  Märzfeier  beizuwohnen,  zu  der  die  strebende 
Arbeiterschaft  des  Ortes  mit  großen  Opfern  —  schon 
die  Ersetzung  der  Kosten  der  Eisenbahnfahrt  ver- 
schlingt die  mühseligen  Beiträge  von  Monaten  — 
zwar  einen  bekannteren  Festredner  aus  der  Ferne  sich 
hat  kommen  lassen,  wo  dann  aber  eine  elende  Dorf- 
kapelle zu  Ehren  der  Märzgefallenen  den  Walzer  au& 
der  Lustigen  Witwe  kratzt  und  ein  erbarmungswürdiger 
Gesangschor  in  dem  Mindestmaße  von  Zeit  das 
Höchstmaß  von  falschen  und  unreinen  Tönen  erzielt > 
Diese  Erscheinung  verdient  keinen  Spott,  sondern  sie 
enthält  die  tiefe  Tragik  der  besten  Elemente  der  Na- 
tion, die  nicht  nur  ausgeschlossen  sind  von  den  ma- 
teriellen Gütern  des  Lebens,  sondern  deren  heißer 
Drang  nach  geistigem  Brot  nur  mit  Steinen  befriedigt 
werden  kann.  Hier  entblößt  sich  aber  auch  die  schwerste 
Schuld  der  deutschen  Intellektuellen.  In  allen  Zentren 
lungern  müßig  und  verdrossen  junge  Gelehrte,  Künst- 
ler, Dichter,  Maler  und  Musiker,  die  ihr  Los  beklagen, 
weil  sie  ins  Leere  arbeiten.  Sie  darben  materiell  und 
seelisch,  da  sie  im  Grunde  keine  Mission  haben.  Die 
Arbeiterschaft  aber  wendet  verhältnismäßig  hohe  Be- 
träge von  ihren  niedrigen  Löhnen  an,  um  sich  die 

*4 


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Möglichkeit  wissenschaftlicher  und  künstlerischer  Er- 
ziehung zu  leisten.  Die  Nachfrage  nach  Kräften  ist 
groß,  das  Angebot  gering  und  oft  von  minderem  Wert. 
Ist  ein  Ausgleich  möglich,  wird  irgendwo  ein  Weg  sicht- 
bar, der  in  Deutschland  die  Intellektuellen  der  großen 
nationalen  Bildungsaufgabe  dienstbar  machen  könnte  t 

Es  ist  wenig  Hoffnung.  Jene  jungen  Leute  besserer 
wissenschaftlicher  Ausbildung  und  künstlerischen  Ta- 
lents müßten  vor  allem  sich  daran  gewöhnen,  ohne 
all  die  Eitelkeit  und  den  Plunder  eines  höheren  Men- 
schentums als  schlichte  Arbeiter  unter  die  Arbeiter 
zu  gehen,  ohne  irgendeinen  anderen  Ehrgeiz,  als  von 
ihren  Kräften  aus  reinem  Willen  der  Allgemeinheit 
zu  leisten,  was  sie  vermögen.  Dennoch  scheint  es  mir 
nicht  ganz  ausgeschlossen,  daß  sich  allmählich  in  den 
wissenschaftlichen  und  künstlerischen  Bezirken  Produ- 
zentenorganisationen bilden,  für  die  die  Arbeiter 
dann  die  Konsumgenossenschaften  bilden.  Insbeson- 
dere ließe  sich  auf  künstlerischem  Gebiete  eine  derar- 
tige Organisation  schaffen.  Eine  Gruppe  von  jungen 
ehrlich  strebenden  und  leistungsfähigen  Künstlern 
aller  Art,  die  der  Arbeiterschaft  für  all  ihre  festlichen 
Veranstaltungen  zur  Verfügung  stände,  könnte  auch 
wirtschaftlich  ihr  Fortkommen  als  Berater  und  Mit- 
wirkende der  Arbeiterbestrebungen  finden.  Auf  dem 
künstlerischen  Felde  wäre  das  Mißtrauen  leichter  zu 
überwinden,  als  auf  dem  wissenschaftlicher  Aufklä- 
rung. Aber  auch  hier  ist  eine  Annäherung  zwischen 
den  Lagern,  ein  ehrliches  Verhältnis  gegenseitigen 
Vertrauens  und  gegenseitiger  Bildung,  ein  immer 
dringender  werdendes  Bedürfnis. 

Der  Kommunismus  der  Bildung  ist  nicht  zum 
wenigsten  eine  Lebensbedingung  der  berufsmäßigen 
Bildner.  Das  Wesen  der  Bildung  selbst  steigt  mit  ihrer 
Verallgemeinerung.  Sie  wird  Natur,  indem  sie  Kultur 
der  Gesamtheit  durchführt;  und  vor  allem  würde  die 
Sozialisicrung  der  Bildung  jenen  geschichtlichen  Fluch 

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von  der  deutschen  Kultur  nehmen,  der  die  geistige 
Trainierung  in  Gegensatz  zur  Erziehung  des  Willens 
geleitet  hat.  Alle  Bildung  ist  letzten  Endes 
Strategie  des  Willens.  Das  Elend  der  deutschen 
Politik,  die  Ausschaltung  der  Nation  von  der  Leitung 
seines  eigenen  Schicksals,  die  politische  Farblosigkeit 
und  Unreife  der  deutschen  Nation,  die  kleinbürgerliche 
Unentschlossenheit  und  Charakterschwäche  eines  Vol- 
kes, das  sich  niemals  die  demokratische  Selbstbestim- 
mung erobert  hat,  beruht  in  der  Wurzel  auf  der  Zer- 
klüftung der  allgemeinen  Bildung,  die  nicht  nur  die 
Menschen  auseinandergerissen  hat,  sondern  auch  den 
Intellekt  und  den  Willen,  die  Idee  von  der  Tat.  Erst 
der  Kommunismus  der  Bildung  wird  aus  der  bloßen, 
sich  selbst  genügenden  Literatur  eine  Kultur  des 
Handelns  gestalten. 

[Mai  1908.] 

Anmerkung  1918.  Hier  wurden  vor  einem  Jahrzehnt 
Entwickelungen  angedeutet,  die  sich  heute  unter  dem  Mode- 
wort vom  tätigen  Geist  —  in  aristokratistelnder  Benommen- 
heit —  literarisch  aufdrängen.  Die  organisierte  Bildungs- 
arbeit im  deutschen  Proletariat  wuchs  immer  mehr  in  die 
Breite;  auf  dem  Nürnberger  Parteitag  191 8  erregte  ich  als 
ihr  ketzerischer  Kritiker  den  übereinstimmenden  Unmut  der 
Delegierten.  Ich  schlug  neue  Wege  vor,  die  aber  auch  — 
dort  wo  sie  versucht  wurden  —  nicht  zum  Ziele  führten. 
Das  Grundübel  steckte  in  der  verdorrten  Seele  der  Organi- 
sation. In  den  letzten  Jahren  vor  dem  Kriege  entstand  —  in 
merkwürdiger  Ubereinstimmung  mit  den  stürmischen  Emanzi- 
pationsregungen der  bürgerlichen  Jugend  —  auch  in  der 
proletarischen  Jugend  eine  neue  Geistigkeit,  die  auf  indi- 
viduelle Willensbildung  gerichtet  war;  das  war  die  ver- 
heißungsvolle Bewegung  der  „Achtzehnjährigen",  die  aber 
von  den  alten  Routiniers  der  Partei  und  Gewerkschaften  mit 
wachsendem  Mißtrauen  beobachtet  und  in  ihrer  Freiheit 
mehr  und  mehr  von  den  Aufsichtsinstanzen  beengt  wurden. 
Der  Krieg  hat  diese  jungen  Arbeiter  fortgeschleppt  und  die 
gleichgesinnten  Mädchen  Granaten  drehen  lassen. 

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Religion  des  Sozialismus 


Eines  Sonntags  im  Herbst  1908  sollte  ich  in 
einer  Volksversammlung  zu  Abenberg  spre- 
chen, einem  abseits  gelegenen  fränkischen  Städt- 
chen, zu  den  sieben  Orten  gehörig,  die  sich  um 
den  Ruhm  streiten,  die  allein  echte  Stammburg 
der  Hohenzollern  zu  bergen.  Es  ist  eine  katho- 
lische Enklave;  die  fleißigen  und  still  versonne- 
nen Frauen  mühen  sich  in  der  überlieferten 
Heimkunst  der  Silberspitzenklöppelei.  Es 
war  die  erste  sozialdemokratische  Versamm- 
lung im  Ort.  Ich  durfte  also  nichts  voraus- 
setzen und  mußte  unmittelbar  den  Zugang  zu 
den  unverbildet  empfänglichen  Gemütern  fin- 
den. Ich  hatte  angekündigt,  daß  ich  über  „Reli- 
gion des  Sozialismus"  sprechen  wollte.  Aber 
schon  die  Überschrift  hatte  man  nicht  ver- 
standen und  geglaubt,  ich  würde  über  „Reli- 
gion und  Sozialismus"  reden,  über  die  berühmte 
Privatsache  und  dergleichen.  Ich  hatte  mir  zu- 
vor vergebens  überlegt,  wie  ich  das  gewählte 
Thema  ausführen  könnte.  Noch  als  ich  im  Ver- 
sammlungssaal stand,  und  der  Vorsitzende  sich 
anschickte,  mir  das  Wort  zu  geben,  hatte  ich 
keinen  Plan,  nicht  einmal  den  Anfang.  Mich 
bedrückte  die  Fremdheit  dieser  Hörer.  Da,  im 
letzten  Augenblick,  als  ich  die  andächtig  sitzen- 
den Menschen  vor  mir  sah,  flogen  mir  die  Ge- 
danken und  Worte  zu,  und  ich  improvisierte 
die  Ausführungen,  die  ich  hier  in  einer  Jahre 
später  durch  den  Druck  verbreiteten  Skizze 
wiedergebe. 

Der  Vortrag  hatte  Folgen.  Der  Pfarrer  des 
Ortes,  der  zur  Versammlung  eingeladen,  aber 
nicht  erschienen  war,  predigte  vorher  und  nach- 


27 


her  fanatisch  in  der  Kirche  gegen  mich.  Da  er 
nicht  wußte,  was  ich  gesagt,  und  auch  meinte, 
ich  hätte  über  die  Stellung  der  Sozialdemokratie 
zu  Religion  und  Kirche  gesprochen,  holte  er 
gegen  mich  vor,  was  er  in  den  München-Glad- 
bacher Agitationsheften  gefunden  haben  mochte. 
Seine  Gemeinde,  soweit  sie  mich  gehört  hatte, 
wurde  durch  die  fortgesetzten  Angriffe  des 
Geistlichen  gegen  mich,  aufgebracht,  weil  man 
erkannte,  daß  er  gegen  eine  von  mir  gar  nicht 
gehaltene  Rede  schimpfend  loszog.  Und  als  der 
Pfarrer  schließlich  sogar  bei  einem  Begräbnis 
(eines  meiner  Hörer)  gegen  mich  predigte,  um 
angesichts  des  Todes  und  der  ewigen  Verdamm- 
nis vor  dem  Verführer  zu  warnen,  kam  es  zur 
offenen  Empörung  der  Gläubigen  gegen  ihren 
Hirten,  die,  wenn  ich  mich  recht  entsinne,  da- 
mit endigte,  daß  man  es  für  geraten  hielt,  den 
Heißsporn  an  einen  anderen  Ort  zu  versetzen. 

Es  gibt  Hunderte  von  Religionen  auf  der  Erde,  ver- 
schieden in  ihren  Vorstellungen  und  Lehren,  in  ihren 
Organisationsformen  und  ihrem  Verhältnis  zu  den 
staatlichen  und  gesellschaftlichen  Verfassungen.  Aber 
eines  ist  allen  Religionen  gemeinsam:  ihre  letzten 
Ursprünge  verlieren  sich  im  Dunkel  der  Vorzeit,  und 
auch  die  Formen,  in  denen  sie  sich  heute  noch  be- 
tätigen, sind  vor  vielen  Jahrhunderten  gebildet  wor- 
den. Die  jüngste  unter  den  großen  Weltreligionen, 
der  Islam,  ist  fast  dreizehn  Jahrhunderte  alt.  Seitdem 
sind  wohl  neuere  Sekten  entstanden,  auch  konfessionelle 
Abspaltungen,  aber  eine  wirkliche  neue,  machtübende 
Religion  ist  nicht  mehr  erwachsen.  Es  scheint  mithin, 
als  ob  die  Menschen  und  Völker  der  neuen  Zeit  die 
Kraft  verloren  hätten,  aus  ihren  eigenen  gegenwärtigen 
Lebensbedingungen  heraus  eine  Religion  zu  gestalten, 
gleichwie  die  Baumeister  der  Gegenwart  nicht  mehr 
vermögen,  jene  Wunderwerke  religiöser  Kulte  zu 
schaffen,  die  im  Mittelalter  errichtet  worden  sind. 

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Wie  seltsam,  daß  die  heutige  Menschheit  ihre  reli- 
giösen Bedürfnisse  in  geistigen  Gebilden  befriedigt, 
die  in  anderen  Ländern,  anderen  Völkern,  anderen 
Sprachen  und  von  Grund  aus  anderen  politischen, 
sozialen  und  kulturellen  Verhältnissen  sich  entfaltet 
haben!  Die  Religion  verheißt  uns,  die  schwersten 
Fragen  unseres  Daseins  zu  beantworten,  unsere  tiefsten 
Sehnsüchte  zu  befriedigen;  die  Fragen  und  die  Sehn- 
süchte wurzeln  in  unserm  heutigen  Leben,  drängen 
aus  den  Zuständen,  Gärungen,  Nöten  unserer  heutigen 
Zeit,  aber  die  Antworten  suchen  wir  in  der  Weisheit 
fremder  verschollener  Jahrtausende,  und  wir  stillen 
unsern  Durst  in  den  Zisternen,  die  in  der  Morgen- 
dämmerung der  Geschichte  befruchtender  Regen  ge- 
füllt hat. 

Liegt  hier  nicht  ein  unlösliches  Geheimnis  verborgen  ? 
Heißt  es  nicht  in  Wahrheit,  daß  unsere  religiösen 
Triebkräfte  erloschen  sind,  wenn  wir  uns  begnügen 
mit  der  Überlieferung  von  Religionen,  die  die  Völker 
überwundener  Kulturen  sich  gebildet  haben,  anstatt 
daß  wir  selbst,  gleich  unseren  Vorfahren,  die  Fähigkeit 
betätigen,  unser  Leben  von  heute  in  religiöser  Einheit 
zu  beseelen  ? 

Dieser  Widerspruch  wird  um  so  schroffer,  wenn  wir 
das  Wesen  aller  alten  Religionen  uns  vergegenwärtigen. 
In  allen  alten  Religionen,  die  heute  noch  herrschen, 
spiegeln  sich  deutlich  die  sozialen  und  politischen  Ver- 
hältnisse, die  natürlichen  und  geistigen  Lebensbedin- 
gungen ihrer  Entstehungszeit.  Sehen  wir  von  allen 
einzelnen  Religionen  ab,  so  erkennen  wir  insgemein, 
daß  sämtliche  alten  Religionen  aus  dreifacher 
Wurzel  erwachsen  sind:  aus  der  Ohnmacht 
des  Menschen  vor  der  Natur,  aus  der  Wehr- 
losigkeit  des  einzelnen  gegen  die  gesell- 
schaftliche Ordnung,  in  die  er  hineingeboren 
worden  ist,  aus  der  Furcht  der  Sterblichen 
vor  dem  Tode. 


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In  seiner  Religion  setzt  sich  der  Mensch  der  Ver- 
gangenheit zunächst  mit  den  ihn  bestimmenden  Na- 
turgewalten auseinander.  Die  Menschen  jener  Ver- 
gangenheit haben  keinerlei  Naturerkenntnis.  Alles  ist 
ihnen  wunderbar,  rätselhaft,  schrecklich.  Weil  sie  die 
Natur  nicht  kennen,  beherrschen  sie  sie  nicht,  und  weil 
sie  die  Naturkräfte  nicht  beherrschen,  fürchten  sie  sich 
vor  ihnen.  Dem  Gewohnten  lernen  sie  schließlich  ver- 
trauen, aber  jede  Unregelmäßigkeit  muß  ihnen  un- 
heimlich, grauenverkündend  erscheinen.  Religions- 
forscher haben  darauf  hingewiesen,  wie  sehr  die  Gottes- 
vorstellung des  Judentums,  aus  dem  das  Christentum 
entstanden  ist,  noch  durch  die  ursprüngliche  Heimat 
der  Israeliten  bestimmt  sind,  am  Fuße  eines  Vulkans, 
der  in  friedlichen  Zeiten  die  Weinberge  und  Saaten 
fröhlich  gedeihen  läßt,  aber  im  Zorn  alles  Leben 
ringsum  in  Glut  und  Asche  zerstört.  Der  Mensch 
jener  Zeiten  freut  sich  der  lebenspendenden  Sonne,  die 
vom  blauen  Himmel  herunterstrahlt.  Plötzlich  ballen 
sich  schwarze  Wolken  zusammen,  ein  wirbelnder  Sturm 
bricht  wie  aus  einem  unbekannten  Lande  heulend  her- 
vor, ein  furchtbares  Krachen  dröhnt  aus  dem  eben 
noch  so  stillen  Himmel,  und  feurige  Schlangen  laufen 
zischend  über  die  aufgeregte  Welt.  Und  plötzlich 
schnellt  eine  dieser  Schlangen  herab.  Die  Hütte,  die 
eben  noch  gegen  die  strömenden  Himmelsfluten  Ob- 
dach gewährte,  geht  in  Flammen  auf,  und  Menschen 
und  Tiere,  die  atmenden,  sind  auf  einmal  aus  dem 
Leben  geschleudert  —  Leichname.  Wie  soll  sich 
dieser  Mensch  das  schreckliche  Schauspiel  deuten,  er 
weiß  nicht,  was  ein  Gewitter  ist.  Aber  sein  Denken 
sucht  nach  einem  Grund  der  Zerstörung,  und  so  ent- 
steht die  Vorstellung  von  dem  strafenden  Gott,  der 
ihm  ob  seiner  Sünden  zürnt.  Zerknirscht  betet  er  und 
opfert  er,  um  den  Zorn  des  Gewaltigen  zu  beschwich- 
tigen. Und  siehe  da,  der  Himmel  heitert  sich  auf  und 
über  dem  ganzen  Gewölbe  spannt  sich  ein  wunderherr- 

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liches  Farbenspiel,  wie  ein  Zeichen  der  Erhörung, 
eine  Brücke  der  Versöhnung.  Die  Menschheit  von 
heute  weiß,  was  ein  Gewitter  ist,  sie  weiß,  wie  ein 
Regenbogen  entsteht.  In  jedem  naturwissenschaft- 
lichen Laboratorium  lassen  sich  ähnliche  Erscheinun- 
gen wie  Gewitter  und  Regenbogen  künstlich  her- 
stellen. Noch  mehr,  auch  die  himmlischen  Gewitter 
können  wir  Menschen  zähmen,  wie  ein  Haustier,  und 
wenn  noch  so  sehr  der  große  Geist  im  Himmel  uns 
zürnen  mag,  er  hat  keine  Macht  mehr  über  uns,  wir 
bändigen  seine  Blitze,  daß  sie  keinen  Schaden  anzu- 
richten vermögen.  Wir  brauchen  bloß  auf  das  Dach 
einen  kupfernen  Stab  mit  einer  vergoldeten  Spitze  zu 
setzen  und  kein  Gewitter  kann  uns  etwas  anhaben. 
Der  Blitzableiter  ist  stärker  als  alles  Zürnen  der  Natur. 
In  den  Dörfern  läutet  man  wohl  auch  heute  noch  die 
Glocken,  wenn  ein  Gewitter  heranzieht,  aber  die 
Kirche  selbst  vertraut  man  doch  nicht  dem  Schutz  des 
Glockenläutens  an,  sondern  ganz  oben  findet  sich  auf 
dem  Turm,  vorsichtshalber,  ein  Blitzableiter. 

Wenn  den  Menschen  der  Vergangenheit  nächtlich 
unter  den  vertrauten  Sternbildern  plötzlich  ein  blut- 
roter, langgeschwänzter  Fremdling  erschien,  so  war 
für  sie  das  Vertrauen  in  die  gewohnte  Ordnung  der 
Natur  auf  einmal  erschüttert.  Woher  die  düstere  Er- 
scheinung? Ein  Vorzeichen,  eine  Zuchtrute,  die  An- 
kündigung furchtbarer  Strafen  für  die  sündige  Mensch- 
heit. Heute  überrascht  uns  kein  Komet.  Der  Astro- 
nom hat  seine  Schleichwege  aufgespürt,  und  er  be- 
rechnet seinen  Lauf.  Und  er  prophezeit :  dieser  Komet 
wird  im  Jahre  2786  am  12.  Juli  1  Uhr  38  Minuten 
22^8  Sekunde  nachmittags  wieder  zum  Vorschein 
kommen,  und  er  ist  sicher,  daß  der  Gast  sich  pünkt- 
lich einstellen  wird.  Jeder  Zeitungsleser  weiß  heute 
schon  Monate  voraus,  wann  ein  Komet  erscheinen  wird. 
Es  gibt  keine  Überraschung,  also  auch  kein  Erschrecken. 
Wir  ängstigen  uns  auch  nicht,  wenn  die  Sonne  sich' 


3i 


plötzlich  beschattet;  wir  glauben  nicht,  daß  dann  ein 
böser  Geist  die  Sonne  verschlingt,  denn  jeder  Schul* 
hübe  weiß,  welch  harmlose  Erscheinung  eine  Sonnen- 
finsternis ist.  Meer  und  Hochgebirgsind  keine  Schrecken 
mehr  für  uns ;  denn  wir  beherrschen  mit  unsern  Schiffen 
<lie  furchtbarsten  Stürme  und  unsere  Eisenbahnen 
klettern  zu  den  höchsten  Gipfeln  empor.  Dieselbe 
Kraft,  die  das  Gewitter  unsern  Vorfahren  so  schreck- 
lich machte,  heute  in  den  Dienst  menschlicher  Arbeit 
gestellt,  ermöglicht  uns,  über  Hunderte  von  Meilen 
hinweg  zu  schreiben,  zu  sprechen,  zu  hören,  Wasserfälle, 
Ströme  zu  verwandeln  in  Licht  und  Kraft,  die  unsere 
Nächte  taghell  machen  und  unsere  Maschinen  treiben, 
daß  wir  heute  in  einem  Tage  mehr  Güter  zu  erzeugen 
vermögen  als  die  frühere  Menschheit  in  einem  Jahr- 
hundert. Selbst  Ausbrüche  von  Vulkanen,  die  auch 
heute  noch  Tausende  und  Hunderttausende  von  Op- 
fern in  wenigen  Sekunden  zu  mähen  vermögen,  be- 
trachten wir  nicht  mehr  als  Strafen  für  menschliche 
Versündigung.  Wir  kennen  die  natürlichen  Ursachen 
<ier  Erdbeben,  und  die  heutige  Menschheit  antwortet 
auf  solche  furchtbaren  Katastrophen  nicht  mit  brün- 
stiger Verzweiflung,  sondern  sie  ruft  die  Solidarität 
der  Menschheit  an,  um  Hilfe  zu  spenden,  und  sie  stellt 
•dem  Ingenieur  die  Aufgabe,  erdbebensichere  Häuser 
zu  konstruieren,  damit  die  stürzenden  Trümmer  nicht 
Leben  erschlagen. 

So  hat  sich  unser  Verhältnis  zu  den  Naturgewalten 
von  Grund  aus  umgeändert.  Keine  Spur  mehr  der 
Anschauung  ist  uns  geblieben,  die  in  jenen  alten  Re- 
ligionen die  Vorstellungen  der  Angst  und  Verzweiflung 
geformt  hat.  Wir  fürchten  die  Natur  nicht  mehr,  wir 
durchdringen  ihre  Wunder,  ihre  Kräfte  sind  der 
Grundquell  all  unserer  heutigen  Kultur.  Wir  lieben 
die  Natur,  wo  sie  groß  und  erhaben  ist,  das  stürmische 
Meer,  der  einsame  Gletscher  erfüllt  uns  mit  Andacht 
und  stolzer  Verehrung,  seit  sie  wegsam  für  uns  ge- 

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worden.  Wir  glauben  an  die  Natur,  weil  wir  sie 
kennen,  wir  preisen  ihre  Kräfte,  und  wir  wissen  keine 
höhere  Aufgabe,  als  ihre  Geheimnisse  immer  tiefer  zu 
ergründen,  und  die  unbeirrbaren  Gesetze  ihres  Wesens 
der  menschlichen  Freiheit  dienstbar  zu  machen.  Die- 
ses triumphierende  Gefühl  ist  die  Religion  der  heutigen 
Menschheit,  und  so  erkennen  wir,  daß  sich  in  Wirk- 
lichkeit doch  über  allen  alten  Religionen  eine  neue 
mächtige  Religion  gestaltet,  die  unser  heutiges  Leben 
auf  der  ganzen  Erde  beherrscht:  die  Religion  des  So- 
zialismus, der  aus  der  Entfaltung  der  Naturkräfte  seine 
neue  herrlich  aufsteigende  Zuversicht  gewinnt. 

Wie  der  Mensch  der  Vergangenheit  das  Verhältnis 
seiner  Ohnmacht  zur  Natur  in  düsteren  religiösen 
Schreckvorstellurigen  umdeutet,  so  gibt  ihm  seine  Re- 
ligion auch  die  Auskunft  über  die  furchtbaren  Ängste 
seines  politisch-gesellschaftlichen  Daseins.  Diese  Re- 
ligionen sind  entstanden  und  entfaltet  in  einer  Zeit, 
da  die  große  Masse  der  Menschheit  aus  Sklaven  be- 
stand, das  heißt  aus  Rechtlosen,  aus  Sachen,  mit  denen 
ihre  Herren  und  Peiniger  treiben  durften  was  sie 
wollten.  Dieses  Dasein  war  für  die  große  Masse  in  der 
Tat  ein  Jammertal,  aus  dem  es  kein  Entrinnen  gab. 
Man  hätte  ohne  die  Religion  schließlich  am  Leben 
verzweifeln  müssen.  Warum  sind  wir  arm  und  jener 
reich?  Warum  müssen  wir  alle  Unbill  dulden  und 
jene  dürfen  uns  quälen,  ausbeuten,  töten,  ganz  nach 
Willkür  ?  Dieser  Wahnsinn  der  menschlichen  Ver- 
hältnisse läßt  sich  nicht  lösen.  Vielleicht  erheben  sich 
einmal  die  Sklaven  in  auflodernder  Wut  gegen  ihre 
Herren.  Aber  die  Gewalt  schlägt  sie  nieder  und  es 
wird  schlimmer  denn  zuvor.  Die  große  Masse  der 
Menschen  ist  ohnmächtig  gegen  die  Gesellschaftsord- 
nung, in  der  zu  leben  sie  schuldlos  verurteilt  worden 
sind.  Aber  die  menschliche  Vernunft  empört  sich 
gegen  dies  unerträgliche  Schicksal;  und  weil  die  Körper 
sich  nicht  zu  wehren  vermögen,  so  suchen  die  Seelen 


Bitoer.  G«aramelte  Schrille«.  II. 


33 


eine  Zuflucht.  Das  kann  doch  unmöglich  der  Zweck 
des  menschlichen  Daseins  sein,  so  jammervoll  dahin- 
zugehen, die  Herzen  voll  von  Sehnsucht  nach  Glück 
und  Freude  und  immer  nur  gemarterte,  mißhandelte 
hungernde  und  frierende  Lasttiere  der  Arbeit!  Aus 
diesem  Zwiespalt  vernünftigen  Denkens  und  sinnlos 
grausamer  gesellschaftlicher  Zustände  entsteht  der 
Flucht-  und  Zufluchtsgedanke  des  Jenseits:  wenn 
dann  in  diesem  Leben  es  keine  Erlösung  gibt,  so  muß 
nach  dem  Tode  dennoch  das  wahre  Leben  der  Ge- 
rechtigkeit und  Freiheit  beginnen!  Das  war  der  not- 
wendige Trostgedanke,  der  die  Menschen  vor  dem 
Zusammenbruch  rettete,  und  das  war  die  große  nie- 
mals verächtlich  zu  wertende  Leistung  des  Christen- 
tums, daß  es  die  Sklaven  lehrte,  das  Leben  zu  ertragen. 
Wir  wissen  wohl,  wie  schmählich  später  die  weltlich - 
politische  Organ'sation  der  Kirche  diesen  frommen, 
heiligen  und  heilenden  Trostgedanken  mißbraucht 
hat,  indem  sie  ihn  umkehrte  und  zu  einem  Werkzeug 
der  Unterdrückung  fälschte.    Der  Skave  erträumte 
den  Himmel,  weil  er  im  Diesseits  ohnmächtig  war, 
sein  furchtbares  Dasein  zu  erlösen.   Daraus  fälschte 
man  die  Lehre,  weil  der  Sklave  des  Himmels  gewiß 
sein  muß,  soll  er  sich  hienieden  in  alle  Gewalt  s-iner 
Peiniger  geduldig  fügen.  Dennoch,  jener  Gedanke  der 
Erlösung  war  in  seinem  Ursprung  selbst  Erlösung. 
Man  begreift  nun  auch,  wie  die  alten  Religionen  die 
Jahrhunderte  überdauern  konnten,  denn  die  soziale 
Ohnmacht  der  beherrschten  Klassen  wie  des  einzelnen 
gegenüber  der  bestehenden  Rechtsordnung  dauerte 
bis  in  die  neueste  Zeit  unverändert,  ungemildert.  Der 
leibeigene  Bauer,  der  bis  an  die  Schwelle  der  Gegen- 
wart die  Masse  des  unterdrückten  Volkes  darstellte, 
ist  in  Deutschland  erst  im  neunzehnten  Jahrhundert, 
in  Bayern  erst  durch  die  Revolution  von  1848  befreit 
worden.   Das  Industrieproletariat  aber,  das  seitdem 
entstanden  ist,  hat  trotz  aller  seiner  sozialen  Unter- 

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drückung  und  Ausraubung  doch  als  Erbteil  der  großen 
Menschheitskampfe  wenigstens  das  Recht  der  freien 
Geburt,  der  Selbstbestimmung  erhalten.  Der  geburts^ 
freie  Proletarier  weiß,  daß  er  nicht  das  wehrlose  Opfer 
einer  durch  alle  Ewigkeit  dauernden  unentrinnbaren 
Gesellschaftsordnung  ist,  sondern  er  hat  erkannt,  daß 
alle  menschlichen  Ordnungen  Menschenwerk  und  des- 
halb vergänglich  sind.  Diese  Einsicht  gewann  er,  weil 
er  ja  selbst  mitwirkte  an  der  Gestaltung  der  Rechts- 
verhältnisse. 

Nur  ein  paar  Jahrzehnte  zurück  und  es  gibt  keine 
politische  Betätigung  der  Masse :  kein  Wahlrecht,  kein 
Parlament,  keine  freie  Presse,  kein  Vereinsrecht.  Was 
heute  dem  Proletariat  das  mächtigste  Werkzeug  der 
Notwehr  gegen  den  Kapitalismus  geworden  ist,  das 
Koalitionsrecht,  war  noch  in  einer  nahen  Vergangen- 
heit Verbrechen  der  Meuterei,  des  Aufruhrs,  des 
Hochverrats;  wer  sich  mit  seinen  Arbeitsgefährten  zur 
gemeinsamen  Selbsthilfe  zusammenfand  oder  gar  durch 
Arbeitseinstellung  bessere  Lebensbedingungen  zu  er- 
zwingen versuchte,  hatte  die  schwersten  Strafen  ver- 
wirkt, Peitsche,  Folter,  Zuchthaus,  Schafott. 

Jetzt  aber  ist  die  Menschheit  mündig  geworden.  Sie 
hat  die  Ohnmacht  in  der  Erduldung  überkommener 
politischer  und  sozialer  Verhältnisse  überwunden.  Wie 
immer  noch  unsere  Rechte  und  Freiheiten  verküm- 
mert sind,  wie  immer  noch  die  rohe  Gewalt  des  Staates 
wie  einzelner  bevorrechteter  Personen  die  freie  Selbst- 
bestimmung der  Masse  zu  lähmen  bemüht  ist,  und  aus 
aufrechten,  ihrer  Würde  und  ihrer  Aufgaben  bewußten 
Menschen  zitternde  Untertanen  zu  demütigen  ver- 
sucht, —  wir  wissen  heute  dennoch,  daß  wir  stark 
genug  geworden  sind,  den  Anteil  an  den  Gütern  dca 
Lebens,  die  Rechte  und  Freiheiten  zu  besitzen,  die 
wir  entschlossen  sind  uns  zu  erringen.  Wir  sind  nicht 
mehr  ohnmächtig,  wir  haben  im  Gegenteil  alle  Macht, 
wenn  wir  nur  wollen,  wenn  wir  durch  gemeinschaft- 


3 


35 


liches  entschlossenes,  ehern  zusammenhaltendes  Han- 
deln die  politischen  und  sozialen  Zustände  herbeizu- 
führen bereit  sind,  die  unsere  Menschenvernunft  uns 
klar  und  hell  zeigt:  Brot,  Freiheit,  Glück  für  alle,  ohne 
Unterschied  auf  dieser  Erde,  in  diesem  Leben! 

Haben  wir  so  Macht  über  unser  eigenes  Schicksal 
gewonnen,  so  beflügelt  unseren  Willen  der  junge 
Glaube  zur  Tat,  daß  die  Menschheit  zu  erreichen  ver- 
mag, was  uns  als  Ziel  ihres  Strebens  vorschwebt.  Die- 
ser Glaube  an  die  Zukunft  ist  unsere  Religion,  die 
hell,  tapfer,  freudig  dem  Leben  zugewandt  ist  und 
das  Leben  aller  zur  reichsten  Blüte  zu  entwickeln 
strebt.  Die  Religion  des  Sozialismus  in  ihrem  Kraft- 
gefühl und  ihrer  Daseinsbejahung  hat  die  Verzweif- 
lung des  Jammertals,  die  Hoffnungslosigkeit  des  irdi- 
schen Geschicks  für  immer  überwunden. 

Aber  wenn  auch,  wie  jeder  uns  zugeben  wird,  in 
der  Tat  diese  Religion  des  Sozialismus  für  die  Ratsei 
unseres  heutigen  Daseins  die  rechte  lösende  Antwort 
findet,  haben  wir  dann,  so  wird  man  fragen,  wirklich 
den  ganzen  Sinn  des  Lebens  erfaßt,  für  vernünftige 
Menschenzwecke  wertvoll  gedeutet  ?  Bleibt  nicht 
gerade  dann,  wenn  es  uns  gelingt,  das  Dasein  der 
ganzen  Menschheit  zu  all  seiner  möglichen  und  denk- 
baren Herrlichkeit  zu  entfalten,  mit  verschärfter  Bit- 
ternis die  quälende  Tatsache  bestehen,  daß  dennoch 
all  diese  Herrlichkeit  für  die  Menschen  endigen  muß 
—  im  Tode.  Der  natürliche  Lebenstrieb  jeder 
Kreatur  hat  sich  in  lähmende  Todesangst  verwandelt. 
Nicht  immer  haben  die  Völker  den  Tod  gefürchtet. 
Aber  besonders  seit  dem  Mittelalter  ist  es  wie  eine 
Geisteskrankheit  über  die  Menschheit  gekommen,  daß 
sie  sich  in  schrecklichen  Zuckungen  vor  nichts  mehr 
fürchteten  als  vor  dem  Ende.  Und  keine  schwerere 
Schuld  hat  kirchliche  Machtbegierde  auf  sich  geladen 
als  die  Ausbeutung  der  Todesangst,  die  Marterung  der 
Gewissen.  Dadurch  erst  sind  die  Menschen  auch  see- 

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lisch  zu  Sklaven  geworden.  Wir  haben  es  nie  be- 
griffen, wie  einzelne  Menschen  von  Fleisch  und  Blut, 
wie  wir  alle,  es  vor  ihrem  Gewissen  verantworten 
konnten,  arme  gequälte  Kreaturen,  die  schon  auf 
Erden  die  Hölle  hatten,  nun  noch  mit  der  gesteigerten 
Hölle  nach  dem  Tode  zu  ängstigen. 

Was  wollen  wir  Menschen  denn  im  tiefsten  Grunde  ? 
Wollen  wir  ewig  leben?  Ewig  leben  können,  heißt 
soviel  wie  ewig  leben  müssen.  Das  aber  wäre  der 
Tod,  die  wahre  Hölle  alles  Lebens.  Wenn  wir  Men- 
schen gezwungen  wären,  niemals  wieder,  wie  wir  ins 
Leben  kamen,  so  auch  aus  dem  Leben  gehen  zu  können, 
der  Lebens  zwang  wäre  das  Unerträgliche,  das  unser 
Dasein  vom  ersten  Tage  an  vergiften  müßte.  Nein, 
es  ist  gnädig  von  der  Natur  eingerichtet,  daß  das  Leben 
des  einzelnen,  wenn  es  ein  Weilchen  sich  geregt  hat, 
auch  wieder  in  stillem  Frieden  zu  erlöschen  vermag. 

Verhängnisvoll  ist  diese  Geisteskrankheit  für  die 
Entwicklung  der  Menschheit  geworden.  Denn  indem 
wir  entsetzt  und  verängstet  auf  den  natürlichen 
Tod  starrten,  vergaßen  wir  den  Kampf  gegen  den 
künstlichen  Tod,  der  vor  der  Zeit  die  Menschen 
zerstört,  diesen  Tod,  der  der  Fluch  der  Menschen- 
geschichte geworden  ist,  und  den  wir,  wenn  nicht 
fürchten,  so  doch  hassen  und  bis  zur  Ausrottung  ver- 
folgen müssen.  Herrlich  ist  es,  nach  getaner  Lebens- 
arbeit, nach  Erschöpfung  der  Glücksspenden  des  Da- 
seins, wieder  davonzugehen.  Aber  es  gibt  keine  ent- 
setzlichere Vorstellung,  als  denken  zu  müssen,  daß  in 
Wahrheit  nur  wenige  Menschen  ihr  Leben  leben 
können.  Unübersehbar  die  Opfer  der  Schlachtfelder, 
auf  denen  in  den  Jahrhunderten  die  Jugend  verfaulen 
mußte.  Unübersehbar  die  Zahl  der  Opfer,  denen 
durch  Hunger,  Uberarbeit,  gesundheitsgefährliche  Ar- 
beitsverhältnisse das  Leben  künstlich  verkürzt,  ver- 
kümmert, verkrüppelt  worden  ist.  Und  gibt  es  einen 
gräßlicheren  Gedanken  als  diese  Massenerscheinung, 


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daß  Millionen  von  armen  kleinen  Menschenkindern, 
wenn  sie  kaum  das  Licht  der  Sonne  erblickt  und  damit 
das  Recht  gewonnen  und  die  Sehnsucht  dunkel  emp- 
funden haben,  daß  auch  sie  nun  teilhaben  werden  an 
den  Strahlen  des  Lebens,  sofort  wieder  nach  wenigen 
Tagen  und  Monaten,  düsteren  Vorwurf  in  den  er- 
löschenden Augen,  sterben  müssen,  nur  weil  die  Mütter 
unter  der  Ungunst  ihrer  Daseinsverhältnisse  nicht  ge- 
nügend an  gesunder  Nahrung  für  sie  besaßen,  weil  sie 
in  den  engen  Wohnhöhlen  tödliches  Gift  einatmen. 
Diesem  künstlichen  Tod  gilt  der  Kampf  der  Sozia- 
listen, und  unser  religiöser  Glaube  ist  es,  daß  wir  einst 
eine  Menschenordnung  erreichen  werden,  in  der  jeder, 
der  geboren  ist,  keine  Stunde  vor  dem  natürlichen 
Ende,  vor  der  erlösenden  Ruhe  vernichtet  wird. 

In  diesem  tätigen  Glauben  wird  das  Bedürfnis  nach 
Unsterblichkeit  in  all  seiner  sehnsüchtigen  Tiefe  ganz 
erfüllt.  Der  einzelne  Mensch  stirbt,  aber  die  Mensch- 
heit lebt.  Und  daß  das  Leben  dieser  Menschheit  sich 
immer  reicher  und  größer  gestalte,  das  ist  der  Inbegriff 
unseres  Ringens  und  Kämpfens.  In  der  Gemeinschaft, 
der  Solidarität  der  Menschheit  wird  der  Unsterblich- 
keitsglaube Wahrheit  und  Wirklichkeit.  Was  jeder 
Gutes  tut  im  Dienste  der  Menschheit,  und  sei  es  die 
bescheidenste  Leistung  des  namenlosen,  ärmsten  Man- 
nes im  fernsten  einsamsten  Dorfe,  das  kann  niemals 
untergehen,  darin  verbürgt  sich  seine  persönliche  Un- 
sterblichkeit, das  ist  die  Aussaat  seiner  unsterblichen 
Seele  in  alle  Ewigkeit.  Zu  diesem  schöpferischen  Un- 
sterblichkeitsglauben steigt  die  Religion  des  Sozialis- 
mus gipfelan. 


Sieben  Briefe.  An  eine  Freundin. 

I. 

Natur  und  Kultur. 

.  .  .  Wie  ich  von  Dir  Abschied  nahm,  war  es  das 
letzte  Mal,  daß  ich  einem  Menschen  die  Hand  drückte, 
in  dem.  Begehren,  sie  fest  zu  halten.  Nun  bin  ich  alt 
geworden,  und  es  ist  vergeblich,  noch  Krieg  gegen  das 
Alter  zu  führen.  Ich  schließe  meinen  Frieden  mit 
dem  ergrauenden  Haar.  Es  ist  das  sicherste  Zeichen, 
daß  mein  Leben  zum  Abend  hinabrinnt,  daß  ich  auf- 
gehört habe,  mich  nach  irgendeinem  bestimmten 
Menschen  zu  sehnen.  Nur  nach  der  Menschheit  drängt 
sich  mein  Sinn,  nur  in  ihrer  Idee  erfüllt  sie  mein  Ge- 
müt mit  Wärme  und  Licht.  Wenn  man  leiblich  ab- 
stirbt, erwacht  ganz,  mit  allmächtigem  und  ausschlie- 
ßendem Zwang  die  große  Sache  und  heischt  Hingabe 
bis  zum  letzten  Blutstropfen;  wenn  man  nicht  einen 
Menschen  mehr  zu  lieben  vermag,  beginnt  man  die 
Milliarden  des  ganzen  Menschengeschlechts  zu  lieben, 
die  vor  uns  waren,  mit  uns  wandeln  und  nach  uns  zur 
Sonne  schauen  werden. 

Und  dennoch !  Ist  es  ein  Rest  noch  von  unüberwind- 
licher Jugend?  In  dem  Augenblick,  wo  ich  wußte, 
daß  ich  von  allem  Persönlichen  mich  für  immer 
trennte,  erwachte  in  mir  die  drängende  Lust,  geistig 
mit  Dir  zu  wandern,  die  ich  niemals  wiedersehen  werde; 
tief  aus  dem  Herzen  mit  Dir  zu  reden,  deren  Stimme 
ich  nicht  mehr  hören  werde;  endlich  Dich  mir  zu 
erringen,  die  Du  ein  Weilchen  mein  zu  sein  schienest, 
und  mir  doch  nie  gehört  hast.  Jetzt,  wo  alles  Sterb- 
liche zwischen  uns  zerronnen  ist,  will  ich  zu  Dir 


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reden,  wie  in  eine  weit  verlorene  Ferne,  die  ich  zu  mir 
locken  will.  Ich  will  Dich  zu  mir  bekehren,  jetzt,  da 
es  zu  spät  ist,  ein  rechter  altmodischer  Schwärmer,  der 
die  Heimat  seines  Gefühlslebens  in  einer  längst  ver- 
schollenen Zeit  hat,  während  er  äußerlich  hart  und 
nüchtern  und  klügelnd  auf  dieser  Erde  kämpft,  die 
das  Fühlen  verlernt  hat.  Ich  baue  Dir  meine  Welt 
auf,  Dir  ganz  allein,  wie  einem  einsamen  verstoßenen 
Kinde  zu  Weihnacht,  die  ein  Wunder  ihm  bescherte. 
Ich  muß  endlich  einmal  reden  wie  ein  Mensch,  der 
sich  selbst  zu  bekennen  wagt,  mit  all  seiner  Wärme, 
seiner  Begeisterung,  seiner  Empfindsamkeit  und  der 
ganzen  Trauer  seiner  unbefriedigten,  friedlosen  Un- 
geduld. 

Gelingt  es,  einen  guten  Menschen  für  eine  Sache 
zu  bekehren,  dann  ist  der  Sieg  dieser  Sache  gewiß. 

So  laß  uns  also  gemeinsam  wandern.  Sei  willig  dem 
alten  Schulmeister  mit  dem  spottenden  Verstand  und 
dem  törichten  Herzen,  das  nicht  zu  entsagen  lernt  .  .  . 

Ist  es  nicht  seltsam,  daß  ich  in  all  den  Jahren,  da  wir 
beieinander  lebten,  im  Grunde  niemals  mit  Dir  von 
den  Dingen  gesprochen  habe,  die  mich  bewegten? 
Ich  gab  Dir  wohl  einmal  ein  Buch  mit  einer  scheuen, 
fast  stummen  Widmung.  Ich  lockte  Dich  wohl  auch 
ein  paarmal  in  eine  Versammlung,  in  der  ich  sprach. 
Du  lasest  die  Bücher  und  sprachst  nicht  darüber.  Du 
hörtest  die  Reden  und  schwiegst  bewegt.  Ich  wußte 
nie  recht,  wie  tief  das  alles  in  Deine  Seele  drang.  Aber 
vielleicht  ist  es  immer  so,  daß  man  gerade  zu  dem 
Nächsten  nichts  von  alledem  spricht,  was  uns  am 
nächsten  ist. 

Nun  aber  haben  wir  doch  einmal  davon  gesprochen. 
Und  das  war,  als  wir  für  immer  uns  voneinander 
wandten. 

Wir  stiegen  aus  den  Bergen  hinunter.   Das  Leben 

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auf  einer  Einöde,  in  die  wir  eingekehrt  waren,  hatte 
uns  sonderbar  berührt.  Da  spielte  sich  nun  weitab  von 
allem  Menschengewimmel  ein  Lebensschicksal  ab  im 
steten  Kampf  mit  den  Launen  der  Natur,  und  nur 
aus  unendlicher  Ferne  drang  das  Brausen  des  großen 
Daseins  herüber.  Nur  die  Marktpreise  des  Viehs  ver- 
knüpften die  kleine  Familie,  die  dort  oben  hauste,  mit 
dem  Getriebe  der  Welt.  Und  wenn  nicht  etliche  Ma- 
schinen in  den  Schuppen  gestanden  hätten,  so  hätte 
man  glauben  können,  daß  dort  drei  Jahrhunderte 
spurlos  vorübergegangen  wären,  seitdem  der  Urahne 
auf  felsigem  Grunde  dort  oben  das  wohlbefestigte  Ge- 
mäuer aufgeführt.  Nichts  hatte  sich  scheinbar  ge- 
ändert. Die  Zeit  stand  still,  während  die  Arbeit  gleich- 
mäßig und  rastlos  die  Tage  verband  und  die  einfachen 
und  großen  Freuden  und  Schmerzen  des  Menschen- 
geschlechts wechselten:  Geburt  und  Tod,  Liebe  und 
Scheiden.  Ein  freies  Menschenhäuflein,  in  sich  ab- 
geschlossen, unabhängig  von  dem  Volke  der  Tiefe,  mit 
harten  rissigen  Händen,  dem  Sturm  und  dem  Wetter 
die  Frucht  des  Bodens  abtrotzend,  die  Fruchtbarkeit 
der  Tiere  sorgsam  fördernd  und  überwachend. 

Nachdenklich  gingen  wir  den  Weg  zu  dem  Eisen- 
bahnzug, der  uns  wieder  in  die  große  Stadt  führen 
sollte.  Das  Gefühl  überkam  uns,  das  wir  Großstädter 
empfinden,  wenn  wir  in  einsame  Menschensiedlungen 
verschlagen  werden,  wenn  wir  nächstens  im  Eisenbahn- 
zug  an  hundert  stillen  Dörfern  vorüberhuschen,  in 
denen  ein  paar  Lichtlein  aufblinken.  Wie  sonderbar, 
daß  überall  Menschen  die  Möglichkeit  des  Lebens 
finden,  daß  sich  in  solcher  Enge  und  Losgelöstheit 
überhaupt  Leben  abzuspielen  vermag. 

Wir  gingen  schweigend.  Der  späte  Herbst,  den  die 
Abendröte  noch  tiefer  erglühen  ließ,  hielt  in  sehnender 
Angst  noch  die  letzten  blutenden  Blätter  fest,  daß  sie 
ihm  nicht  entweichen  möchten.  Schon  stieg  im  Tal 
dichter,  kältender  Nebel  herauf.  Die  Einsamkeit  über- 


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mannte  uns.  Die  Natur  war  auf  einmal  verlassen,  und 
entseelt.  Mich  drängte  es  nach  Menschen,  nach  dem 
lärmenden  Treiben  der  Stadt,  nach  dem  gehäuften, 
getriebenen,  erhitzten  Dasein;  nach  den  rauchenden 
Schloten,  den  surrenden,  dröhnenden  Maschinen»  nach 
Bogenlampen  und  Straßenbahnen,  nach  der  ganzen 
chaotischen  Wildheit,  mit  der  der  Menschenwitz  die 
Natur  überlistet  und  übersteigert  hat. 

Und  ich  begann  zu  reden  von  der  ganzen  Welt  der 
Industrie,  von  der  Erhabenheit  der  Technik  und  von 
der  neuen  gewaltigen  Bindung  und  Bildung  der  Men- 
schen, die  der  Kampf  des  Proletariats  und  die  Erlöser- 
kraft der  sozialistischen  Idee  dereinst  gewißlich  er- 
ringen würde.  Wie  klein  und  arm  dieses  Dasein  des 
Dorfes,  gar  der  Einöde!  Nur  wo  die  Menschen  in 
ihrer  Fülle  schaffen  und  wirken,  begehren  und 
opfern,  ringen  und  rütteln;  wo  die  Konflikte  eines 
unübersehbar  verästelten  Daseins  erbarmungslos  an- 
einander prallen;  wo  das  Leben  in  tausendfältiger 
Qual,  in  ungeheurem  Chor  des  Schreckens  aufschreit; 
wo  niemand  den  andern  kennt,  und  wo  dock  gerade 
deshalb  erst  das  Bewußtsein  der  Menschen  erwacht  — 
nur  dort  ist  das  Leben  wert,  gelebt  zu  werden! 

Da  beugtest  Du  Dich  zur  Erde  und,  als  ob  Du 
endlich  nach  vieljährigem  Nachdenken  den  Entschluß 
einer  letzten  unveränderlichen  Antwort  gefunden  hät- 
test, sagtest  Du  leise,  ein  wenig  zitternd:  Ich  fühle 
nichts  von  dem,  was  Du  fühlst.  Ich  begreif's  nicht 
einmal  im  Grunde.  Deine  Ideale  bewegen  mich  nicht, 
und  das,  was  Du  Leben  nennst,  ist  mir  Widerwille 
und  Qual.  Ich  hasse  die  zusammengedrängten  Men- 
schen, die  sind  niedrig,  voll  schmutziger  Begierden 
und  entarteter  Instinkte  —  in  tausend  Abhängigkeiten 
eingeschnürt  — ,  und  die  stete  Gefahr,  die  sie  zu  ver- 
nichten droht,  schärft  ihre  unedelsten  Triebe,  Keiner 
spricht,  was  er  denkt.  Niemand  vermag  m$hr  ein 
kindliches,  echtes,  ungebrochenes  Gefühl  aufzubrin- 

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gen.  Ich  glaube  nicht  daran,  daß  diese  Menschen  er- 
löst sein  wollen  und  daß  sie  sich  erlösen  können.  Ihre 
Seelen  sind  vergiftet,  wie  die  Luft,  die  sie  mit  ihrer 
Arbeit  verpesten.  Sie  sind  feig,  unterwürfig  und  bos- 
haft. Wenn  ich  unter  ihnen  gehe,  so  ist  mir,  als  ob 
tausend  Blicke  tückisch  mich  hetzen  und  beschimpfen. 
Ich  hasse  Deine  Kultur,  für  die  Du  lebst.  Sie  hat  dem 
Menschen  das  Glück  genommen  und  noch  mehr  die 
Güte.  Ich  will  nicht  mit  Dir  in  die  Stadt  gehen.  Laß 
mich  zurückkehren  zu  der  Einöd  und  dort  bleiben. 
Dort  kann  ich  frei  und  unabhängig  sein.  Wenn  ich 
den  Hühnern  ihr  Futter  streue,  wenn  ich  die  Saat 
sprießen,  die  Rosen  blühen  sehe  und  das  Hausgetier 
friedsam  die  paar  Begriffe  seines  Daseins  austönen  höre 
—  dann  wird  mir  warm,  und  ich  fürchte  mich  nicht 
mehr  vor  dem  Leben,  das  mich  ängstigt. 

So  sprachst  Du,  und  da  kam  über  mich  die  Er- 
kenntnis, daß  wir  nie  miteinander  gelebt  haben  .  .  . 

II. 

Die  große  Unruhe. 

.  .  .  Du  lehnst  Dich  im  Grunde  Deines  Herzens 
gegen  diese  ganze  Welt  von  Erscheinungen  auf,  die 
die  gemeinschaftliche  Arbeit  der  Menschheit  in  Jahr- 
tausenden geschaffen,  überliefert,  gesichtet,  verworfen, 
geordnet  und  vermehrt  hat.  Du  empörst  Dich  gegen 
das,  was  wir  Kultur  nennen,  ohne  die  Du  doch  am 
wenigsten  leben  kannst.  Dich  schmerzt,  was  Dir  un- 
entbehrlich ist,  Du  willst  nicht,  wohin  Du  drängst. 
Aber  es  ist  nicht  die  Kultur  der  Dinge,  die  Du  leug- 
nest, vor  der  Du  fliehen  möchtest,  sondern  umgekehrt, 
die  mangelnde  Kultur,  die  von  den  großen  Dingen 
noch  nicht  in  die  Menschen  übergeflossen  ist.  Die 
Dinge,  die  der  Mensch  geschaffen,  leben  im  20.  Jahr- 
hundert. Der  Mensch,  der  sie  schuf,  verwest  noch 
in  einem  dunklen  Mittelalter.  Der  Mensch  hat  sich 

- 

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eine  Welt  gestaltet,  in  die  er  selbst  nicht  mehr  hinein- 
paßt. Er  hat  sein  Werk  über  sich  hinausgetrieben, 
nun  findet  er  sich  nicht  mehr  zurecht  in  seinem  eigenen 
Reich,  unruhig,  boshaft  und  heimatslos.  Der  Mensch 
hat  die  Erde  nach  seinem  Bild  gestaltet,  das  nur  in 
seiner  Idee  existiert.  Er  hat,  so  scheint  es,  vergessen, 
sich  nun  wieder  nach  seinem  Bilde  zu  wandeln.  Du 
sehnst  Dich  nach  Natur,  und  Du  empfindest  die  Kul- 
tur als  ihren  Widerspruch,  als  den  Feind  und  den  Ver- 
nichter des  Natürlich-Menschlichen.  Aber  alle  Qual 
unserer  Gesellschaft  wurzelt  nur  darin,  daß  die  Kultur 
ein  Fremdland  geblieben  ist,  daß  sie  nicht  Natur  ge- 
worden ist.  Denn  der  Mensch  hat  nur  eine  Natur  — 
das,  was  er  sich  erkämpft  und  erschaffen  hat  —  seine 
Natur  ist  sein  Werk. 

Erinnerst  Du  Dich,  wie  wir  ins  Dorf  hinunterstiegen 
und  für  eine  letzte  Stunde  in  dem  alten  Wirtshaus 
landeten,  auf  diesen  Bänken,  wo  schon  die  Leute 
sich  von  den  Greueln  des  Dreißigjährigen  Krieges  er- 
zählt haben  ?  Alles  war  uralte  Einfachheit.  Und  wie 
die  Wirtin  uns  das  Essen  zubereitete,  so  hat  man  wohl 
schon  dort  gekocht,  als  man  in  der  Gemeinde  kämpfte, 
ob  man  sich  der  neuen  Lehre  Luthers  zuwenden  solle. 
Aber  über  dem  alten  Tisch  hing  an  einem  künstlich 
geflochtenen  Faden  ein  beweglicher  Schirm,  der  eine 
gläserne  Seele  barg.  Eine  Seele,  in  der  ein  dünnes 
Schlänglein  zitterte.  Es  war  finster  geworden,  da  kam 
die  freundliche  Wirtin  zu  uns,  legte  ihren  Finger  an 
eine  kleine  Scheibe  in  der  Nähe  der  Tür,  und  plötzlich 
leuchtete  das  Schlänglein  hell  auf,  und  ich  konnte, 
ohne  daß  ein  Mensch  oder  ein  Gott  das  Wunder  der 
Lichtwerdung  bewirkt  zu  haben  schien,  beim  Leuch- 
ten dieses  jeden  Tag  neu  erzeugten  Gestirns,  dieses 
immer  aufs  neue  aus  dem  Nichts  hervorgezauberten 
Flammenquells  Dir  in  die  Augen  schauen,  die  Abschied 
nahmen  und  Entsagung  weinten.  Du  freutest  Dich, 
daß  auch  in  diese  verschollene  Einsamkeit,  mitten  in 

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die  Unveränderlichkeit  eines  nicht  über  die  alten  Wur- 
zeln emporgewachsenen  Daseins,  dieser  Zauber  höch- 
sten Menschengeistes  aufflammte.  Fühltest  Du  nicht, 
wie  diese  kleinen  elektrischen  Birnen  nicht  nur  unser 
stilles  letztes  Fest  belichteten,  sondern  daß  ihr  Schein 
in  die  ganze  weite  Welt  hinausstrahlte,  uns  beide  in 
dem  engen  Wirtshaus  des  alten  Dorfes  verband  mit 
dem  ganzen  wilden  Dasein  gesteigerter  Kultur,  vor 
dessen  Härte  und  Wirrsal  Du  erliegst  ?  Die  Flamme 
war  nicht  denkbar  ohne  die  ganze  brausende  Welt- 
industrie, ohne  die  tausendfältig  erzeugte  Leistung  der 
Zivilisation,  ohne  die  Massen  der  Arbeiter,  die  den 
Eingebungen  des  Genius  Leib  und  Glieder,  Leben 
und  Wirklichkeit  hämmern.  Natur,  so  wie  Du  sie 
meinst,  hätte  uns  im  Dunkel  gelassen,  sobald  die  Sonne 
sinken  mochte.  Nicht  einmal  den  Holzspan  gibt  sie 
von  selbst  her,  der  rauchend  und  mühsam  flackernd 
nur  Licht  bringt,  um  zu  zeigen,  wie  finster  es  ist. 

Und  nicht  nur  die  Nacht  wäre  unentrinnbar  für 
uns  gewesen,  auch  an  den  Ort  wären  wir  gefesselt.  Wie 
immer  wir  voneinander  strebten,  wir  hätten  bleiben 
müssen.  Ein  paar  Meilen  vielleicht  in  der  Runde  wäre 
uns  Freiheit  gelassen,  uns  zu  bewegen,  nicht  viel  mehr 
als  der  Hof  eines  Gefängnisses.  Der  Mensch  starb,  wo 
er  geboren  war  und  erkannte  von  dieser  ganzen  Erde 
nichts,  wie  diesen  Kerker.  Jedes  Dorf  und  alle  Men- 
schen in  ihm  war  ein  unentrinnbar  starres  Schiqksal; 
ein  ganzes  Menschenleben  hätte  nicht  ausgereicht, 
um  von  der  Stätte  der  Geburt  aus  die  Erde  zu  durch- 
messen. 

Wir  beiden  Kinder  des  zwanzigsten  Jahrhunderts 
aber,  das  Dir  ein  Fluch  erscheint,  stiegen  in  die  Eisen- 
bahn, und  ehe  ein  Stunde  sich  vollendete,  waren  wir 
wie  auf  einen  anderen  Stern  verschlagen,  mitten  in 
das  ewig  veränderliche  Getriebe  der  lärmenden  Groß- 
stadt. Möchtest  Du  wirklich  die  Eisenbahn  missen? 
Brauchst  Du  sie  aber,  so  läßt  sich  wieder  aus  dem 

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Riesenräderwerk  des  heutigen  Daseins  kein  Teilchen 
entfernen. 

Erst  die  technische  Entfaltung  der  Naturkräfte,  erst 
die  moderne  Wirtschaft  hat  uns  der  Erde  gewonnen, 
uns  wahre  Freizügigkeit  erobert.  Deine  Natur  war 
technische  Leibeigenschaft;  sie  ist  überwunden,  nur 
die  soziale  Leibeigenschaft  ist  noch  nicht  gesprengt. 
All  die  Unruhe  der  industriellen  Wirtschaft  ist  nur 
das  Reibungsgeräusch  unserer  endlichen  Freiheit,  un- 
serer Loslösung  von  Schwere  und  Schollenhaft.  Noch 
fühlen  wir  nur  die  laute  Pein  der  Hemmung  und 
Reibung.  Die  menschliche  Gesellschaft  hat  es  noch 
nicht  verstanden,  die  Glieder  ihrer  Ordnung  so  inein- 
ander zu  fügen,  daß  gerade  in  der  sausenden,  schwin- 
genden Kraft  die  tiefe  Ruhe  freier  Bewegung  sich 
entfaltet. 

Deine  Einöde  ist  nicht  still,  sondern  stumm,  nicht 
friedlich,  sondern  verschlafen;  nicht  beharrlich,  son- 
dern erstarrt.  Die  große  Unruhe  aber  des  heutigen 
Daseins  ist  die  Wiege  unserer  Erlösung.  Und  nicht 
nur  die  Unruhe  der  Dampf  pfeifen  und  Schnellwagen, 
des  Massengesurrs  und  des  Rädergerassels  —  nicht 
minder  ist  die  gewaltige  Unruhe  unserer  Hirne  und 
Herzen  der  Ursprung  und  die  Vorbedingung  für  einen 
neuen  Menschheitsfrieden  der  organisierten  Kraft  und 
der  vernunftgeleiteten  Tat. 

Die  ungeheure  Steigerung  in  der  natürlichen  Kraft- 
umsetzung und  Kraft  Verwertung  steht  in  unlöslicher 
Wechselwirkung  mit  der  Rastlosigkeit  in  der  Neu- 
schöpfung unseres  Bewußtseins,  mit  den  Veränderun- 
gen unseres  inneren  und  äußeren  Schicksals.  In  jedem 
Augenblick  erlebt  der  soziale  Mensch  von  heute  ge- 
waltigere Umstürze,  als  jemals  der  berühmte  Um- 
sturz der  Revolution  am  Ende  aller  Dinge  —  Du 
weißt,  wie  wir  beide  als  Kinder  uns  vor  diesem  letzten 
Gericht  der  Nie-mehr-Auferstehung  geängstigt  haben 
wird  zuwege  bringen  können.  Das  „natürliche" 

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Dasein,  von  dem  Du  schwärmst,  ist  die  Unveränder- 
lichkeit  von  ein  paar  Seelenformeln  und  Daseins- 
möglichkeiten. Dieses  Dasein  hat  einen  Sprachschatz 
von  einem  Dutzend  Worten  und  ein  Erlebnisgehalt 
von  einem  halben  Dutzend  Handlungen  —  eine 
ungeheure  Sparsamkeit  am  Leben,  ein  furchtbarer 
Lebensgeiz,  der  immer  nur  seine  wenigen  Pfennige 
wieder  durchzählt  —  gleich  durch  Generationen 
und  Jahrhunderte.  Der  einzelne  Mensch  der  großen 
Gegenwart  lebt  von  Entwurzelungen  und  Erwür- 
gungen. Er  stirbt  tausendmal  den  seelischen  Tod. 
Dem  Bauer  schafft  noch  heute  die  Geburt  den  Boden 
seines  ganzen  Lebens.  Der  Kapitalismus  hat  die 
Menschen  wie  ins  Nichts  gestellt.  Nicht  einmal 
die  Geburt  sichert  ihm  eine  umfriedete  Wiege.  Mit 
der  Geburt  war  einst  das  ganze  Dasein  bis  zu 
seinem  Ablauf  sozial  bestimmt.  Heute  endigt  erst 
der  Tod  die  Möglichkeiten  der  endlosen  Wand- 
lung. 

Die  Großstadtkultur  hat  bis  jetzt  keine  Gesellschaft 
hervorgebracht,  die  den  einzelnen  sicher  trägt.  Der 
in  die  Stadt  fremd  Verschlagene  ist  mehr  gefährdet, 
mehr  dem  Zufall  preisgegebei:,  als  irgendein  Robin- 
son, der  einsam  an  einer  unwirtlichen  Insel  gestrandet. 
Das  Dorf  bildet  noch  heute  eine  Gemeinschaft,  die 
den  einzelnen  Gliedern  eine  gewisse  Gewähr  der 
Existenzbehauptung  gibt.  Die  moderne  Stadt  hat 
kein  Ohr  für  den,  der  nach  Hilfe  schreit.  In  der  Ein- 
samkeit des  Landes  wird  der  Notschrei  der  Bedrängten 
vernommen,  im  Lärm  der  Massenstadt  wird  der  Ruf 
verschlungen.  Und  es  ist  kein  Arm  unter  den  Millio- 
nen von  Armen,  der  sich  Dir  entgegenstrecken  wird, 
wenn  Du  ihn  brauchst. 

So  wäre  diese  Kultur  wirklich  der  Abgrund  und  die 
Vernichtung,  die  grausame  Laune  und  der  unberechen- 
barste Zufall  ?  Und  so  hättest  Du  recht  mit  Deiner 
Lebensangst  ? 


47 


Du  siehst  nicht,  daß  eine  neue  sichere  Gemeinschaft 
sich  bildet,  gerade  in  dem,  was  Dich  ängstigt,  in  der 
Masse  selbst. 

III. 

Der  verlorene  Einzelne. 

.  .  .  Du,  meine  arme  Freundin,  suchst  Schutz  vor 
der  sozialen  Lebensangst,  die  Dich  treibt  und  hetzt, 
in  der  Starrheit  des  festgewurzelten  Daseins  des  Dor- 
fes mit  seiner  überlieferten  Arbeit  an  der  mütterlichen 
Natur  und  seinen  einfach  gewobenen,  durchsichtigen 
und  sicheren  Familienbeziehungen. 

Erinnerst  Du  Dich,  wie  wir  beide  einmal  ganz  allein 
in  eine  Tropfsteinhöhle  krochen,  die  halb  verfallen 
war  und  von  den  Sehenswürdigkeitssuchern  nicht  mehr 
berücksichtigt  wurde  ?  Wir  hatten  nur  zwei  triefende 
Stearinlichte  bei  uns  und  ein  paar  Streichhölzchen, 
deren  Vorrat  rasch  zu  Ende  ging.  Nach  wenigen 
Schritten  bereits  verlöschten  die  Kerzen  in  dem  eisig 
flackernden  Dunkel  und  es  gelang  uns  nicht  mehr, 
sie  zu  entzünden.  Wir  faßten  uns  an  den  Händen 
und  tappten  uns  durch  niedrige  Gänge,  mit  den  Köpfen 
fast  auf  dem  Gestein,  mutig  weiter.  Wir  fürchteten 
uns  beide  und  wollten  es  uns  nicht  gestehen.  Das 
Ungewisse  lauerte  auf  uns.  Man  hatte  uns  gesagt,  daß 
in  der  Höhle  sich  ein  See  befände,  und  wie  uns  das 
tropfende  Wasser  das  Haar  befeuchtete,  wähnten  wir 
jeden  Augenblick,  in  den  See  zu  stürzen.  Obwohl  wir 
beide  nicht  allzu  fest  an  diesem  Leben  hingen,  so 
grauste  es  uns  doch,  so  verloren  in  der  Nacht  eines 
undurchdringlichen  Nichts  unser  zaghaftes  blinkendes 
Lebensfünkchen  ungehört  und  ungefühlt  von  den  an- 
dern, fernab  der  Menschen,  verzischen  zu  lassen. 
Unser  Bangen  wuchs,  und  ohne  daß  wir  uns  unsere 
Angst  eingestanden,  kehrten  wir  fast  fliehend  um. 
Als  wieder  der  blaue  Himmel  wie  ein  strahlender 

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Stern  am  Ausgang  uns  leuchtete,  und  die  milde  Luft 
der  Erdenwelt  über  Tage  unser  wie  begrabenes  Leben 
aufweckte,  da  empfanden  wir  die  Stunde  als  das  neue 
Genesungsglück  nach  schwerer  Todesgefahr  .  .  .  Ein 
paar  Tage  später  besuchten  wir  wieder  eine  Höhle, 
diesmal  in  Gesellschaft  lustiger  Leute  mit  Führern 
und  unverlöschlichen  Fackeln.  Nichts  mehr  von 
Grauen  und  Feigheit.  Wir  wanderten  durch  die  kalte 
Unterwelt,  der  die  Fackeln  die  warme  Farbe  des  Le- 
bens einzuhauchen  schienen  —  voll  Eifer  für  die  Er- 
kenntnis der  natürlichen  Bildungskraft,  voll  Bewunde- 
rung für  die  künstlerischen  Triebe  dieser  toten  Natur, 
die  doch  wie  ein  genialer  Schöpfer  persönlich  gestaltet. 
Wir  wuchsen  im  Wandern,  und  indem  wir  uns  näher 
denn  je  den  Urgewalten  der  Erde  fühlten,  rauschte 
durch  uns  das  starke  Gefühl,  daß  es  dem  Menschen 
vergönnt  ist,  all  das  Große  zu  empfinden  und  zu  be- 
seelen, dessen  Glied  er  selber  ist.  Beide  Male  waren 
wir  in  einer  Tropfsteinhöhle.  Woher  der  unvereinbare 
Unterschied  unserer  Empfindung,  woher  die  feige 
Angst  das  eine-,  die  stolze  Freude  des  Genießens  das 
anderemal?  Die  Tropfsteinhöhle  hatte  sich  nicht 
geändert?  Es  waren  die  gleichen  Schlünde  und  Ab- 
gründe, dieselben  ahnungsschweren  schwarzen  Gänge, 
und  irgendwo  lockte  immer  ein  Geheimnis  und  eine 
Gefahr,  ein  rätselhaftes  Wasser  und  ein  begehrlich 
schlingendes  Licht.  Es  war  nicht  die  Welt,  die  sich 
verschieden  gestaltete,  es  waren  nur  die  Menschen, 
die  diese  Welt  auf  verschiedene  Art  meisterten.  Zu- 
erst zwei  verlorene  Einzelne,  die  im  Dunkel  und  im 
Ungefähr  den  Pfad  fürchteten,  den  sie  nicht  sahen. 
Dann  eine  fröhliche  Gemeinschaft,  die  ausgerüstet 
war  gegen  das  Dunkel  und  in  sich  Halt  und  Ziel  fand. 

Der  Mensch,  der  in  die  moderne  Stadt  verschlagen 
wird,  ist  in  Wahrheit  als  einzelner  verloren.  Trotz 
aller  blendenden  Fülle  des  elektrischen  Lichtes  und 
der  Glühkörper  ist  die  soziale  Gesellschaft  für  ihn  nur 


4   Eisaer,  Gesammelte  Schriften.  II 


49 


das  Höhlendunkel,  in  dem  jeder  Schritt  ihm  Ver- 
derben droht.  Es  ist  ein  unbekanntes  Land,  dessen 
fremde  Gesetze  und  unerklärliche  Eingebungen  er 
nicht  meistert.  Welche  Gewähr  seiner  Existenz  gibt 
ihm  diese  Gesellschaft?  Die  menschliche  Phantasie 
ist  erfinderischer  in  der  Ausmalung  der  Hölle,  deren 
Schrecken  zu  steigern  und  zu  verwickeln  es  für  sie 
schlechterdings  keine  Grenzen  gibt,  als  in  der 
Schmückung  des  Himmels,  dessen  Wonnen  immer  nur 
ein  blasses  Einerlei  sind.  Die  soziale  Ordnung  scheint 
dieser  Eigenart  des  Menschen  zu  entstammen.  Auch 
sie  kennt  ungezählte  Formen  der  Vernichtung  und 
nur  ein  paar  enge  Auswege  ins  Freie  und  Helle.  Wer 
bürgt  dafür,  daß  Du  überhaupt  Deine  Arbeit  und  Dein 
Brot  findest?  Wo  ist  der  sichere  Führer,  der  Dich, 
wenn  Du  fremd  verschlagen  in  dem  Getriebe  auf- 
tauchst, Dich  sicher  geleitet  zu  der  Stelle,  wo  Arbeit 
und  Brot  Deiner  harrt?  Niemand  bürgt  Dir  Dein 
Leben,  niemand  führt  Dich  zu  Deinem  Platz  in  der 
sozialen  Gliederung.  Hat  Dich  aber  endlich  ein  Zu- 
fall statt  in  die  Tiefe  auf  die  Wege  des  sozialen  Daseins 
geschwemmt,  wer  leistet  Dir  Gewähr,  daß  Du  Dich 
auf  Deinem  Platz  behauptest  ?  Jeder  Tag  kann  Dich 
wieder  fortspülen,  Deine  Sicherheit  ist  nur  die  Frage 
einer  Kündigungsfrist  von  ein  paar  Wochen.  So  lange 
Du  Arbeit  findest,  so  lange  wirst  Du  mißhandelt,  und 
wenn  die  Mißhandlung  aufhört,  liegst  Du  ratlos  und 
•  verlassen  am  Wege.  Diese  soziale  Ordnung  ist  nur  die 
Mietswohnung,  aus  der  Dich  jeden  Augenblick  der 
Hausherr  hinauswerfen  darf.  Wie  fremd  bleiben  sich 
all  diese  Tausende  von  Menschen!  Sie  kennen  sich 
nicht,  selbst  wenn  sie  auf  dem  gleichen  Gange  wohnen, 
in  einem  Zimmer  miteinander  schlafen.  Die  Männer 
und  die  Frauen  finden  sich  zusammen  nach  der  blin- 
den Spielregel  des  Ersten  Besten;  sie  gesellen  sich  in 
dem  Taumel  einer  Nacht,  ohne  daß  sie  von  ihren 
Seelen  wissen;  selbst  die  Art  ihres  Leibes  ist  ihnen 

SO 


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unbekannt.  Lauert  nicht  hinter  jeder  Umarmung 
Ekel  und  Krankheit  ?  Selbst  wenn  sie  sich  fürs  Leben 
verbinden,  so  lernen  sie  sich  erst  kennen,  wenn  ihr 
Schicksal  geschmiedet  ist. 

Überdenke  unsere  sozialen  Beziehungen  in  ihrer 
ganzen  unheimlichen  Zufälligkeit.  Sind  die  Menschen, 
die  aus  uns  geboren  werden,  etwas  anderes  als  die 
kranken  Rauschkinder  einer  sinnlosen  sozialen  Trun- 
kenheit, die  ihre  Geschöpfe  erzeugt,  nachdem  sie  ihre 
Vernunft  vergiftet  hat  ? 

So  verstehe  ich  Deine  Leber.sangst  und  begreife 
Deine  Sehnsucht  nach  der  friedlichen  Dorfgemein- 
schaft, wo  Acker  und  Haus  sich  durch  Generationen 
vererben,  wo  die  toten  Steine  des  Kirchhofes  mit  ihren 
verwitterten  Inschriften  als  traulich  erinnernde  Schwel- 
len verwandt  werden,  über  die  schreitet,  wer  ins  Haus 
geht;  wo  die  Leichenbretter,  auf  denen  einst  die  Vor- 
fahren gelegen  haben,  zwischen  das  Holzwerk  unter 
dem  Giebel  eingefügt  werden;  wo  alle  Glieder  der  Ge- 
meinde sich  von  Kindheit  an  kennen,  wo  die  Burschen 
und  Mädchen  frei  sich  zusammenfinden,  wenn  ihr 
Frülding  kommt,  und  wo  sie  sich  heiraten,  wenn  die 
Früchte  quellen  .  .  . 

Ist  es  nicht  das,  warum  Du  Dich  hinaussehnst  aus  der 
großen  Stadt,  in  die  Dich  ein  Ungefähr  geworfen  hat  ? 
Ist  es  nicht  darum,  daß  Du  das  Glück  der  Einöde  so 
tief  empfindest  ? 

Dieses  Glück !  Ich  habe  mich  nach  den  Insassen  des 
kleinen  Paradieses  erkundigt.  Nur  das  Gehöft  ist  alt, 
der  Bauer  haust  aber  erst  seit  einiger  Zeit  dort  oben. 
Er  ist  zugewandert,  er  hat  das  Gut  übernommen,  von 
dem  der  verschuldete  Bauer  vertrieben  ward.  Auch 
er  zittert  vor  jedem  Zinstermin,  ist  völlig  stumpf  und 
rennt,  wann  er  immer  Zeit  gewinnen  kann,  hinunter 
in  das  größere  Dorf,  spielt  und  besäuft  sich.  Taumelt 
er  heim,  so  prügelt  er  sein  Weib,  ängstigt  seine  Kinder. 
Man  sagt,  daß  er  sich  nicht  lange  mehr  halten  wird. 


4' 


51 


Er  schimpft  unflatig  auf  die  Knechte,  die  Arbeiter,  die 
gar  nicht  mehr  zu  bekommen  sind  und  die  für  hohe 
Lohne  faulenzen.  Sorge,  nichts  als  Sorge  I  Sie  lesen 
keine  Zeitung,  sie  kennen  kein  Kunstwerk,  sie  wissen 
nichts  von  den  großen  Kämpfen  der  Menschheit  und 
all  den  gewaltigen  Bewegungen  ihrer  Zeit.  Und  eine 
verreckende  Kuh  ist  ihnen  Schicksal. 

Willst  Du  hinauf  zu  ihm?  Oder  willst  Du  nicht 
am  Ende  doch  helfen,  die  Fackeln  anzünden,  die  aus 
dem  Schrecken  des  Dunkels  eine  lebendig  wärmende 
Fülle  gestalten?  Nicht  die  unübersehbare  Menge, 
nicht  die  Industrie  ist  es,  welche  uns  das  Leben  ver- 
ödet, uns  d«ese  Angst  vor  einem  Dasein  der  schranken- 
losen Willkür  einflößt.  Wir  müssen  nur  in  Gemein- 
schaft wandern  und  die  Fackeln  anzünden.  Fester, 
furchtbarer,  reicher  als  alle  alten  Dorfgemeinschaften 
ist  die  neue  Ordnung  einer  Massengliederung.  Wir 
suchen  eine  Heimat  und  finden  sie  in  der  —  Soli- 
darität aller  Menschen. 

IV. 
Solidarität 

Der  menschenscheuen  Frau  biete  ich,  um  ihr  in 
der  bangen  Verlassenheit  eine  Heimat  zu  geben,  nichts 
wie  ein  dürres  Wort.  Ein  Fremdwort  dazu:  Soli- 
darität. Alle  diese  Begriffe,  mit  denen  wir  unsere 
neue  Welt  bauen  wollen,  sind  öde,  künstliche  Bil- 
dungen aus  fremden  Sprachen  zusammengeflickt.  Sie 
haben  alle  keinen  Duft.  Man  kann  Leitartikel  mit 
ihnen  schreiben,  aber  das  bescheidenste  Lied  würde 
an  ihnen  sterben.  Solidarität,  ein  technisches  Erzeug- 
nis, wie  Sozialdemokratie,  wie  Organisation,  Agitation, 
Politik,  Parlament,  Koalition,  Streik  —  alles  tote 
Fremdworte ! 

Wenn  einst  die  Menschen  von  dem  Sinn  und  der 
Seele  ihres  Zusammenlebens  sprachen,  dann  hatten 

5« 


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sie  Heimatslaute:  Liebe,  Mitleid.  So  redete  die  alte 
Religion  und  die  schlichte  Volkssittlichkeit.  Liebe 
deinen  Nächsten,  denn  er  ist  wie  du  —  war  das  nicht 
das  traulichste  und  einfachste  Gesetz  aller  gesell- 
schaftlichen Bildung  ?  Sei  mitleidig  gegen  die  Armen 
und  Schwachen,  gegen  die  Wehrlosen  und  Siechen 
—  war  das  nicht  der  Quell  aller  Hilfe  und  lebenerhal- 
tenden Gemeinschaft?  Selbst  in  der  französischen 
Revolution,  die  so  lustig  zu  singen  und  so  ausgelassen 
zu  tanzen  wußte,  fand  man  noch  mütterliche  Laute 
für  das,  was  der  Verstand  dachte,  das  Herz  ersehnte. 
Freiheit,  Gleichheit,  Brüderlichkeit!  Ein  ganzes  Ge- 
bäude der  gesellschaftlichen  Sittlichkeit,  der  wirt- 
schaftlichen Ordnung  und  der  politischen  Verfassung 
in  drei  Worten.  Selbst  in  dem  stummen  Deustchland 
wurde  die  Sprache  der  Revolution  zuliebe  schöpfe- 
risch. Man  hatte  kein  Wort  für  das,  was  die  Franzosen 
Fraternite  nannten.  Da  war  es  der  alte  wackere 
Campe,  dessen  Kinder-Robinson  wir  einst  beide  ver- 
schlungen haben,  der  erwärmt  von  der  Beobachtung 
des  friedlichen,  freundlichen  und  liebreichen  Betra- 
gens der  neuen  Republikaner  die  deutsche  Neubildung 
„Brüderlichkeit"  wagte. 

Wie  kommt  es  wohl,  daß  wir  für  die  sittlichen  Be- 
griffe, die  die  Handlungen  der  proletarischen  Politik 
bestimmen,  keine  Herzenslaute  mehr  finden?  Ist  die 
alte  Sprache  nicht  mehr  schmiegsam  genug,  um  neuem 
Wesen  ein  Gewand  zu  leihen  ?  Oder  ist  der  Willens- 
inhalt dieser  Begriffe  nicht  ernst  und  tief  und  heiß 
genug,  um  sich  ein  natürliches  Lautgebild  aus  seinem 
eigenen  Atem  zu  weben?  Oder  sind  endlich  die 
Sachen,  die  wir  wollen,  die  Handlungen,  die  wir 
begehen,  die  Gefühle,  die  uns  treiben,  noch  zu  fremd 
in  unserer  Welt,  zu  neu  und  unfertig,  als  daß  ihnen 
die  Sprache  das  Heimatrecht  zu  verleihen  sich  schon 
getraute  ? 

Solidarität  —  es  scheint  in  Wahrheit  undenkbar, 


53 


daß  dies  Wort  Gefühle  auslöse,  innere  Kräfte  befreie 
und  Wärme  erzeuge.  Du  möchtest  lieber  von  der 
alten  Liebe  sprechen,  und  ein  bißchen  mitleidige 
Empfindung  ist  da  mehr  als  ein  ganzes  Programm  und 
ein  dickes  Buch  von  solchen  sozialen  Fremdworten. 
Wie  Du  das  Dorf  preisest  vor  der  Stadt,  den  Acker 
vor  dem  Hochofen,  so  möchtest  Du  auch  zurück  zu 
den  einfachen  Begriffen,  den  treuherzigen  Worten, 
den  einfältigen  Gefühlen  einer  natürlichen  Mensch- 
heit. Du  magst  Deine  Worte  und  Begriffe  nicht  aus 
gelehrten  Manifesten  schöpfen,  sondern  aus  der  Un- 
mittelbarkeit des  noch  fest  an  die  Erde  geschmiegten 
Daseins.  Es  soll  zwischen  den  Menschen  wie  ein 
Volkslied  tönen,  nicht  wie  aus  einem  dicken  Lehrbuch 
doziert  werden,  mit  vielen  Anmerkungen  und  weit- 
läufigen Abschweifungen. 

Du  sielist  nicht  den  neuen  Reichtum,  der  in  diesen 
Begriffen  sich  verbirgt,  die  für  Dich  nicht  tönen 
wollen.  Es  liegt  eine  tiefe  Zweckmäßigkeit  darin,  daß 
wir  mit  fremden  kunstreichen  Worten  die  große  Sache 
unserer  Zeit  und  unserer  Zukunft  bezeichnen.  Nicht 
nur,  daß  wir  so  uns  über  die  ganze  Erde  verständlich 
machen.  Denn  es  sind  Fremd worte  in  allen  Sprachen 
und  sie  bilden  so  eine  einheitliche  weit  verständliche 
Internationale  —  auch  ein  Lehnbegriff  —  von  gleich- 
lautenden Begriffen  inmitten  des  babylonischen  Sprach- 
gewirrs der  Menschheit.  Wir  trennen  uns  auch  —  und 
das  ist  das  Wesentliche  dieser  sprachlichen  Eigen- 
art —  mit  den  ausländisch  gekleideten  Begriffen  von 
allen  volksmäßigen  Dämmerzuständen  der  Vergangen- 
heit. Indem  wir  unsere  politischen  und  sozialen  Be- 
griffe von  der  überkommenen  Sprache  absondern, 
scheiden  wir  uns  auch  von  dem  dunklen,  triebhaften 
Handeln  der  unbewußten  Massen  der  Vorzeit,  und 
verraten  auch  äußerlich,  daß  die  Regeln  unseres  neuen 
Handelns  aus  einem  anderen  Reich  stammen,  wie  aus 
der  trächtigen  Nacht  des  dumpfen  Getriebenwerdens 

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durch  ungcbändigte  Leidenschaften  und  wehrlose  Un- 
terwerfung unter  heroische  Zwangsgebote.  Homun- 
culus,  der  chemische  Mensch  aus  der  vom  Menschen- 
witz verzauberten  Retorte,  mag  nicht  das  warme 
Blut  der  nach  der  alten  Art  gezeugten  Müller  und 
Meier  haben,  aber  er  ist  doch  eben  kein  gewöhnliches 
warmblütiges  Wesen,  sondern  ein  Geist,  mit  eigenen, 
sonderbaren,  magischen  Kräften  ausgestattet.  So 
treiben  auch  die  Homunculi  unserer  politischen 
Sprache  ihr  mächtiges  Wesen  unter  uns,  gerade 
weil  sie  nur  in  der  Brautnacht  toter  Materie,  in 
den  Umarmungen  locker  begehrlicher  Elementarstoffe 
entstanden  sind. 

Solidarität  ist  mehr  wie  das  erniedrigende  Mitleid, 
auch  mehr  wie  die  erhöhende  Liebe.  Der  Begriff  ist 
Baumeister  einer  ganzen  erhabenen  Weltordnung. 

Die  vor  uns  lebenden  Geschlechter  haben  viel  von 
Liebe  gesungen  und  Mitleid  gewinselt.  Ihre  Herzen 
waren  von  Kindheit  an  überheizt  mit  dieser  Seelen  - 
wärmung.  Man  schwärmte  von  Menschenliebe  — 
aber  in  Wirklichkeit  gab  es  Liebe  nur  in  den  Be- 
ziehungen von  ein  paar  Menschen,  die  untereinander 
sich  gegen  die  übrige  Welt  abschlössen,  bei  Mann  und 
Frau,  bei  Mutter  und  Kinder,  in  einigen  behaglichen 
Familiennestern,  zwischen  Freunden  am  ernstesten. 
In  den  Gesetzen  aber,  die  die  Gesellschaft  zusammen- 
band und  gliederte,  hatte  die  Liebe  keine  Stätte.  Die 
christliche  Religion  und  die  schulmäßige  Anstands- 
lehre  verkündeten  gleichermaßen,  daß  der  Nächste 
geliebt  werden  müsse,  weil  er  so  wie  Du  sei.  Die  Ein- 
richtungen des  Staates  aber,  die  auf  grausamen,  un- 
entrinnbaren und  unumstößlichen  Gesetzen  beruhten, 
wußten  von  so  viel  privater  Liebesseligkeit  gar  nichts. 
Sie  lehrten  den  Haß,  sie  rechtfertigten  die  Unter- 
drückung, sie  bewaffneten  den  Übermut  der  Starken 
gegen  die  Schwachen.  Wir  waren  erfüllt  von  zer- 
knirschtem Mitleid,  rtnd  schwollen  über  von  Erbarmen 


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für  den  Gekreuzigten.  Unser  Mitleid  weinte  über  den 
Kreuzestod  eines  Märtyrers,  es  trieb  die  eklen  Men- 
schenwracks sozialer  Zerstörung  und  körperlicher  Ent- 
artung von  den  öffentlichen  Straßen  in  die  abgesperr- 
ten Spitäler,  es  kleidete  den  Nackten,  tränkte  den 
Durstigen  und  zupfte  Scharpie  für  die  Wunden  der 
Krieger.  Aber  kein  Mitleid  sorgte,  daß  Elend  und 
Verkümmerung  gar  nicht  entstünde;  daß  Verkünder 
neuer  Lehren  nicht  erst  gekreuzigt  wurden;  daß  die 
weichen  Verbandsflocken  entbehrlich  wären,  weil 
Kriege  nicht  mehr  geführt  würden. 

All  die  Gefühlstugenden  waren  für  den  Privat- 
gebrauch. Das  öffentliche  Recht  hatte  mit  ihnen 
nichts  gemein.  Die  erhabenen  Empfindungen  der 
Nächstenliebe  und  des  Mitleids  waren  Betäubungs- 
mittel, die  Roheit,  Gewalt  und  Grausamkeit  benutz- 
ten, um  die  Ohnmacht  zu  schänden  und  auszurauben. 

Nein,  nichts  mehr  von  Liebe,  Mitleid  und  Barm- 
herzigkeit. Das  kalte,  stahlharte  Wort  Solidarität  aber 
ist  in  dem  Ofen  wissenschaftlichen  Denkens  geglüht. 
Sie  wendet  sich  nicht  an  schwimmende,  gleitende,  rosig 
leuchtende,  untergehende  Empfindungen,  sie  schult 
die  Köpfe,  hämmert  die  Charaktere  und  gibt  der  gan- 
zen Gesellschaft  die  granitene  Grundlage  einer  Um- 
gestaltung und  Erneuerung  aller  menschlichen  Be- 
ziehungen in  ihrer  ganzen  Breite. 

Die  Solidarität  hat  ihre  Wiege  im  Kopfe  der  Mensch- 
heit, nicht  im  Gefühl.  Wissenschaft  hat  sie  gesäugt, 
und  in  der  großen  Stadt,  zwischen  Schloten  und 
Straßenbahnen  ist  sie  zur  Schule  gegangen.  Noch  hat 
sie  ihre  Lehrzeit  nicht  abgeschlossen.  Ist  sie  aber  reif 
geworden  und  allmächtig,  dann  wirst  Du  erkennen, 
wie  in  diesem  harten  Begriff  das  heiße  Herz  einer 
Welt  von  neuen  Gefühlen  und  das  Gefühl  einer  neuen 
Welt  leidenschaftlich  klopft. 

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V. 


Eine  Weltfahrt  in  50  Kilometern. 

Solidarität  aller  Menschen  ist  keine  Liebesseligkeit 
für  den  inneren  Menschen,  sie  ist  der  Gesetzgeber 
allen  Rechts  auf  allen  Feldern  unserer  Betätigung. 
Sie  ist  Tat,  gestaltende  Kraft. 

Und  wenn  Du  fünfzig  Kilometer  vom  Dorf  in  die 
Stadt  fährst,  dann  entdeckst  Du  dieses  junge  Reich 
der  schöpferischen,  tragenden,  steigernden  Solidarität. 
Durch  sie  wird  die  Welt  Dir  zur  großen,  freien,  be- 
wegten und  belebten  Heimat,  die  nichts  mehr  gemein 
hat  mit  der  Schollenhaft  der  alten  engen  Heimat. 

Aber  diese  Entdeckung  wächst  Dir  nicht  entgegen, 
Du  mußt  sie  Dir  erarbeiten  wie  alles  in  der  Welt,  was 
Wert  hat ;  und  schließlich  wirst  Du  nach  vieler  Mühsal 
und  bitterem  Leid  nur  Spuren  finden,  entgleitende 
Spuren,  und  vielleicht  wirst  Du  als  ganzen  Ertrag 
Deines  Ringens  nur  eine  Hoffnung,  einen  Glauben, 
eine  Zuversicht,  eine  zitternde  Überzeugung  des  Zu- 
künftigen gewinnen.  Gleichwohl,  die  Entdeckungs- 
fahrt, zu  der  ich  Dich  einlade,  als  mutige  Gefährtin 
teilzunehmen,  birgt  so  viel  des  Großen  und  des  Glücks 
in  sich,  daß  Du  später  gar  nicht  mehr  fragen  wirst, 
ob  denn  all  der  Aufwand  an  Denken  und  Wollen  durch 
die  Sache  gerechtfertigt  und  bezahlt  würde. 

Ehe  Du  indessen  Dich  in  das  neue  Land  hineinfin- 
dest, mußt  Du  Deine  Augen  üben  für  die  Erkenntnis 
des  alten  Reiches.  Tu  keinen  Schritt,  ohne  das,  was 
Du  siehst,  an  Deiner  Vernunft  zu  messen.  Nimm  keine 
Handlung,  kein  Geschehnis  hin,  ohne  nach  Grund  und 
Ursache,  nach  Zweck  und  Ziel  zu  fragen.  Fast  ist  es 
schwieriger  für  den  Menschen,  Probleme  zu  sehen, 
als  sie  zu  lösen.  Alle  Dinge  dieser  Weh  müssen  Dich 
anreden,  müssen  Dich  fragen.  Du  weißt  gar  nicht, 
wie  neugierig  alle  diese  Dinge  sind.  Sie  wollen  von 
Dir  Auskunft  über  sich  selbst.  Sie  wollen  sich  von  Dir 

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belehren  und  verändern  lassen.  Nur  das  ist  Dein, 
dessen  Geist,  dessen  Seele  Dein  Werk  ist. 

Und  alle  Dinge,  wenn  Du  nur  verstehst,  sie  ge- 
sprächig zu  machen,  erzählen  Dir  von  der  großen 
Sehnsucht  nach  Solidarität.  Du  brauchst  nicht  die 
Welt  zu  durchfahren,  nicht  alle  Erdteile  abzugrasen, 
um  die  Welt  Dir  zu  erschließen.  Der  Weise,  der  einst 
über  den  Marktplatz  des  kleinen  Städtchens  an  der 
russischen  Grenze  nie  hinausgekommen,  maß  doch  in 
seinem  Geist  das  ganze  Universum  aus,  den  Himmel 
und  die  Erde,  den  Sirius  und  das  menschliche  Be- 
wußtsein, die  Zeiten  und  die  Länder,  den  Gang  der 
Gestirne  und  das  Kreisen  des  menschlichen  Willens. 
Eine  Fahrt  von  ein  paar  Meilen,  und  alle  Gegensätze 
der  heutigen  Kultur,  die  Triebkräfte  unserer  Wirt- 
schaft und  die  Zuckungen  des  Zukünftigen  offenbaren 
sich  vor  Dir. 

Wie  wir  zwischen  Wald  und  Eisenbahnböschung 
wandern,  fährt  durch  die  Nacht  ein  hellerleuchteter 
goldbrauner  Zug.  Selbst  die  Schrift,  die  Speise-  und 
Schlafwagen  kenntlich  machte,  leuchtet  zierlich.  Durch 
die  hellen,  großen  Fenster  sehen  wir  im  Flug  geschäf- 
tige Diener  eilen  mit  weißen  Handschuhen,  ohne  des 
Kohlenstaubs  zu  achten,  der  überall  eindringt.  Auf 
breitem  Polster  erhascht  unser  Bück  ein  junges,  um- 
schlungenes Paar,  das  müde  sich  anschickt,  für  die 
Nacht  sich  vorzubereiten.  Während  sie  Hunderte  von 
Meilen  durchmessen,  sind  sie  warm  geborgen,  wie  in 
einer  weichen  Kammer.  Aus  der  Unendlichkeit  der 
Nacht  draußen  reichen  Millionen  von  Schicksalen  un- 
sichtbar ihre  geheimnisvollen  Arme  in  dieses  eilende 
Lichtnest  hinein.  Einsame  Gehöfte,  in  sanft  anstei- 
genden Tälern  gebettete  Dörfer,  rauchende  Städte,  die 
aus  glühenden  Hochöfen  den  Himmel  zu  verbrennen 
scheinen  —  all  dies  bunt  und  mannigfach  treibende 
Leben  öffnet  dem  Zug  wie  für  einen  Augenblick  nach- 
schauend und  aufmerkend  seine  Augen,  um  sie  gleich 

5» 


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wieder  zu  schließen.  So  verlieren  sich  Zeit  und  Raum. 
Die  Sonne  geht  auf.  Im  Frührot  lugt  ein  kleines 
Hirtenmädchen,  an  die  Schranke  der  Dorfstraße  ge- 
lehnt, nach  dem  vorüberstampfenden  Zug.  Es  wird 
immer  nur  an  die  Schranke  gebannt,  die  Ferne,  die 
es  nie  erleben  wird,  im  enteilenden  Zug  zu  ahnen  ver- 
mögen. Vielleicht  hat  es  von  seinem  alten  Schulmeister 
schon  gehört,  daß  weit  draußen  Meere  brausen,  Schnee- 
gipfel in  den  Himmel  wachsen,  daß  der  reiche  Mann, 
der  im  Norden  friert,  einen  Tag  später  schon  zwischen 
märchenhaft  duftenden  Frühlingsblumen  zu  wandern 
vermag,  daß  er  schneller  in  wunderlichen  fremden 
Völkerschaften  unterzutauchen  ermöglicht,  als  das 
dumme  Dirnlein  deren  Schilderungen  in  Indianer- 
geschichten buchstabierend  zu  bewältigen  vermöchte. 
Die  Weltfahrt  in  dem  goldbraunen  Zug  unterbricht 
nicht  einmal  das  Behagen  des  Hauses.  Der  Mensch 
selbst  erhält  etwas  von  der  Bewegungskraft  der  im 
Wechselgcsang  der  Sphären  den  ewigen  Reigen  des 
Unendlichen  tanzenden  Sterne.  Alle  Menschen  aber 
sind  gleich  in  diesem  Zug.  Kein  Raum  ist  anders  aus- 
gestattet. Die  Gleichheit  auf  den  Gipfeln  des  Reich- 
tums! Alles  was  die  Verkehrstechnik  an  Bequemlich- 
keiten und  sinnreicher  Erleichterung  zu  ersinnen  ver- 
mag, ist  in  diesem  Zug  angewandt.  Wer  in  ihm  fährt, 
braucht  nicht  das  Gefühl  zu  haben,  daß  das  Reisen 
eine  Sünde  sei,  die  bestraft  werden  muß  durch  die 
Marter  des  Reisens  selbst.  In  den  Kursbüchern  setzt 
man  ein  L  vor  die  Zugnummer  —  Luxus/.üge  für  die 
reichen  Leute,  die  immer  irgendwo  zwischen  Ostende 
und  Konstantinopel,  zwischen  Paris  und  Petersburg 
oder  gar  zwischen  Nizza  und  Peking  leben.  Und  daß 
diese  Glücklichen  offenbar  gar  nicht  die  Schande  der 
öden  Gleichmacherei  empfinden,  von  der  man  uns 
doch  sagt,  daß  sie  das  edelste  des  Menschentums  zer- 
fresse! Sie  hausen  alle  in  derselben  VVagenklasse,  die 
man  die  erste  nennt. 


59 


Wir  beide  müssen  noch  ein  Weilchen  warten,  dann 
steigen  auch  wir  von  unserem  kleinen  Dorfe  aus  in  den 
Zug.  Wie  anders  ist  der  gestaltet.  Er  ist  zusammen- 
gestoppelt wie  aus  Fahrzeugen  aller  Epochen  des 
Eisenbahnzeitalters:  enge,  dürftige  Kästen,  holperig 
und  schlecht  beleuchtet,  auf  rauhen  Federn  stoßend. 
Unser  Zug  stolpert  langsam  wie  ein  ermüdeter  Klepper 
und  auf  unseren  Holzbänken,  in  denen  der  Menschen- 
schweiß von  Generationen  sich  eingenistet  zu  haben 
scheint,  finden  wir  keinen  Raum  und  keine  Fläche,  um 
unserem  Körper  Behagen  zu  schaffen.  Wir  sind  ein- 
gezwängt wie  in  die  eiserne  Jungfrau,  hocken  dicht 
zusammen  mit  wildfremden  Menschen,  die  mit  Kör- 
ben und  Kästen  den  Raum  füllen,  schwatzen  oder 
gähnen,  im  Halbschlaf  hindämmern,  schnarchen  oder 
rauchen.  Nach  wenigen  Minuten  fühlen  wir  uns  schon 
krank  und  matt.  Wenn  wir  nur  erst  zu  Hause  wären ! 
Freilich  unser  Zug  besteht  nicht  nur  aus  diesen  Holz- 
kerkern, man  hat  auch  grün  und  rot  gepolsterte  Zellen, 
die  zweite  und  die  erste  Klasse.  Und  wenn  wir  über 
die  südliche  Grenze  gen  Norden  fahren  würden, 
hätten  wir  auch  noch  das  Schauspiel  der  wimmelnden 
Tiefe,  die  vierte  Klasse,  in  der  man  es  schon  als  eine 
soziale  Wohltat  einer  erleuchteten  Regierung  be- 
trachtet, daß  sie  auf  den  christlichen  Einfall  geraten 
ist,  wenigstens  für  einen  Teil  der  hier  zusammen- 
geklumpten  Menschheit  ein  paar  Sitzhölzer  zur  Ver- 
fügung zu  stellen. 

Hörtest  Du,  wie  der  Luxuszug  Dich  befragte,  und 
wie  dieser  nicht  einmal  beschleunigte  Personenzug  mit 
seinen  drei  Klassen  Dich  mit  seiner  Neugier  bestürmte  ? 
Du  hast  eine  Weltfahrt  durch  unser  soziales  Dasein 
für  die  paar  Pfennige  erlebt,  die  uns  in  der  dritten 
Klasse,  hinter  dem  Luxuszug  her,  vom  Lande  in  die 
Industriestadt  gebracht  hat. 


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VI. 


Wagenklassen. 

.  .  .  Nichts  könnte  mich  hindern,  auch  diese  Weih- 
nacht wie  sonsten  zu  Dir  zu  kommen  und  Dir  ein 
Bäumchen  anzuzünden.  Sind  wir  auch  an  hundert 
Meilen  auseinander,  nicht  viel  mehr  als  eine  Nacht- 
fahrt, und  ich  bin  bei  Dir.  Aber  wir  werden  beide 
allein  sein  und  Du  wirst  nur  einen  Boten,  diesen  klei- 
nen Brief,  von  mir  erhalten.  Wäre  es  Dir  Ernst  mit 
Deiner  Leugnung  der  modernen  Kultur,  so  müßtest 
Du  dem  Briefe  die  Annahme  verweigern;  denn  indem 
er  Dich  über  Nacht  zu  erreichen  vermag,  fliegt  mit  ihm 
die  technische  und  organisatorische  Kulturarbeit  von 
Jahrtausenden,  die  Du  verachtest,  hassest  und  fliehen 
möchtest. 

Oder  stelle  Dir  vor,  wie  es  zu  erreichen  wäre,  wenn 
es  keine  Eisenbahn  gäbe  und  keine  kunstvolle  unend- 
lich verschlungene  und  doch  einheitlich  klare  zweck- 
einfache Organisation  des  Postwesens,  um  ein  paar 
Zeilen  über  hundert  Meilen  zu  befördern.  Nur 
Könige  könnten  sich  solches  leisten,  fast  nur  sieg- 
reiche Könige,  die  das  Land  beherrschen.  Karawanen 
müßten  ausgesandt  werden,  um  meinen  einzigen  Brief 
zu  befördern,  auf  unwegsamen,  gefährd  eten  Gebieten, 
über  Flüsse,  die  keine  Brücken  haben  und  kaum  ge- 
brechliche Nachen.  Wochen  würd'  es  dauern  und 
Monate,  ehe  die  teure  Botschaft  an  Dich  gelangte, 
sofern  die  Erde  noch  wäre  wie  Du  sie  träumst,  ganz 
Natur  und  nur  Natur. 

Heute  kostet  der  Spaß  ein  paar  Pfennige,  im  Nu 
sind  die  hundert  Meilen  durchmessen  und  der  Brief 
erreicht  Dich  mit  einer  Sicherheit,  als  würde  er  durch 
ein  unverbrüchliches  Naturgesetz  selbst  befördert,  als 
wäre  er  ein  Sonnenstrahl.  Opfere  ich  gar  ein  kleines 
bescheidenes  Silberstück,  so  kann  ich  Dir  auch  den 
Weihnachtsgruß  über  die  hundert  Meilen  hinweg  ins 


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Ohr  rufen.  So  lange  die  Welt  besteht,  ist  niemals  Kraft 
verloren  gegangen.  Nur  verschwand  sie  leicht  ins 
Unauffindbare  wie  eine  Quelle,  die  plötzlich  in  der 
Erde  versickert,  nachdem  sie  eben  erst  hervorgesprudelt. 

Das  ist  das  neue,  das  unermeßliche  Glück  unserer 
Zeit,  daß  all  die  Millionen  Quellen,  die  seit  Anbeginn 
auf  Erden  unsichtbar  vorhanden  sind,  plötzlich  wieder 
im  Tage  erscheinen  und  alle  ihre  Zauberkräfte  sicht- 
bar zeigen.  Wir  brauchen  uns  heute  nicht  mehr  mit 
dem  Gefühl  zu  trösten,  daß  die  Quellen  vorhanden 
sind,  nur  daß  sie  sich  eben  verkrochen  habe.  Unsere 
zivilisierten  Kräfte  der  Natur,  die  bleiben  immer  vor 
aller  Augen,  ihre  Verwandlungen  vollziehen  sich  auf 
offener  Bühne,  sie  kleiden  sich  ohne  Scheu  vor  jeder 
Neugier  um,  und  kein  Dunkel  der  Erde,  kein  mysti- 
scher Nebel  verhüllt  ihr  Wandeln  und  unterbricht  ihr 
Werden.  Das  Wort,  das  ich  hundert  Meilen  der 
Freundin  hinüberrufe,  verschwindet  nicht  ins  Leere, 
versickert  nicht  in  den  unergründlichen  Wirbeln  ätheri- 
scher Bewegung,  wo  nur  ein  Gott  es  zu  entdecken  ver- 
möchte, sondern  es  marschiert  geradenwegs,  nur  ein 
wenig  ermattet  und  von  der  langen  Reise  verstaubt, 
ins  Ohr  und  ins  Bewußtsein  der  Frau,  der  es  galt. 

Ist  nicht  unsere  künstl:chc  Zivilisation,  die  uns 
dem  natürlichen  Menschentum  zu  entfremden 
scheint,  recht  eigentlich  erst  die  Entdeckung  der  ver- 
schütteten Natur?  Nur  vermögen  wir  die  Quellen, 
die  so  lustig  in  unendlicher  Fülle  aus  der  Tiefe  der  Jahr- 
millionen hervordrängt,  nicht  schön  zu  fassen,  sie 
nicht  rein  zu  halten,  sie  nicht  ins  Fruchtbare  zu  leiten. 
Wir  stampfen  sinnlos  in  ihnen  wie  die  Barbaren,  wir 
zertreten  in  wüstem  Gerauf  die  Durstigen,  die  sich 
erquicken  wollen,  und  wir  beschmutzen  und  verderben 
die  reine  Kraft. 

Wir  genießen  nicht  nur  den  Ertrag  von  Jahrtausen- 
den, wir  erleben  in  jeder  Stunde,  an  jedem  Tage  un- 
mittelbar Jahrtausende.    Das  Reporterwort  von  der 

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Völkerwanderung,  das  sich  regelmäßig  einsteilt,  wenn 
von  der  Bewegung  großer  Menschenmassen  die  Rede 
sein  soll,  ist  ein  ganz  kümmerlicher  Vergleich.  Er  soll 
eine  gigantische  Übertreibung  sein  und  ist  nur  eine 
armselige  Verkleinerung.  Was  ist  denn  jene  alte  Völ- 
kerwanderung, wenn  wir  ihre  ganze  Bewegungsleistung 
summieren,  verglichen  mit  jener  Wanderung,  die  vor 
dem  Weihnachtsfest  innerhalb  eines  einzigen  Landes 
vollbracht  wird:  Ein  kleinstädtischer  Sonntags-Spazier- 
gang gegen  die  Bewegung  einer  Millionenstadt.  Die 
dicken  Geschichtswerke  über  die  Völkerwanderung 
würden,  wenn  sie  mit  dem  Schrittmesser  nachrechnen 
würden,  nicht  entfernt  die  Wanderleistung  eines  De- 
zembertages vor  Weihnachten  ermitteln:  Millionen 
Briefe  und  Pakete,  Frachten  und  Menschen,  alles  auf 
einmal  durcheinander  gewirrt,  in  den  reißenden  Strudel 
geworfen,  hinausgeschleudert  und  umhergehetzt,  sich 
kreuzend  und  überstürzend  und  doch  ohne  Verwechse- 
lung und  ohne  Umweg  ihr  vorgesetztes  Ziel  erreichend. 

Jeder  Mensch  scheint  in  diesen  Tagen  irgendwo  eine 
Heimat  zu  haben,  zwischen  dem  äußersten  Osten  und 
fernen  Westen  fluten  Soldaten,  dicht  gedrängt  in  die 
hölzernen  Käfige,  hin  und  her.  Ein  paar  Tage  Urlaub 
ermöglicht  ihnen  ferne  Freundschaft  und  Liebe  auf- 
zusuchen. Ubernächtig  erreichen  sie  das  Ziel.  Zer- 
martert von  der  harten  Fahrt  in  der  dumpfen  vergif- 
teten Luft,  die  von  fauligem  Atem  zersetzt  und  in 
der  all  der  Schweiß  zusammengepferchter  Menschen 
aufgelöst  ist.  Warum  wird  diese  Fahrt  zur  Marter? 
Warum  fahren  sie  nicht  alle  bequem  und  lustig,  ohne 
bei  trübem  Licht  die  Zeit  müßig  zu  verbringen,  ohne 
auf  naturwidrigem  Sitz  sich  zuschanden  räkeln  zu 
müssen  ?  Wir  listen  zwar  der  Natur  ihre  Geheimnisse 
ab  und  schirren  sie  wie  geduldige  Zugtiere  ein,  aber 
das  edelste  Geschöpf  der  Natur,  der  Mensch,  verstand 
sich  selber  noch  nicht  zu  zähmen.  LTnd  während  wir  mit 
der  Zeit  um  die  Wette  uns  vorwärts  bewegen,  bleiben 


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wir  weit  hinter  uns  selbst  zurück.  Wir  könnten  alle 
fliegen  und  die  meisten  müssen  doch  kriechen.  Die 
Technik  kennt  kaum  noch  eine  Marter,  und  wir  er- 
halten künstlich  alle  Qualen  und  basteln  selbst  neu 
die  überlebten  Erzeugnisse  der  Vergangenheit.  Wir 
schaffen  mühselig  die  Pein  und  wenden  unsäglichen 
Fleiß  darauf,  Unvollkommenes  hervorzubringen,  wäh- 
rend wir  die  Vollkommenheit  zu  erreichen  vermöchten. 
Wir  würden  alle  mehr  als  200  Kilometer  in  der  Stunde 
vorwärts  stürmen  und  wir  vergeuden  die  Zeit,  indem 
wir  uns  noch  mit  dreißig  begnügen.  Wir  könnten  in 
lichten  behaglichen  Räumen  die  Erde  durchmessen  und 
wir  verurteilen  uns  selbst,  in  Staub  und  vergifteter 
Luft  uns  auf  ungefüger  Folterbank  zu  zerquälen.  Wir 
fahren  in  drei  und  vier  Wagenklassen,  in  den  Fahr- 
zeugen aller  technischen  Zeitalter.  Wir  schleppen  jede 
Stümperei  von  ehedem  noch  mit  und  wir  verwandeln 
das  lebendig  flutende  Dasein  in  ein  dunkles  Museum 
vorzeitlicher  Seltsamkeiten  oder  in  ein  Leichenschau- 
haus, wo  wir  die  Selbstmordfälle  der  entwickelten 
Technik  grausam  öffentlich  zeigen  —  gegen  Eintritts- 
geld sogar. 

Das  Ziel  all  unserer  ringenden  Kultur  scheint  in 
Wahrheit  die  Sonderung  in  Wagenklassen  zu  sein,  oder 
auch  in  der  Züchtung  künstlicher  Krüppel  ...  Ich 
werde  mich  in  der  heiligen  Nacht  einsam  in  eine  letzte 
Wagenklasse  setzen  und  irgendwohin,  weit  in  das 
Dunkle,  hinausfahren.  Vielleicht  werde  ich  der  einzige 
Gast  sein,  da  alle  ihre  Heimat  schon  gefunden,  und 
werde  heimatslos  immer  weiter  fahren  bis  in  das  Land, 
wo  es  keine  Wagenklassen  mehr  gibt  und  keine  — 
Klassen  .  .  . 

VII. 

Fremde  Seelen. 

Du  bist  ein  armer  Teufel  gewesen.  Du  bist  in  Enge 
aufgewachsen.   Im  Elternhause  kanntest  Du  nie  an- 

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deres  ah  den  niedrigen  Hader  und  die  gemeine  Not- 
durft. Das  Wochengeld  war  das  Schicksal  dieses  Da- 
seins. Niemals  wußtet  ihr,  wovon  morgen  leben. 
Wenn  der  Tag  dos  Mietzinses  kam,  befiel  es  alle  wie 
Todesangst.  Zerrissen  die  Stiefel,  so  war  der  Schuster, 
der  bezahlt  sein  wollte,  für  euch  der  schwarze  Mann. 
Ihr  schrakt  zusammen,  sobald  vom  Hausflur  das 
Glockenzeichen  tönte;  dort  standen  immer  Leute,  die 
Geld  haben  wollten,  niemals  welche,  die  Geld  brach- 
ten. Jeder  Brief  flößte  euch  Entsetzen  ein;  gewiß 
brachte  er  euch  eine  grobe  Mahnung.  Und  den  Staat 
sähet  ihr  nur  als  den  Steuererheber  und  Gerichtsvoll- 
zieher. Ihr  kanntet  keine  Freude,  keine  Hoffnung. 
Euer  ewiger  Gedanke  dr~  Schreckens  war:  So  würde 
das  Leben  abrinnen,  in  Grau  und  Gram!  Deine  Ju- 
gend zeigte  sich  nur  in  der  feinhäutigen  Empfindlich- 
keit gegen  die  harte  Grobheit  der  Alten,  die  fluchten 
und  schimpften  und  längst  das  Gefühl  verloren  hatten 
für  die  Abscheulichkeit  eines  Menschenverkehrs,  der 
auf  der  Brutalität  der  ungehemmten  Launen  beruht. 
Du  hast  mir  oft  erzählt,  wie  Du  am  Abend  zu  Bett 
gingst  mit  dem  stumm  schluchzenden  Gebet:  Nur 
nicht  mehr  aufwachen,  nur  ein  Ende,  nur  einmal  Ruhr! 
Und  warst  doch  jung,  und  Dein  Leben  blühte  wider 
Deinen  Willen,  mitten  durch  das  zerfleischende  Ge- 
strüpp hindurch. 

In  Deiner  Well  waren  geistige  Bedürfnisse  ein  frevel- 
hafter Luxus.  Man  riß  Dir  die  Bücher  fort.  Sie 
setzen  Dir  nur  dummes  Zeug  in  den  Kopf,  machen 
Dich  übet  spannt,  und  halten  Dich  von  der  Aibeit  ab. 
Du  dachtest  verzweifelt:  Jedes  Leben,  das  über  meines 
emporsteigst,  ist  also  überspannt.  So  zu  leben,  wie  ich 
lebe,  so  trostlos,  so  niedrig,  das  ist  normal,  vernünftig, 
praktisch. 

Dann  kamen  Deine  Mädchenträume.  Der  Mann 
wuchs  in  Deiner  Phantasie  auf.  Du  schwärmtest  von 
Hingabc  bis  zum  Tode,  von  Opfern  ohne  Zaudern 


5    Eisner.  Gesammelte  Schriften.  11. 


und  Zagen,  von  zarter  seelischer  Gemeinschaft,  von  tief- 
innerer  geistiger  Kameradschaft.  Sahst  wohl  im  ersten 
besten  Burschen  die  Erfüllung  Deiner  Sehnsucht.  Und 
dann  wieder,  monatelang,  blutete  Deine  gefesselte  Liebe 
für  einen  Gelehrten,  der  fast  schon  Greis,  den  Adel 
seines  Denkens  in  einem  gelähmten  Körper  trug. 
Nun  wolltest  Du  Deine  Kindlichkeit  opfern,  als  de- 
mütig dienende,  entsagende  Gefährtin.  So  suchte  Dein 
Drang  nach  dem  Großen  und  Guten  wirre  Auswege. 

Das  war  nun  alles  wieder  überspannt.  Schlag  Dir  die 
Dummheiten  aus  dem  Kopfe,  hieß  es.  Geh  lieber  an 
Deine  Arbeit,  keifte  es.  Man  muß  Dir  die  Mucken  aus 
dem  Leibe  prügeln,  drohte  man,  als  Dein  Blut  einmal 
ernstlich  rebellierte.  Gelegentlich  wurde  man  auch  sen- 
timental: Du  bringst  Deine  Eltern  frühzeitig  ins  Grab, 
nichts  als  Sorge  bereitest  Du  uns.  Die  freilich  hatten 
längst  vergessen,  daß  auch  sie  jung  und  leidenschaftlich 
gewesen,  vielleicht  waren  sie  es  auch  nie.  Dummheit 
und  Überspanntheit,  oder  auch  Sünde,  Schmutz  und 
Laster,  in  dieser  Belastung,  Verzerrung  und  Besudelung 
erschien  Dir  die  erhabenste  Kraft  der  Menschheit,  so 
trüb  quoll  Dir  der  lautere  Quell  allen  Lebens. 

Bald  verkrochst  Du  Dich  schweigend  in  Dein  Elend. 
Aber  wenigstens  arbeiten  wolltest  Du,  nur  arbeiten, 
um  zu  vergessen,  nichts  mehr  zu  wünschen ;  um  dieses 
Dasein  nicht  zu  „überspannen"! 

Arbeiten  wirst  Du  wohl  noch  dürfen! 

Da  enthüllte  Dir  diese  grausame  Welt  ihr  unheim- 
lichstes Rätsel:  Es  gab  nicht  einmal  die  Arbeit  für 
Dich.  Auf  geistige  Arbeit  hattest  Du  längst  verzichtet. 
Niemals  warst  Du  so  toll,  Deine  kleinen  künstlerischen 
Talente  ausbilden  zu  wollen.  Musik,  Theater,  Malerei 
—  nein,  das  war  nichts  für  Dich.  Solcher  Träumereien 
hattest  Du  Dich  entwöhnt.  Nein,  Du  wolltest  ganz  ge- 
wöhnlich arbeiten,  mit  Hand  und  Augen,  mit  Nerven 
und  Sehnen,  tagelöhnern,  gleichviel  was,  im  endlosen 
Einerlei,  wenn  es  sein  mußte,  gegen  kärgliche  Entloh- 

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nung; nur  so  viel  begehrtest  Du,  um  Deinen  Hunger  zu 
fristen  und  Dir  ein  Stübchen  zu  mieten,  zu  arbeiten  bis 
zur  Erschöpfung  und  auszuruhen  für  neue  Erschöpfung. 

Du  wolltest  arbeiten  und  diese  überstürzend  ge- 
schäftige Gesellschaft  fand  keine  Arbeit  für  Dich.  Alle 
Galeeren  waren  besetzt,  sie  hatten  nicht  einmal  Raum, 
Dich  an  die  Kette  zu  legen.  Freilich  Arbeit  hättest 
Du  ^chon  finden  können,  aber  nicht  nur  Arbeit,  wie 
Du  wolltest.  Man  begehrte  noch  mehr  von  Dir  als 
die  Arbeit,  als  die  Muskeln  und  das  treibende  Gehirn. 
Auch  Deine  Seele  wollte  man  haben,  diese  scheue 
Seele,  die  nackt,  schutzlos,  einsam  von  Schmerzen  ge- 
quält wurde,  wenn  eine  plumpe  Faust  sie  berührte, 
schon  wenn  ein  unreiner  Hauch  sie  anwehte.  Du  soll- 
test in  Gemeinschaft,  in  Abhängigkeit  arbeiten;  das 
ertrugst  Du  nicht.  Du  liefst  aus  dem  Warenhaus  fort, 
in  dem  Dich  die  eitle  Oberflächlichkeit  der  Gefährtin- 
nen anwiderte,  das  schroffe  Herrenbewußtsein  der 
Vorgesetzten  empörte,  die  schamlose  Anmaßung  des 
Publikums  aufreizte.  Du  flüchtetest  aus  der  Fabrik, 
in  der  Du  jeden  Tag  den  Ekel  der  faden  Gerüche,  den 
Schmerz  der  schrillen  Geräusche  mühsam  überwinden 
mußtest,  w»il  Du  den  Ton  der  andern  nicht  ertrugst, 
Du  hattest  nichts  Gemeinsames  mit  ihnen,  Du  fühltest 
Dich  unablässig  betastet,  ausgekleidet,  ausgefragt,  und 
wolltest  doch  nichts  anderes  wie  still  für  Dich  arbeiten, 
fremd  und  verlassen.  Und  endlich  schlössest  Du  Dich 
in  Dein  Zimmer  ein,  Heimarbeiterin,  für  Almosen 
Tag  und  Nacht  Dich  mühend,  aber  wenn  Du  die 
Waren  abliefern  solltest,  so  befiel  Dich  ein  Grauen, 
wenn  Du  an  die  Späße  Deiner  Peiniger  und  die  Nörge- 
leien der  Gestrengen  dachtest.  Gab  es  denn  in  dieser 
Welt  nicht  wenigstens  ein  Recht  auf  Abgeschlossenheit, 
auf  ein  Für-sich-Sein,  einen  Schutz  des  freien  Emp- 
findens? War  ein  armer  Mensch,  und  zumal  eine 
Frau,  wehrlos  ausgeliefert  jedem  Angriff  und  jedem 
Eindringen?   Gab  es  keine  Möglichkeit,  zu  arbeiten 


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ohne  von  Menschen  gequält  zu  werden  ?  Konnte  man 
nicht  arbeiten  und  dennoch  frei  sein? 

In  diesem  Zustand  fand  ich  Dich  zuerst.  Niemals 
habe  ich  einen  so  verzagten  und  verkümmerten  Men- 
schen getroffen,  der  aus  gepeinigter  Seele  so  inbrünstig 
nach  Ruhe  und  —  Güte  schrie.  Und  am  ersten  Abend 
gestandest  Du  mir:  „Ich  ertrag  es  nicht  länger.  Ich 
gehe  in  ein  Bordell."  Dabei  sahst  Du  mich  aus  großen 
trauenden  Kinderaugen  unschuldig  an.  Das  schien 
Dir  das  letzte,  die  unentrinnbare  Ruhe  unrettbarer 
Verkommenheit. 

Ich  warnte  Dich,  man  werde  Dich  für  lasterhaft, 
für  verrucht  halten.  Du  lächeltest  müde:  Schlimmer 
könnte  es  doch  nicht  werden,  Du  hättest  nichts  zu 
verlieren,  es  sei  Dein  ernster  Entschluß  .  .  . 

Darüber  sind  viele  Jahre  ins  Land  gegangen.  Wir 
beide  leben  noch.  Eine  Laune  des  Schicksals  hat  Dich 
aus  dem  Tiefsten  gerettet.  Aber  Du  bist  immer  noch 
ein  Menschenflüchtling,  der  sich  verkriecht  —  eine 
fremde  Seele  in  dieser  wimmelnden  Menschenherde. 

Zu  jener  Zeit  aber  empfand  ich  es  als  meinen  Beruf, 
Dich  für  dieses  tätige  Dasein  zu  erziehen,  Dich  abzu- 
härten,  Deine  Empfindlichkeit  zum  Idealismus  der 
großen  Sache  und  der  heiligen  Handlung  zu  läutern. 
Aber  schon  in  den  ersten  Tagen  gewahrte  ich  den 
Zwiespalt,  der  sich  nicht  lösen  wollte.  Dein  Empfin- 
den war  in  der  Ode  Deiner  kleinbürgerlichen  Herkunft 
gebildet.  Du  fühltest  Dich  noch  als  etwas  sozial 
Höheres  und  Feineres,  obwohl  Du  ganz  unten  in  der 
Tiefe  verschmachtetest.  Und  damals  ging  es  in  mir 
auf,  wie  die  soziale  Zerklüftung  unserer  Gesellschaft 
nicht  nur  Reiche  und  Arme,  Herrscher  und  Unter- 
drückte, Ausbeuter  und  Ausgebeutete  erzeugt,  sondern 
wie  sie  in  den  Klassen  gesonderte  Rassen  hervorbringt, 
die  sich  nicht  verstehen,  die  anders  reden,  denken* 
empfinden,  als  ob  sie  auf  verschiedenen  Sternen  lebten. 

Ich  lud  Dich  zu  einer  kleinen  Wanderung  ein,  zu  einer 

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kurzen  Eisenbahnfahrt  —  dort  oben  im  Norden,  wo 
es  noch  eine  vierte  Wagenklasse  gibt.  Du  warst  ge- 
wöhnt, die  paarmal,  wo  Du  reisen  konntest,  die  bürger- 
liche dritte  Klasse  zu  benutzen.  Ich  versuchte,  Dich 
in  die  vierte  zu  locken  —  mitten  unter  die  Proletarier 
der  Stadt  und  die  Marktfrauen  vom  Dorf.  Du  sträub- 
test Dich.  Ein  physischer  Abscheu  befiel  Dich.  Und 
Du,  die  bettelarm  war  und  so  jämmerlich  elend, 
fürchtetest  trotz  aller  Deiner  Not,  noch  unter  Deine 
Klasse  herabzusinken.  Diese  proletarische  Welt  war 
Dir  ein  Unbekanntes  und  ein  Grauen  —  wie  eine  un- 
heimliche wilde  Völkerschaft,  deren  Gedanken,  Emp- 
findungen, Absichten  man  nicht  kennt  und  denen  man 
deshalb  mißtraut.  Sie  hatten  fremde,  dunkle  Seelen, 
und  Du  fürchtetest  Dich  vor  der  Berührung  mit 
dieser  —  vierten  Wagenklasse,  Bürgerin  der  dritten!  .  .  . 

Damals  grollte  ich  Dir  wegen  Deines  verstockten 
Eigensinns.  Ich  grollte  Dir,  denn  ich  glaubte  Dich 
noch  ändern  zu  können.  Jetzt,  da  das  Jahr  zu  Ende 
ging,  das  uns  trennte,  weiß  ich,  daß  ich  nicht,  daß 
niemand  die  Macht  hat,  Dich  in  die  —  vierte  Wagen- 
klasse zu  locken.  Auch  meine  Briefe  wandelten  nicht 
Deine  Seele.  Du  bist  mir  fremd  geworden,  indem  ich 
die  Ohnmacht  meines  Schreibens  fühlte.  Und  fast  will 
es  mir  scheinen,  als  ob  es  auf  der  ganzen  Welt  keinen 
Menschen  gibt,  den  ich  so  wenig  kenne  wie  Dich  — 
die  einzige  Freundin  vieler,  vieler  Jahre. 

Ich  werde  Dir  niemals  mehr  schreiben.  Aber  in  dem 
Augenblick,  da  ich  Dir  und  mir  das  Gelöbnis  des  völ- 
ligen Vergessens  gebe,  ist  es  mir,  als  ob  eine  neue  Ju- 
gend in  mir  aufwacht.  Ich  suche  wieder  nur  den  ein- 
zelnen Menschen  und  ich  weiß:  morgen  wird  das 
Geschöpf  der  verjüngten  Welt  auf  der  Schwelle  meiner 
Türe  stehen  und  von  dem  vergrämten  Einsiedler  be- 
gehren, daß  sie  ihm  Schülerin  se»,  Gehilfin,  Wander- 
gefährtin, Geliebte  —  bis  in  den  Tod  .  .  . 

[Herbst  1908.] 

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Die  ewigen  Arbeiter. 
(Aus  einem  Reich  24itündiger  Arbeitzeit.) 

Eine  soziale  Wanderung. 
I. 

Die  Tragödie  der  großen  Masse,  dsr  namenlos 
Vorübergehenden,  Vorübergewehten,  lebt  und  voll- 
endet sich  in  der  toten  Ware,  die  allen  Glanz  dieses 
Daseins  ermöglicht.  Die  blutige  Runenschrift  der 
Waren  entziffern,  heißt  die  Bedingungen  unseres  ge- 
sellschaftlichen Daseins  erkennen.  Geronnene  Tränen, 
geschliffene  Seufzer,  verwebte  Lungen,  zerhämmertes 
Hirn,  das  sind  die  gesellschaftlichen  Urelemente,  die 
sich  unsichtbar  mit  den  natürlichen  Stoffen  und  der 
kunstfertigen  menschlichen  Weisheit  verbinden.  Und 
je  heller  die  Ware  schimmert,  desto  dunkler  ist  die 
Höhle,  in  der  sie  geboren  ward.  Gäbe  es  ein  Gesetz, 
das  den  Käufer  verpflichtet,  jeder  Ware  einen  Ur- 
sprungszettel beizugeben,  in  der  die  soziale  Zeugungs- 
geschichte des  Gegenstandes  wahrheitsgetreu  ver- 
zeichnet ist,  die  verhärtete  Menschheit  würde  diese 
Urkunde  nicht  ertragen. 

Der  grausamste  Spiegel  aber  menschlicher  Not,  die 
zur  Ware  wird,  ist  der  Spiegel.  Wenn  er  sich  selbst 
bespiegeln  könnte,  wenn  er  wiedergäbe,  nicht  was  vor 
ihm  steht  und  das  Echo  seiner  Eitelkeit  zu  hören  be- 
gehrt, sondern  wenn  in  ihm  das  Bild,  die  Bilder  seiner 
Entstehung  sichtbar  würden,  das  hellste  Kristallglas 
würde  in  grauenhaften  Blutflecken  erblinden.  Eine 
Leidensstation  des  Spiegels  hat  vor  Jahren  Bruno 
Schönlank  der  entsetzten  Öffentlichkeit  geschildert: 

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die  menschenfressenden  Quecksilberbeleg-Anstalten  in 
Fürth.  Aber  das  ist  nur  eine  Station.  Von  Anbeginn 
bis  zum  Ende,  von  der  Herstellung  des  ersten  Rohpro- 
dukts bis  zur  letzten  Veredelung  wandert  der  Spiegel 
in  wirren  Kreuz-  und  Querzügen  von  Not  zu  Not. 
Alle  Sinnlosigkeit  und  alle  Qual  der  kapitalistischen  Ver- 
fassung häufen  sich  in  diesem  schimmernden  Glas,  das 
dann  den  Selbstgenuß  der  Schönheit  zeugt.  Von 
Feuer  zum  Wasser  und  vom  Wasser  zum  Feuer  wan- 
dert das  Produkt,  und  indem  in  ihm  die  Spuren  der 
Unzulänglichkeit  des  Stoffes  bis  zum  letzten  Rest  ge- 
tilgt werden,  schleppt  es  rastlos  häufend  mit  sich  die 
Male  gemarterten  und  zerbrochenen  Menschentums. 
In  der  Oberpfalz  am  bayerischen  Wald,  fernab  von  den 
großen  Heerstraßen,  beginnt  das  Leben  des  Spiegels. 
In  der  Höllenglut  der  Glashütten  opfern  Menschen 
ihre  Lungen,  um  das  rohe  Spiegelglas  zu  blasen.  Zwar 
liest  man  wohl  im  Konversationslexikon,  daß  die  schön 
1688  erfundene  Glasgießerei  das  Blasen  der  Spiegel- 
scheiben vollständig  verdrängt  habe,  aber  die  Lungen 
von  Menschen  sind  immer  noch  die  billigsten  Maschi- 
nen und  so  wird  in  der  Oberpfalz  das  Spiegelglas  eben 
immer  noch  geblasen.  Die  glühende  Masse,  die  der 
Glasmacher  durch  die  Pfeife  hin-  und  herschwingend 
mit  dem  Munde  aufbläst,  wiegt  bis  zu  80  Pfund  und 
die  Fertigkeit,  die  er  anwenden  muß,  um  den  Hals 
der  Riesenflasche  abzusprengen,  die  so  entstehende 
Röhre  zu  spalten  und  sie  dann  in  Flammen  flach  zu 
walzen,  ist  für  den  Zuschauer  unfaßbar.  Dann  wan- 
dert das  rohe  Glas  in  die  Schleif-  und  Polieranstalten, 
die  die  Flußtäler  des  bayerischen  Waldes  besiedeln. 
Das  Elendskind  des  rauhen  Waldes  kommt  in  die  rau- 
chige Stickluft  von  Fürth.  Auch  hier  wandert  das 
Glas  noch  durch  manche  Hände,  bis  die  Veredelung 
vollendet  ist.  Unablässig  rinnt  das  Wasser  über  die 
Hände  des  Arbeiters,  der  in  den  Polier-  und  Facettier- 
anstalten die  Kanten  anschleift,  die  Hände  schwellen 

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auf  wie  Leichenhände,  aber  der  Arbeiter  achtet  des 
nicht ;  mit  gespanntem  Körper  und  starrem  Blick,  uner- 
müdlich zwingt  er  dem  spröden  Glas  die  Facetten 
ab.  Drüben,  ein  paar  Straßen  weiter,  hat  wieder  das 
Feuer  die  Herrschaft,  hier  erhält  der  Spiegel  seine 
Seele,  den  Metallbelag.  Seit  Schönlanks  Schrift  sind 
die  Fabriken,  die  Quecksilber  benutzen,  bis  auf  zwei 
ausgestorben.  Das  Gewissen  hat  sich  seitdem  beruhigt. 
Aber  es  ist  trotzdem  kaum  viel  besser  geworden,  denn 
nun  müssen  Arbeiterinnen  in  lähmender  dumpfer  Hitze, 
in  Sommer  und  Winter  überwärmten  Räumen,  die 
Luft  voll  ätzender  Dämpf;,  12  Stunden  lang  die  Silber- 
lösung auf  das  Glas  bringen.  Kein  Luftzug  ist  zu- 
lässig, denn  er  würde  schwarze  Flecken  in  den  Glanz 
wehen.  Mädchen  von  16  Jahren  verlieren  in  dieser 
Temperatur  von  35  Grad  und  mehr  schnell  ihre  Ju- 
gend, und  Greisinnen  mit  60  Jahren,  den  verrunzelten 
Körper  notdürftig  bekleidet,  mühen  sich  gleichmütig, 
stumpf  und  längst  hoffnungslos  geworden  über  der- 
selben Arbeit,  in  der  sich  schon  ihr  Tod  spiegelt. 
Ich  war  in  einer  der  besteingerichteten  dieser  Fürther 
Spiegelanstalten;  die  kurze  Zeit  meines  Aufenthaltes 
genügte,  um  mich  für  ein  paar  Tage  meiner  Stimm- 
mittel zu  berauben  .  .  .  Nun  aber  folgt  auf  die  Tra- 
gödie das  freche  Satirspiel.  In  der  Veredelung  des 
Glases  gehen  all  die  fleißigen  Arbeiter  zugrunde.  Wenn 
aber  der  Spiegel  fertig  ist,  wenn  gar  nichts  mehr  an 
ihm  gearbeitet  wird,  dann  veredeln  sich  plötzlich  die 
Menschen,  die  mit  ihm  zu  tun  haben.  Der  Spiegel, 
der  mit  dem  Hunger  genährt  wurde,  solange  an  ihm 
gearbeitet  wurde,  beginnt  auf  einmal  Gold  zu  hecken, 
nachdem  die  Arbeit  abgeschlossen  ist.  Die  Menschen 
werden  Millionäre,  Kommerzienräte,  geheime  Kom- 
merzienräte,  sogar  Wohltäter  der  Menschheit,  stiften 
patriotische  Denkmäler  und  fühlen  sich  als  Herren 
der  Welt. 

In  der  Tat:  der  Spiegel  ist  die  Ansammlung  aller 

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denkbaren  kapitalistischen  Monstrositäten.  Die  läng- 
sten Arbeitszeiten  kuppeln  sich  mit  den  niedrigsten 
Löhnen.  Der  Raubbau  der  Akkordarbeit  wuchert  auf 
allen  Leidensstationen  seiner  Herstellung.  Die  Ar- 
beitsteilung, die  den  Menschen  zur  Maschine  macht, 
ist  bis  in.  die  feinsten  Verästelungen  durchgeführt.  Ein 
vielfaches,  kompliziertes  tückisches  Zwischenmeister- 
system, das  einzelne  Leute  bereichert,  drückt  schwer 
auf  die  Löhne  der  Arbeit.  Die  Arbeit  selbst  wird  hin 
und  her  geworfen  zwischen  toller  Uberarbeit  und  un- 
freiwilligem Feiern:  wenn  die  Bäche  zu  viel  oder  zu 
wenig  Wasser  haben  oder  wenn  auf  dem  Markt  Krise 
herrscht.  Auf  dem  ganzen  Wege  wird  nirgends  unter 
gesunden,  nicht  einmal  unter  erträglichen  Verhältnissen 
gearbeitet.  Übergroße  Hitze  wechselt  mit  verheeren- 
der Kälte  und  Nässe.  Beizender  Staub,  quälende 
Dämpfe,  verfaulte  Luft  verbreiten  Krankheiten.  Nir- 
gends Schutz  gegen  gefährliche  Unfälle.  Schon  die 
früheste  Jugend  wird  in  diesem  Maelstrom  verwüsten- 
der Arbeit  hineingerissen,  die  Frauen  werden  noch 
schlimmer  und  schneller  zerstört  als  die  Männer,  und 
selbst  die  verbotene  Kinderarbeit  blüht  insgeheim  und 
unausrottbar  noch  fort.  Der  aber,  der  endlich  diese 
ungeheure  Ernte  des  Todes  in  Geld  ummünzt,  leistet 
nicht  einmal  die  organisatorische  Arbeit  des  Unter- 
nehmertums. Es  ist  der  Exporteur,  der  Händler,  der 
die  Saat  mäht.  Er  leistet  nicht  nur  gar  nichts  zur 
Herstellung  des  Produkts,  er  ist  sogar  befreit  von  aller 
kapitalistischen  Verantwortung  und  jedem  finanziellen 
Risiko.  Diese  Unternehmcrintelligenz  besteht  darin, 
daß  sie  ohne  jede  eigene  Leistung  den  höchsten  Ge- 
winn erzielt.  Während  die  Arbeiter  durch  eine  feind- 
selige gemeinsame  Haftpflicht  aneinandergekettet  sind, 
während  sie  —  und  zum  Teil  auch  die  kleinen  Zwischen- 
meister oder  Zwischenfabrikanten  —  die  ganze  Ver- 
antwortung auch  für  die  möglichst  große  Produktivität 
der  Arbeit  auf  sich  nehmen,  während  einer  den  an- 


73 


deren  in  seiner  Arbeit  kontrolliert,  weil  nicht  nur 
mißratene  Ware  von  dem  Arbeiter  ersetzt  -werden  muß, 
sondern  weil  auch  jede  Pfuscherei  eines  Gliedes  in  der 
Kette  alle  in  der  Teilarbeit  folgenden  Glieder  in  ihrer 
Leistungs-  und  Verdienstfähigkeit  vermindert  —  be- 
darf der  Kaufmann,  der  am  Schluß  erntet,  was  die 
anderen  gesät  haben,  nur  eines  Hauptbuches  und  eines 
Geldschranks.  Gerade  in  diesem  System,  wo  nicht  der 
Arbeiter  und  auch  nicht  der  Fabrikant,  sondern  der 
Exporteur  der  Ausbeuter  ist,  entblößt  sich  sinnfällig 
und  unentschuldbar  der  Aberwitz  einer  Gesellschafts- 
ordnung, in  der  zugrunde  geht,  wer  die  Güter  der  Ge- 
sellschaft mit  seinem  ganzen  Leben  verantwortet,  wo 
gebietet  und  emporsteigt,  wer  verantwortungslos  nur 
die  Arbeit  der  anderen  rafft. 

Von  einer  Station  nun  des  Spiegelmartyriums  möchte 
ich  einiges  erzählen,  von  Zuständen,  wie  man  sie  in 
Deutschland  nicht  für  möglich  halten  sollte,  und  die 
radikal  zu  ändern  eine  unaufschiebbare  Aufgabe  der 
Gesetzgebung  ist.  Ich  will  von  den  „ewigen  Arbeitern" 
in  den  Schleif-  und  Polierwerken  des  bayerischen  Wal- 
des reden,  den  „ewigen  Arbeitern",  wie  sie  sprichwört- 
lich genannt  werden,  weil  sie  in  Wahrheit  niemals  zur 
Ruhe  kommen,  solange  sie  arbeitsfähig  sind,  das  heißt 
zumeist:  bis  sie  das  Grab  umfängt. 

II. 

Die  Schleif-  und  Polierwerke,  die  das  halb  veredelte 
Spiegelglas  zur  Fertigstellung  nach  Fürth  liefern,  sind 
überall  in  der  Oberpfalz  verstreut;  sie  folgen  den  Fluß- 
läufen, deren  Wasser  ihnen  die  mechanische  Kraft 
gibt.  Ich  sah  die  entlegensten  dieser  Werke.  Bei 
einer  Wanderung  im  Murntal,  schon  nahe  der  böhmi- 
schen Grenze.  Diese  Hütten  des  Murntals  gelten  als 
die  verhältnismäßig  erträglichsten  in  diesem  Gebiet, 
und  ich  besuchte  sie  an  einem  heiteren  warmen  Herbst- 
tage, nicht  im  Winter,  wo  sie  verschneit  liegen.  Ich 

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besuchte  sie  am  Tage  und  nicht  in  der  Nacht.  Und 
ich  sah  sie  endlich  gerade  an  dem  Tage,  da  vier- 
wöchentliche unfreiwillige  Ferien  zu  Ende  gegangen 
waren  und  der  Betrieb  wieder  aufgenommen  wurde; 
da  herrschte  noch  etwas  wie  Feiertagsstimmung,  wie 
Ausgeruhtheit  und  Behaglichkeit.  Die  Hetzjagd  war 
noch  nicht  im  Gange.  Wenn  trotz  dieser  günstigen 
Umstände  sich  die  Verhältnisse  mehr  wie  Ausgeburten 
eines  toll  gewordenen  Menschenquälers,  wie  kapita- 
listische grausame  Fieberträume,  denn  wie  Wirklich- 
keit darstellten,  so  mag  man  einen  Begriff  davon  er- 
halten, welche  Eindrücke  ein  Wanderer  mit  sich  neh- 
men würde,  der  in  eisiger  Winternacht  die  schlimmsten 
dieser  Arbeitsstätten  besuchen  würde. 

Über  Schwandorf- Boden wÖhr  zweigt  das  Bähnchcn 
von  der  Hauptlinie  ab,  das  nach  Neunburg  vorm 
Wald  führt,  in  dieses  lustige  alte  Städtchen,  dessen 
helle  Häuser  bergwärts  zum  Schloß  und  zur  Kirche 
klettern,  in  dessen  Hauptstraße  nur  Gasthäuser  zu- 
gelassen zu  sein  scheinen,  wo  ehemalige  Klöster  und 
Schlösser  zu  Bierbrauereien  umgewandelt  sind,  die 
das  billigste  Bier  der  Erde  hervorbringen ;  denn  in  der 
Oberpfalz  kostet  der  Liter  nur  20  Pf.  In  einer  kleinen 
Wanderung  erreicht  man  von  hier  den  Wald,  noch 
eine  anmutige  Ortschaft,  und  dann  geht  es  hinauf  in 
die  unendliche  Einsamkeit  des  ernsten  Tales.  Bald 
springt  am  Bach  die  erste  Ansiedelung  schroff  und 
plump  hervor.  Trotz  ihres  Alters  haben  sich  die  un- 
gefügen Gebäude  nicht  in  die  Waldeinsamkeit  hincin- 
gewöhnt.  Sie  sind  der  Natur  fremd  geblieben  in  ihrer 
nackten  geschäftlichen  Öde.  Sie  sollen  Gewinn  ab- 
werfen, Produktionskosten  sparen,  nicht  menschen- 
freundliche Hausung  gewähren.  Um  die  langgestreckte 
Scheune,  die  das  Werk  birgt,  ein  paar  armselige  Hüt- 
ten, in  denen  die  Menschen  wohnen.  Diese  Hütten 
sind  der  Stolz  der  Murntalwerke,  denn  anderswo 
haben  die  Arbeiter  überhaupt  keine  Wohnung,  son- 

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dem  sie  hausen  unter  dem  Dach  des  Werks  oder  in 
der  Werkstatt  selbst.  Alles  ist  schmutzig,  verfallen,  wie 
unfertig.  Und  die  Öde  der  Ansiedelung  wird  noch 
gesteigert  durch  die  Blutfarbe,  die  Häuser,  Boden, 
Gegenstände  und  vor  allem  die  Menschen  beschmutzt. 
Alles  ist  von  diesem  abscheulichen  Rot  befleckt,  das 
die  Leute  dort  Pottic  nennen:  Es  ist  das  Polierrot 
(Eisenoxyd),  das  zum  Polieren  des  Glases  verwendet 
wird.  Der  Farbstaub  dringt  überall  ein,  malt  die  Ge- 
sichter und  die  Hände,  die  Haare,  die  Kleider,  die 
Wäsche,  die  Betten.  Die  Zeitung,  die  sie  lesen,  ist 
rot  gefärbt,  der  Lohnzettel,  ebenso  wie  der  Brief,  den 
sie  schreiben.  Ein  Brief  von  einem  Glaspolierer  verrät 
auch  uneröffnet  und  ohne  Poststempel  den  Ursprungs- 
ort —  durch  die  roten  Flecken.  Der  Farbstoff  macht 
die  Generationen,  die  hier  das  im  Familienbetrieb 
überlieferte  Gewerbe  ausüben,  zu  einer  Rasse  von  Rot- 
häuten. Die  Wiege,  die  der  ewigen  Arbeit  neue  Opfer 
nährt,  ist  ebenso  rot  betupft  wie  das  Leichenhemd, 
das  das  Opfer  erledigt.  Dieses  entsetzliche,  schmutzige 
alldurchdringende  Rot  wird  nur  beschattet  von  dem 
tiefen  Schwarz  der  politischen  Färbung.  Denn  in  der 
Oberpfalz  herrscht  das  Zentrum,  und  christ-katholische 
Geistliche  lehren  in  schöner  Toleranz  allsonntäglich 
die  braven  Arbeiter,  daß  sie  geduldig  für  alle  Zeiten 
die  ,, Spiegeljuden"  von  Fürth  zu  füttern  hätten.  Im 
Murntal  freilich  hat  die  sozialdemokratische  Aufklä- 
rung schon  die  Köpfe  erhellt.  Und  dieser  kernige 
tüchtige  Menschensclüag  gewinnt  durch  den  neuen 
Glauben  die  Kraft,  der  kapitalistischen  Zerstörung 
ihres  Daseins  in  tätiger  Hoffnung  Widerstand  zu 
leisten. 

In  drei  Abteilungen,  die  auch  räumlich  getrennt 
sind,  vollzieht  sich  das  Schleifen  und  Polieren  des 
Rohglases.  Die  Technik  der  Kraftzuführung  hat  sich 
den  modernen  Möglichkeiten  nicht  angepaßt.  Das 
große  Wasserrad  leitet   in  direkter  Umsetzung  die 

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Kraft  zu.  Daher  die  unfreiwilligen  Pausen  der  Arbeit 
bei  Trockenheit  oder  Überschwemmung.  In  diesen 
Pausen  erhält  der  Arbeiter  nichts.  Nur  wenn  wirt- 
schaftliche Ursachen  Arbeitseinstellung  veranlassen, 
wird  neuerdings  eine  Entschädigung  bezahlt,  6  Mark 
die  Woche  für  den  Mann,  3  Mark  für  die  Frau.  Aber 
selbst  wenn  bei  nicht  allzu  niedrigem  Wasserstand  der 
Betrieb  noch  nicht  eingestellt  zu  werden  braucht,  so 
wirkt  die  verminderte  Kraft  auf  die  Arbeitsleistung 
ein  und  senkt  den  elenden  Akkordverdienst  noch  mehr. 
Binnen  einem  Jahre  mußten  die  Murntalleute  7  Wochen 
(Oktober  1908  4  Wochen,  Februar  1909  3  Wochen) 
wegen  elementarer  Ursachen  ohne  jede  Entschädigung, 
4  Wochen  (August-September  1909)  wegen  angeblich 
schlechten  Geschäftsgangs  feiern.  Aus  der  ewigen 
Arbeit  werden  die  Menschen  in  die  Untätigkeit  und 
in  den  Hunger  gestürzt  und  die  Muße  belebt  deshalb 
nicht  ihre  verbrauchte  Energie,  sondern  sie  zermürbt 
sie  vollends,  so  daß  sie  gebrochen  schließlich  nur  noch 
von  einem  Wunsch  getrieben  werden:  nur  Arbeit 
haben,  gleichgültig  unter  welchen  Bedingungen.  Diese 
„Ferien"  sind  höchst  wirksame  Antreiber  für  die 
Unternehmer  .  .  . 

Das  Rohglas  wird  zunächst  poliert.  Auf  großen 
Eisenscheiben,  4  Meter  im  Durchmesser,  werden  die 
Gläser  in  zwei  Qusdr.itcn  aufgegipst.  Auf  zwei  vier- 
eckigen Marmorblöcken  von  derselben  Größe  werden 
ebenfalls  Gläser  aufgegipst.  Der  Schleifer  hat  dann 
diese  Marmorplatte,  die  mit  den  Gläsern  etwa  5  bis 
6  Zentner  wiegt,  äußeret  behutsam  auf  die  Unterlage 
zu  fügen.  Jeder  Bruch  einer  Scheibe  ist  —  wie  in  dem 
ganzen  Produktionsprozeß  überhaupt  jede  Beschädi- 
gung oder  Unvollkommenheit  —  von  dem  Arbeiter 
zu  zahlen.  So  ruht  Glas  auf  Glas.  Und  indem  die 
untere  Scheibe  wie  die  darauf  liegende  Platte  in  gegen- 
läufig rotierende  pfeilschnelle  Bewegung  gesetzt  wer- 
den, schleifen  sich  die  Gläser  aneinander.    Nun  be- 


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ginnt  die  höchst  verantwortungsvolle  Leistung  des 
Schleifers.  Fließendes  Wasser  bespült  ständig  die 
Scheiben;  der  Arbeiter  aber  hat  in  regelmäßigen  Ab- 
ständen Sand  hinaufzuwerfen,  erst  den  gröbsten,  dann 
immer  feineren,  sieben  Sorten  nacheinander,  darauf 
noch  drei  Sorten  Schmirgel.  Wenn  neuer  Sand  ge- 
streut wird,  so  zischt  es  auf  wie  Meeresbrandung,  ist 
doch  auch  das  Meer  die  große  Schleifmühle  der 
Kiesel.  Aber  die  schrillen,  spitzen  Obertöne  scheiden 
diese  künstliche  Brandung  peinigend  von  der  erha- 
benen ruhigen  Sturmgewalt  der  Natur,  die  im  stärksten 
Brausen  noch  die  Schönheit  des  Orgelklangs  bewahrt. 
Alle  Geräusche  der  Industrie  quälen.  Das  allmähliche 
Verebben  des  schreienden  Zischens  zeigt  dem  Schleifer, 
daß  er  wieder  Sand  auf  die  Scheiben  zu  werfen  hat. 

In  8  bis  9  Stunden  sind  die  Scheiben  auf  einer 
Seite  geschliffen  und  werden  gewendet.  Die  Arbeit 
wiederholt  sich,  so  daß  das  Schleifen  der  Scheiben  auf 
beiden  Seiten  den  ganzen  hier  üblichen  iöstündigen 
Normalarbeitstag  erfüllt. 

Aber  nicht  nur  die  Scheiben,  sondern  auch  die 
Menschen  werden  aneinander  gerieben  und  schmerz- 
haft geschliffen.  Hat  der  Sandsortierer  seine  Arbeit 
nicht  sorgsam  geleistet,  so  mißraten  dem  Schleifer  die 
Gläser.  Ist  der  Schleifer  aber  unachtsam  gewesen,  so 
vermehrt  er  die  Arbeit  und  mindert  den  Lohn  der 
Douciererin,  die  in  der  Regel  seine  Frau  oder 
Tochter  ist.  Aus  der  Schleiferei  nämlich  wandert 
die  Scheibe  in  den  Doucierraum,  wo  Frauenarbeit 
herrscht.  Hier  wird  mit  der  Hand  die  Feinschleiferei 
vollendet.  Mit  Hilfe  einer  Glasscheibe  und  feinstem 
Schmirgel  fährt  die  Arbeiterin  unablässig  über  die  zu 
schleifende  Spiegelscheibe  hin  und  her.  Hat  der 
Schleifer  gut  gearbeitet,  so  ist  wenig  auszubessern, 
sind  starke  Mängel,  so  beansprucht  die  Veredelung 
viel  Zeit  und  die  gelohnte  Stückzahl  vermindert  sich. 
Der  Doucierraum  ist  zugleich  Wohn-  und  Schlaf- 

78 


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räum,  Küche  und  Kinderstube  der  Arbeiter.  In 
dieser  menschenleeren  Gegend  wird  mit  dem  Raum 
gespart  wie  in  der  Hauptstraße  einer  Weltstadt. 
Schon  die  unendliche  Arbeitszeit,  die  notwendig  ist, 
um  ein  paar  Mark  zu  verdienen,  fesselt  ja  den  Ar- 
beiter unablässig  an  die  Arbeitsstätte.  Warum  soll  er 
dort  nicht  gleich  ganz  wohnen!  Das  haben  sich  in 
vielen  Werken  die  Besitzer  zunutze  gemacht,  und  nicht 
nur  die  Douciererin,  sondern  alle  Arbeiter  wohnen 
in,  neben  und  über  dem  Werkraum.  Emil  Girbig 
schilderte  kürzlich  im  „ Fachgenossen dem  Organ 
der  freien  Gewerkschaft  der  Glasarbeiter,  solche  Woh- 
nungsverhältnisse:  „Die  Wohnungen  befinden  sich 
fast  ohne  Ausnahme  auf  dem  Boden  der  Polierwerk- 
stätte. Die  Räume  sind  aber  nicht  abgeteilt.  Ein 
großer  Bodenraum  gilt  als  Aufenthalt  für  6  bis  8  Fa- 
milien. Es  steht  das  Bett,  in  dem  die  Eltern  schlafen, 
dicht  neben  dem  Bett  der  Kinder;  dazwischen  steht 
der  Doucierblock  und  das  Faß  mit  Wasser  zum  Ab- 
spülen der  doucierten  Gläser.  Dann  folgen  die  Betten 
der  Nachbarn  und  Mitarbeiter.  Es  gibt  keine  Scheide- 
wand. Jahraus,  jahrein  hausen  die  Familien  neben- 
einander. Die  Kinder  werden  in  den  Räumen  ge- 
boren, und  wenn  der  Tod  an  den  Arbeiter  herantritt, 
dann  stirbt  er  unter  dem  Dach  und  bleibt  auch  in 
diesem  gemeinsamen  Raum  drei  Tage  bis  zur  Beerdi- 
gung liegen.4*  Die  Geschlechter  sind  nicht  getrennt, 
und  eine  bayerische  Verordnung,  die  die  Trennung 
verfügte,  wird  kaum  gehalten,  wie  denn  für  dieses 
ganze  Arbeitsgebiet  alle  Schutzmaßregeln  versagen. 

Aus  den  Händen  der  Douciererin  kommen  die 
Scheiben  in  den  Polierraum.  Wieder  werden  die 
Gläser  auf  große  Bänke  aufgegipst  und  darüber  fährt 
dann,  von  einem  Gestänge  geführt,  ein  schwerer  mit 
Filz  bekleideter  Block.  Eng  aneinander,  oft  zu  hun- 
gerten, stehen  die  Blöcke  nebeneinander,  so  eng,  daß 
ein  ungeübter  Mann  nur  mit  äußerster  Gefahr  durch 


79 


<3as  Getriebe  hindurch  zu  gleiten  vermag.  Der  Po- 
lierer aber,  der  eine  die  einzelne  Arbeitskraft  weit 
übersteigende  Anzahl  von  Blöcken  zu  bedienen  hat, 
wenn  er  leben  will,  drückt  sich  zwischen  den  Blöcken 
hindurch  und  richtet  sie,  damit  der  Filz  allmählich 
alle  Teile  der  Scheibe  gleich  glättet.  Eine  dieser  Po- 
licrerfarr  1  cn,  die  ich  besuchte,  hatte  nicht  weniger 
als  72  Blöcke  zu  versehen.  Alles  Ächzen  der  leiderden 
Kveaturen  in  de:  ganzen  Welt,  alles  Heulen  der 
Schmer/cn  auf  K  den  scheint  fich  in  diesen  Räumen 
vereinigt  /.1  haben.  Von  hier  beginnt  das  Polierrot 
seine  W«-:drrung  in  alle  Poren  des  Betriebs  und  der 
Gegend.  In  diesem  Geächz  und  Geheul  verbringt  der 
Polierer  r':n  ganzes  Leben.  Er  wird  schwerhörig  und 
man  m  :  3  h'  t  zu  ihm  sprechen,  wenn  man  sich 
draußen  ?uch  in  der  Waldslille  mit  ihm  \crsländlich 
machen  w;.!.  Sein  ganzes  Leben  —  buchstäblich! 
D.-rm  l'i  ■  wandelt  sich  die  i6slünd?gc  Arbeitszeit 
in  die  2*p  Lündige  Endlosigkeit!  Tag  und  Nacht 
fahren  c*:e  Polierblöckc  gespenstisch  hin  und  her  und 
sie.  bedürfen  unablässig  von  Zeit  zu  Zeit  der  Wartung, 
sei  e-,  daß  die  Lage  verändert  werden  muß  oder 
Polietvo:  k:- zuzufügen  ist.  Die  Arbeiter  hausen  Tag 
und  Nacht  in  diesem  Grauen.  Am  Montag  in  aller 
Frühe  beginnt  das  Rackern  und  endigt  erst,  wenn  die 
Kirchengloclen  des  nächsten  Orts  Sonntag?  zum 
Christendienst  rufen;  denn  die  erforderliche  Reli- 
gionsübung läßt  sich  eben  doch  nicht  im  Polierraum 
vornehmen.  Während  der  ganzen  Woche  kommt  der 
Arbeiter  nicht  aus  den  Kleidern.  Wohl  kann  er, 
wenn  die  Blöcke  richtig  laufen,  eine  Weile  sich  auf 
einer  Bank  niederstrecken,  aber  er  ist  die  ganzen 
24  Stunden  des  Tages  zur  Arbcilsbereitschaft 
verpflichtet!  Will  er  ein  paar  Nachtstunden  un- 
gestörter Ruhe  haben,  so  muß  er  sich  entweder  von 
Familienmitgliedern  vertreten  lassen,  oder  auf  seine 
Kosten  einen  Hilfsarbeiter  stellen.   Auch  seine  Ar- 

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beitsleistung  hängt  in  ihrem  Ertrag  wesentlich  ab  von 
dem  Zustand,  in  dem  ihm  die  Douciererin  die  Schei- 
ben überliefert. 

Der  Polierer  weiß  nichts  von  der  Welt.  Sein  ganzes 
Dasein  ist  erfüllt  von  dem  Lärm  der  Polierblöcke, 
dem  roten  Polierstaub  und  dem  Kampf  mit  dein, 
gemeinen  Hunger. 

III. 

Denn  der  ewige  Arbeiter  muß  ewig  hungern!  Der 
Schleifer  verdient  mit  seiner  i6stündigen  Arbeitszeit 
15  M.  die  Woche.  Der  Sandsortierer  11  M.,  die  Dou- 
ciererin (bisher  bei  12  stündiger  Arbeitszeit)  wöchent- 
lich 5  M.  Der  Hilfsarbeiter  erhält  7  M.  (mit  Kost), 
13 — 14  M.  (ohne  Kost).  Er  muß  Tag  und  Nacht  zur 
Verfügung  stehen;  vertritt  er  den  Polierer  zur  Nacht, 
so  bezieht  er  von  ihm  für  6  Stunden  Nachtarbeit 
40  Pf.,  nämlich  für  alle  6  Stunden  insgesamt.  Der 
Polierer  ist  der  König  in  diesem  Reich.  Er  schwingt 
sich  bei  24stündiger  Arbeitszeit  mit  48  Blöcken  zu 
17 — 18  M.  die  Woche  empor.  So  beläuft  sich  der 
Familienjahres  verdienst  insgesamt  auf  600 — 700  M. 
Dafür  müssen  Mann  und  Frau,  die  erwachsenen 
Töchter  und  Söhne,  aber  auch  —  trotz  des  Verbots  — 
die  kleinen  Kinder  arbeiten.  Diese  Löhne  haben  erst 
nach  den  letzten  Tariferhöhungen  von  1907  den 
Stand  von  1885  wieder  erreicht.  Die  Arbeitszeit  ist 
nicht  kürzer  geworden,  aber  die  Lage  hat  sich  insofern 
verschlechtert,  als  die  ganze  Lebensmittelteuerung 
mit  voller  Wucht  auf  diesen  Unglücklichen  lastet. 
Und  sie  segnen  heute  nicht  gerade  mehr  den  Bauern- 
doktor Heim,  der  sie  im  Reichstag  vertritt.  Die  Ar- 
beiter müssen  alle  Lebensmittel  kaufen,  sie  besitzen 
nicht  das  kleinste  Äckerchen,  kein  Nutztier.  Die 
Preise  sind  auch  in  diesem  entlegenen  Winkel  nicht 
billig;  Kuhfleisch  60 Pf., Ochsenfleisch  80 Pf. Schweine- 
fleisch 80  Pf.,  Kalbfleisch  60  Pf.  Das  sind  freilich  für 

6   Eltaer,  Gesammelt«  Schriften.   II.  8t 


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die  Glasarbeiter  nur  theoretische  Preise.  Sie  ver- 
fallen nicht  auf  den  Gedanken,  Fleisch  zu  essen.  Die 
trockene  Kartoffel  ist  ihr  Nahrungsmittel.  Die  paar 
Stunden  Rast  in  der  Woche  müssen  sie  noch  zur  Ar- 
beit nutzen.  Sie  wandern  in  den  Wald,  um  Holz  zu 
•freveln ;  Polizeistrafen  für  solche  Eingriffe  in  das  Wald- 
eigentum bilden  regelmäßige  Abzüge  ihres  Lohnes. 

Der  furchtbare  Lohndruck  ist  wesentlich  bedingt 
durch  das  raffinierte  Zwischenmeistersystem.  Diese 
Werke  gehören  Besitzern,  die  in  München  oder  sonst 
fern  in  einer  Stadt  wohnen  und  für  die  Exporteure 
diesen  Teil  der  Veredlung  besorgen.  Die  Besitzer  der 
Schleifwerke  setzen  nun  Werkmeister  ein,  die  den 
Betrieb  beaufsichtigen.  Gelegentlich  ist  dieser  Zwi- 
schenmeister zugleich  auch  der  Besitzer,  aber  es  ist 
nicht  die  Regel.  Der  Meister  stellt  die  Betriebs- 
materialien. Er  liefert  von  dem  Geld,  das  ihm  der 
Besitzer  zur  Verfügung  stellt,  Filz,  Gips,  die  rote 
Farbe,  Sand  und  Schmirgel.  Er  hat  also  das  Interesse, 
.  daß  mit  diesem  Material  sparsam  umgegangen  wird. 
Die  Rechnung  stellt  sich  nun  so:  Der  Meister  erhält 
von  dem  Besitzer  iooo  M.  in  14  Tagen.  Die  Summe 
fällt  zur  Hälfte  ihm  zu,  zur  anderen  dem  Arbeiter. 
In  die  500  M.«  teilen  sich  —  ich  führe  ein  konkretes 
Beispiel  an  —  7  Schleifer,  4  Poliergesellen,  11  Dou- 
ciererinnen.  Je  ein  Drittel  der  500  M.  entfällt  etwa 
auf  die  drei  Kategorien.  Von  den  500  M.  bezahlt  der 
Meister  Hilfsarbeiter  und  die  Materialien.  Ihm  blei- 
ben als  dem  einzigen,  der  nicht  arbeitet,  150  M.  für 
14  Tage  übrig.  Durch  dieses  System  wird  auch  der 
letzte  Rest  von  Verantwortung  von  den  Unterneh- 
mern abgewälzt.  Aber  es  ist  klar,  daß  der  parasitäre 
Zwischenmeistergewinn  ein  Raub  am  Arbeitslohn  ist. 

In  ähnlichen  Verhältnissen  leben  2300  bayerische 
Arbeiter  und  Arbeiterinnen.  Aber  gibt  es  denn  keine 
Gewerbe- Inspektoren,  nimmt  sich  kein  Gewerbearzt 
dieses  Elends  an?  O,  dieses  Reich  ist  den  beamteten 

82 


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Hütern  der  sozialen  Wohlfahrt  durchaus  nicht  un- 
bekannt. Jahr  für  Jahr  tönen  aus  den  Gewerbe- 
berichten dieselben  Klagen,  die,  so  gedämpft  sie  auf 
leisen  Sohlen  schleichen,  die  Wahrheit  ahnen  lassen. 
Der  Streik  der  Glasschleifer  von  1905  lenkte  die  Ge- 
werbe-Inspektoren auf  die  ungeheuerlichen  Miß- 
stände. Damals  verkauften  sogar  noch  die  Zwischen- 
meister die  Materialien  an  die  Arbeiter  zu  Wucher- 
preisen und  zogen  sie  vom  Akkordlohn  ab.  Das  we- 
nigstens wurde  beseitigt.  Die  Wohnungsverhältnisse 
werden  immer  wieder  in  grotesker  Sanftmut  als  „nicht 
gute"  bezeichnet.  1906  wurden  88  Wohnungen  be- 
anstandet, weil  sie  zugleich  Wohn-  und  Arbeitsräume 
waren.  Sie  waren  „feucht,  zu  stark  belegt,  schmutzig, 
Böden,  Wände  und  Decken  schadhaft,  Fenster,  Fen- 
sterrahmen und  Türen  schadhaft  oder  nicht  schlie- 
ßend". Es  wird  von  Kindern  unter  12  und  13  Jahren 
berichtet,  die  arbeitend  betroffen  wurden.  Es  wird 
geklagt,  daß  die  Bestimmungen  über  ärztliche  Zeug- 
nisse nicht  beachtet  werden.  Es  wird  das  Gutachten 
eines  Arztes  mitgeteilt:  „Tagtäglich  kann  die  Be- 
obachtung gemacht  werden,  daß  die  Arbeiter  in  den 
Glasschleifereien  und  -Polierereien  meist  blasse,  anä- 
mische, krankhaft  aussehende  Leute  sind,  welche  fast 
sämtlich  an  chronischen  Bronchialkatarrhen  und  tuber- 
kulösen Erkrankungen  der  Lungen  leiden."  Ein  an- 
derer Arzt  schreibt:  „Bei  den  Arbeitern  in  den  Glas- 
schleifereien und  Glaspolierereien  handelt  es  sich  um 
die  Einatmung  eines  äußerst  scharfen,  die  Respirations- 
organe im  hohen  Grade  angreifenden,  meist  quarz- 
haltigen  Staubes.  Äußerst  schädlich  auf  die  AtmUngs- 
organe  wirkt  auch  die  rauchige  Atmosphäre,  welche  die 
schlechten  öllichter  verbreiten,  womit  die  Arbeits- 
räume beleuchtet  werden."  Auch  Nachtarbeit  von 
kleinen  Kindern  wird  konstatiert.  Aber  die  Ge- 
Werbeberichte  entschuldigen  diese  unerhörten  Zu- 
stände immer  schließlich  mit  den  unvermeidlichen 


6» 


83 


Bedingungen  des  schlecht  gehenden  Gewerbes,  das 
man  nicht  zerstören  dürfe,  und  keinem  fällt  es  ein, 
zu  erklären,  daß  eine  Industrie  wert  ist,  so  schnell  wie 
möglich  zugrunde  zu  gehen,  wenn  sie  nicht  bei  men- 
schenwürdigen Bedingungen  existieren  kann.  Aber 
die  Verhältnisse  könnten  gebessert  werden.  Es  ist 
die  Brutalität  einer  verantwortungslosen  Ausbeutung, 
die  dieses  verruchte  System  erzeugt  hat. 

So  leben  diese  Arbeiter.  Wie  sterben  sie  ?  Auch  im 
Tode  finden  sie  keine  Ruhe.  Vor  mir  liegt  ein  Akten- 
heft, das  den  Kampf  um  die  Rente  für  einen  getöteten 
Arbeiter  erzählt.   Auch  diese  Papiere  sind  rot  be- 
stäubt» Eines  Morgens  findet  man  einen  Polierer  tot 
mit  zerschmettertem  Kopf  unten  im  Radraum.  Neben 
ihm  liegt  ein  Handbeil  und  die  geliebte  Schmalzler-  - 
dose,  die  ihm  beim  Niedersinken  offenbar  aus  dem 
Schurz  gefallen  ist.    Niemand  war  bei  dem  Unfall 
zugegen,  aber  jeder  Arbeiter  weiß,  wie  er  sich  zu- 
getragen hat.  Am  Wasserrad  war  irgend  etwas  nicht 
in  Ordnung.  Der  Mann  nahm  ein  Beil  und  kroch  in 
der  nächtlichen  Benommenheit  der  Überarbeit  hin- 
unter, um  die  Maschine  zu  richten  und  in  der  Akkord- 
arbeit nicht  beeinträchtigt  zu  werden.  Dabei  traf  ihn 
eine  Kurbel.  Der  Fall  war  klar.  Nur  nicht  für  die 
Berufsgenossenschaft  in  Fürth,  deren  Phantasie  eine 
tolle  und  schamlose  Räubergeschichte  ersinnt,  um  die 
Witwe  ihrer  Rente  zu  berauben.  Der  Rentenanspruch 
wird  abgelehnt  mit  der  Begründung,  daß  der  Ehemann 
sich  der  Gefahr  selbst  ausgesetzt  habe,  weil  er  verbots- 
widrig, während  das  Werk  im  Gange  war,  in  den 
Radraum  kroch.  Dann  heißt  es:  „Wenngleich  nicht 
festgestellt  werden  konnte,  zu  welchem  Zweck  Ihr 
Ehemann  in  die  Radstube  gegangen  ist,  so  muß  doch 
aus  der  Sachlage  der  Schluß  gezogen  werden,  daß  Ihr 
Ehemann  nicht  einer  mit  der  üblichen  Betriebsarbeit 
an  sich  verbundenen  Gefahr  erlegen  ist."  Der  Ver- 
trauensmann der  freien  Gewerkschaft  nimmt  sich  der 

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Witwe  an  und  legt  Berufung  gegen  diesen  Entscheid 
ein.  Die  Berufsgenossenschaft  beantragt  die  Verwer- 
fung der  Berufung  und  begründet  ihr  Begehren  wie 
folgt:  „Es  sei  nicht  anzunehmen,  daß  der  Getötete 
in  der  Radstube  einen  Keil  hätte  antreiben  wollen. 
Neben  der  Leiche  ist  auch  die  Tabaksdose  gefunden 
worden,  so  daß  in  den  staatsanwaltschaftlichen  Akten  • . . 
auch  der  Ansicht  Ausdruck  gegeben  wird,  die  Tabaks- 
dose sei  durch  eines  der  Löcher  im  Boden  des  Polier- 
raumes ..  .  in  die  Radstube  gefallen,  Schmidt 
(der  Getötete)  habe  sie  holen  wollen  und  ßei  dabei 
verunglückt.  Das  Handbeil  könnte  dabei  sehr  wohl 
zum  Hervorlangen  gedient  haben."  In  der  Tat 
ein  höchst  geeignetes  Instrument  für  diesen  Zweck!- 
Das  Schiedsgericht  erkannte  auf  die  Zubilligung  einer 
Rente.  Darob  geriet  der  Vorsitzende  der  Berufs- 
genossenschaft, ein  königlicher  Kommerzienrat,  in  eine 
wilde  Aufwallung  tief  verletzten  Rechtsbewußtseins. 
Und  er  legte  beim  Reichsversicherungsamt  Rekurs  ein, 
indem  er  das  Schiedsgericht  wie  folgt  anblies:  „Das 
Schiedsgericht  hat  auf  bloße  Vermutung  und  ohne 
jede  positive  beweiskräftige  Unterlage  hin  als  fest-' 
stehend  angesehen,  daß  Schmidt  zum  Zwecke  irgend- 
einer Betriebsarbeit  das  Werk  betreten  habe.  Das; 
ist  kein  Recht,  sondern  Willkür,  gegen  die 
wir  uns  wehren."  Aber  auch  das  Reichsversiche- 
rungsamt war  der  Meinung,  daß  ein  Glasarbeiter  nicht 
für  seine  Tabaksdose  sein  Leben  opfert  und  daß  ein 
Handbeil  keine  Stange  ist.  Es  verwarf  den  Rekurs. 

Seitdem  ist  der  königliche  Kommerzienrat  der 
Fürther  Aristokratie  überzeugt,  daß  es  auf  der  Welt 
kein  Recht  mehr  gibt  .  . . 

[1909] 


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Unter  der  Sonne. 


Nie  geschaute  Frühlingsbilder  hat  dieses  starre 
Preußen  uns  heuer  gezeichnet:  Aus  den  bewegten 
Linien  dunkler  Kleider,  die  sich  zu  Tausenden  drän- 
gen, recken  sich  weiß  leuchtende  Hände  zum  Himmel 
empor.  Es  sind  harte  Hände  der  Arbeit  und  der 
Drangsal,  verwitterte  Hände  der  Sorge  und  des 
Schmerzes,  gefurchte,  verstümmelte  Hände;  aber  alle 
diese  Risse  des  Alltags  sind  unsichtbar  geworden,  auf- 
gelöst in  dem  schimmernden  Weiß,  so  wie  sie  sich 
jetzt  aus  dem  düsteren  Gewirr  strecken,  sind  es  alles 
dieselben  schwörenden  Hände  des  großen  Willens  und 
des  furchtbaren  Zornes,  weit  und  hoch  entfaltete 
Hände,  die  sich  nicht  in  demütigen  Gebeten  ver- 
schränken, sondern  die  frei  und  stolz  rufenden  Finger 
dem  Lichte  zukehren,  das  an  ihnen  mild  und  reich 
herabrinnt,  als  wollte  es  die  Sonne  selbst  in  die  Her- 
zen leiten.  Wie  Blüten  sind  diese  Hände,  die  plötzlich 
der  Frühling  auf  steinigem  Brachland  erweckte.  Eine 
neue  Schönheit  hat  der  bedeutsame  Augenblick  ge- 
boren :  Über  dem  finsteren  Millionenelend  betrogener, 
geplünderter  Menschen,  der  farblosen  Masse,  die  im- 
mer nur  anderen  Farbe  gewinnt,  hat  sich  die  unend- 
lich gegliederte,  in  zahllosen  Wandlungen  doch  ein- 
heitliche Riesenblüte  schaffender  Hände  strahlend 
ausgebreitet,  und  diese  öde  Welt  der  Fron  hat  auf 
einmal  die  Form  und  Farbe  des  Frohen  gewonnen. 
Eine  neue  Sonnenfeier  ist  wie  über  Nacht  geworden. 

Die  Machthaber  wußten  wohl,  was  sie  taten,  als  sie 
sich  weigerten,  die  Menschheitsbewegung  unserer  Zeit 
in  ungehemmtem  Sonnenlicht  sich  ausbreiten  zu  lassen. 
Mochten  die  Rebellen  immer  sich  in  öden,  qualmigen 

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Sälen  einsperren,  sich  als  Höhlenmenschen  vor  dem 
natürlichen  Licht  verkriechen,  da  sah  man  sie  nicht, 
da  sahen  sie  sich  selber  nicht,  nur  ihre  Lungen  wurden 
zerdrückt  und  verstaubt  und  ihre  Augen  verlernten 
im  Licht  zu  schauen.  Es  war  eine  Aussperrung  aus  der 
Natur,  und  die  fahle  Dämmerung  ließ  alle  Schrunden 
und  Wunden  in  einem  Grau  sich  verstecken.  Nur 
unter  der  Sonne  reift  die  unzerstörbare  Kraft,  nur  wer 
in  ihrem  Licht,  das  jede  Lüge  entkleidet,  zu  bestehen 
vermag,  bezeugt  sein  großes,  gesundes,  ungebrochenes 
Menschentum.  Indem  die  Masse  unter  dem  Himmel 
sich  ausbreitet,  zählt  sie  sich  nicht  nur,  fühlt  sie  sich 
nicht  nur,  wächst  in  ihr  nicht  nur  die  sehnsüchtige  Da- 
seinsfreude und  die  tätige  Entschlossenheit,  sie  gewahrt 
auch  die  Zerstörungen,  die  ihr  Leben  an  ihnen  verübt 
hat :  die  Sonne  bringt  es  an  den  Tag,  daß  in  der  heu- 
tigen gesellschaftlichen  Verfassung,  dieser  ewig  wäh- 
renden Schlacht,  die  große  Mehrzahl  der  Menschen 
entstellende  Wunden  der  Not  und  der  Fesselung  mit 
sich  schleppt,  die  sie  schamvoll  verhüllen  möchte.  Die 
Sonne  heischt  die  ungebrochene  Schönheit  des  Men- 
schen, und  sie  selbst  wird  zur  Anklägerin  wider  die 
Verbrecher  an  menschlicher  Kraft,  Größe  und  Rein- 
heit. Unter  der  Sonne  wird  alles  Unechte  entlarvt, 
aller  hüllende  Plunder  und  alles  erheuchelte  Gefühl 
zerzaust :  Nur  die  ganz  starke  Wahrheit  kann  sich  in 
ihrem  richtenden  Glanz  bewähren.  Nur  in  ihr  können 
frohe,  ehrliche,  brausende  Feste  des  Lebens  ent- 
stehen! 

Es  lag  von  Anbeginn  in  der  Maifeier  des  Proletariats, 
daß  die  Wiedergeburt  der  Natur  sich  mit  dem  Früh- 
lingswillen menschlichen  Strebens  innig  verbände  — 
ein  Sonnenfest  erwachter  Völker,  ein  Menschheitsfest, 
das  zum  erstenmal  wieder  in  farbiger  Freude  und 
lachender  Schönheit  die  ganze  Erde  einigen  sollte. 
Aber  fast  schien  es,  als  ob  die  Kraft,  Feste  zu  feiern, 
versiegt  sei.   Das  Maifest  bildete  sich  keine  eigenen 


»7 


Formen  seines  tiefen  und  heiligen  Wesens.  Es  schleppte 
den  Geruch  und  den  Druck  des  Werktags  mit  sich. 
Wir  nahmen  an  Veranstaltungen  teil,  nicht  aber 
an  einem  Fest,  in  dem  sich  der  erhöhte  Sinn  des 
Lebens  offenbarte.  Nur  in  unlustigen  Sälen  gab  es 
etliche  Vergnüglichkeit  und  flüchtige  Erbauung. 

Von  unseren  Festen,  diesen  Ausströmungen  mensch- 
licher Freude  in  den  Formen  der  Kunst,  der  zu  un- 
mittelbarem Leben  gewordenen  Kunst,  gilt,  was 
William  Morris  von  der  Kunst  selber  sagt:  „Verkauft 
ist  sie  worden  und  billig  fürwahr,  achtlos  vernichtet 
durch  die  Gier  und  Unfähigkeit  von  Narren,  die  nicht 
wissen,  was  Leben  und  Freude  bedeuten,  und  sie 
weder  selbst  besitzen,  noch  anderen  gewähren  wollen, 
zum  Opfer  gebracht  jenem  Ungeheuer,  das  alle  Schön- 
heit zerstört  hat,  und  dessen  Name  ist  —  Handels- 
gewinn." In  Wahrheit:  sind  nicht  auch  unsere  Feste 
zur  Ware  geworden,  Spekulationsobjekte  für  Saal- 
besitzer und  Bierbrauereien  ?  Nicht  nur  unsere  Ar- 
beit wird  ausgeschrotet,  sondern  auch  unsere  Freude, 
und  wenn  wir  in  den  kargen  Minuten  losgebundener 
Knechtschaft  mit  ermüdeten  Sinnen  und  kaum  sich 
selbst  wagender  und  bejahender  Sehnsucht  uns  dem 
Schein  einer  Freiheit  hingeben,  so  wird  auch  sie  auf 
dem  Markt  lärmend  ausgeboten  und  feilschend  ver- 
wüstet. Unsere  Feste  von  heute  sollen  eine  Vor- 
ahnung der  Wirtschaftsordnung  von  morgen  sein. 
Diese  Ordnung,  die  aus  dem  rohen  Chaos  der  mensch- 
lich-staatlichen Gesellschaft  selbst  ein  Kunstwerk  ge- 
staltet, wäre  nicht  wert  des  Kampfes  und  der  Opfer 
gewesen,  wenn  sie  nur  (wieder  mag  William  Morris 
reden!)  „die  Bürde  der  Arbeit  erleichtert  hätte,  ohne 
ihr  wiederum  jene  Elemente  sinnlichen  Vergnügens 
beizumischen,  das  den  Kern  aller  wahren  Kunst  aus- 
macht." Der  englische  Künstler-Sozialist  weiß,  was 
die  Proletarier  wollen,  „und  was  sie  aus  den  tiefsten 
Tiefen  ihrer  Barbarei  zu  erretten  vermöchte:  Arbeit, 

88 


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die  ihr  Selbstgefühl  nähren,  ihnen  die  Anerkennung 
und  Teilnahme  ihrer  Genossen  eintragen  könnte,  ein 
Heim,  das  sie  mit  Freuden  aufsuchen,  eine  Umgebung,, 
die  sie  besänftigen  und  erheben  würde;  vernünftige- 
Arbeit,  vernünftige  Rast.  Aber  nur  eine  Macht  in- 
der  Welt  kann  ihnen  das  schenken,  die  Kunst."  Keine 
Kunst  der  Wenigen,  sondern  „eine  Kunst,  geschaffen 
durch  das  Volk,  als  ein  Glück  für  den  Schöpfer,  wie 
für  den  Genießer."  Die  belebende  Seele  dieser  neuen 
Ordnung  wird  die  Kunst  sein  und  sie  wird  eine  Ge- 
sellschaft entwickeln,  in  der  „die  künstlerische  Verede- 
lung des  Tagewerkes,  an  Stelle  von  Furcht  und  Not, 
Hoffnung  und  Freude  als  diejenigen  Kräfte  einsetzen 
wird,  welche  die  Menschen  zur  Arbeit  antreiben  und 
so  die  Welt  in  Gang  erhalten." 

Dieser  großen  Zukunft  Gleichnis  und  körperlich  im 
voraus  gestaltetes  Abbild  ist  das  Maifest,  sollte  es 
sein!  Darum  muß  auch  seine  belebende  Seele  die 
Kunst  sein.  Wenn  in  der  Völkerfeier  des  Mai  die 
Schreie  des  Zornes  und  die  Weckrufe  zukunftsträchti- 
ger Zuversicht  in  Massenchören  über  die  Erde  hallen,, 
so  bedarf  der  politische  und  soziale  Gehalt  des  kämp- 
fenden Festes  der  reinen,  farbigen  Formen,  um  auf 
die  Seelen  zu  wirken,  ihnen  für  immer  ein  Erlebnis  zu 
bleiben,  sie  als  ewig  treibende,  gläubige  Trösterei 
durch  alle  die  dumpfen  und  stumpfen  Tage  zu  ge- . 
leiten.  Die  Maifeier  kann  niemals  zugrunde  gehen ^ 
wenn  es  gelingt,  ihren  erhabenen  Sinn  in  dem  künst- 
lerischen Ausdruck  ihrer  Verkörperung  heranzuholen» 
Nur  wenn  sie  in  einer  eilig  gepfuschten  Routine  er- . 
starrt,  wenn  sie  Jahr  für  Jahr  in  barbarischem  Ge- 
mengsei lediglich  Antriebe  und  Vorwände  für  Lust- 
barkeitssteuern darbietet,  dann  hat  sie  ihre  Seele,  ihr 
Daseinsrecht  verloren,  auch  wenn  man  sie  mit  pein- 
licher Gewissenhaftigkeit  zum  fälligen  Termin  auf  die 
Tagesordnung  immer  wieder  setzen  mag. 

Die  früheren  Zeiten  kannten  den  bunten,  ein  wenig 


8» 


rohen,  doch  lustigen  Kirmeslärm  der  Volksfeste,  die 
die  Massen  in  einem  Drang  vereinigte  und  die  echt 
und  lebensstrotzend  waren,  wenn  sie  auch  zumeist 
das  listig  verführende  und  beschwichtigende  Geschenk 
der  Mächtigen  waren.  Die  Volksfeste  sind  gestorben, 
und  was  sich  noch  so  nennt,  sind,  da  ihnen  alle  innere 
Volksgemeinschaft  fehlt,  leere  entartete  Nachahmun- 
gen und  Fälschungen.  Wir  aber  streben  heute  von 
den  alten  Volksfesten,  die  sich  durch  viele  Tage  des 
Jahres  häuften,  zu  einem  Völkerfest:  Ein  Fest  nur, 
doch  alle  Völker!  Das  ist  das  Neue,  Unerhörte,  Ge- 
waltige des  Maifestes.  Kein  tollendes  Betäuben  über 
den  Jammer  des  Alltags,  den  man  wehrlos  wie  eine 
ewige  Sckickung  trug,  kein  bocksmäßiges  Heraus- 
springen aus  sonst  versperrtem  Stall,  wie  in  den  Volks- 
festen von  ehedem,  sondern  ein  Bergen  und  Ernten 
zukünftigen  Reichtums  in  der  symbolischen  Versinn- 
lichung  ernster  Freudenfeier  —  das  ist  das  Maifest 
und  das  muß  es  zu  formen  imstande  sein. 

Wir  brauchen  die  Farben  der  schlichten,  echten, 
feierlichen  Freude.  Die  Masse  selbst,  die  von  einem 
Ideal  bewegt  wird,  gewährt  uns  den  gewaltigsten  Ur- 
stoff,  ein  würdiges  Fest  zu  gliedern,  den  die  Mensch- 
heitsgeschichte bisher  dargeboten  hat.  Erfinden  wir 
ihm  die  Linie  und  die  Farbe  seiner  stolzen  Weihe, 
rufen  .wir  die  Künstler,  die  mit  uns  fühlen,  uns  zu 
helfen.  Nicht  daß  wir  uns  mit  glitzerndem  Plunder 
und  täuschendem  Flitter  behängen  wollen,  grelle  Pa- 
pierbluraen  aufpflanzen  und  die  Textilindustrie  der 
Anilinfarben  über  die  Natur  breiten,  nein,  wir  rufen 
nach  der  großen  Einfachheit  des  Ausdrucks  freier 
Freude,  die  sich  innig  schmiegt  in  die  umgebende 
Natur  und  sichtbar  auswirkt,  was  uns  in  Herz  und  Hirn 
gärt  und  zur  Sonne  hervor  drängt.  Lichte  Kleider  der 
Frauen  und  Mädchen,  Frühlingsblüten  in  dem  ge- 
lösten Haar  der  Kinder,  helle  Gesänge  der  unfertigen 
Jugend  und  die  markigen  Lieder  der  Reifen,  und  die 


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große  Kunst  der  klassischen  Musik,  der  in  Tönen  eine 
neue  Menschheit  kündenden  Meister  —  und  alles 
unter  der  Sonne,  furchtlos  sich  darbietend  ihrer  un- 
bestechlichen, unbeirrbaren  Prüfung.  Und  dann  wird 
am  Ende  einst  der  Tag  kommen,  wo  wir  nicht  nur 
geordnet,  wie  preußische  Soldaten,  durch  die  Straßen 
ziehen  und  in  den  Parks  uns  regelrecht  säuberlich 
sammeln,  wunderbar  angepaßt  der  streng  äugenden 
Polizei,  die  im  Lineal  das  Szepter  Gottes  anbetet, 
sondern  die  farbig  erglühende  Masse  tanzt  durch  die 
Straßen  und  schlingt  unter  den  Bäumen  der  jetzt  nur 
fürs  Anschauen  behüteten  Stadtgärten  den  Reihen  — 
und  alle  Straßenbahnen,  Automobile,  Droschken  hal- 
ten vor  solchem  Mirakel  still,  und  die  ältesten  Schutz- 
mannsgäule wiehern  vor  erstauntem  Vergnügen  und 
hüpfen,  daß  ihre  Reiter  herunterfallen  und  —  mit- 
tanzen . . . 

[i.  Mai  1910.] 


9i 


Festlicher  Kampf. 

Krieg  und  Kampf  —  das  sind  die  beiden  Gegen- 
sätze der  menschlichen  Gesellschaft,  das  ist  der  Weg 
von  der  Barbarei  zur  Kultur.  Krieg  ist  das  Raufen 
um  Vernichtung,  Kampf  das  Ringen  um 
Vollendung.  Die  herrschenden  Klassen  führen  Krieg, 
die  unterdrückten,  aufwärtsstrebenden  kämpfen.  In 
der  kapitalistischen  Welt  herrscht  unablässig  verwü- 
stender Krieg,  durch  den  für  wenige  ein  satter  Friede 
erkauft  werden  soll.  Die  sozialistische  Welt  will  keinen 
Krieg,  um  einen  trägen  Schlaraffenfrieden  zu  ernten; 
sie  will  vielmehr  den  Frieden,  um  kämpfen  zu  können. 
Nichts  Größeres  ist  den  Menschen  gegönnt  als  der 
Kampf;  er  ist  der  heiligste  Inhalt  des  Lebens.  Daß 
dieses  Dasein  zum  heiligen,  zum  festlichen  Kampf 
werde,  ist  höchstes  Ziel  menschlicher  Kulturarbeit. 
Und  darum  ist  das  Weltfest  des  Proletariats,  der  Mai- 
tag, die  tiefsinnigste  Idee,  die  jemals  verwirklicht 
war,  dieser  Gedanke  eines  Feiertages,  der  zugleich 
Fest  und  Kampf  ist.  In  solcher  Vereinigung  ist  un- 
sere Maifeier,  wie  mühselig,  in  echt  proletarischem 
Schicksal  sie  sich  immer  vor  dem  Wirrsal  der  andrän- 
genden Hemmungen  behaupten  und  durchsetzen  mag, 
dennoch  ein  Vorklang  jenes  zukünftigen  Lebens,  das 
festlicher  Kampf  sein  wird. 

Dieses  Festgefühl  sollten  wir  in  unseren  zähen, 
oft  klein  und  kleinlich  scheinenden,  bisweilen  hoff- 
nungsarm ermattenden  Werktagskämpfen  niemals  ver- 
gessen. Wo  und  wie  sich  das  Proletariat  betätigt,  ob 
in  der  Enge  des  Dorfes  oder  der  Unrast  der  Weltstadt ; 
ob  auf  dem  Acker  oder  in  der  Fabrik,  ob  es  seinen 
Stimmzettel  in  die  Urne  wirft,  in  Versammlungen  de- 

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monstriert,  Flugblätter  austrägt,  in  einer  Werkstatt- 
beratung noch  so  winzige  Verbesserungen  seiner  Ar- 
beitsverhältnisse erörtert;  ob  es  genossenschaftlich  die 
Beschaffung  von  Nahrung  und  Hausung  organisiert, 
ob  es  sich  in  das  freie  Wort  seiner  Presse  versenkt,  mit 
hingebendem  Fleiß  um  wissenschaftliche  Erkenntnisse 
sich  bemüht  oder  sein  Gefühl  in  künstlerischen  Offen- 
barungen erfüllt  —  stets  umwittert  den  Proletarier 
die  Größe  seiner  weltgeschichtlichen  Auf- 
gabe und,  indem  er  um  das  Nächste  und  Beschei- 
denste kämpft,  erhebt  er  sich  zum  ahnungsvollen  Bür- 
ger einer  erhabenen  Zukunft,  die  er  selbst  rüsten  hilft 
Das  helle  Mailicht  begleitet  den  aufrechten  Proletarier 
durch  alle  Tage  des  Jahres,  und  in  keinem  Tun  ver- 
gißt er  die  festliche  Begeisterung,  die  er  seinem  Werk 
schuldet. 

Ludwig  Feuerbach  hat  in  einem  schönen  und 
kühnen  Gleichnis  die  Erhabenheit  des  Alltäg- 
lichen gezeichnet:  „Essen  und  Trinken  ist  das  My- 
sterium des  Abendmahls  —  Essen  und  Trinken  ist  in 
der  Tat  an  und  für  sich  selbst  ein  religiöser  Akt;  soll 
es  wenigstens  sein.  Denke  daher  bei  jedem  Bissen 
Brot,  der  dich  von  der  Qual  des  Hungers  erlöst,  bei 
jedem  Schluck  Wein,  der  dein  Herz  erfreut  an  den 
Gott,  der  dir  diese  wohltätigen  Gaben  gespendet  — 
an  den  Menschen!  Aber  vergiß  nicht  über  der 
Dankbarkeit  gegen  den  Menschen  die  Dankbarkeit 
gegen  die  Natur!  Vergiß  nicht,  daß  der  Wein  das 
Blut  der  Pflanze  und  das  Mehl  das  Fleisch  der  Pflanze 
ist,  welches  dem  Wohle  deiner  Existenz  geopfert  wird ! 
Vergiß  nicht,  daß  die  Pflanze  dir  das  Wesen  der  Natur 
versinnbildlicht,  die  sie  selbstlos  dir  zum  Genüsse  hin- 
gibt !  .  . .  Hunger  und  Durst  zerstören  nicht  nur  die 
physische,  sondern  auch  die  geistige  und  moralische 
Kraft  des  Menschen,  sie  berauben  ihn  der  Menschheit, 
des  Verstandes,  des  Bewußtseins.  O,  wenn  du  je 
solchen  Mangel,  solches  Unglück  erlebtest,  wie  wür- 


93 


dest  du  segnen  und  preisen  die  natürliche  Qualität 
des  Brotes  und  Weines,  die  dir  wieder  deine  Mensch- 
heit, deinen  Verstand  gegeben!  So  braucht  man  nur 
den  gewöhnlichen  gemeinen  Lauf  der  Dinge  zu  unter- 
brechen, um  dem  Gemeinen  ungemeine  Bedeutung, 
dem  Leben  als  solchem  überhaupt  religiöse  Bedeu- 
tung abzugewinnen." 

Unser  Maitag  ist  solche  Unterbrechung  des  ge- 
meinen Laufs  der  Dinge,  um  dem  Gemeinen  un- 
gemeine Bedeutung  zu  geben.  Er  lehrt  uns  die  Alltäg- 
lichkeit unseres  Kampfes  in  seiner  Größe  erkennen, 
das  Glück  des  Kämpfens  selbst  im  Innersten  empfin- 
den, er  bestärkt  und  befeuert  uns  in  der  erhabenen 
Überzeugung,  daß  der  Klassenkampf  des  Proletariats 
die  schaffende  Vernichtung  des  Klassenkrieges  ist,  den 
die  Herrschenden  unbarmherzig  und  sinnlos  zu  führen 
verurteilt  sind. 

Man  sollte  unsern  Kampf  nicht  mit  dem  Kriege 
jener  vergleichen.  Es  ist  nichts  Gemeinsames  zwischen 
diesen  beiden  Betätigungen.  Kämpfen  ist  Schaffen, 
Kriegen  isj  Zerstören.  Es  ist  nicht  das  Ringen  mora- 
lisch Ebenbürtiger,  das  zwischen  den  beiden  Lagern 
brandet.  Das  sind  die  Kämpfer  des  Daseins,  die  das 
festliche  Schöpferglück  noch  in  dem  Augenblick  be- 
gnadet, da  sie  im  Übermaß  der  Kraftanspannung  zu- 
sammenbrechen. Der  Denker  ist  Kämpfer,  der  die 
quellende  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  in  klaren 
einfachen  Gedanken  zu  bändigen  sich  quält.  Der 
Künstler  ist  Kämpfer,  der  das  Schicksal  der  Mensch- 
heit in  großen  Gesichten  zu  gestalten  ringt  —  bis  zur 
verzehrenden  Aufopferung  seines  Selbst.  Wer  auf 
schwankem  Fahrzeug  hoch  über  der  Erde  im  weiten 
Luftmeer,  den  tödlichen  Sturz  vor  Augen,  uner- 
schrocken steuert,  wer  in  die  Eisgefilde  fernster  Ein- 
samkeit vordringt,  wer  den  verderbenden  Krankheits- 
erregern im  menschlichen  Körper,  die  grauenhaften 
Geheimnisse  ihres  Wirkens  nachspürt  —  der  weiß, 

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was  Kämpfen  heißt.  Wer  mit  schwerem  Schritte  die 
Scholle  bearbeitet,  wer  glühendes  Metall  zu  zweck- 
mäßig sinnvoller  Form  unterwirft  —  sie  alle  gehören 
zu  dem  Maiheere  der  Kämpfer. 

Die  Herrschenden  aber  kämpfen  nicht,  sie  füh- 
ren Krieg,  sie  zerstören.  Sie  rasen  in  allen  Ländern 
und  Ströme  von  Blut  fließen.  Bald  führen  sie  Rachezüge 
gegen  wildwüchsige  Naturvölker  und  rotten  sie  im 
Namen  der  Zivilisation  aus,  bald  treiben  sie  zivili- 
sierte Nationen  mit  Kanonen,  Maschinengewehren, 
Panzerschiffen  gegeneinander.  Jetzt  entfesseln  sie  un- 
blutige, aber  kaum  minder  grausame  Völkerkriege 
durch  Zölle  und  Sperren,  dann  toben  sie  in  inneren 
Fehden:  Die  Straßen  röten  sich  vom  Blut  wehrloser 
Bürger,  frecher  Übermut  sperrt  Tausenden  Raum 
und  Werkzeuge  der  Arbeit,  Rechte  und  Freiheiten 
werden  zertreten.  Gerichtssäle  und  Gefängnisse,  Ar- 
beitshäuser und  Prügelheime,  Kasernen,  in  denen  die 
Leiber  entseelt,  und  Kirchen,  in  denen  die  Geister 
entkörpert  werden,  das  sind  ihre  Kriegsschauplätze. 

Blickt  in  die  Fratzen  dieser  Krieger,  wo  gewahrt  ihr 
Größe,  Begeisterung,  oder  auch  nur  ein  gutes  Ge- 
wissen? Sie  säen  Tod  und  ernten  Verwesung.  In  all 
ihrem  Glanz,  in  all  ihrer  Macht,  in  all  ihrem  Reich- 
tum irren  sie  doch  scheu,  wie  von  der  Weltacht  Ge- 
bannte und  Verfluchte,  unstet  durch  ihre  Zeit,  die 
für  sie  zum  ewigen  Grabe  wird.  Sie  haben  nichts, 
wofür  sie  kämpfen  dürfen.  Sie  kennen  ja  nur 
Unterdrückung  und  Erniedrigung.  Sie  wissen  nichts 
von  der  Unsterblichkeit  des  Kämpferglücks,  das  des 
endlichen  Sieges  gewiß  ist.  Ihr  zittert  vor  euren  eige- 
nen Geschossen  und  Sprengstoffen,  vor  euren  eigenen 
Klassengenossen  und  noch  mehr  vor  denen,  die  ihr 
beraubt.  Wir  aber  reichen,  mit  unbewehrten  Händen, 
unbekümmert  um  alle  Schrecken  stählerner  Waffen 
und  blutiger  Gesetze  die  brüderlichen  Hände  über  alle 
Grenzen  und  rufen,  ob  man  uns  tausendfach  als  Hoch- 


95 


-Verräter  schmähen  und  verfolgen  mag,  alle  zu  Hilfe, 
die  mit  uns  bereit  sind,  in  festlichem  Kampf  ein  neues 
Leben  aufzubauen ;  und  fast  sind  wir  weichmütig,  euch 
übermächtige,  uns  bedrohende  Feinde  zu  bedauern, 
daß  ihr  nichts  verspüren  könnt  von  der  Fülle  unserer 
Sehnsucht,  Tapferkeit  und  Zuversicht. 

Der  erste  Mai  ist  unser  Fest  aus  eigenem 
Recht.  Keine  Kirche  lockert  dem  Pöbel  die  Zügel 
für  kurze  Rauschstunden,  kein  König  läßt  seinen  Un- 
tertanen aus  Marktbrunnen  roten  Wein  fließen  und 
den  Hungernden  zu  stumpfer  Völlerei  Ochsen  braten. 
Die  Masse,  die  unser  ernstes,  verfolgtes  und  gefährdetes 
Fest  feiert,  ist  nicht  mehr  euer  geduldiges,  armseliges, 
feiges  Volk,  dem  ihr  die  Glieder  und  Gedanken  nach 
Willkür  verstümmelt,  und  das  ihr  mit  huldvollen  Ver- 
gnüglichkeiten begnadet,  nachdem  es  euch  sein  Men- 
schentum geopfert  hat.  Wir  wollen  kein  Recht,  das 
wir  nicht  selber  erobert,  keine  Freiheit,  die 
wir  nicht  selber  gefügt,  keine  Freude,  die 
wir  nicht  selber  gespendet,  und  auch  kein 
Fest,  das  wir  nicht  selber  uns  gewonnen. 

Dazu  erziehen  wir  dies  neue  Volk,  daß  jeder  sich 
selber  zu  erziehen  wisse,  daß  jeder  verstünde,  seinem 
Dasein  Wert  und  Würde  zu  verleihen,  sein  Schicksal 
klug  und  tapfer  zu  lenken:  jeder  einzelne,  in  sich  ge- 
reift und  gehämmert,  ein  Kämpfer  für  sich  und  doch 
-ein  frei  sich  fügendes  Glied  in  der  Gesamtheit  — 
festlichen  Kampf! 

[i.  Mai  1911.] 


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Die  Kindesmörderin. 


Durch  die  Weltgeschichte  des  Frauenelends  schleicht 
das  blutige  Gespenst  der  Kindesmörderin.  Unzählige 
sind  in  Schande  und  Marter  zugrunde  gegangen,  und 
die  Frau  allein  trug  das  Martyrium.  Der  Mann  er- 
scheint an  ihrer  Seite  nur  als  Richter,  Folterknecht 
und  Henker;  aber  der  mitschuldige  Mann,  der  das 
Kind  zeugte,  ist  niemals  dort  zu  finden,  wo  die  Frau 
geopfert  wird,  er  zieht  leichten  Herzens  ungestraft 
seines  Weges,  den  lustigen  Geschmack  genossener 
Buhlschaft  auf  den  Lippen,  nach  neuem  Zeitvertreib 
auslugend. 

Bis  in  das  Ende  des  18.  Jahrhunderts  lastet  die  ganze 
Grausamkeit  mittelalterlicher  Justiz  auf  der  armen 
Dirne,  die  unehelich  empfing,  um  ein  bißchen  Liebe 
zu  genießen.  Die  uneheliche  Mutter  war  nicht  nur 
gesellschaftlich  geächtet,  sondern  sie  verfiel  durch  die 
„Unzucht"  auch  der  kriminellen  Ahndung.  Und 
doch  stießen  die  vielen  Eheverbote  und  Eheerschwe- 
rungen ständischer,  konfessioneller  und  materieller  Art 
die  Frau  fast  gewaltsam  in  das  ungeweihte  Bett  der 
Liebe.  Die  Geburt  eines  Kindes  bedeutete  ihre  Aus- 
stoßung aus  der  Gesellschaft,  entledigte  sie  sich  aber 
der  verfluchten  Bürde,  die  in  Angst  und  Qual  ihren 
Schoß  unentrinnbar  schwellen  ließ,  so  ward  sie  von 
rohen  Knechten  mit  glühenden  Zangen  zum  Ge- 
ständnis gebracht,  an  den  Galgen  geknüpft,  gepfählt, 
im  Sack  ertränkt  oder  lebendig  begraben  —  unter 
pfäf fischen  Gebeten. 

Die  revolutionäre  Weltstimmung  am  Ende  des 
l8.  Jahrhunderts,  das  die  Menschlichkeit  wieder  ent- 
deckte, linderte  auch  das  Los  des  Kindesmörderin. 


7    Blsner ,  Getammelte  Schriften.  II. 


97 


Pestalozzi,  der  große  Erzieher,  der  die  ganze  Tragik 
eines  einsamen,  allzu  feurigen  Idealismus  in  seinem 
Dasein  auskosten  mußte,  hatte  aus  dem  Studium  der 
Gerichtsakten  die  Erkenntnis  gewonnen,  daß  häufig 
die  uneheliche  Mutter  im  Augenblick  der  Geburt  im 
kranken  Zustande  geistigen  Wahns  unfrei  und  be- 
wußtlos das  Verbrechen  mechanisch  verübte,  und 
predigte  leidenschaftlich  Milde  für  die  Unglücklichen. 
Eine  Preisaufgabe  wurde  gestellt:  „Welches  sind  die 
besten  ausführbaren  Mittel,  dem  Kindesmorde  abzu- 
helfen, ohne  die  Unzucht  zu  begünstigen."  Die  drei 
preisgekrönten  Arbeiten  wurden  1784  in  Mannheim 
veröffentlicht.  Die  Dichtung  nahm  sich  der  Kindes- 
mörderin an:  H.  L.  Wagner,  Bürger,  Schiller  weihten 
die  Märtyrerin,  und  in  der  Gretchen-Tragödie  des 
Faust  schuf  Goethe  erbarmend  und  begreifend  aus  der 
gefolterten  Kreatur  der  Henkersknechte  eine  weltliche 
mater  dolorosa. 

Heute  hat  das  Recht  die  Strafe  für  Kindesmord  ge- 
mildert, aber  nur  unter  gewissen  Voraussetzungen  gilt 
diese  Tötung  nicht  als  Mord.  Das  deutsche  Straf- 
gesetzbuch versteht  unter  Kindesmord  nur  die  Tötung 
eines  unehelichen  Kindes  in  oder  gleich  nach  der  Ge- 
burt durch  die  Mutter.  Das  französische  Strafgesetz 
begreift  darunter  die  Tötung  jedes  Neugeborenen 
durch  irgendeine  Person.  Im  Vorentwurf  zum  schwei- 
zerischen Strafgesetzbuch  ist  Kindesmord  die  vorsätz- 
liche Tötung  eines  Kindes  durch  die  Gebärende  unter 
dem  Einfluß  des  Gebäraktes. 

Die  Rechtswissenschaft  streitet  über  die  Gründe, 
welche  solche  Milderung  der  Strafe  vor  dem  gewöhn- 
lichen Mord  rechtfertigen.  Die  Auffassung  Pestalozzis 
von  der  Bewußtseinstrübung  im  Vorgang  des  Gebärens 
kämpft  mit  der  anderen,  die  mit  der  Furcht  vor 
Schande  die  Herabsetzung  der  Strafe  rechtfertigt.  Die 
psychologischen  Einwirkungen  des  Geburtsaktes  auf 
die  Zurechnungsfähigkeit  werden  von  einzelnen  Kri- 

98 


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minalisten  gänzlich  geleugnet,  die  nur  den  „Ehrennot- 
stand" gelten  lassen,  die  Furcht  vor  Schande. 

Von  dieser  Streitfrage  ausgehend,  sich  aber  weit 
über  ihre  Enge  erhebend,  untersucht  Margarete  Meier 
auf  Grund  von  Material  des  Züricher  Universitäts- 
instituts für  gerichtliche  Medizin  die  Psychologie  des 
Kindesmordes.  Die  Ergebnisse  ihrer  Untersuchung 
veröffentlicht  sie  in  einer  ganz  hervorragenden  Arbeit 
im  „Archiv  für  Kriminal-Anthropologie"  (1910,  Heft 
3/4).  Dieser  auf  persönlicher  Beobachtung  von  Kindes- 
mörderinnen und  Aktenstudium  beruhende  „Beitrag 
zur  Psychologie  des  Kindesmordes"  müßte  unmittelbar 
eine  fundamentale  Änderung  der  Gesetzgebung  ver- 
anlassen, wenn  sie  durch  Vernunft  und  Humanität, 
statt  durch  Klasseninteressen  bestimmt  würde. 

Jene  Streitfrage  beantwortet  Margarete  Meier  da- 
hin, daß  eine  durch  den  Geburtsvorgang  verursachte 
Verminderung  der  Zurechnungsfähigkeit  in  keinem 
Falle  nachzuweisen  sei.  Wenn  aber  auch  keine  Be- 
wußtseinstrübung vorhanden  ist,  so  befindet  sich  die 
Frau  dennoch  durch  die  Geburt  „in  einer  so  neuen, 
ungewohnten  Situation,  sie  steht  unter  dem  Zwange 
einer  solchen  Menge  drückender  Tatsachen,  an  einem 
solchen  Wendepunkt  ihres  Lebens,  daß  ihr  Zustand 
nicht  normal  genannt  werden  kann".  Gerechtfertigt 
sei,  den  Geburtsvorgang  als  strafmildernd  zu  berück- 
sichtigen, nicht  berechtigt  aber,  daß  er  „das  Strafmil- 
dernde überhaupt  sei".  In  der  Tat  sind  die  anderen 
Motive  des  Verbrechens  ungleich  wichtiger.  In  den 
von  Margarete  Meier  untersuchten  Fällen  wirkten  als 
Motive  der  Tat,  sich  mehr  oder  weniger  miteinander 
verflechtend : 

Verlassenheit  (im  engeren  Sinne)  durch  den  Kindes- 
vater achtmal; 

Verlassenheit  im  weiteren  Sinne  (weil  die  Frau  keinen 
Halt  an  ihrer  Umgebung  hatte)  elf  mal; 

Ehrennotstand  sechsmal; 


v 


99 


Finanzielle  Not  achtmal; 

Abneigung  gegen  Kind  und  Vater  dreimal; 

Abneigung  gegen  das  Kind  einmal. 

Gemeinsam  ist  allen  Fällen: 

1.  daß  die  schwersten  Verantwortlichkeiten  nicht  in 
den  Täterinnen  selbst  liegen, 

2.  daß  die  Täterinnen  Gelegenheitsverbrecherin- 
nen  sind, 

3.  daß  die  Verhältnisse  überall  der  Entwicklung  des 
mütterlichen  Gefühls  entgegenwirken. 

Zur  Erläuterung  bemerkt  die  Verfasserin:  „Bei  den 
Verbrechen  der  Frau  und  namentlich  bei  ihren  sexuel- 
len Verbrechen,  wie  Kindesmord  usw.,  den  Mann  zu 
suchen,  der  selbstverständlich  dahinter  steckt,  das 
wäre  so  naheliegend  und  natürlich."  Aber  den  Mann 
zu  suchen  würde  nichts  nützen;  „denn  das  Gesetz 
kann  ihm  nichts  tun,  weil  er  entweder .  .  .  nichts 
juristisch  Wägbares  getan  hat  oder  weil  er  wie  die  un- 
ehelichen Väter  durch  ein  besonderes  Gesetz  geschützt 
ist".  „Er  kann  durch  das  Gesetz  nur  höchstens  zur 
Linderung  der  finanziellen  Not  herangezogen  werden ; 
dafür,  daß  er  die  uneheliche  Mutter  der  Schande  und 
der  Verzweiflung  des  Verlassenseins  preisgibt,  dafür 
kann  kein  Gesetz  ihm  etwas  anhaben.  Viel  mehr  als 
die  finanzielle  Not  drängen  aber  die  letzteren  Mo- 
mente die  Unglücklichen  zu  ihren  Verzweiflungs- 
taten." „Jedenfalls  existiert  meines  Wissens  zur  Zeit 
kein  Gesetz,  daß  man  dem  Manne  für  die  unehelichen 
Kinder  die  gleiche  Verantwortung  auferlegt,  wie  für 
die  ehelichen.  Bei  diesem  Rechtszustand  sollte  es  für 
jedes  Gesetz  und  für  jedes  Gericht  Ehrensache  sein, 
die  Tötung  eines  unehelichen  Kindes  durch  dlt  Mut- 
ter oder  einen  anderen  Anverwandten,  auf  den  die 
Last  fallen  würde,  so  gelinde  als  irgend  möglich  zu 
bestrafen,  denn  dieser  Rechtszustand  ist  an  allen  diesen 
Verbrechen  mitschuldig.    Die  scharfsinnigen  Erwä- 

zoo 


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gungen  über  Ehrennotstand  und  Einfluß  der  Geburt 
sollten  eigentlich  für  diese  Fälle  überflüssig  sein." 

Ist  so  der  heutige  Rechtszustand  mitschuldig,  so 
nennt  Margarete  Meier  die  Tötung  des  Kindes  mir 
Fug  eine  Art  mütterlichen  Selbstmordes.  Fast  alle 
die  Kindesmörderinnen  stammen  aus  kleinbäuerlichen, 
durch  Geisteskrankheit  und  Alkoholismus  entarteten 
Familien.  Es  sind  kranke  Sprößlinge,  deren  Beseitigung 
für  die  Gesellschaft,  wie  Margarete  Meier  mit  einer 
gewissen  Härte  meint,  keine  Schädigung  bedeutet. 
Fast  könnte  man  glauben,  daß  die  Natur  den  Kindes- 
mord bisweilen  als  Kunstgriff  wählt,  um  die  Gesell- 
schaft nicht  mit  menschlichen  Krüppeln  zu  belasten. 
Ein  Teil  der  Täterinnen  ist  geisteskrank,  fast  alle  in 
verschieden  hohem  Grade  geistig  oder  moralisch  oder 
geistig  und  moralisch  minderwertig.  Endlich  ist  der 
Entschluß  zur  Tat  in  den  seltenen  Fällen  vorgefaßt 
und  wird  meistens  „den  Täterinnen  durch  den  Wunsch 
erdrückender  Tatsachen  und  Verhältnisse  erst  im  Mo- 
ment der  Tat  aufgezwungen". 

Es  sind  armselige  Geschöpfe,  deren  Schicksal  uns 
Margarete  Meier  zeichnet.  Aber  keine,  auch  die  nicht, 
welche  für  Lebenszeit  ins  Zuchthaus  gesteckt  wurden, 
ist  so  verworfen,  wie  —  Goethes  Gretchen,  deren 
Missetaten  die  Verfasserin  aus  der  Sprache  des  Dichter- 
herzens in  die  heutige  Gerichtssprache  übersetzt;  ein 
besonders  leichtsinniges,  verbrecherisches  Mädchen, 
das  sich  einem  hergelaufenen  Manne  ergibt,  von  dem 
es  nichts  weiß,  der  ihm  nicht  einmal  die  Ehe  ver- 
spricht, das  die  Mutter  vergiftet,  das  Kind  ertrankt. 
Der  Dichter  macht  die  Seele  reden,  den  „dunklen 
Drang"  mit  dem  „das  Gericht  bis  jetzt  nichts  anzu- 
fangen weiß". 

Die  Fälle,  die  Margarete  Meier  darstellt,  lassen  in 
Abgründe  unserer  Kultur  blicken.  Da  tötet  eine  arme 
Großmutter  das  Enkelkind,  weil  sie  schon  so  viel  Plage 
mit  den  unehelichen  Kindern  ihrer  Töchter  gehabt 

iox 


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hat.  Eine  furchtbare  Tragödie  zerschmettert  eine  gut- 
erzogene, aus  günstigen  Familienverhältnissen  stam- 
mende Frau.  Zwei  Schwestern,  die  in  Bureaus  tätig 
sind.  Sie  leben  zusammen,  schlafen  in  einem  Zimmer, 
prüde,  ein  Jahrzehnt  lang  scheinbar  ohne  sexuelles 
Leben.  Aber  die  eine  Schwester  hat  ihren  heimlichen 
Roman  mit  einem  verheirateten  Manne.  Sie  wird 
schwanger.  Sie  wird  von  Wehen  befallen,  und  ohne 
daß  die  Schwester  etwas  ahnt,  gebiert  sie  nachts  ein 
Kind  und  vernichtet  es.  Kein  Arzt.  Sie  schleppt  sich 
aufrecht  und  wird  schwer  krank.  Das  verrät  die  heim- 
liche Geburt.  In  einem  Spital  erhängt  sie  sich  an 
einem  Bettlaken.  „Das  gleiche,  wofür  ihrem  Ge- 
liebten weder  von  der  Welt  noch  von  den  Gesetzen 
ein  Haar  gekrümmt  wird,  muß  sie  mit  einem  Ver- 
brechen und  mit  dem  Leben  bezahlen."  Ein  Dienst- 
mädchen tötet  aus  Angst  vor  Schande  und  Not  ihr 
Kind,  das  ein  Witwer  ihr  gezeugt  hat.  Wie  sie  wieder 
freikommt,  verkriecht  sie  sich  vor  allen  Menschen; 
„sie  würden  mit  den  Fingern  auf  mich  zeigen,"  schreibt 
sie  der  Verfasserin.  Eine  in  einem  Hotel  beschäftigte 
Bauerntochter  wird  von  einem  Reisenden  trunken  ge- 
macht und  verführt.  Der  prahlt  am  anderen  Tage, 
„die  habe  er  erwischt".  Das  Mädchen  hat  niemals 
einen  Menschen  gehabt,  zu  dem  sie  Vertrauen  gehabt 
hat;  nie  jemand  geliebt.  Sie  verlobt  sich  während 
der  Schwangerschaft  mit  einem  Handwerker,  dem  sie 
ihren  Zustand  verbirgt.  Dann  tötet  sie  das  Kind,  das 
zwei  Monate  zu  früh  in  die  Welt  will.  Im  Zuchthaus 
findet  das  verängstete  und  verstoßene  Wesen  Frieden. 

Ein  anderes  Mädchen  wird  durch  ein  Ehever- 
sprechen gefügig  gemacht.  Sie  lebt  mit  dem  Ge- 
liebten zusammen  —  vor  der  Welt  Mann  und  Frau. 
Vor  der  Hochzeit  und  der  Geburt  verschwindet  der 
Liebhaber.  Sie  kommt  sich  vor  „wie  die  unglücklichste 
und  verlassenste  Kreatur  der  ganzen  Welt".  Nun 
wird  die  Welt  erfahren,  daß  sie  nicht  verheiratet 

102 


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waren.  Sie  ist  ganz  arm,  muß  zehn  Franken  stehlen. 
Und  sie  läßt  das  Kind  bei  der  Geburt  verbluten. 
Diese  Frau  ist  wis  die  meisten  andern  ganz  unwissend. 
Sie  wird  gefragt,  wer  die  Jungfrau  Maria  gewesen  sei. 
Sie  antwortet:  Die  Mutter  Jesus.  Auf  den  Einwand: 
wie  konnte  sie  denn  Jungfrau  sein,  ist  sie  ganz  ver- 
dutzt und  sagt:  Dann  war  sie  wohl  die  Schwester 
Jesus. 

Wie  sich  der  Mann  verhält,  zeigt  der  Fall  eines 
erblich  schwer  belasteten  Mädchens,  das  ihr  Kind 
vergiftet.  Als  der  Geliebte  für  das  —  noch  lebende  — 
Kind  nicht  mehr  zahlen  wollte,  schrieb  er  ihr  die 
zärtlichsten  Briefe,  sie  sollte  nur  alles  zahlen,  er  würde 
ihr's  später  zurückgeben.  Als  er  aber  die  Tat  erfuhr 
und  in  der  Zeitung  las,  daß  das  Mädchen  leugnete, 
schrieb  er  an  das  „hohe  Schwurgericht",  es  wäre  ganz 
verfehlt,  eine  „solche  überwiesene  leichtfertige  Per- 
son4* gelinde  zu  strafen;  „der  Jammer  des  lieben  Kindes 
soll  gesühnt  werden  in  seiner  ganzen  Schwere".  Und 
in  einem  Postskript  bittet  er  —  um  Rückzahlung  der 
Beträge,  die  er  anfangs  für  das  Kind  geleistet  hatte. 

Unter  diesen  Kindesmörderinnen  findet  sich  auch 
ein  Glied  jener  Trinker-  und  Vagantenfamilie  Zero, 
die  Dr.  Jörger  beschrieben  hat.  Lina  Zero,  ein  Typus 
völliger  Entartung,  zweifellos  geisteskrank  und  doch 
nicht  ohne  menschliche  Züge,  die  sich  in  alles  schickte, 
weil  sie  niemals  ein  vernünftiges  Leben  fand,  sondern 
nur  eine  Welt  von  Elend,  Verwüstung  und  Erbar- 
mungslosigkeit  kannte.  Ein  Kind,  das  sie  leben  ließ, 
war  ein  taubstummer  Idiot.  Lina  Zero  strengte  stolz 
niemals  Vaterschaftsklagen  an;  'mochten  die  Männer 
gehen,  wenn  sie  nicht  freiwillig  gaben.  Sie  tötete  ein 
Kind  aus  finanziellen  Gründen.  „Sie  haßte  die  Kin- 
der nicht,  aber  so  lange  sie  da  waren,  mußte  sie  ihren 
ganzen  Verdienst  hergeben." 

Margarete  Meier  verlangt  in  ihrer  Schlußbetrach- 
tung Hinzuziehung  von  Frauen  zu  den  Gerichten, 


103 


Gleichstellung  von  ehelichen  und  unehelichen  Kin- 
dern, strafrechtliche  Verantwortung  des  Mannes, 
wenn  er  durch  seine  Schuld  das  Motiv  der  Tat  mit 
verantwortet  hat  .  .  . 

Brouardel  hat  in  seinem  Buch  über  den  „Kindes- 
mord" den  Satz  ausgesprochen,  daß  nur  die  anstän- 
digeren verführten  Mädchen  ihr  Kind  töten;  die 
schamloseren  bringen  es  zur  Engelmacherin,  bezahlen 
einige  Monate  lang,  dann  verschwinden  die  Mütter 
und  kümmern  sich  um  die  Kinder  nie  mehr.  Dieser 
indirekte  Kindesmord  ist  für  die  Gesellschaft  unend- 
lich wichtiger  als  das  direkte  Verbrechen,  weil  er  um 
so  häufiger  ist.  Aber  das  gesellschaftliche  Elend  und 
der  soziale  Unverstand  ist  auf  diesem  Gebiete  so 
riesengroß,  daß  moralische  Entrüstung  überhaupt 
nicht  an  das  Problem  heranreicht.  Ist  doch  die  ver- 
heerende Säuglingssterblichkeit  nichts  wie  Kindes- 
mord, den  die  Gesellschaft  unablässig  verschuldet 
und  verübt. 

[1911.] 


104 


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Vom  unheiligen  Wortgeist. 

Eine  Pfingstlegendc 

Sokrates,  der  weiseste  aller  Menschen,  fühlte,  daß 
der  Schierlingstrank  in  seinem  Leibe  seinem  Erfolge 
nahe  war;  seine  Glieder  waren  starr  und  schwer. 

Da  überflog  er  sein  Leben.  Er  hatte  die  Kunst 
geübt,  aus  den  Menschen  die  Vernunft  herauszu- 
locken. Er  stellte  so  listig  allerlei  Fragen  an  sie,  daß 
alle  schließlich  den  Weg  zur  eigenen  Menschenver- 
nunft fanden;  alle  Griechen  kamen  zu  sich  selbst. 

Niemand  hatte  sich  dieser  Macht  entzogen.  Alles 
dachte  mit  dem  Verstände  des  Meisters.  Nur  sein 
Eheweib  nicht.  Aber  das  kam  nur  daher,  weil  ihn 
seine  Frau  gar  nicht  erst  zum  Fragen  kommen  ließ. 

Um  so  besser  hatten  die  griechischen  Bürger  seine 
Kunst  begriffen;  und  die  Gefahr  seiner  Kunst.  Wie, 
wenn  er  auch  begann-,  die  Sklaven  die  sokratische 
Vernunft  zu  lehren,  indem  sie  an  sich  die  einfache 
Frage  richteten:  Warum  bin  ich  Sklave?  Das  war 
offenbar  gegen  die  Ordnung  der  Götter.  Also  wurde 
Sokrates  wegen  Götterlosigkeit  zum  Tode  verurteilt. 
Und  heiteren  Gemütes  trank  er  den  Giftbecher. 

Wie  aber  nun  seine  Freunde  sahen,  daß  ihr  Meister 
alsbald  von  hinnen  gehen  würde,  weinten  sie.  Da 
lächelte  Sokrates  und  sprach: 

„Weinet  nicht,  o  meine  Freunde.  Denn  jetzt  werde 
ich  in  den  Olymp  meiner  Seele  eingehen.  Meine 
rastlos  fragende  Seele  wird  fortan  nicht  gehemmt  und 
beschwert  durch  die  Häßlichkeit  und  Gebrechlichkeit 
des  Leibes,  und  meine  Seele  wird  künftig  die  Men- 
schen beiragend  zu  reiner  Antwort  läutern.  Kein 
Schierlingsbecher  vermag  den  ewigen  Flug  meiner 

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Seele  zu  senken.  Niemand  vermag  mich  mehr  zu  ver- 
folgen, und,  glaubet  mir,  des  Sokrates  Geist  wird  nun 
in  allen  Menschen  leben  und  in  ihnen  die  Wahrheit 
erfragen.  Dann  werden  selbst  die  Böotier  menschlich 
weiser  werden  als  die  Gebildeten  des  Volks  von  Athen. 
Mein  unsterblicher  Gsist  wird  in  allen  Köpfen  fragen, 
und  die  unreinen  Schlammbäche  wilder  Triebe  wer- 
den klar  und  leuchtend  über  die  geglätteten,  geschlif- 
fenen hellen  Kiesel  vernünftiger  Begriffe  tanzen. 
Lachet  darum,  o  meine  Freunde,  daß  mich  der  Schier- 
ling sinnlos  einfältiger  Verfolgung  nun  ganz  befreite. 
Jetzt  beginnt  mein  unsterbliches  Leben." 

Mit  diesen  Worten  auf  den  bläulich  geschwollenen 
Lippen  starb  Sokrates.  Seine  Freunde  aber  gingen 
hinaus  und  verbreiteten  die  frohe  Botschaft:  Des  So- 
krates heiliger  Geist  ist,  aus  der  Gebundenheit  des  Lei- 
bes befreit,  zur  Erde  niedergefahren,  und  sein  Heim 
und  Herd  ist  fürderhin  in  aller  Menschen  Denken 
und  Wollen!  Befraget  nur  ernstlich  eure  Seelen, 
lauschet  in  eure  Herzen,  und  Sokrates  wird  aus  eüch 
zu  euch  antworten! 

So  kündeten  die  Freunde.  Und  wahrhaftig,  es  be- 
gann ein  mächtiges  Fragen  und  Reden  unter  den  Men- 
schen. Sie  stellten  die  Worte  so  künstlich  wie  Vogel - 
fallen,  daß  sich  auch  der  stumpfeste  Geist  in  ihnen 
verfing  und  nicht  mehr  vermochte  herauszufinden. 
Alles  ward  vernünftig.  Man  tat  nichts,  was  nicht  auf 
einem  gesetzlichen  Grunde  beruhte  und  auf  einer 
Einheit  des  Denkens ;  und  alles,  was  die  Menschen  ver- 
richteten, leiteten  sie  von  obersten  Sätzen  ab,  die 
man  ewige  Wahrheiten  nannte. 

Aber  ein  finsterer  Dämon  schien  sein  Spiel  mit 
den  Worten  zu  treiben.  Denn  die  Vernunft  recht- 
fertigte den  grauenvollen  Wahnsinn,  das  Denken  er- 
dachte gaukelnden  Aberglauben,  und  aus  all  den  sinn- 
reich gereihten  Worten  entsprang  schließlich  scham- 
los schmutzige  Lüge. 

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Immer  finsterer  wurde  die  Welt  und  gequälter  die 
Menschheit,  der  dann  die  Herrschenden  die  weise 
Notwendigkeit  so  zwingend  sokratisch  bewiesen,  daß 
die  Unseligen  es  selber  glaubten  und  sich  gar  brüsteten 
mit  solcher  Wissenschaft. 

Die  echten  Jünger  des  Sokrates  aber  begannen  dem 
Meister  zu  fluchen,  der  alle  betrogen  hatte.  Da  er- 
schien eines  Nachts  der  Geist  des  Sokrates  leibhaftig 
vor  ihnen  und  verteidigte  sich,  unter  Tränen:  „O 
meine  armen  Freunde!  Das  Volk  von  Athen  hat 
nicht  nur  meinen  Leib  vergiftet.  Der  verfluchte 
Schierlingssaft  ist  auch  in  meine  Seele  ge- 
drungen! Und  dieser  Schwindelgeist  ist  seitdem  in 
alle  Hirne  geflossen.  Die  Worte,  die  Diener  und 
Werkzeuge  vernünftiger  Dinge  sein  sollten,  sind 
selbstherrlich  geworden  und  taumeln  toll  und  trunken 
durch  die  Gassen,  losgelöst  von  der  inneren  Zucht  des 
Gedankens,  und  doch  sich  spreizend  in  den  befleckten 
Lumpen  der  Vernunft.  Ihr  aber,  meine  Freunde, 
sollt  mich  erlösen,  mich  und  die  ganze  Menschheit. 
Wohlan,  treibt  den  Schierlingsgeist  aus  den  Seelen !" 

Da  gelobten  sich  die  Freunde,  den  Meister  zu  er- 
lösen, und  die  ganze  Menschheit. 

Jedoch  das  Schierlingsgift  rann  unzerstörbar  in  den 
Adern  der  Jahrhunderte,  ließ  sie  taumeln  und  wollte 
sich  nicht  erschöpfen. 

Verbrecher  raubten  den  Menschen  ihr  Land  und 
nannten  sich  die  Edlen,  daß  alle  vor  ihnen  knieten  in 
Ehrfurcht.  Damit  sie  aber  Hehler  und  Helfer  ihrer 
Verbrechen  hätten,  erfanden  sie  die  Treue  und 
nannten  sie  die  höchste  Tugend.  Sie  trieben  die  Völ- 
ker widereinander,  daß  sie  sich  mordeten,  und  hei- 
ligten die  Untat  als  Tapferkeit  und  Kampf  für 
das  Vaterland.  Verwilderte  Herrschsucht  legte  die 
Hirne  in  Fesseln  und  sie  sprachen  von  Gott,  Reli- 
gion, Liebe,  Demut,  Glauben,  Frömmigkeit. 
Der  Aberwitz  ward  Gesetz  und  hieß  sich  Autorität. 


107 


Die  Freuden  des  Daseins  wurden  verleumdet:  Sin- 
ne nlu  st  ward  ein  Brandmal.  Wehe  denen,  die  sich 
auflehnten  gegen  die  Finsternis !  Das  Wort  erhob  sich 
gegen  sie:  Ketzer!  und  war  tödlich.  Oder  ein  an- 
deres Wort  klirrte:  Aufrührer!  und  erwürgte.  Wehe 
dem  Weibe,  das  einen  Feind  hatte:  Viele  Zehntau- 
sende starben  unter  Martern  an  dem  einen  Worte: 
Hexe!  Immer  aber  ward  alles  bewiesen,  nach  rechten 
Regeln  des  Verstandes.  Man  unterdrückte  und  nannte 
es  Recht,  man  vergewaltigte  und  sprach  von  Ord- 
nung. Man  sog  den  Armen  ihre  Arbeit  aus  den  Lei- 
bern und  verschlang  sie  ruchlos,  sagte  aber:  Ich  gebe 
dir  Brot!  .  .  . 

Fast  begannen  die  Jünger  des  Sokrates  am  Kampfe 
zu  verzagen.  Dennoch  blieben  sie  aufrecht  und  ran- 
gen um  die  Reinigung  der  Vernunft.  Und  siehe  da! 
Auf  einmal  fingen  die  Worte  an,  sich  zu  den  Dingen 
zurückzufinden,  und  wurden  zu  Waffen  wider  den 
Erbfeind  des  Menschengeschlechts.  Man  sprach  aus, 
was  ist.  Fortan  aber  wandelte  sich  das  Spiel  der 
Irrgeister.  Alles  Elend  und  jede  Gemeinheit  er- 
trugen sie  gelassen;  keine  Wirklichkeit,  und  mochte 
sie  noch  so  schimpflich  sein,  störte  ihr  Behagen.  Nannte 
man  aber  das  Ding  beim  Namen,  so  fielen  sie  rasend 
über  die  Worte  her  und  über  die  Menschen,  die  sie 
aussprachen.  Was  sie  im  Leben  sahen,  nahmen  sie 
still  und  feig  hin,  so  es  aber  in  den  Abbildern  des 
Wortes  oder  der  Linie  vor  ihnen  erschien,  trieb  es 
sie  zur  Wut.  Solches  Tun  aber  nannte  man  Ent- 
rüstung. 

Und  eines  Tages  geschah  es,  daß  ein  Fürst  einem 
Stamm  gedrohet  hatte,  ihn  in  Scherben  zu  schlagen 
und  die  Scherben  ins  Preußenland  zu  verhandeln. 
In  einem  großen  Hause,  darinnen  man  viel  Worte 
verlor,  erhob  sich  aber  ein  Schüler  des  Sokrates  und 
holte  behaglich,  getreu  der  Kunst  seines  Meisters, 
aus  der  Drohung  des  Fürsten  alles  das  heraus,  was  in 

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ihr  eingewickelt  verborgen  war.  Niemals  hat  der  Erd- 
kreis solche  Entrüstung  erlebt,  wie  sie  damals  ausbrach ! 
Und  unzählige  Fäuste  erhoben  sich  gegen  den  Misse- 
täter: „Bube,  du  hast  Preußen  beschimpft! 
Pfui!!" 

In  diesem  Augenblick  aber  erscholl  aus  den  Lüften 
ein  ungeheures  Lachen. 

Der  Geist  des  Sokrates  war  erlöst  und  lachte,  be- 
freit endlich  von  aller  Qual. 

Mit  jenem  Riesenkonsum  von  Entrüstung  war  das 
alte  Schierlingsgift  auf  einmal  —  aufgebraucht! .  . . 

[Mai  191 2.] 


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Der  Zuhälter. 
Eine  Erinnerung. 

Ein  Zuhälter  hat  zu  mir  einmal  ein  Wort  gesagt, 
das  mich  aus  dem  Dünkel  meines  geistigen  und  mora- 
lischen Selbstbewußtseins  stürzte.  Das  ist  nun  schon 
viele  Jahre  her.  Aber  wenn  ich  alle  Äußerungen  von 
Menschen  und  in  Büchern  überdenke,  die  Einfluß 
auf  mich  gewonnen,  es  will  mir  scheinen,  daß  keine 
andere  in  mir  so  lebendig  geblieben  ist,  und  jedesmal 
mich  wieder  so  sicher  auf  den  Weg  menschlich  be- 
greifender Duldsamkeit  zurückführt,  wenn  es  mich 
lockt,  an  dem  Gesellschaftsspiel  der  sittlichen  Ent- 
rüstung teilzunehmen. 

Die  Geschichte  sollte  übrigens  richtiger  überschrie- 
ben sein:  Wie  ich  die  Menschenkenntnis  ver- 
lor. Ich  wollte  sie  aber  meinem  Helden  widmen,  und 
der  Held  war  eben  nicht  ich,  sondern  der  andere,  der 
Zuhälter. 

Es  war  in  jenem  Großbetrieb  industrieller  Waren- 
erzeugung und  Menschenvernichtung  (unter  dem 
Vorwand  des  Strafvollzugs),  den  man  Plötzensee 
nennt.  Die  Hausordnung  gehört  zu  den  ewigen 
Wahrheiten,  die  in  alle  Ewigkeit  währen:  in  jeder  Mi- 
nute des  Tages  geschieht,  bis  der  letzte  Mauerstein 
zerfallen,  immer  das  Nämliche.  Doch  hat  selbst  in 
diese  Stätte  des  ewig  Stetigen  die  Revolution  ihren 
Einzug  gehalten.  Man  sagt  mir  wenigstens,  daß  sich 
heute  die  Schicksalsgenossen  in  der  Freistunde  mit- 
einander nicht  mehr  unterhalten  dürfen.  Damals 
durften  wir  noch  plaudern.  Ich  habe  gleichwohl  keine 
Gelegenheit  gehabt,  Rotwälsch  zu  lernen.  Dagegen 

mußte  ich  Einen  auf  sein  dringendes  Verlangen  be- 

«- 

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lehren,  was  Spektralanalyse  wäre.  Und  ein  anderer, 
der  gehört  hatte,  daß  ich  im  Besitze  eines  Reichs- 
kursbuches sei,  bat  mich  mit  tränenden  Augen,  ich 
möchte  ihm  doch  sagen, ob  er  auf  einer  in  sein  Heimats- 
dorf führenden  Nebenbahn  wirklich  Anschluß  hätte, 
wenn  er  den  Berliner  Tageszug  benutzte,  oder  ob  es 
besser  wäre,  nachts  zu  fahren;  ich  ermittelte  für  ihn 
die  beglückende  Feststellung,  daß  er  in  einer  Tages- 
fahrt ans  Ziel  gelangen  könne,  wenn  auch  mit  ein- 
stündigem Aufenthalt  an  der  Übergangsstation.  Das 
erheiterte  meinen  Gefährten  sichtlich.  Ich  wünschte 
ihm  glückliche  Reise.  „Wann  fahren  Sie?"  „In  drei 
Jahren  und  117  Tagen."  Er  mochte  mein  Erstaunen 
bemerken,  denn  er  fügte  zuversichtlich  hinzu:  „Ich 
muß  mich  doch  darauf  einrichten,  und  der  Fahrplan 
wird  sich  bis  dahin  nicht  ändern." 

Ich  berichte  diese  Dinge,  die  gar  nicht  zur  Sache 
gehören,  um  die  Liebhaber  von  Kaschemmengeschich- 
ten vor  einer  Enttäuschung  zu  bewahren.  Denn  auch 
mein  Zuhälter  sprach  ein  ganz  gewöhnliches  Deutsch, 
das  man  verstehen  kann,  ohne  daß  ich  genötigt  wäre, 
hinter  jeden  sprachlichen  Farbenfleck  unterirdischer 
Heimatkunst  eine  Nummer  und  eine  verdeutschende 
Fußnote  zu  setzen. 

Mein  Freund  war  ein  zierlicher  junger  Bursche  mit 
einem  wohlgestalteten  Knabenkopf,  dunkelgelocktem 
Haar  und  träumerischen  schwarzen  Augen.  Er  war 
bürgerlicher  Herkunft.  Die  Familie  hatte  sich  end- 
lich seiner  entledigt,  nachdem  die  Zahl  der  Wert- 
gegenstände, die  nach  einem  Mittagessen  bei  einem 
Onkel  oder  einer  Tante  verschwunden  waren,  allzu 
empfindlich  gewachsen  war.  Deswegen  brachte  man 
ihn  zwar  noch  nicht  ins  Gefängnis,  aber  man  entzog 
dem  krankhaft  Willensschwachen  den  letzten  Halt 
und  so  versank  er  in  die  Tiefe.  Seine  Spezialität  war 
die  Vergnügungsreise  zu  Dreien  gewesen:  er,  sein 
Schätzchen  und  der  Liebhaber,  irgendein  angegrauter 


HI 


Baron  mit  erheblichen  Geldmitteln.  So  landeten  sie 
eines  Tages  in  Kopenhagen.  Und  da  dem  Mädchen 
der  alte  Gönner  allmählich  recht  verdrießlich  gewor- 
den war,  benutzte  das  Paar  einen  festen  Nachmittags- 
schlaf des  ermüdeten  Herrn,  um  ihm  die  Brusttasche 
auszuräumen  und  das  Weite  zu  suchen.  Die  paar 
Tausendmarkscheine,  die  den  Glücklichen  dabei  in 
die  Hände  fielen,  hätten  den  vertrottelten  Teilhaber 
der  Liebesfahrt  nicht  veranlaßt,  die  Polizei  zur  Hilfe 
zu  rufen.  Da  sich  aber  in  dem  Portefeuille  auch  eine 
Anzahl  mit  seiner  Namensunterschrift  versehene 
Blankowechsel  befand,  drohte  das  Abenteuer  kost- 
spielig und  verhängnisvoll  zu  werden.  Darum  ließ  er 
das  Paar  festnehmen,  und  beide  verschwanden  wegen 
Diebstahls  für  Jahre  im  Gefängnis. 

Jetzt  mußte  der  Zuhälter  Strümpfe  nähen,  Tag  für 
Tag,  ungezählte.  Eis  gehörte  zu  seinem  Wesen,  daß 
<r  im  Gefängnis  ein  schwer  zu  behandelndes  Rechts- 
gefühl durchzusetzen  bestrebt  war.  Er  geriet  des 
öfteren  mit  den  Beamten  darüber  in  Streit,  ob  er  sein 
Pensum  in  der  vorgeschriebenen  Vollendung  erledigt 
hätte.  War  er  der  Meinung,  daß  er  seine  Pflicht 
getan,  so  schreckte  er  vor  keiner  Zurechtweisung  des 
Gefängnispersonals  zurück.  Er  hatte  schon  wieder- 
holt wegen  solcher  Zwistigkeiten  die  Tortur  des 
Dunkelarrests  auf  sich  nehmen  müssen.  Als  er  einmal 
auf  drei  Wochen  im  verdunkelten  Raum  auf  der 
Pritsche  —  es  war  Winter  und  die  Dunkelzelle  kalt  — 
in  seinem  dünnen  blauen  Anzug  gefroren  und  gehun- 
gert hatte,  erkannte  ich  ihn  bei  seiner  Wiederkehr 
nicht.  Er  sah  wie  ein  Nachtgerippe  aus.  Als  man  ihn 
einst  wieder  zur  gleichen  Strafe  verurteilen  wollte, 
diesmal,  weil  er  sich  der  Rechte  eines  Kollegen  un- 
gebührlich angenommen,  sagte  er  zum  Oberinspektor: 
„Sie  können  mich  meinetwegen  gleich  ein  ganzes  Jahr 
einsperren.  Wer  einmal  Dunkel  gehabt  hat,  dem  ist  alles 
gleich !"  Da  ließ  man  es  mit  einem  Verweis  bewenden. 

112 


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Schlimmer  aber  noch  als  Dunkelarrest  und  Strümpfe- 
nahen  waren  für  ihn  die  Sonntage:  wenn  der  In- 
dustriebetrieb nicht  mehr  klapperte,  alles  still  war  und 
die  Stunden  klebten.  Wenn  dann  der  Frühling  kam 
und  draußen  an  dem  Rande  der  Jungfernheide  die 
neuesten  Gassenhauermelodien  der  Ausflügler  herüber- 
hallten, wenn  immer  dieselben  Melodien  sich  wieder- 
holten, die  sich  uns  einprägten,  während  wir  vergeb- 
lich uns  quälten  zu  ahnen,  was  es  für  ein  neuer  Text 
sein  möchte,  der  zu  der  Melodie  gehörte,  dann  verfiel 
der  kleine  Louis  in  Trübsinn.  Der  Aufseher  unserer 
Station,  ein  ganz  anständiger  Mensch,  machte  mich 
einmal  darauf  aufmerksam,  wie  heidenmäßig  sich  der 
sonst,  wenn  er  nicht  gerade  Rechtskämpfe  durch- 
führte, sehr  vergnügte  Jüngling  an  den  Sonntagen 
grämte:  so  kamen  wir  zusammen.  Manchmal  weinte 
er  ohne  Unterlaß.  An  einem  Sonntag  aber  war  er 
fast  ausgelassen  fröhlich.  Er  zeigte  mir  insgeheim  die 
Photographie  einer  jungen  anmutigen  Dame  und 
eines  vielleicht  dreijährigen  hübschen  Kindleins. 

„Das  ist  meine  Braut,"  sagte  er  stolz,  „und  mein 
Kind,  und  wenn  ich  herauskomme,  heirate  ich  sie  und 
werde  ordentlich  und  schufte,  bis  mir  das  Blut  unter 
den  Nägeln  hervorspritzt." 

Ich  war  etwas  verlegen.  Denn  seine  Geschichte 
könnt?  nicht  stimmen.  Ich  mochte  ihn  aber  doch 
nicht  mit  meinen  Zweifeln  kränken.  Endlich  fragte  ich 
zögernd:  „Ihr  Fräulein  Braut?  Wirklich  sehr  hübsch, 
aber  sagen  Sie,  ist  die  nicht  mehr  —  dort  .  .  .  drüben, 
ich  weiß  nicht,  es  ist  ja  wohl  in  der  Barnimstraße?" 

„Wo  denken  Sie  hin!  Das  ist  meine  richtige  Braut. 
Das  war  doch  die  andere,  die  sitzt  noch,  Gottlob. 
Meine  Braut  ist  ein  anständiges  Mädchen,  Schneiderin, 
wissen  Sie,  sonst  könnte  ich  sie  doch  nicht  heiraten." 

Und  dann  erzählte  er  mir,  wie  glücklich  er  doch  sei, 
daß  er  so  viele  Jahre  gekriegt  hätte.  Denn  wenn  er 
nun  herauskäme,  dann  wäre  ja  alles  mit  der  anderen 


$    r  i<nrr  ,  Ge^immdte  Schriften.  II. 


113 


verjährt  und  sie  könnte  ihn  nicht  mehr  anzeigen. 
Könnte  sie  das  noch  tun,  dann  würde  er  wegen  Zu- 
hälterei gestraft,  und  es  gäbe  keine  Möglichkeit  mehr, 
emporzukommen.  Wer  die  Zuhälternote  habe,  würde 
von  den  Richtern  ohne  Gnade  und  Barmherzigkeit 
verdonnert,  auch  wenn  er  gar  nicht  so  schlimm  wäre. 

Es  waren  die  Jahre,  wo  nach  dem  Heinze-Prozeß  von 
oben  herab  die  Ausrottung  der  Zuhälter  gewünscht 
worden  war.  Die  seitdem  befolgte  Praxis  traf  dann 
neben  den  schwersten  Roheitsverbrechern  gleichmäßig 
auch  die  Schwachen,  Sentimentalen,  Hemmungslosen. 

An  dem  Ernst  der  Vorsätze  meines  Begleiters  in 
der  Freistunde  war  nicht  zu  7.\veifeln.  Er  sah  ordentlich 
feierlich  aus,  und  es  schien  ihm  fast  wie  die  Gunst 
einer  gütigen  Vorsehung,  daß  die  lange  Gefängnishaft 
ihn  davor  bewahrte,  das  Delikt  der  Zuhälterei  fort- 
zusetzen, das  in  der  Freiheit  ja  gerade  hätte  deshalb 
fortgesetzt  werden  müssen,  weil  sonst  die  Denun- 
ziation der  Rache  ihn  betroffen  hätte.  Nun  aber  war 
er  von  Bann  und  Zwang  befreit;  die  andere  konnte 
ihm  nichts  mehr  anhaben,  auch  wenn  er  jetzt  heiratete. 

Ich  fühlte  wirkliche  Teilnahme  für  den  jungen  Men- 
schen und  versuchte,  ihn,  vielleicht  etwas  lehrhaft, 
aber  aus  warmem  Empfinden,  in  seinem  Vorsatz  zu 
bestärken,  ein  rechtschaffener  Mensch  zu  werden. 

Die  Woche  darauf  zerfloß  er  wieder  in  Tränen, 
schlimmer  denn  je  zuvor.  „Nun  ist  alles  aus," 
schluchzte  er. 

Ich  versuchte,  ihn  vorsichtig  zu  erforschen:  „Was 
ist  denn  inzwischen  geschehen?  Hat  Ihnen  Ihre 
Braut  abgesagt  ?" 

„Das  wäre  noch  das  beste,"  wimmerte  er,  „aber 
nein,  sie  ist  mir  treu.  Hier  lesen  Sie  ihren  Brief." 

Er  steckte  mir  heimlich  ein  Blatt  Papier  zu,  und  wie 
ich  nachher  in  der  Zelle  es  las,  war  ich  von  dem  guten, 
einfachen  und  zärtlichen  Ton  des  Mädchens  gerührt. 
Jetzt  fragte  ich  ihn:  „Ja,  warum  ist  da  alles  aus?" 

114 


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„Weil  ich  doch  gleich  wieder  ins  Gefängnis  komme; 

es  hilft  mir  alles  nichts.  Die  andere  " 

„Sie  sagten  doch  vorigen  Sonntag,"  bemerkte  ich, 
„daß  durch  die  Haft  Verjährung  eingetreten  sei  und 
daß  sie  Ihnen  nun  nichts  mehr  anhaben  könne." 

Er  wurde  eifrig  und  seine  Worte  wehten  heiß:  „Ach, 
vorigen  Sonntag!  Das  war  leichtsinnig  geredet.  Heut 
hab'  ich  den  ganzen  Vormittag  nachgedacht.  Es  hilft 
alles  nichts.  Das  ist  doch  gerade  das  Unglück,  daß  ich 
wieder  herauskomme,  denn  dann"  —  er  suchte  nach 
einem  schonenden  Ausdruck  —  „dann  wird  doch  die 
Verjährung  —  unterbrochen. 44 

Ich  verstand  ihn  erst  nicht.  Als  ich  aber  in  seine 
tiefglühenden,  erregten  Augen  sah,  begriff  ich  zwar, 
was  er  meinte,  doch  ganz  und  gar  nicht,  warum  denn 
dies  Ereignis,  das  die  Verjährung  unterbrechen  würde 
und  ihn  wieder  von  neuem  in  die  Hände  der  anderen 
gab,  gleich  einem  Verhängnis  eintreten  müßte: 
„Sie  erzählten  mir,  wie  gern  Sie  Ihre  Braut  haben.'4 
^Furchtbar  gern,44  sagte  er. 

»Nun,  da  müssen  Sie  doch  nicht  .  .  .  die  Verjäh- 
rung mit  der  anderen  unterbrechen.44 

Da  sah  mich  der  Zuhälter  mit  großen  Augen  an. 
Jetzt  begriff  er  mich  nicht.  Dann  aber  fühlte  er 
sich,  in  mich  hineinsehend,  auf  einmal  über  mich 
emporgewachsen.  Und  er  sprach  ganz  ernst  und  aus 
tiefer  innerer  Überzeugung,  als  ob  er  fast  mitleidig  an 
mir  verzweifele:  „Sie  kennen  die  Menschen 
nicht!  .  .  .44 

Seitdem  mied  ich  das  Gespräch  mit  ihm.  Weil  ich 
mich  schämte.  Wie  hatte  ich  in  meiner  Unkenntnis 
der  Menschen  dem  armen  Burschen  so  viel  sittliche 
Grausamkeit  zutrauen  können,  daß  er  die  andere, 
wenn  sie  endlich  nach  Jahren  sich  wiedersähen,  von 
sich  stoßen  könne,  bloß  um  nicht  die  Verjährung 
zu  unterbrechen. 

[März  191 3.] 

*•  115 


Die  neue  Lehre  von  Bethlehem. 

1. 

Im  Deutschen  Reich  treiben  alljährlich  rund  neun- 
tausend Arbeiter  die  von  Professor  Ludwig  Bernhard 
(„Unerwünschte  Folgen  der  deutschen  Sozialpolitik'4; 
Julius  Springer,  Berlin)  schriftstellerisch  ausgebeutete 
Rentenhysterie  so  weit,  daß  sie  sich  nicht  schämen, 
sich  für  tot  zu  halten;  merkwürdigerweise  fördern  die 
Standesämter  diesen  Wahn  und  auch  die  Familien- 
angehörigen bilden  sich  ein,  daß  diese  neuntausend 
Rentenhysteriker  wirklich  tot  seien.  Bisweilen  tritt 
diese  ausschweifendste  Form  der  Rentenhysterie  sogar 
epidemisch  auf;  man  pflegt  dann  von  einer  Gruben- 
katastrophe zu  sprechen,  und  verblendete  Menschen- 
feinde, die  für  das  Gedeihen  der  deutschen  Industrie 
kein  Herz  haben,  unterstützen  wohl  gar  diese  un- 
erwünschten Folgen  der  deutschen  Sozialpolitik,  in- 
dem sie  durch  öffentliche  Sammlungen  dieser  bis  zum 
Jüngsten  Gericht  vorsätzlich  und  beharrlich  aus  bloßer 
Rentensucht  fortgesetzten  Arbeitsentziehung  Vor- 
schub leisten. 

Des  weiteren  greift  der  Wahn  verhängnisvoll  um 
sich,  als  ob  der  Mensch  all  die  vielen  Glieder  und 
Organe  notwendig  habe,  mit  denen  ihn  die  gewissen- 
los verschwenderische  Natur  ausgestattet  hat.  Der 
Freund  Friedrichs  II.  von  Preußen,  La  Mettrie,  gilt 
heute  noch  bei  allen  Edelgesinnten  als  ein  moralisches 
Ungeheuer,  weil  er  materialistisch  das  seelenvolle  Ge- 
schöpf Gottes  zur  gemeinen  Menschmaschine  erniedrigt 
habe.  Unser  heutiges  Industrie-Christentum  hat  sich 
inzwischen  überzeugt,  daß  La  Mettrie  den  Menschen 
viel  zu  hoch  eingeschätzt  hat.  wenn  er  ihn  für  eine 

1 16 


immerhin  vollkommene  Maschine  hielt.  Heute  weiß 
jeder  industrielle  Professor  der  Volkswirtschaft,  daß 
die  Menschen  vielmehr  von  Haus  aus  jenen  älteren 
Uhren  gleichen,  die  man  aus  der  Reparaturwerkstatt 
des  Uhrmachers  in  zwei  Paketen  zurückerhielt:  das 
eine  barg  die  nun  richtig  gehende  Uhr,  das  andere 
die  als  überflüssig  entfernten  Räder.  Diese  Aufgabe 
des  fürsorglichen  Uhrmachers  leistet  für  den  Men- 
schen von  heute  die  Industrie  und  die  Landwirt- 
schaft; sie  befreit  ihn  von  allem,  was  nicht  unbedingt 
zur  Arbeit  notwendig  ist.  Solche  Gunst  erweist  sie 
aber  ungerecht  erweise  gemeinhin  nur  den  proletari- 
schen Menschen.  Wieder  ein  Beweis,  wie  einseitig 
man  heute  sich  um  die  lohnarbeitende  Klasse  sorgt. 
Ihr  schneidet  die  auslesende  Industrie  die  überflüssi- 
gen Glieder  ab  oder  zerquetscht  sie;  nur  bei  Prole- 
tariern nimmt  sie  sich  die  Mühe,  unnötige  Organe 
durch  Vergiftung  und  Zersetzung  zu  beseitigen.  Das 
System,  das  der  amerikanische  Ingenieur  Taylor  für 
die  Vereinfachung  der  Handgriffe  bei  der  mechani- 
schen Arbeit  scharfsinnig  ersonnen  hat,  wirkt  auto- 
matisch durch  die  Bedingungen  der  heutigen  Lohn- 
arbeit auch  auf  die  Vereinfachung  der  menschlichen 
Körper  selbst.  Denn  außer  den  Rentenhysterikern, 
die  sich  getötet  glauben,  werden  Jahr  für  Jahr  noch 
120-  bis  130000  Menschen  im  Deutschen  Reiche  ver- 
letzt und  verstümmelt,  das  heißt  von  einem  Teil  ihrer 
überflüssigen  Glieder,  Organe,  Funktionen  befreit. 
Ist  es  nicht  wirklich  unerhört,  daß  diese  derart  ver- 
einfachten Menschen  nun  auch  noch  dafür  bezahlt 
werden,  als  Rentner  leben  dürfen! 

Ich  weiß,  daß  in  guten  bürgerlichen  Kreisen  vor 
der  Geburt  eines  Kindes  keine  größere  Sorge  zu  herr- 
schen pflegt  als  die,  ob  denn  auch  der  erwartete 
Sprößling  im  Vollbesitz  gesunder  Glieder  sein  möchte, 
ob  Herz  und  Hirn  in  Ordnung,  Rückenmark  und 
Nerven  gesund  seien.    Ein  Proletarier  ist  auch  von 


117 


dieser  Sorge  befreit;  denn  er  weiß,  daß  es  für  ihn 
ziemlich  gleichgültig  ist,  ob  er  wohlgeboren  auf  die 
Welt  kommt  oder  nicht.  Denn  die  Industrie  wird 
doch  bald  eine  verständig:  Auswahl  aus  seiner  Körper- 
lichkeit treffen.  Man  glaubt  gar  nicht,  was  der  prole- 
tarische Mensch  alles  entbehren  kann,  ohne  in  seiner 
Arbeitsfähigkeit  beeinträchtigt  zu  werden.  Nur  darf 
man  ihm  eben  nicht  einreden,  daß  ein  vereinfachter 
Zustand  eine  Verkümmerung  wäre,  die  eine  Ent- 
schädigung aus  öffentlichen  Mitteln  rechtfertigte. 
Dann  wird  der  proletarische  Mensch  faul  und  zieht 
es  vor,  von  seinen  Renten  zu  leben. 

Das  ungefähr  ist  die  Philosophie,  die  Herr  Ludwig 
Bernhard  —  er  lebt  von  den  erwünschten  Folgen 
seiner  Professur  in  Berlin  —  auf  einhundertsechzehn 
Seiten  entwickelt.  Ein  preußischer  Herrenhäusler, 
Herr  von  Burgsdorff,  hat  allerdings  vor  ein  paar 
Jahren  die  Bernhardschen  Gedanken  noch  erheblich 
kürzer  formuliert,  als  er  äußerte,  der  Arbeiter  von 
heute  freue  sich,  wenn  er  einen  Knacks  bekäme,  oder 
als  er  eine  Arbeitslosenversicherung  direkt  für  un- 
moralisch erklärte,  weil  das  eine  Förderung  der  an- 
geborenen menschlichen  Faulheit  sei  und  es  außer- 
dem der  Bibel  widerspräche,  jedem  Arbeiter  ein 
Abonnement  auf  die  große  Staatskrippe  bereits  in  die 
Wiege  zu  legen;  denn  es  stünde  geschrieben:  „Im 
Schweiße  deines  Angesichts  sollst  du  dein  Brot  essen." 

Herr  Bernhard  demoliert  in  drei  Teilen  die  ganze 
Sozialpolitik  und  überhaupt  so  ziemlich  jede  öffentliche 
Einmischung  in  private  Unternehmungen.  Er  findet 
zunächst,  daß  das  staatliche  Reglementieren  bei  der 
Genehmigung  und  Kontrolle  privater  Betriebe  eine 
Schwerfälligkeit  und  schikanöse  Umständlichkeit  er- 
reicht hat,  die  für  die  Konkurrenzkraft  der  deutschen 
Industrie  gefährlich  werde.  Insoweit  er  für  die  kon- 
zessionspflichtigen  Betriebe  eine  Beschleunigung  des 
Verwaltungsverfahrens  fordert,   wird  ihm  niemand 

118 


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widersprechen.  Wenn  er  aber  behauptet,  daß  die 
deutschen  Unternehmer  durch  die  Kontrolle  der 
sozialpolitischen  Vorschriften  unerträglich  bedrängt 
werden,  so  läuft  diese  Anklage  auf  die  Beseitigung 
jeder  staatlichen  Sozialpolitik  hinaus  und  auf  die 
Rückkehr  zum  schrankenlosen  Manchestertum.  Denn 
ohne  staatliche  Kontrolle  ist  natürlich  die  ganze 
Schutzgesetzgebung  sinnlos.  Und  daß  in  Deutschland 
die  Kontrolle  nicht  zu  streng,  sondern  zu  lässig  be- 
trieben wird,  weiß  jeder  Kenner  der  Verhältnisse  und 
offenbart  jede  gründliche  Untersuchung  der  tatsäch- 
lichen Zustände.  Die  kinderleichte  Ausfüllung  des 
einfachsten  Kontrollformulars  erscheint  diesem  Pro- 
fessor als  eine  unerhörte  Zumutung  an  die  Leistungs- 
fähigkeit industrieller  Verwaltung.  Über  jeden  Pfen- 
nig wird  genau  und  unter  Aufwand  umständlicher 
Sicherungsmittel  Buch  geführt,  an  Leben  und  Ge- 
sundheit der  arbeitenden  Menschen  ein  Blatt  Papier 
aufzuwenden,  empfindet  Herr  Bernhard  als  einen 
ruinösen  Eingriff  in  die  Freiheit  des  Unternehmer- 
tums. Im  Jahre  191 1  wurde  von  den  revisionspflich- 
tigen  Gewerbebetrieben  überhaupt  nur  etwas  mehr 
als  die  Hälfte  kontrolliert.  Von  den  rund  190000  revi- 
dierten Betrieben  wurden  nur  31000  mehr  als  einmal 
revidiert.  Die  Kontrolle  erstreckte  sich  zumeist  auf 
die  Großbetriebe.  Es  ist  sehr  interessant  und  sehr 
unerwünscht,  daß  der  Prozentsatz  der  von  der  Kon- 
trolle erfaßten  Arbeiter  in  demselben  Maße  sinkt,  als 
die  Schutzbedürftigkeit  wächst.  Von  den  männlichen 
erwachsenen  Arbeitern  wurden  84,7  Prozent,  von  den 
erwachsenen  Arbeiterinnen  81,8  Prozent,  von  den 
Jugendlichen  über  vierzehn  Jahre  80,6,  von  den  Kin- 
dern unter  vierzehn  Jahren  nur  78,6  Prozent  revidiert. 
Es  wurden  fast  23000  Fälle  von  Vergehen  gegen  den 
Jugendschutz  festgestellt  und  über  14000  Vergehen 
gegen  den  Arbeiterinnenschutz.  Wenn  in  1660  Be- 
trieben Vergehen  gegen  den  Jugendschutz  ermittelt, 

HO 


aber  nur  1782  Personen  bestraft  wurden,  mit  drei  bis 
zehn  Mark,  und  wenn  es  auf  dem  Gebiete  des  Frauen- 
schutzes ebenso  war,  so  beweisen  diese  Ergebnisse 
nicht  nur,  wie  notwendig  eine  verschärfte  Kontrolle, 
sondern  auch  eine  gesteigerte  Strenge  der  Gerichte 
ist.  Herr  Bernhard  hegt  ungefähr  die  sozialpolitischen 
Auffassungen  der  rheinisch-westfälischen  Hütten-  und 
Walzwerksberufsgenossenschaft,  die  in  einem  Bericht 
die  grauenhafte  Zunahme  der  Unfälle  so  erklärt:  „Der 
Hauptanteil  an  der  Zunahme  der  Unfälle  ist  zweifel- 
los dem  Verhalten  der  Versicherten  selbst  zuzuschrei- 
ben. Schon  oben  wurde  auf  die  sehr  häufig  festzu- 
stellende Gleichgültigkeit  und  Unvorsichtigkeit  der 
Arbeiter  gegenüber  den  Betriebsgefahren  hingewiesen. 
Diese  bedauerliche  Erscheinung  mag  zum  Teil  psy- 
chologisch auf  das  Bestehen  der  gesetzlichen 
Unfallversicherung  zurückzuführen  sein,  die  dem 
Verletzten  auch  bei  grob  fahrlässiger  Veranlassung  des 
Unfalls  volle  Entschädigung  zugesteht;  hier  dürfte 
auch  die  weit  entgegenkommende  Rechtsprechung  der 
entscheidenden  Behörden  nicht  ohne  Schuld  sein.4' 
In  den  vom  Deutschen  Metallarbeiterverband  191 2 
veröffentlichten  Erhebungen  über  die  Zustände  in 
der  Schwereisenindustrie  —  ein  Werk  von  einer  wissen- 
schaftlichen Gewissenhaftigkeit  und  Gründlichkeit, 
daß  es  den  Professor  Bernhard  erröten  lehren  könnte 
—  wird  eine  Fülle  von  Tatsachen  angeführt,  warum 
die  Arbeiter  in  die  Unfallgefahren  getrieben  werden. 
Um  zur  Arbeitsstelle  zu  gelangen,  müssen  die  Arbeiter 
zum  Beispiel  in  den  Eisenbahngeleisen  geben  und  sie 
überschreiten.  Es  ist  zwar  auf  dem  Duisburger 
Phönix  verboten,  die  Eisenbahngeleise  zu  überschrei- 
ten, solange  sie  durch  Fahrzeuge  gesperrt  sind,  aber 
die  Arbeiter  können  nicht  so  lange  warten,  bis  die 
Geleise  frei  sind;  sie  würden  zu  spät  zur  Arbeit  kom- 
men und  bestraft  werden.  Darum  klettern  viele  Ar- 
beiter über  die  Wagen  oder  kriechen  unter  ihnen  weg; 

120 


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dabei  ereignen  sich  dann  zahlreiche  Unfälle,  und  keine 
Behörde  rührt  einen  Finger,  um  das  Werk  zu  zwingen, 
gefahrlose  Zugänge  zur  Arbeitsstätte  zu  schaffen. 

Bernhard  rühmt  besonders,  um  die  Uberflüssigkeit 
staatlicher  Aufsicht  zu  beweisen,  die  musterhaft  um- 
sichtigen Leitungen  der  privaten  Kohlenbergwerke. 
Ein  Fachmann,  der  frühere  Oberbergkommissar  in 
Graz,  Busson,  hat  unlängst  in  Brauns  Annalen  für 
Soziale  Politik  darauf  hingewiesen,  daß  die  grauen- 
haften Massenopfer,  welche  die  Bergkatastrophen  in 
Preußen  fordern,  seit  langen  Jahren  in  Österreich  un- 
bekannt sind;  und  er  führt  diesen  Unterschied  zurück 
auf  die  ungenügende  theoretische  Ausbildung  der 
Bergbeamten  und  vor  allem  auch  auf  die  mangelhafte 
Aufsicht  durch  die  Bergbehörden  in  Preußen:  „Wäh- 
rend in  Preußen  der  Revierbeamte  allein  den  Be- 
triebsplan durchsieht  und  sich  eventuell  bei  einer  ab- 
zuhaltenden Tagsatzung  entscheidet,  ob  derselbe  zu 
genehmigen  ist  oder  nicht,  werden  in  Österreich  die 
Betriebspläne  kommissionell  überprüft,  das  heißt,  es 
findet  vor  Genehmigung  des  Betriebsplanes  eine  ein- 
gehende Lokalerhebung  auf  der  betreffenden  Grube 
statt,  bei  welcher  alle  für  den  zukünftigen  Betrieb  ein- 
schlägigen Verhältnisse  genauestens  erhoben  werden. 
Es  mag  sein,  daß  diese  Art  der  Genehmigung  von 
Betriebsplänen  dem  Werkbesitzer  nicht  unbedeutende 
Lasten  auferlegt,  die  Zeit  seiner  Beamten  stark  in 
Anspruch  nimmt,  und  ihm  auch  Kosten  verursacht, 
allein  für  die  Sicherheit  des  Betriebes  ist  diese  Art 
der  Durchführung  der  Überprüfung  der  Betriebs- 
pläne zweifellos  sehr  gut,  weil  hier  —  und  dies  ist  die 
Hauptsache  des  bergpolizeilichen  Wirkens  —  vorbeu- 
gend gearbeitet  wird."  Busson  weist  dann  des  näheren 
nach,  um  wieviel  eingehender  und  gründlicher  die 
behördlichen  Inspektionen  in  Österreich  seien  als  in 
Preußen.  Der  Berliner  Gelehrte  der  Volkswirtschaft 
aber  stöhnt  das  Leid  der  Schwerindustriellen  über  die 


121 


belästigenden  Eingriffe  des  Staats  in  ihre  Unternehmer- 
freiheit. Und  wenn  unablässig  Tausende  von  Berg- 
leuten getötet,  verkrüppelt,  verstümmelt  werden  — 
nun,  so  ist  daran  nicht  die  Oberflächlichkeit  der  Kon- 
trolle und  die  Leichtfertigkeit  der  Betriebsleitung 
schuld,  sondern  —  die  Unfallrente.  Die  Arbeiter 
wollen  es  nicht  anders. 

Das  ist  das  zweite  Plagiat  des  Professors  Ludwig 
Bernhard  an  der  Philosophie  der  von  der  schweren 
Industrie  bezahlten  Sekretäre.  Es  ist  bisher  in  der 
Geschichte  der  deutschen  Universitäten  ein  un- 
erhörter Fall,  daß  ein  deutscher  Professor  der  Volks- 
wirtschaft in  dieser  maßlos  leichten  Art  niedrigstes 
und  niederträchtigstes  Gesudel  von  Interessenten  als 
Wissenschaft  nachschreibt.  Bisher  überließ  man  eine 
derartige  Betriebsamkeit  den  von  den  Interessenten 
besoldeten  Kreaturen.  Man  kennt  die  Weise,  die  nun 
zum  erstenmal  auch  von  einem  Berliner  Lehrstuhl  aus 
erschallt.  Die  furchtbare  Unfallhäufigkeit  ist  zum 
großen  Teil  auf  die  Sozialversicherung  zurückzuführen, 
auf  die  Rentensucht ;  wegen  der  in  Aussicht  stehenden 
Rente  spielt  der  Arbeiter  mit  den  Betriebsgefahren. 
Noch  schlimmer:  wenn  er  den  Burgsdorffschen  Knacks 
weg  hat,  kultiviert  er  sorgsam  sein  kleines  Leiden, 
er  wird,  wenn  nicht  Simulant,  so  doch  Neuropath, 
der  nicht  geheilt  werden  will,  weil  ihm  dann  die 
Rente  entzogen  oder  verkümmert  wird.  Es  gibt  Leute, 
die,  um  zu  der  bequemen,  sicheren  und  ergiebigen 
Rente  einer  Universitätsprofessur  zu  kommen,  kein 
Mittel  scheuen.  Das  ist  gewiß  eine  schwere  Anklage 
gegen  die  Moral  in  gewissen  Kreisen  unserer  In- 
telligenz. Wenn  es  aber  wahr  sein  sollte,  daß  Arbeiter, 
um  die  paar  Bettelpfennige  einer  Hungerrente  zu 
erlangen,  sich  ihre  gesunden  Glieder  verstümmeln 
lassen  oder  im  Kampf  um  die  Rente  in  schwere 
Nervenkrankheiten  verfallen,  gibt  es  eine  furcht- 
barere Anklage  gegen  unsere  sozialen  Zustände  und 

122 


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gegen  die  Unzulänglichkeit  unserer  sozialen  Ge- 
setzgebung ? 

Aller  Arbeiterschutz  hat  die  Aufgabe,  die  Arbeits- 
fähigkeit der  Menschen  vorbeugend  zu  erhalten,  und 
alle  Arbeiterversicherung  kann  nur  der  einen  einfachen 
Aufgabe  dienen,  im  Falle  jeder  Verminderung  und 
Vernichtung  der  Arbeitskraft  aus  öffentlichen  Mit- 
teln wenigstens  einen  bescheidenen  Ersatz  durch  Ge- 
währung ausreichender  Unterstützungen  zu  schaffen. 
Unsere  Arbeiterversicherung  leidet  an  der  Unzuläng- 
lichkeit der  Leistungen  und  an  der  verwirrenden 
sinnlosen  Vielgestaltigkeit  der  Organisation.  Es  ist 
schlechterdings  unverständlich,  daß  die  Versicherung 
gegen  Beeinträchtigung  der  Arbeitskraft  nach  den  Ur- 
sachen ihrer  Zerrüttung  gesondert  wird.  Für  die  zu 
leistende  soziale  Aufgabe  ist  es  bedeutungslos,  ob  der 
in  die  Lunge  eindringende  Steinstaub  den  Arbeiter 
zerstört,  oder  ein  Sturz  vom  Gerüst,  erschöpfte  Ner- 
ven, Alter.  Ob  die  Störung  der  Arbeitsmöglichkeit 
durch  Krankheit,  Unfall,  Invalidität,  Alter  oder  Ar- 
beitslosigkeit herbeigeführt  wird,  ist  für  den  Ver- 
sicherungszweck, die  Geschädigten  und  die  Gesell- 
schaft unerheblich.  Die  einheitliche  Versicherung  und 
Sicherung  gegen  alle  Schädigungen  der  Arbeitskraft, 
ohne  den  zerrüttenden  Kampf  um  Entschädigung  und 
Ersatz,  müßte  der  erste  Grundsatz  jeder  sozialen  Ge- 
setzgebung sein,  sie  würde  sich  dann  auch  mit  einigen 
wenigen  Paragraphen  begnügen  können. 

Der  Professor,  der  typische  allezeit  gesicherte 
Rentenempfänger  (in  einem  Beruf  ohne  gesundheit- 
liche Schädigungen  und  ohne  körperliche  Gefahren), 
sollte  gerade  für  die  soziale  Kultur  der  Rente  Ver- 
ständnis haben.  Aber  Herr  Bernhard  gleitet  in  die 
feudale  Weltansicht  der  zweierlei  Menschenrassen 
zurück.  Auf  die  Besserbezahlten  und  angenehme  Ar- 
beit Leistenden  wirkt  die  Existenzsicherung  befeuernd 
und  schöpferisch.    Die  Millionen  aber,  die  in  un- 

123  i 


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gesichertem  trostlosen  Dasein  harter  eintöniger  Ar- 
beit, unter  steten  Gefahren  des  Hungers,  des  Siech- 
tums, der  Verkrüppelung,  der  Tötung  keuchen,  bei 
denen  wirkt  auch  der  bescheidenste  Schadenersatz  für 
die  von  ihnen  gebrachten  Opfer  demoralisierend;  die 
goldene  feste  Rente  adelt  die  Besten,  die  kupferne, 
jeden  Tag  bedrohte  Rente  ist  eine  nationale  Gefahr, 
sie  zeugt  Faulenzer,  Simulanten,  Hysteriker,  Prozeß 
hänse. 

Dieser  Nutznießer  einer  hohen  Staatsrente  stützt 
seine  Beweisführung  ausschließlich  auf  die  peinliche, 
weitläufige  Diskussion,  die  von  den  Ärzten  über  Un- 
fallneurose und  Unfallgesetzhysterie  seit  Jahren  ge- 
führt wird.  Die  ganze  reiche  Literatur  der  Fachleute 
der  Versicherungsgesetzgebung  ist  ihm  unbekannt. 
Das  in  den  Jahresberichten  der  Arbeitersekretariate 
aufgespeicherte  Material  existiert  für  ihn  nicht.  Da- 
gegen nimmt  das  bloße  Titelverzeichnis  der  ärztlichen 
Streitschriften  einen  erheblichen  Teil  des  Raumes  der 
Broschüre  ein;  sie  sind  beinah  in  der  Vollständigkeit 
angeführt,  wie  die  üppigen  Quellenverzeichnisse  der 
Doktorschriften,  die  sich  vererben,  ohne  daß  jemand 
die  im  Titel  verschlossenen  Schätze  wirklich  geöffnet 
hätte.  Während  Bernhard  die  für  kargen  Gehalt  un- 
ermüdlich dem  gemeinen  Wohl  dienenden  ernsten  und 
ruhigen  Arbeitersekretäre,  die  ohne  Rücksicht  auf  Po- 
pularität in  der  Zurückweisung  zweifelhafter  Renten- 
ansprüche eher  rücksichtslos  als  lässig  zu  sein  pflegen, 
als  eine  Art  Winkelkonsulenten  beschimpft,  führt  er 
als  strahlende  Autorität  einen  Medizinmann  an,  — 
Dr.  Biß  — ,  der  es  einmal  durchgesetzt  hat,  daß  eine 
Rente  von  100  Prozent  zeitweilig  auf  66%  Prozent 
herabgesetzt  wurde,  weil  er  gutachtlich  bezeugt  hatte, 
daß  ein  durch  einen  Unfall  an  schwerem  Rücken- 
marksleiden erkrankter  Arbeiter  in  Wahrheit  an  hoch- 
gradig gesteigerten  Begehrlichkeitsvorstellungen  leide, 
die  er  sich  auf  der  Jagd  nach  unberechtigten  Ver- 

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mögensvorteüen  zugezogen  habe.  Die  gesteigerten 
Begehrlichkeitsvorstellungen  (nicht  des  Dr.  Biß)  führ- 
ten bald  zum  Abschluß  aller  menschlichen  Begehr- 
lichkeit. 

Die  Stellung  des  Arztes  in  der  heutigen  Gesellschaft 
ist  so  lange  unwürdig,  als  er  gezwungen  ist,  seinen 
Beruf  als  Privatgewerbe  auszuüben.  Es  gehört  zu  den 
tröstenden  Wundern  der  Unzerstörbarkeit  mensch- 
licher Güte,  daß  trotz  solcher  erniedrigenden  äußeren 
Umstände  gerade  Arzte  Vorbilder  sozialen  Pflicht- 
bewußtseins sind.  Aber  es  gibt  auch  trübe  Erschei- 
nungen: von  den  Beziehungen  zwischen  Ärzten  und 
Bädern,  chemischen  Fabriken,  Kurpfuschern  bis  zur 
förmlichen  Organisation  von  Schlepperdiensten,  durch 
die  begüterte  Patienten  gewissen  Spezialitäten  ans 
Messer  geliefert  werden.  Vor  allem  sollte  dem  Arzt 
nicht  gestattet  sein,  was  in  keinem  andern  Berufe  ge- 
duldet wird.  Ein  Professor  der  Medizin  darf  von  pri- 
vaten Erwerbsgesellschaften  Geldgewinne  beziehen, 
den  Staatsbeamten  ist  das  sonst  verboten.  Es  ist  deshalb 
nicht  einmal  merkwürdig,  daß  wir  in  dieser  ärztlichen 
Literatur,  die  Herrn  Bernhard  so  erquicklich  scheint, 
wieder  Gestalten  begegnen  von  den  Eigenschaften 
jenes  Arztes,  der  in  den  wilden  Anfangszeiten  des  eng- 
lischen Kapitalismus  gutachtlich  äußerte,  er  vermöchte 
in  seiner  Wissenschaft  keinen  Grund  zu  entdecken, 
warum  die  Arbeitszeit  eines  Kindes  früher  endigen 
sollte  als  der  Kalendertag. 

Die  ganze  Unfalliteratur  der  Ärzte  hat  schon  des- 
halb für  den  Volkswirtschaftler  keine  zwingende  Be- 
deutung, weil  die  Lehrmeinungen  dieser  Sachverstän- 
digen von  der  Auffassung,  daß  schlechthin  alles  Unfall- 
rentenneurose sei,  bis  zu  der  Meinung,  ein  echter  Fall 
dieser  Art  käme  fast  niemals  vor,  alle  Abstufungen 
durchlaufen.  Außerdem  würde  immer  nur  bewiesen 
sein,  daß  die  Unsicherheit  der  Rente,  um  die  ewig  aufs 
neue  gekämpft  werden  muß.  nervöse  die  Heilung  er- 

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schwereude  und  die  Simulation  begünstigende  Wir- 
kungen erzeuge,  nicht  aber  die  Rente  selbst.  Die 
Rentenfeinde,  die  um  die  Finanzen  der  in  den  Berufs- 
genossenschaften vereinigten  Unternehmer  besorgt 
sind,  erzählen  Wunderdinge  von  der  Kraft  der  Men- 
schen, sich  an  den  Verlust  wesentlicher  Teile  ihres 
Körpers  zu  gewöhnen  und  anzupassen.  Die  unablässige 
Änderung  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  aber  in- 
folge der  Rentengesetzgebung  wirft  ohnehin  tief  unter 
einem  erträglichen  Existenzminimum  lebende  Men- 
schen jeden  Augenblick  wieder  aus  den  Einkommen 
an  die  sie  sich  eben  mühselig  gewöhnt  und  angepaßt 
haben;  ein  unerhört  grausames  Spiel,  das  auch  die 
zähesten  Nerven  heillos  zerrütten  muß.  Es  ist  ein 
vollkommener  Widerspruch,  die  Fähigkeit,  sich  an 
körperliche  Schädigungen  zu  gewöhnen,  über  die 
Maßen  hoch  zu  werten;  dann  aber  noch  eine  erstaun- 
lichere Fähigkeit  anzunehmen,  sich  unablässig  und 
willkürlich  immer  aufs  neue  aus  dem  eben  Gewöhnten 
wieder  reißen  zu  lassen,  ohne  gesundheitliche  Störung 
die  ewige  Gefahr  ertragen  zu  können,  daß  in  wirrer 
Unruhe  elende  Daseinsbedingungen  noch  elender  wer- 
den könnten. 

Bernhard  führt  wohlweislich  aus  den  ärztlichen  Dis- 
kussionen nur  die  abgeleiteten  theoretischen  An- 
schauungen über  die  Unfallneurosen  und  die  Renten- 
hysterie an.  Aber  er  schildert  keinen  einzigen  Fall 
aus  dem  wirklichen  Leben,  der  die  Zusammenhänge 
erst  veranschaulicht;  er  fällt  formale  Urteile  ohne  die 
Aufnahme  des  Tatbestandes.  Und  doch  würde  eine 
Sammlung  gewisser  ärztlicher  Gutachten,  auf  die 
Herabsetzungen  und  Verweigerungen  der  Rente  be- 
gründet wurden,  einen  wahren  modernen  Hexenhara- 
mer  darstellen.  Nur  zwei  Beispiele  aus  der  Praxis! 
Im  Jahre  1888  erlitt  eine  Taglöhnerin  in  München 
einen  Unfall  dadurch,  daß  ihr  drei  Backsteine  auf  die 
rechte  Hand  fielen.   Es  trat  völlige  Versteifung  der 

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Hand  ein.  Seit  1894  bezog  sie  40  Prozent  der  Voll- 
rente, monatlich  12,45  Mark.  Schon  das  erste  ärzt- 
liche Gutachten  äußerte,  daß  es  sich  um  einen  Dauer- 
zustand handle.  Gleichwohl  wurden  fortwährend 
weitere  ärztliche  Untersuchungen  veranlaßt.  In  je- 
dem Jahr  wurden  die  Untersuchungen  wiederholt, 
immer  mit  dem  gleichen  Ergebnis  einer  vierzigpro- 
zentigen  Rente.  Endlich,  19 10,  geriet  die  inzwischen 
zweiundachtzig  Jahre  alt  gewordene  Frau  in  die  Hände 
eines  zuverlässigen  Vertrauensarztes  der  Berufsgenos- 
senschaften. Der  stellte  Gewöhnung  und  Anpassung 
an  den  Zustand  fest,  außerdem  sämtliche  Zeichen  des 
senilen  Marasmus  und  erklärte  eine  dreißigprozentige 
Rente  für  ausreichend.  Daraufhin  beantragte  die  Be- 
rufsgenossenschaft Minderung  der  Rente  entsprechend 
dem  Gutachten  des  Arztes.  Das  Schiedsgericht  lehnte 
den  Antrag  natürlich  ab.  In  dem  Urteil  heißt  es: 
„Abgesehen  davon,  daß  schon  mit  Rücksicht  auf  das 
hohe  Alter  eine  Steigerung  der  Erwerbsfähigkeit  aus- 
geschlossen erscheinen  muß,  hat  Dr.  Pettenkofer  zu 
.  Anfang  seines  Gutachtens  ausgeführt,  daß  die  Ver- 
letzte sämtliche  Zeichen  des  senilen  Marasmus  auf- 
weise. Die  Gewöhnung  kann  aber  bei  einem  aus  an- 
deren Gründen  gänzlich  erwerbsunfähigen  Renten- 
empfänger nicht  als  Moment  für  die  anderweite  Fest- 
setzung der  Renten  in  Betracht  kommen."  Eine 
siebzigjährige  Arbeiterin  beantragte  191 2  die  Ge- 
währung der  Invalidenrente  bei  der  schlesischen  Lan- 
desversicherungsanstalt. Das  begründete  ärztliche  Gut- 
achten stellte  Altersschwäche  fest,  Krampfadern,  chro- 
nischen Magenkatarrh,  schweren  Rheumatismus,  Ver- 
krümmung und  Versteifung  der  meisten  Finger,  Platt- 
füße; völlige  Erwerbsunfähigkeit.  Ein  zweites  Gut- 
achten erwähnte  noch  allgemeine  Hinfälligkeit  und 
leichte  wässerige  Stauungen  in  den  Knöchelgelenken. 
Bei  der  Verhandlung  vor  der  unteren  Verwaltungs- 
behörde erklärte  auch  der  Vertrauensarzt  die  Frau  für 


127 


invalide.  Nun  ging  der  Vorstand  der  schlesischen  Lan- 
desversicherungsanstalt vor  die  rechte  Schmiede.  Sie 
fand  einen  Arzt,  der  bezeugte:  „Die  ...  sei  eine  für 
ihr  Alter  ziemlich  kräftige  Frau,  die  außer  mäßigen 
Alterserscheinungen  nur  an  durch  das  Alter  bedingten 
Gelenkveränderungen  des  rechten  Schultergelenks,  ver- 
schiedener Fingergelenke  und  der  Kniegelenke  leide. 
Die  Gelenkveränderungen  an  den  Fingern,  welche  am 
schwersten  ins  Gewicht  fallen,  beständen  aber  schon 
seit  zwölf  Jahren,  der  Faustschluß  sei  beiderseits  gut 
möglich.  Die  Schultergelenke  werden  in  ihren  Bewe- 
gungen fast  gar  nicht  beeinträchtigt,  und  die  Knie- 
gelenke nur  in  mäßigem  Grade.  Da  ferner  Bücken 
ganz  gut  vor  sich  gehe,  die  Hüftgelenke  also  auch  nicht 
schwer  von  Rheumatismus  befallen  seien,  sei  die  Klä 
gerin  zu  leichten  landwirtschaftlichen  Arbeiten  mit 
Ruhepausen  noch  fähig."  Darauf  wies  die  Landes- 
versicherungsanstalt den  Antrag  zurück:  keine  Inva- 
lidität. Berufung  an  des  Oberversicherungsamt.  Der 
Vertrauensarzt  bestätigte  gleichfalls  die  Arbeitsfähig- 
keit der  Frau.  Die  oberste  Instanz  ermittelte  genau 
die  Fähigkeit  der  Frau,  täglich  noch  33*/8  Pfennige  zu 
verdienen;  der  unmoralische  Anspruch  der  siebzig- 
jährigen Frau,  sich  von  der  doch  auch  durch  ihre 
eigenen  Beiträge  erkauften  Invalidenrente  zu  mästen, 
wurde  also  abgewiesen. 

Diese  Fälle  des  Lebens,  die  sich  zu  dicken  Bänden 
häufen  ließen  —  die  Rententragödien  drängen  sich 
jedem  auf,  der  überhaupt  irgendwelche  Kenntnisse 
von  Arbeiterverhältnissen  hat  —  interessieren  die 
Wissenschaft  des  Herrn  Bernhard  nicht.  Sie  beweisen 
freilich  auch  eine  andere  Unbedenklichkeit  des  Ge- 
lehrten. Herr  Bernhard  grämt  sich  nämlich  auch  über 
die  Prozeßsucht  der  Arbeiter.  Aber  abgesehen  davon, 
daß  die  Zahl  der  Rekurse  durch  allerlei  künstliche  Mittel 
erhöht  ist,  vergißt  er  zu  erwähnen,  daß  der  Prozent- 
satz der  Rekurse  der  Arbeiter   seit   1890  beständig 

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zurückgeht,  dagegen  die  Rekurse  der  Berufsgenossen- 
schaften  sich  in  diesem  Zeitraum  prozentual  verdrei- 
facht haben.  Die  Prozeßsucht  der  Versicherten  nimmt 
also  ab;  begreiflich,  da  ihre  Aussichten  auf  Erfolg 
immer  ungünstiger  werden.  Die  Rekurse  der  Ver- 
sicherungsträger dagegen  schwellen  an;  begreiflich,  da 
sie  immer  vorteilhaftere  Urteile  erzielen.  Im  Jahre 
191 1  hatte  nur  noch  ein  Sechstel  der  Arbeiterrekurse 
Erfolg.  Dagegen  wurde  von  den  Rekursen  der  Unter- 
nehmer mehr  als  die  Hälfte  zu  deren  Gunsten  ent- 
schieden. Ich  selbst  wohnte  einer  Sitzung  des  Reichs- 
versicherungsamts bei,  zu  der  ein  Vertreter  der  kaiser- 
lichen Werftverwaltung  in  Kiel  eigens  nach  Berlin 
gereist  war,  um  die  Herabsetzung  einer  Unfallrente 
um  ein  paar  Prozent  persönlich  zu  begründen;  die 
Reisekosten  und  Diäten  des  Vertreters  haben  gewiß 
mehr  betragen  als  die  kapitalisierte  Rentenersparnis, 
die  bestenfalls  erzielt  werden  konnte.  Solche  Tat- 
sachen muß  Herr  Bernhard  verschweigen;  denn  sonst 
würde  selbst  er  sieht  nicht  getrauen,  die  Forderung  zu 
erheben,  daß  zur  Einschränkung  der  Prozeßsucht  das 
kostenpflichtige  Verfahren  eingeführt  würde.  Damit 
wären  die  Versicherten  auf  Gnade  und  Ungnade  jedem 
falschen  Urteil  ausgeliefert  und  die  Berufsgenossen- 
schaften könnten  allein  den  Rechtsweg  beschreiten, 
um  die  allgemeine  Rentendemoralisation  mit  Erfolg  zu 
verhindern. 

Ein  paar  eilige  Seiten  widmet  Herr  Bernhard  schließ- 
lich noch  dem  parteipolitischen  Mißbrauch  sozialpoliti- 
scher Einrichtungen.  Darunter  versteht  er  jene  küm- 
merlichen Selbstverwaltungsrechte,  die  in  der  deut- 
schen Sozialgesetzgebung  den  Arbeitern  eingeräumt 
sind :  im  Gegensatz  zur  englischen  Sozialgesetzgebung, 
in  der  die  Selbstverwaltung  der  Arbeiter  als  selbstver- 
ständlich durchgeführt  ist.  Parteipolitischen  Mißbrauch 
nennt  Herr  Bernhard  es,  wenn  die  Arbeiterpartei  sich 
an  den  Verwaltungswahlen  beteiligt.  Da  das  Partei - 


9    B isner.  Gesammelte  Schriften  Ii 


I2Q 


programm  sozialpolitische  Forderungen  immer  mehr 
voranstellt,  ist  natürlich  auch  die  Verwaltung  der 
sozialpolitischen  Einrichtungen  „parteipolitisch"  be- 
deutsam. Aber  Herr  Bernhard  betrachtet  es  über- 
haupt als  Mißbrauch,  daß  die  Arbeiter  die  Männer 
ihres  Vertrauens  bei  den  Wahlen  bevorzugen.  In 
Deutschland  bestimmt  der  Wille  eines  Mannes  die 
leitenden  Beamten  des  Staates.  Die  Adelskaste  be- 
herrscht noch  immer  die  bestbezahlten  Posten  der 
Armee,  der  Diplomatie  und  der  Verwaltung.  Die 
höhere  Bureaukratie  und  immer  mehr  auch  die  Uni- 
versitätswissenschaft rekrutiert  sich  aus  Nepoten.  Über 
die  große  Industrie  und  die  Hochfinanz  endlich  herr- 
schen, nach  dem  unverdächtigen  Zeugnis  eines  Spröß- 
lings des  Elektrokonzerns,  allmächtig  und  ausschließend 
ein  paar  hundert  Familien.  Überall  ist  der  freie  Wett- 
bewerb fast  ausgeschaltet ;  die  zünftlerische  Absperrung 
verhindert  nahezu  jeden  Aufstieg  aus  der  Tiefe  und 
aus  der  Masse.  Wenn  aber  die  Millionen  des  Prole- 
tariats Männer  ihres  Vertrauens  in  ein  paar  bescheidene 
Ämter  auf  dem  eigensten  Gebiete  ihrer  Interessen  be- 
fördern, so  wird  über  Mißbrauch  geschrieben,  obwohl 
die  Arbeiter  in  einer  nicht  genug  zu  bewundernden 
Selbstzucht  und  Selbstlosigkeit  bei  der  Auswahl  der 
Personen  in  der  Regel  mit  einer  fast  ängstlichen  Sach- 
lichkeit verfahren.  Mag  Herr  Bernhard,  der  im  freien 
Wettbewerb  wissenschaftlicher  Würdigkeit  Geschei- 
terte, auch  jede  Selbstverwaltung  in  der  Arbeiter- 
versicherung als  Beeinträchtigung  der  Kommando- 
gewalt des  Staates  und  des  Unternehmertums  bekla- 
gen, nur  soll  die  Heuchelei  nicht  so  weit  getrieben  wer- 
den, daß  in  einem  Lande  engherzigster  gegenseitiger 
Kastenversorgung  über  die  Verwahrlosung  jener  Be- 
völkerungsklasse spektakelt  werde,  in  der  die  gesunde 
Schätzung  und  Auslese  der  Menschen  nach  Fähigkeit 
und  Charakter,  trotz  des  bösen  Beispiels  der  anderen, 
immer  noch  die  Regel  zu  sein  pflegt. 

130 


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Bernhards  geistig  und  moralisch  krüppelhafte  Ge- 
legenheitsschrift ist  die  Wahlparole  der  schweren  In- 
dustrie, die  die  Nationalökonomie  seit  Jahrzehnten 
belehrt,  daß  die  Wissenschaft  endlich  umkehren  müsse : 
zum  reinen  Manchestertum.  Keine  staatliche  Ein- 
mischung, keinerlei  Sozialpolitik,  Einsperrung  des 
Proletariats  in  wehrlos  zu  duldende  unentrinnbare 
Lohnarbeit  ohne  jede  Möglichkeit,  unmittelbar  oder 
mittelbar  auf  die  Arbeitsbedingungen  einzuwirken, 
das-  sind  die  von  Herrn  Bernhard  und  seinen  Gönnern 
erwünschten  Folgen  seiner  Propaganda.  Die  Renten 
der  Arbeitsunfähigen  stören  die  Rentenpfründner  der 
Arbeit. 

Gelingt  das  Werk  dieser  neuesten  Nationalökonomie, 
so  wären  auch  die  Voraussetzungen  erfüllt  für  die 
Renaissance  jener  anderen  Manchesterlehre  von  der 
Harmonie  der  Interessen,  die  in  gefällig  auffälliger 
Schutzverpackung  aus  Amerika  kommt.  Denn  nur 
wenn  man  entschlossen  ist,  jede  soziale  Verantwortun- 
für  die  Wirkungen  der  schrankenlosen  Ausbeutung 
abzulenken,  kann  jenes  Taylorsystem  zur  Aus- 
führung gelangen,  das  jetzt  auch  bei  uns  um  Anerken- 
nung wirbt.  Erst  wenn  jede  Zerstörung  der  Arbeits- 
kraft und  der  Gesundheit  als  Rentenneurose  erledigt 
wird,  kann  das  Taylorn  fröhlich  beginnen. 

IL 

Im  Taylorsystem  vereinigt  sich  die  fruchtbare  Wis- 
senschaft von  der  höchsten  Produktivität  der  Hand- 
arbeit mit  der  gaukelnden  Lehre  von  der  Technik 
höchster  Ausbeutung.  Demgemäß  gesellen  sich  in  der 
Person  Taylors  die  Seele  des  spürenden  und  regelnden 
Ingenieurs  mit  der  kalten  Leidenschaft  eines  Pro- 
pheten des  Kapitalismus.  Taylor  läßt  sich  also  nicht 
so  einfach  abtun  wie  der  leichte  Berliner  Professor  der 
schweren  Industrie.  Es  stecken  Probleme  in  ihm. 
Man  muß  den  Ingenieur  von  dem  Kapitalisten  ab- 


spalten.  Übrigens  mag  seine  Schrift*)  auch  den 
Sprachpsychologen  Vergnügen  gewähren;  denn  wir 
finden  uns  hier  an  der  Quelle  klingender  Wort-  und 
Begriffsbildungen,  die  nur  den  einen  Zweck  verfolgen, 
das  wirkliche  Interesse  und  die  tatsächliche  Absicht 
zu  verbergen.  Taylor  ist  auch  ein  findiger  Techniker 
der  Terminologie  des  idealistischen  Menschenfreundes, 
der  nach  dem  Worte  des  Shawschen  Herrn  Sartorius 
handelt :  Wenn  etwas  moralisch  ist  und  außerdem  noch 
ein  gutes  Geschäft,  warum  soll  man  es  nicht  tun? 

Die  Technik  hat  sich  seither  nur  um  die  Vervoll- 
kommnung der  Maschine  gesorgt.  Die  Bemühungen 
Taylors  sind  seit  einem  Menschenalter  darauf  gerichtet, 
die  Technik  der  menschlichen  Hand-,  Muskel-  und 
auch  Hirnarbeit  zu  höchster  maschineller  Leistungs- 
fähigkeit zu  entwickeln. 

Der  Arbeiter  führt  gemeinhin  selbständig  die  ihm 
übertragene  Leistung  aus,  nach  dem  Herkommen, 
nach  „Faustregeln",  nach  eigenen  Erfahrungen  und 
Erfindungen.  Taylor  belehrt  ihn,  wie  er  arbeiten  soll 
und  wie  er  arbeiten  muß.  In  jeder  Teilarbeit  steckt 
eine  Wissenschaft.  Es  gibt  eine  Wissenschaft  des 
Lastentragens,  des  Schaufeins,  des  Mauerns,  auch  der 
Prüfung  von  Fahrradkugeln.  In  jeder  Hantierung  ist 
das  Gesetz  der  höchsten  Leistung  bei  geringstem  Kraft - 
verbrauch  zu  entdecken.  Es  erfordert  jahrelang  hin- 
durch betriebene,  oft  mit  großen  Geldmitteln  unter- 
stützte Beobachtungen,  Versuche,  Rechnungen,  um 
die  Technik  jeder  einzelnen  Arbeit  zu  ermitteln  und 
die  individuelle  Ausbildung  des  Arbeiters  zu  vollziehen. 
Wie  schwer  muß  das  einzelne  Eisenstück  sein,  wie  muß 
es  getragen  werden,  in  welchem  Tempo,  wann  müssen 
Ruhepausen  eingelegt  werden  und  wie  lange  —  damit 

*)  Die  Grundsätze  wissenschaftlicher  Bctriebsfühmng  von 
F.  W.  Taylor.  Deutsche  autorisierte  Ausgabe  von  Rudolf 
Roesler.    München  und  Berlin  (R.  Oldcnbourg)  191 3. 

132 


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der  größte  Nutzeffekt  herauskommt?  Es  ist  sehr 
wesentlich,  wie  die  Schaufel  in  einen  Kohlenhaufen 
gestoßen,  welche  Durchschnittslast  am  zweckmäßigsten 
auf  die  Schaufel  genommen  wird.  Aus  diesen  Be- 
obachtungen, die  auch  die  Methoden  der  Experimen- 
talpsychologie  wie  die  Leistungen  der  höheren  Mathe- 
matik zur  Verarbeitung  heranziehen,  ergeben  sich  Kon- 
struktionen der  tauglichsten,  vielspältig  anpassungs- 
fähigen Werkzeuge.  Keine  Bewegung  darf  überflüssig 
sein.  So  gelang  es  beim  Mauern  die  Handgriffe  und 
Bewegungen,  die  zur  Legung  eines  Ziegels  notwendig 
sind,  von  achtzehn  auf  fünf  und  sogar  auf  zwei  zu  ver- 
mindern. Einfache  Apparate  ermöglichten  es  dem 
Arbeiter,  ohne  jede  Körperbewegung  stetig  einen  Stein 
nach  dem  andern  zu  legen. 

Das  ist  Scientific  Management,  aber  es  ist  leider 
nicht  nur  das.  Handelte  es  sich  nur  um  solche  Fest- 
stellungen, wie  die  Produktivität  der  Handarbeit  bei 
geringster  Kraftaufwendung  zum  höchsten  Grad  ge- 
steigert werden  könnte,  so  wäre  Taylor  ein  sozialer 
Erlöser;  denn  sein  System  würde  uns  dem  Ziel  nähern, 
die  gesellschaftlich  notwendige  mechanische  Arbeit 
auf  ein  Mindestmaß  herabzusetzen,  das  für  jeden 
erträglich  ist,  aber  auch  jedem  Arbeitsfähigen  zu- 
gemutet werden  müßte,  ohne  Unterschied. 

Aber  die  technische  Vervollkommnung  ist  nur  die 
leuchtende  Schutzhülle  des  Systems.  Der  wirkliche 
Zweck  ist,  aus  jedem  Arbeiter  die  denkbar  höchste 
Leistung  herauszupressen,  die  überhaupt  möglich  ist. 
Und  damit  wird  das  System  zur  Kulturgefahr.  Der 
Ingenieur  wird  Sachwalter  des  Kapitals  und  obendrein 
Politiker,  der  sich  vermißt,  die  Interessenharmonie 
zwischen  Unternehmern,  Arbeitern  und  Verbrauchern 
herzustellen. 

Taylor  verspricht  den  Unternehmern  höhere  Pro- 
fite, gesteigerte  Arbeitswilligkeit,  Befreiung  von  den 
unbequemen  Organisationen  des  proletarischen  Klas- 

*33 


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senkampfes.  Er  spendet  den  Arbeitern  höhere  Löhne 
und  bisweilen  kürzere  Arbeitszeit,  zudem  Arbeits- 
freude und  fröhliche  Gesundheit  ohne  Ermüdung  und 
Erschöpfung.  Er  führt  endlich  für  die  Konsumenten 
Verbilligung  der  Waren  herbei.  Die  Harmonie  aller 
ist  vollkommen  und  unwiderstehlich.  Jeder  muß  in 
die  Harmonie  hinein.  Und  alles  dies  lediglich  durch 
sein  System.  Man  braucht  es  nur  anzunehmen  und 
der  ganze  ungeheuere  Segen  quillt  automatisch  und 
unerschöpflich.  Einmal  über  das  System  belehrt, 
müssen  es  alle  Teile  annehmen,  ob  sie  wollen  oder 
nicht.  Scientific  Management  —  das  sind  die  neuen 
Sirenen,  deren  Gesang  niemand  trotzen  kann.  Oder 
auch:  Die  feindlichen  Vertragsgegner  im  kapitalisti- 
schen Lohnbetrieb  werden  zu  Partnern  des  Schiebe- 
tanzes, in  dem  jede  Bewegung  des  einen  unrettbar  die 
harmonische  des  andern»erzwingt. 

Und  Scientific  Management  ward  zuerst  erprobt 
auf  dem  Stahlwerk,  das  sich  Bethlehem  nennt.  Schon 
dieser  Name  heiligt  die  Sache  und  verpflichtet,  allen 
Menschen  Frieden  und  Wohlgefallen,  wenn  nicht  zu 
bringen,  so  doch  zu  verkünden.  Es  ist  der  neue  Ruf 
der  Erlösung  von  der  Qual  der  Arbeit  und  der  Himmel- 
fahrt zur  erhöhten  Inbrunst  der  Profite. 

Gemeinhin  gilt  als  die  schärfste  Methode  der  Aus- 
beutung die  Akkordarbeit.  Taylor  verwirft  das  Lock- 
system des  Stücklohns  durchaus.  Das  ist  lediglich 
organisierte  Faulheit.  Der  Arbeiter  entzieht  dem 
Unternehmer  vorsätzlich  seine  Arbeitskraft,  weil  jede 
Steigerung  seiner  Produktion  unweigerlich  Herab- 
setzung des  Akkordlohns  veranlassen  würde.  Also 
verabreden  sich  die  Arbeiter,  im  künstlichen  Schweiße 
ihres  Angesichts  so  wenig  wie  möglich  zu  arbeiten. 

Taylor  ersetzt  das  Akkordsystem  durch  das  Pensum. 
Freilich  keine  neue  Erfindung,  denn  das  Pensum  ist 
der  Schrecken  der  Strafanstalten  und  Zuchthäuser. 
Aber  das  Pensum  der  Sträflinge  ist  noch  eine  beschei- 

«34 


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dene  Anspannung  im  Vergleich  zu  dem  Taylorpensum. 
Denn  dieses  Pensum  wird  wissenschaftlich  ermittelt. 
Jede  Arbeit  und  jedes  Pensum  taugt  nicht  für  alle. 
Folglich  bedarf  das  Taylorsystem  zu  seiner  Vollen- 
dung auch  der  wissenschaftlichen  Ausbildung  jedes 
einzelnen  Arbeiters  zum  höchsten  Grade  der  in  ihm 
verborgenen  Anlagen.  Wie  hat  man  doch  die  kapi- 
talistische Lohnarbeit  bisher  verleumdet,  als  eine 
Räuberin  aller  freudig  schaffenden  Fähigkeiten,  die 
alles  Menschentum  erstickt!  Erlöser  Taylor  lehrt  den 
M  enschen  sich  selbst  erkennen,  seine  tiefsten  Fähig- 
keiten bis  zur  letzten  Meisterschaft  entwickeln.  In- 
dividuelle Ausbildung  —  der  Staat  der  Kultur  aller 
ist  im  Bethlehem  Taylors  erreicht!  Man  hat  vordem 
nur  nicht  gewußt,  wie  viel  individuelle  Anlagen  es 
gibt.  Nicht  nur  für  Musik  und  Malerei,  für  Philo- 
sophie und  Mathematik,  für  Schauspiel  und  Lyrik,  in 
jedem  Menschen  steckt  eine  ganz  besondere  Tüchtig- 
keit, die  entwicklungs-,  das  heißt  ausbeutungsfähig  ist. 
Man  braucht  sich  auch  nicht  mehr  zu  quälen  und  zu 
bangen,  ob  das  Genie  auch  sich  durchsetze.  Die  Be- 
triebsleitung ist  die  Vorsehung  für  alle,  die  unfehlbar 
jedes  Genie  herausholt.  Es  gibt  zum  Beispiel  Genies 
des  Tragens  von  Erzbarren.  Sie  haben  keinen  andern 
Drang  und  keinen  andern  Lebenszweck,  als  soviel 
Tonnen  wie  möglich  täglich  aus  einem  Haufen  auf 
einen  Eisenbahnwagen  zu  laden.  Der  Ingenieur  mustert 
die  Arbeiter.  Mit  Adlerblick  (er  ist  auch  bereits  ge- 
taylort!)  erkennt  er  das  Erzladegenie  —  an  den  schwel- 
lenden Muskeln  und  an  dem  stupiden  Ausdruck.  Die- 
ses Genie,  Schmidt  mit  Namen,  wird  nun  beiseite  gc 
nommen.  Es  wird  ihm  eine  Steigerung  des  Lohnes 
um  die  Hälfte  versprochen,  wenn  er  sich  bereit  er- 
klärt, genau  nach  den  Weisungen  seines  Lehrmeisters 
zu  arbeiten:  zu  gehen,  wenn  es  ihm  befohlen  wird, 
zu  heben,  wenn  es  ihm  befohlen  wird,  zu  verschnaufen, 
wenn  es  ihm  befohlen  wird.  Er  darf  keine  Bewegung 

'35 


mehr  nach  eigenem  Kopfe  verrichten.  Und  er  muß 
sich  verpflichten,  alle  in  ihm  vorrätige  Kraft  restlos 
herzugeben.  Denn  wird  er  ertappt,  daß  er  künstlich 
seine  Arbeitskraft  einschränkt,  so  wird  er  unweigerlich 
entlassen.  Jetzt  kann  das  Experiment  beginnen. 
Schmidt  hebt  und  trägt,  geht  und  rastet.  Und  es 
gelingt  ihm,  statt  bisher  1 21/«  Tonnen  471/9  Tonnen 
täglich  zu  verladen,  und  statt  i  Dollar  15  1  Dollar  85 
zu  verdienen.  Damit  ist  das  Pensum  des  Lastengenies 
festgestellt.  Das  hat  nun  jeder  Arbeiter  dieses  Fachs 
täglich  zu  leisten.  Es  wird  niemand  angestellt,  der  das 
Pensum  nicht  zu  erledigen  vermag,  und  jeder  entlassen, 
-  der  es  nicht  bis  zu  dieser  Stufe  individueller  Entwick- 
lung bringt.  Aber  das  Wichtigste  ist  nicht  zu  ver- 
gessen, das  Menschenfreundliche:  Es  darf  keinerlei  Er- 
schöpfung und  Ermüdung  mit  dieser  Arbeit  verbun- 
den sein!  Selbstverständlich,  sonst  könnte  ja  das  Pen- 
sum nicht  erfüllt  werden.  So  kann  es  in  Bethlehem 
trotz  solcher  ungeheuren  Steigerung  der  Arbeits- 
leistung keine  erschöpften  Arbeiter  geben;  sie  sind  alle 
jenseits  von  Bethlehem,  irgendwo,  außerhalb  der 
wissenschaftlichen  Trainierung.  Es  ist  klar,  daß  damit 
jede  Einwirkung  der  Arbeiter  oder  gar  der  Arbeiter- 
organisationen auf  die  Arbeitsbedingungen  aufhört. 
Das  Pensum  wird  wie  der  angemessene  Lohn  objektiv 
wissenschaftlich  von  den  Unternehmern  und  deren 
Organen  festgestellt.  Wer  das  Pensum  bewältigen  kann 
und  will,  darf  arbeiten;  andere  werden  nicht  geduldet. 

Unser  Genie  der  muskulösen  Stupidität,  Schmidt, 
trägt  also  an  jedem  zehnstündigen  Arbeitstag  47500 
Kilogramm  Erz  vom  Stapel  zum  Waggon,  legt  täglich 
13  Kilometer  in  252  Minuten  mit  und  13  Kilometer 
ohne  Last  zurück.  Die  Verladung  jedes  etwa  einen 
halben  Zentner  wiegenden  Barren  beträgt  0,22  Mi- 
nuten. Dabei  bleibt  Schmidt  so  frisch,  daß  er  vor  der 
Arbeit  an  seinem  durch  die  Lohnsteigerung  ermög- 
lichten Häuschen  baut  und  nach  der  Arbeit  den  Bau 

136 


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fortsetzt.  Welch  ein  ausgerechnetes  Leben!  Unsere 
bessere  Gesellschaft,  die  sich  am  Sechstagerennen  er- 
götzt, sollte  sich  dem  nützlichem  Sport  des  getaylorten 
Schmidt  zuwenden  und  täglich  47  500  Kilogramm  Erz 
verladen. 

In  gleicher  Weise  wird  für  jede  Hantierung  das  Nor- 
malpensum ermittelt.  Bei  den  Maurern  wird  durch 
solche  Verbindung  von  Wissenschaft  und  individueller 
Genieentwicklung  die  Stundenleistung  von  120  auf 
350  Ziegel  erhöht. 

Wie  sind  die  wirtschaftlichen  Ergebnisse?  Obwohl 
das  Taylorsystem  einen  gewaltigen  Aufwand  von  Auf- 
sichtspersonen verlangt,  werden  große  Ersparnisse 
erzielt.  Zur  Leistung  der  Schaufelarbeiten  wurden 
auf  den  Bethlehemwerken  nach  dem  alten  System  400 
bis  600  Arbeiter  gebraucht.  Unter  der  Pensumarbeit 
waren  nur  noch  140  notwendig.  Die  Durchschnitts- 
leistung eines  Mannes  stieg  von  16  auf  59  Tonnen, 
der  Durchschnittslohn  von  4,81  Mark  auf  7,80  Mark, 
und  die  Durchschnittskosten  sanken  pro  Tonne  von 
0,291  auf  0,138  Mark.  Nach  der  Einführung  des 
Taylorsystems  wurden  trotz  der  erhöhten  Löhne,  trotz 
der  Steigerung  der  Bureau-  und  Werkzeugspesen,  der 
Gehälter  für  Meister,  Beamte,  Bureauangestellte,  Zeit- 
studienleute, nur  am  Schaufeln  mehr  als  300000  Mark 
erspart. 

Aus  der  angeführten  Rechnung  erkennt  man,  daß 
die  Arbeitsleistung  fast  vervierfacht  ist,  der  Lohn  aber 
nur  um  die  Hälfte  erhöht  ist.  Damit  ist  von  dem 
Erfinder  selbst,  und  das  ist  ja  auch  der  Reiz  für  den 
Unternehmer,  nachgewiesen,  daß  dies  System  eine 
unerhörte,  ungelohnte  Steigerung  der  Aus- 
beutung der  Arbeitskraft  bedeutet.  Mit  einem 
in  seiner  Art  großartigen  Humor  entzieht  sich  Taylor 
der  peinlichen  Frage,  warum  denn  der  Lohn  nicht 
wenigstens  in  gleicher  W^ise  gesteigert  wird  wie  die 
Arbeitsleistung.  Auch  hier  gibt  die  rettende  Wissen- 

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schaft  die  gewünschte  Antwort.  Es  hat  sich  nämlich 
wissenschaftlich  ergeben,  daß  größere  Lohnsteigerun- 
gen die  Arbeitskraft  und  die  Moral  des  Arbeiters  ge- 
fährden. Und  Mr.  Taylor  zieht  aus  solchen  wissen- 
schaftlichen Feststellungen  den  moralischen  Lehrsatz, 
es  sei  nicht  gut,  wenn  man  zu  schnell  reich  würde. 
Das  bezieht  sich  aber  nur  auf  die  Psyche  des  Prole- 
tariers; denn  dem  Unternehmer,  dem  Aktionär,  wird 
umgekehrt  das  System  dadurch  empfohlen,  daß  er 
noch  schneller  reich  werden  kann  wie  zuvor,  wie  denn 
schließlich  auch  das  ganze  Volk  das  Taylorsystem  ge- 
bieterisch fordern  muß,  die  Interessen  der  All 

gemeinheit  gehen  über  die  der  Arbeiter  und  der 
Unternehmer!  —  weil  dadurch  die  Waren  verbilligt 
werden.  Von  Organisationen  und  Spekulationen  der 
Kapitalisten  zur  künstlichen  Preissteigerung  hat  Taylor 
offenbar  noch  nie  ein  Wort  gehört.  Wie  sollte 
man  auch  in  Amerika! 

Dem  begeisterten  deutschen  Übersetzer  der  ge- 
nannten Schrift  ist  bei  den  Taylorbilanzen  nicht  ganz 
wohl.  Er  fühlt  dunkel,  daß  die  Marxisten  geradezu 
als  Paradigma  zur  Veranschaulichung  kapitalistischer 
Ausbeutung  jene  Taylorsche  Rechnung  verwenden 
könnten,  aus  der  so  klar  das  Mißverhältnis  zwischen 
Profit-  und  Lohnsteigerung  bei  erhöhter  Arbeits 
leistung  hervorgeht.  Der  Übersetzer  hat -nicht  den 
gleichmütigen  Witz  des  Originals.  Er  wagt  nicht,  das 
Mißverhältnis  dadurch  zu  rechtfertigen,  daß  er  die 
wissenschaftliche  Entdeckung  vorführt,  eine  mehr  als 
fünfzigprozentige  Lohnerhöhung  sei  für  den  Arbeiter 
nicht  bekömmlich.  Und  er  ersinnt  darum  das  andere 
Argument,  daß  natürlich  der  Lohn  deshalb  nicht  wie 
die  Leistung  gleich  steigen  könnte,  weil  die  jetzt  ge- 
zahlten Löhne  zu  hoch  im  Verhältnis  zur  Leistung 
wären;  man  dürfe  also  die  jetzigen  Sätze  nicht  zu- 
grunde legen.  Es  ist  selten  Gelegenheit,  so  hübsch  zu 
demonstrieren,  wie  das  Interesse  die  Logik  umnebelt. 

138 


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Denn  die  Rechtfertigung  der  stärkeren  Ausbeutung 
durch  den  Hinweis  auf  die  Überzahlung  der  heutigen 
Arbeitsleistung  würde,  auf  die  erwähnte  Taylorsche 
Bilanz  angewendet,  sich  so  auflösen:  Steigerung  der 
Arbeitsleistung  400  Prozent,  Erhöhung  der  Löhne 
50  Prozent,  Überzahlung  der  Arbeit  vor  der  Einfüh- 
rung des  Taylorsystems  350  Prozent.  Der  Arbeiter 
hätte  also,  ehe  Taylor  alles  wissenschaftlich  richtig 
machte,  das  Dreieinhalbfache  seines  Lohns  an  den 
Unternehmer  herauszahlen  müssen;  so  viel  hätte  er 
mehr  erhalten,  als  seine  Arbeit  verdient  hätte  .  .  . 

Würde  sich  das  Taylorsystem  durchsetzen,  so  wären 
alle  bisherigen  Bemühungen  des  Proletariats,  durch 
solidarisches  Handeln  Einfluß  auf  die  Arbeitsbedin- 
gungen zu  gewinnen  und  ein  das  Menschentum  des 
Arbeiters  nicht  völlig  aussaugendes  Normalmaß  der 
Arbeit  herbeizuführen,  mit  einem  Schlage  vereitelt. 
Die  Arbeiter  würden  völlig  atomisiert  und  jeder 
müßte  sich  willen-  und  wehrlos  den  durch  die  wissen- 
schaftlichen Helfer  der  Kapitalisten  festgesetzten  Be- 
dingungen fügen.  Wir  erfahren  wohl,  daß  Schmidt 
frisch  und  munter  ist,  solange  er  seine  47500  Kilo- 
gramm Erz  schleppt.  Wir  erfahren  aber  nicht,  wie- 
viel Jahre  er  diese  Art  von  Munterkeit  aushält. 
Der  zur  Maschine  erstarrte  Mensch  wird  eben  auch 
nach  den  normalen  Abnutzungsquoten  der  stählernen 
Maschinen  rasch  —  amortisiert.  Und  ist  er  amorti- 
siert, so  wird  eine  neue  Menschmaschine  eingestellt, 
ohne  daß  sich  jemand  darum  kümmert,  was  aus  den 
amortisierten  Menschen  wird.  Und  dann  wird  Herr 
Bernhard,  der  Berliner  Professor,  die  Aufhebung  aller 
sozialpolitischen  Schutz-  und  Versichcrungsmaßnah- 
men  verlangen,  weil  man  doch  nicht  die  Hysterie  der 
Menschen  fördern  darf,  die  sich  —  amortisiert  fühlen. 

Lehrte  uns  nicht  einmal  die  Religion  von  Bethlehem, 
daß  alle  Menschen  Brüder  seien?  und  gab  es  nicht 
auch  irgend  einmal  einen  Philosophen,  der  als  den 


i3Q 


Inbegriff  aller  menschlichen  Sittlichkeit  den  Satz  auf- 
stellte, daß  kein  Mensch  nur  als  das  Werkzeug  eines 
andern  gebraucht  werden  dürfe  ?  Verlorene  Träumer, 
entschwebende  Wolkenwanderer!  Mr.  Taylor  nennt 
auch  seine  Lehre  von  Bethlehem  mit  starkem  Nach- 
druck Philosophie.  Er  könnte  sie  auch  Religion 
nennen.  Philosophie,  Religion  und  —  Wirklichkeit. 

[März  191 3.] 


140 


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Kopenhagen. 

Vor  dem  lebenslustigen,  farbenleuchtenden  Ziegel- 
bau des  neuen  Kopenhagener  Rathauses  steht  eine 
mächtige  Bronze- Vase,  deren  rotflammender  Geranien  - 
schmuck  über  den  weiten  Platz  glüht,  wie  ein  mitten 
in  der  Stadt  aufgeprägtes  Siegel  der  Internationale. 
Sieht  man  sich  das  Kunstwerk  näher  an,  so  gewahrt 
man  ringsum  Reliefs,  die  offenbar  die  Berufe  versinn- 
bildlichen: Die  verschiedenen  Bauhandwerke,  Ma 
schinenindustrie,  Schneiderei.  Ist  das  ein  altes  Wahr- 
zeichen der  Zünfte?  Unmöglich;  denn  unter  den 
Gewerben  finden  sich  auch  die  modernen  Verkehrs- 
betriebe der  Eisenbahn  und  der  Post  veranschaulicht. 
Und  man  erfährt :  Diese  Bronze  ist  ein  Geschenk  der 
sozialdemokratischen  Gewerkschaften  an  die  Stadt. 
Wo  in  der  Welt  haben  die  Arbeitervereinigungen  einer 
Weltstadt  solche  Stärke  und  so  viel  Selbstbewußtsein 
erlangt,  daß  sie  stolz  und  freigebig  ihrer  Stadt,  deren 
Bürger  sie  sind  und  die  sie  verwalten,  ein  solches  Ge- 
schenk stiften!  Wenn  einstens  die  Bronze  edel  ver- 
wittert sein  wird  und  ehrwürdig  in  der  Reife  der  Zeit 
schimmert,  dann  wird  man  sie  als  ein  Denkmal  preisen, 
das  eine  neue  Zeit  kündete,  die  Demokratie  der  Arbeit. 
Dänemark  ist  das  Vorland  der  proletarischen  Bürger- 
freiheit geworden,  und  das  ist  eine  Schutzwehr  der 
Verteidigung,  die  fester  und  unüberwindlicher  ist  als 
die  Hafenbefestigungen,  als  die  künstliche  Insel,  die 
man  in  das  Meer  baute,  um  die  Stadt  gegen  die  frem- 
den Panzerkolosse  zu  gürten. 

Bismarck  wollte  einst  der  Sozialdemokratie  eine 
Provinz  übergeben,  damit  sie  zeigen  könnte,  was  sie 
alles  nicht  vermöchte.  Nun,  in  Kopenhagen  hat  sich 


141 


das  sozialistische  Proletariat  ein  Reich  in  zäher  Arbeit 
und  tapferem  Kampfe  erobert,  und  dieses  Reich  blüht 
hell  und  fröhlich,  und  des  rüstigen  Schaffens  ist  kein 
Ende. 

Hier  herrscht  Freude  und  Freiheit.  Der  Fremde, 
der  aus  Deutschland  oder  gar  aus  Preußen  kommt, 
atmet  sofort  andere  Luft.  Er  sieht  auf  Schritt  und 
Tritt  Unerhörtes.  Er  fährt  in  der  Straßenbahn.  Vom 
Schaffner  empfängt  er  ein  winziges  Stückchen  Papier, 
das  er  aus  einer  Kapsel  losreißt.  Dann  bemerkt  er  er- 
schreckt, daß  der  Fahrgast  den  Wertzettel  nicht  nur 
wie  achtlos,  sondern  mit  einer  gewissen  demonstrativen 
Geste  wegwirft.  Was  wird  es  geben,  wenn  der  Kon- 
trolleur kommt!  Aber  auch  die  anderen  Kopen- 
hagener machen  es  so,  und  kein  Kontrolleur  naht, 
Schrecken  verbreitend.  Man  erkundigt  sich  nach  der 
unbegreiflichen  Erscheinung  und  man  vernimmt :  Ein- 
mal wollte  die  Straßenbahngesellschaft,  die  noch  in 
privaten  Händen  ist,  Kontrolleure  einführen.  Über 
dieses  Polizeimißtrauen  ergrimmte  die  Bürgerschaft. 
Man  verschwor  sich,  die  Scheine  als  Protest  fortzu- 
werfen. Es  geschah  so.  Die  Kontrolleure  fanden  nichts 
zu  kontrollieren.  Die  kapitalistische  Menschenverach- 
tung mußte  kapitulieren.  Seitdem  hat  man  das  Weg- 
werfen der  Papierschnitzcl  als  symbolische  Handlung 
beibehalten.  Was  sind  wir  deutschen  Europäer  doch 
beinahe  unsere  eigenen  Polizeihunde!  So  tief  ist  uns 
der  Gendarmengeist  ins  Blut  eingedrungen,  daß  wir 
es  fast  in  den  ersten  Tagen  als  ein  wenig  Unordnung 
empfanden,  wenn  man  bei  den  Kongreß- Veranstal- 
tungen die  Massen  frei  gewähren  ließ  und  ohne  stramme 
Reglementierung  alles  der  Selbstzucht,  Ruhe  und  Ge- 
duld überließ.  Freilich  sind  auch  die  dänischen  Schutz- 
leute reine  Zivilpersonen,  Mitglieder  einer  Gewerk- 
schaft, gleich  den  Post-  und  Eisenbahnbeamten.  Und 
wenn  du  von  den  freundlichen,  fast  durchweg  organi- 
sierten Kellnern  unbillige  Eile  verlangst,  sei  sicher,  daß 

142 


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du  eher  verhungerst,  als  daß  man  sich  deiner  Tyrannei 
demütig  fügt.  Selbst  der  Soldat  ist  in  diesem  Lande 
der  Blumen  und  Butter  ein  Mensch  wie  alle  anderen, 
und  feiert  die  Sozialdemokratie  ein  Fest,  so  kauft  er 
sich  ein  Abzeichen,  schmückt  seine  Brust  mit  ihm, 
statt  der  metallenen  Ehrenzeichen  des  Mordes,  be- 
gleitet den  Zug  und  mischt  sich  unter  die  Massen,  die 
den  Rednern  lauschen. 

•  * 

Im  Viertel  des  Königsschlosses,  das  ein  Sozialdemo- 
krat im  Reichstag  vertritt,  erhebt  sich  an  einer  vor- 
nehmen Straße  ein  schöner  Barockbau.  Hierher 
schweifte  einst  die  Sehnsucht  unserer  deutschen  Klas- 
siker, die  von  der  geistigen  und  materiellen  Not  der 
zweihundert  deutschen  Vaterländer  zu  Boden  gerissen 
wurden.  Von  dem  Kopenhagener  Grafen  Schimmel- 
mann, dem  dieser  durch  einen  Vorhof  von  dem  Ge- 
wühl der  Straße  aristokratisch  getrennte  Palast  ge- 
hörte, erwarteten  die  deutschen  Denker  und  Dichter 
Erlösung,  er  vermittelte  Schiller  eine  Pension,  für  die 
er  durch  seine  revolutionär  gedachten,  dann  vorsichtig 
ideologisch  entfärbten  Briefe  über  die  ästhetische  Er- 
ziehung des  Menschengeschlechts  dankte. 

Jetzt  ist  der  Palast  mit  roten  Fahnen  und  dem 
Motiv  des  blauen  Abzeichens  des  Kopenhagener  Kon- 
gresses (aus  der  königlichen  Porzellanmanufaktur)  we- 
niger geschmückt  als  etikettiert.  Und  die  proletari- 
schen Erben  der  deutschen  klassischen  Philosophie 
und  Kunst  sind  eine  Woche  lang  der  emsigen  Arbeit 
für  die  politische  und  soziale  Erziehung  des  Menschen- 
geschlechts hingegeben,  der  Taterziehung  durch  die 
Massen  selbst,  die  jetzt  verwirklichen,  was  bei  den 
Großen  jener  Zeit  nur  ein  sehnsüchtiger  Schall  blieb. 

Hier  singen  fünfhundert  Arbeiter  im  Verein  mit 
Künstlern  des  Hoftheaters  ein  Lied  der  Menschheit, 
ein  Volkerkantatc,  in  denen  die  Freiheitslieder  der 


M3 


Nationen  sich  zueinander  finden.  Hier  braust  der 
Chor  der  Internationale  vom  großen  letzten  Kampf 
um  die  ganze  Freiheit,  um  die  Erlösung  von  aller  Not 
und  allem  Druck. 

Fast  glaubt  man,  daß  in  den  Reden  und  Beschlüssen 
die  Geister  Schillerscher  Humanität,  deren  Kund- 
gebungen einst  in  diesem  Palast  enthusiastisch  emp- 
fangen sein  müssen,  auferstanden  sind,  aber  gar  nicht 
mehr  verträumt,  gar  nicht  mehr  weltflüchtig-hoff- 
nungslos, sondern  wirklich  und  wesenhaft,  tatenlustig 
und  voll  unbeugsamer  Tapferkeit,  sich  zu  bekennen, 
und  voll  glühender  Leidenschaft,  sich  zu  verwirklichen. 

Hier  ballt  Jaures  aus  Worten  und  Sätzen,  die  wie 
Gebirge  in  vulkanischer  Gärung  unmittelbar  zu  wer- 
den und  zu  wachsen  scheinen,  sichtbar  die  neue  Welt, 
die  in  seinem  großen  Herzen  und  hellen  Verstand 
bereits  Form  und  Gestalt  gewonnen  hat,  und  die  nur 
noch  darauf  wartet,  hinauszutreten  unter  die  Men- 
schen und  zu  werden,  zu  sein.  Hier  entfaltet  sich  die 
starke  Lebenspraxis,  die  freundlich  durchwärmte,  zu- 
gleich hartnäckige  und  klug  besonnene  Daseinskraft 
und  Volkstapferkeit  der  skandinavischen  Sozialdemo- 
kratie, die  diesmal  dem  Kongreß  das  Gepräge  verlieh; 
in  dieser  einfachen,  ruhig  zuversichtlichen,  Vertrauen 
und  Sicherheit  gewährenden  Politik  singt  etwas  wie 
die  Melodie  ihrer  Volksweisen.  Das  skandinavische 
Proletariat  scheint  niemals  ganz  vom  mütterlichen 
Boden  entwurzelt  zu  sein.  Man  möchte  glauben,  daß 
sie  ihr  ganzes  Parteiprogramm  in  dem  Rhythmus  ihres 
fruchtfrischen  Sozialistenmarsches  singen  könnten. 

Nirgends  können  sich  die  bedrückten  und  gehetzten 
Völker,  die  zertretenen  Klassen  so  geborgen  fühlen, 
wie  in  der  Freiheit  und  Sicherheit  dieses  kleinen 
Staates,  der  zuerst  auf  diesen  Inseln  ein  Reich  prole- 
tarischer Kultur  zu  schaffen  verheißt. 

* 

144 


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Blumengeschmückt  ziehen  die  Arbeiter  Kopenha- 
gens vom  reich  bewegten  Fremdenviertel  durch  die 
langen  Zeilen  der  einförmigen  Proletarierquartiere  in 
den  städtischen  Park.  Was  auf  der  Bronze  vor  dem 
Rathaus  sich  in  Sinnbildern  gestaltet,  ist  im  Zuge 
Mensch  geworden.  Alles  was  in  Kopenhagen  arbeitet, 
marschiert  im  Zuge.  Der  Bürgermeister  Jensen  geht 
an  der  Spitze,  über  ihm  wehen  die  Banner  der  Inter- 
nationale. Stattlich  leuchten  die  Postbeamten  in  ihren 
roten  Uniformen,  grüne  Zweige  des  Friedens  und  der 
Freude  wie  die  anderen  tragend.  Wie  die  Sonne  sich 
schon  senkt,  strömt  die  Menschenflut  zwischen  die 
alten  Buchen  und  Eichen  dieses  mächtigen  Waldes; 
im  Augenblick  scheint  sie  fest  zu  gerinnen.  Kopf  an 
Kopf,  unbeweglich.  Mitten  darin  ungezählte  Kinder- 
wagen, deren  blonde  Insassen  zwar  noch  nicht  sprechen 
können,  aber  doch  schon  neugierig  der  Kantate  lauschen, 
die  auf  der  größten  der  vier  Tribünen  ertönt ;  und  wenn 
sie  die  Worte  auch  noch  nicht  begreifen,  die  von  den 
Rednern  der  Internationale  zum  Menschenwald  ge- 
sprochen werden,  einst  werden  sie  wachsend  sie  er- 
leben. Die  politische  Demonstration  der  Völker  ver- 
wandelt sich  in  ein  nationales  Volksfest.  Bunte  Lam- 
pen schwingen  sich  von  Baum  zu  Baum.  Eine  Buden- 
stadt hat  sich  angesiedelt.  Aber  wer  den  Lärm  nicht 
liebt,  kann  in  ein  paar  Schritten  das  Dunkel  und  die 
Stille  des  unberührten  Waldes  erreichen  und  nach  den 
gedämpft  herüberwehenden  Tanzweisen  der  Musik- 
kapellen mit  seiner  Liebsten  tanzen.  Und  man  tanzt 
überall,  bis  tief  hinein  in  die  linde  feuchte  Nacht.  Für 
den  Fremden  wird  der  Park  zum  Irrgarten;  er  findet 
keinen  Ausweg.  Aber  ihn  verdrießen  die  vergeblichen 
Kreuz-  und  Querfahrten  nicht,  die  er  unternimmt, 
um  hinauszufinden ;  denn  er  verirrt  sich  nur  in  einem 
unendlichen  Lachen  des  Lebens. 

to  Bitner,  Gesammelte  Schritten.   II.  145 


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Die  Kopenhagener  sind  unermüdlich  in  der  Betäti- 
gung ihrer  Gastfreundschaft.  Sie  führte  uns  in  den 
Wald,  sie  lädt  uns  auch  auf  Schiffe.  In  kurzer  Küsten- 
fahrt wandert  der  Kongreß  in  das  liebliche  Seebad 
Skodsborg,  und  jeder  Teilnehmer  erhält  sogar  ein 
kleines  Zehrgeld  gespendet,  damit  er  nach  der  Sund- 
fahrt nicht  verhungert. 

Wir  fahren  bei  dem  Schiff  der  Zarin- Witwe  vorbei, 
das  im  Hafen  liegt.  Die  Matrosen  der  russischen  Yacht 
schwenken  die  weißen  Mützen,  und  von  unserem 
Schiff  ruft  es  im  Massenchor  hinüber:  Das  russische 
Proletariat,  Hurra,  hurra,  hurra.  Und  die  schimmern- 
den Gestalten  auf  dem  schwarz-goldenen  Schiff,  in 
dessen  Nähe  ein  russischer  Panzerkreuzer  wie  ein  un- 
heimliches graues  Gefängnis  lauert,  schwenken  noch 
eifriger  die  Mützen. 

Dann  verschwindet  die  Sonne  fast  unverständlich 
rasch.  Es  regnet,  wie  es  nur  in  Kopenhagen  regnen 
kann.  Aber  je  nasser  wir  Ungeschützten  auf  Deck  wer- 
den, desto  fröhlicher  ist  uns  zumut.  Wir  ziehen  uns 
alle  einen  Leinwandplan  über  die  Köpfe  und  unter 
diesem  improvisierten  Zeltdach  suchen  wir  mit  So- 
zialistenmarsch und  Internationale  den  Regen  singend 
zu  bezwingen. 

Die  Stimmen  der  Völker  wollen  auch  auf  der  nächt- 
lichen Rückfahrt  nicht  ruhen.  Die  Scheinwerfer,  die 
das  Wasser  nach  feindseligen  Eindringlingen  ängstlich 
und  emsig  absuchen,  lassen  die  dunkel  wogende  Masse 
auf  unseren  Fahrzeugen  als  unverdächtig  passieren. 
Wir  spenden  ja  freigebig  die  Parole,  die  alle  Pforten 
öffnet:  deutsche,  französische,  russische,  dänische, 
schwedische,  norwegische,  holländische  Freiheitslieder. 
Ich  weiß  nicht,  ob  man  auch  die  schöne  Weise:  „O 
Tannenbaum,  o  Tannenbaum,  wie  grün  sind  deine 
Blätter"  in  dieser  Sundnacht  gesungen  hat.  Jedenfalls 
wäre  auch  die  Melodie  im  Reigen  der  Freiheitslieder 
nicht  unziemlich  gewesen,  denn  der  Engländer  äußert 

146 


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sich  auf  die  Weise  musikalisch,  wenn  er  sein  revolu- 
tionäres Herz  ausströmen  will .  . .  Bei  den  Schluß- 
chören des  Kongresses  hatten  die  Engländer  wirklich 
„O  Tannenbaum"  stürmisch  gesungen,  just  zwischen 
dem  dänischen  Sozialistenmarsch  und  der  Internatio- 
nale. 

• 

In  dem  erschlaffend  heißen  Kongreßsaal  folgten  sich 
bis  in  den  späten  Abend  die  Reden  und  die  Abstimmun- 
gen. Die  Arbeit  muß  erledigt  werden.  Endlich  ist  auch 
die  letzte  Resolution  beschlossen  worden.  Wir  werden 
über  drei  Jahre  nach  Wien  eingeladen.  Ein  Zwischen- 
ruf träumt  schon  von  Moskau  als  einstigem  Kongreß- 
ort. Nach  New  York  winkt  der  Schlußredner  der 
Vereinigten  Staaten.  Vielleicht  wird  in  wenigen 
Jahren  Tokio,  Peking,  Neuseeland  uns  zu  Gaste  laden. 
Und  wenn  wir  in  allen  Hauptstädten  der  Welt  getagt 
haben,  wenn  uns  der  Kaiser  von  China  und  der  Schah 
von  Persien  seine  Grüße  entboten  haben  wird,  dann, 
ja  dann  wird  die  Entwicklung  so  weit  gediehen  sein, 
daß  wir  auch  —  nach  Preußen  gehen  dürfen,  nach 
Berlin,  und  Jaures  wird  in  der  Hauptstadt  des  Deut- 
schen Reiches  französisch  reden  dürfen.  Und  dann 
ist  das  Jahr  i  der  sozialen  Republik  . . . 

Im  Rathaus  zu  Kopenhagen  aber  genießen  wir  ein 
Vorspiel  der  sozialen  Republik.  Beim  Weinfest  zu 
Stuttgart  haben  wir  feierlich  vor  drei  Jahren  den  Be- 
ginn des  Zukunftsstaates  proklamiert.  In  Kopenhagen 
konnten  wir  uns  der  raschen  Fortschritte  des  Zu* 
kunftsstaates  freuen.  Unter  der  Devise  „Hummer  für 
das  Volk"  begann  das  Fest  und  es  endigte  in  rauschen- 
den Ansprachen  und  übermütigen  Tänzen  —  unter 
der  sorglichen,  unermüdlichen  Obhut  zweier  Stadt- 
häupter. Durch  diese  herrlichen  Räume  sind  die 
Monarchen  der  Welt  gelegentlich  geschritten,  die 
goldenen  Stühle,  auf  denen  sie  gesessen,  standen  für 


M7 


die  Internationale  bereit,  sie  waren  sogar  die  einzige 
Sitzgelegenheit,  die  man  uns  bot.  Und  unter  dem 
majestätischen  Baldachin  verzehrte  der  Schreiber  dieser 
Zeilen  eine  Pastete,  die  ein  Mundkoch  des  Königs 
gedichtet  ... 

Auf  dem  alten  Rathaus  Kopenhagens  steht  der 
Spruch,  mit  dem  das  jütische  Gesetzbuch  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  beginnt:  „Med  Lov  skal  man 
Land  bygge",  „Mit  dem  Gesetze  baut  man  Land". 
Die  Internationale,  die,  fast  sieben  Jahrhunderte 
später,  im  neuen  Rathaus  Kopenhagens  versammelt 
war,  ist  bei  dem  Werke,  den  alten  Spruch  des  Dänen- 
spiegels zum  Leben  zu  erwecken:  Mit  dem  Gesetze 
der  Vernunft  und  Menschlichkeit  bauen  wir  Land, 
alle  Sterblichen  für  alle. 

[September  1910.] 

• 

Nachschrift.  Auf  diesem  Kopenhagener  Rathausfest 
war  et,  daß  deutsche  Arbeitervertreter  plötzlich  J  au  res  vom 
Boden  emporhoben  und  den  massigen  Mann  auf  ihren  Armen 
zum  Rednerpult  trugen,  damit  er  zu  uns  spräche,  tjnd  er 
sprach!  Er  feierte  die  Schönheit  des  Raumes  und  die  Herr- 
lichkeit des  Festes.  Dann  entflammte  sein  mächtiges  Haupt 
visionär.  Er  sah  vor  sich  ein  ungeheures  Blutmeer  und  in 
seinen  dunklen  entsetzten  Worten  brandeten  die  purpurnen 
Wogen,  die  aus  den  geöffneten  Adern  des  Menschenleibes 
strömten.  Es  schien  gewitterhaft  schwer  und  schwarz  um  uns 
geworden.  Aber  er  beschwor  das  apokalyptische  Bild  und 
verhieß  in  gläubiger  Inbrunst  und  in  leuchtendem  Wort- 
gestalten, wenn  wir  durch  solch  Entsetzen  hindurchgegangen, 
daß  dann  der  Tag  unseres  Sieges  anbreche,  der  Morgen  der 
Erlösung  .  .  . 

Drei  Jahre  zuvor,  nach  dem  Stuttgarter  Kongreß, 
hatte  Jaures  mit  Albert  Thomas  mich  in  Nürnberg  besucht. 
Zwei  Tage  führte  ich  ihn  durch  die  Wunder  der  Stadt.  Er 
schwelgte.  Alles,  was  er  sah,  ward  ihm  sofort  zum  sinnvoll 
deutenden  Erlebniss.  Im  Germanischen  Museum  wanderte 

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er  wie  in  Verzückung,  vom  Grabmal  des  heiligen  Sebald 
mochte  er  nicht  eher  sich  trennen,  ab  bis  er  für  jedes  der 
lastig  irdischen  Bronze-Bübchen  einen  Spruch  gefunden. 
Dann  lief  er  in  alle  Läden,  stopfte  sich  die  Taschen  mit  An- 
denken und  ließ,  was  er  nicht  gleich  mitschleppen  konnte, 
ins  Hotel  bringen.  Endlich  saßen  wir  im  Goldnen  Posthorn, 
wo  einst  Dürer  gezecht,  und  jetzt  die  schöne  Wirtin,  die  in 
früheren  Jahren  auf  dem  Montmartre  gewirkt  hatte,  in  be- 
glücktem Stolz  dem  Gaste  huldigte. 

In  Wien  hätten  wir  uns  1914  wiedersehen  sollen.  Ich 
hatte  es  übernommen,  für  die  Wiener  Arbeiterzeitung  die 
Kongreß-Skizzen  zu  schreiben.  Als  ich  im  Juli  1914  die 
Wiener  Kollegen  brieflich  über  Einzelheiten  des  Dienstes  be- 
fragte, bekam  ich  die  dunkel  seltsame  kurze  Antwort,  ich 
möchte  acht  Tage  warten.  Ich  wartete  acht  Tage  und  es 
kam  —  die  Kriegserklärung  an  Serbien,  und  der  Blutstrom 
der  Kopenhagener  Vision  stürzte  zuerst  aus  dem  heißen 
Herzen  von  Jean  Jaures  .  .  . 

[September  191 8.] 


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Revolutionäre  Humanität. 

Zum  Gedächtnis  Herders. 

In  den  ersten  Tagen  des  20.  Jahrhunderts  drängen 
sich  die  Gedenktage,  da  vor  einem  Jahrhundert  die 
großen  Männer  des  klassischen  deutschen  Zeitalters 
starben,  die  aus  der  gewaltigen  Zeugungskraft  des 
revolutionären  Jahrhunderts  der  Aufklärung  Ge- 
borenen. Jetzt  plätschern  durch  die  Feuilleton- 
spalten der  bürgerlichen  Presse  die  pflichtgemäßen 
Gedenkartikel  auf  Herder,  der  in  Berlin  noch  nicht 
zu  den  Marmorehren  eines  Otto  des  Faulen  gelangt 
ist.  Im  Februar  1904  folgt  der  hundertjährige  Todes- 
tag Kants,  den  man  immerhin  schon  unter  dem 
Schweife  eines  friederizianischen  Pferdes  und  als 
Nebenfigur  Friedrich  Wilhelms  IL,  des  Wasser-  und 
Wundersüchtigen,  verewigt  hat.  Im  Mai  1905  wird 
man  gar  in  einer  pomphaften  Schillerfeier  jubilieren, 
und  Herr  Lauff  wird  sicher  zu  den  Orden-  und  Titel- 
verleihungen jenes  Nationalfestes  ein  Bühnenweihe- 
spiel  dichten. 

Dieser  Aufputz  der  heutigen  Bourgeois-Barbarei 
mit  den  toten  Göttern  aus  der  Frühzeit  des  deutschen 
Bürgertums  ist  nichts  wie  ein  leerer,  heuchlerischer 
und  verlogener  Ahnenkult.  Die  Herder,  Kant  und 
Schiller  sind  nicht  nur  vor  einem  Jahrhundert  ge- 
storb-n,  sie  sind  auch  ein  totes  Element  in  der  Bil- 
dung der  Klasse,  deren  Kulturberuf  sie  zu  schaffen 
und  zu  sichern  trachteten.  Kein  Hauch  des  klassischen 
deutschen  Geistes  lebt  in  der  heutigen  bürgerlichen 
Gesellschaft.  Man  ladet  die  Herren  noch  als  dekora- 
tive Tafelgäste  zu  den  öden  Schmausereien,  man  stellt 
sie  zu  ewigem  Nichtgebrauch  in  die  Bibliotheken,  aber 

155 


man  kennt  sie  nicht  und  man  versteht  ihre  Sprache 
nicht  mehr.  Wie  ein  Schwärm  von  Kranichen  seien 
die  deutschen  Denker  und  Dichter  über  das  deutsche 
Bürgertum  gezogen,  hat  Lassalle  gesagt.  Inzwischen 
ist  man  dazu  übergegangen,  die  Kraniche  einzulangen, 
ihnen  die  Flügel  zu  stutzen  und  sie  als  gezähmte 
Wundertiere  stolz  vorzuweisen.  Das  ist  das  schlimmste 
Geschick  der  Klassiker  in  dem  Zeitalter  der  kapitalisti- 
schen Bourgeoisie.  Weil  sie  immer  noch  unbequeme 
Mahner  einer  uneingelösten  Kulturschuld  und  trotzige 
Rebellen  gegen  die  heutige  Herrschaft  sind,  so  ver- 
stümmelt mar  sie,  raubt  ihnen  ihre  reinste  Kraft  und 
betrügt  sie  um  ihre  Mission,  damit  sie  nicht  allzu- 
deutlich ihre  innerliche  Zusammengehörigkeit  mit  der 
Weltanschauung  ihrer  Erben  durch  Wahlverwandt- 
schaft, des  sozialdemokratischen  Proletariats,  ver- 
raten. Indem  die  Bourgeoisie  ihre  Klassiker  feiert, 
übt  si„*  Verrat  an  ihnen,  sie  bricht  ihnen  das  Rückgrat 
ihres  Wollens  und  entseelt  ihr  heiligstes  Streben.  So 
werden  sie  zu  schönredn -Tischen  Spießgesellen  der 
heutigen  Bourgeoisie  erniedrigt,  gut  genug,  um  eine 
Sache  scheinbar  schmückend  zu  verteidigen,  die  zu 
bekämpfen  doch  ihre  Lebensaufgabe  gewesen  ist.  Das 
Feiern  der  deutschen  Klassiker  durch  das  offizielle 
Deutschland  ist  Leichenschändung,  und  es  muß  dar- 
um auch  hier  die  Aufgabe  der  Sozialdemokratie  sein, 
die  geistigen  Helden  des  humanen  Liberalismus  gegen 
seine  entarteten  Renommisten  zu  verteidigen. 

Ganz  besonders  leicht  ist  es,  Herder,  das  Opfer 
der  Zeitungsartikel  dieser  Tage,  den  reaktionären  Be- 
dürfnissen der  vom  Junkertum  und  dem  Klerikalis- 
mus regierten  Welt  anzupassen.  Der  leidenschaft- 
liche Prophet  des  revolutionären  Humanitätsideals 
wird  dergestalt  fähig,  als  gepriesener  Ahn  einer  Zeit 
mißbraucht  zu  werden,  deren  Ideal  der  profitable 
Abscheu  vor  der  Humanitätsduselei  ist.  Jedes  Wort 
Herders  trifft  den  Geist  der  herrschenden  Klassen  der 


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Gegenwart  ins  Herz,  dennoch  schmücken  sie  sich  mit 
Herder-Zitaten.  Auch  Herder  lebte  und  wirkte  in 
dem  erhabenen  glückseligen  Rausch  des  achtzehnten 
Jahrhunderts,  der  den  Himmel  auf  Erden  nahen  sah: 
auch  Herder  war  ein  Verkünder  und  Gläubiger  der 
großen  brüderlichen  Menschheitsrepublik  der  Freien 
und  Gleichen.  Aber  Graf  Bülow  wird  ihn  schwerlich 
fragen:  „Wie  denken  Sie  sich,  Herr  Pfarrer,  Ihren 
paradiesischen  Zukunftsstaat",  und  er  wird  nicht 
spotten:  „Jetzt  kommt  endlich  der  große  Moment, 
jetzt  wird  das  verschleierte  Bild  von  Sais  enthüllt. 
Ja,  Kuchen!  Wir  haben  von  Herrn  Herder  gar  nichts 
gehört  als  dieselbe  bandwurmartige  Kritik,  und  im 
übrigen  über  den  Zukunftstaat  blauen  Dunst."  Nein, 
der  deutsche  Kanzler  wird  höchst  gebildet  für  Herders 
hohe  Gedanken  schwärmen,  obwohl  dessen  tausend- 
jähriges Reich  doch  im  reinen  Äther  der  Idee  sich 
gründete,  während  der  Sozialismus  mit  allen  Wurzeln 
im  Erdreich  des  Wirklichen  und  Gegenwärtigen 
klammert,  wie  immer  er  nach  der  Sonne  wächst. 

Solcher  Mißbrauch  wird  dadurch  begünstigt,  daß 
Herder  schon  selbst  seine  politisch-revolutionären  An- 
schauungen aus  Rücksicht  auf  seine  Stellung  und  die 
literarische  Polizei  dicht  verhüllen  mußte.  Er  ver- 
dunkelte künstlich  seinen  Stil,  schränkte  seine  Mei- 
nungen durch  Einwürfe  ein,  entfernte  die  unmittel- 
baren Anspielungen  auf  seine  Zeit.  Deshalb  sind  die 
Schriften  politischer  Art,  so  wie  er  sie  herausgab, 
blasser,  orakelhafter,  unbestimmter  als  sie  ursprüng- 
lich geplant  waren.  Das  Materielle  der  Zeit  ist  aus 
ihnen  getilgt,  die  Tendenz  verflüchtigt.  Den  ganzen 
Herder  kennen  wir  erst  aus  der  großen  historisch- 
kritischen  Ausgabe,  die  Suphan  in  den  achtziger 
und  neunziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  her- 
ausgab und  der  das  Schicksal  beschieden  war,  spurlos 
vorüberzugehen.  In  dieser  Ausgabe  findet  sich  der 
ungedruckte  Nachlaß,  der  in  die  innere  Werkstatt 


155 


Herders  blicken  läßt,  wir  lernen  die  ursprünglichen 
Entwürfe  kennen,  die  dann  umgearbeitet  und  teils 
verkleidet,  teils  zerstückt  wurden.  In  den  unver- 
öffentlichten Niederschriften  sind  Sprache  und  Ge- 
danken weit  revolutionärer,  kräftiger,  auf  die  Zeit 
losgehend.  Das  gilt  in  erster  Linie  von  der  Schrift,  in 
der  Herder  ein  Denkmal  der  französischen  Revo- 
lution zu  setzen  gedachte,  von  den  „Briefen  zur 
Beförderung  der  Humanität".  Aber  auch  das 
wichtigste  politische  Kapitel  seines  Hauptwerkes 
„Ideen  zur  Philosophie  der  Geschichte  der 
Menschheit",  das  vierte  Kapitel  des  neunten 
Buches,  das  von  den  Regierungsformen  handelt,  ist 
wiederholt  umgearbeitet  worden,  ehe  es  genugsam 
entsäuert  war.  Herder  selbst  schreibt,  wie  er  das 
Kapitel  zu  Goethe,  „zum  Ministerialzensor",  ge- 
bracht habe,  der  es  „mit  der  tröstlichen  Nachricht" 
zurückgegeben  hätte,  „daß  füglich  kein  Wort  davon 
stehen  bleiben  könnte". 

Herder  gehört  zu  den  Deutschen,  die  —  wie  Kant, 
Bürger,  Klopstock,  Fichte  —  von  der  französischen 
Revolution  die  Erfüllung  der  eigenen  Hoffnungen, 
die  Befreiung  aus  der  kümmerlichen  Enge  ihres  Da- 
seins erwarteten.  Wenn  er  mit  liebevoller  Andacht 
und  feiner  Anpassungskunst  als  Erster  die  Poesien  der 
Völker,  auch  der  „wilden"  sammelte,  so  leitete  ihn 
bei  diesen  Bemühungen  nicht  bloß  und  auch  nicht 
zunächst  literarische  Neigung.  Ihm  war  die  Über- 
mittelung der  Volksliteraturen  ein  Beweis  für  die 
innerliche  Einheit  des  Menschengeschlechts  und  für 
die  enthusiastische  Möglichkeit  ihres  Aufstiegs  zu  dem 
Völkerbunde  der  Humanität.  Wie  Rousseau  ver- 
herrlichte er  die  Naturvölker  und  fluchte  dem  ver- 
heerenden Einfluß  der  kolonisierenden  Europäer.  Er 
führt  breit  den  Gedanken  aus,  daß  „der  unmensch- 
lichste Eroberungs-,  Bekehrungs-,  Mord-,  Betrugs-  und 
Raubgeist  der  Europäer  ausging,  die  ganze  Welt  zu 

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unterjochen  und  zu  plündern".  In  diesem  Bekenntnis 
zur  Natur  und  zum  Naturrecht  grollt  der  revolutionäre 
Geist  des  Jahrhunderts.  Schon  in  den  älteren  Nieder- 
schriften zu  den  „Ideen"  wird  das  Recht  auf  Freiheit 
in  schärfster  Form  gefordert:  „daß  Ein  freier  Mensch 
über  den  andern,  ein  Mutterkind  über  das  andere, 
aus  Naturgesetzen  Recht  und  Gewalt  habe:  dies  kann 
man  nicht  anders  als  durch  die  Faust  des  einen  oder 
die  gutherzige  Dummheit  des  andern  erklären,  wenn 
aus  ursprünglichen  Naturgesetzen  Rechenschaft  ge- 
geben werden  soll".  Hier  proklamiert  er  die  Freiheit 
vom  Herrscher,  vom  Staat.  Europas  Staaten  seien 
von  der  Kette  der  Tradition  am  feinsten  und  festesten 
umspannt,  so  daß  sie  „beinahe  keine  freie  Ansicht  er- 
lauben". Die  Staaten  sind  ihm  tote  Maschinen,  „in 
denen,  wie  im  Trojanischen  Pferde,  die  Helden  der 
Welt  stecken  und  dafür  kämpfen,  sich  einander  gegen- 
seitig stützen  und  wiewohl  sie  leblos  sind,  einander 
dennoch  unsterbliche  Dauer  erhalten  sollen  .  . .  Aber 
auch  gegen  diese  Maschinen-Ewigkeit  ist  die  alte 
Mutter,  Zeit,  mit  ihren  Blättern  der  Vorwelt  ein 
starker  Zeuge.  Sie  werden  sich  auflösen,  wie  alles  sich 
aufgelöst  hat  und  tragen  die  Ursachen  ihres  Verfalles 
schon  jetzt  in  ihrem  Innern.  Glücklich,  daß  Mensch- 
heit und  Staat  nicht  einerlei  ist ;  vielmehr  muß  jene  alle 
ihre  möglichen  Formen  durchgehen,  so  daß  nach  un- 
widerruflichen Gesetzen  der  Natur  wie  auf  den  er- 
müdenden Tag  die  Nacht  folgt,  sie  sich  auch  nach 
dem  Druck  wieder  erholet".  Und  Herder  ruft  den 
Menschen  an,  „in  welchem  Staat  und  Stande  er  sich 
auch  befindet":  „unterscheidet  den  Menschen  vom 
Untertan,  vom  Staatsmann,  vom  Despoten.  Nur  der 
Grundsatz  eines  Sklaven  ist's,  daß  der  Mensch  ein 
Tier  sei,  der  einen  Herrn  nötig  habe:  Alle  Entschlüsse 
seiner  Seele,  jede  edle  Tätigkeit  seines  Willens  ist  sein; 
und  sie  ist  nicht  mehr  sein,  sobald  er  eines  Herrn  be- 
dürfte".    Je  mehr  das  Volk  zur  Vernunft  komme, 

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„desto  mehr  muß  sich  die  Regierung  mildern  oder  zu- 
letzt verschwinden".  Mit  wildem  Hohn  schreibt  er: 
„Alle  christlichen  Regenten  nennen  sich  von  Gottes 
Gnaden  ....  Wir  haben  uns  also  mit  ihnen  auf 
Gnade  und  Ungnade  dem  Schicksal  in  die  Arme  ge- 
worfen, das  durch  sie  züchtigt  und  durch  sie  lohnet. 
Dies  hohe  Schicksal  gehet  seinen  Gang  fort,  und  da 
es  die  heilsamsten  Veränderungen  der  Welt  selten  von 
Thronen  herab  bewirket;  so  lasset  uns  die  Arme  des- 
selben sein  und  ausführen,  was  jene  versäumten, 
nämlich  Erzieher  der  Menschen  zu  sein  und  der  fort- 
gehenden Kette  der  Tradition  nichts  als  Edles  und 
Gutes  einzuknüpfen.  Dies  allein  ist  der  Menschheit 
wert  und  unsterblich."  Er  fürchtet,  daß  er  vielen  ein 
Rätsel  schreibe;  allein  die  Menschheit  in  ihren  Rechten 
und  Pflichten  bleibt  ewig  jung,  sie  erneuert  sich  in 
ihren  Gliedern,  sträubt  alte  Vorurteile  ab  und  lernt, 
wenn  auch  wider  Willen,  Vernunft  und  Wahrheit." 

Schon  1780  hatte  Herder  in  einem  Gespräche  mit 
seinem  Schweizer  Freunde  Georg  Müller,  dem  Bruder 
des  Historikers,  über  den  Druck  geklagt,  unter  dem 
die  Menschheit  seufze,  über  Despotismus,  Knecht- 
schaft der  Gewissen  und  Geister;  „und  wie  so  allent- 
halben ohne  Widerspruch  die  heiligsten  Rechte  der 
Menschen  für  nichts  geachtet  und  zertreten  werden". 
„Auch  in  dem  aufgeklärten  Preußen  herrscht  die 
größte  Sklaverei.  Die  Menschheit  seufzt  vergeblich, 
bis  ihr  Erretter  kommt."  „Er  ist  dem  Adel  schreck- 
lich feind,"  berichtet  G.  Müller,  „weil  er  der  Men- 
schengleichheit und  allen  Grundsätzen  des  Christen- 
tums entgegen  und  ein  Monument  der  menschlichen 
Dummheit  ist."  1785  hatte  Herder  in  einem  Brief 
über  seine  Unfreiheit  zornige  Klage  erhoben.  „Die 
Rücksichten  auf  die  Regierungen  placken  mich  —  (bei 
der  Ausarbeitung  seiner  , Ideen4)  —  auf  unerhörte 
Weise.  Lügen  will  und  kann  ich  nicht,  darum  wende 
und  drehe  ich  mich ;  und  ihr  Faden  durch  die  ganze 

«5« 


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Geschichte  bleibt  doch,  was  er  ist,  für  die  beeinträch- 
tigte Menschheit." 

Bei  solchen  „Ideen"  ist  es  verständlich,  daß  Herder 
in  dem  Ausbruch  der  französischen  Revolution  den 
Anfang  der  Verwirklichung  des  Weltreiches  der  Hu- 
manität sah.  Mit  Goethe,  der  die  Revolution  mit  er- 
staunten Philisteraugen  ansah,  kam  es  damals  zum 
Bruch.  Die  revolutionären  „Familiengesinnungen" 
des  Ehepaares  Herder  scheinen  auf  dieses  Zerwürfnis 
nicht  ohne  Einfluß  gewesen  zu  sein.  Den  „Vier- 
zehnten Julius",  das  Nationalfest  auf  dem  Marsfeld 
1790,  feiert  Herder  enthusiastisch: 

Rings  um  den  hohen  Altar  siehst  du  die  Franken  zu 

Brüdern 

Und  zu  Menschen  sich  weih'n,  göttliches,  heiliges 

Fest! 

Der  Regen,  der  damals  herabströmte,  ist  ihm  die  Weihe 
„zum  neuen  Geschlecht  mit  der  Taufe  der  Mensch- 
heit". Später  freilich,  als  Ludwig  XVI.  hingerichtet 
wurde,  verlor  auch  Herder  den  Kopf.  Er  glaubte  die 
Humanität  von  den  Franzosen  verraten  und  droht  den 
„Neufranken"  mit  der  Rache  des  „Königs  der  Kö- 
nige". 

Im  Begeisterungssturm  der  Revolution  aber  ent- 
wirft Herder  seine  „Briefe  zur  Beförderung  der  Hu- 
manität". Der  erste  Entwurf  (1792),  der  am  lebendig- 
sten in  die  soziale  und  politische  Gegenwart  vorge- 
drungen zu  sein  scheint,  ist  bis  auf  wenige  Reste  ver- 
loren gegangen.  Zwischen  diesem  Manuskripte  und 
den  schließlich  veröffentlichten,  stark  abgedämpften 
Briefen  liegen  die  unveröffentlichten  Skizzen,  die  den 
Geist  des  revolutionären  Humanitätsideals  scharf  prä- 
gen. Der  Zwang  der  Zensur  nötigte  ihn  zu  immer  er- 
neuten Milderungen  und  Verhüllungen.  Trotzdem 
wurden  auch  die  schließlich  veröffentlichten  Huma- 
nitätsbriefe in  Wien  verboten:  „Ich  werde  aber  des- 


i59 


halb  keine  Briefe  zur  Beförderung  der  Bestialität 
schreiben",  erklärte  Herder. 

In  den  Humanitätsbriefen  entwickelt  Herder  seine 
Religion  der  Humanität.  Er  nennt  sich  selbst  einen 
„uralten  apostolischen  Christ",  der  „glaube  bis  zum 
Aberglauben,  eine  Gemeine  (Gemeinde)  der  Heiligen 
auf  Erden,  d.  i.  eine  Versammlung  von  Gemütern,  die 
im  Innern  sowohl  als  in  tätiger  Wirkung  für  und  mit- 
einander Eins  sind". 

Humanität,  das  Fremdwort,  nicht  Menschlichkeit, 
der  deutsche  Ausdruck,  ist  das  allumfassende  Ideal 
Herders.   Er  selbst  lehnt  das  Wort  „Menschlichkeit" 
ab,  um  nicht  das  Mißverständnis  weichlich  christlicher 
Barmherzigkeit  zu  erwecken,  die  auch  Kant  als  eine 
entwürdigende  Zumutung  für  den  Menschen  be- 
zeichnet hat.    „Wir  gehören"  —  schreibt  Herder  in 
dem  27.  seiner  Briefe  zur  Beförderung  der  Humanität 
1794  —  >>zur  Menschheit.    Leider  aber  hat  man  in 
unsrer  Sprache  dem  Wort  Mensch  und  noch  mehr  dem 
barmherzigen  Wort  Menschlichkeit  so  oft  eine 
Nebenbedeutung  von  Niedrigkeit,  Schwäche  und  fal- 
schem Mitleid  angehängt  ....     Kein  Vernünftiger 
billigt  es,  daß  man  den  Charakter  des  Geschlechts,  zu 
dem  wir  gehören,  so  barbarisch  hinabgesetzt  hat." 
Auch  von  „Menschenliebe"  will  Herder  nichts  wissen: 
„Das  schöne  Wort  Menschenliebe  ist  so  trivial  ge- 
worden, daß  man  meistens  die  Menschen  liebt,  um 
keinen  unter  den  Menschen  wirksam  zu  lieben." 
Mit  dem  Ideal  der  Humanität  aber  verpflichtet  sich 
der  Weltbürger  zum  Kampf,  zur  Auflehnung,  zur 
Niederwerfung  aller  Mächte  der  Barbarei.  „Humani- 
tät ist  der  Charakter  unsres  Geschlechts;  er  ist  uns 
aber  nur  in  Anlagen  angeboren  und  nicht  uns  eigent- 
lich angebildet  worden.  Wir  bringen  ihn  nicht  fertig 
auf  die  Welt  mit ;  auf  der  Welt  aber  soll  er  als  das  Ziel 
unsres  Bestrebens,  die  Summe  unsrer  Übungen,  unser 
sein;  denn  eine  Angelität  im  Menschen  kennen  wir 

160 


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nicht,  und  wenn  der  Dämon,  der  uns  regiert,  kein 
humaner  Dämon  ist,  werden  wir  Plagegeister  der 
Menschen.  Das  Göttliche  in  unserem  Geschlecht  ist 
also  Bildung  zur  Humanität;  alle  großen  und 
guten  Menschen,  Gesetzgeber,  Erfinder,  Philosophen, 
Dichter,  Künstler,  jeder  edle  Mensch  in  seinem  Stande, 
bei  der  Erziehung  seiner  Kinder,  bei  der  Beobachtung 
seiner  Pflichten,  durch  Beispiel,  Werk,  Institut  und 
Lehre  hat  dazu  mitgeholfen.  Humanität  ist  der  Schatz 
und  die  Ausbeute  aller  menschlichen  Bemühungen, 
gleichsam  die  Kunst  unsres  Geschlechtes.  Die  Bil- 
dung zu  ihr  ist  ein  Werk,  das  unablässig  fortgesetzt 
werden  muß;  oder  wir  sinken,  höhere  und  niedere 
Stände,  zur  rohen  Tierheit,  zur  Brutalität  zurück." 
(Brief  zur  Beförderung  der  Humanität  Nr.  27.) 

Der  Humanität  widerspricht  jene  zerknirschte  An- 
schauung eines  falschen  Christentums  von  dem  irdi- 
schen Jammertal:  „Nur  dunkle  barbarische  Zeiten 
haben  den  großen  Lehnsherren  des  Bösen,  dessen  an- 
gebornes  Werk  wir  sein,  von  dem  uns  Gebräuche, 
Büßungen  und  Geschenke  zwar  nicht  wirklich,  aber 
Gewandsweise  befreien  könnten,  der  Stupidität 
und  Brutalität  antichristlich  wiedergegeben  .  .  .  Über 
der  Erde  sehen  wir  von  dieser  massiven  Vorhölle  nichts. 
Wo  Böses  ist,  ist  die  Ursache  des  Bösen  Unart  unsres 
Geschlechts,  nicht  seine  Natur  und  Art  . .  .  Offenbar 
sehen  wir,  daß  wir  dazu  da  sind,  dieses  Reich  der  Nacht 
zu  zerstören,  in  dem  niemand  es  für  uns  tun  kann  und 
soll.  .  .  .  Es  ist  Zweck  unsres  Geschlechts,  der  End- 
punkt unsrer  Bestimmung,  uns  dieser  Unart  zu  ent- 
laden. Das  ganze  Universum  treibt,  wenn  uns  die 
Früchte  des  Werks  nicht  locken,  nur  Nesseln  und 
Dornen.  —  Was  soll  alle  Verzweiflung  aber  unter 
einem  nie  abzuwerfenden  Joch?  Wozu  der  Traum 
einer  von  der  Wurzel  aus  unwiederbringlichen  Mensch- 
heit ?  Keine  Hypothese  kann  uns  wert  sein,  die  unser 
Geschlecht  aus  seinem  Standort  rückt,  die  es  bald  an 


11    Ei su er,  Gesammelte  Schriften.  II 


die  Stelle  der  gefallenen  Engel  stellt,  bald  unter  ihre 
Vormundschaft  und  Oberherrschaft  erniedrigt.  Die 
gefallenen  Engel  kennen  wir  nicht,  aber  uns  kennen 
wir,  und  wissen,  wann  und  warum  wir  gefallen  sind? 
fallen  und  fallen  werden  ?  —  Das  Dasein  jedes  Men- 
schen ist  mit  seinem  ganzen  Geschlecht  verwebet. 
Sind  unsre  Begriffe  über  unsre  Bestimmung  nicht  rein ; 
was  soll  diese  und  jene  kleine  Verbesserung  ?  Sehet  ihr 
nicht,  daß  dieser  Kranke  in  verpesteter  Luft  liegt  ? 
Rettet  ihn  aus  derselben  und  er  wird  von  selbst,  ge- 
nesen. Beim  Radikalübel  greift  die  Wurzeln  an;  sie 
tragen  den  Baum  mit  Gipfeln  und  Zweigen.  Das 
Werk  ist  groß,  es  soll  aber  auch  so  lange  fortgesetzt 
werden,  als  die  Menschheit  dauert;  es  ist  das  eigenste 
und  einzige,  das  belohnendste  und  fröhlichste  Ge- 
schäft unsres  Geschlechts."  So  verkündet  Herder  im 
123.  seiner  Briefe  zur  Beorderung  der  Humanität 
(1797)  gegenüber  dem  listigen  und  perfiden  Fatalis- 
mus der  theologischen  Erbsünde  die  revolutionäre 
Humanität  der  Menschheit,  die  ihr  Schicksal  mutig 
in  die  Hand  nimmt  und  die  Knechtschaft  über 
kommener  Übel  mit  der  Wurzel  ausreißt. 

Indessen  das  sind  doch  immer  nui  revolutionäre 
Andeutungen  und  Anspielungen,  die  in  die  zensur- 
fähige Schrift  hinübergerettet  sind.  In  den  unver- 
öffentlichten Niederschriften  aber  greift  er  mit  un- 
gestümer Leidenschaft  unmittelbar  die  Feinde  der 
Humanität  an.  Er  ruft  dem  absoluten  Herrscher 
zu:  „Ist's  denn  in  aller  Welt  Ehre,  seinen  Namen  ewig 
gemißbraucht  und  kompromittiert  zu  sehen?  Da  ja 
kein  absoluter  Landesherr  wissen  kann,  was  in  seinem 
Namen  geschieht,  ja  nicht  immer,  was  er  selbst  unter- 
zeichnet. Welcher  ehrliche  Mann  gibt  nun  seinen 
Namen  einem  Dummkopf  oder  Bösewicht  her,  daß 
er  damit  schalte?  Und  deckt  nicht  der  Name  des 
Landesherrn  in  absoluten  Staaten  das  ganze  Labyrinth 
Seelenloser  oder  verdorbener  Gänge  und  Unordnung  ?" 

162 


4 


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Keine  privilegierten  Klassen!  „Nur  in  werk- 
tätiger, gegenseitiger  Gemeinschaft  lebt  und  gedeihet 
das  Menschengeschlecht.  Alle  abgesonderten  Glieder 
sind  tote  Glieder;  wen  Geburt  oder  Stand  über  die 
Sphäre  der  Menschen  heben,  hat  kein  Menschenblut 
mehr  ...  in  seinen  Adern." 

Herder  höhnt  das  Erbrecht  des  Verdienstes :  „Wann, 
auch  nach  dem  seltensten  Verdienst,  das  große  In- 
dividuum fortan  sich  einbildete,  daß  es  auf  ewige 
Zeiten  hinab  in  seiner  ganzen  Abkunft,  samt  Dienern, 
Rossen  und  Hunden,  dieses  ehemalige  Verdienst 
repräsentiere,  darstelle  und  in  sich  vereine,  so  wäre 
dies  eine  seltsame  Einbildung.  Wir  müssen  es  dem 
Geist  der  Zeit  danken,  daß  er  diese  kranken  und 
kränkelnden  Einbildungen  mehr  und  mehr  zerstöret, 
dergestalt  zerstöret,  daß,  solange  es  in  Europa  ver- 
ständige und  herzhafte  Männer  gibt,  solche  in  alter 
Art  und  Kunst  nie  wieder  aufkommen  werden." 

Ja,  Herder  droht  auch  mit  der  deutschen  Revo- 
lution: „Ans  Volk,  meine  Freunde,  wollen  wir  eher 
mit  Bedauern  und  Wehmut  als  mit  Stolz  und  Zu- 
versicht denken.  Lange  Jahrhunderte  ist's  unerzogen 
geblieben,  getäuscht,  gedrückt  und  vernachlässigt 
worden;  es  schläft  im  Todesschlafe,  oder  wenn's  im 
Fieber  erwachte,  wer  müßte  seine  Fieberwut  nicht 
schreckhaft  fürchten?" 

Er  geißelt  die  Torheit  der  Kriege:  „Schuld- 
lose, fleißige  Völker  werden  für  die  Pflicht  und  Ehre 
danken,  andre  Schuldlose,  ruhige,  fleißige  Völker  zu 
würgen,  weil  der  Regent  oder  sein  Minister  verlockt 
ist,  einen  neuen  Titel,  ein  Stück  Landes  zu  denen 
Ländern,  die  er  schon  nicht  regieren  kann,  mehr  zu 
erhalten.  Es  wird  Europa  abscheulich  vorkommen,  für 
einige  Familien,  die  das  Regierungsgeschäft  der  Länder 
als  einen  genealogischen  Pachtbesitz  ansehen,  sich  zu 
verbluten  oder  in  Hospitälern  oder  Kasernen  elend 
zu  verwelken." 

«•  163 


Und  während  Herder  sich  gegen  die  Intervention 
Deutschlands  zugunsten  der  gestürzten  französischen 
Herrschaft  wendet,  —  „Meines  Wissens  ist  kein 
Deutscher  ein  geborner  Franzose,  der  Verpflichtung 
und  Beruf  hätte,  für  die  alte  Ehre  des  Königs  der 
Franzosen  auch  nur  einen  Atem  zu  verlieren"  — 
heischt  er  die  Aufmerksamkeit  für  die  Taten  der 
französischen  Revolution:  der  Adel,  so  spottet  Herder 
folgte  ja  sonst  der  französischen  Mode  in  Begriffen, 
Ausdruck,  Einrichtung  und  Kleidern;  „warum  wollte 
er  jetzt  diese  aufgeklärteste,  geschmackvollste  Nation, 
in  der  wichtigsten  Sache,  die  sie  je  unternommen,  denn 
nicht  wenigstens  anhören  und  prüfen?  Die  Kon- 
stitution, an  der  die  Nationalversammlung  arbeitet, 
ist  ein  unaufgelöstes,  ein  noch  nicht  vorgekommenes 
Problem;  mögen  die,  die  es  auflösen  wollen,  ihrem 
Geschäft  unterliegen,  oder  mögen  sie  es  besiegen, 
der  Kampf,  der  Sieg,  selbst  die  Niederlage 
unter  dem  verwickeltsten,  schwersten  Problem  der 
Menschheit,  ist  für  alles,  was  nicht  Tier  sein  will,  doch 
wohl  der  Aufmerksamkeit  wert?" 

Auch  gegen  den  Mißbrauch  der  Religion  eifert  er: 
„Eine  Religion,  die  dem  Staate  dienen  soll,  wie  es 
ihm  gefällt,  wird  eine  kuppelnde  Heuchlerin." 

Es  ist  ein  weiter  Weg  vorwärts  von  der  edlen,  zur 
revolutionären  Tat  bereiten  Schwärmerei  Herders  für 
das  Reich  der  Humanität  bis  zu  der  reifen  Kraft  der 
sozialdemokratischen  Bewegung  des  Proletariats.  Aber 
noch  weiter  ist  der  Weg  rückwärts,  den  die  herr- 
schenden Klassen  Deutschlands  hinter  die  Gedanken- 
welt Herderscher  Humanität  zurückgegangen  sind. 
Die  Rebarbarisierung  Deutschlands,  von  der  ein  letzter 
Epigone  des  klassischen  Liberalismus,  Mommsen,  ge- 
sprochen hat,  ist  vollendet. 

[Dezember  1903.] 


164 


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Kant. 

Dieser  Aufsatz  erschien  Februar  1904  zum 
hundertsten  Todestag  Kants  im  Vorwärts.  Es 
war  ein  Versuch,  die  Synthese  Marx-Hegel  in 
die  Verbindung  Marx-Kant  aufzulösen.  Denn 
sachlich  gehört  Marx  zu  Kant,  in  die  Reihe  der 
großen  Aufklärer  des  18.  Jahrhunderts,  wie  tief 
und  entscheidend  er  immer  —  viel  stärker  als 
man  gemeinhin  annimmt  —  nicht  nur  in  der 
Methode  des  Denkens,  sondern  auch  in  dem 
ganzen  Stil  seiner  Geistigkeit  von  Hegel  beein- 
flußt ist. 

I. 

Der  ge'waltige  Lebensstrom  der  Aufklärung,  der, 
den  Aufstieg  des  Bürgertums  begleitend,  in  der  zweiten 
Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  von  England  über  Frank- 
reich nach  Deutschland  braust,  flutet  in  der  franzö- 
sischen Revolution  von  der  Philosophie  zur  Tat  und 
findet,  zum  Ozean  sich  weitend,  in  dem  Kantischen 
System  seine  wissenschaftliche  Vertiefung  und  Voll- 
endung. Die  freie  Vernunft,  die  in  Deutschland  vor 
Kant  zum  spießbürgerlichen  Geschwätz  einer  nutz- 
losen Verständigkeit  verflachte,  wird  zur  Schöpferin 
einer  in  alle  Fernen  und  Tiefen  greifenden  Welt- 
anschauung. Die  platte  Schulweisheit  unter  sich 
lassend,  meisterte  sie  auch  die  Dinge  zwischen  Himmel 
und  Erde,  nachdem  sie  den  Himmel  und  die  Erde  in 
universaler  Forschung  das  gesamte  zugängliche  Einzel- 
wissen erfassend  und  im  Denken  zusammenfügend  aus 
dem  Chaos  irrenden  Phantasierens  und  ideenlosen 
Nichtsehens  der  Probleme  in  das  Licht  der  strengen, 
einheitlichen  und  gesetzmäßigen  Wissenschaft  ge- 
hoben hatte. 


165 


Kant  ging  in  der  Naturwissenschaft  von  Newton, 
der  dem  Weltall  seine  Gesetze  fand,  in  der  Wissen- 
schaft der  Menschheit  und  ihrer  Bestimmung  in  der 
Gesellschaft  von  Rousseau,  dem  Propheten  der  fran- 
zösischen Revolution,  aus.  Natur  und  Menschheit 
band  er  in  einem  System,  das  die  Kausalität  der  starr 
mechanischen  Notwendigkeit  in  der  Natur  mit  der 
ehernen  Notwendigkeit  einer  Kulturfreiheit  ver- 
einigte. Und  wenn  er  nicht  alle  wissenschaftliche 
Wahrheit  erschöpfte  und  erschöpfen  wollte  —  Kant 
zeigte  gerade  den  Aberwitz  solchen  Beginnens  — , 
so  wies  er  doch  den  einzig  möglichen  Weg  zur  Wissen- 
schaft, die,  selbst  in  ewigem  Flusse,  niemals  vollendet, 
immer  zur  Vollendung  strebend,  in  der  stolzen  Arbeit 
der  Menschengeschlechter  aufwärts  steigt. 

Kants  Werk  selbst  aber  wurde  in  tragischem  Ge- 
schick nach  kurzem  Weltwirken  —  ohne  daß  die  Zeit- 
genossen es  ganz  auszuschöpfen  vermochten  —  tief 
verschüttet.  Die  im  19.  Jahrhundert  aufrückende 
Reaktion  begrub  ihn.  Nicht  nur,  daß  er  nicht  zum 
Führer  der  revolutionären  Tat  ward  —  ausgenommen 
die  schwachen  Spuren  in  der  sogenannten  preußischen 
Wiedergeburt  nach  Jena  —  auch  sein  Gedankenwerk 
wurde  vergessen  oder  verstümmelt.  Die  Reaktion 
konnte  ihn  nicht  ertragen;  so  entstellte  sie  ihn.  Und 
da  dieser  Denker  —  nicht  ohne  die  eigne  Schuld  der 
Konzessionen  an  die  Unfreiheit  seiner  Zeit  —  die  herr- 
schenden Wahngedanken  durch  Umdeutung  zu  be- 
seitigen liebte,  so  konnte  die  Umdeutung  zur  Quelle 
von  Mißdeutungen  werden,  die  sich  bis  zum  heutigen 
Tage  durch  die  vulgären  Lehrbücher  schleppen  und 
ihrerseits  die  Schriftsteller  verführen,  die  aus  solchen 
abgeleiteten  Quellen  schöpfen. 

Kant  hat  seine  wissenschaftliche  Methode,  die  er 
die  „transzendentale"  nannte  —  die  vom  Denken  zur 
Naturwelt  der  Erfahrung  „hinausgehende"  —  in  das 
schlichte  Epigramm  negativ  zusammengefaßt:  „Ge- 

166 


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danken  ohne  Inhalt  sind  leer,  Anschauungen  ohne  Be- 
griffe sind  blind."  Mit  diesem  Schlagsatz  wies  er  ein- 
mal die  Kopfspinnen  ab,  die  aus  dem  Hirne  nach  der 
formalen  Logik  äußerlich  zusammenstimmende  Sy- 
steme wirrten,  leere  Phantasien  gaukelten,  mit  dem 
Vorteil,  daß  sie  die  unsägliche  Mühe  der  im  Laufe  der 
Jahrtausende  gewonnenen  wissenschaftlichen  Ergeb- 
nisse der  millionenfältigen  Experimente  und  der  ge- 
duldigen, vorsichtigen  und  bescheidenen  Beobachtung 
ersparten.  Andererseits  verwarf  er  mit  seinem  Worte 
die  in  dem  Chaos  zufälliger  „Erfahrungen"  ohne  Lei- 
tung taumelnden  und  willkürlich  Fetzen  raffenden 
Vertreter  der  „reinen  Empirie",  jenen  faulen  und 
flachen  Opportunismus  des  Denkens,  der  sich  von  den 
Dingen  treiben  läßt,  ohne  sie  systematisch  zu  be- 
herrschen. 

Was  nach  Kant  kam,  war  ein  wildes  Spiel  solcher 
Leeren  und  Blinden :  Eine  in  Nebeln  fiebernde  Natur- 
und  eine  mit  „Ideen"  prunkende  Geschichtsphilo- 
sophie; daneben  die  Verächter  der  Theorie,  die  Prak- 
tiker, die  Regenwürmer  gruben  und  mit  diesem  Tun 
sich  brüsteten.  Es  entstand  jener  konservative  Histo- 
rismus, der  die  Vergangenheit  nur  zu  dem  Zweck  auf- 
leben ließ,  um  zu  beweisen,  daß  man  gerade  unter 
diesen  oder  jenen  Königen  und  Ministern  den  Höchst- 
grad menschlicher  Vollendung  erreicht:  Eine  epide- 
mische Geistesschwäche,  die  noch  heute  von  den  Ver- 
fechtern der  herrschenden  Ordnung  gegen  den  revo- 
lutionären „Rationalismus"  ausgespielt  wird.  So 
feiert  z.  B.  ein  viel  gerühmter  königlich  sächsischer 
Philosoph  unserer  Tage  gegenüber  einer  „abstrakten 
Nützlichkeitstheorie"  den  „organisch  gewordenen,  in 
den  Lebensanschauungen  und  Sitten  einer  Volks- 
gemeinschaft wurzelnden  Staat,  der  nicht  die  geringste 
Bürgschaft  für  das  dort  vergeblich  erstrebte  Wohl  der 
Gesamtheit  in  der  Stetigkeit  und  Sicherheit  seiner 
Entwicklung  erblicken  darf".  Und  diese  „organische" 


167 


Entwicklung,  deren  Hauptsache  die  Langsamkeit  ist  — 
gipfelt  dann  in  der  weisen  Vorsehung  des  angestammten 
Herrscherhauses,  „dessen  Träger,  durch  seine  Geburt 
schon  über  allem  Streit  der  Parteien  und  Sonder- 
interessen erhoben,  in  seiner  Person  symbolisch  die 
Gesamtpersönlichkeit  des  Staates  zum  Ausdruck  bringt 
und  in  seinem  Streben  und  Wollen  tatsächlich  die 
Zwecke  der  Gemeinschaft  zu  seinem  eignen  Lebens- 
zweck gemacht  hat**. 

Es  ist  das  weltgeschichtliche  Verdienst  des  wissen- 
schaftlichen Sozialismus,  es  ist  das  Werk  von  Karl 
Marx,  daß  er  gegenüber  der  leeren  Ideologie  seiner 
Zeit  und  der  blinden  Empirie  wieder  in  die  Bahn  der 
großen  klassischen  Tradition  einlenkt,  die  allein  zur 
Wissenschaft  führt.  Wenn  Kant  seine  „Kritiken** 
eigentlich  nur  als  methodischen  Rahmen  gedacht  hat, 
in  den  alle  Einzelwissenschaften  einzuarbeiten  seien, 
so  füllt  Marx  diesen  Rahmen  auf  dem  Gebiete  der 
Geschichte  und  Ökonomie,  Kants  geringe  Andeutungen 
dieser  Art  zugleich  weit  überholend.  Er  bannte  die 
ungeheure  Mannigfaltigkeit  der  geschichtlichen  Er- 
fahrung in  dem  Granitbau  eines  einheitlichen  Systems, 
das  nicht  „Ideen**  zusammenflicht  und  auch  nicht 
bloße  „Tatsachen**  aneinander  reiht,  sondern  die  im 
Innersten  revolutionäre  Gesetzmäßigkeit  des  wirk- 
lichen Geschehens  erkennt,  deutet  und  gestaltet.  Und 
glücklicher  als  der  in  dem  engen  Deutschland  des 
18.  Jahrhunderts  eingepferchte  Denker  wurde  der 
Theoretiker  der  Geschichte  und  Wirtschaft  unmittel- 
bar zum  praktischen  Schöpfer  einer  geschichtlichen 
Bewegung  von  einer  revolutionären  Kraft  und  welt- 
umspannenden Bedeutung,  die  ihresgleichen  in  der 
Vergangenheit  nicht  hat.  Neben  Kant  tritt  Marx,  und 
der  eherne  Gleichklang  der  beiden  Namen  mag  diesem 
Zusammenhang  ein  Symbol  sein. 

168 


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Kants  zugleich  nüchternes  und  erhabenes  Geschäft 
ist  es,  die  Kriterien,  Bedingungen,  Schöpfungsmittel, 
Grenzen  wissenschaftlicher  Erkenntnis  zu  finden. 
Was  ist  Wissenschaft  ?  Wie  ist  Wissenschaft  möglich  f 
Die  Frage  beantwortet  er,  indem  er  das  ganze  Gerüst 
des  menschlichen  Denkens  aufbaut,  so  wie  es  sich 
in  der  Geschichte  der  Wissenschaft  andeutet.  Er 
schlichtet  den  Streit  zwischen  Denken  und  Erfahrung, 
zwischen  Geist  und  Materie,  Theorie  und  Praxis,  Ver- 
nunft und  Sinnlichkeit.  An  dem  Modell  der  Wissen- 
schaften, die  absolute  Gewißheit  gewähren,  prüft  er 
die  Leistungsfähigkeit  der  Vernunft,  scheidet  er  die 
Gebiete  ihrer  Betätigung,  weist  er  die  Wege,  die  zur 
Wahrheit  führen.  Er  taucht  in  die  Urelemente  der 
Erkenntnis  und  erobert  von  hier  aus  die  Natur  in  ihrer 
Einheit. 

Die  erkenntniskritische  Weisheit  Kants  war  für  die 
Entwicklung  der  Wissenschaften  von  unermeßlicher 
Bedeutung,  und  ihre  Geltung  wird  erst  erschöpft  sein, 
wenn  sie  als  selbstverständlicher  Besitz  alle  Disziplinen 
durchdrungen  hat.  Das  Erwachen  von  den  Träume- 
reien der  spekulativen  Naturmystik  im  19.  Jahrhundert 
wird  durch  die  Besinnung  auf  Kant  ermöglicht.  Kein 
Mathematiker,  der  zu  den  letzten  Fragen  seiner 
Wissenschaft  vordringt,  der  Kant  nicht  zu  befragen 
hätte.  Die  Mechanik,  die  gerade  jetzt  wieder  ihrer 
schweren  Probleme  bewußt  wird,  debattiert  unaus- 
gesetzt mit  Kant.  Ein  Naturforscher  wie  Helmholtz 
mühte  sich  um  das  Verständnis  der  „Kritik  der  reinen 
Vernunft". 

Aber  nicht  nur  im  Felde  der  Mathematik  und  mathe- 
matischen Naturwissenschaft  wirkt  Kant  in  solcher 
Lebendigkeit  fort,  daß  es  scheint,  als  ob  er  erst  am  Be- 
ginn seiner  Mission  in  der  Wissenschaft  stünde,  sondern 
auch  für  den  Fortschritt  der  beschreibenden  Natur- 
forschung ist  Kant  von  bisher  unerschöpfter  Bedeu- 
tung.   Die  moderne  Geographie  empfängt  von  ihm 

169 


entscheidende  Anregungen.  Der  „Vater"  der  neueren 
Physiologie,  Johannes  Müller,  forscht  im  Geiste  Kants. 
Der  Begründer  wissenschaftlicher  Botanik,  Schleiden, 
der  mit  Schramm  zusammen  die  Zellentheorie  ent- 
deckte, ist  unmittelbarer  Schüler  Kants.  Schleiden 
veröffentlichte  1842  seine  „Grundzüge  der  wissen- 
schaftlichen Botanik"  und  diesem  grundlegenden  Werk 
schickt  er  auf  zweihundert  Seiten  eine  noch  heute  sehr 
lesenswerte  methodische  Einleitung  voraus,  die  durch- 
aus auf  Kants  Erkenntniskritik  fußt.  Mit  ihr  scheucht 
er  den  „Nebel  phantastischer  Kinderträume"  (Send- 
ling) und  die  Spekulanten,  die  „in  arroganter  Ver- 
messenheit zum  Gott  aufschwellen  wie  die  Anhänger 
Hegels".  Er  verlangt  mit  Kant  die  streng  kausale 
mechanisch-chemische  Naturerklärung,  die  durch  keine 
mystische  „Lebenskraft"  unterbrochen  werden  darf. 
Und  gegenüber  gewissen  Rückfällen,  die  heute  wieder 
gefährlich  drohen,  sind  die  Sätze  noch  recht  beachtens- 
wert, die  Schleiden  damals  schrieb:  „Seit  Aristoteles 
bis  auf  die  neueste  Zeit  wagte  kein  Mann  von  Wissen- 
schaft, die  unbedingte  Gültigkeit  der  . . .  zuletzt 
durch  Kant  ausgebildeten  Logik  als  Kathartikon  (Rei- 
nigungsmittel) der  Wahrheit  in  Abrede  zu  stellen, 
selbst  die  Männer  nicht,  welche  aus  Mangel  an  lo- 
gischer Ausbildung  die  schmählichste  Verwirrung  in 
der  Philosophie  anrichteten.  Erst  in  neuerer  Zeit  hat 
uns  Hegel  seine  Spielerei  mit  immer  kauderwelschen 
und  geschmacklosen,  meist  auch  sinnlosen  Formeln 
für  eine  neue,  höhere  Weisheit  in  diesem  Felde  ver- 
kaufen wollen.  In  Schule  und  Kolleg  hört  man  nun 
zwar,  daß  es  eine  solche  Gesetzmäßigkeit  unsres  Geistes 
gibt,  daß  die  tiefsten  Köpfe  ihr  Leben  daran  gesetzt, 
diese  Gesetze  zu  entwickeln  und  zu  begründen,  daß 
es  ohne  diese  Gesetzmäßigkeit  keine  echte  wissen- 
schaftliche Tätigkeit  gäbe;  aber  sowie  man  an  einen 
andern  speziellen  Zweig  des  Wissens  kommt,  hat  man 
alles  wieder  vergessen,  von  Anwendung  des  Gelernten 

170 


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ist  keine  Rede.  Ja,  man  hört  wohl  gar:  wozu  die 
trockene  Logik,  die  hat  jeder  gesunde  Kopf  von  selbst . 
Kindische  Eitelkeit,  die  sich  einbildet,  das  so  vorweg 
zu  haben,  an  dessen  immer  weiterer  Ausbildung  und 
Begründung  seit  Jahrtausenden  zu  arbeiten,  die 
scharfsinnigsten  Köpfe,  die  ausgezeichnetsten  Denker 
nicht  verschmäht  haben.  Hier  finde  ich  gerade  den 
großen  Grundfehler  in  der  Bearbeitung  unserer  Wissen- 
schaft, der  alle  unsre  Bestrebungen  so  haltungslos  und 
unsicher  macht,  daß  die  Systeme  kommen  und  gehen 
wie  Ephemeren  (Eintagsfliegen),  daß,  was  heute  auf- 
gestellt und  bewundert  die  ganze  Wissenschaft  ergreift 
und  beherrscht,  morgen  durch  eine  einzige  tüchtige 
Beobachtung  über  den  Haufen  geworfen  wird." 

Ganz  besonders  merkwürdig  sind  Kants  biologische 
Anregungen.  Lange  vor  Darwin  bekennt  er  sich  zur 
Entwicklungsgeschichte  der  Natur,  die  von  dem  nie- 
dersten Wesen  zum  Menschen  sich  fortbildet,  und 
klarer,  wie  Darwin  und  die  Darwinisten,  spiegelt  er 
nicht  eine  angebliche  kausal-mechanische  Erklärung 
vor  —  die  er  prinzipiell  und  ohne  Grenzen  fordert  — , 
wo  eine  der  mechanischen  Kausalität  fremde  Zweck- 
setzung sich  einschleicht.  Daher  denn  auch  der  neueste 
Geschichtschreiber  des  Deszendenzgedankens  in  einem 
erst  vor  kurzem  erschienenen  Buch  der  Darstellung  der 
kantischen  Formulierung  des  Entwicklungsgedankens 
die  Bemerkung  anfügt,  daß  „hier  ein  Standpunkt  ver- 
treten ist,  der  in  absehbarer  Zeit  wieder  zahlreiche 
Vertreter  finden  dürfte  und  durch  den  die  Grenzen 
des  Naturerkennens  ein  für  allemal  bestimmt  um- 
schrieben sind". 

Die  Erkenntniskritik  als  Mittel  aller  wissenschaft- 
lichen Methodik  ist  das  eine  unvergängliche  Verdienst 
Kants.  Indem  er  aber  die  Grundlagen  des  Denkens  in 
der  Erfahrungswissenschaft  fand,  reinigte  er  zugleich 
das  Gebiet  der  Naturerkenntnis  von  aller  übersinn- 
lichen Metaphysik  und  die  Metaphysik  von  allem  An- 

171 


spruch  auf  naturwissenschaftlichen  Geltungswert.  Er 
zerrieb  die  religiöse  Mythologie  zwischen  der  Natur- 
wissenschaft, aus  der  sie  exiliert  wurde,  und  einer 
menschlichen  Ethik,  in  der  jene  keinen  Platz  hat. 
Kant  ist  der  Überwinder  der  metaphysisch-mytho- 
logischen Weltanschauung.  Das  ist  seine  zweite  un- 
sterbliche Tat. 

IL 

Mit  gelinder  Überspannung  läßt  sich  sagen,  daß 
Kant  die  gigantische  Gedankenarbeit  seiner  Kritik 
aller  wissenschaftlichen  Erkenntnis  —  in  elf  langen 
mühseligen  Jahren  vollkommenen  literarischen  Ver- 
stummens durchdacht,  dann,  als  jäh  die  Sorge  sich  er- 
hob, der  Tod  könnte  den  Ertrag  vor  der  Geburt  ins 
Grab  nehmen,  an  der  Schwelle  des  Greisenalters  ha- 
stend in  wenigen  Monaten  niedergeschrieben  —  daß 
Kant  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  entwarf,  nicht 
sowohl  um  die  Gewißheit  und  die  Bedingungen  der 
Mathematik  und  der  mathematischen  Naturwissen- 
schaft zu  erklären,  sondern  um  die  Waffe  zu  schmieden, 
mittels  derer  die  theologische  Metaphysik  für  alle 
Zeiten  aus  dem  Reich  der  Wissenschaft  verjagt  werden 
möchte.  Bis  Kant  war  es  das  Hauptstück  der  Philo- 
sophen, die  Überlieferungen  der  jüdisch-christlichen 
Mythe  und  Mystik  mit  den  äußeren  Mitteln  leer  for- 
maler Wissenschaftlichkeit  zu  erhärten.  Indem  Kant 
nun  bewies,  daß  es  in  Zeit  und  Raum  keinerlei  wissen- 
schaftliche Erkenntnis  außerhalb  der  Erfahrung  geben 
könne,  vertrieb  er  die  theologische  Metaphysik  aus 
Zeit  und  Raum,  er  entkleidete  die  ersonnenen  über- 
irdischen Mächte  somit  aller  Möglichkeit  in  der  Natur 
der  Kausalität  durch  Eingriffe,  in  der  Menschheit 
durch  Offenbarungen  zu  wirken,  und  wandelte  sie  in 
bloße  Ideen  —  dafür  setzte  er  auch  das  so  schlimm  miß- 
verstandene „Ding  an  sich"  — ,  über  die  sich  nichts 
beweisen  lasse. 

172 


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Aber  damit  nicht  genug.  Von  der  sittlichen  Seite 
angreifend,  zerstörte  er  auch  den  Geltungswert  der 
theologischen  Ideen  als  Pfadweiserinnen  im  Bezirk 
der  Vernunft.  Er  nahm  ihnen  nicht  nur  ihren  natur- 
wissenschaftlichen, sondern  auch  ihren  moralischen 
Kredit.  Die  „Heteronomie"  der  Sittlichkeit,  d.  h.  die 
von  einer  übermenschlichen  Macht  offenbarten  und 
diktierten  Gebote  durchaus  ablehnend,  verkündete  er 
die  Autonomie  der  Moral,  in  der  die  Menschheit,  die 
freie  Menschheit  aus  eigner  Vernunft  und  eignem 
Recht  sich  die  Gesetze  ihres  Handelns  erfindet  und 
über  sich  stellt. 

So  wurden  die  metaphysischen  Gespinste  ihrem 
ganzen  Inhalt  nach  in  Nichts  aufgelöst.  Aber  Kant 
ließ,  zum  Schaden  der  klaren  Einheit  seines  Systems, 
hier  und  da  die  leeren  Hülsen  liegen,  mit  denen  dann 
bis  in  unsere  Zeit  ein  nachhaltiger  Unfug  getrieben 
worden  ist.  Dennoch  kann  über  die  wirkliche  Meinung 
und  Absicht  Kants  kein  Zweifel  sein.  Nur  muß  man 
seine  Sprache  zu  lesen  verstehen.  Jede  unfreie  Zeit 
schafft  sich  ihren  eigentümlichen  Stil,  in  der  die  lautere 
Wahrhaftigkeit  der  Überzeugung  mit  der  durch  die 
Zwangsgebote  einer  unüberwindlichen  Gewalt  auf- 
erlegten Vorsicht  ehrlichen  Ausgleich  sucht.  Kant 
schrieb  unter  der  Zensur!  Wenn  er  überhaupt  zum 
Worte  kommen  wollte,  mußte  er,  unbeschadet  aller 
Aufrichtigkeit,  gewisse  stilistische  Kautelen  gebrau- 
chen, die  in  der  Folge  dann  zur  Erstickung  seiner 
eigentlichen  Meinung  gern  benutzt  wurden.  Kant 
hat  zu  den  größten  schöpferischen  Ketzern  gehört, 
der  vor  keiner  Konsequenz  seines  vorwärts  stürmenden 
Denkens  zurückbebte.  Im  vertrauten  Kreise  pflegte 
er  über  Welt  und  Dinge  mit  äußerster  Rückhaltlosig- 
keit  zu  sprechen.  Sein  Tischfreund  Hippel,  der  Bürger- 
meister von  Königsberg  und  Verfasser  genialischer  Ein- 
fälle in  humoristischer  Romanform,  hat  diese  Ge- 
spräche Kants  ohne  dessen  Wissen  aufgezeichnet.  Als 

173 


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aber  Hippel  starb  und  seine  Erben  diese  Blätter  ent- 
deckten, erschraken  sie  so  sehr  über  die  vermessene 
gottlose  Kühnheit  dieses  Revolutionärs  —  der  trotz 
seines  zurückgezogenen  Lebens  auch  ein  geistreicher 
Weltmann,  wie  nur  irgendein  Pariser  Enzyklopädist 
war  — ,  daß  sie  die  Papiere  verbrannten,  damit  wohl 
die  wichtigste  Quelle  zar  Erkenntnis  kantischen  We- 
sens zerstörend. 

Dennoch  hat  er  auch  in  seinen  Schriften  die  theo- 
logische Metaphysik  mit  einer  Rücksichtslosigkeit  be- 
kämpft, die  noch  heute,  wo  kein  Staatsmann  als  ein 
WöUner  und  kein  Fürst  als  ein  Friedrich  Wilhelm  II. 
gelten  möchte,  dem  Autor  leicht  Unannehmlichkeiten 
zuziehen  könnte.  Was  Kant  mit  gellendem  Witz  und 
mit  dem  ergreifenden  tiefen  Pathos  seiner  reinen  wis- 
senschaftlichen und  sittlichen  Weltanschauung  über 
den  gleichen  Unwert  aller  Kirchen,  vom  Fetischismus 
und  Schamanendienst  bis  zum  Papstkult,  was  er  über 
die  Dogmen,  „Statuten  und  Observanzen"  der  offen- 
barten Pfaffenreligionen,  über  Gebet  und  Wunder 
geschrieben,  macht  ihn  nicht  nur  zum  bedeutendsten 
geistigen  Überwinder,  sondern  auch  zum  wirksamsten 
Agitator  gegen  allen  Klerikalismus,  in  welcher  Form 
er  sich  immer  zeigt. 

Hundert  Jahre  nach  seinem  Tode  aber  herrscht  der 
Klerikalismus  in  seinem  Vaterland  mächtiger  denn  je 
zuvor.  Seine  Bücher  sind  von  der  alleinseligmachen- 
den Kirche  noch  immer  verboten.  Und  Kant  wäre  ein 
Herrscher  ohne  Land,  wenn  nicht  in  der  proleta- 
rischen Bewegung  auch  der  geistige  Befreiungskampf 
sich  zum  Siege  durchringen  würde. 

• 

Die  Ethik,  durch  die  Kant  der  theologischen  Meta- 
physik ihre  letzte  Zuflucht  nahm,  ist  die  dritte  Tat 
seiner  Weltwirksamkeit.  Noch  ist  über  sie  Streit,  und 

*74 


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cs  ist  hier  nicht  möglich,  die  Fragen  irgendwie  tiefer 
zu  erörtern. 

Die  Ethik  erhebt  den  Anspruch,  nach  „Art  von 
Naturgesetzen"  einen  obersten  Grundsatz  sittlichen 
Handelns  von  unverbrüchlicher  Geltung  aufzustellen. 
Er  konnte  sie  deshalb  nicht  begründen  in  dem  Chaos 
menschlicher  Psychologie,  auch  nicht  in  der  schweben- 
den Unsicherheit  individueller  Glückseligkeit,  sondern 
nur  in  der  festen  Form  eines  letzten  Zweckes,  eines 
Endzieles.  Kants  Sittengesetz  der  Freiheit  ist  eine 
Richtung  gebende  Aufgabe  der  Menschheit,  es 
wurzelt  in  der  Humanitätsidee  und  es  hat  in  nichts 
seinen  Beweis  wie  in  seiner  Möglichkeit  und  Fruchtbar- 
keit, zum  Menschheitsideal  zu  weisen.  Es  ist  ein  Miß- 
verständnis, wenn  man  Kant  gegenüber  der  Ewigkeit 
seines  Sittengesetzes  auf  die  ewig  in  Zeiten  und  Län- 
dern wandelnden  Sitten  aufmerksam  macht.  Das 
wußte  Kant  auch,  und  in  seinem  Lieblingsstudium, 
der  Geographie,  wies  er  scharfsinnig  auf  die  Zusammen- 
hänge der  Sitten  und  der  physischen  Bedingungen  hin, 
unter  denen  die  Völker  leben.  Die  Sittenlehre  aber, 
die  in  ihrer  kausalen  Abhängigkeit  zu  durchforschen 
ist,  nannte  er  Anthropologie,  nicht  Ethik.  Die  Ethik 
tritt  als  Gesetzgeber  auf.  Wie  die  Menschheit  Natur- 
gesetze entdeckt,  um  die  Natur  zu  bändigen  und  zu 
gestalten,  so  gibt  sich  die  Menschheit  für  ihr  gesell- 
schaftliches Zusammenwirken  aus  eigner  Schöpfer- 
kraft eine  letzte,  oberste  Norm.  Die  Ethik  erzeugt  das 
Wert-  und  Entwicklungsgesetz  der  Gesellschaft  nicht 
aus  blauen  Wolkenhöhen  und  auch  nicht  aus  der  sinn- 
lichen Erfahrung,  sondern  aus  der  Vernunft,  welche 
die  Tiere  zu  Menschen  macht,  indem  sie  ihnen  die 
Fähigkeit  verleiht,  sich  selbst  Kulturzwecke  zu  setzen. 

Das  Sittengesetz  Kants  lautet  in  seiner  fruchtbar- 
sten Formulierung:  „Handle  so,  daß  du  die  Mensch- 
heit, sowohl  in  deiner  Person  als  in  der  Person  eines 
jeden  andern,  jederzeit  zugleich  als  Zweck,  niemals 

175 


bloß  als  Mittel  brauchst."  Dieses  Gesetz  übersteigt 
jenen  einfachen  Moralsatz  der  Reziprozität,  den  schon 
die  chinesische  Weisheit  des  Konfutse  als  goldene 
Moralregel  aufstellte:  Handle  so,  wie  du  willst,  daß 
man  an  dir  handle.  Das  ist  Moral  zum  individuellen 
Privatgebrauch.  Kants  Satz  dagegen  legt  die  Mensch- 
heitsidee zum  Grunde,  er  will  der  Kulturentwicklung 
der  Menschheit  die  Richtung  weisen. 

Die  Ethik  Kants  ist  nur  Gesetz,  nur  „Form"  mensch- 
lichen Handelns.  Lediglich  in  dieser  Beschränkung 
liegt  die  Geltung,  das  Recht  und  die  Fruchtbarkeit  des 
sittlichen  Prinzips.  Der  lebendige  Inhalt,  der 
die  Form  erfüllt,  steht  durchaus  im  Fluß  der  Ge- 
schichte. Und  hier  weitet  sich  das  Reich  der  kausalen 
Erklärung,  hier  waltet  der  Mechanismus  der  Wirt- 
schaft, hier  erweist  die  geschichtsmaterialistische  Me- 
thode ihre  unabweisliche  Kraft.  Die  Ethik  der  Form 
besagt  nichts  weiter:  Wenn  denn  die  Menschheit  eine 
Kultur  will,  wenn  sie  ein  Wertmaß  der  gesellschaft- 
lichen Organisation  braucht,  so  kann  das  richtende 
und  sichere  Prinzip  nur  jener  Moralgrundsatz  sein. 
Er  verbürgt  den  Aufstieg  der  Menschheit.  Diese  Ethik 
ist  also  kein  Fremdenführer,  der  moralische  Sehens- 
würdigkeiten erläutert,  sie  ist  auch  kein  Pfaffe,  der 
ewige  Gebote  inhaltlich  und  materiell  bestimmt,  un- 
wandelbar im  Namen  Gottes  befiehlt;  sie  ist  ein  Bau- 
meister, der  gleichsam  die  technischen  Vorbedin- 
gungen, die  Mathematik  der  Gesellschaft  lehrt  —  das 
Bauen  selbst  unterliegt  der  Kausalität  der  Geschichte, 
der  Arbeit  der  Menschheit.  Und  wäre  dies  Prinzip, 
weil  sie  nur  Form  ist,  auch  leer?  Man  prüfe  jenen 
Satz  an  den  wirtschaftlich  bedingten  Klassenkämpfen 
der  Geschichte.  Hat  nicht  stets  jede  revolutionäre 
Klasse  in  irgendeiner  Formel  jenes  sittliche  Programm 
als  Recht  und  Ziel  ihrer  Empörung  auf  ihre  Fahne  ge- 
schrieben ? 

Begrenzt  und  versteht  man  den  systematischen  Wert 
176 


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von  Kants  Ethik  so,  dann  ist  sofort  der  Irrtum  jener 
Kantianer  offenbar,  die  den  Philosophen  wegen  seiner 
Ethik  zum  Begründer  des  Sozialismus  machen  wollen. 
Als  ewiger  Grundsatz  aller  Sittlichkeit  gedacht,  kann 
er  logischerweise  gar  nicht  sich  in  einer  bestimmten, 
zeitlich  bedingten  Gesellschaftsordnung  manifestieren 
und  erschöpfen.  Diese  Ethik  steht  über  allen  konkreten 
Gesellschaftsordnungen  und  sie  bedingt  an  sich  keine 
bestimmte  Ordnung.  Nur  muß  sich  jedes  Gemein- 
schaftswesen, wenn  anders  es  sein  Kulturrecht  er- 
.  weisen  will,  an  jenem  sittlichen  Ideal  messen.  Und  so 
wahr  es  ist,  daß  auf  der  heutigen  Stufe  der  wirtschaft- 
lich-politischen Entwicklung  Kants  Ethik  nur  im 
Sozialismus  sich  zu  verwirklichen  vermag,  so  fest  steht 
es,  daß  Kant  keine  sozialistischen,  sondern  liberale 
Folgerungen  aus  seiner  Ethik  zog.  Er  lebte  durchaus 
in  der  Weltanschauung  der  französischen  Revolution, 
welche  die  Weltanschauung  des  Liberalismus,  des 
freien  Spiels  der  Kräfte  war,  dessen  das  Bürgertum 
bedurfte,  um  die  Fesseln  des  Feudalismus  zu  sprengen. 

III. 

Die  Auffassung,  daß  Kant  in  seiner  politisch- wirt- 
schaftlichen Theorie  nicht  über  den  Liberalismus  der 
französischen  Revolution  hinausgekommen,  scheint 
mit  der  Tatsache  nicht  übereinzustimmen,  daß  er  als 
Erster  an  einer  bedeutungsvollen  Stelle  der  „Kritik 
der  reinen  Vernunft"  mit  ernster  und  ehrfürchtiger 
Begeisterung  den  als  groteske  Phantasie  verlachten 
sozialistischen  Staat  Piatos  verteidigte.  Indessen 
diese  Verherrlichung,  die  er  in  einer  seiner  letzten 
Schriften  wiederholte,  gilt  offenbar  nur  dem  Ge 
danken  der  Möglichkeit  eines  Idealstaates  an  sich, 
ohne  daß  Kant  damit  die  besondere  sozialistische  Or 
ganisationsform  tiefer  erfaßt  oder  anerkannt  hätte. 

Kant  münzte  seine  Ethik  in  die  Forderungen  des 
Liberalismus,  den  er  in  die  letzten  Konsequenzen 

n    F. isner.  Gesammelte  Schriften.    II.  177 


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verfolgt,  dessen  Grenzen  und  Widersprüche  sich  be^ 
reits  ihm  leise  andeuten,  ohne  daß  er  sie  schon  zu  über- 
winden vermag. 

Zunächst  verlangt  Kant  unbedingte  Freiheit  der 
Meinungsäußerung,  was  die  Beseitigung  der  Zensur 
einschließt.  Aber  er  macht  eine  eigentümliche  Ein- 
schränkung. Im  öffentlichen  Gebrauch  der  Ver- 
nunft soll  schrankenlose  Freiheit  herrschen,  im  Privat  - 
gebrauch  dagegen  sind  Vorbehalte  notwendig.  Unter 
dem  Privatgebrauch  der  Vernunft  versteht  er  den- 
jenigen, „den  er  in  einem  gewissen  ihm  anvertrauten 
bürgerlichen  Posten  oder  Amte  .  .  .  machen  darf", 
und  er  erläutert  diesen  Unterschied  an  einem  gegen- 
wärtig recht  aktuellen  Beispiel:  „So  würde  es  sehr  ver- 
derblich sein,  wenn  ein  Offizier,  dem  von  seinem 
Oberen  etwas  unbefohlen  wird,  im  Dienste  über  die 
Zweckmäßigkeit  oder  Nützlichkeit  dieses  Befehls  laut 
vernünfteln  wollte;  er  muß  gehorchen.  Es  kann  ihm 
aber  billigermaßen  nicht  verwehrt  werden,  als  Ge- 
lehrter über  die  Fehler  im  Kriegsdienste  Anmerkungen 
zu  machen  und  diese  seinem  Publikum  zur  Beurteilung 
vorzulegen."    (Was  ist  Aufklärung?) 

Wie  die  französischen  Revolutionäre  erkennt  Kant 
das  Eigentum  an.  Die  Gleichheit  der  Staatsbürger, 
die  er  verlangt,  „besteht  aber  ganz  wohl  mit  der 
größten  Ungleichheit,  der  Menge  und  den  Graden 
ihres  Besitztumes  nach,  es  sei  an  körperlicher  oder 
Geistesüberlegenheit  über  andre,  oder  an  Glücks- 
gütern außer  ihnen,  und  den  Rechten  überhaupt". 
Aber  auf  dem  Gebiete,  wo  sich  ihm  —  nach  dem  da- 
maligen Stand  der  Wirtschaft  —  die  Ungleichheit  des 
Besitzes  als  Hemmnis  seiner  sittlichen  Ideale  unmittel- 
bar aufdrängt,  gegenüber  dem  Feudalismus,  da  wirft  er 
doch  sofort,  wenn  auch  nur  scheinbar  beiläufig,  die 
Brandfackel  der  Frage  hinein :  „wie  es  doch  mit  Recht 
zugegangen  sein  mag,  daß  jemand  mehr  Land  zu 
eigen  bekommen  hat,  als  er  mit  seinen  Händen  selbst 

178 


Digitiz 


benutzen  konnte, . . .  und  wie  es  zuging,  daß  viele  Men- 
schen, die  sonst  insgesamt  einen  beständigen  Besitz- 
stand hätten  erwerben  können,  dadurch  dahin  ge- 
bracht sind,  jenem  bloß  zu  dienen,  um  leben  zu 
können  ?" 

Staatsrechtlich  fordert  Kant  die  konstitutionelle 
Republik:  „Die  gesetzgebende  Gewalt  kann  nur  dem 
vereinigten  Willen  des  Volkes  zukommen."  Jedes 
Glied  der  gesetzgebenden  Gemeinschaft,  jeder  Staats- 
bürger hat  die  „gesetzliche  Freiheit,  keinem  andern 
Gesetz  zu  gehorchen,  als  zu  welchem  er  seine  Zu- 
stimmung gegeben  hat".  Er  hat  ferner  das  Attribut 
der  „bürgerlichen  Gleichheit"  und  drittens  die 
„bürgerliche  Selbständigkeit,  seine  Existenz  und 
Erhaltung  nicht  der  Willkür  eines  andern  im  Volke, 
sondern  seinen  eignen  Rechten  und  Kräften  als  Glied 
des  gemeinen  Wesens  verdanken  zu  können".  Stimm- 
recht sollen  nur  die  „selbständigen"  Staatsbürger 
haben.  Kant  versucht  den  Begriff  der  Selbständigkeit 
an  Beispielen  zu  veranschaulichen.  Unselbständige,  „pas- 
sive Bürger"  sind  „der  Geselle  bei  einem  Kaufmann 
oder  bei  einem  Handwerker;  der  Dienstbote,  der  Un- 
mündige, alles  Frauenzimmer,  und  überhaupt  jeder- 
mann, der  nicht  nach  eignem  Betriebe,  sondern  nach 
der  Verfügung  andrer  (außer  der  des  Staats)  genötigt 
ist,  seine  Existenz  (Nahrung  und  Schutz)  zu  erhalten, 
entbehrt  der  bürgerlichen  Persönlichkeit".  Indem 
er  jedoch  sich  weiter  in  diese  Begriffsbestimmung  ver- 
tieft, empfindet  er  den  Widerspruch  mit  der  Forde- 
rung der  Gleichberechtigung  aller  Staatsbürger  und 
gesteht,  es  sei  „etwas  schwer,  das  Erfordernis  zu  be- 
stimmen, um  auf  den  Stand  eines  Menschen,  der  sein 
eigner  Herr  ist,  Anspruch  machen  zu  können". 

Aber  auch  die  „passiven"  Staatsbürger  haben  das 
gleiche  Recht  auf  freie  Entwicklung.  Es  darf  nicht 
verhindert  werden,  „daß  diese,  wenn  ihr  Talent,  ihr 
Fleiß  und  ihr  Glück  es  ihnen  möglich  macht,  sich  nicht 


»2» 


179 


zu  gleichen  Umständen  zu  erheben  befugt  wären". 
Kein  Vorrecht  der  Geburt,  keine  Hörigkeit.  Kein 
Mensch  kann  durch  „rechtliche  Tat  (weder  seine 
eigne,  noch  die  eines  andern)  aufhören,  Eigner  seiner 
selbst  zu  sein,  und  in  die  Klasse  des  Hausviehes  ein- 
treten, das  man  zu  allen  Diensten  braucht,  wie  man 
will,  und  es  auch  dann  ohne  seine  Einwilligkeit  er- 
hält". 

Wie  Kant  im  Gebiete  der  Religion  die  christliche 
Barmherzigkeit,  die  Charitas,  als  beleidigend  für  die 
Würde  der  Menschheit  bezeichnet,  so  bekämpft  er 
auch  allen  Patriarchalismus:  „Eine  Regierung,  die  aui 
dem  Prinzip  des  Wohlwollens  gegen  das  Volk  als  eines 
Vaters  gegen  seine  Kinder  errichtet  wäre,  das  ist  eine 
väterliche  Regierung,  wo  also  die  Untertanen  als  un- 
mündige Kinder,  die  nicht  unterscheiden  können,  was 
ihnen  wahrhaftig  nützlich  oder  schädlich  ist,  sich  bloß 
passiv  zu  verhalten  genötigt  sind,  um,  wie  sie  glück- 
lich sein  sollen,  bloß  von  dem  Vorteile  des  Staats- 
oberhaupts, und,  daß  dieser  es  auch  wolle,  bloß  von 
seiner  Gültigkeit  zu  erwarten,  ist  der  größte  denkbare 
Despotismus". 

Das  Prinzip  der  Freiheit  weitet  sich  zum  Kosmo- 
polismus,  der  alle  Völker  im  Bunde  der  Kultur  um- 
fängt. So  entwirft  er  seinen  Traktat  vom  ewigen  Frie- 
den, indem  er  übrigens  durchaus  realistisch  sowohl  die 
Bedingungen  des  Friedenszustandes,  wie  die  zeitlichen 
Notwendigkeiten  von  Kriegen  untersucht. 

Kant  blieb  im  Bann  des  Liberalismus.  Seine  Ethik 
suchte  ihre  Verwirklichung  nur  in  dem  Sprengen  von 
Fesseln.  Aber  seine  Schüler  zogen  alsbald  weitere  Fol- 
gerungen. 1792  veröffentlichte  Hippel  seine  Schrift 
„über  die  bürgerliche  Verbesserung  der  Weiber",  in 
der  zum  erstenmal  die  völlige  bürgerliche  Gleich- 
berechtigung der  Frauen  bis  in  die  letzten 
Konsequenzen  proklamiert  wurde;  zugleich  zog  er  die 
französische  Revolution  vor  Gericht,  weil  sie  zwar  der 

180 


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Welt  die  Freiheit  votiert,  aber  der  größeren  Hälfte 
der  Menschen  diese  Freiheit  ausdrücklich  versagt 
habe.  Im  Weiterdenken  der  Kantschen  Lehre  wurde 
Fichte  dann  zum  utopischen  Sozialisten. 

Kein  Deutscher  der  Zeit  hat  die  Bedeutung  der 
französischen  Revolution,  deren  echter  Philosoph  er 
war»  tiefer  erfaßt  als  Kant.  Er  fiel  von  seiner  Begeiste- 
rung auch  nicht  ab,  als  die  Ereignisse  sich  abspielten, 
die  man  als  „Greuel"  zu  bezeichnen  pflegt.  Auch 
nachdem  die  Guillotine  die  Hinrichtung  der  alten 
Gesellschaftsordnung  vollzogen,  wagte  Kant  öffent- 
lich die  Revolution  zu  preisen  als  die  „Begebenheit 
unserer  Zeit,  welche  die  moralische  Tendenz  des  Men- 
schengeschlechts beweist".  Durch  die  umstürzenden 
Befreiungstaten  der  Revolution  stärkte  sich  sein  Glau- 
ben an  die  Möglichkeit  und  Wirklichkeit  einer  Men- 
schengemeinschaft der  Freien  und  Gerechten. 

Kants  Philosophie  drang  denn  auch  in  das  aufge- 
wühlte Frankreich.  Im  Januar  1796  schreibt  Karl 
Theremin,  Bureauchef  im  Wohlfahrtsausschuß,  aus 
Paris  an  seinen  Bruder  in  Deutschland,  er  möchte  ver- 
suchen, ein  „Professorat  über  Kantische  Philosophie" 
in  Frankreich  zustande  zu  bringen;  er  weist  dabei  auf 
Sieyes  Interesse  an  der  Philosophie  Kants  hin.  Im 
November  1795  hatte  schon  Kants  Vertrauter,  Kiese- 
wetter, der  ihn  namentlich  ständig  von  den  Vorgängen 
an  dem  Berliner  Hofe  unterrichtete,  nach  Königsberg 
im  Hinblick  auf  die  Schrift  über  den  ewigen  Frieden 
geschrieben:  „Leid  tut  es  mir,  daß  diese  Schrift  nur 
den  Deutschen  bekannt  werden  sollte,  es  finden  sich 
unter  uns  noch  manche  Hindernisse,  ich  will  nicht 
sagen,  die  Wahrheit  zu  erkennen,  aber  doch  sie  aus- 
zuüben; gewiß  würde  diese  Schrift  bei  jener  großen 
Nation,  die  so  manche  Riesenschritte  auf  dem  Wege 
der  politischen  Aufklärung  gemacht  hat,  viel  Gutes 
stiften."  Die  Schrift  wurde  darauf  tatsächlich  über- 
setzt.  Humboldt  hielt  Vorträge  im  Pariser  National- 

r8» 


Institut  über  die  Weltanschauung  Kants,  allerdings 
wegen  ihres  Verständnismangels  nicht  zur  Zufrieden- 
heit des  Philosophen. 

Bei  solchem  Enthusiasmus  ist  es  nun  ein  seltsamer 
Widerspruch,  daß  Kant  in  seinen  staatsrechtlichen 
Schriften  scheinbar  mit  höchstem  Nachdruck  das 
Recht  auf  Revolution  verwarf.  Wenn  man  hier  zitieren 
wollte,  so  würde  man  die  muffige  und  ängstliche  Luft 
der  damaligen  Amtsstuben  zu  verspüren  meinen;  alles 
scheint  auf  die  demütige  Forderung  hinauszulaufen: 
„Sei  Untertan  der  Obrigkeit."  Und  dennoch,  wenn 
man  genauer  liest,  wenn  man  die  Sprache  Kants  be- 
herrscht, so  mildert  sich  der  Widerspruch,  wenn  er 
auch  nicht  ganz  verschwindet.  Einmal  besteht  Kant 
auf  der  Gesetzlichkeit,  nachdem  er  die  Möglichkeit 
gesetzlicher  Entwicklung  durch  die  freie  Republik 
vorausgesetzt  hat.  Dann  aber  bestreitet  Kant  das 
Recht  der  Revolution,  in  letzter  Absicht  offenbar 
deshalb,  um  auch  das  Recht  der  Gegenrevolution 
verneinen  und  die  Gesetzlichkeit  der  revolutionären 
Wi  rkung  behaupten  zu  können.  Denn  nachdem  er 
die  Revolution  aus  Prinzip  augenscheinlich  sehr  derb 
befehdet,  fährt  er  gemütlich  fort:  „Übrigens,  wenn 
eine  Revolution  einmal  gelungen  und  eine  neue  Ver- 
fassung gegründet  ist,  so  kann  der  Unrechtmäßigkeit 
des  Beginnens  und  der  Vollführung  derselben  den 
Untertanen  von  der  Verbindlichkeit,  der  neuen  Ord- 
nung der  Dinge  sich  als  gute  Staatsbürger  zu  fügen, 
nicht  befreien,  und  sie  können  sich  nicht  weigern,  der- 
jenigen Obrigkeit  ehrlich  zu  gehorchen,  die  jetzt  Ge- 
walt hat."  Damit  ist  das  Prinzip  der  Legitimität  und 
der  angestammten  Monarchie  von  Grund  aus  preis- 
gegeben, das  in  der  Folge  in  der  Reaktionszeit  der  hei- 
ligen Allianz  die  ideologische  Losung  der  Knecht- 
schaft ward.  Kant  gibt  auch  indirekt  dem  „ent- 
thronten Monarchen"  den  Rat,  in  den  Stand  eines 
Staatsbürgers  zurückzutreten,  seine  und  des  Staates 

182 


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Ruhe  dem  Wagstücke  vorzuziehen,  als  Prätendent 
das  Abenteuer  der  Wiedererlangung  der  Krone  zu 
wagen.  Ebenso,  ohne  es  wieder  deutlich  auszuspre- 
chen, leugnet  er  das  Recht  andrer  Mächte,  sich 
diesem  „verunglückten  Oberhaupt  zum  Besten  in  ein 
Staatsbündnis  zu  vereinigen,  bloß  um  jenes  vom  Volke 
begangene  Verbrechen  nicht  ungeahndet  noch  als 
Skandal  für  alle  Staaten  bestehen  zu  lassen,  mithin  in 
jedem  andern  Staate  durch  Revolution  zustande  ge- 
kommene Verfassung  in  ihre  alte  mit  Gewalt  zurück- 
zubringen". 

Fichte  führte  dann  alle  diese  beklommenen  und  ver- 
hüllten Andeutungen  des  Meisters  mit  rücksichtsloser 
Kühnheit  aus.  Aber  auch  bei  Kant  schimmert  die 
Herzensmeinung  deutlich  genug  durch. 

Auf  seine  Zeitgenossen  wirkte  Kant  vornehmlich 
durch  seine  Ethik  und  durch  seine  Ästhetik,  die  hier 
übergangen  werden  muß.  Im  Geiste  Kants  entwirft 
Schiller  den  Plan  seiner  Universalgeschichte,  seiner 
ästhetischen  Erziehung  des  Menschengeschlechts. 
Durch  das  Medium  Schiller  wieder  wird  Kants 
chiliastische  Weltanschauung  Musik  in  Beethoven 
und  stürmt  zum  Himmel  in  dem  Schlußchor  der 
neunten  Symphonie:  Freude,  schöner  Götterfunken! 

Wie  tief  Kant  die  Gemüter  erschüttert,  das  zeigen 
Briefe  Fichtes.  Er  lernt  Kants  Schriften  ganz  zufällig 
kennen.  Halb  verhungert,  in  den  schlimmsten  Nöten 
seines  Daseins,  muß  er  sie  lesen,  um  Unterrichts- 
stunden geben  zu  können.  Der  Zufall  wird  ihm  zum 
Schicksal:  „Ich  hatte  mich"  —  schreibt  er  an  seine 
Braut  1790  —  „durch  eine  Veranlassung,  die  ein  bloßes 
Ungefähr  schien,  ganz  dem  Studium  der  kantischen 
Philosophie  hingegeben,  einer  Philosophie,  welche  die 
Einbildungskraft,  die  bei  mir  immer  sehr  mächtig 
war,  zähmt,  dem  Verstände  das  Übergewicht  und  dem 
ganzen  Geist  eine  unbegreifliche  Erhebung  über  alle 
irdischen  Dinge  gibt.    Ich  habe  eine  andere  Moral 


183 


angenommen,  und  anstatt  mich  mit  Dingen  außer 
mir  zu  beschäftigen,  mich  mehr  mit  mir  selbst  be- 
schäftigt. Dies  hat  mir  eine  Ruhe  gegeben,  die  ich 
noch  nie  empfunden;  ich  habe  bei  meiner  schwan- 
kenden äußeren  Lage  meine  seligsten  Tage  verlebt." 
Und  an  seinen  Bruder  berichtet  er :  „Von  einem  Tage 
zum  andern  verlegen  um  Brot,  war  ich  dennoch  da- 
mals vielleicht  einer  der  glücklichsten  Men- 
schen auf  dem  weiten  Rund  der  Erde."  — 
Zur  selben  Zeit:  „Es  ist  unbegreiflich,  welche  Ach- 
tung für  die  Menschheit,  welche  Kraft  uns  dies 
System  gibt." 

Kant  wird  auch  in  privaten  Wirren  Ratgeber  und 
Beichtvater  aller  Welt.  Als  ihn  das  Religionsedikt 
trifft  —  das  ihn,  wie  Kant  melancholisch  spöttelt  — 
in  „Staats-  und  Religionsmaterien"  einer  „gewissen 
Handelssperre"  unterwarf,  forderte  ihn  der  Braun- 
schweiger Schulrat  Campe,  heute  noch  bekannt  durch 
seine  Robinson-Bearbeitung,  auf,  zu  ihm  zu  kommen: 
„Sehen  Sie  .  .  .  sich  als  den  Besitzer  alles  dessen  an, 
was  ich  mein  nennen  darf."  Zwar  sei  auch  er,  so  heißt 
es  in  dem  Briefe  Campes,  nicht  begütert,  aber  er  sei 
bedürfnislos,  und  so  habe  er  „immer  noch  mehr  übrig, 

als  zur  Verpflegung  eines  Weisen  nötig  ist". 

•  * 

Der  klassische  Denker  des  Liberalismus  hat  mit  dem 
heutigen  Bürgertum  nichts  mehr  gemein.  Für  das, 
was  sich  heute  Liberalismus  nennt,  ist  Kant  nur  ein 
Medusenschild.  Will  man  die  ganze  Erniedrigung  des 
bürgerlichen  Geistes  an  einem,  freilich  unflätigen  Bei- 
spiel ermessen,  so  mag  man  erwähnen,  daß  der  heu  t ige 
Inhaber  des  Lehrstuhls  Kants  in  Königs- 
bergein Mann  ist,  der  zwar  nicht  einmal  in  die  Vor- 
halle philosophischer  Erkenntnis  eingedrungen  ist, 
der  aber  die  Barbarei  der  heutigen  herrschenden  Klas- 
sen hübsch  in  Paragraphen  zu  bringen  versteht.  Kants 
Humanitätsidee  ist  ihm  tollster  Unsinn,  und  indem 

184 


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er  —  der  Name  des  Philosophen  sei  schamhaft  ver- 
schwiegen —  das  klassische  Humanitätsideal  für  eine 
teilbare  Materie,  wie  eine  Wurst  oder  einen  Käse 
hält,  widerlegt  er  es  durch  die  Bemerkung,  daß  die 
Menschheitsliebe  „praktisch  unmöglich"  sei,  „weil 
auf  die  einzelnen  Individuen  dann  nur  ein  verschwin- 
dender Bruchteil  von  Liebe  entfallen  würde".  Aber 
die  allgemeine  Idee  der  Menschheit  sei  auch  nicht  be- 
rechtigt und  habe  als  solche  gar  keinen  Wert.  Es  sei 
„gar  keine  moralische  Aufgabe,  sich  .  .  .  über  den  Zu- 
fall der  Geburt  einfach  hinwegzusetzen".  Und  Kants 
Nachfolger  kann  sich  des  edlen  Gedankens  „nicht  er- 
wehren, daß,  wie  viele  von  denen,  die  am  lautesten 
die  Humanität  gegen  die  Verbrecher  predigen,  dabei 
insgeheim  von  dem  Gedanken  geleitet  werden,  daß 
auch  sie  möglicherweise  von  dieser  Humanität  pro- 
fitieren könnten,  so  auch  viele  von  den  Aposteln  der 
allgemeinen  Menschenliebe  und  Brüderlichkeit  ein 
wohlverstandenes  Interesse  daran  haben,  die  kräftige 
Geltendmachung  nationaler  Gesinnung  zu  bekämpfen, 
—  daher  denn  auch  die  Sozialdemokratie,  der  An- 
archismus und  das  internationale  Manchestertum 
ihre  eifrigsten  Anwalte  sind"*). 

Das  ist  der  Weg  der  hundert  Jahre  des  herrschenden 
Geistes,  von  Kants  Weltbürgertum  bis  zu  dieser 
nationalen  Gesinnung  seines  Nachfolgers.  Alle  lauten 
Kant-Feiern  und  alle  Versuche,  den  größten  Denker 
auf  den  Stand  der  heute  regierenden  Verwahrlosung 
fälschend  zu  senken,  ändern  nichts  an  der  Erscheinung, 
daß  der  Philosoph  des  Liberalismus  sein  Asyl  und 
seine  Wirkung  nur  noch  im  sozialistischen  Proletariat 

*)  Anmerkung  191 8.  Der  Mann  ist  inzwischen  ge- 
storben, dessen  Teilungsargument  übrigens  die  Konsequenz 
hätte,  daß  der  Patriotismus  um  so  größerer  Unsinn  wird, 
je  größer  die  Bevölkerung  des  Staates  ist,  die  weil  dann 
der  auf  den  einzelnen  entfallende  Anteil  an  Vaterlands- 
liebe immer  mehr  verdünnt  wird. 


185 


hat.  Die  Geschlossenheit  einer,  den  ganzen  Menschen 
und  die  ganze  Menschheit  umfassenden,  nach  Einheit 
und  Gewißheit  ringenden  Weltanschauung,  die  un- 
lösliche Verkettung  wissenschaftlicher  Erkenntnis  mit 
allem  politischen  Handeln,  die  prinzipielle  Auffassung 
der  Dinge,  die  Überzeugung  von  der  Erreichung  des 
Zieles  eines  Vernunftstaates,  die  Ethik  der  Freiheit 
und  Gleichheit,  die  bei  allem  idealistischen  Schwung, 
dennoch  fest  und  besonnen,  ohne  säuselnde  Senti- 
mentalität und  wehleidige  Gefühlsschwelgerei  auf  dem 
Erdboden  erwiesener  Tatsachen,  kritisch  prüfend, 
steht,  das  unbeirrbare  Weltbürgertum*),  das  alles 
spottet  des  seichten,  opportunistischen,  an  niedrig- 
sten Einzelinteressen  haftenden,  ziel-  wie  ideallosen 
und  zugleich  leer  romantisch  aufgeputzten  Geistes 
der  bürgerlichen  Gesellschaft,  das  alles  sind  aber  auch 
die  tiefsten  Wesenszüge  der  internationalen  Sozial- 
demokratie. 

*)  Anmerkung  1918.  „Unbeirrbares  Weltbürger- 
tum" 1  —  das  klingt  wie  ein  Märchen  aus  verwehten  Zeiten; 
denn  seitdem  ist  die  deutsche  Sozialdemokratie  in  ihrer 
bureaukratischen  Hierarchie  den  Weg  des  deutschen  Libera- 
lismus gegangen. 


186 


Der  Philosoph  des  sozialen  Enthusiasmus. 

Zu  Fichtes  150.  Geburtstag. 

Alles  auf  der  Erde  ist  unbeschreiblich  klein; 
das  weiß  ich:  Aber  Glück  ist's  auch  nicht,  was 
ich  suche;  ich  weiß,  ich  werde  es  nie  finden. 
Ich  habe  nur  eine  Leidenschaft,  nur  ein 
Bedürfnis,  nur  ein  volles  Gefühl  meiner  selbst; 
das:  außer  mir  zu  wirken.  Je  mehr  ich  handle, 
desto  glücklicher  scheine  ich  mir."  Fichte. 

* 

Nie  ist  der  Unterschied  englischen  und  deutschen 
Philosophierens  verkannt  worden.  Die  englische  Philo- 
sophie hat  etwas  von  der  Leichtigkeit  und  Zuverlässig- 
keit des  Reiseführers,  der  in  der  Unmittelbarkeit  des 
politisch-sozialen  Daseins  sich  zurechtfinden  lehrt; 
sie  ist  klar,  verständlich,  anleitend,  auch  weltmännisch, 
aber  ohne  Sinn  für  die  letzten  Tiefen.  Der  deutschen 
Philosophie  hingegen  fehlt  die  höhere  Behendigkeit 
weiser  und  witziger  Menschenkennerschaft,  sie  gräbt 
schwer  und  ächzend  unter  das  Leben  nach  letzten 
Geheimnissen,  sie  pflügt  tief  im  dunklen  SchoO  des 
eigenen  Geistes,  sie  wird  im  Enträtsein  selbst  zum 
Rätsel.  Der  englische  Staatsmann,  der  kein  Philosoph 
wäre,  gälte  als  ein  ungebildeter  Stümper.  Wenn  man 
den  deutschen  Minister  recht  zu  verspotten  begehrt, 
nennt  man  ihn  einen  Philosophen.  Englische  Philo- 
sophie ist  Lebensklugheit,  deutsche  Philosophie  ist 
ein  Leben  für  sich,  abseits  des  Lebens. 

Ist  das  ein  Hirnunterschied  der  Rassen  ?  Es  ist  nur 
der  Gegensatz  der  Stellung  des  Geistigen  im  Staat, 
der  den  Unterschied  des  Philosophierens  entwickelt  hat. 
Nebstdem  haben  auch  die  Polizeiverhältnisse  den  Stil 

i«7 


gebildet.  In  einem  Staat,  in  dem  es  zwar  zeitweilig 
erlaubt  war,  alle  heiligen  Güter  der  Religion  und  der 
Philosophie  zu  leugnen  und  zu  zerstören,  in  dem  der 
Schriftsteller  aber  gestäupt  wurde,  wenn  er  es  sich  ein- 
fallen ließ,  eine  politische  Maßnahme  seiner  Obrig- 
keit bescheiden  in  aller  Ehrfurcht  zu  kritisieren,  ent- 
leert der  Philosoph  sein  Denken  von  aller  anschau- 
lichen Materie  des  Gegenwärtigen  und  streift  in  die 
ewigen  Jagdgründe  des  Denkens,  in  denen  es  ihm  doch 
verboten  ist,  ein  Wild  zu  erlegen.  Und  sein  Stil  wird 
zum  Umweg  gezwungen,  der  sich  nicht  selten  in  dem 
Gestrüpp  verliert,  hinter  dem  er  sich  verstecken  muß. 
Der  dunkle  Tiefsinn  der  deutschen  Philosophie  ist  ein 
Notbehelf. 

Dieser  deutsche  Vertiefungsprozeß,  der  doch  zu- 
gleich ein  Verkümmerungsprozeß  ist,  läßt  sich  am 
schärfsten  bei  dem  Denker  verfolgen,  der  wie  kein 
anderer  aus  innerster  Natur  nichts  sein  wollte  als  ein 
Missionär  der  Tat.  Es  war  Fichte,  der  am  Schluß 
seines  Lebens  (in  der  sogenannten  Staatslehre  von 
1813)  schrieb: 

„Alle  Wissenschaft  ist  tatbegründend;  eine  leere, 
in  gar  keiner  Beziehung  zur  Praxis  stehende  gibt  es 
nicht. ...  So  kann  der  Spruch:  Dies  mag  in  der  Theorie 
wahr  sein,  gilt  aber  nicht  in  der  Praxis  nur  heißen: 
für  jetzt  nicht;  aber  es  soll  gelten  mit  der  Zeit.  Wer 
es  anders  meint,  hat  gar  keine  Aussicht  auf  den  Fort- 
gang, hält  das  Zufällige,  durch  die  Zeit  Bedingte  für 
ewig  und  notwendig:  er  ist  ...  Pöbel." 

Dieser  Philosoph  aber,  der  die  Tat  in  die  Mitte 
seines  Systems  stellt,  dem  der  Enthusiasmus  für  das 
politische  Handeln,  für  die  revolutionäre  Umgestal- 
tung der  Menschheit  die  Seele  seines  Denkens  war, 
übte  niemals  eine  Wirkung.  Zu  Lebzeiten  nicht 
und  auch  nachher  nicht.  Wohl  gewann  ihm  die  Ge- 
walt seiner  Beredsamkeit  Zulauf.  In  Jena  strömten 
die  Studenten;  in  Berlin  war  es  in  der  bessern  Gesell - 

188 


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schaft  zeitweilig  Mode,  die  Vorträge  des  Mannes  zu 
hören.  Aber  er  ritzte  nicht  die  Haut  seiner  Hörer. 
Freilich,  an  Gefühl  für  sein  Wollen  fehlte  es  nicht. 
Deshalb  wurde  er  zeitlebens  verfolgt,  und  nach  seinem 
Tod  noch  stand  der  Unverstandene  auf  der  Liste  der 
Bösewichte.  In  der  finstersten  Zeit  Deutschlands 
empfand  man  Fichte  sogar  als  den  Quell  alles  Bösen. 
Aber  vielleicht  nur  einmal  wurde  die  Philosophie  der 
Tat  Tat:  Das  war  100  Jahre  nach  seiner  Geburt,  als 
Ferdinand  Lassalle  in  Fichte  den  Geist  der  Arbeiter- 
bewegung entdeckte. 

Mit  seiner  im  deutschen  Schrifttum  nicht  wieder 
erreichten  volkstümlichen  Urkraft,  durch  Vernunft- 
gründe zu  überwältigen,  die  Widersprüche  und  Rat- 
losigkeiten der  herrschenden  Phraseologie,  als  der 
Hirnlohndienerin  der  herrschenden  Politik,  in  ihre 
letzten  Schlupfwinkel  zu  verfolgen,  mit  seiner  Gabe, 
das  Verwirrte  im  Tiefen  zu  vereinfachen,  das  Unehr- 
liche zu  entlarven  und  das  Unsinnige  spottend  un- 
schädlich zu  machen;  endlich  mit  dem  rhetorischen 
Ungestüm  eines  dennoch  künstlerisch  gebändigten 
Vortrags  wäre  er  in  England  wohl  ein  großer  Staats- 
mann geworden.  Im  politisch  luftleeren  Deutsch- 
land mußte  sich  seine  ungenutzte  Tatkraft  in  mysti- 
schen Überschwang  vergraben,  in  die  Seligkeit  sich 
selbst  in  der  Schau  des  Weltgeistcs  zu  erleben,  weil 
er  sich  nicht  entäußern  konnte.  Der  lebensfrischeste 
deutsche  Philosoph,  zugleich  der  kühnste  Revolu- 
tionär, wurde  so  aus  dem  rücksichtslosen  Kritiker  aller 
Offenbarung  ein  Schwärmer,  der  in  den  Zungen  der 
Offenbarung  Johannis  redete.  Fichte  kam  nicht  in 
seiner  Bildung  wie  Kant  von  der  strengen  mathema- 
tischen Naturwissenschaft,  in  der  man  sich  frei  be- 
wegen und  unabhängig  von  äußeren  Gewalten  zur 
harten,  scharfen,  methodischen  Arbeit  erziehen  konnte. 
Fichte  ging  von  dem  geistig  wie  staatsbürgerlich  ge 
fährlichen  Gebiet  der  sozialen  Sittlichkeit  aus,  er  war 


189 


von  Haus  aus  und  seiner  innersten  Neigung  nach  pon> 
tischer  Publizist  und  Agitator:  auf  diesem  Feld  fand 
er  keine  Freiheit  der  Betätigung,  nicht  einmal  die 
Freiheit  der  Aussprache.  Das  war  die  Ursache' seiner 
mystischen  Vergrabung  und  Absperrung.  Aber  die 
Mystik  ist  doch  nur  Gewölk,  das  den  hellen  Himmel 
überflutet.  Der  klare  Geist  redet  nur  im  Geisterstil. 
Wie  denn  auch  bloß  der  Stil  seines  Denkens,  nicht  das 
Denken  selbst  sich  verändert  hat.  Der  junge  Revo- 
lutionär hat  sich  nie  in  einen  preußischen  Staats- 
diener, der  Kosmopolit  der  Freiheit  nie  in  einen  deut- 
schen Nationalisten,  der  sozialistische  Demokrat  nie 
in  einen  Reformer  Hardenbergischer  Art  verwandelt: 
Die  Nachlaßschriften  seiner  letzten  Zeit  stießen  noch 
radikaler  gegen  alles  Bestehende  an  als  seine  anonymen 
Jugendpamphlete.  Nur  die  Ausdrucksweise  hat  sich 
geändert.  Er  sprach  immer  mehr  nur  noch  zu  sich 
selbst.  Er  hatte  keine  Mission.  Er  schrieb  auch  in  den 
letzten  Jahren  keine  Bücher  mehr;  das  Lesen  war  ja 
doch  nichts  als  eine  nutzlos  verschlingende  Gefräßig- 
keit. An  die  Macht  des  lebendig  gesprochenen  Wortes 
glaubte  er  noch  ein  wenig,  und  seine  Reden  und  Vor- 
träge ließ  er  drucken.  Aber  in  dem  Entwurf  zu  einer 
politischen  Schrift,  in  der  er  Friedrich  Wilhelms  III. 
Aufruf  An  mein  Volk  beantworten  wollte,  bekennt 
er  in  kämpfender  Verzweiflung,  daß  es  ihm  nicht  um 
irgendeinen  unmittelbaren  Erfolg  in  der  wirklichen 
Welt  zu  tun  sei;  er  will  seine  Gedanken  aussprechen, 
„damit  sie  nicht  untergehen  in  der  Welt". 

• 

Fichte  ist  der  Sohn  eines  Bandwebers  aus  Ram- 
menau in  der  Oberlausitz.  Es  ist  das  Elend  der  Erb- 
untertänigkeit, in  dem  seine  Kinderjahre  dahingehen. 
Nach  der  Ordnung  dieser  Zeit  war  es  ihm  gesetzlich 
verboten,  aus  seinem  Stand  jemals  herauszugehen. 
Er  hütet  die  Gänse,  er  hilft  den  zahlreichen  Geschwi- 

190 


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stern  die  Erzeugnisse  seines  Vaters  im  Hausierhandel 
zu  vertreiben.  Eine  bigotte  und  zänkische  Mutter 
läßt  ihn  früh  über  Familienerziehung  nachdenken. 
Auch  eine  andere  Erfahrung  begleitet  ihn  durchs  Da- 
sein von  Anbeginn  und  zeugt  in  ihm  die  Grund- 
anschauung seiner  Philosophie:  daß  die  menschliche 
Gesellschaft  aus  einem  Spiel  der  Zufälligkeiten  zu 
einer  Ordnung  aus  Vernunft  erschaffen  werden  solle. 
Der  Zufall  entscheidet  immer  wieder  sein  Schicksal. 
Weil  eines  Tages  ein  Junker  erst  nach  der  Predigt  in 
die  Kirche  kommt,  und  der  kleine  Gänsehirt  den 
gnädigen  Herrn  mit  seinem  Talent  vergnügt,  die  ent- 
behrte Predigt  aus  dem  Gedächtnis  zu  repetieren, 
nimmt  sich  der  Herr  des  Proletarierjungen  an  und 
schickt  ihn  auf  die  Gelehrtenschule;  er  soll  Pfarrer 
werden.  Unter  dem  harten  Willkürregiment  der 
Schulpforta  erglüht  sein  Freiheitsgefühl.  Rousseau 
wird  auch  Fichtes  Erwecker,  und  Defoc  sein  Phan- 
tasiebildner. Der  gequälte  Schüler  flieht  und  will 
sich  irgendeine  Robinsoninsel  schaffen.  Er  wird  in 
den  Kerker  zurückgebracht,  aber  in  seinem  Geist  wirkt 
das  Jugenderlebnis  nach:  Die  Utopie  seines  Ge- 
schlossenen Handelsstaates  wie  die  pädago- 
gische Provinz  in  seinen  Reden  an  die  deutsche 
Nation  sind  echte  Robinsonaden.  Auch  seine  my- 
stischen Predigten  vom  seligen  Leben  sind  Flucht- 
versuche auf  geistige  Robinsoninseln. 

Fichte  wird  Student.  Die  Familie  seines  inzwischen 
verstorbenen  Gönners  läßt  ihn  wirtschaftlich  ins  Leere 
sinken.  Er  unterrichtet  ums  Brot.  Die  Theologie  gibt 
er  auf.  Er  studiert  unruhig  und  unregelmäßig.  Er 
bringt  es  niemals  zu  einem  Examen.  Er  nimmt  den 
Jammer  des  Hauslehrertums  auf  sich,  an  das  sich  die 
meisten  Intellektuellen  des  klassischen  Zeitalters  klam- 
mern müssen.  Schulden  würgen  ihn.  Keine  Hoffnung 
mehr.  Er  faßt  den  Entschluß,  seinen  26.  Geburtstag 
nicht  mehr  zu  erleben.  Am  Vorabend  des  19.  Mai  1788 


191 


will  er  ein  Ende  machen.  Ein  Zufall  erhalt  ihn  am 
Leben:  Im  letzten  Augenblick  erreicht  ihn  der  Ruf, 
eine  Hauslehrerstelle  in  Zürich  anzunehmen.  Er 
wandert  in  die  Schweiz.  Hier  findet  er  zum  erstenmal 
Ruhe.  Auch  seine  künftige  Frau  findet  er  in  Zürich, 
Johanna  Rahn,  eine  Nichte  Klopstocks;  sie  war 
4  Jahre  älter,  nicht  schön)  aber  verständig,  klug  und 
hingebend.  2  Jahre  später  kehrt  er  nach  Deutschland 
zurück,  nach  Leipzig.  Ein  neuer  Zufall  entscheidet 
über  sein  geistiges  Leben.  Irgend  jemand  will  von 
ihm  Unterricht  in  Kantischer  Philosophie.  Er  muß 
also  Kant  lesen,  und  aufjauchzend  entdeckt  er  seinen 
Erlöser.  Kant  zähmt,  wie  Fichte  in  diesen  Tagen 
schreibt,  seine  übermächtige  Einbildungskraft,  sie 
gibt  dem  Verstand  das  Ubergewicht  und  dem  ganzen 
Geist  eine  unbegreifliche  Erhebung  über  alle  irdischen 
Dinge:  „Mein  ungestümer  Ausbreitungsgeist  schwieg: 
Das  waren  die  glücklichsten  Tage,  die  ich  je  verlebt 
habe.  Von  einem  Tage  zum  andern  verlegen  um 
Brot,  war  ich  dennoch  damals  vielleicht  einer  der 
glücklichsten  Menschen  auf  dem  weiten  Rund  der 
Erde." 

Not  und  Unruhe  treiben  ihn  weiter.  In  seinen  Be- 
ziehungen zu  seiner  Braut  fehlt  die  sinnliche  Leiden- 
schaft. Einen  schwankenden  Augenblick  denkt  er 
daran  das  Band  zu  lösen.  Er  pilgert  nach  Warschau, 
wo  sich  ihm  eine  Hauslehrerstelle  darbietet.  Als  er 
sieht,  daß  er  von  der  gräflichen  Familie  zum  Gesinde 
gerechnet  wird,  wirft  er  sofort  wieder  den  Bettel  hin. 
Jetzt  wallfahrtet  er  zum  Ort  seiner  Sehnsucht:  nach 
Königsberg.  Kant  ist  spröde.  Aber  es  gelingt  Fichte, 
den  Alten  zu  gewinnen,  der  vornehm  und  klug  die 
dringende  Bitte  um  finanzielle  Unterstützung  dadurch 
erfüllt,  daß  er  ihm  für  den  eben  entstandenen  Ver- 
such einer  Kritik  aller  Offenbarung  einen 
Verleger  verschafft.  Die  ohne  Namen  veröffentlichte 
Erstlingsschrift  wird  für  ein  Werk  Kants  gehalten  und 

192 


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deshalb  mit  Posaunentönen  verherrlicht.  Dieser  Irr- 
tum begründet  den  literarischen  Namen  Fichtes,  der 
fortan  zu  den  deutschen  Berühmtheiten  gehört. 

Fichte  geht  wieder  nach  Zürich,  heiratet  und 
schleudert  (anonym)  seine  brausenden  Revolutions- 
schriften hinaus,  in  denen  er  die  Denkfreiheit  von  den 
Fürsten  zurückfordert  und  die  Anschauungen  des 
Publikums  über  die  französische  Revolution  berichtigt. 
Für  Jena  sucht  man  eine  Zugkraft.  Man  verfällt  auf 
Fichte.  Daß  er  ein  unzweideutiger  Jakobiner  war, 
stört  die  Gewaltigen  von  Sachsen- Weimar  nicht.  Schon 
in  dieser  Frühzeit  erlebt  Fichte  das  später  immer  sich 
wiederholende  Schauspiel,  daß  man  sein  Wesentliches, 
wenn  man  es  überhaupt  versteht,  nicht  ernst  nimmt. 
Ein  Brief  des  Geheimen  Rats  Voigt  an  den  Professor 
Hufeland  zeigt,  in  welchem  Sinn .  man  den  Revo- 
lutionär zum  Jenaer  Professor  bändigen  wollte: 

„Ist  wohl  Fichte,  selbst  allenfalls  mit  Raischarakter, 
zu  haben?  Er  privatisiert  in  Zürich.  Ist  er  klug  genug, 
seine  demokratische  Phantasie  oder  Phantasterei  zu 
mäßigen  ?" 

So  wenig  kannte  man  Fichte,  daß  man  ihm,  als  ob 
es  nur  wie  eine  kleine  selbstverständliche  Höflichkeit 
von  ihm  gefordert  würde,  zutraute,  er  könnte  den 
Herzschlag  seiner  Weltanschauung  mäßigen. 

Seine  Jenenser  Professoren  jähre  waren  ebenso  er- 
folgreich (auch  finanziell)  wie  von  endlosen  Kämpfen 
zerrieben.  Unter  der  Anklage  des  Atheismus  bricht 
seine  Existenz  zusammen.  Er  muß  Jena  verlassen,  und 
alle  deutschen  Staaten  wetteifern,  Fichtes  Schrift- 
etellerei  zu  verpönen.  Nur  Preußen  folgte  der  An- 
regung Kursachsens  nicht  (Jena  wurde  mit  dem  Boykott 
bedroht,  wenn  die  Universität  nicht  Fichte  fortjagte), 
und  dieser  Umstand  veranlaßte  ihn,  nach  Berlin  zu 
gehen.  Er  wußte  nicht,  warum  Friedrich  Wilhelm  III. 
nichts  von  einem  Verbot  des  Fichteschen  Journals 
wissen  wollte.    Wir  aber  kennen  heute  den  Grund; 


13    Ki»ncr,  G«arnm*?lte  Schriften  II. 


193 


er  war  in  der  Kabinettsorder  vom  25.  Mai  1799  aus- 
gesprochen. Die  preußische  Majestät  mißbilligt  es 
zwar  auch,  daß  der  Verfasser  sich  bemüht  habe,  „das 
Dasein  Gottes  als  eines  selbständigen  Wesens  weg- 
zuräsonnieren",  und  sie  bedauert  die  „Halbphilosophen, 
die  ihre  Vernunft  in  dem  Grade  verlieren".  Aber  in 
Preußen  sei  das  Journal  in  keinem  Buchladcn  an- 
getroffen worden,  und  Fichte  würde  keine  Anhänger 
seiner  traurigen  Lehre  finden,  wofern  die  Schriften, 
„die  der  Aufmerksamkeit  der  Regierung  ganz  un- 
würdig sind,  nicht  durch  öffentliche  Schritte  aus  der 
Dunkelheit  hervorgezogen  werden,  in  der  sie  bisher 
gar  nicht  bemerkt  wurden4*. 

In  Berlin  hielt  Fichte  öffentliche  Vorträge.  Als 
nach  dem  Untergang  Preußens  in  Berlin  die  Uni- 
versität gegründet  wurde,  erhielt  er  eine  Professur,  zur 
Belohnung  dafür,  daß  man  seine  Art  von  Patriotismus 
nicht  verstand.  Aber  er  war  und  blieb  verdächtig. 
Nur  das  gedemütigte  Preußentum  duldete  ihn,  obwohl 
es  ihm  keinen  Tag  Schikanen  ersparte.  Er  starb,  bevor 
der  Sturz  Napoleons  vollendet  war,  und  das  siegreiche 
Preußentum  wieder  die  Herrschaft  ergriff.  Fichtes 
Frau  hatte  sich  bei  der  Krankenpflege  im  Lazarett 
im  Januar  18 Ii.  infiziert,  und  das  Fieber  übertrug  sie 
auf  ihren  Mann.  Am  29.  Januar  starb  Fichte.  Es  blieb 
ihm  erspart,  ins  Zuchthaus  gesperrt  oder  in  die  Ver- 
bannung getrieben  zu  werden  oder  gar  der  geistig- 
moralischen Fäulnis  zu  erliegen,  wie  andere,  wie  etwa 
Josef  Görres,  der  in  der  Jugend  in  Wollen  und  Art 
viel  Gemeinsames  mit  Fichte  hatte  und  sich  in  der 
Zeit  der  heiligen  Allianz  bis  in  den  letzten  Aberwitz 
verzückt  frömmelnder  Mystik  verlor. 

*  * 
« 

Johann  Gottlieb  Fichte  gehört  zu  den  ganz  ver- 
einzelten Gestalten  unserer  klassischen  Zeit,  die  trotzig 
und  aufrecht,  ohne  Beugungen  und  Zugeständnisse, 

194 


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ihren  einsamen  Weg  gehen.  Nur  einmal,  einen  Augen- 
blick, schien  er  zu  löblicher  Unterwerfung  bereit.  Das 
war  in  den  letzten  Zuckungen  des  Jenenser  Atheismus- 
streits. Da  bot  er  den  Rückzug  an,  aber  ein  gnädiges 
Schicksal  verhütete,  daß  man  sein  Angebot  annahm. 
Der  Minister  Goethe  hatte  bereits  durch  eine  höchst 
formlose  Überrumpelung  (ein  Privatbrief  wurde  als 
ein  Entlassungsgesuch  aufgefaßt,  und  das  also  kon- 
struierte Gesuch  schleunig  genehmigt)  die  Entfernung 
des  lästigen  Mannes  erwirkt.  Im  bürgerlichen  Deutsch- 
land fehlte  das  Verständnis  für  jene  taktlosen  Cha- 
raktere, die  so  unbesonnen  sind,  ihre  Weltanschauung 
in  ihrer  persönlichen  Lebensführung  durchsetzen  zu 
wollen,  ohne  des  Anstoßes  zu  achten. 

So  halfen  die  Weimarer  Ästheten  Fichte  vertreiben. 
In  dieser  entnervenden  Hofluft  galten  politische 
Kampfer  halb  als  ärgerliche  Narren,  halb  als  gefähr- 
liche Katilinarier,  und  konnte  man  nicht  ihre  Plattheit 
aristokratisch  schelten,  so  hielt  man  sich  umgekehrt 
im  Namen  des  sonst  verachteten  gesunden  Menschen- 
verstands über  ihre  Verstiegenheit  auf.  Welch  jäm- 
merliche Philister  die  Weimaraner  in  allen  Fragen  des 
politischen  Charakters  waren,  erkennt  man  aus  dem 
lustig  empörten  mehr  die  Feinde  Ficht  es  als  diesen 
selbst  ironisierenden  Brief,  den  Caroline  Herder  da- 
mals über  die  Verteidigungsschrift  Fichtes  und  Niet- 
hammers (des  Mitherausgebers  des  Fichteschen  Jour- 
nals) an  Knebel  sandte: 

„Wirklich,  es  war  keine  kleine  Arbeit,  sie  zu  lesen. 
Indessen  ist  es  interessant  zu  sehen,  mit  welchem  Stolz 
und  welcher  Eingebildetheit  sie  ihre  Sache  führen, 
wie  sie  sagen,  was  sie  erwarten,  daß  die  durchlauchtig- 
sten Erhalter  tun  werden.  Sie  schreiben  zwar  nicht 
vor,  aber  Fichte  droht  mit  sehr  deutlichen  Worten, 
wenn  er  keinen  Schutz  gegen  die  Kabale  findet,  dahin 
zu  gehen,  wo  Gewalt  gilt,  weil  man  da  doch  auch  die 
Hoffnung  hat,  einen  Teil  dieser  Gewalt  an  sich  zu 


i95 


reißen.  Was  sagen  Sic  zu  diesem  letzten  ?  Die  Herren 
Protekteurs  sind  nun  etwas  stark  beleidigt  (wir  hören 
eben  im  Vertrauen,  daß  ihm  der  Rat  des  Wanderns 
gegeben  werden  soll,  von  hier  aus).  Sie  werden  hier 
mit  dieser  hervorstörenden,  kecken  Nase  dieser  kleinen 
Person  schon  noch  zu  tun  bekommen." 

Eine  drollige  Anmaßung  in  der  Tat,  daß  eine  kleine 
Person,  die  dem  Weltgeist  die  Geheimnisse  ablauscht, 
sich  herauszunehmen  erdreistet,  mit  seiner  hervor- 
störenden, kecken  Nase  sogar  durchlauchtigste  Er- 
halter, einen  lebendigen  deutschen  Herzog,  durch  die 
Verteidigung  des  Rechts  zu  beleidigen.  Die  submisse 
Dienstwilligkeit  des  Weimarer  Ästhetenklubs  steigerte 
das  Mißtrauen  Fichtes  in  die  Mission  der  Kunst.  Die 
Kunst  ist  in  seinem  Gedankenbau  beinahe  vergessen. 
Gegen  Schillers  Flucht  ins  Reich  des  Schönen  richtet 
sich  das  derbe,  das  ganze  klassische  Zeitalter  verurtei- 
lende Wort: 

„Die  Idee,  durch  ästhetische  Erziehung  die  Men- 
schen zur  Würdigkeit  der  Freiheit  und  mit  ihr  zur 
Freiheit  selbst  zu  erheben,  führt  uns  in  einem  Kreis 
herum,  wenn  wir  nicht  vorher  ein  Mittel  finden,  in 
einzelnen  von  der  großen  Menge  den  Mut  zu  erwecken, 
niemandes  Herren  und  niemandes  Knechte  zu  sein." 

Und  an  anderer  Stelle: 

„So  ist  der  ästhetische  Trieb  im  Menschen  aller 
dings  dem  Trieb  nach  Wahrheit  und  dem  höchsten 
aller  Triebe,  dem  nach  sittlicher  Güte,  unterzuordnen." 

Die  hervorstörende,  kecke  Nase  wurde  in  Berlin  nicht 
weniger  peinlich  empfunden.  Selbst  als  er  im  vollen 
Bewußtsein  der  Lebensgefahr  in  der  von  den  Fran- 
zosen besetzten  preußischen  Hauptstadt  dem  Feind 
die  Reden  an  die  deutsche  Nation  ins  Angesicht 
schleuderte,  ließen  ihn  die  Franzosen  zwar  gewähren, 
aber  die  preußische  Obrigkeit  mißhandelte  den  Staats 
gefährlichen  Patrioten.  Das  Manuskript  einer  Rede 
ließ  die  Zensur  verloren  gehen,  das  heißt,  man  unter 

196 


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schlug  es,  wie  das  preußische  Übung  war  und  blieb. 
(Im  Berliner  Geheimarchiv  sind  solche  verloren 
gegangene  Handschriften  heute  noch  aufbewahrt.) 
In  die  anderen  Reden  pfuschte  man  hinein.  Die  Zen- 
sur half  sogar  durch  Fichte  selbst  die  Fichtelegende 
von  dem  Individualisten  zu  fördern,  der  doch  ein 
sozialistischer  Demokrat  war.  In  die  14.  Rede  mußte 
Fichte  auf  Weisung  der  preußischen  Zensur  den  klar 
auf  eine  Massenbefreiung  zielenden  Satz:  „Ob  aber 
gerade  es  uns  wieder  wohl  gehen  soll,  dies  hängt  ganz 
allein  von  uns  ab,  und  es  wird  sicherlich  nicht  wieder 
irgendein  Wohlsein  an  uns  kommen,  wenn  wir  nicht 
selbst  es  uns  verschaffen"  durch  den  Zusatz  in  die 
ebenso  ungefährliche  wie  beliebte,  weil  nicht  befolgte 
Predigt  persönlicher  Charakterbildung  auflösen  und 
verdunkeln:  „und  insbesondere,  wenn  nicht  jeder 
einzelne  unter  uns  in  seiner  Weise  tut  und  wirket,  als 
ob  er  allein  sei,  und  als  ob  lediglich  auf  ihm  das  Heil 
der  künftigen  Geschlechter  beruhte". 

Fichte  wurde  zwar  an  die  neue  Universität  Berlin 
berufen,  aber  seinem  großen  Wollen  wurde  kein  Ein- 
fluß verstattet.  Sein  Rektorat  nahm  nach  aufreibenden 
Konflikten  ein  rasches  Ende.  Ihn  meint  der  Kultus- 
minister Schuckmann,  wenn  er  dem  König  rät,  sein 
Wort  zu  brechen  und  die  Verleihung  der  Domänen, 
die  der  Universität  wirtschaftliche  Unabhängigkeit 
sichern  sollten,  nicht  auszuführen: 

„Wie  aber  auch  die  Köpfe  (der  Professoren)  exaltiert 
sein  mögen,  so  behalten  doch  die  Mägen  immer  ihre 
Rechte  gegen  sie,  die  einzigen,  die  in  diesem  Zustand 
geschont  werden.  Wem  die  Herrschaft  über  letztere 
bleibt,  der  wird  immer  auch  mit  ersteren  fertig,  und 
wer  die  Befriedigung  der  letzteren  an  seine  Wahl 
bindet,  hat  die  beste  Sicherheit,  daß  die  ersteren  dafür 
arbeiten." 

Fichte  hat  sich  nach  seiner  Entlassung  aus  dem  Rekto- 
rat in  den  Senatssitzungen  nicht  mehr  blicken  lassen. 


197 


Ais  der  unbequeme  Mann  endlich  tot  war,  und 
Friedrich  Wilhelm  III.,  nach  Erledigung  Bonapartes, 
wieder  höchst  lebendig,  da  wurde  Fichtes  Geist  als 
der  große  Verderber  gehetzt.  Die  Karlsbader  Be- 
schlüsse genügten  den  Preußen  nicht.  Es  galt  die 
Morallehre  Fichtes  und  alle,  die  sich  zu  ihr  bekannten, 
auszurotten.  In  dem  Promemoria,  in  dem  1821  die 
Beckedorff,  Eylert,  Snethlage  und  Schultz  den  König 
zum  Vernichtungskampf  gegen  den  Umsturz  aufriefen, 
wurden  Fichtes  verderbliche  Wirkungen  lebhaft  ge- 
schildert : 

„Da  nämlich  nach  jenem  neuern  Moralsystem  nur 
diejenige  Handlung  recht  und  sittlich  genannt  werden 
kann,  welche  mit  der  innersten  Überzeugung  des  Men- 
schen übereinstimmt,  jede  Handlung  nach  Bestim- 
mung äußerer  Autorität  aber  unsittlich  und  des  reinen 
Menschen  unwürdig  ist;  so  ist  es  danach  auch  unsittlich 
und  seiner  unwürdig,  sich  Gesetzen  zu  unterwerfen, 
von  deren  Güte  er  nicht  überzeugt  ist,  und  zu  denen 
er,  laut  oder  schweigend,  seine  Einwilligung  nicht  ge- 
geben hat.  Du  sollst  Gott  mehr  gehorchen  als  den 
Menschen  wird  nach  dieser  neuen  Moral  so  gedeutet, 
daß,  da  Gott  im  Menschen  selbst  oder  nichts  anderes 
als  des  Menschen  tiefstes  Wesen,  seine  innerste  Uber- 
zeugung, sei,  dieser  Überzeugung  mehr  als  allen  Ge- 
setzen zu  gehorchen  ist.  Gehorsam  gegen  die  Gesetze 
findet  also  hiernach  nur  aus  Klugheit  zur  Vermeidung 
äußern  Zwanges  und  mit  der  Mentalreservation  statt, 
sie  zu  befolgen,  insofern  sie  mit  der  Überzeugung  des 
Individui  übereinstimmen,  sonst  aber  ihnen  aus  sitt- 
licher Verpflichtung  auf  alle  Weise,  heimlich  oder 
öffentlich  entgegenzuwirken.  Da^er  entspringt  denn 
also  auch  für  die  Bekenner  dieser  Moral  die  absolute 
Notwendigkeit,  jedem  einzelnen  seinen  Anteil  an  der 
Gesetzgebung  zu  vindizieren,  mithin  die  Notwendig 
keit  einer  gesetzgebenden  Volksrepräsentation;  so  wie 
sich  für  selbige  andrerseits  aus  dem  Grundsatz  der 

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Nichtigkeit  aller  Autorität,  selbst  der  göttlichen  Ge- 
setze der  Offenbarung,  und  aus  dem  Grundsatz  des 
absoluten  gleichen  Wertes  der  Menschen  als  Inhaber 
des  höchsten  göttlichen  Wesens  die  notwendige  For- 
derung der  Souveränität  des  Volkes  ergibt." 

Nach  dieser  gar  nicht  üblen  Darstellung  Fichte- 
scher Anschauungen  wird  solche  Lehre  nicht  (wie  der 
Urheber  selbst  behauptet)  als  „Fingerzeig  Gottes*'  • 
anerkannt;  hier  sei  vielmehr  „deutlich  die  Hand  des 
Verderbers  zu  erkennen,  der  die  schwachen  Menschen 
durch  solche  Vorspiegelungen  zum  ewigen  Unheil  zu 
verführen  sucht,  indem  er  das  Zauberbild  einer  über- 
menschlichen Vollkommenheit  ihren  betörten  Augen 
vorgaukelt".  Wo  aber  das  Christentum  verloren  ge- 
gangen und  an  seine  Stelle  die  törichte  Einbildung 
philosophischer  Erkenntnis  der  göttlichen  Natur  des 
Menschen  eingetreten  ist,  da  können  weder  Kirche 
noch  Staat  länger  bestehen.  Da  versinkt  alles  Heil  der 
Gegenwart  und  Zukunft  in  einen  bodenlosen  Abgrund. 
Am  Rande  dieses  Abgrunds  steht  unser  Vaterland. 
Dann  wurde  in  kerniger  Schlichtheit  die  amtlich 
preußische  Biographie  Fichtes  entworfen: 

„Dieser  Professor  Fichte,  dessen  öffentliche  Lehren 
die  wirksamste  Grundlage  der  Entwickelung  dieses 
gefährlichen  Systems  gewesen  sind,  war  schon  im 
Jahre  1798,  als  damaliger  Lehrer  der  Philosophie  an 
der  Universität  zu  Jena,  auf  den  Antrag  des  Dresdener 
Hofes  wegen  atheistischer  Lehren  in  Anspruch  ge- 
nommen worden.  Er  verteidigte  sich  dagegen  in  ge- 
druckten Schriften  auf  eine  Weise,  welche  den  Grund 
dieser  Anklage  gegen  ihn  nur  zu  sehr  bestätigte  und 
das  Gift  seiner  Lehre  um  desto  allgemeiner  verbreitete. 
Nachdem  er  demzufolge  von  dem  Lehramt  zu  Jena 
entlassen  war,  wurde  er  zu  unserm  großen  Unglück, 
gleichsam  als  Entschädigung  für  ihm  dort  widerfahrene 
Kränkung,  nach  Erlangen  berufen;  ja,  er  erhielt  sogar 
die  Aufforderung,  anstatt  zu  Erlangen,  hier  zu  Berlin 

190 


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vor  einem  gemischten  Publikum,  also  in  populärer 
Sprache,  seine  Lehren  vorzutragen.  Von  diesen  popu- 
lären Vorlesungen,  welche  Professor  Fichte  hier  bis 
zum  Jahre  1808  mit  steigendem  Beifall  gehalten  hat, 
schreibt  sich  die  gänzliche  Zerstörung  der  christlich- 
religiösen und  moralischen  Gesinnung  her,  welche 
weiterhin  unter  einem  großen  Teil  der  hiesigen  Staats- 
beamten, Gelehrten  und  Jugendlehrer  zur  Erschei- 
nung gekommen  ist,  indem  der  feste  Glaube  an  philo- 
sophische Allmacht  und  Allwissenheit  des  Menschen 
an  deren  Stelle  trat." 

Die  Reden  an  die  deutsche  Nation  werden 
in  erster  Linie  verantwortlich  gemacht.  In  diesem 
Plan  deutscher  Nationalerziehung  sei  dargelegt,  „daß 
alle  echte  Bildung  in  Deutschland  vom  Volk  aus- 
gegangen, von  den  Fürsten  und  dem  Adel  aber  ge- 
hindert worden  sei,  und  daß  die  deutsche  Nation  vor 
allen  anderen  europäischen  Nationen  ihre  Reife  zur 
republikanischen  Verfassung  geschichtlich  dargetan 
habe,  .  .  .  daß  die  bisherige  Tendenz  der  öffentlichen 
Lehranstalten,  die  Erziehung  zur  Seligkeit  im  Himmel 
und  der  Unterricht  um  des  Christentums  willen, 
durchaus  verwerflich  sei:  für  die  Seligkeit  im  Himmel 
bedürfe  es  keiner  Bildung  .  .  .;  daß  die  National- 
erziehung auf  Stand,  Geburt  und  äußere  Bestimmung 
keine  Rücksicht  zu  nehmen  habe".  Es  wird  endlich 
(nach  der  unsterblichen  politischen  Technik,  geistige 
Lehren  für  Verbrechen  verantwortlich  zu  machen) 
dargetan,  daß  Sand,  der  Mörder  Kotzebues,  ganz  im 
Sinn  jenes  „philosophischen  Weltreformators"  auf 
dem  Wartburgfest  gesprochen,  um  zu  dem  Schluß  zu 
gelangen:  es  seien  Vorkehrungen  zu  treffen,  „daß 
durch  Spekulation  und  Kritik  nicht  ferner  wie  bisher 
die  Grundfesten  der  Kirche  und  des  Staates  angegriffen 
und  erschüttert  werden",  natürlich,  „ohne  daß  die 
Freiheit  wissenschaftlicher  Forschung  dadurch  be- 
schränkt wird". 

200 


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Die  Wirkungen,  die  von  Fichte  ausgingen,  sind  mit 
berechnender  Absicht  in  dieser  Urkunde  preußischer 
Achtung  vor  Philosophie  und  Wissenschaft  maßlos 
übertrieben.  Die  gleiche  Rolle  spielt  Fichtes  Geist  in 
den  Demagogenakten  der  Mainzer  Untersuchungs- 
kommission, und  aus  derselben  Übertreibung  wurden 
1824  die  Reden  an  die  deutsche  Nation  als  ein 
„verführerisches,  leere  Phantome  nährendes  Buch" 
verboten.  Immerhin  bewiesen  damals  die  Herrschen- 
den Preußens  ihre  Dankbarkeit  dem  Mann,  der  einst 
für  ihre  Befreiung  unter  Gefahr  des  Todes  gewirkt,  da- 
durch, daß  sie  für  die  revolutionäre  Bedeutung  des 
Genius  das  Verständnis  auszubreiten  suchten.  Die 
Folgezeit  ließ  Fichte  nicht  einmal  mehr  seine  Seele. 
Das  Äußerste  der  Ächtung  wird  erst  ein  Jahrhundert 
nach  seinem  Tod  erlebt  werden:  Dann  werden  die 
unveränderten  Verfolger  und  Bedränger  seiner  Lehre 
ihm  ein  Denkmal  setzen. 

Fichte  hat  die  deutsche  Aufklärung  zu  ihrem  letzten 
Gipfel  geführt:  zur  Demokratie,  die  sozialistisch  sich 
vollendet.  Die  nach  innersten  Gesetzen  tätige  Men- 
schenvernunft wird  zum  schaffenden  Prinzip  der  Welt 
erhoben.  Alle  Erkenntnis  wird  in  bewegt  bewegende 
Handlung  aufgelöst.  Das  sittliche  Handeln  hat  den 
Vorrang  vor  aller  wissenschaftlichen  Naturerkenntnis. 
An  diesem  Gipfel  des  Aufstiegs  beginnt  der  Absturz 
in  die  Romantik,  in  die  visionäre  Gefühlsrabulistik  und 
Ideenspinnerei  der  Naturphilosophen  und  Geschichts- 
dialektiker. Die  Philosophie  wird  reaktionär,  wie  die 
Revolution  Restauration  wird.  Fichtes  absolutes  Ich 
der  tätigen  Freiheit,  das  doch  selbst  den  romantischen 
Absturz  vorbereitet  hat,  schreitet  nun,  geläutert  an 
der  Spitze  der  Demagogen,  die  unter  der  Herrschaft 
der  Naturphilosophen  verfolgt  wurden.  Fichtes  Ge- 
schichtsphilosophie läßt  die  Menschen  aus  eigener 
Kraft  der  Vernunft  die  Welt  gestalten,  Hegels  Mensch- 
heitsgeschichte ist  ein  bösartiger  Witz  Gottes:  Die  sich 


20 1 


selbst  überlassene  Menschheit  taumelt  in  trübem 
Aberwitz  dahin;  aber  in  der  Synthese  allen  Unsinns 
wirkt  sich  schließlich  die  göttliche  Vorsehung  zum 
höchsten  Sinn  aus.  Das  ist  die  Hegeische  „List"  der 
Vernunft: 

„Gott  läßt  die  Menschen  mit  ihren  besonderen 
Leidenschaften  und  Interessen  gewähren,  und  was 
dadurch  zustande  kommt,  das  ist  die  Vollführung  seiner 
Absichten,  welche  ein  anderes  sind  als  dasjenige,  um  was 
es  denjenigen,  deren  er  sich  dabei  bedient,  zunächst 
zu  tun  war." 

Wobei  denn  klärlich,  um  die  rechte  Summe  in  dem 
listigen  Rechenexempel  herauszubekommen,  nichts 
Wirkliches  fehlen  darf,  und  da  das  „Wirkliche", 
d.  h.  das  gesetzmäßig  Notwendige  vernünftig  ist, 
Friedrich  Wilhelm  III.  und  die  Demagogenhatz  als 
unentbehrliche  Glieder  in  der  listigen  Entwickelung 
zur  Erfüllung  der  Gottesidee  unantastbar  werden:  bei 
Todes-  und  Zuchthausstrafe. 

Fichtes  Welt-,  Gott-  und  Geschichtsauffassung  er- 
niedrigt den  Menschen  nicht  zum  Spielball  einer 
niederträchtigen  List.  Die  göttliche  Vorsehung  ist  die 
menschliche  Vernunft,  die  zur  Gemeinschaft  der 
freien  und  gleichen  Menschen  emporstrebt.  Weil 
Fichte  das  Ich  für  die  letzte  Instanz  erklärt,  wird  er 
von  der  Kompendienweisheit  der  Richtungs-  und 
Wortregistratoren  unter  die  Individualisten  oder  Sub- 
jektivisten  eingereiht.  Die  Müller,  Schulze  und 
Schuckmann  wären  danach,  jeder  auf  seine  Art,  be- 
sondere Weltschöpfer.  „Die  nächste  sich  darbietende 
Erscheinung  bei  einem  epochemachenden  System  sind 
die  Mißverständnisse",  schrieb  Hegel  1801  über  das 
Schicksal  der  Lehre  Fichtes.  Die  Mißverständnisse 
sind  aber  nicht  nur  die  nächste,  sondern,  gerade  weil 
sie  aus  platter  Gedankenlosigkeit  erwachsen,  die  blei- 
bende Erscheinung.  Philosophenjubiläen  sind  ge- 
meinhin tausendste  Wiederholungen  der  erfolgreichen 

202 


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Posse  der  Irrungen,  Benefizvorstcllungcn  nicht  für  den 
Philosophen,  sondern  für  die  verschollenen  Leute,  die 
sich  zuerst  die  Mühe  gaben,  ihn  entscheidend  mitt- 
zuverstehen. 

Was  ist  dieses  lehr 

Die  Anklage  des  Atheismus,  die  ihn  von  Jena  fort- 
trieb, ist  durchaus  begründet,  wenn  man  die  An- 
schauung aller  Mythologien  von  göttlichem  Wesen 
zugrunde  legt.  Für  die  Mythologen  muß  Fichte  in 
der  Tat  der  radikalste  aller  Atheisten  sein.  Denn  das 
Dasein  solchen  Gottes  ist  für  Fichte  nicht  nur,  wie 
bei  Kant,  nicht  beweisbar,  sondern  sein  Nichtdasein 
ist  schlechthin  notwendig.  Umgekehrt  ist  für  Fichte 
alle  anthropomorphe  Vergottung  schändlichster  Atheis- 
mus, roheste  Blasphemie.  Fichte  aber  ist  nicht  nur 
gottgläubig,  sondern  gotterfüllt,  Enthusiast.  Er  glaubt 
an  den  Gott  in  sich,  seine  in  Flammen  glühende  Re- 
ligion ist:  diesen  Gott  zu  entäußern.  Fichtes  Gott  ist 
die  sittliche  Weltordnung.  Schärfer  und  reiner  noch 
kann  man  Fichtes  Gottesbegriff  als  das  sittliche 
Weltordnen  bezeichnen.  Damit  ist  der  in  ihm  lie- 
gende Begriff  höchster  menschlicher  Aktivität  aus- 
gesprochen. Sittliche  Weltordnung,  reines  Ich,  ab- 
solute Realität,  Gott,  letzte  Objektivität,  Freiheit: 
das  sind  alles  nur  verschiedene  Wendungen,  um  den 
Grundgedanken  Fichtes  zu  bezeichnen.  Das  Fichte- 
sche Ich  ist  so  wenig  ein  Individuum  oder  ein  Sub- 
jekt, daß  es  vielmehr  die  letzte,  allgemeinste,  un- 
umstößliche Gewißheit  der  Menschheit,  des  Men- 
schengeistes, des  Kulturbewußtseins,  oder  auch  Gottes 
und  des  Weltgeistcs  ist:  die  Gesellschaftsordnung  sitt- 
licher Freiheit  auf  Erden  zu  schaffen.  Der  Mensch 
müßte  sich  selbst  aufgeben,  wenn  er  nicht  an  diese 
Idee  der  Freiheit,  an  diese  schöpferische  Aufgabe  des 
reinen  Ichs  glaubte  und  zugleich  entschlossen  wäre, 
diese  höchste  Realität  zu  realisieren,  in  der  Erschei- 
nungswelt des  Staates  zu  verwirklichen.  Die  Neigung 


203 


Fichtes,  diesen  seinen  elementaren  Lebensgedanken  in 
biblisch  glühenden  Bildern  zu  malen  und  in  mystisch 
schwärmenden  Tiefsinn  zu  versenken,  die  leidenschaft- 
liche Inbrunst,  mit  dieser  Philosophie  tätiger  Freiheit 
die  Gemüter  zu  erfüllen,  auch  wohl  der  Zwang  der 
Preßunfreiheit  und  der  Zensur,  können  den,  der  den 
innern  Stil  seines  Gedankenbaus  nicht  erfaßt  hat,  in 
die  Irre  führen. 

Das  ist  das  absolute  Ich:  die  Wahrheit  und  Gewiß- 
heit an  sich.  Die  Menschheit  verliert  sich  selbst, 
wenn  sie  an  diesem  Gesetz  zweifelte,  ihm  nicht  folgte. 
Freilich  ist  damit  nicht  gesagt,  daß  sich  die  Mensch- 
heit nicht  aufgeben  kann.  Es  ist  sogar  die  Meinung 
Fichtes,  daß  sich  die  Menschheit  aufgegeben  hat.  An 
dieser  Stelle  erfüllt  sich  Fichtes  absolutes  Ich  mit 
Pestalozzis  Erziehungslehre.  Die  neue  Generation  soll, 
losgelöst  von  aller  verlorenen  Menschheit,  dazu  er- 
zogen werden,  die  höchste  Realität  wiederzufinden,  zu 
realisieren.  So  will  er  den  Freiheitskrieg  als  einen 
Aufschwung  zum  Wiederfinden  deuten,  er  klammert 
sich  an  die  Idee  des  Freiheitskriegs,  weil  er  an  der 
Zufälligkeit  des  tatsächlichen  Freiheitskriegs  von  An- 
fang an  verzweifelt.  Und  er  spricht  im  letzten  Jahr 
seines  Lebens  den  Fluch  aus  über  das  deutsche  Volk, 
das  die  Gelegenheit  des  idealen  Freiheitskriegs  nicht 
ergreife  und  in  alte  Knechtschaft  sich  zurückführen 
ließe.  Das  wäre  die  Selbstaufgebung  der  Menschheit. 

Der  Grundgedanke  Fichtes  läßt  sich  nunmehr  ganz 
einfach  aussprechen:  Sein  ablosutes  Ich,  sein  Gott,  ist 
gar  nichts  anderes  als  Demokratie  und  Sozialismus,  als 
tätiges  Zielprinzip,  gesichert  durch  den  Enthusiasmus 
handelnden  Glaubens  an  diese  Aufgabe.  Mir  scheint, 
als  ob  letzten  Endes  diese  Philosophie  des  sozialen  En- 
thusiasmus so  wenig  Mystisches  an  sich  hat,  daß  sie  viel- 
mehr die  Lebensbedingung  aller  revolutionären  Kämpfer 
ist:  der  absolute  Glaube  an  den  endlichen  Sieg  der 
Freiheit,   an  ihre  Erfüllung  im  irdischen  Jenseits. 

204 


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Fichte  hat  von  Anfang  an  in  seiner  Verteidigung 
der  französischen  Revolution  und  des  Rechts  der  Re- 
volution überhaupt  die  Demokratie  mit  sozialistischer 
Kritik  des  Eigentums  gefärbt.  Der  Gedanke  eines 
national  abgesperrten  sozialistischen  Staates,  der  1800 
im  Geschlossenen  Handelsstaat  ausgeführt  wird,  ist 
aus  den  jahrzehntelangen  Handelskriegen  zwischen 
England  und  Frankreich  erwachsen;  es  schien  keine 
andere  Möglichkeit  gegeben,  um  nicht  ewig  in  diesen 
Strudel  der  Weltkämpfe  hineingezogen  zu  werden,  als 
die  völlige  wirtschaftliche  Isolierung.  Das  System 
einer  sozialistischen  Republik  beschäftigt  erneut  seine 
letzten  Jahre.  Es  ist  keineswegs  bloß*  eine  Art  von 
Erziehungssozialismus.  Die  Reden  an  die  deutsche 
Nation  sind  nur  ein  die  Erziehungsfrage  in  Pestalozzis 
Sinn  behandelndes  vorläufiges  Kapitel  eines  umfassen- 
den politischen  Systems  der  sozialistischen  Demokratie. 
Und  ganz  und  gar  nicht  denkt  Fichte  etwa  an  eine 
Beglückung  und  Begnadung  mit  Sozialismus  von  oben 
herab.  Die  Befreiung  kann  nur  das  Werk  der  Massen- 
erhebung von  unten  auf  sein.  In  der  Staatslehre 
von  181 3  streift  er  den  Gedanken  des  Klassenkampfs: 
Die  Menschheit  zerfällt  in  zwei  Grundstämme,  die 
Eigentümer  und  die  Nichteigentümer.  Die  Staats- 
gewalt war  bisher  der  Diener  der  Eigentümer,  die  aber 
in  Wahrheit  nicht  der  Staat  sind.  Das  sind  schon  Ideen 
einer  durchaus  praktisch-tätigen  Politik.  Fichte  hat 
auch,  wie  die  Sozialdemokraten,  jeden  Weg  versucht, 
um  seine  Ideale  zu  verwirklichen,  und  keine  Teilarbeit, 
keinen  Teilerfolg  verschmäht.  Wie  er  Freimaurer 
wurde,  um  diesen  Orden  zur  Propaganda  zu  gewinnen 
(mit  jämmerlichem  Mißerfolg  übrigens),  so  trieb  er 
zu  den  Freiheitskriegen  vornehmlich  deshalb  an,  weil 
er  in  der  Schaffung  einer  waffenfähigen  Volks  wehr 
das  revolutionäre  Element  erkannte.  Als  Demokrat 
und  Sozialist  blieb  Fichte  kosmopolitisch.  Sein  Na- 
tionalismus hat  nichts  mit  dem  gemein,  was  man  heute 


205 


darunter  versteht.  Er  haßte  Napoleon  und  die  Fran- 
zosen als  die  Verräter  an  der  Revolution.  Gerade  weil 
im  deutschen  Volk  aller  staatlicher  Verband  vernichtet, 
und  damit  die  organisierte  Macht  der  Unfreiheit 
scheinbar  aufgelöst  war,  hielt  er  das  deutsche  Volk  für 
berufen,  die  Revolution  zu  vollenden.  Das  war  sein 
nationaler  Enthusiasmus,  der  über  alle  Grenzen  und 
alle  Zeiten  hinausstrebte. 

In  einem' Dasein  von  Enttäuschungen  hat  Fichte 
den  Glauben  an  die  Zukunft  niemals  verloren.  In 
einem  Sonett  hat  er  selbst  diese  Stimmung  gemalt : 

„Was  meinem  Auge  diese  Kraft  gegeben, 
Daß  alle  Mißgestalt  ihm  ist  zerronnen, 
Daß  ihm  die  Nächte  werden  heitre  Sonnen, 
Unordnung,  Ordnung  und  Verwesung  Leben? 

Was  durch  der  Zeit,  des  Raums  verworrnes  Weben 
Mich  sicher  leitet  hin  zum  ew'gen  Bronnen 
Des  Schönen,  Wahren,  Guten  und  der  Wonnen, 
Und  drin  vernichtend  eintaucht  all  mein  Streben  ? 

Das  ist's:  Seit  in  Uranias  Aug',  die  tiefe 
Sich  selber  klare,  blaue,  stille,  reine 
Lichtflamm',  ich,  selber  still,  hineingesehen: 

Seitdem  ruht  dieses  Aug'  mir  in  der  Tiefe, 

Und  ist  in  meinem  Sein,  das  ewig  Eine, 

Lebt  mir  ein  Leben,  sieht  in  meinem  Sehen." 

[1912]. 

Anhang: 

Zu  Fichtes  Charakterbild. 

Fichtes  Nationalismus  (1912).  Eine  landläufige 
Scheidung  zwischen  den  Wesenscigenhsiten  des  18. 
und  19.  Jahrhunderts  läßt  jenes  kosmopolitisch,  vater- 
landslos, ungeschichtlich  rationalistisch,  revolutionär 

206 


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sein,  dieses  hingegen  national,  organisch,  historisch, 
reformerisch.  Das  18.  Jahrhundert  ist  umstürzend, 
das  19.  anknüpfend,  entwickelnd.  Das  18.  Jahrhundert 
sprengte  alle  Grenzen  und  Schranken  außer  die  Ver- 
nunft, das  19.  sprengt  die  Vernunft  und  erkennt  da- 
für alle  Grenzen  und  Schranken  an.  Nach  solcher 
Auffassung  scheint  es,  als  ob  das  Sinnloseste,  wenn  es 
einmal  geschichtlich  geworden,  auf  einmal  den  Ruh- 
mestitel des  Organischen  erworben  habe,  und  nur  eine 
menschliche  Erscheinung  des  organischen  Wesens  ent- 
behre: die  Schöpferquelle  alles  Menschlichen  —  die 
Vernunft. 

Mit  dieser  Unterscheidung  der  beiden  Jahrhunderte 
wird  das  Charakterbild  J.  G.  Fichtes  zerrissen.  Mit 
der  Vorliebe  der  deutschen  Bildungsphilister,  aus  dem 
wilden  Most  revolutionärer  Jugend  Verwirrungen  auf 
jeden  Fall  den  wässerigen  Landwein  berechtigt  liberaler 
Spießbürgerei  sich  entwickeln  zu  lassen,  hat  man  auch 
dieses  ungebärdige  Kind  des  18.  Jahrhunderts  in  einen 
braven  Bürger  des  19.  Jahrhunderts  gewandelt.  Aber 
alle  diese  gelehrten  und  dilettantischen  Bemühungen 
haben  nur  die  Entfernung  erweitert,  die  zwischen  der 
unwandelbar  revolutionären  Größe  Fichtes  und  dem 
deutschen  Bürgertum  klafft. 

Das  bürgerliche  Bild  Fichtes  ist  in  jedem  Zuge 
falsch;  so  falsch,  wie  jene  Kennzeichnungen  der  Jahr- 
hunderte, auf  deren  Brücke  Fichte  steht.  Das  18.  Jahr- 
hundert ist  so  wenig  antinational,  daß  in  ihm  vielmehr 
zuerst  der  Vaterlandsbegriff  entstanden  ist.  Indem 
die  französische  Revolution  der  Welt  den  Patriotismus 
der  Freiheit  verkündete,  entdeckte  sie  nicht  nur  die 
Menschheit,  sondern  auch  die  Nation.  Umgekehrt  hat 
das  19.  Jahrhundert  den  nationalen  Geist  wieder  ver- 
stümmelt. Die  heilige  Allianz  errichtete  für  50  Jahre 
den  unterschiedslosen  Kosmopolitismus  der  Monar- 
chien, der  Feudalität,  der  Polizei,  der  Kirche;  sie 
restaurierte  alles,  was  nicht  Volk,  nicht  Nation  ist. 


207 


Der  Feudalstaat  des  18.  Jahrhunderts  war  das  künst- 
lichste, willkürlichste  Gebilde.  Erst  die  französische 
Revolution  begann  die  Völker  organisch  zu  entwickeln, 
bis  die  Reaktion  des  19.  Jahrhunderts  den  Prozeß 
hemmte  und  umkehrte. 

Das  18.  Jahrhundert  kannte  vor  der  Revolution  eine 
Art  von  feudalem  Patriotismus,  aber  keinen  nationalen 
Patriotismus.  Man  trieb  preußischen,  sächsischen, 
bayerischen  Patriotismus.  Der  Kult  entstand,  um  im 
Interesse  der  Herrschenden  die  Bildung  der  aufgeteilten 
zersprengten  deutschen  Untertanen  zur  Nation  zu 
vereiteln.  Es  war  der  Patriotismus  des  Gutsbezirks, 
der  Treue  des  Untertans  für  seinen  Herrn,  die  na- 
tionale Gesinnung  des  Großgrundbesitzers,  der  Bau- 
ern legt.  Diese  Gattung  von  Patriotismus  ist  auf  das 
Deutsche  Reich  übergegangen  und  behauptet  sich  bis 
zum  heutigen  Tage. 

Fichte  soll  sich  vom  vaterlandslosen  Internationalis- 
mus zum  Nationalpatriotismus  bekehrt  haben.  Unter 
dem  Druck  des  preußischen  Zusammenbruchs  soll  er 
national  geworden  sein  wie  ein  Reserveleutnant  von 
191 2.  In  Wahrheit  ist  Fichtes  Verherrlichung  der 
Revolution  keine  Jugendsünde,  die  er  später,  auf  gut 
deutsche  Art  „vernünftig"  geworden,  gesühnt  hat, 
sondern  jene  Gedanken  beherrschen  ihn  bis  zum  Ende 
seines  Lebens.  Die  revolutionäre  Schrift  über  die 
große  französische  Umwälzung  ist  genau  aus  der  glei- 
chen Anschauung  geboren,  wie  die  Reden  an  die  deut- 
sche Nation.  Ja,  seine  umstürzlerische  Gesinnung 
steigert  sich  gerade  am  Ende  seines  Daseins,  das  mit 
dem  Beginn  des  Krieges  gegen  Napoleon  zusammen- 
fällt; steigert  sich  in  den  „Politischen  Fragmenten" 
und  der  Staatslehre  von  181 3  bis  zur  Verkündung  des 
demokratischen  Sozialismus,  der  b  c  reit  s"  3,  hnungsvoll 
das  Werkzeug  des  Klassenkampfes  tastet.  Der  Freiheits- 
krieg ist  für  Fichte  Volksaufstand.  Er  haßt  in  Napoleon 
weniger  den  Unterdrücker  Deutschlands  als  den  Ver 

208 


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derber  Frankreichs.  In  seiner  gewaltigen  Charak- 
teristik Napoleons,'  die  Fichte  1813  in  seinen  Vorle- 
sungen entwarf,  hat  er  die  Schuld  des  Weltherrschers 
und  in  ihr  seine  eigene  revolutionäre  Nationalgesinnung 
gekennzeichnet : 

„Die  ihm  das  Schlimmste  nachsagen  wollen,  deuten 
nur  immer  hin  auf  des  Prinzen  Enghien  blutigen  Leich- 
nam, als  ob  dies  der  höchste  Gipfel  wäre  seiner  Taten. 
Ich  aber  meine  eine  andere,  gegen  welche  Enghiens 
Ermordung  beinahe  in  Nichts  verschwindet  und,  nach 
meinem  Sinne,  nicht  wert  ist,  herausgehoben  zu  wer- 
den, weil  sie  durch  die  einmal  angehobene  Bahn  mit 
Notwendigkeit  gefordert  wurde. 

Die  französische  Nation  war  im  Ringen  nach  dem 
Reiche  der  Freiheit  und  des  Rechts  begriffen  und 
hatte  in  diesem  Kampfe  schon  ihr  edelstes  Blut  ver- 
spritzt. —  Aber  diese  Nation  war  der  Freiheit  unfähig'4, 
sagt  man  —  und  ich  gebe  dies  nicht  nur  zu,  sondern 
ich  glaube,  es  sogar  beweisen  zu  können.  Aus  folgenden 
Gründen:  1.  Weil,  da  Einstimmigkeit  über  das  Recht 
nicht  möglich  war,  bei  diesem  Nationalcharakter  jede 
besondere  Meinung  ihre  Partei  finden,  und  so,  ohne 
eine  schützende  Gewalt,  die  Parteien  im  inneren 
Kampfe  sich  selbst  aufreiben  mußten,  wie  sie  auch 
eine  Zeitlang  taten;  2.  weil  es  in  der  ganzen  Nation 
an  der  Bedingung  einer  freien  Verfassung  fehlte,  der 
Ausbildung  der  freien  Persönlichkeit,  unabhängig  von 
der  Nationalität. 

So  darum  stand  es  freilich.  Indem  nun  diese  Selbst- 
erkenntnis anfing  aufzudämmern,  fiel  —  ich  will  da- 
von schweigen,  durch  welches  Mittel  —  diesem  Manne 
die  höchste  Leitung  der  Angelegenheiten  zu.  Bilder 
der  Freiheit  waren  in  manchen  begeisterten  Schil- 
derungen an  ihn  gekommen;  ganz  unbekannt  war 
ihm  darum  nicht  der  Begriff,  und  daß  er  gedacht  würde. 
Wäre  nur  irgendeine  Verwandtschaft  dieses  Begriffes 
zu  seiner  Denkweise,  irgend  ein  Funke  des  Verstand- 


14    Ei«ner,  Grtammelle  Schriften.  II. 


nisses  dafür  in  ihm  vorhanden  gewesen,  so  hätte  er 
den  Zweck  nicht  aufgegeben,  wonl  aber  das  Mittel 
gesucht.  Es  hätte  sich  ihm  nicht  verborgen,  daß  dieses 
sei  eine  vielleicht  mehrere  Menschenalter  dauernde, 
regelmäßige  Erziehung  der  französischen  Nation  zur 
Freiheit.  Es  hätte  dem  Manne,  der  sich  eine  Kaiser- 
krone und  eine  benachbarte  Königskrone  aufzusetzen, 
und  sich  der  Erbfolge  zu  versichern  vermochte,  nicht 
fehlen  können,  sich  an  die  Spitze  dieser  National- 
erziehung zu  setzen  und  dieselbe  Stelle  einem  Nach- 
folger, den  er  für  den  würdigsten  dazu  gehalten  hätte, 
zuzusichern.  Dies  hätte  er  getan,  wenn  ein  Fünklein 
echter  Gesinnung  in  ihm  gewesen  wäre.  Was  er  da- 
gegen getan,  wie  er  listig  und  lauernd  die  Nation  um 
ihre  Freiheit  betrogen,  braucht  hier  nicht  ausgeführt 
zu  werden;  jenes  Fünklein  ist  darum  nicht  in  ihm 
gewesen.  Und  so  wäre  denn  meine  Schilderung  von 
ihm  zur  Demonstration  erhoben,  insoweit  dies  bei 
einem  historischen  Gegenstande  möglich  ist." 

Fichte  und  Tolstoi  [191 4]. 

Die  Tragödie  Ficht  es,  des  wahren  Christen,  hat 
sich  in  unserer  Zeit  wiederholt,  nur  daß  den  deutschen 
Philosophen  ein  früher  Tod  auf  der  umwetterten  Höhe 
des  Mannesalters  dem  Zusammenbruch  rettungsloser, 
vor  sich  selbst  fliehender  Verzweiflung  entzog,  die 
den  greisen  russischen  Dichter  in  nächtiger  Angst 
würgte:  Tolstoi.  Das  ist  die  tiefste  Tragik  des  Men- 
schenschicksals, das  furchtbare  Problem  der  Lebens- 
panik: Wie  erträgt  ein  Mensch,  der  im  Innersten 
erfüllt  und  bewegt  ist  von  der  tätigen  Zukunftsgesin- 
nung erlöster  Menschheit,  ein  Dasein,  in  dem  all  sein 
Wollen  und  Sehnen  zerbricht  an  den  stumpfen  Wider- 
ständen einer  blinden  Welt. 

Unsere  Zeit  wurde  von  der  Schlußszene  der  Tolstoi- 
Tragödie  einen  Augenblick  erschüttert :  Der  sterbende 
Greis,  der  vor  seinem  Ende  endlich,  che  es  zu  spät 

210 


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ist,  ein  wahrer  Christ  sein  will,  der  Heim  und  Fa- 
milie verläßt,  irgendwohin  in  die  Einsamkeit  zu  sei- 
nem eigentlichen  ungebrochenen,  mit  sich  selbst  eige- 
nen Selbst  suchend  flüchtet  und  den  Tod  findet.  Der 
Nachlaß  Tolstois  hat  das  wilde  Grausen  dieses  Daseins 
enthüllt.  In  dem  dramatischen  Fragment :  „Das  Licht, 
das  im  Dunkel  leuchtet",  treibt  Nikolaj  Iwanowitsch, 
der  Narr,  der  wie  ein  Urchrist  leben  will,  alles,  was 
er  berührt,  ins  Unglück.  Da  stöhnt  er,  qualvoll  zer- 
rissen: „Sollte  ich  wirklich  auf  Irrwegen  wandeln? 
Sollte  es  ein  Irrtum  sein,  daß  ich  an  dich  glaube, 
mein  Vater?  Nein,  nein  —  hilf  mir,  o  mein  Gott!" 
Und  als  er  von  der  Mutter  eines  durch  seine  Lehre 
in  die  Nacht  des  Kerkers  und  der  Irrenzelle  getriebenen 
Jünglings  erstochen  wird,  da  sieht  er  sterbend  noch  die 
Duchoborzen,  in  deren  Bewegung  er  den  Anfang  des 
Heils  erkennt,  und  in  Freuden  geht  er  dahin,  daß  sein 
Leben  doch  noch  einen  Sinn  bekommen. 

Fichte  ist  aus  härterem  Stoff  geschaffen  als  Tolstoi. 
In  der  großen  Schule  der  wissenschaftlichen  Philo- 
sophie gebildet,  hat  sein  Bewußtsein  jenes  feste  Gerüst 
höchster  und  reinster  Gedanken,  das  ihn  stützt  und 
hält,  ist  er  geistiger  Künder  und  Schöpfer  der  Voll- 
endung der  Menschheit  in  der  radikalsten  Form  staat- 
licher Organisation,  während  der  slawische  Weltdichter 
unserer  Zeit  mitten  in  der  sinnlichen  Fülle  bunter 
und  wirrer  Gestalten  taumelt,  mit  ganz  einfachen  Ge- 
fühlen und  Vorstellungen  dieses  ungeheure  und  un- 
ermeßliche Dasein  zu  bewältigen  sich  müht  und  um 
eine  Welt  jenseits  aller  Kultur  ringend  ein  Leben 
sucht,  das  halb  wie  ein  wildmelancholisches  Zigeuner- 
lied, halb  wie  die  Gottinbrunst  einer  lirchristlichen 
Legende  verklingt  und  emporrauscht. 

Aber  beiden  gemeinsam  ist  dieses  Grundgefühl  ihres 
Daseins:  Wie  läßt  es  sich  leben,  wenn  man  die  Wahr- 
heit der  erlösten  Welt  leibhaftig  schaut,  wenn  alle 
Triebkräfte  in  dieser  einen  Sehnsucht  nach  Befreiung 


21  I 


verschmelzen  und  verrinnen,  da  doch  die  Dinge  und 
die  Menschen  hartsinnig  unbeirrt  ihren  fremden  feind- 
lichen Weg  nehmen!  Beide  suchten  die  gleiche  Lö- 
sung: Einmal  im  äußeren  tätigen  Dasein  die  un- 
bewehrte  Brust  unablässig  dem  Feinde  herausfordernd 
darbieten,  handeln  und  schaffen,  als  ob  morgen  schon 
die  Erfüllung  aller  Ideale  möglich  wäre:  dann  aber 
bergen  sie  ihr  inneres  Wesen  in  die  leuchtende  Sicher 
heit  einer  christlichen  Mystik,  die  freilich  bei  Tolstoi 
sich  in  der  schlichten  Weisheit  und  Einfalt  der  Berg- 
predigt befriedigt,  während  Fichte  in  die  luftdünnen 
Jenseitshöhen  neuplatonischer  Gottideen  emporsteigt 
Und  endlich:  Fichte  und  Tolstoi  fliehen  vor  uns  aus 
ihrer  Zeit,  für  deren  Umgestaltung  sie  doch  selbst  ihr 
Leben  herzugeben  bereit  sind. 

Als  Fichte  in  der  dumpfen  Zeit  unmittelbar  vor  der 
preußischen  Katastrophe,  als  deren  hellsichtiger  Pro- 
phet er  vorher  in  Berliner  Vorträgen  die  „Grundzüge 
des  gegenwärtigen  Zeitalters"  entwarf,  an  allem  ver- 
zweifelte, entwickelte  er  vor  seiner  Gemeinde  seine 
Reügionslehre :  die  „Anweisung  zum  seligen  Leben". 
Als  soziales  Mitglied  des  damaligen  preußischen  Staa- 
tes verzeichnete  er  sich  auf  dem  Titelblatt  der  ge- 
druckten Vorlesung  als  „der  Philosophie  Doktor, 
königl.  Preuß.  ordentlichen  Professor  der  Spekulation 
an  der  Friedrich-Alexanders-Universität  zu  Erlangen, 
der  Oberlausitzischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften 
Mitglied".  Was  aber  an  Fichte  geistig  und  wesentlich 
war,  das  lebte,  unversehrbar  in  dem  Gottesreich  der 
Idee,  ein  Weltbürger  im  ewigen  Licht.  Nur  auf  Wunsch 
seiner  Freunde  hatte  er  seine  lebendigen  Worte  in 
Druck  gebracht.  „Denn  ich,"  so  schreibt  er,  wie 
gänzlich  erdentrückt,  „für  meine  Person  bin  durch 
den  Anblick  der  unendlichen  Verwirrungen,  welche 
jede  kräftigere  Anregung  nach  sich  zieht,  auch  des 
Dankes,  der  jedem,  der  das  Recht  will,  unausbleiblich 
zuteil  wird,  an  dem  größeren  Publikum  also  irre  ge- 

212 


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worden,  daß  ich  mir  in  Dingen  dieser  Art  nicht  selber 
zu  raten  vermag  und  nicht  mehr  weiß,  wie  man  mit 
diesem  Publikum  reden  soll,  noch  ob  es  überhaupt 
der  Mühe  wert  sei,  daß  man  durch  die  Druckpresse 
mit  ihm  rede." 

Nur  zwei  Jahrzehnte  umfaßt  das  öffentliche  Wirken 
Fichtes.  Im  letzten  Jahrzehnt  schrieb  er  keine  Bücher 
mehr,  die  doch  ins  Leere  hinausgingen,  nur  mit  der 
Macht  seiner  Beredsamkeit  rang  er  noch,  der  Welt 
der  Zukunft  einige  Baumeister  zu  gewinnen.  Er  war 
der  erste  politisch -philosophische  Agitator  Deutsch- 
lands, in  einer  Zeit,  die  keine  Parlamente,  keine  poli- 
tische Presse,  keine  Parteien  hatte,  deren  einzige  organi- 
sierte Wirkungsbezirke  die  Universitäten,  Akademien 
und  ihre  Umgebungen  umfaßten,  deren  einziges  Publi- 
kum ein  loser  Haufen  von  Professoren,  Gelehrten, 
Studenten,  Schriftstellern  war.  Seine  mächtige  Pro- 
phetenstimme rief  ins  Nichts.  Sein  Wirken  fiel  in  die 
Zeit  gewaltiger,  von  außen  über  die  deutschen  Gren- 
zen flutender  Bewegung:  zwischen  der  großen  Revo- 
lution und  den  Freiheitskriegen.  Immer  schien  das 
kreisende  Chaos  eine  neue  Welt  zu  gebären;  und 
jedesmal  scheiterte  die  tatrüstende  Hoffnung.  Fichte 
stürzte  sich  in  jede  Bewegung  und  wurde  immer  von 
ihr  ausgestoßen.  Niemand  hat  in  Deutschland  so  kühn 
und  feurig  das  Recht  der  französischen  Revolution 
verkündet.  Dem  verwegenen  Jakobiner  bietet  sich  in 
Jena  eine  Stätte  der  Propaganda.  Er  unterliegt  in 
einem  elend  gehässigen  Religionsstreit  und  wird  ver- 
zagt. Er  schaut  noch  die  deutsche  Revolution,  als  die 
er  den  Freiheitskrieg  wider  Napoleon  auffaßt,  für  den 
er  deshalb  begeistert.  Er  stirbt  in  der  verzweifelten 
Überzeugung,  daß  abermals  Volk  und  Menschheit  um 
den  Ertrag  ihrer  Blutopfer  betrogen  werden  würden. 

Dennoch  ergreift  er  auch  jeden  Schein  von  neuem 
Leben.  Die  Tat  ist  alles.  Wer  handelt,  kann  nie  in 
Verzweiflung  versinken.    Scheinen  die  Mächte  der 


Finsternis  unüberwindlich,  so  muß  eben  ganz  von 
neuem  abseits  und  fern  das  Heil  gewonnen  werden. 
Außerhalb  der  Zeit  schaffen,  wenn  die  Zeit  selbst  nicht 
zu  retten  ist  —  das  ist  die  praktische  revolutionär 
utopische  Philosophie  Fichtes.  So  entwirft  er,  als  die 
verwüstenden  Handelskriege  zwischen  England  und 
Frankreich  keine  Ruhe  friedlicher  Arbeit  in  Europa 
ermöglichen,  jenes  sozialistische  Zukunftsbild  eines 
„geschlossenen  Handelsstaats**,  in  dem  Deutschland 
aufgefordert  wird,  sich  von  aller  Welt  abzuschließen 
und  nur  durch  Verwendung  eigener  Naturerzeugnisse 
jedem  Bürger  ohne  Unterschied  die  Notdurft  des  Le- 
bens zu  sichern  —  fern  den  grausamen  Raubhändeln 
der  Weltmächte,  unberührt  und  unabhängig  von  ihnen. 
So  will  er,  nach  dem  Untergang  des  alten  Reichs  und 
Preußens,  die  junge,  von  der  Pest  verdorbenen  Wesens 
unberührte  Generation  in  abgesonderten  Erziehungs- 
provinzen für  den  Weltberuf  des  staatlos  gewordenen 
Deutschtums  vorbereiten  und  befähigen. 

Was  aber  gibt  dem  handelnden  Denker  letzten  Endes 
die  Kraft,  im  Scheitern  aller  Pläne,  im  Zusammenbruch 
der  Hoffnungen,  in  der  quälenden  Bitternis  widriger 
Lebensumstände  unerschrocken  und  unbewegt  den 
noch  für  die  Zukunft  zu  werben,  dennoch  in  Not  und 
Verfolgung  selig  zu  leben  ?  Dies  Prophetengeheimnis 
unverwundbarer  Messiaskraft  hat  Fichte  in  jener  Re- 
ligionslehre vom  seligen  Leben  entdeckt,  die  in  der 
mystischen  Glut  einer  an  der  Offenbarung  Johannis 
entzündeten  Bildersprache  die  Liebe  des  begeisterten, 
zukunftsgewissen  Schaffens  verkündet  als  den  unver- 
sieglichen  Urquell  menschlicher  Befreiung.  Diese  selt- 
samen Vorlesungen,  die  lange  verschollen  waren,  sind 
neuerdings  in  die  Hände  ratloser  Theologen  gefallen, 
die  den  Tiefsinn  dieser  Religion  der  Erlösung  auf 
Erden  durch  Vermengungen  und  Vergleichen  mit  dem 
landläufigen  Christentum  verwirrten. 

Das  selige  Leben,  in  dem  Fichte  die  Ruhe,  Kraft 

214 


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und  Begeisterung  seines  Wirkens  in  einem  Zeitalter 
der  „Verwesung"  findet,  ist  das  erhabene  Weltgefühl 
des  Ewigen,  der  Rauschzustand  der  Zukunftsschöpfung 
und  Zukunftsgewißheit,  geschaut  und  gefühlt  im 
Gegenwärtigen,  aber  nicht  eigentlich  von  diesem  ein- 
zelnen zufälligen  Ich,  sondern  —  nach  Vernichtung 
des  Ichs,  das  heißt  gerade  durch  völlige  Aufhebung 
des  Individuums,  von  einer  unzerstörbaren  Ausstrah- 
lung des  allumfassenden,  befreiten,  reinen  Menschen- 
geistes und  Erden9inns.  Das  ist  Fichtes  „Gott"  oder 
das  „absolute  Ich";  Gott  verdrängt  das  Ich  des  In- 
dividuums und  gibt  ihm  die  höchste  Sicherheit  und 
Seligkeit  einer  im  Schauen  der  reinen  letzten  Idee 
zum  tätigen  Leben  ermutigenden,  verpflichtenden 
und  begeisternden  „Liebe"  zum  Menschengeschlecht 
in  seiner  tiefsten  Umfassung.  Fichte  beschreibt  in 
solchen  visionären  Abstraktionen  das  tatsächliche  Be- 
wußtsein jener  Menschen,  die  in  der  Zukunft  leben 
und  deshalb  für  sie  leben  können.  Daher  es  auch  eine 
platte,  mißverständliche  Auffassung  theologisch  be- 
fangener Kritiker  ist,  daß  ein  Widerspruch  sei  zwischen 
der  Vernichtung  des  Ichs  und  dem  Ich  als  Schöpfer 
aller  Tat.  Freilich  meint  Fichte  nicht  etwa  bloß  die 
Vernichtung  des  Schlechten  im  Ich,  worin  jene  Vorbei - 
redner  und  Vorbeischreiber  eine  Lösung  des  nur  in 
ihren  Köpfen  vorhandenen  Widerspruchs  sehen  wür- 
den, es  ist  in  der  Tat  die  radikale  Austilgung  des 
Ichs  in  seinen  zufälligen  materiellen  Beziehungen  und 
zeitlichen  Hemmungen,  die  Auflösung  des  Ichs  im 
Allgcfühl  der  Menschheit,  in  der  Freiheit,  in  „Gott". 
So  versteht  man,  wenn  anders  man  selbst  einen  Hauch 
der  Begeisterung  für  das  Zukünftige,  für  die  Erlösung 
des  Menschengeschlechts  auf  Erden  zu  empfinden  ver- 
mag, daß  in  dieser  Vernichtung  des  Ichs  gerade  der 
tieftse  Urquell  allen  tätigen  Lebens  strömt:  das  Le- 
bensprinzip des  einzelnen  Revolutionärs  wie  revolu- 
tionärer Klassen. 


215 


In  Wahrheit:  Diese  Religion  des  seligen  Schauens 
ins  Göttliche  ist  so  wenig  tatenlose  Schwärmerei,  daß 
sie  vielmehr  alles  Handeln  ermöglicht,  treibt,  leitet. 
Wenn  er  gleichwohl  scheinbar  in  die  Abgründe  reli- 
giöser Mystik  sich  verliert  und  in  Geistersprache  redet, 
so  eben  deshalb,  weil  hier  das  Licht  war,  das  im 
Dunkeln  seines  Lebens  schien,  das  ihm  den  Mut  gab, 
trotz  der  Verzweiflung  an  jeder  unmittelbaren  Wir- 
kung, seine  Gedanken  auszusprechen,  „damit  sie  nicht 
untergehen  in  der  Welt".  So  heißt  es  in  dem  Entwurf 
einer  Schrift  aus  dem  Frühjahr  1813,  in  dem  er  den 
Aufruf  Friedrich  Wilhelms  III.  „An  mein  Volk"  so- 
zialistisch beantworten  wollte. 


216 


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Über  Schillers  Idealismus. 
I. 

Das  tiefste  und  reichste,  was  Schiller  der  Welt  ge- 
spendet, ist  zugleich  der  Urgrund  seines  Falls  in  der 
bürgerlichen  Gesellschaft,  der  Ursprung  jenes  Jahr- 
hunderts der  Verderbnis,  Entfärbung  und  Fälschung, 
das  den  revolutionären  Himmelsturm  für  die  elend 
klappernde  Mühle  einer  seichten  und  leeren  Sonntags- 
geschwätzigkeit einspannte;  das  aus  dem  innerlichsten 
Lebensbedürfnis  einen  Festspruchzierat,  aus  der  heiß 
atmenden  Weisheit  die  Gemeinplätze  eines  Stamm- 
buchs schneiderte;  das  die  tief  in  das  Erdreich  mensch- 
licher Entwickelung  pflügende  Gedankenarbeit  in  eine 
trockene  Schulbubenqual  zusammenschrumpfen  ließ; 
das  endlich  den  kühnen  Schöpfergesang  der  Freiheit 
in  einen  frömmelnden  Gassenhauer  wider  die  Freiheit 
log.  Heute,  ein  Jahrhundert  nach  dem  Tode  des 
Dichters,  preist  den  Rebellen  und  Republikaner  die 
ekle  Gemeinschaft  der  Byzantiner.  Der  reine  Heide, 
der  niemals  etwas  gemein  hatte  mit  Pfaffentum, 
Kirche  und  konfessionellem  Dogmatismus,  wird  von 
dem  Weihrauch  der  Dunkelmänner  umqualmt;  der 
Künder  eines  Weltbürgertums,  der  es  ein  „armseliges, 
kleinliches  Ideal"  nannte,  „für  eine  Nation  zu  schrei- 
ben", dessen  philosophischem  Geist  „diese  Grenze 
durchaus  unerträglich"  war,  wird  nun  gerühmt  als 
einer,  der  dennoch  „bei  einer  so  wandelbaren,  zu- 
fälligen und  willkürlichen  Form  der  Menschheit,  bei 
einem  Fragmente  (und  was  ist  die  wichtigste  Nation 
anders)"  stille  gestanden  hätte,  —  gerühmt  nämlich 
von  denen,  die  in  dieser  Grenze  national  begeistert 
die  göttliche  Erfindung  grenzenloser  Zollmöglichkeiten 


217 


anbeten.  Der  Seher  und  zuversichtliche  Bekenner 
einer  menschlichen  Zukunftsgesellschaft  der  Freiheit 
wird  bekränzt  von  den  trägen,  zynischen  Hirnen  der 
mittleren  Linie,  die  in  dem  Streben  nach  einem  idealen 
Staat  eine  Narretei  begrinsen,  wenn  sie  es  aus  Rück- 
sichten des  Geschäfts  nicht  vorziehen,  es  als  Ver- 
brechen anzuklagen.  Der  Priester  der  Humanität 
muß  sich  den  Kultus  einer  bluttriefenden  Soldateska 
gefallen  lassen,  deren  einzige  Politik  die  gewaltsame 
Unterdrückung  ist,  und  der  trotzige  Bekenner  des 
Tyrannenmords  als  des  notwendigen  Mittels  der  Be- 
freiung vom  unerträglichen  Joch,  wird  feiernd  zum 
Schwurzeugen  derer  herangeschleppt,  die  das  Ver- 
brechen der  Herrschenden  als  unumstößliches  Recht 
und  das  Recht  der  Unterdrückten  als  todeswürdiges 
Verbrechen  vertauschen.  Dieses  Jahrhundert  klassi- 
scher Erziehung  hat  die  Gegensätze  in  wundersame 
Harmonie  aufgelöst:  Franz,  die  Kanaille,  sinkt  vor 
Karl  Moor-Schiller  auf  die  Knie.  Der  Hofmarschall 
von  Kalb  wird  der  kluge  und  hochherzige  Trauzeuge 
von  Ferdinands  und  Luisens  ehelichem  Glück.  Mar- 
quis Posa  empfängt  in  jubelndem  Dank  von  Philipp  II. 
den  eigens  für  ihn  gestifteten  Orden  der  heiligen  In- 
quisition, und  Wilhelm  Teil  drängt  sich,  noch  bevor 
er  zerknirscht  ins  Zuchthaus  geht,  dem  Geßlerhute 
die  ersehnte  Reverenz  zu  erweisen. 

Was  gab  die  Möglichkeit  zu  solchem  tollen  Gaukel- 
spiel ?  Das,  was  man  den  Idealismus,  die  idea- 
listische Weltanschauung  heißt.  Schillers  größte 
Tat  ward  sein  Fluch,  ward  die  Ursache,  daß  er  selbst 
in  seinem  geschichtlichen  Wirken  in  der  Klasse,  für 
die  er  wirkte,  seine  Mission  zerstörte. 

Gewiß  ward  Schiller  das  Opfer  einer  tückischen  Ver- 
leumdung: dennoch  nicht  ohne  eigene  Schuld.  In 
dem  Idealismus,  wie  er  ihn  prägte,  oder  vielmehr,  wie 
er  ihn  betätigte,  lag  schon  das  Element  der  Zerstörung, 
der  Selbstauflüsung. 

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Und  nicht  aus  innerlichem  Irren  entstand  dieser 
feine,  kaum  merkbare  Bruch  seiner  Weltanschauung. 
Es  war  der  Tribut,  den  er  dem  deutschen  kleinstaat- 
lichen Despotismus  unbewußt  zahlen  mußte,  der 
sozialen  Misere  eines  mühselig  um  sein  Brot  arbeiten- 
den armen  Literaten,  der  von  der  Gnade  gerade  jener 
Elemente  zu  leben  verurteilt  war,  die  man  in  Frank- 
reich guillotinierte.  Es  ist  eine  ekle  Legende,  daß 
unsere  klassische  Kunst  den  freien  Höfen  aufgeklärter, 
verständnisvoller  Despötchen  ihre  Blüte  verdankte. 
Sie  verdankt  ihnen  vielmehr  die  verhängnisvolle  Akkli- 
matisation, die  den  Anfang  bildete  jener  schlimmeren 
Anpassung  an  die  bürgerliche  Gesellschaft,  der  unsere 
Größten  nach  ihrem  Tode  dann  wehrlos  ausgeliefert 
wurden,  mit  Episoden  der  Wiedergeburt  und  Erneue- 
rung, bis  auf  diese  Tage.  Mag  immer  Sachsen- Weimar 
nicht  die  schlimmste  Heimstätte  deutscher  Kunst  und 
deutschen  Denkens  gewesen  sein,  es  blieb  doch  Fron- 
dienst, hier  zu  wirken.  So  kam  es,  daß  Friedrich 
Schiller  in  dem  gewaltigsten  Augenblick  der  mensch- 
lichen Geschichte,  da  das  von  ihm  nicht  nur  geträumte, 
sondern  als  notwendig  erkannte  und  geforderte  Ver 
nunftreich  der  Freiheit  den  Riesenschritt  zur  Wirk 
lichkeit  tat,  blind  vorüberging,  ja  ängstlich  vor  ihm 
flüchtete,  indem  er  die  heranstürmende  Zukunft,  die 
Zukunft  seines  Ideals,  scheu  beschwor,  wieder  in  die 
Ferne  zu  verdämmern.  Diese  Flucht  vor  der  Ta  t 
war  das  Verhängnis  seiner  Wirkung  im  deutschen  Volk, 
im  deutschen  Bürgertum,  daß  er,  zwar  mißverstanden, 
doch  das  Mißverständnis  durch  eigene  Zweideutigkeit 
nährend,  vielleicht  mehr  gegen  seine  Ideale  erzog, 
als  daß  er  es  ihnen  näherte.  Schillers  revolutionärer 
Idealismus  erlitt  in  seinem  Blutumlauf  unter  dem 
höfischen  Druck  der  deutschen  Kleinstaaterei  eine 
Stockung,  die  seine  Gewalt  lähmte  und  am  Ende  wie 
eine  Geisteskrankheit  erscheinen  ließ. 


219 


IL 

In  der  Militärzwangsanstalt  seines  Landesvaters  ein- 
geschnürt, befreite  sich  Schillers  Jugend  an  Rousseau, 
zu  dem  sich  —  im  Stil  der  Gefühlsäußerung  —  Klop- 
stock  gesellte.  Wider  die  Tyrannei  war  seine  Losung. 
Er  flüchtete  zu  der  Utopie  des  erhabenen  Verbrechens, 
das  alle  bürgerlichen  Fesseln  erlösend  löst.  Sein  erster 
stürmender  Idealismus  war  die  Religion  des  aufbäu- 
menden Frevels.  Frei  sein  vom  zerreibenden  Druck 
schien  ihm  Freiheit.  Die  große  Natur  des  heißen 
Menschenherzens,  die  Republik  der  einfachen,  un- 
gebrochenen, gütigen  Kraft  ward  ihm  seine  ideale 
Welt,  bevor  er  die  Welt  kannte.  So  entstanden  seine 
Räuber,  Fiesko,  Kabale  und  Liebe,  die  Trilogie  revo- 
lutionärer Leidenschaft.  Ehrenvoller  als  der  hundert- 
jährige Ruhm,  der  Schillers  Geltung  in  der  Kultur- 
cntwickelung  entnervte,  war  der  dumme  und  brutale 
Philisterhaß,  der  damals  den  Jubel  der  jungen  Genera- 
tion zu  überschreien  suchte.  In  dieser  stumpfen  Ver- 
leumdung barg  sich  eine  stärkere  Anerkennung  seines 
Elementarwesens  als  alle  geschminkte  Schwärmerei  der 
Nachwelt.  Durch  diesen  Jugendidealismus,  der  im 
gigantischen  Verbrechen  den  Ausweg  aus  schlaffer 
Schande  suchte,  in  ihm  das  zyklopisch  sich  türmende 
Tor  zur  Freiheit  gesprengt  wähnte,  fühlte  sich  die 
gezähmte  Barbarei  despotisch-kleinbürgerlicher  Kultur 
bedroht.  Ein  Räuberrezensent  —  ein  Mitglied  übri- 
gens der  Gesellschaft  Jesu  —  scheute  sich  schaudernd, 
„an  die  Plattheiten,  an  die  Hefe  des  Pöbelhaften,  und 
an  das  äußerst  Abscheuliche,  alles  gute  Gefühl  Em- 
pörende, die  Sitten  und  die  Menschheit  Schändende 
zu  gedenken,  das  aus  dem  Munde  der  Banditen,  dieses 
räuberischen  Lumpengesindels  kömmt".  Der  an- 
gesehene Schriftsteller  Moritz  denunzierte  in  der  Ber- 
liner „Vossischen  Zeitung"  Kabale  und  Liebe  als  ein 
„Produkt  von  unsere  Zeiten  Schande": 

„Mit  welcher  Stirn  kann  doch  ein  Mensch  solchen 

220 


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Unsinn  schreiben  und  drucken  lassen,  und  wie  muß 
es  in  dessen  Kopf  und  Herz  aussehen,  der  solche  Ge- 
burten seines  Geistes  mit  Wohlgefallen  betrachten 
kann!  .  .  .  Wer  167  Seiten  voll  ekelhafter  Wiederholun- 
gen gotteslästerlicher  Ausdrücke,  wo  ein  Geck  um  ein 
dummes  affektiertes  Mädchen  mit  der  Vorsicht  (Vor- 
sehung) rechtet,  und  voll  krassen,  pöbelhaften  Witzes 
oder  unverständlichen  Gallimathias,  durchlesen  kann 
und  mag  —  der  prüfe  selbst.  Aus  einigen  Szenen  hätte 
was  werden  können,  aber  alles,  was  dieser  Verfasser 
angreift,  wird  unter  seinen  Händen  zu  Schaum  und 
Blase." 

Derselbe  wusch  sich  später  die  Hände  von  dem 
„Schillerschen  Schmutz".  Man  beobachtete  auch  üble 
Wirkungen  an  diesen  gotteslästerlichen  Werken;  und 
man  begnügte  sich  nicht  etwa  nur  mit  Anklagen  und 
Befürchtungen  wie  den  folgenden: 

„Daß  der  eingebildete  Held  aber  die  Bewunderung 
und  das  Interesse  des  Pöbels  und  höherer  Stände  wird, 
wo  die  Schwäche  der  landesherrlichen  Macht  oder 
Polizei  in  dem  elendesten  Kontraste  erscheint;  — 
welche  Wirkungen  werden  solche  Situationen  hervor- 
bringen? welche  Lehren  der  Moral,  der  Politik,  des 
Gehorsams  gegen  die  Gesetze  und  ihre  Handhaber 
sind  stark,  einleuchtend  oder  anziehend  genug,  um 
die  vorigen  Eindrücke  auszulöschen  ?" 

Man  bewies  die  Anklage  auch: 

„In  Leipzig  wurden  vor  zwei  Jahren  während  der 
ersten  Vorstellung  dieses  Trauerspiels  im  Theater  und 
in  der  Stadt  ansehnliche  Summen  gestohlen,  welches 
natürlich  viel  Gerede  verursachte,  und  den  dortigen 
Magistrat  bewog,  nach  der  zweiten  Vorstellung  die 
fernere  Aufführung  des  Stückes  in  der  Stille  zu  ver- 
bieten. So  wenig  sonst  ein  Verbot  in  Sachen  des  Ge- 
schmacks zu  loben  ist,  so  scheint  doch  dieses  sehr 
guten  Grund  zu  haben,  .  .  .  weil  ich  glaube,  daß  die 
Absicht  des  Schauspiels  ist  zu  vergnügen,  pöbelhafte 


221 


Reden,  welche  in  dem  Stück  vorkommen,  durch  die 
Vorstellung  desselben,  zu  sehr  unter  junge  Leute  in 
Schwung  kommen,  und  daß  gräßliche  Schauspiele  ein 
Volk  ungesittet  und  das  Herz  junger  Leute  hart  und 
zu  Grausamkeit  geneigt  machen.4' 

Nicht  genug  damit,  daß  die  „Räuber"  zum  Dieb- 
stahl anleiteten.  Andere  Anwälte  der  Zivilisation  er- 
zählten : 

„Ein  Junge  von  12  bis  14  Jahren  wurde  von  dem 
romanhaften  Charakter  Karl  Moors  so  hingerissen,  daß 
er  den  andern  Tag  mit  seinen  Mitschülern  eine  Ver- 
schwörung machte,  als  Räuber  zu  Fuß  durch  die  Welt 
zu  streichen." 

Und  im  „Leipziger  Magazin  der  Philosophie  und 
schönen  Literatur"  las  man  gar  1785: 

„In  der  Gegend  von  Bayern  und  Schwaben  rotteten 
sich  vor  nicht  langer  Zeit  gefährlich  schwärmende 
Jünglinge  zusammen  und  wollten  nichts  geringeres 
ausführen,  als  sich  durch  Mord  und  Mordbrennerei 
auszuzeichnen  und  einen  Namen  zu  machen,  oder  dem 
großen  Drange  nachzugeben,  Räuber  und  Mordbren- 
ner zu  werden.  Und  welcher  Anlaß  konnte  solche 

Unglückliche,  in  der  Imagination  versengte  Menschen 
verleiten  und  sie  auf  den  Grad  von  Ausschweifung 
bringen,  wenn  wir  es  aufs  gelindeste  benennen  ?  Sie 
wollten  Schillers  Räuber  realisieren." 

Das  waren  Mißverständnisse,  die  doch  mehr  Ver- 
ständnis für  das  wirkliche  Wesen  des  Dichters  ver- 
rieten als  die  Totalbewunderung  unserer  bürgerlichen 
Schillcrfeier  von  heute.  Im  Sinne  der  herrschenden 
Klassen  seiner  und  noch  mehr  fast  unserer  Zeit  ist 
Schiller  die  Unsittlichkcit  und  der  Umsturz  —  zumal 
der  junge  Schiller. 

Das  18.  Jahrhundert,  das  so  urteilte,  war  dabei 
nicht  einmal  fromm. 

222 


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III. 


Schillers  Verhältnis  zur  Religion  begann  mit  jenem 
weichen  Deismus,  der  das  Jahrhundert  der  Aufklärung 
beherrschte.  In  der  Kirche  sah  er  stets  nur  die  Organi- 
sation geistiger  Tyrannei.  Mit  dem  dogmatischen 
Aberwitz  war  er  früh  fertig,  wenn  er  überhaupt  jemals 
mit  ihm  belastet  war.  Sein  Gottesglaube  bestand  zu- 
nächst in  dem  Glauben  an  ein  gütiges  Geschick.  Er 
haßt  die  Zyniker,  die  an  gar  nichts  glauben,  was  außer- 
halb ihrer  Sinnlichkeit  liegt: 

Brüder,  überm  Sternenzelt 
Muß  ein  lieber  Vater  wohnen. 

Wie  Hellas  in  seinem  Geist  aufgeht,  verfinstert  sich 
ihm  auch  das  vom  Kirchentum  losgelöste  Christentum. 
In  heidnischer  Sehnsucht  läßt  er  die  Götter  Griechen- 
lands auferstehen : 

Damals  trat  kein  gräßliches  Gerippe 
Vor  das  Bett  des  Sterbenden.  Ein  Kuß 
Nahm  das  letzte  Leben  von  der  Lippe, 
Still  und  traurig  senkt  ein  Genius 
Seine  Fackel. 

Denselben  christentumsfeindlichen  Gedanken,  der 
sich  anlehnt  an  Leasings  schöne  Abhandlung,  wie  die 
Alten  den  Tod  gebildet,  wiederholt  er  später  (1789): 

Die  Urne  und  das  Skelett. 

In  das  Grab  hinein  pflanzte  der  menschliche  Grieche 

noch  Leben, 

Und  du  töricht  Geschlecht  stellst  in  das  Leben  den  Tod. 

Der  Gott  des  christlichen  Zeitalters  ist  ihm  der 
Zerstörer  schöner  Menschlichkeit : 

Nach  der  Geister  schrecklichen  Gesetzen 
Richtete  kein  heiliger  Barbar, 
Dessen  Augen  Tränen  nie  benetzen. 


223 


Das  Blütenalter  der  Natur  ist  „von  des  Nordens 
winterlichem  Wehn"  vertrieben: 

Von  jenem  lebenswarmen  Bilde 
Blieb  nur  das  Gerippe  mir  zurück. 

Einen  zu  bereichern,  unter  allen 
Mußte  diese  Götterwelt  vergehn. 

In  immer  neuen  Bildern  wird  der  finstere  Gott  der 
Christenheit  gezeichnet: 

Freundlos,  ohne  Bruder,  ohne  Gleichen, 
Keiner  Göttin,  keiner  Ird'schen  Sohn, 
Herrscht  ein  andrer  in  des  Äthers  Reichen, 
Auf  Saturnus'  umgestürztem  Thron. 

Da  die  Götter  menschlicher  noch  waren, 
Waren  Menschen  göttlicher. 

Als  der  christlich  verzückte  und  verstiegene  Graf 
Stolberg  sich  wegen  der  Verherrlichung  des  griechi- 
schen Götterkults  als  der  Verbindung  „gröbster  Ab- 
götterei mit  dem  traurigsten  Atheismus"  bekreuzigte, 
schnellte  Schiller  den  Spottpfeil  gegen  ihn  ab : 

Als  du  die  griechischen  Götter  geschmäht,  da  warf 

dich  Apollo 

Von  dem  Parnasse;  dafür  gehst  du  ins  Himmelreich  ein. 

Schillers  Religion  verdichtet  sich  schließlich  zur 
reinen  Gottesidee,  die  letzten  Endes  nichts  anderes 
ist  wie  der  Idealismus  der  reinen  Menschheit : 

Nehmt  die  Gottheit  auf  in  euren  Willen, 
Und  sie  steigt  von  ihrem  Weltenthron. 
Des  Gesetzes  strenge  Fessel  bindet 
Nur  den  Sklavensinn,  der  es  verschmäht, 
Mit  des  Menschen  Widerstand  verschwindet 
Auch  des  Gottes  Majestät. 

In  den  Worten  des  Glaubens  wird  1797  der  Ge- 
danke also  geformt: 

324 


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Und  ein  Gott  ist,  ein  heiliger  Wille  lebt, 

Wie  auch  der  menschliche  wanke, 
Hoch  über  der  Zeit  und  dem  Räume  webt 

Lebendig,  der  höchste  Gedanke, 
Und  ob  alles  in  ewigem  Wechsel  kreist. 
Es  beharrt  im  Wechsel  ein  ruhiger  Geist. 

Allen  denen  aber,  die  dennoch  den  Versuch  machen 
würden,  ihn  zu  einem  Kirchengläubigen  zu  erniedrigen, 
weil  er  seine  Weltanschauung  in  der  Gottesidee  als  der 
Menschheitsidee  vollendete,  wehrte  er  unzweideutig  ab : 

Mein  Glaube. 

Welche  Religion  ich  bekenne?  Keine  von  allen, 
Die  du  mir  nennst!  „Und  warum  keine  ?"  Aus  Religion. 

IV. 

Schiller  hat  die  beiden  einzigen  großen  Revolutions- 
dramen unserer  Literatur  geschrieben,  die  Revolutions- 
tragödie des  Zusammenbruchs  in  „Kabale  und  Liebe" 
und  das  Revolutionsdrama  der  Erfüllung  in  „Wilhelm 
Teil".  Das  eine  kam  in  die  Welt  vor  der  großen  fran- 
zösischen Revolution,  das  andere,  als  sie  bereits  im 
Bonapartismus  gestrandet. 

Während  aber  sein  revolutionäres  Ideal  zur  Wirk- 
lichkeit sich  durchrang,  war  Schiller  verständnislos, 
fast  feindselig.  Als  seine  Dichtung  ins  Leben  zu  treten 
schien,  flüchtete  sich  Schiller,  der  Ehrenbürger  der 
französischen  Republik  in  die  Welt  des  —  Ideals. 
Zeuge  des  gewaltigsten  Ereignisses  der  Weltgeschichte, 
verstummt  und  erblindet  er.  Keine  seiner  Schriften, 
nicht  einmal  seine  Briefe,  ahnen  einen  Hauch  der  un- 
ermeßlichen Zeit.  Wenn  Schiller  auch  nicht  wie 
Goethe  die  Revolution  mit  platten  Possen  und  stump- 
fen Stachel versen  höhnte,  so  hatte  er  doch  nichts  für 
sie  übrig  wie  schulmeisternde  Worte  des  Grauens. 
In  seinen  kleinen  Bemerkungen  über  den  Wert  der 
Ordnung,  über  die  Weiber,  die  zu  Hyänen  werden, 


15    t  i»o er,  Gt*«unwdte  Schriften.  II. 


225 


über  die  Tigerin,  die  das  eiserne  Gitter  durchbrochen, 
entwurzelte  er  die  Wurzeln  seiner  eigenen  revolutio- 
nären Kraft  und  warf  sich  dem  Philistertum  zur 
Beute  hin.  Seltsam,  fast  unbegreiflich:  Wenn  Schiller 
schon  über  den  „Greueln"  der  Revolution  nicht  ihr 
Wesen  erkannte,  wie  konnte  der  Schöpfer  des  Karl 
Moor  so  völlig  auch  die  Einsicht  in  die  Würde  des 
„Verbrechens"  verlernen,  das  die  Fesseln  der  Tyrannei 
zerbricht ! 

Hier  wird  die  Anschmiegung  an  die  Bedingungen 
der  Gesellschaft,  in  der  er  zu  leben  gezwungen  war, 
sichtbar.  Freilich,  indem  Schiller  zur  Welt,  in  der 
und  von  der  er  existierte,  hinabglitt,  brachte  er  das 
Fallen  selbst  in  ein  gewaltiges  System,  ohne  doch 
den  Sturz  verheimlichen  zu  können.  Es  ist  kein  Zu- 
fall, daß  sich  die  Weimaraner  so  unendlich  verständnis- 
loser gegenüber  der  Revolution  zeigten  als  etwa  die 
Königsberger. 

Die  höfische  Akklimatisation  hatte  ihre  Opfer  ge- 
wonnen. 

Die  verhängnisvolle  Entwickelung  läßt  sich  in  zwei, 
an  sich  unbedeutenden  Begebnissen  seines  Lebens 
veranschaulichen  und  in  ihren  realen  Ursachen  er- 
kennen. Im  Jahre  1783  sollte  Schiller  in  Mannheim 
eine  „poetische  Rede"  zum  Namenstage  der  Kurfürstin 
verfertigen.  Wie  er  sich  aus  der  Affäre  zog,  schreibt 
er  mit  vielem  Vergnügen  an  Frau  v.  Wolzogen:  „Kein 
Mensch  kann  sie  brauchen,  denn  sie  ist  mehr  Pasquill 
als  Lobrede  auf  die  beide  Kurfürstliche  Personen. 
Weil  es  jetzt  zu  spät  ist,  und  man  das  Herz  nicht  hat, 
mir  eine  andere  zuzumuten,  wird  die  ganze  Lumpen- 
fSte  eingestellt."  Sechs  Jahre  später  entsetzt  sich  der- 
selbe Schiller  in  einem  Brief  an  seinen  Freund  Körner 
über  ein  „Knabenstreich"  Herders,  in  dessen  Adern 
gärendes  Jakobinerblut  floß: 

„Bei  der  Tafel  der  Herzogin  sprach  er  vom  Hof 
und  von  Hofleuten  und  nannte  den  Hof  einen  Grind- 

226 


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köpf  und  die  Hofleute  die  Läuse,  die  sich  darauf 
herumtummeln.  Dies  geschah  an  Tafel  und  so,  daß 
es  mehrere  hörten.  Man  muß  sich  dabei  erinnern, 
daß  er  und  seine  Frau  den  Hof  suchen,  und  auch 
vorzüglich  durch  den  Hof  souteniert  werden." 

Schiller  hatte  inzwischen  gelernt,  was  man  schuldig 
sei,  wenn  man  höfisch  souteniert  wird.  Nicht  als  ob 
diese  Beeinflussung  dem  Dichter  zum  Bewußtsein  ge- 
kommen wäre,  es  entwickelte  sich  alles  ganz  von  selbst. 

V. 

Zur  gleichen  Zeit  etwa,  als  er  dem  Bann  der  Höfe 
verfiel,  fand  er  Kant,  dessen  Ästhetik  ihm  die  syste- 
matische Vertiefung  und  gedankliche  Veredelung  auch 
seines  Abwegs  lieh.  Er  ward  Kants  Schüler  und  Pro- 
phet. So  innig  verschmolz  er  seinem  Wesen  die  Welt- 
anschauung des  Philosophen  —  den  niemand  besser 
verstanden  hat  als  Schiller  —  daß  er  mit  dem  Er- 
worbenen wie  mit  eigenem  freien  Eigentum  fruchtbar 
zu  schaffen  und  zu  gestalten  vermochte.  Kants  Philo- 
sophie empfing  gewaltigen  Rhythmus  und  künstleri- 
sche Bildkraft  in  Schillers  philosophischen  Gedichten, 
die  in  dem  All  erheiligsten  der  Weltliteratur  ihre 
Stätte  haben,  und  die,  wie  kein  anderes  Werk,  das 
Problem  einer  Weltanschauungskunst  vollendet  zeigen. 

Kant  errichtete,  Grenzen  setzend  und  Wege  wei- 
send, in  wissenschaftlichem  Ausmaß  die  drei  Reiche 
des  menschlichen  Kulturbewußtseins:  Die  reine  Ver- 
nunft als  die  Schöpferin  der  Gesetze  der  Notwendig- 
keit in  der  Erfahrung  der  Natur;  die  praktische  Ver- 
nunft als  die  Gesetzgeberin  der  Freiheit  in  der  mensch- 
lichen Gesellschaft;  die  Vereinigung  beider  Reiche  ist 
die  Kunst,  welche  aus  dem  Gefühl  empfangen,  aufs 
Gefühl  wirkend,  die  Welt  der  sittlichen  Freiheit 
gleichsam  als  Naturerscheinung  bildet. 

Schillers  wie  Kants  sittlich-politischer  Idealismus, 
der  die  Loslösung  des  auf  sich  selbst  gestellten  mensch  - 

15«  227 


liehen  Handelns  von  aller  offenbarten  Religion,  als 
niedriger  Polizeianstalt  zur  Züchtung  moralischer  Skla- 
verei, voraussetzt,  empfängt  Licht  und  Richtung  von 
dem  Endziel  eines  Zukunftsstaates,  der  die  freie  Ge- 
meinschaft gleicher,  zur  Persönlichkeit  entwickelten 
Weltbürger  vollendet.  Aus  dieser  Aufstellung  eines 
revolutionären  Ziels  ergibt  sich  die  grundsätzliche 
Verneinung  des  historisch  gewordenen  Staates  der 
Willkür  und  Gewalt,  dieses  —  im  Sinne  der  ziel- 
weisenden Vernunft  —  „Notstaates",  den  Schiller  im 
Gegensatz  zu  seinem  idealen  Vernunftstaat  den  Na- 
turstaat nennt,  dessen  Überwindung  ihm  die  eigent- 
liche Aufgabe  der  Kulturarbeit  der  Menschheit  ist. 

Die  Kunst  nun  schafft  im  freien  Spiel  der  Phantasie 
dieses  Reich  der  sittlichen  Freiheit  als  eine  Art  natur- 
gesetzlicher Notwendigkeit,  als  Naturerscheinung. 
Schillers  ästhetische  Anschauungen  waren  von  Anfang 
an  vorbereitet  für  die  Ästhetik  Kants.  Ihm  war  die 
Kunst  niemals  eine  leere  Belustigung,  sie  war  ihm 
Anklägerin  der  Gesellschaft,  Rächerin  der  beleidigten 
Menschheit,  Verkünderin  der  Freiheit.  In  den  vor 
dem  Studium  Kants  verfaßten  „Künstlern"  (1789), 
dem  Erhabensten,  was  je  über  Kunst  gesagt,  wird 
ihm  die  Kunst  zur  träumerisch  schaffenden  Mutter 
aller  Menschlichkeit;  im  Spiel  ahnt  sie  die  Wissen- 
schaft voraus,  im  Schlag  richtet  sie  die  Frevler  an  der 
Humanität,  im  Bild  schaut  und  rüstet  sie  schöpferisch 
die  Zukunft: 

Erhebet  euch  mit  kühnem  Flügel 
Hoch  über  euren  Zeitenlauf; 
Fern  dämm're  schon  in  eurem  Spiegel 
Das  kommende  Jahrhundert  auf. 

Und  hier  vollzieht  sich  die  verhängnisvolle  Wendung. 
Die  Kunst  wurde  ihm  aus  der  Helferin  und  Schöpferin 
des  Lebens  Ersatz  des  Lebens.  Die  Revolution  des 
Handelns  r -signierte  in  der  Welt  des  Schönen: 

228 


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Endlos  liegt  die  Welt  vor  deinen  Blicken, 
Und  die  Schiffahrt  selbst  ermißt  sie  kaum. 

Doch  auf  ihrem  unermeßnen  Rücken 
Ist  für  zehen  Glückliche  nicht  Raum. 

In  des  Herzens  heilig  stille  Räume 
Mußt  du  fliehen  aus  des  Lebens  Drang, 

Freiheit  ist  nur  in  dem  Reich  der  Träume, 
Und  das  Schöne  blüht  nur  im  Gesang. 

Das  war  der  müde  Rechnungsabschluß  Schillers  an 
der  Grenzscheide  des  revolutionärsten  Jahrhunderts. 
Aus  der  Not  wurde  ihm  ein  System.  Aus  der  Un- 
möglichkeit, im  Kerker  despotischer  Kleinstaaterei, 
die  ihn  doch  „soutenierte",  den  revolutionären  Idealis- 
mus zu  leben,  flüchtete  er  in  den  revolutionären 
Idealismus  seiner  Kunst  als  —  Erziehung  zu  diesem 
Leben ! 

Im  März  1794  kündigte  Schiller  seine  Monatsschrift 
„Die  Hören"  an,  die  sich  über  alles  verbreiten  sollte, 
„was  mit  Geschmack  und  philosophischem  Geist  be- 
handelt werden  kann".  Aber  hob  Schiller  nachdrück- 
lich hervor,  sie  werde  sich  „alles  verbieten,  was  sich 
auf  Staatsreligion  und  politische  Verfassung  bezieht". 
In  einer  anderen  Ankündigung  hieß  es,  daß  das  Jour- 
nal sich  alle  „Beziehung  auf  den  jetzigen  Weltlauf 
und  die  nächsten  Erwartungen  der  Menschheit" 
verbieten  werde.  Körner  erkannte  sofort,  was  hinter 
diesem  feierlichen  Verzicht  steckte:  Man  entgehe 
dadurch,  schrieb  er,  „vielen  Unannehmlichkeiten:  teils 
in  Ansehung  der  Zensur,  teils  in  dem  Verhältnis  des 
Ausschusses  zu  den  Mitarbeitern".  Er,  Körner,  würde 
gegen  alles  sein,  was  Staat  und  Religion  zerstöre.  Das 
könnte  als  Beschränkung  der  Freimütigkeit  erscheinen. 
Aber  das  schade  nichts;  denn  man  bedürfe  gar  nicht 
der  Freimütigkeit,  „wenn  der  Mensch  auf  dem  Wege 
der  Schönheit  weitergekommen  ist". 


22Q 


Schiller  hatte  trotzdem  ein  lebendiges  Gefühl,  daß 
er  mit  der  Beschränkung  auf  die  ästhetische  Welt  eine 
anstößige  Flucht  aus  einer  großen  Zeit  vollzog.  In 
seinen  Briefen  „über  die  ästhetische  Erziehung 
des  Menschen"  rang  er  deutlich  damit,  diesen  in- 
neren Zwiespalt  zu  überbrücken.  Er  bog  Kants 
Ästhetik  ganz  unkantisch  um.  Kant  hat  niemals  die 
ästhetische  Bildung  als  eine  Vorschule  des  politisch  - 
sittlichen  Handelns  aufgefaßt.  Gegen  alle  Bedenken, 
ob  die  Menschheit  schon  reif  sei  für  den  Vernunftstaat, 
richtete  er  die  schlichte  tapfere  Erkenntnis:  Der 
Mensch  müsse  zuvörderst  in  Freiheit  gesetzt  werden, 
wenn  er  die  Freiheit  gebrauchen  lernen  solle.  Schiller 
aber  fand  in  dem  Mißtrauen  gegen  die  Freiheitsreife 
der  handelnden  Menschen  —  sie  durften  nicht  reif 
sein  in  einem  Lande  des  despotisch-patriarchalischen, 
bureaukratisch-polizeilichen  Regiments  —  das  Mittel, 
um  die  Notwendigkeit  seiner  gesellschaftlichen  Exi- 
stenz mit  seinem  revolutionären  Idealismus  zu  ver- 
söhnen: Wenn  denn  die  Kunst  ahnende  Schöpferin 
des  Lebens  sein  sollte,  mußte  Erziehung  durch  sie 
nicht  die  Voraussetzung  revolutionärer  Wirklichkeit 
sein?  So  wurde  der  revolutionäre  Idealismus  der 
Tat  vertagt,  und  die  Menschheit  zunächst  in  die 
Schule  der  Kunst  geschickt.  Statt  der  gemeinsamen, 
in  Wechselwirkung  sich  ergänzenden  sittlich-politischen 
und  künstlerischen  Arbeit,  verdrängte  die  Ästhetik 
die  in  der  Praxis  unerlaubte  revolutionäre  Hand- 
lung, auch  grundsätzlich.  Die  Kunst  wurde  die 
Betätigung  des  revolutionären  Idealismus. 

Wohl  fühlt  Schiller,  daß  eigentlich  „der  philosophi- 
sche Untersuchungsgeist  durch  die  Zeit  so  nachdrück- 
lich aufgefordert  wird,  sich  mit  dem  vollkommen- 
sten aller  Kunstwerke,  mit  dem  Bau  einer 
wahren  politischen  Freiheit  zu  beschäftigen": 

„Erwartungsvoll  sind  die  Blicke  des  Philosophen  wie 
des  Weltmannes  auf  den  politischen  Schauplatz  ge- 

230 


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heftet,  wo  jetzt,  wie  man  glaubt,  das  große  Schicksal 
der  Menschheit  verhandelt  wird.  Verrät  es  nicht 
eine  tadelnswerte  Gleichgültigkeit  gegen  das  Wohl 
der  Gesellschaft,  dieses  allgemeine  Gespräch  nicht  zu 
teilen  ?  .  .  .  Eine  Frage,  welche  sonst  nur  durch  das 
blinde  Recht  des  Stärkeren  beantwortet  wurde,  ist 
nun,  wie  es  scheint,  vor  dem  Richterstuhle  reiner  Ver- 
nunft anhängig  gemacht." 

Radikal  gesteht  Schiller  in  den  ästhetischen  Briefen 
in  einer  fast  an  heutige  sozialistische  Kritik  anklingen- 
den Weise  zu,  daß  es  die  unveräußerliche  Aufgabe 
sei,  den  „Naturstaat"  der  Gegenwart  zu  revolutio- 
nieren, diesen  Staat,  dessen  sinnlose,  feindselige,  ver- 
derbliche Widersprüche  er  schildert : 

„Der  Genuß  wurde  von  der  Arbeit,  das  Mittel  vom 
Zweck,  die  Anstrengung  von  der  Belohnung  geschie- 
den. Ewig  nur  an  ein  einzelnes  kleines  Bruchstück  de? 
Ganzen  gefesselt,  bildet  sich  der  Mensch  selbst  nur 
als  Bruchstück  aus,  ewig  nur  das  eintönige  Geräusch 
des  Rades,  das  er  antreibt,  im  Ohre,  entwickelt  er 
nie  die  Harmonie  seines  Wesens,  und  anstatt  die 
Menschheit  in  seiner  Natur  auszuprägen,  wird  er 
bloß  zu  einem  Abdruck  seines  Geschäfts,  seiner  Wis- 
senschaft." 

Aber  dieser  Weg  zur  Freiheit  kann,  so  biegt  Schiller 
die  große  Idee  um,  nicht  sofort  gegangen  werden: 

„In  den  niederen  und  zahlreicheren  Klassen  stellen 
sich  uns  rohe  gesetzlose  Triebe  dar,  die  sich  nach 
aufgelöstem  Band  der  bürgerlichen  Ordnung  ent- 
fesseln, und  mit  unlenksamer  Wut  zu  ihrer  tierischen 
Befriedigung  eilen  .  .  .  Die  losgebundene  Gesellschaft, 
anstatt  aufwärts  in  das  organische  Leben  zu  eilen, 
fällt  in  das  Eleraentarreich  zurück." 

Also  muß  die  Menschheit  erst  erzogen  werden,  also 
muß  man,  „um  jenes  politische  Problem  in  der  Er- 
fahrung zu  lösen,  durch  das  Ästhetische  den  Weg 
nehmen",  „weil  es  die  Schönheit  ist,  durch  welche 

231 


man  zu  der  Freiheit  wandert".  Dermaßen  stieg  die 
Kunst  zu  ihrer  höchsten  Würde,  und  indem  sie  sich 
vermaß,  das  Leben  für  den  Zukunftsstaat  zu  erziehen, 
stieß  sie  den  Anspruch  und  die  Kraft  des  Lebens  selbst 
in  das  erhabene  Nichts  eines  stolzen  Traums. 

Zugleich  zog  sich  die  Kunst  selbst  aus  der  Unmittel- 
barkeit des  Lebens  zurück.  Durch  Schleier  und  Hüllen 
sprach  sie  in  den  Bildern  einer  phantastischen  Ver- 
gangenheit zur  Zukunft. 

Nicht  als  ob  Schiller  kein  Auge  für  das  lebendige 
Dasein  seiner  Zeit  gehabt  hätte.  Zu  den  philosophi- 
schen Gedichten  gestaltet  er  die  Zustände  seiner  Zeit 
zu  klarster  Anschaulichkeit.  Er  plant  sogar  ein  Epos 
unmittelbarer  Gegenwart,  eine  Friedericiade;  an  der 
Idee  zog  ihn  an,  daß  ->,unsere  Sitten,  der  feinste  Duft 
unserer  Philosophie,  unsere  Verfassungen,  Häuslichkeit, 
Künste"  auf  Grund  eines  „tiefen  Studiums  unserer 
Zeit"  dargestellt  werden  könnten. 

„Wie  interessant  müßte  es  sein  (schreibt  Schiller 
an  Körner),  die  europäischen  Hauptnationen,  ihr 
Nationalgepräge,  ihre  Verfassungen,  und  in  sechs  bis 
acht  Versen  ihre  Geschichte  anschauend  darzustellen! 
Welches  Interesse  für  die  jetzige  Zeit!  Statistik,  Han- 
del, Landeskultur,  Religion,  Gesetzgebung:  Alles  dies 
könnte  oft  mit  drei  Worten  lebendig  dargestellt  wer- 
den. Der  deutsche  Reichstag,  das  Parlament  in  Eng- 
land, das  Konklave  in  Rom  usw.  Ein  schönes  Denkmal 
würde  auch  Voltaire  darin  erhalten.  Was  es  mir  auch 
kosten  möchte,  ich  würde  den  freien  Denker  vorzüg- 
lich darin  in  Glorie  stellen,  und  das  ganze  Gedicht 
müßte  dies  Gepräge  tragen.44 

Er  gibt  den  Gedanken  auf  aus  dem  Grunde,  weil 
er  den  Charakter  Friedrichs  II.  nicht  lieb  gewinnen 
könne;  „er  begeistert  mich  nicht  genug,  die  Riesen- 
arbeit der  Idealisierung  an  ihm  vorzunehmen." 

Der  Zwang  der  Umstände,  unter  denen  Schiller 
232 


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leben  mußte,  lenkt  schließlich  selbst  unbewußt  die 
Forderungen  seines  künstlerischen  Stils. 

So  ward  die  Bahn  frei  für  die  Schillerschändung  der 
bürgerlichen  Epigonen.  Auf  ihn  beriefen  sich  die 
blutarmen  Schwächlinge,  welche  aus  der  Rohheit  der 
Politik  in  die  Stille  der  Kunst  naserümpfend  reti- 
rierten.  Der  revolutionäre  Idealismus,  der  die  Zu- 
kunftsgesellschaft gebieterisch  fordert,  wurde  zur  gau- 
kelnden, unverbindlichen  Phrase.  Seine  welthäm- 
mcrnde  Ethik  wurde  zu  platter  moralisierender  Heu- 
chelei. Vergebens  hatte  Schiller  versucht,  die  Miß- 
verständnisse abzuwehren,  die  ewigen  Tugendschwät- 
zer gehöhnt,  die  flachen  Moralisten  gegeißelt  und 
denen,  die  den  Hunger  mit  moralischer  Salbaderei  zu 
betrügen  suchten,  das  umstürzende  Wort  zugerufen: 

Würde  des  Menschen : 

„Nichts  mehr  davon,  ich  bitt  euch.   Zu  essen,  gebt 

ihnen  zu  wohnen. 

Habt  ihr  die  Blöße  bedeckt,  gibt  sich  die  Würde  von 

selbst.44 

Der  jämmerliche  deutsche  Liberalismus  verkrüp- 
pelte den  großen  Stürmer  nach  seinem  kleinen  Bilde. 

VI. 

In  Schiller  vereinigt  sich  alles,  was  das  deutsche 
Bürgertum  an  revolutionärer  Kulturkraft  aufgebracht 
hat.  Die  deutsche  bürgerliche  Kultur  erschöpft  sich 
in  der  deutschen  Kunst,  die  zwar  gerade  deshalb  sich 
so  mächtig  entfaltete,  weil  sie  eben  der  Ersatz  einer 
Kultur  der  Wirklichkeit  war;  die  aber  andererseits, 
in  sich  genügsam  und  isoliert,  schließlich  nicht,  wie 
gedacht,  Erziehung  zur  Wirklichkeit,  sondern  Ab- 
lenkung von  ihr  ward. 

In  dem  Geschick  der  bürgerlichen  Revolution  in 
Deutschland  wiederholt  sich  der  Bruch,  der  Schillers 
Kraft  und  Wirkung  spaltete.  Die  Höhe  erreicht  Schil- 


233 


lers  Mission  in  den  Frühlingsstürmen  von  1848,  und 
noch  einmal  in  der  tiefen  Reaktionszeit  ward  die 
Jahrhundertfeier  seiner  Geburt  —  1859  ~  zu  <*er 
packenden  Demonstration  aller  Deutschen,  die  in 
seiner  Kunst  die  Freiheit  und  Einheit  Deutschlands 
verwirklicht  sahen. 

Schillers  Ruhm  wäre  sicherer  gewahrt,  wenn  man 
ihn  unter  den  Märzgefallenen  verachtet  beseitigt 
hätte.  Die  Märzfeier  ist  die  Huldigung,  die  er  ver- 
diente. Wenn  an  diesem  Mai  aber  die  offizielle  deut- 
sche Welt  den  Namen  des  Großen  vor  ihre  Blöße 
zerrt,  so  hat  diesen  Verehrern  Schiller  selbst  das 
Brandmal  aufgedrückt: 

O  wieviel  neue  Feinde  der  Wahrheit!    Mir  blutet 

die  Seele, 

Seh  ich  das  Eulengeschlecht,  das  zu  dem  Lichte  sich 

drängt. 

[Mai  1905]. 


234 


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Das  klassische  Elend. 
Ein  Nachwort  zur  Schillerfeier  1909. 

I. 

Die  klassische  Kunst  Deutschlands,  allumspannende 
Ewigkeit  und  einsamste  Verlorenheit  zugleich  spricht 
ihr  letztes  Wort  in  der  Formel  der  Entsagung.  Da^ 
Reich  der  Geister,  das  geschaffen  wurde,  war  eine 
Utopie  innerster  Verzweiflung.  Die  Religion  der 
Kunst,  zu  der  sich  Goethe  und  Schiller  bekannten, 
war  eine  Flucht  vor  der  Wirklichkeit,  die  sie  nicht 
meistern  konnten,  die  sie  kaum  berühren  durften.  Sie 
lebten  in  der  größten  Zeit  der  Menschheitsgeschichte 
und  gingen  an  ihr  schaudernd  erst  und  dann  fast 
gleichgültig  vorüber.  Sie  lebten  in  Deutschland  — 
das  war  ihr  Schicksal,  das  ihnen  verwehrte,  jemals 
die  Bedeutung  für  die  Unmittelbarkeit  des  nationalen 
Lebens  zu  gewinnen,  wie  mindere  Dichter  und  stärkere 
Kampfer,  ein  Voltaire  oder  Rousseau. 

Auch  Schillers  Wesen  hat  im  deutschen  Gemein 
bewußtsein  keine  Wurzel  geschlagen.  Er  wie  Goethe 
hatten,  nach  den  Sturmerfolgen  der  Jugendwerke, 
kein  Volk  als  Boden  ihrer  Saat,  nicht  einmal  ein  Publi- 
kum, nur  eine  kleine  Gemeinde  von  Gelehrten  und 
Höflingen.  Schiller  konnte  seine  Zeitschriften  nicht 
gegen  die  Journale  des  flachen  Tagesgeschmacks  be- 
haupten, und  wenn  Goethes  Iphigenie  im  Theater 
gespielt  wurde,  das  die  Jahrmarktware  füllte,  war  der 
Zuschauerraum  verödet.  In  der  damaligen  Bühnen 
Statistik  verschwinden  die  Namen  der  Klassiker  unter 
dem  Wust  der  Modeware. 

Schiller  erkannte  als  seinen  wahren  Beruf  die  Er 


235 


ziehung  des  deutschen  Bürgertums  zur  Humanität. 
Wenn  man  die  Festreden  und  Festartikel  verfolgt, 
die  in  diesen  Tagen  die  Öffentlichkeit  erfüllten,  so 
gewahrt  man,  daß  Schiller  für  die  bürgerliche  Welt 
heute  entweder  nur  ein  gelehrtes  Interesse  oder  ein 
dunkclmännischer  Versuch  ist,  mit  blassem  idealisti- 
schem Wortschwall  die  Schillersche  Erziehung  des 
Menschengeschlechts  zu  hemmen.  Kraftvoll  und 
lebendig  ersteht  heute  Schiller  dagegen  im  Proletariat, 
dessen  Presse  dem  Tag  auch  äußerlich  mehr  Aufmerk- 
samkeit geschenkt  hat,  als  die  bürgerliche  Welt,  die  ja 
auch  heute  weiter  denn  je  von  der  Berührung  mit  dem 
Geist  des  klassischen  Deutschtums  entfernt  ist.  Das 
Bürgertum  redet  von  ästhetischer  Bildung,  aber  be- 
sitzt sie  nicht,  und  ein  Jahrhundert  des  Eigentums 
von  „Schillers  sämtlichen  Werken"  hat  es  noch  nicht 
zu  dem  politischen  Staatsbürgertum  gereift,  für  das 
die  Kunst,  nach  der  Anschauung  Schillers,  nur  die 
Vorschule  sein  sollte.  Dagegen  ist  das  Proletariat, 
das  die  politisch-soziale  Entwicklung  der  Menschheit 
nicht  abhängig  macht  von  der  Voraussetzung  einer 
vorher  vollendeten  Seelenerziehung,  das  nicht  an  den 
Erzieher-  und  Beglückerberuf  edler  Genies  und  hoch- 
herziger Staatsmänner  glaubt,  das  vielmehr  in  der 
freien  Selbstbetätigung  der  Massen,  in  dem  unmittel- 
baren Kampf  um  die  politische  Freiheit  und  Macht 
die  Voraussetzung  zu  ihrer  höheren  Bildung  entdeckt 
hat,  gerade  durch  die  selbständige  politische  Arbeit 
auch  zur  echten  und  innerlichen  ästhetischen  Selbst- 
erziehung gelangt. 

Das  Proletariat  erlebt  heute  Schiller,  der  von  dem 
Bürgertum  hundert  Jahre  lang  immer  nur  falsch 
deklamiert  worden  ist.  Es  erlebt  Schiller,  indem  es 
in  der  Praxis  seines  Wirkens  die  Grundanschauung 
des  Dichters  widerlegt! 

Aber  war  diese  Anschauung  wirklich  die  innerste 
Überzeugung,  war  sie  vielleicht  nicht  doch  nur  An- 

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passung  an  die  äußeren  Umstände,  unter  denen 
Schiller  zu  leben  gezwungen  war?  Eine  Not,  die  zur 
Weltanschauung  sich  empordrängte,  um  sich  nicht 
selbst  gar  so  elend  zu  erscheinen?  Bejahte  Schiller 
nicht  etwa  nur  eine  Verneinung,  die  ihm  die  politische 
Wirklichkeit  gebot?  Mußte  er  nicht  etwa  deshalb 
ein  Bürger  im  Reiche  des  Schönen  sein,  weil  es  Hoch- 
verrat gewesen  wäre,  ein  Bürger  im  Reiche  des  poli- 
tischen Handelns  zu  sein  ? 

Unsere  deutschen  Klassiker  waren  Stipendiaten  der 
Herren  und  Mächtigen,  der  Fürsten  und  Adligen;  von 
deren  Gnade  lebten  sie.  Ohne  sie  war  ihre  geistige 
und  materielle  Existenz  unmöglich.  Sie  waren  ge- 
fangen in  dieser  Welt  und  sie  zahlten  diese  Gefangen- 
schaft mit  ihrer  nicht  immer  bewußtlosen  Anpassung. 
Sie  waren  Schriftsteller  in  einem  unfreien  Lande  bru- 
taler Zensur,  die  zwar  in  den  erleuchtetsten  Zeiten 
und  Gegenden  geneigt  war,  die  gelehrtesten  und  tief- 
sinnigsten Diskussionen  über  die  letzten  Fragen  und 
ewigen  Rätsel  zu  tolerieren  und  die  Behandlung  der 
Ewigkeitsprobleme  zuzulassen,  die  aber  die  Ein- 
mischung der  Literaten  in  das  Leben  der  Zeit  streng 
verpönte.  Die  freiesten  deutschen  Geister,  die  es  den- 
noch wagten,  mußten  sich  einen  dunklen  Stil  wählen, 
um  an  den  Paragraphen  des  Landrechts  und  an  dem 
Späherblick  des  Zensors  vorüberzukommen.  Sic  durf- 
ten eine  Theorie  in  abstrakter  Vorsicht  aufstellen, 
aber  sie  durften  sie  durch  kein  einziges  Beispiel  er- 
hellen. Wir  wissen,  daß  der  alte  Kant  seinen  jungen 
Schüler  Fichte  beriet,  wie  er  bei  der  Herausgabe 
seiner  ersten  revolutionären  Schriften  durch  die  Form 
der  Darstellung  dem  Zensor  eine  Nase  zu  drehen 
vermöchte. 

Bei  Schiller  lassen  sich  solche  inneren  und  äußeren 
Einwirkungen  des  Zwangs,  unter  dem  er  lebte,  nicht 
so  klar  darstellen  wie  bei  anderen.  Aber  das  entschei- 
dende Verhältnis  zu  der  großen  Weltwendc  der  fran- 

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zösischen  Revolution  ist  durch  diesen  Zwang  beein- 
flußt worden.  Das  Verhältnis  zur  französischen  Re- 
volution mußte  bei  Schiller  anders  sein  wie  bei  Goethe. 
Der  Frankfurter  Patriziersohn  und  Weimarer  Geheim- 
rat empfand  für  die  ungehemmte  Betätigung  seines 
freien  Geistes,  für  das  völlige  Ausleben  seines  Fausti- 
schen Drangs  jede  Veränderung  der  äußeren  Beziehun- 
gen als  eine  Störung.  Dieser  Prometheus  mußte  und 
wollte  an  dem  Felsen  des  deutschen  Elends  angeschmie- 
det sein  wie  an  einer  sicheren  geordneten  Heimat,  die 
höchstens  einmal  durch  einen  kleinen  Hausbrand  er- 
schreckt wurde;  er  brauchte  dieses  bürgerliche  Be- 
hagen eines  kleinstaatlichen  und  kleinstädtischen  Frie- 
dens, dieses  Ghetto  des  Hoflebens,  um  seine  Kräfte 
rundum  entfalten  zu  können.  Aber  Schiller,  der  Sohn 
der  Not,  der  trotzige  Rebell  der  „Räuber",  hatte  die 
Seele  eines  politisch  tätigen  Menschen.  Der  Ehren- 
bürger der  französischen  Revolution  wäre  in  Frank- 
reich aus  dem  Traumreich  des  Schönen  in  den  Kon- 
vent gestiegen.  In  Deutschland  verzärtelte  ihn  die 
Welt,  in  der  er  wirkte,  und  so  mußte  er  der  Erzieher 
für  eine  ferne  Zukunft,  ein  enthusiastischer  Fürsten- 
berater sein,  statt  ein  handelnder  Kämpfer  für  das 
Dasein  seiner  Zeit  zu  werden.  Auch  die  schlimmsten 
Grausamkeiten  der  französischen  Revolution  behalten 
einen  Hauch  des  Erhabenen,  leuchten  groß  auf  in 
dem  Widerschein  der  ungeheuren  Götterdämmerung. 
Aber  die  stummen  Greuel  des  deutschen  Jammers 
haben  nichts  Großes,  nichts  Versöhnendes  und  Er- 
hebendes, und  sie  sind  grausamer  in  ihrer  verächt- 
lichen Kleinheit,  wie  die  Blutbrände  jenseits  des 
Rheins. 

Als  die  Revolution  ausbrach,  traf  sie  Schiller  in 
einem  Zustand  kläglichsten  Elends.  Der  weltberühmte 
Dichter  der  Räuber  war  ein  kleiner  thüringischer  Pro- 
fessor, der  zweihundert  Taler  Jahresgehalt  bezog, 
unter  seinen  Schulden  erstickte  und  unter  körperlichen 

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Leiden  zusammenbrach.  Alles  was  er  geschrieben 
hatte  und  noch  schreiben  mußte,  tat  er  in  harter 
Fron,  um  des  Brotes  willen.  Nicht  er  kommandierte 
die  Poesie,  sondern  die  Misere  kommandierte  den 
Genius.  Die  Anfänge  der  französischen  Revolution 
interessieren  ihn,  aber  sie  bewegen  ihn  doch  nicht 
allzu  stark.  Er  verhält  sich  sympathisch  und  abwar- 
tend. Die  Sorge  seines  Herdes  bewegt  ihn  tiefer. 
Ein  paar  hundert  Taler  sicheren  Einkommens  sind  für 
ihn  eine  bedeutsamere  Schicksalsfrage,  als  drüben  die 
Weltumwälzung.  Er  ist  am  Ende  seiner  Kraft.  Er 
wird  von  körperlichen  Schmerzen  gequält.  So  sieht 
er  in  den  vulkanischen  Erschütterungen  der  Revolu- 
tion, angewidert,  bald  nur  die  Ausbrüche  elementarer 
Roheit,  schreckliche  Abirrungen  von  dem  großen  Ver- 
nunftreich menschlicher  Freiheit,  an  das  er  glaubt. 
Die  Hinrichtung  des  französischen  Königs  ist  für  den 
alten  Republikaner  ein  Greuel. 

Und  gerade  in  dieser  Zeit  erlebt  nun  auch  Schiller 
seine  persönliche  Revolution.  Sie  hat  mit  der  franzö- 
sischen nur  das  eine  gemeinsam,  daß  auch  seine  Be- 
freiung aus  dem  Ausland  kam.  Sonst  ist  es  nur  die 
erbärmliche  Revolution  von  ein  paar  tausend  Talern, 
die  ihm  ein  dänischer  Prinz  gewährte.  Schiller  war 
damals  so  leidend,  daß  bereits  sein  Tod  in  der  Weit 
verkündet  wurde,  und  diese  Erschütterung,  die  in 
Kopenhagen  die  Todesnachricht  hervorrief,  wurde 
der  Anlaß,  daß  ihm  der  Prinz  von  Augustenburg  ein 
Jahresgehalt  von  tausend  Talern  aussetzte,  das  ihm 
nun  einige  Freiheit  des  Schaffens  ermöglichte.  So  kam 
für  Schiller  die  Freiheit  als  das  fremde  Gnaden- 
geschenk eines  Fürsten,  und  so  sah  er  auch  die  Mensch- 
heitsrevolution schließlich  im  Bilde  eines  fürstlichen 
Geschenks. 

Was  Schiller  an  revolutionären  Ideen  und  politischer 
Sehnsucht  in  sich  barg,  versuchte  er  während  der  fran- 
zösischen Revolution  in  Briefen  an  seinen  fürstlichen 

239 


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Freund  auszuströmen.  Aus  diesen  Schreiben  formte 
er  dann  die  „Briefe  über  die  ästhetische  Erziehung 
des  Menschen",  die  er  für  sein  hervorragendstes  und 
allein  der  Unsterblichkeit  würdiges  Werk  hielt.  Ge- 
rade das  Schicksal  dieser  Briefe  aber  zeigt,  wieviel 
auch  Schiller  verbergen  und  abschwächen  mußte. 

Die  Briefe  an  den  Augusten  burger  setzen  mit  einem 
vollen  Widerhall  der  großen  Revolution  ein,  verstum- 
men dann  über  die  lebendigen  Fragen  der  Menschheit 
und  diskutieren  schließlich  die  ästhetische  Erziehung 
als  Mittlerin  und  Bildnerin  des  tätigen  Willens  zum 
Reich  der  Vernunft.  Indem  Schiller  die  Gedanken 
der  Kantischen  Ethik  ausspinnt,  weist  er  der  Kunst 
die  Aufgabe  zu,  durch  ihre  Einwirkung  auf  Gefühl 
und  Phantasie  den  menschlichen  Willen  erst  geschmei- 
dig zu  machen  für  die  Betätigung  der  Gesetze  freier 
Vernunft,  in  Staat  und  Gesellschaft.  Als  Schiller 
schließlich  die  Privatbriefe  für  die  Öffentlichkeit  um- 
arbeitete, dämpfte  er  die  revolutionären  Akkorde  jener 
ersten  Briefe,  so  daß  sie  heute  nur  noch  wie  aus  weiter 
Ferne  dumpf  hallen. 

Das  Schicksal  dieser  Briefe  ist  ein  grelles  Zeugnis 
des  klassischen  Elends. 

II. 

Im  Sommer  1790  besuchte  der  dänische  Dichter 
Baggesen  den  31jährigen  Schiller.  In  seinem  Tage- 
buch zeichnet  er  den  Zustand  des  Dichters:  Hoch 
und  bleich  mit  seinem  gelben  unfrisierten  Haar  und 
mit  durchbohrendem  Blick  in  dem  fast  starrenden 
Auge.  „All  die  angenommene  Munterkeit  konnte 
einen  tiefen  Kummer  nicht  verdecken."  Und  Bag- 
gesen fügt  hinzu:  „Schiller  ist  ein  feuerspeiender  Berg, 
dessen  Haupt  mit  Schnee  bedeckt  ist.  Er  scheint  kalt; 
in  seinem  ganzen  Benehmen,  sogar  gegen  seine  ver- 
trautesten Freunde,  und  allermeist  gegen  seine  Gat- 
tin, ist  Kälte.  In  Gesellschaft  ist  er  durchaus  Nichts, 

240 


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durchaus  nicht  unterhaltend,  durchaus  nicht  witzig 
und  zumeist  stumm  ...  Er  sagt  niemals  seiner  Frau 
oder  einem  seiner  Freunde  ein  liebevolles  Wort,  son- 
dern ist  trocken,  kalt  und  verdrießlich;  in  seinen 
Schriften  dagegen  ist  er  ein  ganz  anderer  Mensch,  und 
in  allen  seinen  Briefen  ist  Geist  und  Herzlichkeit. 
Wenn  nicht  die  Not  ihn  gezwungen  hätte,  würde  er 
es  sicher  ganz  aufgegeben  haben,  nicht  zu  schreiben, 
aber  etwas  herauszugeben.  Paupertas  impulit  audax! 
(Die  Armut  hat  ihn  getrieben.)  Sonst  würden  wir 
nicht  ein  einziges  von  seinen  letzten  herrlichen  Wer- 
ken bekommen  haben,  nicht  einmal  Don  Carlos  .  . . 
Unzufrieden  mit  allem  was  er  hervorbringt,  würde 
er  es  im  Pulte  liegen  lassen,  wenn  nicht  der  Magen 
andere  Launen  hätte  als  der  Kopf." 

Aus  solchem  Jammer  rettete  ihn  das  Jahresgehalt 
des  Prinzen  von  Augustenburg,  das  Baggesen  erwirkte. 
Dieser  Prinz  scheint  ein  Politiker  des  Stils  gewesen 
zu  sein,  wie  sein  Nachkomme,  der  heutige  Ernst 
Günther  von  Schleswig-Holstein,  als  Sozialpolitiker 
dilettiert.  Er  soll  nebst  seiner  Frau  auf  die  Nachricht 
der  Pariser  Revolution,  der  Erklärung  der  Menschen- 
rechte Freudentränen  vergossen  haben.  Der  Marquis 
Posa  war  sein  Mann  und  überschwänglich  schreibt  sein 
Freund  Baggesen  von  ihm:  „Wenn  uns  dieser  Prinz 
nicht  gewiß  ist,  so  können  alle  jetzigen  und  im  nächsten 
Jahrhunderte  künftigen  Posas  sich  mit  allen  ihren 
Plänen  nach  dem  Tollhause  begeben;  denn  eine  Seele 
wie  die  seinige  wiederholt  die  Natur  selten  unter  Mil- 
lionen und  vielleicht  nie  unter  Hunderten."  Aber 
Baggesen  schließt  an  diese  Schwärmerei  eine  Ent- 
schuldigung, die  im  voraus  erklärt,  warum  aus  den 
revolutionären  Freudentränen  möglicherweise  auch 
nicht  die  bescheidenste  Tat  befruchtet  werden  könnte : 
„Wann  war  aber  der  Weltbürger,  der  Freiheit  und 
Gleichheit,  Aufklärung  und  allgemeines  Menschenglück 
tätig  liebt,  an  einem  Hofe  in  einer  bequemen  Lage  ?" 


16   Eisoer,  Gesammelte  Schriften.  II. 


241 


Im  November  1791  schrieb  der  Prinz  und  der  däni- 
sche Minister  Ernst  Schimmelmann  gemeinsam  einen 
vornehm  und  ehrfurchtsvoll  gehaltenen  Brief  nach 
Jena:  „Zwei  Freunde,  durch  den  Weltbürgersinn  mit- 
einander verbunden,  erlassen  dieses  Schreiben  an  Sie," 
edler  Mann!"  so  begann  das  Schreiben.  Dann  heißt 
es:  „Ihre  durch  allzuhäufige  Anstrengung  und  Arbeit 
zerrüttete  Gesundheit  bedarf,  so  sagt  man,  für  einige 
Zeit  einer  großen  Ruhe  . .  .  Allein  Ihre  Verhältnisse, 
Ihre  Glücksumstände  verhindern  dies,  sich  dieser  Ruhe 
zu  überlassen.  Wollten  Sie  uns  wohl  die  Freude  gönnen, 
Ihnen  den  Genuß  derselben  zu  erleichtern  ?  Wir 
bieten  Ihnen  zu  dem  Ende  auf  drei  Jahre  ein  jähr- 
liches Geschenk  von  tausend  Talern  .  . .  Wir  kennen 
keinen  Stolz  als  nur  den,  Menschen  zu  sein,  Bürger 
in  der  großen  Republik,  deren  Grenzen  mehr  als  das 
Leben  einzelner  Generationen,  mehr  als  die  Grenzen 
eines  Erdballs  umfassen."  Zugleich  bot  man  ihm 
eine  Anstellung  im  dänischen  Dienst  an.  Das  war  der 
Stil  aufgeklärter  Prinzen  und  Minister  am  Anfang  der 
französischen  Revolution.  Aber  es  war  nur  Stil! 

Schiller  fühlte  sich  erlöst.  „Ich  bin  auf  lange,  viel- 
leicht auf  immer  aller  Sorgen  los,  ich  habe  die  längst 
gewünschte  Unabhängigkeit  des  Geistes,  ich  habe  die 
nahe  Aussicht,  mich  ganz  zu  arrangieren,  meine  Schul- 
den zu  tilgen  und  unabhängig  von  Nahrungssorgen 
ganz  den  Entwürfen  meines  Geistes  zu  leben."  So 
schreibt  er  an  seinen  Freund  Körner,  der  in  einer  An- 
wandlung revolutionären  Trotzes  antwortet:  „Eine 
traurige  Empfindung  mischt  sich  bei  mir  in  die  Freude 
über  Dein  Glück  —  daß  wir  in  einem  Zeitalter  und 
unter  Menschen  leben,  wo  eine  solche  Handlung  an- 
gestaunt wird,  die  doch  eigentlich  so  natürlich  ist." 
„Überrascht  und  betäubt"  von  dem  Brief  nennt 
Schiller  sich  in  seinem  Dank  an  Baggesen.  Die  un- 
geheure Bedeutung  der  tausend  Taler  für  sein  Schick- 
sal zeichnet  Schiller  in  dem  trüben  Satz:  „Von  der 

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Wiege  meines  Geistes  an  bis  jetzt,  da  ich  dieses  schreibe, 
habe  ich  mit  dem  Schicksal  gekämpft  und  seitdem  ich 
die  Freiheit  des  Geistes  zu  schätzen  weiß,  war  ich 
dazu  verurteilt,  sie  zu  entbehren." 

Die  Gabe  des  Prinzen  beeinflußt  wohl  auch  die 
Stimmung  Schillers  über  die  große  Revolution.  Wie 
anders  ließ  sich  doch  der  Fortschritt  der  Menschheit 
erzeugen,  wieviel  leichter  und  edler,  wenn  die  Mäch- 
tigen der  Welt  selbst  das  Glück  der  Menschheit  her- 
vorbringen! Die  Baumeister  der  Zukunft  sind  da;  der 
Augustenburger  beweist  es.  Nun  handelt  es  sich  nur 
darum,  die  Völker  zu  erziehen,  daß  sie  reif  würden  für 
die  revolutionäre  Gesinnung  solcher  Aufklärungsprin- 
zen. Es  scheint,  als  ob  in  Schiller  die  Hoffnung  keimte, 
er  könne  als  Prinzenerzieher  vielleicht  Beirat  werden 
in  der  großen  Umwandlung  des  Menschengeschlechts, 
das  nicht  durch  Blut  und  Gewalt,  sondern  durch  sitt- 
liche und  künstlerische  Bildung  zum  Reiche  der  Frei- 
heit gelange.  Ist  für  den  Poeten,  der  den  Marquis 
Posa  erdachte,  nun  etwa  der  herrliche  Augenblick  ge- 
kommen, von  der  Bühne  ins  Leben  hinabzusteigen 
und  ein  Posa  der  Tat  zu  werden? 

Solche  Ziele  mögen  Schiller  vorgeschwebt  haben, 
als  er  daran  ging,  seinem  prinzlichen  Gönner  jene 
Briefe  zu  schreiben,  in  denen  er  sein  Programm  für 
die  Erneuerung  der  Menschen  darlegte.  Es  sind 
Briefe  über  Ästhetik  —  scheinbar.  Er  entwickelt 
dem  Augustenburger  seine  Gedanken,  wie  es  die  Auf- 
gabe der  Kunst  wäre,  die  Menschen  reif  zu  machen 
für  das  Zukunftsreich  der  Freiheit  und  Gleichheit 
Die  Ethik  allein  leistet  diesen  Dienst  nicht,  sie  wirkt 
nur  auf  die  Vernunft.  Es  bedarf  der  Vermittlung  des 
künstlerisch  erregten  Gefühls,  um  das  Gute  tätig  zu 
wollen. 

Ein  Teil  der  Originale  der  Briefe  ist  erhalten  und 
man  kann  sie  heute  vergleichen  mit  jenen  Briefen  über 
die  ästhetische  Erziehung  der  Menschen,  wie  sie  1795 


243 


dann  in  den  „Hören**  veröffentlicht  wurden.  Schiller 
beginnt  den  Briefwechsel  mit  starkem  revolutionären 
Pathos,  hat  doch  der  Adressat  Freudentränen  wegen 
der  Verkündigung  der  Menschenrechte  vergossen!  Er 
entschuldigt  sich,  daß  er  seine  Ideen  von  Schönheit 
und  schöner  Kunst  in  den  Briefen  vorzulegen  beab- 
sichtige. Gibt  es  nicht  wichtigere  Dinge,  über  die 
passender  zu  verhandeln  sei  ?  Die  Kunst  sei  eine  Toch- 
ter der  Freiheit.  „Jetzt  aber  herrscht  das  Bedürfnis 
und  der  Drang  der  physischen  Lage,  die  Abhängigkeit 
des  Menschen  von  tausend  Verhältnissen,  die  ihm 
Fesseln  anlegen.**  Besonders  sei  es  das  politische 
Schöpfungswerk,  was  beinahe  alle  Geister  beschäftigt. 
„Die  Ereignisse  in  diesem  letzten  Dezennium  des 
18.  Jahrhunderts  sind  für  den  Philosophen  nicht  we- 
niger auffordernd  und  wichtig,  als  sie  es  sonst  nur 
für  den  mithandelnden  Weltmann  sind,  und  Ew. 
Durchlaucht  könnten  also  mit  doppeltem  Recht  er- 
warten, daß  ich  diesen  merkwürdigen  Stoff  zum  Ge- 
genstand der  Schriften  und  der  Unterhaltung  machte . . . 
Ein  Gesetz  des  weisen  Salomon  verdammt  den  Bürger, 
der  bei  einem  Aufstand  keine  Partei  nimmt.  Wenn 
es  je  einen  Fall  gegeben  hat,  auf  den  dieses  Gesetz 
könnte  angewandt  werden,  so  scheint  es  der  gegen- 
wärtige zu  sein,  wo  das  große  Schicksal  der  Menschheit 
zur  Frage  gebracht  ist.  .  .  .  Eine  geistreiche,  mutvolle, 
lange  Zeit  als  Muster  betrachtete  Nation  hat  ange- 
fangen, ihren  positiven  Gesellschaftszustand  zu  ver- 
lassen und  sich  in  den  Naturstand  zurückzuversetzen, 
für  den  die  Vernunft  die  alleinige  und  absolute  Gesetz- 
geberin ist.  .  .  .  Eine  Angelegenheit,  über  welche  sonst 
nur  das  Recht  des  Stärkeren  und  die  Konvenienz  zu 
entscheiden  hatte,  ist  vor  dem  Rieht  arstuhl  reiner 
Vernunft  anhängig  gemacht.**  Jeder  selbstdenkende 
Mensch  müsse  sich  als  Beisitzer  jenes  Vernunfts- 
gerichts ansehen.  „Es  ist  nicht  nur  seine  eigene  Sache, 
welche  bei  diesem  großen  Rechtshandel  zu  entschei- 

244 


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den  hat,  sondern  es  wird  auch  nach  den  Gesetzen 
gesprochen,  die  er  als  mitbestellter  Repräsentant  der 
Vernunft  zu  diktieren  berechtigt  und  aufrecht  zu 
erhalten  verpflichtet  ist."  So  schrieb  Schiller 
dem  Prinzen  am  13.  Juli  1793.  Bei  der  Veröffent- 
lichung aber  ließ  er  die  letzten  Worte,  die  Verpflich- 
tung, diese  Mitbestimmung  der  Gesetzgebung  auf- 
recht zu  erhalten,  weil  allzu  politisch-aktiv,  ab- 
blassend fort. 

Schiller  erklärt  dann  im  weiteren  Verlauf  dieses 
Briefes:  Wäre  in  d^r  französischen  Revolution  wirklich 
die  politische  Gesetzgebung  der  Vernunft  übertragen 
und  die  wahre  Freiheit  zur  Grundlage  des  Staats- 
gebäudes gemacht  worden,  „so  würde  ich  auf  ewig 
von  den  Musen  Abschied  nehmen  und  dem  herrlich- 
sten aller  Kunstwerke,  der  Monarchie  der  Vernunft, 
alle  meine  Tätigkeit  widmen".  Aber  er  glaubt  nicht 
an  diese  Regeneration  im  Politischen,  die  Ereignisse 
der  Zeit  hätten  ihm  vielmehr  alle  Hoffnung  dazu  auf 
Jahrhunderte  genommen.  „Der  Versuch  des  französi- 
schen Volkes,  sich  in  seine  heiligen  Menschenrechte 
einzusetzen  und  eine  politische  Freiheit  zu  erringen, 
hat  bloß  das  Unvermögen  und  die  Unwürdigkeit  des- 
selben an  den  Tag  gebracht,  und  nicht  nur  dieses 
unglückliche  Volk,  sondern  mit  ihm  auch  einen  be- 
trächtlichen Teil  Europas  und  ein  ganzes  Jahrhundert 
in  Barbarei  und  Knechtschaft  zurückgeschleudert. 
Der  Moment  war  der  günstigste,  aber  er  fand  eine 
verderbte  Generation,  die  ihn  nicht  wert  war  und 
weder  zu  würdigen,  noch  zu  benützen  wußte." 

Die  Welt  ist  zu  verderbt,  um  die  Freiheit  schaffen 
zu  können.  „In  den  niederen  Klassen  sehen  wir  nichts 
als  rohe  gesetzlose  Triebe,  die  sich  nach  aufgehobenem 
Bund  der  Ordnung  entfesseln,  und  mit  unlenksamer 
Wut  ihrer  tierischen  Befriedigung  zueilen."  Noch 
greller  ist  aber  die  Zeichnung  der  herrschenden 
Klassen,  der  „zivilisierten"  Klassen.  Deren  Verderbnis 


245 


ist  schlimmer.  „Der  sinnliche  Mensch  (das  heißt  der 
ungebildete  Mensch  der  ,niederen  Klassen*)  kann 
nicht  tiefer  als  zum  Tier  herabstürzen;  fällt  aber  der 
aufgeklärte,  so  fällt  er  bis  zum  Teuflischen  herab,  und 
treibt  ein  ruchloses  Spiel  mit  dem  Heiligsten  der 
Menschheit."  Diese  Sätze  sind  im  Druck  gemildert, 
der  folgende  ganz  gestrichen  worden:  „Daher  die 
Beschränktheit  im  Denken,  die  Kraftlosigkeit  im  Han- 
deln, die  klägliche  Mittelmäßigkeit  im  Hervorbringen, 
die  unser  Zeitalter  zu  seiner  Schande  charakterisiert." 
Auch  das  Schlußergebnis  dieser  Betrachtung  fehlt  im 
Druck:  „Politische  und  bürgerliche  Freiheit  bleibt 
immer  und  ewig  das  heiligste  aller  Güter,  das  wür- 
digste Ziel  aller  Anstrengungen,  und  das  große  Zen- 
trum aller  Kultur  —  aber  man  wird  diesen  herrlichen 
Bau  nur  auf  dem  festen  Grund  eines  veredelten  Cha- 
rakters aufführen,  man  wird  damit  anfangen  müssen, 
für  die  Verfassung  Bürger  zu  erschaffen,  ehe  man  den 
Bürgern  eine  Verfassung  geben  kann." 

So  leitet  der  Brief  zu  der  Frage  der  ästhetischen 
Erziehung  über.  Aber  Schiller  verweilt  so  leiden- 
schaftlich bei  den  politischen  Zeit  begebe nheiten,  daß 
man  diese  Darlegungen  doch  wohl  für  einen  Versuch 
halten  muß,  zu  tasten,  ob  sich  der  prinzliche  Adressat 
nicht  schließlich  lieber  über  die  Probleme  der  Revo- 
lution unterhalten  möchte.  Aber  der  Prinz  der  men- 
schenrechtlichen Tränen  antwortet  wenig  ermutigend. 
Er  stimmt  mit  merkwürdiger  Eile  Schiller,  von  dessen 
kantischen  Auffassungen  er  sonst  nichts  wissen  will, 
gerade  in  diesem  Punkte  zu:  „Willig  trete  ich  Ihrer 
Mei  nung  bei,  daß  das  Reich  der  politischen  Freiheit 
nocli  zu  frühzeitig  ist.  Es  fehlt  an  Priestern,  dieser 
Gottheit  würdig.  Nur  Freigeborene  können  ihren 
Dienst  versehen,  und  die  Menschen  unseres  Zeit- 
alters sind  nicht  einmal  Freigelassene.  Ich  bin  völlig 
überzeugt,  daß  jeder  Versuch,  ohne  politische  Ketten 
umherzuwandeln,  uns  mißlingen  wird.    Die  edleren 

246 


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Menschen,  die  besseren  Köpfe  müssen  daher,  nach 
wie  vor,  mit  großmütiger  Entsagung  des  selbsteigenen 
Genusses,  sich  begnügen,  Samen  auszustreuen,  vorzu- 
bereiten, einzelne  in  das  lichtvolle  Reich  der  Vernunft 
und  Freiheit  einzuführen,  dessen  Bürger  sie  sind,  und 
dem  keine  Verfolgungen,  kein  Despotismus  sie  ent- 
reißen kann." 

Das  war  nun  freilich  ein  edelmütiger  Verzicht  des 
Prinzen  auf  die  Freiheit  —  der  anderen.  Welche 
Hochherzigkeit  für  einen  Vertreter  der  herrschenden 
Klasse,  blutenden  Herzens  dem  Traum  entsagen  zu 
müssen,  daß  sie  mit  dem  Volke  ihre  Rechte  teilen 
dürfen !  Es  beweist,  wie  stark  noch  der  ewig  deutsche 
Untertanengeist  in  unserer  heutigen  bürgerlichen  Ge- 
lehrtenzunft herrscht,  daß  man  solchen  bequemen, 
für  ihn  selbst  sehr  vorteilhaften  Prinzen- Idealismus 
allgemein  höchlichst  bewundert! 

Schiller  versteht  den  abweisenden  Wink  des  Augusten- 
burgers  sehr  wohl,  und  er  kommt  auf  die  Politik  nicht 
mehr  zurück.  Immerhin  zeigt  der  nächste  Doppel- 
brief noch  revolutionäre  Züge  und  färbt  mit  dem 
Blut  des  Lebens.  Aber  eine  Antwort  des  Prinzen  auf 
diesen  Brief  kennen  wir  nicht;  nach  einem  Schreiben 
des  Prinzen  an  seine  Schwester  zu  schließen,  das  wir 
besitzen,  war  Seine  Hoheit  von  den  Schillerschen 
Spekulationen  nicht  gerade  sehr  entzückt.  Und  die 
weiteren  Briefe  Schillers  verlieren  sich  dann  völlig 
in  lebensferne  Abstraktionen. 

Eben  der  Brief  vom  n.  November  1793,  in  dem 
Schiller  zum  letzten  Male  seine  radikale  Gesinnung 
äußert,  ist  dann  gerade  in  seinen  entscheidenden 
Stellen  bei  der  Veröffentlichung  verstümmelt  worden. 
Schroff  weist  Schiller  die  Vormundschaft  der  Kirche 
ab,  dieser  von  den  Menschen  mit  hungrigem  Glauben 
ergriffenen  Formeln,  „welche  der  Staat  und  das 
Priestertum  für  diesen  Fall  (des  Erwachens  zu  höheren 
Bedürfnissen  des  Kopfes  und  Herzens)  in  Bereitschaft 

247 


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halten,  und  womit  es  ihnen  von  jeher  gelungen  ist,  das 
erwachte  Freiheitsgefühl  ihrer  Mündel  abzufinden". 

Die  Befriedigung  der  sozialen  Notdurft  ist  die  erste 
Vorbedingung  der  Kultur,  dann  die  schrankenlose  Auf- 
klärung des  Geistes: 

„Man  wird  immer  finden,  daß  die  gedrücktesten 
Völker  auch  die  borniertesten  sind;  daher  muß  man 
das  Aufklärungswerk  bei  einer  Nation  mit  Verbesse- 
rung ihres  physischen  Zustandes  beginnen.  Erst  muß 
der  Geist  vom  Joch  der  Notwendigkeit  losgespannt 
werden,  ehe  man  ihn  zur  Vernunftfreiheit  führen 
kann.  Und  auch  nur  in  diesem  Sinn  hat  man  recht, 
die  Sorge  für  das  physische  Wohl  der  Bürger  als  die 
erste  Pflicht  des  Staates  zu  betrachten.  Wäre  das 
physische  Wohl  nicht  die  Bedingung,  unter  welcher 
allein  der  Mensch  zur  Mündigkeit  seines  Geistes  er- 
wachen kann;  um  seiner  selbst  willen  würde  es  bei 
weitem  nicht  so  viel  Aufmerksamkeit  und  Achtung  ver- 
dienen. Der  Mensch  ist  noch  sehr  wenig,  wenn  er 
warm  wohnt  und  sich  satt  gegessen  hat, 
aber  er  muß  warm  wohnen  und  satt  zu  essen 
haben,  wenn  sich  die  bessere  Natur  in  ihm 
regen  soll." 

Verdient  diese  Menschenklasse,  die  ihre  Kräfte  im 
Kampf  mit  der  physischen  Not  verzehrt,  mehr  Mit- 
leid als  Verachtung,  so  gibt  es  für  die  Menschen,  die 
keine  Not  leiden,  keine  Entschuldigung,  wenn  sie  zu  feig 
und  zu  weichlich  sind,  um  der  Vernunft  zu  dienen. 
Die  geistig-moralische  Zersetzung  dieser  herrschenden 
Gesellschaft  zeigt  sich  in  ihrem  Haß  gegen  die  Auf- 
klärung, in  ihrer  Flucht  vor  dem  Tageslicht  deutlicher 
Erkenntnis : 

„Das  Unbestimmte  ist  ihnen  gerade  recht,  weil  sie 
dadurch  überhoben  werden,  sich  nach  den  Dingen 
zu  richten,  und  sich  einbilden  können,  der  Natur  das 
Gesetz  vorzuschreiben.  Sie  fliehen  die  Aufklärung  nicht 
bloß  um  der  Mühe  willen,  womit  sie  erworben  werden 

248 


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muß;  sie  fürchten  sie  ebensosehr  um  der  Resultate 
willen,  zu  denen  sie  führt.  Sie  sind  bange,  die  Lieb- 
lingsideen aufgeben  zu  müssen,  denen  nur  die  Dunkel- 
heit günstig  ist,  und  mit  ihren  Wahnbegriffen  zugleich 
die  Grundsäulen  einstürzen  zu  sehen,  die  das  morsche 
Gebäude  ihrer  Glückseligkeit  tragen.  Wie  viele  Men- 
schen gibt  es,  deren  ganzes  Lebensglück  auf  einem 
Vorurteil  ruhet,  das  bei  dem  ersten  ernsthaften  An- 
griff des  Verstandes  zusammenfallen  muß!  Wie  viele 
gibt  es,  die  ihren  ganzen  Wert  in  der  Ge- 
sellschaft auf  ihren  Reichtum,  auf  ihre 
Ahnen,  auf  körperliche  Vorzüge  gründen!  Wie  viele 
andre,  die  mit  zusammengerafften  Gedächtnis- 
schätzen, mit  einem  unschmackhaften  Witze,  mit 
einer  Scheingröße  des  Talents  prunken,  und  im  Wahn 
einer  Wichtigkeit  glücklich  sind,  die  keine  Probe  auf- 
halten würde." 

All  diese  kraftvollen  Sätze  der  ursprünglichen  Briefe 
fehlen  in  der  Horen-Ausgabe,  die  später  in  die  Samm- 
lung seiner  Werke  überging,  wie  auch  jede  Anspielung 
auf  aktuelle  geschichtliche  Zustände  und  Ereignisse 
ängstlich  vermieden  wurde.  So  fiel  die  Bemerkung: 
„Ich  darf  Eure  Durchlaucht  nicht  erst  an  das  Beispiel 
Frankreichs  erinnern,  das  die  Epoche  seiner  Verfeine- 
rung von  der  Epoche  seiner  völligen  Unterjochung 
datiert,  und  in  der  Person  seines  vierzehnten  Ludwigs 
zugleich  den  Wiederhersteller  des  Geschmacb  verehrt 
und  den  furchtbarsten  Unterdrücker  seiner  Freiheit 
verabscheut." 

Die  vorsichtige  Redaktion  der  Briefe  an  den  Au- 
gustenburger  für  die  „Hören"  geschah  nicht  aus  in- 
neren Gründen.  Wir  wissen,  daß  Schiller  alles  Poli- 
tische aus  seiner  Zeitschrift  nur  ausschied,  um  keine 
Scherereien  mit  der  Zensur  zu  haben.  Darum  die 
Milderungen  und  Striche.  Der  lebendige  Tag  wurde 
verdunkelt,  damit  die  den  Machthabern  ungefährliche 
Ewigkeit  um  so  heller  zu  erstrahlen  vermöchte. 


249 


Gerade  diese,  unter  eisernem  Zwang,  zugestandene 
Entfärbung  der  Weltanschauung  Schillers  wurde  für 
sein  Nachwirken  verhängnisvoll.  Das  Bürgertum  nahm 
nur  noch  die  blaß  schimmernden  Formeln  und  ver- 
schüttete den  starken,  wenn  auch  in  seinem  tiefsten 
Wesen  übersponnenen  Inhalt  ganz  und  gar.  Der 
Fluch  des  deutschen  Elends,  der  auf  Schillers  Dasein 
lastete,  die  seufzenden  Konzessionen  an  die  Bedin- 
gungen seiner  Zeit  —  gerade  dieser  verstümmelte 
Schiller  ward  dem  deutschen  Bürgertum  zum  blut- 
losen Worterzieher.  Der  revolutionäre  Idealismus 
Schillers  wurde  zu  jenem  Festreden-Bombast,  der  die 
Ideale  feiert,  die  zu  verwirklichen  niemand  wagen  darf, 
dieweil  das  sträflicher  —  Materialismus  wära.  Das 
Elend  der  Klassiker  wurde  für  die  Epigonen  zum  klas- 
sischen Elend,  und  erst  die  revolutionäre  Bewegung 
hat  Schiller  aus  dieser  Verschüttung  befreit,  die  einst 
Lassalle  mit  den  unvergänglichen  Worten  malte: 
„So  ist  es  denn  gekommen,  daß  die  Großen  und  Guten 
unserer  Nation,  unsere  Denker  und  Dichter,  wie  Kra- 
niche über  den  Häuptern  dieses  Bürgertums  dahin- 
geflogen sind  und  nichts  von  ihnen  auf  diese  Masse 
gekommen  ist,  als  der  leere  Schall  eines  Namens! 
Der  Bürger  feiert  unserer  Denker  Feste  —  weil  er  nie- 
mals ihre  Werke  gelesen!  Er  würde  sie  verbrennen, 
wenn  er  sie  gelesen  hätte.  Denn  diese  Schriften  sind 
von  der  herbsten  Verachtung  gegen  dieses  Bürgertum 
gefüllt !  Er  schwärmt  für  unsere  Dichter,  weil  er  einige 
Verse  von  ihnen  zitieren  kann  oder  dies  und  jenes 
Stück  von  ihnen  gesehen  und  gelesen,  aber  sich  nie- 
mals in  ihre  Weltanschauung  hineingedacht  hat !" 

[November  1909.] 


250 


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Der  punktierte  Goethe. 
Vom  Privateigentum  an  Kulturwerten. 

In  den  Seminaren  deutscher  Universitäten,  deren 
Professoren  Beziehungen  zum  Weimarer  Goethearchiv 
haben,  pflegt  man  den  aufhorchenden  Studenten  mit- 
unter Proben  von  Goetheschen  Versen  zu  geben,  die 
nur  den  Intimen  des  verschlossenen  Schatzes  zugäng- 
lich sind.  Selbst  die  unendliche  Bändezahl  der  nur 
für  Millionäre  berechneten  Weimarer  Goetheausgabe 
bringt  diese  Äußerungen  Goetheschen  Urwesens  nicht ; 
nur  in  dem  gelehrten  Beiwerk  dieser  Ausgabe  sind 
Proben  und  Andeutungen  —  lediglich  für  die  Kenner 
der  germanistischen  Tabulaturen  auffindbar  —  ver- 
streut, aber  keineswegs  vollständig. 

Diese  willkürliche  Konfiskation  Goethescher  Schöp- 
fungen ist  nicht  der  Sorge  entsprossen,  daß  nur  Wert- 
voiles unters  Volk  kommen  solle.  Ganz  im  Gegenteil. 
Man  hat  jeden  Papierfetzen  veröffentlicht,  auch  wenn 
auf  ihm  der  gleichgültigste,  leerste  Tand  verzeichnet 
war.  Jene  unterdrückten  Werke  aber  gehören  zu  dem 
Gewaltigsten,  was  Goethe  hervorgebracht,  und  gerade 
ihre  die  Grenzen  allen  eingepferchten  Menschentums 
sprengende  Freiheit  hat  die  Vormünder  des  Genius 
und  seiner  Gemeinde  gereizt,  die  Eingebungen  der 
kühnsten  Schrankenlosigkeit  zu  versperren.  Die  in- 
nersten Auffassungen  des  Dichters  vom  christlichen 
Kirchentum  und  vom  menschlichen  Geschlechtswesen 
offenbaren  sich  in  diesen  der  Öffentlichkeit  entzogenen 
Zeugnissen,  und  die  feige  und  niedrige  Angst  vor  der 
unbefangenen  Regung  des  Großen  hat  die  Verstüm- 
melung des  Goethewerks  unternommen. 

*5* 


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Es  gibt  nur  zwei  Möglichkeiten,  Goethe  gerecht  zu 
werden.  Entweder  begnügt  man  sich,  Goethes  Werke 
immer  wieder  so  zu  veröffentlichen,  wie  er  sie  selbst 
in  seiner  Ausgabe  letzter  Hand  unter  die  Leute  gehen 
lassen  wollte;  oder  —  hält  man  sich  einmal  für  be- 
fugt, den  ganzen  Goethe,  wie  ihn  sein  Nachlaß 
gestaltet,  zum  Gemeingut  zu  machen,  dann  haben  wir 
ein  Recht,  wirklich  den  ganzen  Goethe  zu  verlangen, 
in  seiner  ganzen  Unbefangenheit,  und  nicht  einen 
von  Zwergenhand  ausgewählten,  zensurierten  Goethe. 
Nur  der  künstlerische  Wert  darf  für  die  Veröffent- 
lichung entscheidend  sein,  niemals  die  sittliche  Ge- 
sinnung, die  Prüderie  und  Frömmelei  nach  ihren 
Maßen  zurecht  zu  schnitzen  sich  vermißt. 

Diese  freche  Willkürherrschaft  einzelnerzu- 
fälliger Personen  über  die  höchsten  geistigen 
Güter  ist  ein  deutscher  Skandal,  der  endlich 
einmal  die  Gesetzgeber  bewegen  sollte.  Die 
Entziehung  kulturellen  Gemeinbesitzes  durch  angemaß- 
tes Privateigentum  ist  die  unerträglichste  Erscheinung 
der  besitzmonopolistischen  Wirtschalt  überhaupt. 

Es  sind  besonders  drei  Werke,  an  denen  die  Konfiska- 
toren  und  Zensoren  sich  vergangen  haben,  die  Werke, 
in  denen  Goethe  sein  Letztes  auszusprechen  begehrte 
und  in  denen  er  zugleich  beweist,  wie  die  künstlerische 
Form  jeden  Inhalt  adelt,  wie  nichts  Menschliches  der 
Kunst  an  sich  fremd  zu  sein  braucht:  Die  römischen 
Elegien  heidnischer  Sinnlichkeit  sind  immer  noch 
nicht  vollständig  veröffentlicht,  und  wer  da  etwa  das 
Gebet  an  die  Götter,  den  Dichter  vor  der  Syphilis  zu 
schützen,  kennt,  der  ahnt,  welche  Herrlichkeiten 
reinster  Kunst  hier  die  unkeusche  Einfältigkeit  ge- 
raubt hat.  Man  hat  weiter  von  den  Faustfragmen- 
ten vieles  unterschlagen,  Verse  und  Szenen,  in  denen 
Goethe  den  mephistophelischen  Unflat  zu  unerhört 
kühnen  Weltphantasien  in  dämonischer  Bildkraft  ge- 
staltet. Und  endlich  hat  man  in  den  Venetianischen 

252 


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Epigrammen,  den  holdesten  Verwegenheiten  eines 
freien  Geistes,  barbarisch  gehaust. 

Das  Verfahren  der  Goethe-Hüter  läßt  sich  jetzt 
anschaulich  erkennen,  seitdem  kürzlich  der  Leipziger 
Verlag  von  Zeitler  die  Venetianischen  Epi- 
gramme in  einer  besonderen  Ausgabe  herausgegeben 
hat.  Diese  Ausgabe  will  alles  zusammenstellen,  was 
von  den  Venetianischen  Epigrammen  zu  ermitteln  ist. 
Es  sind  54  Stücke  mehr  veröffentlicht,  als  Goethe 
selbst  in  Druck  gegeben  hat.  Aus  den  gelehrten  Noten 
der  Weimarer  Ausgabe,  aus  Inhaltsverzeichnissen  und 
Registern,  selbst  aus  einem  Belegbeispiel  des  Grimm- 
schen Wörterbuchs  der  deutschen  Sprache  sind  Bruch- 
stücke mühsam  zusammengetragen  worden.  Und  doch 
sind  alle  Epigramme  vollständig  im  Goethearchiv  vor- 
handen. Aber,  so  klagt  der  Herausgeber  dieser  Samm- 
lung, „das  deutsche  Volk  ist  nicht  reif,  den  Dichter 
der  Venetianischen  Epigramme  ganz  zu  besitzen". 
Das  ist  wenigstens  die  Meinung  der  leider  maßgeben- 
den Stelle  in  der  Verwaltung  des  Goethe- Archivs  zu 
Weimar,  die  einen  beträchtlichen  Teil  der  hand-  . 
schriftlich  vorhandenen  Venetianischen  Epigramme 
von  dem  Abdruck  in  der  Weimarer  Goethe- Ausgabe 
ausschloß.  Man  erzählt,  daß  diese  „nicht  mitteilbaren" 
Epigramme  von  der  verstorbenen  Großherzogin  von 
Sachsen,  der  ersten  Eigentümerin  des  Archivs,  eigen- 
händig unter  Verschluß  und  Siegel  genommen  und 
seitdem  von  keines  anderen  Menschen  Auge  wieder 
erblickt  seien". 

Ein  paar  Stücke  hat  ein  Zufall  durchschlüpfen  lassen, 
eines  der  „unanständigsten"  (im  Sinne  der  erlauchten 
Dame)  offenbar,  weil  sie  nicht  lateinisch  verstand. 
Sonst  deuten  nur  ein  paar  Anfangsworte  auf  den  ver- 
siegelten Reichtum  hin  und  dann  folgen  —  Punkte. 
Die  geistige  Leistung  der  Weimarer  Goethediener  be- 
steht offenbar  darin,  das  Leben  durch  Zensurpunkte 
zu  ersetzen. 

353 


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Goethe  hat  die  Venetianischen  Epigramme  so  ge- 
liebt, daß  er  das  Büchlein  sich  ins  Heidengrab  ge- 
wünscht hat: 

„So  umgebe  denn  spät  den  Sarkophagen  des  Dichters 
Diese  Rolle,  von  ihm  reichlich  mit  Leben  geschmückt." 

Aber  die  fromme  Zucht  hat  dann  die  Grabschändung 
verübt  und  die  Rolle  zertrümmert.  Und  so  finden  wir 
in  der  Sammlung  unter  Nr.  6  ein  Epigramm,  das  die- 
ses Aussehen  hat: 

In  dem  engsten  der  Gäßchen   .    .  . 


In  dem  engsten  der  Gäßchen  schlüpften  augen- 
scheinlich die  hurtigen  Lazerten,  die  Goethe  mehr 
achtete  als  alle  Herzoginnen  der  Erde. 

Das  von  Goethe  selbst  veröffentliche  n.  Epigramm 
—  Frau  Sophie  hätte  es  sicher  sonst  auch  versiegelt!  — 
gewinnt  erst  Farbe,  wenn  man  die  folgenden  des 
Nachlasses  kennt.  Aus  den  gewöhnlichen  Ausgaben 
kennen  wir  die  Verse: 

Wie  sie  klingeln  die  Pfaffen !  Wie  angelegen  sie's  machen 
Daß  man  komme,  nur  ja  plappre,  wie  gestern  so  heut ! 
Scheltet  mir  nicht  die  Pfaffen;  sie  kennen  der  Menschen 

Bedürfnis! 

Denn  wie  ist  er  beglückt,  plappert  er  morgen  wie  heut ! 

Darauf  folgen  eine  ganze  Anzahl  „nicht  mitteilbarer" 
Epigramme: 

Höllengespenster  seid  ihr  und  keine  Christen,  ihr 

Schreier, 

Die  ihr  den  lieblichen  Schlaf  mir  von  den  Augen  ver- 
scheucht ! 

• 

«54 


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Heraus  mit  dem  Teile  des  Herrn,  heraus  mit  dem  Teile 

des  Gottes 


Als  die  heiligen  Reste  Gründonnerstag  Abends  zu  zeigen, 
In  Sankt  Markus  ein  Schelm  über  der  Bühne  sich  wies. 


„Offen  steht  das  Grab!  Welch  herrlich  Wunder!  Der 

Herr  ist 

Auferstanden !"  Wer  glaubt's  ?  Schelmen,  ihr  trugt  ihn 

ja  weg. 

Töricht  war  es,  ein  Brot  zu  vergotten,  wir  beten  ja  alle 
Um  das  tägliche  Brot:  „geb  es  der  Himmel  uns  heut." 

• 

Warum  macht  der  Pfaffe  so  viele  tausend  Gebärden, 
Und  verscheucht  euch  nicht  wieder  zur  Hölle  zurück  ? 

Furchtbares  laßt  der  Anfang  ahnen: 

Sauber  hast  du  dein  Volk  erlöst   .  .  . 


In  den  Lesarten  der  Weimarer  Ausgabe  war  man  so 
vorsichtig,  nur  die  ersten  fünf  Worte  abzudrucken,  die 
gar  keinen  Fingerzeig  auf  den  Inhalt  geben.  Das  auf- 
klärende sechste  Wort  „erlöst"  wurde  aus  einem  Re- 
gister ermittelt. 

Und  was  mögen  die  Punkte  im  folgenden  Epigramm 
verbergen : 

Krebse  mit  nackten  Hintern  


255 


Christ  und  Mensch  ist  eins,  sagt  Lavater  richtig!  Die 

Christen 

Decken  die  nackende  Scham  weislich  mit  Menschen- 
vernunft. 

Freien  Menschen  gezieme  es  nicht,  Christ  zu  sein, 
heißt  es  in  einem  anderen  Epigramm. 

Von  Pfaffen  und  Dirnen  berichten  die  Venetianischen 
Verse,  von  Goetheschera  Haß  und  Goethescher  Liebe. 
Er  höhnt  die  Pfaffen  und  streichelt  die  Dirnen.  Nicht 
nur  die  Gottlosigkeit,  auch  die  Liebesfreudigkeit  ward 
versiegelt : 

Auszuspannen  befiehlt  der  Vater  die  Schenkel.  .  .  . 

Punkte  entziehen  uns  die  weitere  Ausführung  des 
väterlichen  Rats. 

Die  köstliche  Anmut  des  Zötchens  ist  vor  dem  So- 
phienwahn wie  durch  ein  Wunder  gerettet  worden : 

Köstliche  Ringe  besitz  ich!   Gegrabne  fürtreffliche 

Steine 

Hoher  Gedanken  und  Stils  fasset  ein  lauteres  Gold. 
Teuer  bezahlt  man  die  Ringe,  geschmückt  mit  feurigen 

Steinen 

Blinken  hast  du  sie  oft  über  dem  Spieltisch  geseh'n. 
Aber  ein  Ringelchen  kenn  ich,  das  hat  sich  anders  ge- 
waschen, 

Das  Hans  Carvel  einmal  traurig  im  Alter  besaß. 
Unklug  schob  er  den  kleinsten  der  zehen  Finger  ins 

Ringchen ; 

Nur  der  größte  gehört  würdig,  der  eilfte,  hinein. 

Und  auch  das  folgende  Heidenbekenntnis,  das  aus 
der  griechischen  Anthologie  stammen  könnte,  hat  ein 
gütiges  Schicksal  bewahrt: 

Knaben  liebt*  ich  wohl  auch,  doch  lieber  sind  mir  die 

Mädchen : 

Hab'  ich  als  Mädchen  sie  satt,  dient  sie  als  Knabe 

mir  noch. 

256 


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Aber  was  das  Dirnchen  zum  Dichter  spricht,  darf 
wieder  nur  eine  Großherzogin  wissen: 

Seid  ihr  ein  Fremder,  mein  Herr  .  .  . 

Dann  folgen  13  punktierte  Zeilen.  Die  gute  Gesell- 
schaft hat  sich  an  dem  Dichter  für  das  Epigramm 
gründlich  gerächt: 

„Hast  du  nicht  gute  Gesellschaft  geseh'n?   Es  zeigt 

uns  dein  Büchlein 

Fast  nur  Gaukler  und  Volk,  ja  was  noch  niedriger  ist." 

Gute  Gesellschaft  hab*  ich  geseh'n;  man  nennt  sie  die 

gute, 

Wenn  sie  zum  kleinsten  Gedicht  keine  Gelegenheit  gibt. 

Selbst  aus  politischen  Gründen  hat  man  Goethe 
gemaßregelt,  der  doch  wahrlich  nicht  zu  den  Revolu- 
tionären gehörte: 

Dich  betriegt  der  Regente,  der  Pfaffe,  der  Lehrer  der 

Sitten 

Leider  läßt  sich  kaum  das  rechte  Denken  noch  sagen, 
Und  verletzte  den  Staat,  Götter  und  Sitten  zugleich. 

Im  zwanzigsten  Jahrhundert  noch  empfängt  die 
Menschheit  ihren  Goethe  aus  den  Händen  irgendeiner 
Fürstin  —  nach  deren  Gutdünken.  Die  gesetzlich 
aufgehobene  Zensur  wird  durch  das  Privateigentum 
praktisch  verewigt.  Dieser  heillose  Zustand  verdient 
endlich  einmal  ernste  Aufmerksamkeit.  Es  handelt 
sich  nicht  um  Goethe  allein.  Es  sind  noch  andere 
Geister  für  die  Öffentlichkeit  verriegelt.  Lassalles 
Nachlaß  ist  z.  B.  „erbrechtlich"  von  einer  Junker- 
familie gesperrt,  vielleicht  vernichtet,  vielleicht  an  das 
preußische  Staatsarchiv  ausgeliefert  worden.  Aus 
Fichtes  Nachlaß,  der  sehr  bedeutsam  zu  sein  scheint, 
hat  vor  vielen  Jahrzehnten  sein  Sohn  Proben  gegeben ; 
alles  andere  ruht  unbenutzt  in  der  Königlichen  Biblio- 
thek zu  Berlin  —  zur  Verfügung  höchstens  für  ganz 

17  Ei»n er,  Gesammelte  Schrift«.   II.  257 


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„zuverlässige"  Staatsbeamte.  Heinrich  Heines  Me- 
moiren sind  zum  größten  Teil  von  den  lieben  Anver- 
wandten sekretiert. 

Das  Recht  des  Volkes  auf  seinen  geistigen  Kultur- 
besitz muß  endlich  gesetzlich  gesichert  werden.  Die 
Schöpfungen  der  Phantasie  und  die  Gedankengebilde 
sind  Gemeingut.  Wir  bedürfen  keiner  Hüter  des 
Horts! 

[April  1910.] 

Nachtrag  191 8.  Inzwischen  —  1914  oder  1915  — 
ist  ein  letzter  Ergänzungsband  der  Weimarer  Ausgabe  er- 
schienen, der  die  Punkte  ausfüllt.  Hat  man  sich  schließlich 
dazu  verstanden,  nachdem  der  öffentliche  Protest  das  ganze 
Geschlecht  der  Goethe-Professoren  dem  Gelächter  ausgelie- 
fert, oder  weil  die  fürstliche  Zensorin  tot  ist  —  ich  weiß  es 
nicht.  Aber  der  Band  ist  nicht  einzeln  käuflich  und  auch  ein 
Nachdruck  ohne  Einwilligung  der  „berechtigten"  Heraus- 
geber, nach  einer  merkwürdigen  Bestimmung  des  Urheber- 
rechts, nicht  zulässig.  Der  unpunktierte  Goethe  ist  jetzt 
eine  Gelegenheit  für  Kriegsgewinnler,  die  mit  der  einen 
Weimarer  Ausgabe  ein  ganzes  Bildungszimmer  austapezieren 
können  und  doch  wohl  —  im  Gegensatz  zu  der  fürstlichen 
Schutzgöttin  der  Ausgabe  —  so  viel  Latein  noch  lernen 
werden,  um  de  avibus  die  Not  der  schweren  Zeit  erheitert 
zu  vergessen. 


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Das  Preußentum  Heinrich  Kleists. 
Zum  Gedächtnistage  seines  Untergangs. 

I. 

Am  21.  November  1811  erschoß  Heinrich  v.  Kleist, 
der  ins  Unsterbliche  entgleiste  Sproß  märkischer 
Junker,  am  kleinen  Wannsee  bei  Berlin  die  ältliche 
krebskranke  Frau  eines  preußischen  Beamten.  Er  traf 
sie  sicher.  Dann  lud  er  nochmals  die  Pistole,  steckte 
den  Lauf  tief  in  den  Mund  und  drückte  ab.  Die  Kugel 
drang  ins  Gehirn,  das  eben  noch  Welten  fieberte.  Er 
hatte  die  Frau  mit  in  den  Tod  genommen,  weil  er 
für  die  Wollust  der  freien  Selbstvernichtung  eine  Ge- 
fährtin haben  wollte.  Dort  in  der  November-Einsam- 
keit des  stillen  Sees  errichtete  er  das  letzte  Brautbett 
seiner  Phantasie,  das  schwelgende  Beilager  des  Todes. 
Er  war  34  Jahre  alt  geworden. 

Auf  dem  bebuschten  Hügel,  der  vom  See  ansteigt, 
wurde  Heinrich  Kleist  begraben.  Noch  vor  einem 
Jahrzehnt  war  das  verwilderte  Grab  tiefste  Einsam- 
keit, obzwar  die  Vorortbahn  der  Millionenstadt  ein 
paar  hundert  Schritte  weit  vorüberrollte,  die  begehrte 
Zufluchtsstätte  trauriger,  unsteter  und  begehrlicher 
Herzen.  Heute  sind  die  reichen  Landhäuser  Berlins 
bis  hierher  vorgedrungen  und  umklammern  mit  frem- 
den Armen  das  entseelte  Grab.  Zu  gleicher  Zeit 
führen  die  Bühnen  gerade  das  Werk  Kleistens  auf,  das 
er  selbst  für  unauf führbar  gehalten:  die  Penthesilea, 
die  Tragödie  der  Amazonenkönigin,  die  gemeinsam 
mit  der  Meute  der  wilden  Hunde  zur  Erde  witternd, 
den  geliebten  Achilleus  mit  den  Zähnen  zer reist.  Die 
fletschende  Grausamkeit  Richard  Strauß*  hat  auch 


259 


die  Ohren  künstelnder  Müßiggänger  nach  einem  Jahr- 
hundert der  geißelnden  Musik  jenes  Seelendramas 
hingewöhnt .  .  . 

Es  war  ein  deutscher,  ein  preußischer  Poet,  der  also 
unterging.  Er  hinterließ  Schulden,  wohl  ein  Dutzend 
Werke,  in  denen  die  Unsterblichkeit  von  einigen  Jahr- 
hunderten wirkte,  die  aber  zu  seinen  Lebzeiten  nicht 
einmal  sämtlich  einen  Drucker  und  Verleger  gefunden 
hatten.  Bis  zu  seinem  Tode  hatten  nur  zwei  seiner 
Schöpfungen  insgesamt  fünf  Aufführungen  auf  der 
Bühne  erlebt.  Der  zerbrochene  Krug,  die  saftstrot- 
zende Komödie  der  deutschen  Literatur,  war  einmal 
in  einer  unglücklichen  Dehnung  Goethens  zu  Weimar 
mit  einem  Theaterskandal  gesteinigt,  das  Käthchen 
von  Heilbronn,  das  magische  Holundermärchen,  war 
dreimal  in  Wien,  einmal  in  Bamberg  in  übler  Theatrali- 
sierung  versucht  worden.  Er  selbst  hat  niemals  seine 
Werke  auf  der  Bühne  gesehen,  wie  Franz  Schubert 
niemals  seine  Symphonien  gehört  hat.  Sein  Selbst- 
mord hat  mehr  für  seinen  Namen  geleistet,  als  alle 
seine  Werke  zusammen. 

Wieland,  der  einzige  von  den  Alten,  der  Heinrich 
Kleists  Bedeutung  erkannte  und  anerkannte  —  der 
auch  die  Formel  für  seine  dramatische  Künstlerschaft 
fand:  die  Erfüllung  der  hellenischen  Form  mit  dem 
Atem  Shakespeares  —  Wieland  schrieb  seinem  lieder- 
lichen Sohn,  als  er  sich  vermaß,  die  Schriftstellerei  als 
Nahrungszweig  zu  treiben,  ob  er  wisse,  was  das  in 
Deutschland  sei.  ,,Das  lautet  ungefähr  so,  als  wenn  ein 
hübsches  junges  Mädchen  ohne  Vermögen  sagen  wollte : 
Der  einzige  Nahrungszweig,  der  mir,  wie  jeder  offen 
steht,  ist  die  Hurerei .  .  .  Das  elendeste,  ungewisseste 
und  verächtlichste  Handwerk,  das  ein  Mensch  treiben 
kann  —  der  sicherste  Weg,  im  Hospital  zu  sterben." 

Heinrich  Kleist  hatte  das  Hospital  hinter  sich,  als 
er  am  kleinen  Wannsee  sich  rettete. 

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Von  der  Künstlerschaft  Kleistens  soll  in  diesen 
Zeilen  nicht  gesprochen  werden.  Seine  Dramen  ver- 
brennen die  beruhigte  Klassik  der  Weimaraner;  sie 
bändigen  die  ungeheuerste  Unrast  in  stählerner  Form; 
es  sind  Schicksalstragödien  der  anarchischen  Persön- 
lichkeit ;  Helden,  die  mit  der  Pest  in  den  Adern  die  Welt 
erobern  wollen,  wie  in  dem  ungeheueren  Fragment, 
das  aus  der  Vernichtung  des  „Robert  Guiskard"  ent- 
ronnen. Seine  Erzählungen  sind  in  ihrer  gedrängten 
Anschaulichkeit,  ihrem  strengen  gehärteten  Muskel- 
stil, ihrer  rauhen  Anmut  und  ihrer  erbarmungslos  logi- 
schen Phantastik  unerreichte  Muster  echter  Novellen. 

Auch  das  Leben  des  unseligsten  aller  Poeten,  die 
Tragik  des  unstillbar  blutenden  Daseins  eines  Men- 
schen, der  mit  geöffneten  Adern  zu  leben  versucht, 
soll  nur  insoweit  angedeutet  werden,  als  es  für  unsere 
Absicht  notwendig  ist,  Kleists  Verhältnis  zu  seiner 
Zeit  zu  bestimmen,  besonders  das  Problem  seines 
Preußentums,  seiner  märkischen  Junkerschaft  zu  ent- 
wirren. Als  ein  Vorkämpfer  preußischer  Befreiung  von 
Fremdherrschaft,  in  dem  die  gutsherrliche  Märkerart 
dennoch  pulst,  wird  heute  Kleist  gern  dargestellt. 
Was  war  dieser  Poet  in  seiner  Zeit,  in  seiner  Klasse, 
was  schuldet  er  seiner  Umwelt,  was  die  Umwelt  ihm  ? 

Der  junge  Kleist  übernimmt  die  ruhige,  gute  Erb- 
schaft der  Aufklärung  des  18.  Jahrhunderts.  Der 
scheue,  schamhafte,  vornehme,  grillige  und  seelisch 
fahrende  Gesell  findet  in  dieser  klaren  Luft  Beruhi- 
gung. Er  sehnt  sich  nach  einem  tugendhaften,  zärt- 
lichen, geliebten  Dasein  —  in  freier  Vernunft,  gelöst 
von  dem  Zwang  der  Mode.  Ahasverus  träumt  Robin- 
son-Idyllen. Das  Recht  und  den  Stolz  der  Selbst- 
bestimmung entnimmt  er  aus  den  revolutionären  Ele- 
menten der  Aufklärung,  die  auch  im  Sande  der  Mark 
nicht  völlig  versickern.  Diese  junge  Auffassung  ist 
Arznei  für  den  wild  umgetriebenen  Fremdling  auf 
Erden,  der  von  Geburt  an  eine  schwere  Last  tragt: 

♦ 

261 


Nur  in  Ruhepausen  ist  er  gesund.  Jugend verirrungen 
erfüllen  ihn  früh  mit  entsetzlich  ängstigenden  Wahn- 
vorstellungen, die  durch  gewisse  physische  Anormali- 
täten  gesteigert  werden.  Auf  die  Rauschzustände 
künstlerisch  zeugender  Besessenheit  folgen  Katastro- 
phen der  Erschöpfung.  Es  gibt  in  seinem  kurzen  Leben 
lange  Perioden,  wo  er  im  Dunkel  verschwindet, 
irgendwo  in  gehetzten  Dämmerzuständen  umherirrend, 
in  ein  Krankenlager,  vielleicht  ein  Irrenspital  sich  ver- 
kriechend. Die  finsteren  Dämone  künstlerisch  zu  er- 
lösen, in  Daseinsverzückungen  hingebend  überwindend 
zu  genießen,  mit  der  trotzigen  Energie  vergeistigten 
Willens  zu  bändigen  —  das  ist  der  zerstückte  Inhalt 
seines  Daseins. 

Ein  Knabe  noch,  14 jährig,  wird  er  wie  alle  Söhne 
seines  Standes,  dem  zukünftigen  Gewerbe  verkauft. 
Die  Armee  ist  die  Versorgung  des  preußischen  Junker- 
tums. Der  Knabe  wird  Offizier;  einen  wehrlos  sich 
wehrenden,  wie  über  die  wilde  Welt  verlegen-keck 
verwunderten  Knabenkopf  zeigt  auch  noch  das  einzige 
Bild,  das  wir  von  Kleist  besitzen  — aus  seinem  24.  Jahre. 
Aber  schon  der  knabenhafte  Offizier  bestimmt  sein 
Verhältnis  zum  Preußentum:  er  widersetzt  sich  erst, 
dann  entläuft  er  der  feudalen,  rohen  Gamaschendiszi- 
plin. In  einem  Briefe  bekennt  er:  „Die  größten 
Wunder  militärischer  Disziplin,  die  der  Gegenstand 
des  Erstaunens  aller  Kenner  waren,  wurden  der  Gegen- 
stand meiner  herzlichsten  Verachtung;  die  Offiziere 
hielt  ich  für  so  viele  Exerziermeister,  die  Soldaten  für 
so  viele  Sklaven,  und  wenn  das  ganze  Regiment  seine 
Künste  machte,  schien  es  mir  als  ein  lebendiges  Monu- 
ment der  Tyrannei.  Dazu  kam  noch,  daß  ich  den 
üblen  Eindruck,  den  meine  Lage  auf  meinen  Cha- 
rakter machte,  lebhaft  zu  fühlen  anfing.  Ich  war  oft 
gezwungen  zu  strafen,  wo  ich  gern  verziehen  hätte, 
oder  verzieh,  wo  ich  hätte  strafen  sollen,  und  in  beiden 
Fällen  hielt  ich  mich  selbst  für  strafbar.   In  solchen 

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Augenblicken  mußte  natürlich  der  Wunsch  in  mir 
entstehen,  einen  Stand  zu  verlassen,  in  welchem  ich 
von  zwei  durchaus  entgegengesetzen  Prinzipien  un- 
aufhörlich gemartert  wurde,  immer  zweifelhaft  war, 
ob  ich  als  Mensch  oder  als  Offizier  handeln  mußte; 
denn  die  Pflichten  beider  zu  vereinigen,  halte  ich  bei 
dem  jetzigen  Zustand  der  Armeen  für  unmöglich." 

Kein  Preuße,  kein  Junker,  der  ernste,  anständige, 
vernünftige  Kosmopolit  des  1 8.  Jahrhunderts  schreibt  so. 

Nach  sieben  Jahren  nimmt  Kleist  seinen  Abschied. 
Er  hat  niemals  wieder  —  von  kurzen  Episoden  ab- 
gesehen —  den  Weg  zu  geordnetem  Wesen  gefunden. 
Er  bleibt  gesellschaftlich  schiffbrüchig.  Sein  kleines 
Vermögen  ist  schnell  verzehrt,  nur  selten  hat  er  ein 
bestimmtes  Einkommen;  ohne  seine  Schwester  Ulrike, 
das  verständige,  tüchtige,  männliche  Mädchen,  das 
dem  Bruder  bis  zur  letzten  Stunde  Treue  hält,  seine 
Gefährtin  bleibt  und  ihm  ihre  Habe  opfert,  wäre  er 
sofort  zugrunde  gegangen.  Preußen,  Deutschland,  die 
Welt  hat  kein  Heim  für  den  Genius.  Fast  alle  seine 
Briefe  bitten,  betteln  später  um  Geld. 

Kleist  wühlt  sich  jetzt  in  die  Wissenschaft  ein.  Er 
studiert  in  Frankfurt  an  der  Oder,  vor  der  Sippe  rüstet 
er  sich  für  den  zivilen  Staatsdienst,  er  selbst  ist  von 
Anbeginn  entschlossen,  nur  sich  selbst  zu  leben,  nie 
ein  Amt  anzunehmen,  nie  in  eine  Abhängigkeit  unter- 
zukriechen: der  wahre  Konträrpreuße.  Er  verlobt  sich 
mit  einer  Generalstochter,  einer  nüchternen  Tochter 
aus  guter  Familie,  und  während  er  von  einem  stillen 
Herd  umfriedeter  Liebe  schwärmt,  peinigt  ihn  die 
Angst  vor  der  Ehe  und  das  Gefühl  seiner  allzu  matten 
Neigung.  Statt  Erotik  gewährt  er  seiner  Braut  sehr 
feierliche,  sehr  ernsthafte  moralische  und  geistige  Auf- 
klärung, die  ihm  eine  rechte  Gefährtin  erziehen  soll. 
Eine  geheimnisvolle  Reise  nach  Würzburg  dient  medi- 
zinischen Vorbereitungen  zur  Ehe.  Zwei  Geister  be- 
herrschen ihn  jetzt:  Rousseau  und  Kant.  Rousseau 


263 


macht  ihn  zum  Feind  der  Gesellschaft,  des  Staats,  der 
Kultur.  Das  Ideal  der  Bauerndemokratie  packt  ihn. 
Kants  Sprache  hört  man  in  Kleists  Aussprüchen  gegen 
den  herrschenden  Staat:  „Zu  seinen  unbekannten 
Zwecken  soll  ich  ein  bloßes  Werkzeug  sein  —  ich 
kann  es  nicht.  Ich  verachte  den  ganzen  Bettel  von 
Adel  und  Stand,  zu  dem  es  (ein  Amt)  verhelfen  kann," 
so  schreibt  er.  Er  bedarf  auch  nicht  Friedrich  Wil- 
helms III.  und  seines  Hofes:  „Mir  möchte  es  nicht 
schwer  fallen,  einen  anderen  König  zu  finden,  ihm 
aber,  sich  andere  Untertanen  aufzusuchen."  Oder: 
„Am  Hofe  teilt  man  die  Menschen  ein  wie  ehemals 
die  Chemiker  die  Metalle,  nämlich  in  solche,  die  sich 
dehnen  und  strecken  lassen,  und  in  solche,  die  dies 
nicht  tun." 

Als  er  tiefer  in  Kant  eindringt,  wird  er  von  ihm 
überwältigt.  Alles  wankt  in  ihm.  Mit  seiner  naiv 
dogmatischen,  aufgeklärten  Vernünftigkeit  war  Kleist 
zu  dem  Studium  Kantischer  Erkenntniskritik  gekom- 
men. In  der  Bestimmung  der  Bedingungen  und  der 
Begrenzung  menschlicher  Erkenntnis  sieht  er  nicht 
die  um  so  fester  gegründete  Sicherheit  menschlicher 
Wissenschaft,  sondern,  Kant  mißverstehend,  entgleitet 
er  ins  Bodenlose.  Er  wird  durch  Kant  förmlich  ver- 
nichtet, wie  in  unseren  Tagen  leicht  gefügte  Hirne 
durch  Nietzsche.  In  der  Wirrnis  aller  Gedanken  und 
Gefühle  flieht  er  plötzlich  —  von  der  Schwester  be- 
gleitet —  nach  Paris,  das  er  mit  den  Augen  Rousseaus 
lästert.  Kant  hat  seine  intellektuelle  und  moralische 
Sicherheit  zerstört.  Er  glaubt  weder  mehr  an  geistige 
noch  an  sittliche  Wahrheit,  schon  leugnet  er  in  der 
Pariser  Zeit  jenseits  von  Gut  und  Böse  alle  menschliche 
Verantwortung.  Das  drängende,  gärende  Gefühl  wird 
fatalistisch  sein  Gott.  Der  Künstler  erwacht  in  ihm, 
betäubt  ihn.  Sein  finsterer  Erstling,  das  Trauerspiel 
Familie  Schroffenstein,  entsteht.  Der  Guiskard- Stoff, 
das  Drama  des  pestkranken  Übermenschen,  packt  ihn 

264 


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und  weicht  nicht  mehr  von  ihm.  Das  Rousseau- Idyll 
zärtlicher  Einsamkeit  lockt  ihn.  Auf  einer  kleinen  Insel 
des  Thuner  Sees  strömt  er  seinen  Guiskard  aus.  Nur 
eine  Fischerfamilie  haust  noch  auf  der  Insel,  und  mit 
deren  Tochter,  dem  Mädeli,  phantasiert  er  mehr  als 
erlebt  die  Rückkehr  zur  Natur:  Ein  Werk,  ein  Kind, 
eine  Tat  —  das  ist  die  Dreieinigkeit,  zu  der  er  betet. 
Von  der  Braut  in  Frankfurt  a.  O.  hat  er  sich  schroff 
getrennt,  nachdem  sie  es  abgelehnt,  seine  Inseleinsam- 
keit zu  teilen;  das  brave  Mädchen  heuerte  nachher 
einen  soliden  Professor. 

Im  Juni  1802  verläßt  er  die  Aarinsel  und  bricht  in 
tödlicher  Krankheit  zusammen. 

Dann  beginnt  die  Tragödie  seines  Dichtens. 

II. 

Die  großen  Weltbegebenheiten  am  Anfang  des 
19.  Jahrhunderts  sind  für  Kleist  nur  der  schattenhafte 
Hintergrund  seines  gehetzten  Daseins.  1803  führt  die 
von  Ort  zu  Ort  gehetzte  Verzweiflung  am  Leben  und 
am  Wirken  zur  Katastrophe.  Er  sucht  den  Tod,  will 
sich  der  Expedition  Napoleons  nach  England  anschlie- 
ßen, um  so  im  Erdbeben  der  Geschichte  seinen  eigenen 
Untergang  zu  finden.  Die  Expedition  ward  nicht  aus- 
geführt. Ziellos  irrt  Kleist  durch  Frankreich.  In 
Paris  hatte  er  vorher  alle  seine  Manuskripte  verbrannt, 
auch  den  Guiskard,  das  teure  Werk  von  fünfhundert 
erhobenen  und  erschöpften  Tagen  und  Nächten.  Am 
26.  Oktober  1803  schreibt  er  wie  im  letzten  Todes- 
kampf an  seine  Schwester:  „Ich  habe  in  Paris  mein 
Werk,  soweit  es  fertig  war,  durchlesen,  verworfen  und 
verbrannt:  und  nun  ist  es  aus.  Der  Himmel  versagt 
mir  den  Ruhm,  das  größte  der  Güter  der  Erde;  ich 
werfe  ihm,  wie  ein  eigensinniges  Kind,  all  übriges  hin. 
Ich  kann  mich  deiner  Freundschaft  nicht  würdig 
zeigen,  ich  kann  ohne  diese  Freundschaft  doch  nicht 
leben:  ich  stürze  mich  in  den  Tod.  Sei  ruhig,  du  Er- 


265 


habene,  ich  werde  den  schönen  Tod  der  Schlachten 
sterben."  Unter  Napoleons  Fahnen! 

In  dieser  Zeit  entschwindet  uns  Kleists  Leben.  Ein- 
mal will  er  untertauchen  in  das  Dasein  des  Handarbei- 
ters; er  denkt  daran,  als  Tischlergeselle  sein  Brot  zu 
verdienen.  Als  alles  zusammenbricht,  in  diesem 
Augenblick  höchster  Not,  verfällt  er  darauf,  was  ihm 
vorher  das  Abscheulichste  schien;  er  will  ein  Amt  in 
Preußen,  das  seinen  Mann  nährt.  Der  äußerste  und 
äußerlichste  Zwang  führt  den  gescheiterten  Dichter 
und  zerfallenen  Menschen  ins  Preußentum  zurück. 

Kleist  ist  müde  und  mürbe.  Ganz  demütig,  fast 
unterwürfig  bittet  er  den  preußischen  König  um  Ver- 
zeihung für  seine  Flucht  aus  Preußen  und  um  irgend- 
eine Anstellung.  Und  das  wi  rkliche  Preußentum  tritt 
ihm  alsbald  entgegen.  Er  hat  eine  Unterredung  mit 
dem  stupiden  Generaladjutanten  Friedrich  Wil- 
helms III.,  Köckeritz.  Der  fährt  den  Poeten  an 
(Kleist  berichtet's  seiner  Schwester):  „Sind  Sie  wirk- 
lich jetzt  hergestellt  ?  Ganz,  verstehen  Sie  mich,  her- 
gestellt ?  —  Ich  meine,  ob  Sie  von  allen  Ideen  und 
Schwindeln,  die  vor  kurzem  im  Schwange  waren,  völlig 
hergestellt  sind?"  Im  weiteren  Verlaufe  der  Audienz 
schmettert  ihn  Köckeritz  mit  dem  echt  preußischen 
Geständnis  nieder:  „er  könne  mir  nicht  verhehlen, 
daß  er  sehr  ungünstig  von  mir  denke.  Ich  hätte  das 
Militär  verlassen,  dem  Zivil  den  Rücken  gekehrt,  das 
Ausland  durchstreift,  mich  in  der  Schweiz  ankaufen 
wollen,  Versehe  gemacht  (o  meine  teure  Ulrike!),  die 
Landung  mitmachen  wollen  usw.  usw.  Überdies  sei 
des  Königs  Grundsatz,  Männer,  die  aus  dem  Militär 
ins  Zivil  übergingen,  nicht  besonders  zu  protegieren." 

Immerhin,  Kleist  gehört  zu  einem  einflußreichen 
Junkergeschlecht,  und  er  kriegt  schließlich  eine  Diätar- 
stelle  in  Königsberg.  Ein  geborener  Empörer  sucht 
hier  Ruhe  und  materielle  Existenz,  die  übrigens  recht 
günstig  ist.   In  dieser  beruhigten  Zeit,  die  im  Mai 


266 


1805  beginnt  und  mit  dem  preußischen  Zusammen- 
bruch endigt,  strömt  er  seine  Empörungen  in  sein 
poetisches  Schaffen,  das  fruchtbar  gedeiht.  Alles  dich- 
terische Proteste  gegen  den  preußischen  Zwang  und 
die  starre  Enge,  einmal  humoristisch  gemildert  (im 
Zerbrochenen  Krug).  Der  Einfluß  des  Luisenkreises 
macht  sich  geltend.  Man  erkennt  das  in  Briefstellen 
aus  dem  Jahre  1805,  wo  er  —  wie  alle  näheren  und 
engeren  Mitglieder  des  Königin-Zirkels  —  den  Krieg 
gegen  Napoleon  fordert.  Aber  der  später  so  zügellos 
ausschweifende  Haß  gegen  Napoleon  hat  sich  noch 
nicht  entwickelt.  Nirgends  eine  Spur,  daß  der  ehe- 
malige Offizier  etwa  selbst;  daran  gedacht  hätte,  in  den 
Krieg  zu  ziehen! 

Kleist  hatte  eben  die  erste  Rate  einer  kleinen 
ihm  von  der  Königin  Luise  ausgesetzten  Pension  be- 
zogen, als  die  Katastrophe  von  Jena  auch  ihn  ent- 
wurzelte. Der  königliche  Hof,  der  selbst  in  der  Zeit 
der  schlimmsten  Bedrängnis  sich  keinen  Taler  von  den 
ungeheuren  Kosten  für  den  königlichen  Weinkeller 
und  die  königliche  Kaffeeküche  streichen  ließ,  stellte 
natürlich  die  Zahlungen  für  arme  Poeten  sofort  ein. 

Kleist  stand  wieder  vor  dem  Nichts.  Zu  Beginn  des 
Jahres  1807  gerät  er  in  den  Verdacht,  preußischer 
Spion  zu  sein,  wird  auf  einige  Zeit  in  ein  französisches 
Gefängnis  gesteckt,  bald  aber,  durch  Vermittlung 
seiner  Schwester,  freigelassen.  Darauf  faßt  Kleist 
einen  Entschluß,  der  mit  allem  in  Widerspruch  steht, 
was  er  in  seinen  späteren  Dichtungen  und  sonstigen 
literarischen  Erzeugnissen  ausspricht :  der  wilde  Hasser 
Napoleons  und  des  Rheinbundes  siedelt  nach  Dresden, 
einem  Zentrum  der  Rheinbündelei,  über,  und  gibt  ein 
lediglich  künstlerischen  Interessen  gewidmetes  Jour- 
nal heraus. 

Die  Literarhistoriker,  die  Kleist  als  Vorkämpfer  des 
Preußentums  reklamieren,  fühlen  diesen  Widerspruch, 
wenn  sie  ihn  auch  nicht  hervorheben.  Darum  herrscht 

267 


neuerdings  die  Neigung,  die  Tätigkeit  dieser  Jahre 
als  eine  geheime  Mission  im  Dienste  der  preußischen 
Kriegspartei  darzustellen.  Kleist  wäre  also  nach  Dres- 
den gegangen,  er  hätte  anscheinend  nur  künstlerischen 
Aufgaben  gelebt,  um  sein  wirkliches  politisches  Trei- 
ben im  Dienste  Preußens  zu  verbergen.  Man  meint, 
daß  seine  Verhaftung  wegen  Spionage  doch  nicht  ganz 
ohne  Grund  erfolgt  sei.  Ein  geheimnisvoller  Brief 
Kleistens  an  eine  unbekannte  Adresse,  einige  Andeu- 
tungen in  anderen  Briefen  und  auch  in  seinen  Dich- 
tungen scheinen  allerdings  zu  beweisen,  daß  Kleist 
gelegentlich  einmal  mit  irgendeiner  geheimen  politi- 
schen Vermittelung  betraut  gewesen  sein  mag;  wie  viele 
andere  auch.  Aber  eine  zentrale  politische  Tätigkeit 
läßt  sich  nicht  nur  nicht  erweisen,  sondern  ist  auch 
ganz  und  gar  unwahrscheinlich.  In  Wirklichkeit  be- 
schäftigte sich  Kleist  mit  allerlei  ökonomischen,  recht 
leichtsinnigen  Gründungen,  um  sich  eine  Existenz  zu 
schaffen.  Wenn  er  seine  Schwester  zur  Hergabe  großer 
Summen  für  eine  Verlagsbuchhandlung  zu  gewinnen 
sucht,  indem  er  sie  mit  der  Möglichkeit  lockt,  den  — 
Code  Napoleon  als  Verlagsartikel  zu  gewinnen,  so  ist 
das  zum  mindesten  kein  Ausbruch  preußischen  Fana- 
tismus. 

In  Dresden  geriet  Kleist  unter  den  verhängnisvollen 
Einfluß  eines  der  verächtlichsten  Söldner  der  Reak- 
tion, jenes  Adam  Müller,  der  später  einmal  der  preußi- 
schen Regierung  sich  anbot,  zugleich  ein  scheinbar 
demokratisches  Oppositionsblatt  und  ein  offizielles  Re- 
gierungsorgan herauszugeben.  Die  Spuren  dieses  Ein- 
flusses entstellen  fortab  das  Bild  des  Dichters. 

Will  man  die  Bedeutung  der  patriotischen  Arbeiten 
Kleistens  in  dieser  Zeit  richtig  einschätzen,  so  darf 
zunächst  nicht  übersehen  werden:  Keine  Zeile  dieser 
Literatur  ward  zu  seinen  Lebzeiten  gedruckt,  weder 
seine  nationalen  Dichtungen  (Hermannschlacht,  Prinz 
von  Homburg),  noch  seine  Beiträge  für  das  nie  er- 

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schienene  Journal  Germania.  Der  Napoleonhaß  trat 
also  niemals  nach  außen.  Dann  aber  erschöpft  sich 
Kleists,  seit  dem  Aufstand  1809,  wahnsinnig  gesteigerte 
Feindschaft  gegen  Napoleon  eben  nur  in  einem  to- 
benden, besinnngslosen,  persönlichen  Haß  gegen  Na- 
poleon, der  um  so  abstoßender  wirkt,  als  Kleist  gleich- 
zeitig einem  Friedrich  Wilhelm  III.  in  byzantinischer 
Unwahrhaftigkeit  überschwänglich  huldigt.  Daß  Kleist 
die  geschichtliche  Bedeutung  Napoleons  nicht  begriff, 
gereicht  dem  gänzlich  unpolitischen  Kopf  nicht  zum 
schlimmsten  Vorwurf ;  daß  aber  sein  Patriotismus  nichts 
will  als  die  brutale  bestialische  Vernichtung  des  Höllen- 
sohnes, daß  kein  Zug  von  innerer  Befreiung  seine  Seele 
berührt,  das  stellt  ihn  tief  unter  einen  Fichte,  den 
Kleist  in  dieser  Periode  seines  Daseins,  wie  alle  Re- 
former, mit  stumpfem  Witz  verhöhnt.  Der  Haß  wird 
zur  Besessenheit  eines  Irren,  wenn  Kleist  zum  Kampf 
gegen  die  Fremden  mit  den  alle  Menschlichkeit  schän- 
denden Versen  aufreizt: 

Alle  Triften,  alle  Stätten 
Färbt  mit  ihren  Knochen  weiß; 
Welchen  Rab*  und  Fuchs  verschmähten, 
Gebet  ihn  den  Fischen  preis; 
Dämmt  den  Rhein  mit  ihren  Leichen; 
Laßt  gestäuft  (gestaut)  von  ihrem  Bein, 
Schäumend  um  die  Pfalz  ihn  weichen, 
Und  ihn  dann  die  Grenze  sein! 

So  ist  auch  die  Hermannschlacht  nicht  sowohl  ein 
deutsch-nationales,  am  allerwenigsten  ein  preußisch- 
patriotisches Drama,  als  die  schäumende  Tragödie  des 
Hasses,  der  die  Berserkerwut  bis  zur  völligen  Aufhe- 
bung aller  menschlichen  und  völkerrechtlichen  Sitten 
und  Hemmungen  treibt.  Es  ist  das  Kleistsche  Problem 
der  zügellosen  Selbstdurchsetzung  gegen  jeglichen 
Zwang,  das  auch  diesem  Werke  zugrunde  liegt.  Im 
Kampf  gegen  die  Fremden  ist  schlechthin  alles  er- 


269 


laubt  und  geboten,  sofern  es  nur  zur  Ausrottung 
taugen  mag.  Thusnelda,  das  holde  Thuschen  Hermann 
des  Cheruskers,  lockt  den  nach  ihrer  Umarmung 
brünstigen  Römer,  der  ihr  das  Leben  gerettet,  nächt- 
lich in  den  Bärenzwinger.  Hermann  selbst  läßt  Ger- 
manen als  Römer  verkleiden  und  sie  alle  Ruchlosig- 
keiten verüben,  nur  um  die  Germanen  aufzupeitschen 
—  eine  Verherrlichung  des  Lockspitzels,  die  man  denn 
allenfalls  als  preußisch  ansprechen  mag! 

Unpreußisch,  antipreußisch  ist  auch  das  letzte  Werk 
Kleistens,  stofflich  sein  einziges  Preußendrama:  Der 
Prinz  von  Homburg,  der  nachtwandelnde  Held,  wird 
zum  Tode  verurteilt,  weil  er  durch  einen  Disziplin- 
bruch die  Schlacht  gewann.  Dieser  Held,  der  zwischen 
der  Qual  und  der  Wollust  des  Todes  träumerisch  wan- 
delt, ist  der  Protest  gegen  alles  Preußentum,  das  vor- 
ahnende Bekenntnis  des  Dichters,  daß  er  daran  zu- 
grunde gehen  würde. 

An  Preußen  ist  Kleist  dann  zerbrochen.  Nach  dem 
Sieg  Napoleons  von  1809  kehrt  Kleist  nach  Berlin 
zurück.  Er  gründet  eine  Tageszeitung,  die  Abend- 
blätter, die  Adam  Müller  benutzt,  um  im  Dienste  der 
steuerscheuen  Junkerfronde  selbst  die  kleinen  feigen 
Reformen  Hardenbergs  zu  bekämpfen.  Kleist  hat 
jetzt  allen  Halt  verloren.  Es  ist  die  Zeit  seiner  tiefsten 
und  schrecklichsten  Erniedrigung.  Er  gerät  in  end- 
losen Konflikt  mit  der  Zensur  und  der  Regierung. 
Um  sich  die  Gunst  Hardenbergs  zu  gewinnen,  denun- 
ziert er  ihm  den  eigenen  Freund  Adam  Müller  als 
Verfasser  frondierender  Artikel.  Er  will  sich  der  Re- 
gierung verkaufen.  Würdelos  bestürmt  er  sie,  die 
angeblichen  Versprechungen  finanzieller  Unterstüt- 
zung einzulösen.  Man  treibt  den  lästigen  Bittsteller 
von  der  Schwelle.  Am  11.  September  181 1  erhält  er 
zwar  —  infolge  Fürsprache  seiner  Gönner  —  eine 
Kabinettsorder,  die  ihm  Hoffnung  auf  Wiederanstel- 
lung in  der  Armee  macht.  Als  er  aber  daraufhin  einen 

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Vorschuß  von  20  Louisdor  erbittet,  bleibt  das  Gesuch 
liegen. 

Da  rettet  Kleist  seine  Seele  und  er  kehrt  von  dieser 
preußischen  Erde  in  die  philosophische  Erhebung  seiner 
jungen  Jahre  zurück:  In  fast  heiterer  Gelassenheit  geht 
er  ins  Nichts,  das  er  schon  im  Prinzen  von  Homburg 
wundersam  tief  raunen  hörte.  An  den  Rand  jenes 
letzten  Bettelbriefes  aber  schrieb  der  Staatskanzler 
am  22.  November  eigenhändig  den  Vermerk:  „Zu 
den  Akten,  da  der  p.  p.  Kleist  nicht  mehr 
lebt." 

Das  war  das  Preußentum! 
[November  191 1.] 


271 


Karl  Marx*  Kunstauffassung. 

Vor  etlicher  Zeit  erregte  die  kuriose  Äußerung  eines 
vorübergehenden  Mitarbeiters  des  Vorwärts  eine  kleine 
parteipolitische  Kunstdebatte.  Jener  interessante  Kopf 
hatte  die  Meinung  ausgesprochen,  daß  ein  Proletarier- 
roman von  rechtem  Humor  eben  doch  nur  von 
einem  rechten  Proletarier  erzeugt  werden  könnte. 
Diese  Prägung  der  „materialistischen"  Kunstformel 
war  verdienstvoll.  Denn  sie  widersprach  so  offen- 
sichtlich allen  Kunsttatsachen,  daß  allgemein  sofort 
die  Empfindung  erweckt  wurde:  So  könne  unmöglich 
die  Anwendung  der  Marxschen  Geschichtslehre  auf 
die  Kunst  aussehen.  Der  Erfinder  des  Programms: 
Klassenkunst  durch  Klassengenossen,  vermochte  an- 
zuregen, aber  nicht  zu  entwirren.  Er  hat  sonst  kein 
Unheil  angerichtet,  eher  zur  Klärung  beigetragen. 

Weiter  verbreitet,  beliebter,  unauffälliger,  platter 
und  deshalb  gefährlich  ist  eine  andre  Art  von  Kunst- 
betrachtung, die  im  Namen  des  Geschichtsmaterialis- 
mus auftritt  und  der  wir  nicht  ganz  selten  begegnen. 
Diese  ästhetische  Artikelpraxis  beruht  auf  der  Schluß- 
folgerung: Die  Bourgeoisie  ist  eine  niedergehende 
Gesellschaftsklasse.  Folglich  muß  auch  die  Kunst  der 
Bourgeoisie  Niedergangskunst  sein.  Mit  solcher  philo- 
sophischen Suppenwürze  läßt  sich  dann  sehr  bequem 
ohne  größeren  geistigen  und  wissenschaftlichen  Auf- 
wand jede  fade  Notizensammlung  aus  dem  kleinen 
(bürgerlichen !)  Meyer  entnehmen  und  in  eine  gediegene 
Kost  gesinnungstüchtiger  Erkenntnis  verwandeln. 
Treibt  man  die  Methode  durch  die  Weltgeschichte 
der  Kunst  hindurch,  so  wird  man  nach  und  nach 
lauter  Verfallskunst  aneinanderreihen  dürfen.  Aller- 


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dings  gibt  es  einige  Schwierigkeiten.  Warum  ist  zum 
Beispiel  in  der  großen  französischen  Revolution  der 
reaktionäre  Andre"  Chenier  ein  unsterblicher  Dichter 
und  sein  jakobinischer  Bruder  Marie- Joseph  ein  völlig 
leerer  Phrasenschmied  ? 

In  Wahrheit  sieht  diese  ganze  Betrachtungsweise 
das  besondere  ästhetische  Problem  überhaupt  gar  nicht, 
weit  entfernt,  es  zu  lösen.  Damit  soll  nicht  gesagt 
sein,  daß  es  ein  unnützes  Unternehmen  wäre,  auch  die 
Zusammenhänge  zwischen  Kunst  und  Gesellschaft  zu 
untersuchen.  Das  soll  geschehen,  besonders  ist  auch 
die  Erforschung  der  jeweiligen  wirtschaftlichen  und 
rechtlichen  Zustände  notwendig,  unter  denen  die 
Künstler  produzieren  müssen;  ebenso  bedingt  die 
geistige  und  soziale  Verfassung  des  den  künstlerischen 
Konsum  fristenden  Publikums  Abhängigkeiten  des 
Künstlers,  die  leicht  für  die  Kunst  selbst  richtungs- 
weisend werden. 

Die  Untersuchung  über  die  Klassenherkunft  der 
Künstler  führt  zu  interessanten  Ergebnissen,  wenn 
auch  schwerlich  zu  einer  einheitlichen  Gesetzmäßig- 
keit. Die  Literaturgeschichte  zeigt,  daß  der  frucht- 
barste Nährboden  künstlerischen  Dranges  die  Existenz- 
erschütterung  ist,  die  Angehörige  einer  „höheren" 
Schicht  hinabstößt.  So  ist  zum  Beispiel  auch  der 
echteste  und  stärkste  deutsche  Proletarierdichter  unsrer 
Zeit,  Alfons  Petzold,  der  Wiener,  zwar  ein  Arbeiter 
des  niedersten  Daseins,  ein  Handlanger  und  Tage- 
löhner gewesen,  er  stammt  aber  aus  einer  behaglich 
lebenden  Privatbeamtenfamilie,  die  die  Kinderjahre 
des  Dichters  sorglos  gestaltete,  bis  ihn  der  frühe  Tod 
des  Vaters  ins  soziale  Nichts  schleuderte.  Umgekehrt 
sehen  wir,  wie  ein  wirklicher  Abkömmling  tiefster 
Proletarierschichten,  Friedrich  Hebbel,  reiner  Kunst- 
aristokrat, trotz  allem  Philisterhaß  bürgerlich  ist. 

Endlich  ist  auch  die  Frage  einer  „Parteikunst"  ein 
ernsthaftes  Problem,  deren  Möglichkeit,  ja  deren  grund- 


18   Etsner,  Gesammelte  Schriften.  II. 


273 


sätzliche  Forderung  ich  seit  jeher  verteidigt  habe. 
So  schrieb  ich  etwa  nach  den  Kunstdebatten  auf  dem 
Gothaer  Parteitag  1896:  „In  Wahrheit  ist  es  Aber- 
glaube, daß  Parteikunst  das  Ende  der  Kunst  sei.  Die- 
ser Aberglaube,  allezeit  gehätschelt  von  den  Müßig- 
gängern der  Kultur,  der  entwicklungsflüchtigen  Ro- 
mantiker, den  Armen  im  Geiste  und  den  Schwachen 
am  Fleisch,  ist  das  stärkste  Hemmnis  der  Entwicklung 
echter  Volkskunst.  Gewiß,  eine  königlich  sächsische 
konservative  Hofratsparteikunst  ist  ein  Unding.  Auch 
die  Programme  von  PJötz,  Liebermann,  Paasche  und 
Eugen  Richter  lassen  sich  .  . .  poetisch  nicht  ausmün- 
zen. Wo  aber  eine  große  Kulturbewegung  sich  in 
einer  Partei  kristallisiert,  und  die  moderne  Form  jeder 
Kulturbewegung  ist  die  Partei,  da  muß  auch  die  Kunst 
Parteikunst  sein.  Hier  ist  die  Partei  nicht  ein  ablös- 
bares Etikett,  sondern  die  Essenz  jedes  fortschreitenden 
Geistes.  Der  Dichter,  der  in  der  Kulturbewegung 
steht,  kann  nichts  andres  sein  als  Parteimann,  er  ist  als 
solcher  nicht  schon  Künstler,  aber  ist  noch  weniger 
ein  Künstler  universalen  Stils,  wenn  das  Parteiblut 
nicht  in  ihm  pulsiert!"  Solche  Auffassung  ist  gut 
marxistisch,  das  bestätigt  Karl  Marx  selbst,  der  in 
einem  an  Freiligrath  gerichteten  Briefe  den  gleichen 
Gedanken  ausspricht.  Als  sich  Freiligrath  1860  wäh- 
rend der  Karl-Vogt-Händel  gegen  die  Behauptung 
seiner  kommunistischen  Parteizugehörigkeit  sträubte, 
erinnerte  Marx  den  Dichter,  wie  in  dem  vor  einem 
Jahre  von  Franz  Mehring  veröffentlichten  Briefwechsel 
zu  lesen  ist,  zuerst  ärgerlich  daran,  daß  er  wenigstens 
zweihundert  Briefe  von  Freiligrath  besitze,  „worin  hin- 
längliches Material,  um  nötigenfalls  dein  Verhältnis 
zu  mir  und  zur  Partei  zu  konstatieren".  Freiligrath 
antwortete,  er  sei  dem  Banner  der  Arbeiterklasse  stets 
treu  geblieben.  Aber  sein  Verhältnis  sei  lose  und  bald 
gelöst  gewesen:  „Meiner  und  der  Natur  jedes  Poeten 
tut  die  Freiheit  not!  Auch  die  Partei  ist  ein  Käfig, 

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und  es  singt  sich,  selbst  für  die  Partei,  besser  draus 
als  drin.  Ich  bin  Dichter  des  Proletariats  und  der 
Revolution  gewesen,  lange  bevor  ich  Mitglied  des 
Bundes  und  Mitglied  der  Redaktion  der  Neuen  Rhei- 
nischen Zeitung  war!"  Marx  antwortete  nun  ver- 
söhnlich, und  mit  einem  Wort  das  Mißverständnis 
beseitigend.  Er  habe  unter  Partei  nicht  einen  seit 
acht  Jahren  verstorbenen  Bund  oder  eine  seit  zwölf 
Jahren  aufgelöste  Zeitungsredaktion  verstanden. 

„Unter  Partei  verstand  ich  die  Partei  im 
großen  historischen  Sinn."  In  diesem  Sinne  muß 
allerdings  auch  „Parteikunst"  sein. 

Indessen  weder  durch  den  Nachweis  sozialer  Ab- 
hängigkeiten und  Zusammenhänge  noch  durch  die 
Rechtfertigung  und  Forderung  einer  Parteikunst  ist 
die  Kunst  und  der  Künstler  erklärt;  Kunst  und 
Künstler  sind  damit  so  wenig  begriffen,  daß  sie  nicht 
einmal  gesehen  sind.  Es  ist  immer  nützlich,  sobald 
es  sich  um  Streitfragen  geschichtsmaterialistischer  An- 
wendungen handelt,  zum  Schöpfer  selbst  zu  gehen. 

Karl  Marx  hat  seine  Geschichtstheorie  in  seinen 
Werken  und  seinem  Wirken  angewandt,  aber  er  hat 
die  Methode  selbst  niemals  systematisch  dargestellt. 
Zwar  hat  er,  als  er  die  Kritik  der  politischen  Ökono- 
mie begann,  ursprünglich  beabsichtigt,  ihr  eine  syste- 
matische Darstellung  seiner  Geschichtslehre  voraus- 
zuschicken. Aber  die  Arbeit  blieb  als  Fragment  und 
Skizze  liegen;  denn  es  widerstrebte  ihm  eine  Ge- 
schichtsauffassung, die  ja  erst  sich  aus  der  Summe 
der  weltgeschichtlichen  Erfahrungen  ergeben  sollte, 
der  geschichtlichen  Darstellung  selbst  vorauszuneh- 
men, das  hätte  den  Verdacht  erwecken  müssen,  daß 
seine  Geschichtsauffassung  zwar  die  Ideologie  Hegels 
umgestülpt  habe,  aber  nichtsdestoweniger  Ideologie 
geblieben  sei.  So  sollte  das  System  seiner  Geschichts- 
auffassung der  Epilog  seines  Werkes  werden,  die  letzte 
Zusammenfassung  seines  ganzen  Schaffens.   Es  kam 

xs*  275 


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nicht  dazu,  die  Umstände  seines  Daseins  und  der 
allzufrühe  Tod  hinderten  die  Vollendung.  So  wird 
von  Marx  seine  Geschichtsmethode  immer  nur  in  zer- 
streuten Bemerkungen  gestreift,  niemals  wissenschaft- 
lich erschöpft.  Um  den  beiläufigen  und  knappen  Be- 
merkungen gleichwohl  anschaulich  überzeugende  Kraft 
zu  geben,  wählt  er  gern  sinnlich  kräftige  Bilder  und 
Vergleiche,  die  seinen  Gedanken  erhellen.  Damit  aber 
entstanden  auch  seine  schillernden  Unklarheiten  und 
jene  Mißverständnisse,  die  die  zumeist  armseligen 
Einwürfe  der  Gegner  und  die  oft  unglücklichen  An- 
wendungsversuche der  Freunde  hervorriefen. 

Gerade  über  die. Anwendung  seiner  Geschichtsauf- 
fassung auf  die  Kunst  hat  sich  glücklicherweise  Marx 
mit  so  zwingender  Klarheit  und  so  durchsichtiger 
Einfachheit  ausgesprochen,  daß  man  hier  wenigstens 
vor  allen  mißbräuchlichen  Auslegungen  und  Ausfüh- 
rungen sicher  sein  sollte.  Marx  war  viel  zu  sehr 
selbst  Künstler  und  zugleich  philosophisch  zu  tief 
durchgebildet,  als  daß  er  jemals  jener  Methode  der 
Kunstauffassung  hätte  verfallen  können,  die  nicht 
selten  heute  in  seinem  Namen  versucht  wird.  Wenn 
der  junge  Student  Marx  seiner  „teuren  ewig  geliebten 
Jenny  v.  Westphalen"  ein  ganzes  „Buch  der  Liebe" 
widmet,  so  sind  die  jungen  Verse  freilich  weniger 
lyrische  Kunstwerke  als  beträchtliche  Zeugnisse  einer 
starken  leidenschaftlichen  und  unbeirrbaren  Gesin- 
nung. Aber  Marx  blieb  der  Vertraute  der  großen 
Künstler  aller  Zeiten  und  Völker,  wie  er  den  bedeu- 
tendsten Dichtern  seiner  Epoche  ein  verständnisvoller 
Freund  war.  Seine  Kunstfähigkeit  und  seine  reiche 
Kunsterfahrung  hinderte  ihn  vor  allen  theoretischen 
Verkümmerungen  der  ästhetischen  Welt. 

Karl  Marx  teilt  das  Schicksal  mit  allen  großen 
Denkern,  daß  ihre  mißverständlichen,  allzu  leicht  ge- 
fügten Formeln  die  größte  Wirkung  gehabt  haben, 
daß  sie  aber  unbekannt  und  unwirksam  bleiben,  wo 

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die  Quellen  ihrer  Erkenntnis  am  reinsten  und  tiefsten 
fließen.  Der  Geschichtsmaterialismus  von  Karl  Marx 
entfaltet  sich  in  seiner  Bedeutung  am  klarsten  in 
jener  fragmentarischen  „Einleitung"  zur  Kritik  der 
politischen  Ökonomie  aus  dem  Jahre  1857,  die  man 
ebensowenig  zitiert,  wie  man  das  „Vorwort"  zu  der- 
selben Schrift  bis  zum  Überdruß  häufig  anführt,  um 
die  Geschichtslehre  von  Karl  Marx  zu  kennzeichnen. 
In  jener  Einleitung  aber  äußert  sich  Marx  völlig  un- 
zweideutig über  das  eigentümliche  Problem  der  Kunst. 
Von  der  Kunst  sei  es  bekannt,  daß  bestimmte  Blüte- 
zeiten keineswegs  im  Verhältnis  zur  allgemeinen  Ent- 
wicklung der  Gesellschaft,  also  auch  der  materiellen 
Grundlage,  gleichsam  des  Knochenbaues  ihrer  Or- 
ganisation, stehen.  Marx  skizziert  dann  gewisse  Be- 
ziehungen zwischen  der  Kunst  und  der  materiellen 
Grundlage  der  Gesellschaft.  In  der  griechischen 
Kunst  hätten  Eisenbahnen,  Lokomotiven,  elektrische 
Telegraphen  nicht  bestehen  können.  Wo  bliebe  Ju- 
piter gegen  den  Blitzableiter,  Hermes  gegen  den  Credit 
mobilier  und  was  werde  aus  der  Fama  neben  der 
Druckerei  der  „Times".  „Die  griechische  Kunst  setzt 
die  griechische  Mythologie  voraus,  d.  h.  die  Natur 
und  die  gesellschaftliche  Form  selbst  schon  in  einer 
unbewußt  künstlerischen  Weise  verarbeitet  durch  die 
Volksphantasie.  Dies  ist  ihr  Material."  Marx  wirft 
die  Frage  auf,  ob  Achilles  möglich  sei  mit  Pulver  und 
Blei,  die  Iliade  überhaupt  mit  der  Druckerpresse  und 
der  Druckmaschine,  ob  das  Singen  und  Sagen  und 
damit  die  notwendigen  Bedingungen  der  epischen 
Poesie  nicht  verschwinden  müßten  mit  dem  Preß- 
bengel. „Aber  die  Schwierigkeit",  fügt  Marx 
hinzu,  „liegt  nicht  darin,  zu  verstehen,  daß 
griechische  Kunst  und  Epos  an  gewisse  ge- 
sellschaftliche Entwicklungsformen  geknüpft 
sind.  Die  Schwierigkeit  ist,  daß  sie  für  uns 
noch  Kunstgenuß  gewähren  und  in  gewisser 

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Beziehung  als  Norm  und  unerreichbare  Mu- 
ster gelten." 

Damit  ist  in  einem  klassischen  Satz  das  Eigenrecht 
der  ästhetischen  Probleme  und  die  in  sich  ruhende 
Selbständigkeit  der  Kunst  erkannt  und  gegen  alle 
platten  Anfechtungen  gesichert. 

[März  191 3.] 

« 


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Arno  Holz:  Ignorabimus. 

Ein  Weckruf. 

Seitdem  die  Mode  aufgekommen  ist,  auch  die 
50.  Geburtstage  von  Zeitgenossen  zu  feiern,  ist  die 
Mechanisierung  des  geistigen  Betriebes  wieder  ein  gut 
Stück  vorwärts  gekommen.  Zur  bestimmten  Stunde 
denken  wir  an  irgendwas.  Es  kommt  gar  nicht  darauf 
an,  was  und  wie  über  irgendwen  gedacht  wird,  wenn 
nur  pünktlich  irgendwas  über  irgendwen  im  Blatte 
steht;  Pünktlichkeit  ist  der  Tiefsinn  dieser  Termin- 
geistigkeit.  Ist  der  Tag  vorüber,  sind  wir  erlöst.  Wir 
brauchen  dann  gottlob  —  bis  zum  nächsten  Termin  — 
an  gar  niemanden  und  an  gar  nichts  mehr  zu  denken. 

Es  ist  ja  nun  sicher  besser,  überhaupt  einmal  an  be- 
deutende Erscheinungen  erinnert  zu  werden,  als  ihrer 
niemals  zu  gedenken.  Aber  die  Fünfzig-Geburtstag- 
Feier  scheint  mir  gerade  nicht  zweckmäßig,  die  Leben- 
den zu  fördern.  Bücher  kaufen  und  lesen,  sobald  sie 
erscheinen,  Dramen  aufführen,  wenn  sie  geschaffen 
sind,  und  dreifach  gepanzertes  Schweigen  über  alle 
Marktware,  namentlich  dann,  wenn  sie  im  Lärm  des 
Theatergeschäfts  erscheint  —  das  heißt,  das  Leben- 
dige fördern.  Wir  sollten  das  Wertvolle  würdigen, 
wenn  es  kommt  und  nicht  erst  auf  runde  Zahlen 
warten. 

Bisweilen  hindert  die  Jubiliererei  der  runden  Zahl 
das  Werk  des  Gefeierten.  Das  hat  Arno  Holz,  dem 
das  Leben  unter  allen  Umständen  übel  mitspielt,  er- 
fahren müssen.  Man  feierte  seinen  Fünfzigsten.  Dann 
war  er  erledigt.  Nun  wollte  es  ein  tückischer  Zufall, 
daß  gerade  am  Geburtstage  sein  letztes  Drama  noch 
nicht  herausgekommen  war;  man  wußte  wohl  von 

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ihm,  aber  man  kannte  es  noch  nicht.  Dann  kam  das 
Buch,  und  da  der  fällige  Tag  einmal  vorbei  war, 
kümmerte  sich  niemand  darum:  kein  Kritiker,  kein 
Theaterdirektor,  nicht  einmal  ein  Bibliophile;  denn 
unsere  Verleger,  die  jedem  alten  Tand  ein  köstliches 
Kleid  anmessen,  haben  für  Arno  Holz  kein  Interesse, 
und  er  muß  sich  mit  einem  ziemlich  elenden  Buch- 
gewächs begnügen.  Hier  und  da  wurde  freilich  das 
Drama  angezeigt,  aber  das  war  fast  noch  schlimmer 
als  nichts;  denn  es  ließ  jedes  Verständnis  dafür  ver- 
missen, daß  hier  die  deutsche  Literatur  endlich 
wieder  zur  Weltkunst  wird,  ebenbürtig  den 
großen  Erscheinungen  des  Auslands. 

Zunächst  ist  alles  getan,  um  den  Zugang  zu  diesem 
Werk  zu  erschweren*).  Verdrießlich  hört  man  auf 
der  blutroten  Buchbinde  den  Reklameschrei:  „Seit 
Dostojewskis  Raskolnikow  das  erschütternd  wuchtigste 
Werk  der  Weltliteratur.  Nur  in  seiner  Kunst  noch  so 
hoch  über  ihm,  als  die  komplizierte  Form  der  Tra- 
gödie über  den  primitiveren  des  Romans  steht".  Man 
beginnt  dennoch  zu  lesen.  Man  stolpert  über  jede 
Zeile  zweimal  —  und  es  gibt  14528  Zeilen  in  den 
fünf  Akten  des  Dramas  —  dank  dem  unerhörten 
Eigensinn  dieser  phonographischen  Technik,  die  der 
Dichter  mit  dem  ehrenwerten  und  rücksichtslosen 
Stolz  des  Erfinders  und  dem  redlichen  Bewußtsein 
intensivster  Arbeit  festhält.  Es  erregt  Mißbehagen 
und  Verdacht,  daß  das  Problem  der  Wissenschaft  gerade 
auf  dem  Gebiet  spiritistisch-mediumistischer  Erschei- 
nungen, dem  Tummelplatz  aller  Gaukelei  —  die 
Geister  vermögen  gemeinhin  unendlich  weniger  als 
der  ganz  gewöhnliche  wunderlose  Menschenverstand 
—  gespensterhaft  sich  erlebt.  Man  lächelt  über  das 
Kauderwelsch  der  zahllosen  Regiebemerkungen,  die 

*)  Arno  Holz,  Berlin.  Die  Wende  einer  Zeit  in  Dramen. 
Ignorabimus.  Tragödie.  Verlegt  bei  Carl  Reissner,  Dres- 
den, 1913. 

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fast  jedem  Worte  folgen,  kein  Geräusch  vergessen, 
und  dem  Schauspieler  jede  innere  und  äußere  Bewe- 
gung so  peinlich  genau  vorschreiben,  wie  der  Taylor- 
Ingenieur  den  Kohlenschaufler  abrichtet.  Man  er- 
trinkt in  der  überquellenden  Beredsamkeit,  die  sich 
so  sonderbar  drollig  verheddert.  Dennoch  —  bald 
weichen  die  Widerstände,  und  wir  erleben  dichterisch- 
dramatische Offenbarungen,  an  deren  Eigenart  und 
Kraft  nichts  heranreicht,  was  das  deutsche  Drama 
der  Gegenwart  hervorgebracht  hat.  Arno  Holz* 
Ignorabimus  ist  die  geistig  reichste  und 
dramatisch  glühendste  Dichtung  der  deut- 
schen Literatur  unserer  Zeit.  Es  ist  die  ein- 
zige Tragödie  der  Wissenschaft,  die  bisher 
geschaffen  ist. 

In  der  grimmigen  Vorrede,  in  der  Arno  Holz  sich 
mit  seiner  verkennenden  Mitwelt  und  auch  mit  seinen 
erfolgreicheren  Schülern  hart  auseinandersetzt,  stellt 
er  die  alleinige  Vaterschaft  jener  Technik  seiner  Vorort- 
kunst fest,  die  er  1890  entdeckt  hat:  „Jede  Wort- 
kunst, von  trübster  Urzeit  bis  auf  unsere  Tage,  war, 
als  auf  ihrem  letzten,  tiefstunterstem  Formprinzip, 
auf  Metrik  gegründet.  Diese  Metrik  zerbrach  ich  und 
setzte  dafür  ihr  genau  diametrales  Gegenteil.  Näm- 
lich Rhythmik.  Das  heißt:  permanente,  sich  immer 
wieder  aus  den  Dingen  neu  gebärende,  komplizier- 
teste Notwendigkeit,  statt,  wie  bisher,  primitiver,  mit 
den  Dingen  nie,  oder  nur  höchstens  ab  und  zu,  nach- 
träglich und  wie  durch  Zufall,  koinzidierender  Will- 
kür!" Er  höhnt  über  die  Schüler,  die  unter  dem  — 
von  Holz  einsichtig  abgelehnten  Schlagwort  „Kon- 
sequenter Naturalismus"  —  ihm  seinen  Stil  nachzu- 
ahmen versuchten.  Von  Gerhart  Hauptmanns  Mi- 
chael Kramer  sagt  er  (mit  der  begründeten  Bos- 
heit des  Größeren,  Eigenwüchsigen,  Erfolglosen  gegen 
den  weltbeliebten  schwächlichen  Epigonen!):  „Diese 
stupide,  verblödende  Monotonie,  gegen  die  das  be- 


281 


kannte  liebliche  Duo  der  beiden  Knaben  mit  dem 
Klappenhorn  noch  wie  himmlische  Sphärenmusik 
klingt,  zog  sich  durch  das  ganze  „Drama !"  Im  ersten 
Akt  ungefähr  fünfhundert  Sätze  und  rund  dreihundert- 
mal derselbe,  gehirnerweichende  Tonfall!  In  den 
übrigen  Akten  genau  so.  Und  in  allen  sich  sogar 
noch  unbehilflichst  verstolpernd  bis  in  die  dazwischen 
gefügten  Regiebemerkungen!  .  .  .  Ein  derartig  plum- 
pes Geholpere  —  ganz  Deutschland  schien  an  ver- 
stopften Ohren  zu  leiden,  und  in  den  darauffolgenden 
Stücken  Hauptmanns  wurde  diese  klägliche  Ohnmacht 
schließlich  noch  schlimmer  —  gab  sich  für  „modernen 
Dialog"  aus!  Und  mit  aufreckendem  Hohn  fügt  er 
hinzu,  daß  er  wenigstens  nicht  zu  befürchten  brauche, 
auch  die  Höhe,  auf  der  sein  „Ignorabimus"  — 
Problem  „Erkenntnis"  —  geschrieben  sei,  werde  so- 
bald von  einem  auf  Krücken  Nachkletternden  wieder 
versudelt  werden. 

Arno  Holz  will  das  Leben  unmittelbar  in  seiner 
ganzen  Fülle  gestalten,  indem  er  den  sprachlichen 
Rhythmus  seiner  Menschen  belauscht  und  ihn  aus 
sich  selbst  bewegen  läßt.  Die  Personen  seines  Dramas 
werden,  indem  sie  reden.  Sie  dichten  sich  selbst.  Sie 
improvisieren  sich,  indem  sie  aus  den  tiefen  Quellen 
ihrer  bestimmten  Naturbedingungen  strömen.  Jede 
Person  redet  die  ihm  nur  allein  eigene  Sprache  in 
ihrer  stofflichen  Wortwahl  sowohl  wie  in  dem  Rhyth- 
mus ihres  Gefüges  und  entfaltet  so  ihre  innere  Lebens- 
melodie. Diese  Technik,  die  der  grobe  Verstand  für 
(nicht  entschieden  genug  abzulehnenden,  weil  dem 
Wesen  aller  Kunst  entfremdenden)  Stil  naturalisti- 
scher Nachahmung  hält,  ist  in  Wahrheit  musikalisch. 
In  der  Tat  wirkt  der  Dialog  in  seinen  höchsten  und 
glücklichsten  Steigerungen  wie  alte  polyphone  Musik, 
in  der  die  nebeneinander  sich  entfaltenden  Melodien 
der  verschiedenen  Stimmen  selbständig  ihren  Weg 
gehen  und  doch  zugleich  Einheit  werden. 

282 


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Indessen,  dieser  reich  verästelte,  unendlich  fein 
organisierte  Stil,  so  wenig  er  seinem  Willen  und 
Wesen  nach  naturalistisch  ist,  bedient  sich,  in  dem 
Bestreben,  das  Leben  in  all  seinen  Regungen  einzu- 
fangen,  ja  mehr  noch,  dieses  Leben,  wie  unabhängig 
vom  Dichter,  frei  sich  entfalten  zu  lassen,  naturalisti- 
scher Mittel.  Das  wird  dem  Dichter  zum  Verhängnis 
und  allen  trägen,  unfähigen  und  geschäftsfeigen  Büh- 
nenleitern zum  Vorwand,  diesem  Drama  das  Theater 
zu  versperren.  Das  seinem  Wesen  nach  intensiv  ge- 
drängte, in  zerrissener  Leidenschaft  stürmisch  be- 
wegte Drama  scheint  durch  die  Irrungen  dieses  Stils 
extensiv,  breit  auseinanderfließend,  episch,  zuständ- 
lich  schildernd,  also  antidramatisch.  Arno  Holz  in- 
strumentiert z.  B.  die  im  Zimmer  sich  abspielende 
Handlung  durch  all  die  tausend  Geräusche  und  Töne, 
die  von  der  Tiergartenstraße  hereindringen.  Ein  paar 
hundert  Mal  wohl  werden  Hupensignale  verzeichnet, 
immer  anders,  getreu  der  wirklichen  Mannigfaltigkeit 
dieser  industriellen  Lärmerzeugnisse.  Jeder  Vogel- 
schrei, Vogelpfiff,  Vogeltriller  wird  mit  der  zärtlichen 
Andacht  subtiler  Beschreibung  vermerkt.  Auch  kein 
Radfahrgeklingel  wird  vergessen.  Ich  habe  keine 
sichere  Vorstellung,  wie  das  Werk  auf  der  Bühne 
wirkt  (gerade  deshalb  möchte  ich  es  auf  der  Bühne 
erleben),  aber  das  weiß  ich,  daß  schon  nach  dem  fünf- 
ten Huppensignal  das  Publikum  lacht  und  nach  dem 
dritten  Vogelpfiff  selbst  mitpfeift.  Aber  diese  „In- 
strumentierung" läßt  sich  leicht,  wenn  nicht  ganz 
beseitigen,  so  doch  einschränken.  Schwierig  und  fast 
unlösbar  scheinen  die  sprachlichen  Schwierigkeiten 
für  den  Schauspieler.  Hier  gibt  es  wahre  Schling- 
gewächse von  Sätzen,  Sturzbäche  zerrissener,  scharti- 
ger Wortungeheuer,  wissenschaftlicher  Fachausdrücke 
prestissimo  zu  bewältigen.  Aber  das  gerade  müßte 
den  genialen  Schauspieler  reizen.  Es  wäre  eine  wür- 
dige Aufgabe,  Unerhörtes  zu  meistern. 

283 


Die  Einwände  gegen  den  Stil  sind  ebenso  gewichtig 
wie  die  Bedenken  gegen  den  Stoff  haltlos.  Gewiß 
führt  die  Wissenschaft  heute  vor  tiefere  Abgründe 
des  Denkens  als  die  spiritistischen,  hypnotischen,  ok- 
kultistischen Erscheinungen  darbieten.  Aber  es  ist 
schwer  auszudenken,  wie  etwa  ein  Dichter  die  Rela- 
tivitätstheorie, die  den  festesten  Boden  der  Gewißheit 
unterwühlt,  dramatisch  zu  verkörpern  vermöchte. 
Arno  Holz  hätte  kein  Drama,  sondern  eine  dialogische 
Doktordissertation  geschrieben,  wenn  er  über  letzte 
Erkenntnisprobleme  seine  Personen  verhandeln  ließe. 
Die  Wissenschaft  ist  die  Triebkraft  dieses  Dramas, 
das  Erkenntnisringen  ist  Lebensinhalt  und  tragische 
Bewegung  dieser  Menschen.  Das  Zusammenfließen 
von  ideellen  Vorstellungen  und  seelisch-körperlichen 
Betätigungen,  die  Anpassung  des  Gedanklichen  in 
Handlungen  von  Personen,  denen  die  Probleme  der 
Forschung  zum  treibenden  und  bestimmenden  Ver- 
hängnis werden,  vollzieht  sich  gerade  in  der  Sphäre 
dieser  geheimnisvollen  nächtigen  Phänomene  am  in- 
nigsten. Die  Menschen  werden  „Medium"  ihrer  Ge- 
danken, die  sich  in  beherrschende  Naturgewalten  ver- 
wandeln. Darum  gestaltete  der  Dichter  den  Gegen- 
satz von  mechanistischer  und  transzendender  Welt- 
anschauung in  den  Dämmergefilden  des  Spiritismus. 
Er  schrieb  kein  Drama  gegen  und  für  den  Spiritismus, 
er  wollte  auch  nicht  die  Tragik  des  zerstörenden  Ab- 
irrens  vom  Normalen  „zeigen".  Er  schuf  die  Schick- 
salstragödie der  Wissenschaft  schlechthin  in  der 
Schicksalstragödie  einer  Familie  von  Ge- 
lehrten, Forschern,  Grüblern.  Alle  großen 
Dramen  seit  den  griechischen  Tragöden  sind  Schick- 
salsdramcn,  und  die  sind  es  gerade  nicht,  die  sich 
Schicksalsdramen  nennen,  in  Wahrheit  aber  Zufalls- 
dramen irgendeines  blöden  Ungefähr  sind.  Das  Ver- 
hängnis der  Geschlechter,  die  soziale  und  politische 
Gebundenheit,  der  unentrinnbare  Zwang  des  Cha- 

284 


fakters  —  kurz  das  Schicksal  erhebt  bunte  Begeben- 
heiten erst  zu  jener  Notwendigkeit,  die  der  Inbegriff 
des  Dramas  ist.  In  „Ignorabimus"  ist  die  Wissen- 
schaft das  Schicksal,  das  Ringen  um  die  Erkenntnis 
die  Tragik. 

Der  Titel  klingt  an  das  berühmte  Wort  Dubois- 
Reymonds,  des  großen  Physiologen.  Das  Haupt  der 
Familie,  deren  Zusammenbruch  sich  an  einem  März- 
tage vollzieht  —  das  Drama  Holzens  wetteifert  in 
der  strengen  klassischen  Einheit  der  Zeit  mit  ödipus 
und  den  Gespenstern  —  heißt  denn  auch  „Prof. 
Dufroy-Regnier,  Wirklicher  Geheimer  Oberregierungs- 
rat, Exzellenz,  Rektor  der  Friedrich-Wilhelms-Uni- 
versität". Zwischen  ihm,  seiner  Tochter  Marianne, 
seinem  Stiefbruder  Ludwig,  seinem  Schüler  und 
Schwiegersohn  Prof.  Dorninger  und  einem  abenteuer- 
lichen Baron  Üxküll  (dem  „Eindringling"  des  Dra- 
mas) spielt  sich  die  düstere  Handlung  ab,  die  durch 
das  Fratzenhafte  in  den  komischen  Gewohnheiten 
der  Personen  nur  noch  finsterer,  verzweifelter  wird. 
Vor  drei  Jahren  hat  sich  in  einer  Märznacht  Mariette, 
die  Gattin  Dorningers,  die  Schwester  Mariannes  — 
ihr  körperlich  zum  Verwechseln  ähnlich,  seelisch  welt- 
fern verschieden  —  mit  ihren  beiden  Kindern  durch 
Leuchtgas  getötet.  Es  war  ein  unglückliches  Paar. 
Dorninger  fühlt  sich  von  Anfang  an  der  Schwester 
wahlverwandt.  Mariette  war  in  allem  maßlos,  leiden- 
schaftlich, ungehemmt,  furchtbar  in  ihrem  Begehren 
wie  in  ihrem  eifersüchtigen  Haß.  Die  Ursachen  und 
Umstände  der  Schreckenstat  sind  dem  Gatten  un- 
bekannt. Das  entsetzliche  Erlebnis  aber  wirft  ihn  aus 
der  ruhigen  Bahn  wissenschaftlicher  Gelehrsamkeit 
und  nüchtern  entsagender,  sich  begrenzender  For- 
schung, die  sein  Schwiegervater  in  seiner  natur- 
wissenschaftlich-mechanischen Weltanschauung  ein 
ehrenüberhäuftes  Leben  lang  charakterfest  und  selbst- 
bewußt gepflegt  hat.    In  der  Erschütterung  dieses 

28S 


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sinnlosen  Todes  seiner  Frau  und  Kinder  erwacht  in 
ihm  die  uralte  Sehnsucht  der  Menschen,  jenseits  des 
Todes  das  Leben  der  unzerstörbaren  Seele  zu  suchen. 
So  verfällt  er  dem  Spiritismus.  Er  will  den  Geist  der 
Toten  beschwören,  um  das  Geheimnis  ihres  Unter- 
gangs zu  erfragen;  eher  kann  er  nicht  die  Ruhe  seines 
verstörten  Gemüts  wiedergewinnen.  Dorninger  findet 
in  Marianne  eine  verständnisvolle  Gefährtin  seiner 
Forschungen.  Sie  ist  —  beide  Schwestern  sind  aus 
ungünstigen  Umständen  ihrer  Abstammung  psychisch 
belastet  —  zugleich  ein  außerordentlich  sensibles  Me- 
dium. Die  Ergebnisse  dieser  spiritistischen  Sitzungen 
wühlen  die  bisherigen  Anschauungen  des  Gelehrten 
bis  zum  Grunde  auf.  Er  gerät  in  heftigen  Konflikt 
mit  der  wissenschaftlichen  Selbstsicherheit  seines 
Schwiegervaters.  Die  immer  wilder  andrängende 
Liebe  zu  Marianne  vollendet  seine  Verstörung.  Er 
will  aus  allem  heraus,  alle  Brücken  abbrechen,  Haus 
und  Amt  verlassen.  Nur  noch  eine  letzte  Sitzung 
will  er  halten.  In  ihr  will  er  das  Geheimnis  der  Toten 
abzwingen.  Mit  einem  von  Ibsens  Kunst  erlernten 
Spannung  dramatischer  Entschleierung  enthüllt  sich 
allmählich  das  Dunkel  jener  Todesnacht.  Im  dritten 
Akt  ist  die  Sitzung.  Sie  führt  zur  Aufklärung  und  zur 
Katastrophe.  Mariannes  zartes  Nervensystem  ist  durch 
die  mediumistischen  Versuche  überwältigt.  Sie  er- 
lischt unter  der  Zwangsvorstellung  einer  Vision,  in 
der  ihr  die  verstorbene.  Schwester  den  Tod  verkün- 
dete. Vergebens  leugnet  der  Geliebte  in  letzter 
Stunde  alle  Ergebnisse  seiner  spiritistischen  Ver- 
suche, er  vermag  Marianne  nicht  mehr  aus  dem  Bann 
zu  befreien.  Sie  suggeriert  sich  aus  dem  Leben,  sie 
stirbt  an  der  Überzeugung,  daß  sie  zum  Tode  be- 
stimmt sei.  Ignorabimus,  wir  werden  niemals  wissen. 

Ich  kenne  kein  Drama,  in  dem  die  Rätsel  dieser  Men- 
schenwelt mit  schweren  Geisterhänden  so  wesenhaft, 
so  rationalistisch  erwiesen  und  doch  so  dämonisch 


286 


auflösend  an  die  leicht  beweglichen  Pforten  gewohnten 
Denkens  und  Fühlens -klopfen.  Und  es  rinnt  zugleich 
heißestes  Theaterblut  durch  dieses  Drama  der  Er- 
kenntnis. Die  spiritistische  Sitzung,  das  magische, 
flackernde  unendlich  zarte  Liebesgespräch  vor  dem 
Tode  und  viele  andere  Szenen  und  Bilder  würden 
auch  äußerliche  Bühnenwirkung  nicht  versagen. 

In  einer  Zeit,  da  die  blendende  Theaterei  eines 
Max  Reinhardt  von  den  höheren  Aufgaben  der  dra- 
matischen Kunst  täuschend  ablenkt  und  in  dekora- 
tivem Regieplunder  und  oberflächlicher  Beweglichkeit 
die  Bühne  dem  Wort  des  Dichters  und  der  Kraft  des 
Schauspielers  entfremdet  wird,  könnte  ein  Theater- 
leiter einmal  zeigen,  wie  wirkliche  Schwierigkeiten 
einer  Bühnendichtung  künstlerisch  gemeistert  werden 
können.  Wenn  auch  jeder  dieser  fünf  Akte  fast  schon 
allein  einen  gewöhnlichen  Bühnenabend  ausfüllt  und 
keiner  durch  Kürzungen  verstümmelt  werden  darf, 
lockt  nicht  gerade  die  Größe  des  Wagnis?  Hat  man 
nur  für  die  mythischen  Perückenhelden  der  Götter- 
dämmerung fünf  Stunden  Geduld  und  vermag  man 
nicht  dem  gedankenvollen  Schicksalsringen  von  Men- 
schen unserer  Zeit,  der  grüblerischen  Seelenmu&ik 
eires  Dichters  unserer  Qualen  und  unserer  Sehnsüchte 
sich  hinzugeben? 

[1913.] 


287 


Jonathan  Swift. 

Jonathan  Swift  starb  am  19.  Oktober  1745,  im 
Alter  von  78  Jahren,  es  scheint :  an  progressiver  Para- 
lyse. Es  ergab  sich,  daß  er  sein  in  einem  Leben  wohl- 
tätiger Sparsamkeit,  zuletzt  wahnwitzigen  Geizes  er- 
sparte Vermögen  von  200000  Mark  zum  Bau  einer 
Anstalt  für  Idioten  und  Mondsüchtige  gestiftet  hatte. 
Das  war  ernst  gemeint.  Er  selbst  fühlte,  wie  die  Zer- 
setzung seines  Geistes  über  ihn  hereinbrach.  Früh- 
zeitig kränkelnd,  schwerhörig,  verlor  er  das  Gedächtnis 
und  war  die  letzten  5  Jahre,  die  in  völligem  Stumpf- 
sinn dahinkrochen,  nur  noch  ein  verwesender  Fleisch- 
klumpen. Er  wollte  ein  Asyl  für  seinesgleichen  schaffen ; 
es  gab  in  Irland  kein  Hospital  dieser  Art. 

Aber  die  testamentarische  Verfügung  war  doch  auch 
ein  grimmiges  Urteil  über  den  Erfolg  seiner  geistigen 
Arbeit.  Wenn  Literatur  zu  wirken  vermöchte,  wenn 
sie  Hirne  umbildete  und  den  Rhythmus  des  Herz- 
schlags bestimmte,  so  hätte  es  nach  den  Werken  dieses 
klarsten  Logikers  und  rauhesten  Moralisten,  der  Ver- 
nunft und  Willen  zugleich  in  den  unermeßlichen  Ge- 
bilden einer  kosmischen  Phantasie  künstlerisch  zu  ge- 
stalten vermochte,  weder  mehr  Menschen  geben  kön- 
nen, die  unterhalb  des  geistigen  Lebens  hausen,  noch 
solche,  die  in  nächtiger  Verstiegenheit  vor  ferner 
eisiger  Unfruchtbarkeit  Andacht  treiben :  weder  Idioten 
noch  Mondsüchtige.  Dann  wären  Swifts  Werke  tot, 
aber  sein  Werk  lebte.  So  aber  sind  seine  Schöpfungen 
lebendig  geblieben,  weil  sie  sich  nicht  ausgewirkt 
haben,  und  wir  lesen  in  ihnen  noch  heute  nach  zwei 
Jahrhunderten  unsere  Ängste  und  Qualen,  unsern 
Zorn  und  Haß,  unsere  Hoffnung  und  Sehnsucht. 


288 


Den  witzigsten  Mann,  der  jemals  gelebt,  fand  Grill- 
parzer  in  der  Vorrede  zu  Swifts  Tonnenmärchen. 
Auch  unter  die  Humoristen  mag  er  zählen,  sofern 
man  unter  Humor  nicht  die  Schlaf rockart  des  be- 
schaulichen, gemütvollen  Lächelns  unter  Tränen  ver- 
steht. Thackeray,  sein  blasser  Nachfahr,  sagt  von 
ihm:  „Im  Humor,  in  der  Ironie  und  in  dem  Talent 
herunterzumachen  und  zu  beschmutzen,  was  er  haßte, 
wissen  wir  uns  mit  der  ganzen  Welt  eines,  wenn  wir 
sagen,  daß  der  Dechant  von  Saint  Patrick  keinen 
Rivalen  hat." 

Als  den  „einzigen  ironischen  Großmeister  unter 
Alten  und  Neueren"  feiert  ihn  Jean  Paul.  Übel  be- 
handeln ihn  die  deutschen  Unternehmer  von  Literatur- 
geschichten. Bei  irgendeinem  las  ich,  er  sei  Dichter 
„im  wahren  Sinn  des  Wortes"  nicht  gewesen  —  weil 
ihn  nämlich  das  Schicksal  seines  Volkes  und  der  Mensch- 
heit mehr  packte  als  der  Jammer  eines  verliebten 
Idioten,  und  die  irische  Wirtschafts-  und  Finanz- 
politik ihm  ein  würdigerer  Stoff  der  Dichtung  schien 
als  die  Mondnacht  eines  träumerischen  Jünglings  — , 
auch  sei  er  eine  zerstörende  Natur  gewesen.  Hettner 
schreibt : 

„Jonathan  Swift  war  wesentlich  Pamphletist,  frei- 
lich einer  der  größten  und  gewaltigsten,  die  jemals 
gelebt  haben.  Alle  Eigenschaften,  die  zu  dieser  Art 
der  Schrifts teilerei  gehören,  standen  ihm  im  reichsten 
Maß  zu  Gebot:  Klarheit  des  Geistes,  Kälte  des  Her- 
zens, Rachsucht,  gewissenlose  Verleumdung,  ein  im- 
mer schlagfertiger  Witz,  eine  genaue  Kenntnis  alles 
Gemeinen  und  Verwerflichen  in  der  Menschennatur 
und  eine  wahrhaft  bewundernswürdige  Beherrschung 
der  Sprache,  besonders  in  ihren  mehr  niedrigen  und 
provinziellen  Ausdrücken.  Die  Dinge  erscheinen  nie- 
mals wie  sie  sind,  sondern  immer  nur  wie  sie  sich  in 
dem  verzerrten  Hohlspiegel  eines  genialen,  mit  Gott 
und  der  Welt  zerfallenen  Sonderlings  darstellen." 

19   Eisner,  (immnwlte  Schriften.    II.  289 


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Ich  hätte  das  Bedürfnis  anzunehmen,  daß  diese  arm- 
seligen Plattheiten  erst  in  die  spätere  Auflage  von  dem 
Herausgeber  Hettners  hineingepfuscht  sind.  Indessen, 
auch  Hettner,  wie  alle  anderen  deutschen  Literatur- 
professoren, erklären  ja  alle  Wandlungen  Swifts  aus 
Rachsucht,  Enttäuschung,  Ehrgeiz;  die  Tragödie  seines 
Lebens  ist  nach  ihnen,  daß  er  es  nicht  zum  Bischof 
brachte.  Von  dem  hohen  Lied  der  Menschhcitserlo- 
sung,  dem  Weltbrand  und  der  Götterdämmerung  des 
letzten  Teiles  des  Gulliver  urteilt  Hettner  gar: 

„Empörende,  herzlose  Verbitterung,  der  Grund- 
mangel von  Swifts  gesamtem  Wesen,  tritt  offen  zu- 
tage. Wer  gut  scherzen  will,  der  muß  ein  warmes 
Gemüt  haben,  er  muß  zeigen,  daß  er  denjenigen,  den 
er  verspottet,  dennoch  von  Grund  der  Seele  liebt. 
Dies  warme  Gemüt  aber  fehlt  Swift.  Sein  Lächeln  ist 
nicht,  wie  bei  allen  großen  Humoristen,  das  milde  und 
darum  wohltuende  Lächeln  durch  Tränen,  sondern 
nur  das  unheimliche  Gelächter  schadenfroher  Mcn- 
schenverachtung." 

Daß  aber  Swift  auch  nicht  das  warme  Gemüt  besaß, 
liebevoll  unter  Tränen  über  Krieg  und  Pest,  Hunger 
und  Unterdrückung,  Roheit  und  Niedertracht,  Wahn- 
sinn und  Syphilis  zu  lächeln!  Und  daß  er  so  gar  keinen 
Begriff  von  der  Erhabenheit  des  Unterschieds  zwischen 
Tories  und  Whigs,  zwischen  Papisten,  Lutheranern 
und  Calvinisten  hatte,  sondern  über  diese  Überzeu- 
gungen schadenfroh  lachte,  während  er  kalten  Ge- 
müts den  höchst  peinlichen  Gorgonenschild  wider  alle 
Bedränger  der  gemarterten  Kreatur  schwang!  Swifts 
kühnste  Dichung,  das  erhabene  Utopien  seines  Pferde- 
staates, wird  daher  von  Hettner  schlechthin  ab- 
gelehnt : 

„Einzig  in  der  Schilderung  der  Houyhnhnms  ist  die 
innere  Wahrscheinlichkeit  verletzt.  Dies  ist  wieder 
ein  wichtiger  Beweis  für  die  alte  bewährte  Lehre,  daß 
was  unsittlich  und  unvernünftig,  auch  immer  un- 


290 


künstlerisch  ist.  Schon  Boileau  sagt:  ,Nur  in  der 
Wahrheit  ist  Schönheit4." 

Herr  Wülcker,  der  Hofrat  der  Anglizistik,  durfte 
1907  drucken  lassen: 

„Da  ihm  jedoch  seine  Freunde  den  ersehnten 
Bischofssitz  nicht  verschaffen  konnten,  ging  er  1710  .  .  . 
zu  den  Tories  über  .  .  .  All  seine  Lieblosigkeit,  sein 
Menschenhaß,  seine  Verbitterung  treten  hier  (Gul- 
liver) deutlich  hervor:  des  Humors  bar,  ist  er  nur  ein 
herzloser  Satiriker." 

Von  der  Rasse  packt  den  Charakter  der  neueste  Ur- 
heber einer  Weltgeschichte  der  Literatur,  Otto  Hauser: 

„Jonathan  Swift  war  Irländer  von  Geburt  .  .  .  Doch 
ist  schon  hier  zu  bemerken,  daß  diese  Irländer  nur 
selten  Iren  oder  doch  nachweislich  mit  Iren  ver- 
mischte Engländer  sind,  vielmehr  gewöhnlich  aus  rein 
englischen  Familien  stammen  (wie  auch  Swift),  und 
daß  sich  hier  nur  wieder  die  durch  neuerliche  Auslese 
bedingte  Tüchtigkeit  der  Kolonien  zeigt." 

In  der  Tat,  allein  mit  der  Rassenbiologie  läßt  sich 
noch  eine  Weltliteraturgeschichte  verfassen;  denn  nur 
diese  Methode  ersetzt  das  tausend  Menschenleben 
erfordernde  Studium  der  einzupökelnden  Werke  durch 
die  schnell  zu  erledigende  Erkundigung  nach  dem 
Geburtsort  des  Schriftstellers,  seines  Vaters  und  seiner 
Großtante.  Nichts  ist  sicherer,  als  daß  sich  Gullivers 
Reisen  aus  dem  Umstand  erklären,  daß  Swift  in  Du- 
blin geboren  wurde,  aber  aus  England  stammte.  Leider 
scheint  die  koloniale  Auslese  doch  nicht  recht  gelungen 
zu  sein;  denn  auch  Hauser  urteilt: 

„Ein  glänzender  Geist,  dem  es  nicht  vergönnt  war, 
nach  seiner  ganzen  Anlage  zu  wirken,  der  sich  in  Un- 
rast in  sich  selbst  verzehrte." 

Äußerst  zutreffend  scheint  ihm  der  Gulliver  „durch- 
tränkt von  Bitterkeit". 

All  das  Gerede  hat  Swift  selbst  schon  vorweggenom- 
men.   In  seinen  Versen  auf  den  Tod  des  Dr.  Swift 


201 


(veranlaßt  durch  die  Maxime  des  La  Rochefoucault 
„Im  Unglück  unserer  besten  Freunde  finden  wir  im- 
mer etwas,  das  uns  nicht  mißfällt")  läßt  er  seine 
Gönner  nach  seinem  Tode  reden.  Die  Liberalen 
schelten  auf  den  verfluchten  Tory,  den  Abtrünnigen 
der  Freiheit: 

„Auch  ward  er  ja  zur  Strafe  drum 
Vor  seinem  Tod  erstaunlich  dumm." 

Er  ist  der  Menschenhasser  ohne  warmes  Gemüt: 

„Satiren  schrieb  er  immerzu 

Und  ließ  die  Welt  niemals  in  Ruh! 

Ohn*  Rücksicht  flog  da  Streich  um  Streich, 

Hof,  Stadt  und  Land,  das  galt  ihm  gleich  .  .  ."i 

„Stets  mußte  er  das  Schlimmste  weisen: 
Pamphlet,  Satire,  Lügenreisen. 
Sein  geistlich  Kleid,  nicht  schont  er  das, 
Als  Motte  saß  er  drin  und  fraß.1' 

Wie  unbehaglich  der  Schlußteil  des  Gulliver: 

„Nimmst  du  den  Gulliver  zur  Hand, 
So  siehst  du  in  dem  letzten  Band 
Nur  Lüg  um  Lüg  in  jedem  Wort; 
Dort  ist  ihm  schier  das  Herz  verdorrt. 
Nicht  eine  Predigt  wirst  du  schau n, 
Um  fromme  Seelen  zu  erbaun." 

Aber  das  Gelärm  übertönt  das  stolze  Schweigen  des 
Toten : 

„Mein  Wert  der  Prosa  und  Gedichte? 
Begehrt  nicht,  daß  ich  selbst  mich  richte. 
Noch  sag,  wie  die  Kritik  mich  raufte, 
Ich  weiß  nur,  daß  sie  jeder  kaufte. 
Begabt  moralisch  tief  zu  schauen, 
Die  Welt  zu  läutern,  zu  erbauen  .  .  . 
Und  was  ihm  immer  mochte  glücken, 
Muß  doch  die  Welt  in  allen  Stücken 
Sein  Lob  und  ihre  Schmach  erblicken. 

292 


Sein  klein  Vermögen  warf  er  aus 

Zum  Bau  von  einem  Narrenhaus 

Und  lehrt  damit,  daß  solcherlei 

Für  die  Nation  höchst  nötig  sei; 

Ihr  braucht  nicht  mehr  vor  ihm  zu  bangen; 

Wird  seine  Asche  Ruh'  erlangen  ?" 

Was  Swift  in  Wahrheit  der  Welt  sein  wollte,  steht  in 
der  Inschrift  seines  Grabsteins,  die  er  selbst  bestimmt 
hat: 

„Hier  liegt  der  Leib  Jonathan  Swifts, 

Des  Dechanten  dieser  Kathedrale, 

Wo  wilder  Zorn  sein  Herz  nicht  mehr  zerreißen  kann. 

Geh,  Wanderer,  und  wenn  du  es  vermagst, 

Ahme  den  mutigen  Mann  nach, 

Der  im  Kampf  für  die  Freiheit  seinen  Mann  stand. 44 

Er  nannte  einmal  die  Menschen,  die  er  liebte:  So- 
krates,  den  Gotteslästerer  und  Hochverräter,  der  den 
Giftbecher  trinken  mußte;  Brutus,  der  den  Tyrannen 
mordete;  Thomas  Morus,  den  englischen  Kanzler, 
den  Kommunisten,  der  das  Schaffot  bestieg.  Aus  die- 
sem Geschlecht  stammt  Swift. 

Swift  ist  der  Kritiker  des  Zeitalters,  das  der  Revolu- 
tion von  1688  folgte,  ihr  Geschöpf,  Ankläger  und 
Überwinder.  Er  erlebt  vier  Herrscher,  den  Oranier, 
seine  Tochter  Anna  und  die  ersten  beiden  George. 
Die  parlamentarische  Herrschaft  entfaltet  ihre  Kraft. 
Die  konstitutionelle  Aristokratie  ringt  mit  dem  Bür- 
gertum um  die  Macht.  Die  Preßfreiheit  ist  seit  der 
endgültigen  Aufhebung  der  Zensur  im  Jahr  1693  die 
Lebensluft  des  geistigen,  die  Triebkraft  des  politischen 
England.  Noch  gibt  es  Rückfälle.  Unter  der  Königin 
Anna  wird  politische  und  religiöse  Reaktion  versucht; 
aber  sie  bringt  es  niemals  zu  mehr  als  zu  kleinen  ärger- 
lichen Hemmungen  und  Belästigungen.  Man  läßt  in 
England  drucken,  was  ein  Jahrhundert  später  in 
Deutschland  noch  mit  Galgen  und  Rad  bestraft  wor- 


293 


den  wäre.  Die  Presse  blüht  auf.  Am  Anfang  de* 
18.  Jahrhunderts  gibt  es  in  London  schon  18  poli- 
tische Zeitungen;  1709  wird  die  erste  täglich  erschei- 
nende Zeitung  Europas  begründet:  der  Daily  Courant. 
Die  moralischen  Wochenblätter  beherrschen  die  öf- 
fentliche Meinung.  Der  Journalist  wird  eine  politische 
Macht. 

Die  puritanische  Enge  der  Cromwelischen  Rebellion 
ist  gesprengt.  Man  will  leben.  Schon  rechnet  man 
in  England  wirtschaftlich  mit  großen  Ziffern;  der 
Aufstieg  zur  Weltmacht  vollendet  sich  ungestüm.  Die 
Wissenschaft  ringt  um  die  Erkenntnis  von  Natur  und 
Gesellschaft.  Am  Anfang  der  Epoche  mißt  Newton 
den  Weltraum  aus  und  gibt  ihm  Gesetze.  Die  Philo- 
sophie entdeckt  die  Sinne  und  den  gesunden  Men- 
schenverstand, die  reinliche  Tugend,  das  behagliche 
Glück  und  jenen  kühlen  undogmatischen  Deismus,  der 
den  lieben  Gott  als  einen  unsichtbaren  konstitutionellen 
englischen  König  für  das  Reich  der  Ewigkeit  einsetzt, 
ihn  aber  nicht  mehr  durch  kirchlich-dogmatische  Ver- 
fügungen in  die  weltlichen  Gesetze  eingreifen  läßt. 
Die  Nationalökonomen  beobachten  sorgfältig  und 
scharfsinnig  die  wirtschaftlich-sozialen  Bedingungen 
der  Gesellschaft;  sie  bereiten  Adam  Smiths  Werk  vor. 
Das  Zeitalter  der  Aufklärung  beginnt,  das  in  der 
französischen  Revolution  die  Hohe  erreicht  und  in 
Deutschland  zum  klassischen  Kunstwerk  sich  im- 
materialisiert. 

Der  Typus  des  öffentlichen  Charakters  bildet  sich 
aus.  Jeder  Politiker,  jeder  Staatsmann  ist  auf  irgend- 
eine Weise  auch  Schriftsteller,  Journalist,  Gelehrter. 
Und  jeder  Literat  ist  auch  irgendwie  Politiker.  Walter 
Scott  sagt  von  Swift,  er  sei  mehr  Staatsmann  als  Dich- 
ter gewesen.  Der  Unterschied  ist  im  Grund  aufgehoben . 
Das  Dichten  ist  keine  zünf tierische  Spezialität.  Swift 
war  Staatsmann,  weil  er  Dichter,  und  Dichter,  weil  er 
Staatsmann  war.  In  ihm  veranschaulicht  sich  die  neue 


294 


gesellschaftliche  Geltung  der  Schriftsteller.  Noch 
kann  er  von  seinem  Beruf  nicht  leben.  Die  Honorare 
ernähren  ihn  nicht,  wenn  sie  überhaupt  gezahlt  wer- 
den. Er  braucht  ein  Amt,  deshalb  Verbindungen, 
Gönner.  Die  Parteikämpfe  sind  in  persönlichem  Be- 
tracht wesentlich  Kämpfe  um  einträgliche  Stellen. 
Aber  der  persönliche  Wert  gilt,  nicht  die  hündische 
Demut.  Swift  fühlt  sich  in  seiner  Londoner  Zeit,  so 
arm  er  ist,  all  den  Aristokraten  überlegen,  mit  denen 
er  auf  gleichem  Fuß  verkehrt.  Er  benutzt  sie  für  seine 
Zwecke,  aber  er  dient  ihnen  nicht,  sie  sind  sein  Werk- 
zeug. In  seinen  Tagebuchbriefen  für  Stella  schreibt 
er  einmal: 

„Sie  müssen  wissen,  daß  es  mein  Verhängnis  ist,  am 
gleichen  Tag  ein  Fürst  und  ein  Lump  zu  sein.  Denn 
da  ich  ihn  (den  Schatzkanzler  Harlcy)  um  4  Uhr  be- 
suchen sollte,  so  konnte  ich  bei  keinem  Freund  eine 
Einladung  zum  Essen  annehmen.  So  war  ich  denn 
gezwungen,  in  eine  Winkelgarküche  zu  gehen  und  für 
10  Pence  mit  Kräuterbier,  schlechter  Brühe  und  drei 
Hammelkoteletten  vorlieb  zu  nehmen;  und  von  dort 
mußte  ich  dunstend  zum  ersten  Staatsminister." 

In  Swifts  gesellschaftlicher  Stellung  ist  nichts  von 
Supplikantenelend.  Swift  steht  aufrecht  vor  den  Kö- 
nigen und  Adligen.  So  ist  auch  der  Bezirk  seiner 
Kunst  nicht  die  beschauliche  Artistenklause.  Sein 
Sturm  und  Drang  wider  die  bürgerliche  Gesellschaft 
rast  sich  nicht  in  erlebten  oder  erdichteten  Aufleh- 
nungen des  privaten  Lebens  auf;  sein  Hirn  glüht  der 
Welt,  seine  Kunst  wälzt  die  ganze  Fülle  des  politisch- 
sozialen Daseins.  Er  ist  nicht  bloß  Wortführer,  er  ist 
Tatführer. 

Während  die  Revolution  sich  in  der  Macht,  im 
Erwerb  und  Genuß  der  herrschenden  Klasse  sättigt, 
führt  Swift  die  Revolution  über  sich  selbst  hinaus. 
In  ihm  sind  schon  die  Dämonen  der  französischen  Re- 
volution und  selbst   der  Chartistenbewegung.  Die 


295 


nüchterne  und  heuchlerische  Verständigkeit  der  Auf- 
klärung ist  ihm  fremd.  Die  Vernunft,  deren  Herr- 
schaft er  proklamiert,  ist  nicht  der  Buchhalter  eines 
Kramladens,  sie  ist  prometheischen  Ursprungs.  Er 
ist  von  jenem  verzweifelten  Menschheitsgrausen  be- 
sessen, das  die  großen  Befreier  vorwärts  hetzt,  ins 
Land  der  Zukunft.  Das  ist  es,  was  die  Beckmesser  als 
Menschenhaß  und  Bitterkeit  merken,  die  der  recht- 
schaffene Humorist  nicht  haben  dürfe.  Das  sind  die 
Schwerhörigen  für  das  Glück  der  Gegenwart,  weil  sie 
den  Stimmen  der  Zukunft  lauschen;  die  harten  und 
unbarmherzigen  Richter  des  Bestehenden,  weil  sie 
dem  Werdenden  überfließende  Milde  hingeben. 

Swift  war  von  dem  triumphierenden  Bewußtsein 
des  freien  Englands  wohl  erfüllt;  das  Grundgesetz  der 
Freiheit  ist  die  tödliche  Waffe  in  seinen  publizistischen 
Kämpfen.  Aber  die  neue  Freiheit  befreit  seine  Augen 
ganz,  daß  sie  die  Abgründe  des  wirtschaftlichen,  gei- 
stigen und  sozialen  Massenelends  zu  sehen  vermögen. 
Die  englische  Weltpolitik  plündert  in  Freiheit  die 
Menschheit  aus.  Swift  hat  eine  hohe  geistliche  Pfründe 
erlangt,  er  hat  keine  Not  mehr  zu  leiden,  aber  er  lebt 
in  Irland,  das  zu  den  vertriebenen  Stuarts  gehalten 
hatte,  und  das  nun  von  England  als  Kolonie  behandelt 
und  durch  ein  ebenso  raffiniertes  wie  brutales  Aus- 
saugesystem erschöpft  wird.  In  der  irischen  Politik 
Englands  erkennt  er  die  ganze  Unmenschlichkeit  des 
aufsteigenden  kapitalistischen  Zeitalters.  Indem  er 
sich  zum  leidenschaftlichen  unerschrockenen  Anwalt 
Irlands  erhebt,  wird  er  zum  revolutionären  Verteidiger 
des  ganzen  Menschengeschlechts. 

Gedemütigt  und  arm  ist  die  Kindheit  und  Jugend 
Swifts.  Im  Haus  eines  reichen  Aristokraten  findet  er 
seinen  Unterhalt.  Er  zerwirft  sich  mit  ihm  und  muß 
doch  wieder  seine  Zuflucht  zu  ihm  nehmen.  Hier 
nährt  er  all  den  Haß  des  Unterdrückten.  Dann  geht 
er  nach  London  und  wirft  sich  in  das  politische  Ge- 

296 


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triebe,  im  Lager  der  Liberalen.  Bald  ist  er  ein  ge- 
fürchteter  und  bewunderter  Schriftsteller.  Seine  Feder 
tötet,  sein  Witz  richtet  hin.  Mit  seinem  Märchen  von 
der  Tonne,  hat  er  die  verwegenste  Satire  gegen  alles 
Kirchentum  erdacht,  die  jemals  veröffentlicht  worden 
ist.  Aber  man  fühlt,  daß  dieser  in  spielender  Anmut 
mähende  Hohn  mehr  trifft  als  nur  den  Hader  der 
Papisten,  Lutheraner  und  Calvinisten,  er  lehnt  sich 
gegen  jeden  Wahn  auf.  Swift  ist  eine  Gefahr  für  alle, 
die  er  befehdet ;  man  darf  ihn  nicht  zum  Feind  haben. 
Swift  weiß,  daß  ihm  niemand  traut,  weil  er  bereits 
jenseits  von  allen  steht;  daß  ihn  aber  alle  fürchten. 
Diese  Macht  nutzt  er  aus.  Für  sein  persönliches 
Fortkommen,  für  seinen  Ehrgeiz?  Vielleicht  auch 
dafür:  Er  bedarf  der  Stellung,  um  Unabhängig- 
keit zu  erwerben,  um  Einfluß  zu  gewinnen.  Aber 
in  Wahrheit  will  er  seinem  Dämon  dienen,  der  ihn 
zum  Sachwalter  des  Menschengeschlechts  empor- 
treibt. Er  hat  mit  der  Feder  wechselnden  Parteien 
gedient:  Als  die  WTiigs  stürzten,  ward  er  der  ge- 
haßteste und  erfolgreichste  Vorkämpfer  der  Konser- 
vativen. Aber  er  hat  bloß  die  Parteien  gewechselt, 
nicht  seine  Überzeugung,  die  von  Anbeginn  Whigs 
wie  Tories  hinter  sich  ließ.  Für  seine  Gedanken  gab 
es  noch  keine  Partei,  darum  waren  ihm  Liberale  wie 
Konservative  niemals  etwas  anderes  als  Mittel  zum 
Zweck.  Er  war  nun  einmal  kein  deutscher  nationaler 
Professor,  der  für  seine  Sache  bereit  ist  in  den  Tod 
(an  Altersschwäche)  zu  gehen.  In  seinen  Tagebüchern 
an  Stella  und  Briefen  versichert  er  gern,  daß  er  sich 
an  irgendwelchen  Halunken  durch  ein  Pamphlet 
rächen  wolle.  Das  nimmt  der  Literaturforscher  für 
bare  Münze,  und  es  ist  doch  nur  eine  burschikose 
Wendung,  gleichwie  er  tausendfach  sein  liebstes  Mäd- 
chen, M  D  (My  Dear),  auf  ganz  ähnliche  Weise  mit 
polternd  zärtlichen  Schimpfworten  bedenkt.  Gewiß, 
Ehrfurcht  hat  er  für  keine  der  beiden  Parteien,  weil 


297 


er  von  der  Ehrfurcht  für  die  eigene  Partei  seiner 
großen,  einsamen  Sache  erfüllt  ist.  Die  Konfessionen 
sind  ihm  nichts  anderes  als  Parteien,  die  darüber 
Kriege  führen,  ob  man  Eier  am  dicken  oder  dünnen 
Ende  aufbrechen  müsse;  die  politischen  Parteien  ver- 
spottet er  unter  dem  Bild  der  Leute  mit  hohen  und 
niederen  Stiefelabsätzen.  Aber  die  Aufgaben,  die  er 
sich  mit  seiner  journalistischen  Tätigkeit  stellt,  sind 
aus  der  Uberzeugung  erwachsen,  daß  sie  dem  ge- 
meinen Wohl  dienen.  Daher  die  Unerbittlichkeit  des 
Kampfes;  seine  Pamphlete  sind  Feldzüge,  die  erst  mit 
dem  Sieg  endigen.  Niemals  gibt  Swift  Pardon:  Das 
wäre  Verrat  an  seiner  Sache.  Die  innere  Reinheit 
des  Mannes  leuchtet  schon  in  den  Parteiwirren  der 
Londoner  Zeit  hindurch.  Dann,  als  er,  fast  wie  ein 
Verbannter,  auf  irischem  Boden,  der  angebetete 
Dechant  von  Saint  Patrick,  in  den  Tuchhändlerbriefen 
für  Irland  ficht,  wächst  er  zum  Heldentum  und  zu- 
gleich zur  Weltkünstlerschaft. 

So  klar  der  öffentliche  Charakter,  so  versponnen  ist 
sein  persönliches  Dasein.  Er  hat  das  Geheimnis  seines 
Lebens  ins  Grab  genommen.  Die  unwissende  Neugier 
hat  über  das  Rätsel  dann  Romane  fabuliert.  Man 
weiß  nur,  daß  durch  viele  Jahre  seines  Lebens  die 
gärende  Doppelliebe  zu  zwei  Frauen  ihn  bedrückt  hat. 
Swift  ist  der  erste  jener  seelischen  Bigamisten,  die  wir 
dann  in  der  weitern  Folge  des  18.  Jahrhunderts  so 
vielfach  antreffen,  bis  zu  Bürger,  Goethe  und  Schiller. 
Wir  kennen  auch  die  bürgerlichen  Namen  der  beiden 
Frauen,  die  Swift  als  Stella  und  Vanessa  unsterblich 
gemacht  hat.  In  den  Tagebuchbriefen,  die  Swift 
während  seiner  Londoner  Zeit  für  Stella  Tag  um 
Tag,  Stunde  um  Stunde  geschrieben  hat,  gewinnen 
wir  einen  Einblick  in  diese  Beziehungen.  Stella  ist 
ihm  Kind,  Freundin,  Kameradin,  Geliebte  zugleich. 
Er  schwätzt  mit  ihr  wie  mit  einem  Kind  und  macht 
sie  doch  zur  ernsten  Vertrauten  all  seines  Tuns  und 

298 


Wollens.  Er  kümmert  sich  um  ihre  nichtigen  An- 
gelegenheiten, vergißt  im  Trubel  seiner  öffentlichen 
Geschäfte  nicht  allerlei  Aufträge  und  Besorgungen 
für  sie  zu  erledigen;  und  er  wird  nicht  müde  in  zärt- 
lichster Besorgnis  der  kleinen,  kranken  Augen  von 
M  D  zu  gedenken.  Sie  blieb  ihm  Freundin  und  Ge- 
nossin auch  nach  den  Beziehungen  zu  Vanessa.  Was 
über  die  tragischen  Konflikte  zwischen  den  beiden 
Frauen  berichtet  wird,  ist  Legende.  Auch  die  selt- 
same Geschichte,  daß  er  schließlich  auf  Drängen 
Stellas  mit  ihr  die  Ehe  eingegangen,  aber  nur  unter 
dem  strengen  Gelöbnis,  daß  niemals  darüber  etwas 
bekannt  würde,  und  daß  sie  auch  nicht  wie  Mann  und 
Weib  miteinander  lebten,  ist  neuerdings  als  Märchen 
erwiesen  worden.  Swift  hat  weder  Stella  noch  Vanessa 
geheiratet.  Warum  es  nicht  geschah,  weiß  man  nicht. 
Ebenso  kann  man  über  die  Natur  dieser  Beziehungen 
nur  Vermutungen  haben.  Und  daß  Vanessa  an  ge- 
brochenem Herzen  gestorben,  als  das  Geheimnis  der 
Ehe  ihr  bekannt  geworden,  auch  diese  Uberlieferung 
ist  nichts  als  ein  Roman. 

Früher  erklärte  man  das  Stellageheimnis  damit,  daß 
sie  entdeckt  hätten,  sie  wären  Geschwister.  Heute, 
da  man  die  medizinischen  Deutungen  bevorzugt,  be- 
hauptet man  das  männliche  Unvermögen  Swifts. 
Auch  dafür  gibt  es  keinen  Beweis.  Im  Gegenteil, 
Swift  erscheint  von  kräftiger,  gesund  natürlicher  Sinn- 
lichkeit. Eher  könnte  man,  wenn  Swift  wirklich  an 
Paralyse  gestorben  sein  sollte,  an  eine  frühere  Erkran- 
kung denken,  die  eine  Ehe  als  gewissenlos  erscheinen 
lassen  mußte. 

Eine  psychologische  Deutung  seines  Verhaltens  zu 
den  Frauen  aber  läßt  sich  in  der  Weltauffassung  des 
Mannes  finden,  wie  sie  sich  schließlich  entwickelt  hat. 
Wie  ihm  vor  der  Menschheit  graut,  weil  er  in  den 
reinen  Lüften  seines  Utopien  atmet,  weil  er  der  Mit- 
bürger einer  ihm  bereits  wirklich  gewordenen  zukünf- 


299 


tigen  Erde  ist,  so  tritt  vielfach  in  seinen  Werken  auch 
ein  Ekel  vor  der  Frau  hervor;  er  sieht  die  Unrein- 
heiten ihrer  Haut  wie  durch  ein  Vergrößerungsglas, 
ihn  peinigt  der  leibliche  Verfall  ihrer  Formen,  ihn 
widert  ihr  Geruch  an,  für  den  ihm  eine  gesteigerte 
Reizbarkeit  eignet.  Nicht  die  Schwachheit  des  Männ- 
chens, sondern  die  Überkraft  des  Menschen  erklärt 
die  tragische  Einsamkeit  und  die  quälende  Wirrnis 
seines  Daseins. 

Es  gibt  viele  Dichtungen  der  Berufskunst,  die  über 
die  Jahrhunderte  hinaus  sprechen,  zu  allen  Völkern 
und  Zeiten,  aber  es  läßt  sich  kaum  ein  halbes  Dutzend 
Werke  nennen,  die  auf  alle  Lebensalter  innerhalb  des 
menschlichen  Einzeldaseins  gleichermaßen  wirken,  die 
von  der  Wiege  bis  zum  Grab  Jugend  wie  Reife  zu  er- 
freuen vermögen.  Nur  wenige  Dichter  haben  Gestalten 
geschaffen,  die  zum  unverlierbaren  Inhalt  des  Kultur-  - 
bewußtseins  geworden  sind,  die  dem  Reich  der  Geister 
eine  unsterbliche  Bevölkerung  gezeugt  haben.  Robin- 
son und  Don  Quixote  sind  von  solcher  Unsterblichkeit 
und  Allgcgenvvärtigkeit. 

Swift  hat  in  Gullivers  Reisen  das  gleiche  Wunder 
künstlerischer  Schaffenskraft  vollbracht.  Die  Kinder 
erfreuen  sich  heute  und  immer  der  Dichtung  in  un- 
gezählten Bearbeitungen.  Der  Manu  fühlt  die  zer- 
malmende Macht  der  Weltsatire.  Der  Greis,  der  vor 
dem  Tod  zittert,  mag  sich  von  seinem  Wahn  in  den 
Blättern  erlösen,  in  denen  die  Struldbrugs  geschildert 
werden,  die  Menschen,  die  ewig  leben  und  ewig  altern. 
Die  Länder,  die  Gulliver  entdeckt  hat,  sind  aus  der 
Geographie  unseres  Geistes  nicht  mehr  zu  tilgen,  und 
die  Völker,  die  er  ersann,  scheinen  uns  wirklicher  als 
die  Deutschen,  Franzosen  und  Engländer,  unter  denen 
wir  leben.  Die  anschaulich  visionäre  Traumkraft  dieser 
Gebilde  ist  wie  Urzeugung  neuen  Lebens.  Die  sinn- 
liche Lebendigkeit  der  Phantasie  ist  so  groß,  daß  fast 
jeder  Satz  mit  Stift  und  Farbe  gezeichnet  werden 

300 


könnte.  Selbst  in  den  Namen,  die  er  ersann,  rauscht 
es  wie  elementare  Natur.    Hinter  der  Fratze  birgt 
sich  tiefsinnige  Symbolik,  und  der  ausgelassene  Schalk 
hat  ein  klagendes  Herz  in  der  wunden  Brust,  die  doch 
gegen  jede  weichliche  Rührung  hart  gepanzert  ist. 
So  zwingend  ist  die  J/Ogik  dieser  Narrheiten,  daß  sie 
uns  selbst  mit  ihren  wechselnden  Erscheinungen  wan- 
delt. Wir  wachsen  über  alles  Maß  hinaus,  wenn  wir 
die  Abenteuer  von  Liliput  erleben,  wir  schrumpfen 
zu  einem  furchtsamen  Nichts  in  den  Händen  der 
Riesen.  Es  kreist  uns  im  schwindelnden  Kopf,  wenn 
wir  auf  der  magnetisch  lenkbaren  Fluginsel  der  La- 
putianer  unter  das  Gewimmel  der  Schiefgehirnten, 
der  Pläneschmiede  geraten,  und  wir  fühlen  uns  selbst 
wie  Gespenster,  wenn  die  Helden  der  Weltgeschichte 
schattenhaft  vorübergleiten.   Im  letzten  Teil  erreicht 
Swift  das  Höchste  dichterischer  Vision.    Der  mör- 
derische Witz  des  Einfalls  schreitet  im  leuchtenden 
Gewand  farbig  körperhafter  Anschauung.   Das  Land 
Utopien  tut  sich  auf,  die  Platonische  Republik  der 
edlen  —  Pferde,  die  das  scheußliche  Gesindel  der 
schmutzigen  Affen  unterworfen  und  in  die  Verachtung 
gescheucht  haben:  die  Yahoos,  in   denen  Gulliver 
schaudernd  die  Menschen  erkennt.  Diese  Pferde  aber 
sind  die  Vollendung  der  Natur,  friedlich  leben  sie  bei 
sammen,  gütig,  rein;  in  ihren  Seelen  ist  kein  schmut- 
ziger Winkel,  und  in  ihrem  Herrentum  ist  kein  Hauch 
von  Grausamkeit.   So  hell  und  lauter  ist  ihre  Welt, 
daß  sie  nicht  einmal  Worte  für  die  schimpflichen  Be- 
griffe haben,  die  ihrem  Wesen  fremd  sind.  Der 
Houyhnhnm  kennt  das  Wort  Lüge  nicht,  die  alles 
Tun  der  Yahoos  erfüllt,  und  als  Gulliver,  der  arme 
Yahoo,  der  doch,  weil  er  ein  wenig  mehr  Vernunft 
hat,  eine  Zeitlang  als  Gast  der  Houyhnhnms  geduldet 
wird,  das  erhabene  Reich  schlichter  Natürlichkeit  ver- 
lassen muß  und  nach  England  zurückkehrt,  verzehrt 
*  ihn  Sehnsucht  nach  jenem  Land  der  Pferde.  Er  kann 


301 


den  Anblick  der  Yahoos  nicht  mehr  ertragen,  ihn  ekelt 
vor  dem  eigenen  Weib  und  den  Kindern: 

„Als  ich  mir  zu  überlegen  begann,  daß  ich  durch 
die  Paarung  mit  einer  von  der  Gattung  der  Yahoos 
zum  Vater  von  mehreren  Kindern  geworden  war,  be- 
fiel mich  Scham,  Verwirrung  und  Grauen." 

Gleichwohl  hat  Swift  diesen  Yahoos  sein  Leben 
hingegeben : 

„Mich  ärgert  es  nicht  im  geringsten,  wenn  ich  einen 
Anwalt,  einen  Taschendieb,  einen  Obersten,  einen 
Narren,  einen  Grafen,  einen  Spieler,  einen  Politiker, 
einen  Bordellwirt,  einen  Arzt,  einen  Zeugen,  einen 
Bestecher,  einen  Verräter  oder  dergleichen  sehe:  das 
alles  liegt  nur  in  der  Natur  der  Dinge.  Doch  wenn 
ich  einen  Haufen  Scheußlichkeit  erblicke,  verzehrt 
von  Krankheiten  an  Seele  und  Leib,  und  wenn  der 
mit  Hochmut  behaftet  ist,  so  reißt  mir  sofort  die  Ge- 
duld .  .  .  Ich  wünsche,  die  Gesellschaft  eines  eng- 
lischen Yahoos  auf  jede  Weise  zu  etwas  nicht  ganz 
Unerträglichem  zu  machen,  und  deshalb  flehe  ich  hier 
alle  an,  die  auch  nur  eine  Spur  dieses  widersinnigen 
Lasters  besitzen,  daß  sie  sich  nicht  anmaßen  mögen, 
mir  vor  die  Augen  zu  kommen." 

Um  den  Geist  der  Yahoos  zu  befreien,  hat  der  junge 
Swift  sie  in  den  Witzwirbeln  seines  Märchens  von  der 
Tonne  gebadet;  das  ist  die  Walfischtonne,  die  man 
hinwirft,  um  die  Tiere  von  den  Angriffen  gegen  die 
Schiffe  abzulenken;  das  Kirchentum,  das  man  den 
Yahoos  hinwirft,  um  sie  von  dem  Angriff  gegen  den 
herrschenden  Staat  abzuhalten.  Für  die  armen  iri- 
schen Yahoos  hat  der  alternde  Swift  jene  Tuchhändler- 
briefe in  die  Welt  gesandt,  die  für  immer  das  uner- 
reichbare Vorbild  politischer  Kriegsführung  bleiben 
werden.  In  diesen  irischen  Pamphleten  kündigt  sich 
zuerst  das  soziale  Gewissen  an.  Swift  ist  der  Erfinder 
des  Warenboykotts  als  eines  Kampfmittels  einer  unter- 
drückten Nation.   Für  Irland  schrieb  er  jene  furcht - 


302 


barste  soziale  Satirc,  die  jemals  eines  Menschen  Phan- 
tasie ersonnen,  jenen  Bescheidenen  Vorschlag,  wie  man 
die  Kinder  der  Armen  hindern  kann,  ihren  Eltern 
oder  dem  Land  zur  Last  zu  fallen.  In  der  nüchternen 
Sprache  eines  Kochbuchs  gibt  er  das  Rezept.  Die 
armen  Mütter  sollen  ihre  Kinder  ein  Jahr  lang  säugen 
und  mästen  und  sie  dann  für  die  Tafel  des  gnädigen 
Herrn  verkaufen: 

„Ich  gebe  zu,  daß  diese  Kinder  als  Nahrungsmittel 
etwas  teuer  kommen  werden,  aber  schon  deshalb  wer- 
den sie  sich  sehr  für  den  Großgrundbesitzer  eignen; 
da  die  Gutsherren  bereits  die  meisten  Eltern  gefressen 
haben,  so  haben  sie  offenbar  auch  den  nächsten  An- 
spruch auf  die  Kinder." 

In  der  Tat,  Swift  ist  kein  echter  Humorist  und  kein 
Dichter  im  wahren  Sinn  des  Wortes.  Ihm  fehlt  nun 
einmal  das  warme  Gemüt.  Es  ist  seine  Bosheit,  daß 
er  überall  Yahoos  sieht,  und  es  ist  sein  Menschenhaß, 
daß  er  sie  gar  befreien  will. 

[Juli  191 1.] 


303 


Marie -Joseph  Chenier. 
Zum  100.  Todestag  des  Dichters  der  Revolution. 

Das  Theater  der  Revolution  war  keine  Revolution 
des  Theaters,  aber  Revolution  auf  dem  Theater.  Die 
Parlamentsdebatte  der  ungeheuersten  politischen  Um- 
wälzung der  Weltgeschichte  setzte  sich  fort  im  Theater, 
auf  der  Bühne  sowohl  wie  im  Publikum.  Die  Einheit 
des  Schriftstellers  und  des  politisch  tätigen  Men- 
schen, die  der  Stolz  der  französischen  Literatur  von 
Voltaire  und  Rousseau  bis  zu  den  Zola  und  Anatole 
France  ist,  schafft  auch  die  innere  Zusammengehörig- 
keit zwischen  dem  Drama  und  der  Zeitgeschichte. 
Die  Form  verharrt  in  den  strengen  Überlieferungen 
der  Klassiker,  und  die  Stoffe  werden  aus  der  ge- 
schichtlichen Vergangenheit  entliehen,  aber  in  der 
hallenden  Rhetorik  der  Helden  brausen  die  unmittel- 
baren Kämpfe  der  Zeit.  Hat  man  des  Tags  über  in 
der  leidenschaftlichen  Prosa  der  Parlamentsrede  unter 
vulkanischen  Kundgebungen  des  Massenwillcns  Ge- 
schichte gemacht,  so  überläßt  man  die  Fortsetzung 
des  Abends  dem  gehobenen  Spiel  des  Schauspielers, 
man  stilisiert  die  Ewigkeit  des  eigenen  Handelns  in 
feierlich  stolzierenden  Alexandrinern  und  der  Sans- 
culotte sieht  sich  auf  den  Brettern  der  Bühne  in  der 
Toga  des  römischen  Republikaners.  Der  französische 
Dichter  flüchtet  nicht  ins  Reich  des  Schönen,  um 
sich  von  dem  Elend  der  Wirklichkeit  zu  retten.  Er 
erhebt  vielmehr  die  Wirklichkeit  ins  Reich  des  Schö- 
nen. Der  Rhythmus  seines  Handelns  ist  auch  der 
Rhvthmus  seiner  Kunst. 

So  werden  die  Ereignisse  der  großen  französischen 
Revolution  begleitet  von  der  Sensation  des  Theaters: 

304 


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und  beide  werden  mit  gleicher  Leidenschaft  erfaßt. 
In  diesen  eisig  wehenden,  scheinbar  seelen-  und  farb- 
losen Dramen  der  hohen  Gattung  fühlt  der  Franzose 
unmittelbar  den  heißen  Atem  seines  wirklichen  Da- 
seins, während  in  der  alle  Gluten  des  Daseins  aus- 
strahlenden deutschen  Kunst  jener  Periode  eine  ab- 
gesperrte Welt  in  sich  und  für  sich  auf  dem  engen 
Schauplatz  vom  Parterre  zu  den  Kulissen  sich  wesen- 
los ins  Innerste  des  Gemüts  auswirkt.  Aus  Paris 
schrieb  am  7.  Dezember  1797  Wilhelm  v.  Humboldt 
an  Schiller:  „Fast  alle  Stücke,  die  man  gibt,  Farcen 
ausgenommen,  sind  fortwährende  Moralen  in  Alexan- 
drinern; diese  finden  bei  dem  Publikum  unbegreif- 
lichen Beifall  und  werden  von  den  Schauspielern  am 
besten  gespielt.  Wie  diese  trockene  Art  zu  morali- 
sieren, bei  der  kein  Gedanke  neu,  selten  nur  der  Aus- 
druck kraftvoll  ...  so  großen  Beifall  erlangen  kann, 
ist  mir  immer  ein  Rätsel." 

Also  diese  trockene  Art  hat  die  Feuerbrände  der 
Revolution  entfachen  helfen,  und  diese  platten  Ge- 
danken und  kraftlosen  Wendungen  waren  mittätig, 
der  Welt  ein  neues  Antlitz  zu  geben. 

Man  erstürmt  die  Bastille  und  schließt  dann  das 
geschichtliche  Ereignis,  indem  man  alle  Tage  auf  der 
Bühne  sich  den  ,,Karl  IX."  von  Marie- Joseph  Chenier 
vorspielen  läßt.  Ja,  erst  durch  den  Fall  der  Zwing- 
feste der  Monarchie  wird  die  Bühne  dem  Drama 
Ch£nicrs  erschlossen.  Man  erstürmt  im  Theater  die 
Bastille  des  Zensors.  Während  auf  der  Bühne  des 
„Th£atre  fran9ais"  die  „Schauspieler  des  Königs" 
irgendein  gleichgültiges  Stück  agieren,  fliegen  auf  die 
Köpfe  des  Publikums  weiße  Zettel  herab:  Warum 
spielt  man  solche  Jammerwerke,  wo  doch  das  große 
Nationaldrama  des  befreiten  Volkes  schon  geschrieben 
ist,  der  Karl  IX.  des  Herrn  von  Chenier?  Und  die 
gedruckte  Demonstration  wird  mündlich  vom  Publi- 
kum fortgesetzt.    Den  Schauspielern  wird  hinauf - 


ao   Eisner,  Gesammelt?  Schriften.  II. 


305 


zösische  Publikum  nach  dem  FaU  der  Bastille  ist  selbst 
die  Erlaubnis,  daß  man  auf  dem  Hoftheater  ein  re- 
volutionäres Stück  spielen  kann,  nein  spielen  muß. 
Dann  wird  das  Drama  der  Bartholomäusnacht  gespielt. 
Ein  Rausch  kommt  über  das  Publikum,  man  bricht  in 
Verwünschungen  aus,  wenn  der  Kardinal  die  Schwerter 
zum  Bürgermord  segnet  und  die  Verse,  die  die  Revo- 
lution prophezeien,  müssen  wiederholt  werden: 

Des  Lebens  Grüfte,  schaurige  Bastillen 
Einst  öffnen  sie  sich  unter  edlen  Händen  .  .  . 

Die  Revolution  schreitet  fort.  Die  hochverräterische 
Monarchie  hat  verspielt.  Im  Theater  gibt  man  —  IJ92 
-  Cheniers  Cajus  Grachus,  das  Drama  der  Plebejer- 
rebellion  gegen  die  Aristokratie.  Er  erklärt  den  Ge- 
mäßigten den  Krieg.  Aber  schon  treibt  die  Revolution 
auch  über  den  Radikalismus  hinaus.   Bei  dem  \ers*. 

„Gesetz,  nicht  Blut !  Befleckt  nicht  Eure  Hände," 
ruft  der  Deputierte  Albille,  ein  Advokat  aus  Rouen: 
„Gesetz,  nicht  Blut!  Das  ist  der  Vers  eines  Feindes 
der  Freiheit.  Nieder  mit  den  Grundsätzen  der  Konter- 
revolution! Blut,  nicht  Gesetze!"  Eine  Panik  ent- 
stand, das  Stück  konnte  nicht  zu  Ende  gespielt  werden. 

Das  Leben  nimmt  das  Spiel  auf:  Blut  traft  de« 
Gesetzes!  Als  Mitglied  des  Konvents  stimmt  Che- 
nier,  von  Royalisten  seit  dem  „Karl  IX."  unter  die 
„Ungeheuer,  die  das  Land  verderben"  gezählt,  für  den 
Tod  des  Monarchen.  Er  begleitete  sein  Votum  mit 
den  würdigen  Worten:  „Ich  hätte  lebhaft  gewünscht, 
das  bekenne  ich,  niemals  für  den  Tod  eines  Wesens 
meinesgleichen  stimmen  zu  müssen;  und  wenn  ic 
mich  einen  Augenblick  von  dem  peinlichen  Amt  er- 
lösen könnte,  das  mir  auferlegt  ist,  so  würde  ich  für 
das  mildeste  Ge?etz  stimmen.  Aber  die  Gerechtigkeit, 


306 


die  der  Staatsgrund  ist,  das  Interesse  des  Volkes, 
schreiben  mir  vor,  meinen  äußerst  starken  Widerwillen 
zu  überwinden.  Ich  erkläre  mich  für  die  Strafe,  die 
vor  mir  das  Strafgesetzbuch  bestimmt  hat.  Ich  stimme 
für  den  Tod."  Eine  stolze,  tapfere,  menschliche  und 
gerechte  Begründung,  die  allein  schon  die  reaktionäre 
Legende  zerstört,  daß  das  Urteil  über  Ludwig  XVI. 
in  einem  wüsten  Rausch  niederster  Triebe  von  einer 
Verbrecherhorde  dem  vergewaltigten  Parlament  auf- 
gezwungen worden  sei  .  .  . 

Gegen  die  Übermacht  der  äußeren  und  inneren 
Feinde  der  Republik  wird  der  Schrecken  proklamiert. 
Der  Jakobiner  Chenier  ist  doch  ein  Gegner  Ro- 
bespier res.  Er  schreibt  den  Timoleon,  indem  er  den 
Tyrannenmord  verherrlicht,  den  Fluch  über  die  Mon- 
archie spricht,  aber  auch  der  Schreckensherrschaft 
Fehde  kündet.  Das  Stück  wird  verboten.  Der  Dichter 
muß  sein  Manuskript  verbrennen  und  erst  nach  dem 
Sturze  Robespierres  darf  man  die  Verse  hören : 

Der  Schrecken  würgt  den  ehrenhaften  Mann, 
Läßt  Menschlichkeit  verdorren,  Tugend  schweigen, 
Die  Tyrannei,  hochmütig,  mordbegierig, 
Der  Ehrfurcht  Maske  auf  der  faulen  Stirn, 
Rafft  sich  der  Freiheit  Namen  ohne  Scham  .  .  . 
Zeit  ist's,  schuldschwerer  Lehre  zu  entsagen. 
Gesetze  braucht's,  der  Sitte,  nicht  der  Opfer. 
Gewährt  den  Schurken  heilendes  Entsetzen. 
Dem  Recht  verfalle  Missetat  erbleichend, 
Damit  die  L'nschuld  ruhig  schlummern  darf  .  .  . 
Der  Schrecken  macht  nur  Sklaven,  Menschlichkeit 
Allein  bringt  uns  Gerechtigkeit  und  Freiheit. 

Solche  Verse  eiferten  in  dem  selben  Drama,  in  dem 
der  Königsmord  verherrlicht  wurde: 

Zu  treffen  den  Verräter, 
Hab  ich  das  Recht  verletzt,  das  Mord  verbietet. 
Doch  Könige,  sie  schützt  nicht  das  Gesetz  .  .  . 


307 


Wollt  Ihr  mein  Haupt,  wohlan,  Euch  sei's  verfallen. 

Ich  lebte  und  ich  sterbe  als  ein  Bürger. 

Lebt  nur  die  Republik,  was  gilt  mein  Dasein !  .  .  . 

Die  Revolution  verbrandet.  Die  über  die  Welt 
zerstreute  Freiheit  sammelt  Napoleon  in  seinen  Hän- 
den. Und  abermals  begehrt  Ch^nier  die  kämpfende 
Bühne,  die  ihm  die  Macht  verschärft:  In  der  Gestalt 
des  „Tiberius"  klagt  Ch£nier  am  Ausgang  seines  Le- 
bens den  Imperator  an,  daß  er  den  Franzosen  das 
Erbteil  seiner  Freiheit  geraubt. 

• 

Marie- Joseph  Chenier,  der  eigentliche  Dichter  der 
Revolution,  ist  heute  vergessen.  Seine  Werke  waren 
Planeten,  die  nur  von  fremden  Sternen  Licht,  Wärme 
und  Glanz  empfingen  und  erstarrten,  als  die  Sonne 
der  Revolution  verglüht  war.  Wenn  man  den  Namen 
Ch6nier  hört,  denkt  man  heute  nur  an  den  Bruder 
Andrö,  den  Monarchisten,  der  zarte  und  heitere  grie- 
chische Elegien  ersann;  der  mitten  im  Zusammen- 
bruch des  Königtums  nach  Versailles  flüchtete  und  in 
den  weichen  Armen  einer  holden  Fanny  von  Marmor- 
göttern träumte;  der  Charlotte  Corday,  die  Mörderin 
Marats,  feierte,  und  von  seinem  jungen  Leben,  das  die 
Guillotine  heischte,  mit  den  Versen  Abschied  nahm, 
aus  denen  die  schimmernde  Träne  ins  Ewige,  unstillbar, 
unaufgesogen  rinnt: 

So  wie  ein  letzter  Hauch,  ein  letzter  Strahl  des  Gottes, 

Den  Tag  verklärt  an  seinem  Schluß, 

Rühr'  ich  die  Leier  noch  am  Fuße  des  Schafottes; 

Wer  weiß,  wenn  ich's  besteigen  muß! 

Wer  weiß:  vielleicht,  bevor  der  Zeiger  sich  im  Kreise 

Auf  dem  geblümten  Zifferblatt 

Den  sechzigfachen  Schritt  der  vorgeschriebenen  Reise 
Helltön'gen  Schlags  vollendet  hat, 
Liegt  schon  der  Schlaf  der  Gruft  auf  meinen  bleichen 

[Zügen ; 

308 


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Vielleicht,  bevor  es  mir  gelang, 

Im  angefangnen  Vers  den  Reim  zum  Reim  zu  fügen, 

Wird  zu  entsetzensheiserm  Klang 

Der  Todverkündiger,  der  zum  Gerüst  des  Schreckens 

Uns  schleppt  mit  seiner  Söldner brut, 

Das  Echo  dieses  Saals  mit  meinem  Namen  wecken. 

Keinen  Vers  von  dem  jakobinischen  Bruder,  der  der 
Herold  der  Revolution  war,  hat  das  Gedächtnis  der 
Nachwelt  aufbewahrt.  Aber  die  Revolution  hat  ihn 
verewigt.  Seine  Verse  mögen  jetzt  leer  und  hohl 
klingen,  aber  sie  begeisterten  doch  einmal  ein  ganzes 
Volk,  seine  Lieder  begleiteten  die  Soldaten  der  Frei- 
heit in  den  heiligen  Krieg  gegen  das  monarchische 
und  feudale  Europa,  und  seine  Hymnen  wurden  auf 
den  Festen  der  Revolution  gesungen,  die  Marie- Joseph 
nach  hellenischem  Ideal  schuf. 

Als  er  vor  einem  Jahrhundert  starb,  in  einer  ver- 
änderten Zeit,  da  den  Schüler  Voltaires  die  monar- 
chische und  religiöse  Reaktion  der  Romantik  bei  Leb- 
zeiten verschüttet  hatte,  hielt  ihm  ein  Wortführer 
dieser  rückwärts  gewandten  Mächte,  Chateaubriand, 
die  Gedächtnisrede  im  Institut;  aber  auch  er  beugte 
sich  vor  dem  Besiegten  ehrfürchtig,  indem  er  ihm 
das  Wort  in  die  Ewigkeit  nachsandte:  „Marie- Joseph 
Chenier  hat  die  Freiheit  angebetet." 


309 


Zolas  Werk. 

„Es  wäre  zu  wü  nschcn,  daß  ein  b  a  r  b  a  r  i  s  c  h  e  s 
Genie  käme,  das  ohne  Lektüre,  ohne  Kritik, 
ohne  Grübeleien  und  Abschattierungen  das 
Jahrhundert  von  morgen  mit  Axthieben,  unter 
einem  herrlichen  Aufflammen  der  Wahrheit 
und  Wirklichkeit,  erschlösse  ..." 

RmileZola, „Pari*", Zweit.  Buch,  IV.  Kap. 
I. 

im  zweiten  Stockwerk  jenes  vornehmen  Hauses, 
hinter  dessen  ehrsamer  Fassade  vom  Keller  bis  zu 
den  Dachsparren  menschlicher  Unflat,  wie  in  einem 
ungeheuren  Pot-Bouille  unsäglichen  Ekels  angehäuft 
ist,  wohnt  ein  geheimnisvolles  Ehepaar.  Wir  erfahren 
aus  Emile  Zolas  lichtlosestem  Roman  nichts  weiter 
über  diese  Leute,  als  daß  sich  der  gemeinsame  Haß 
aller  der  braven  Bürger,  die  das  Haus  mit  ihrem  sitten- 
streng geschmückten  Unsauberkeiten  bevölkern,  gegen 
sie  richtet.  Sie  sind  unnahbar  und  verkehren  mit  nie- 
mandem. Wir  sehen  sie  nur,  wenn  sie  in  peinlich  ge 
schlossenem  Wagen  durch  das  Haustor  fahren,  Vater 
und  Mutter,  ihren  beiden  Kindern  glücklich  zulächelnd, 
holden  Blondköpfen,  die  Rosen  in  den  Händchen 
tragen.  Der  ganze  Hausklatsch  schäumt  jedesmal  auf, 
wenn  sich  der  Wagen  zeigt.  O,  das  sind  unanständige 
Menschen,  dazu  von  einem  ekelhaften  Stolz  besessen. 
Selbst  an  Begräbnissen  nehmen  sie  nicht  teil,  nur  um 
nicht  so  höflich  zu  scheinen  wie  ihre  Mitbewohner. 
Aber  man  weiß  wohl,  was  das  für  eine  Gesellschaft  ist. 
Der  Mann  hat  schmutzige  Romane  geschrieben.  Die 
Polizei  ist  schon  wegen  des  Skandals  im  Hause  ge- 
wesen.   Man  wird  ihn  einsperren  —  und  der  wagt 

3*o 


noch  anständige  Leute  zu  bewerfen  ...  So  geifert 
die  Pot-Bouille- Kritik  in  dem  großen  ehrsamen  Bür- 
gerhause, in  dem  jeder  neue  Morgen  in  keuscher  Sitt- 
lichkeit die  Skandale  der  Nacht  verzehrt. 

In  diesem  ironischen  Symbol  hat  Zola  frühzeitig  sei- 
nen literarischen  Weg  in  der  Bourgeoisie  gezeichnet. 
In  einem  geschlossenen  Wagen  ist  er  —  ein  reiner, 
tapferer  Mensch  —  unbekümmert  und  unberührt 
durch  das  Haustor  gefahren,  das  aus  dem  lasterhaften 
Heim  der  anständigen  Gesellschaft  hinausführte. 
Der  schmähende,  verleumdende  Haß  verfolgte  ihn, 
der  all  die  heimlichen  Sünden  in  die  Öffentlichkeit 
hinausgeschrien,  ein  Volksfeind,  der  Schriftsteller  des 
Kotes,  dessen  verdorbene  Phantasie  durchaus  nicht 
die  Fülle  der  edelsten  Tugenden  sehen  wollte,  den 
diese  bürgerliche  Welt  beseelen.  Dann  freilich,  als 
der  Name  Emile  Zolas  zu  stolzem  Klange  gedieh, 
der  die  Welt  zur  Ehrfurcht  zwang,  empfanden  es  die 
ehrlichen  Leute  von  Pot-Bouille  als  eine  große  Ehre, 
den  berühmten  Mann  als  Mitbewohner  zu  haben. 
Sie  reckten  sich  die  Hälse  aus,  wenn  er  durch  den 
Torweg  fuhr  und  erwiesen  ihm  die  Ehre,  ihn  als  einen 
der  Ihrigen  zu  betrachten.  Sie  wären  selbst  bereit 
gewesen,  ihm  eine  Gedenktafel  über  dem  Torweg 
von  Pot-Bouille  zu  errichten:  „In  diesem  Hause 
wohnte  unser .  .  ."  Es  war  Emile  Zolas  größerer 
Ruhm,  daß  er  auch  in  diesen  gefährlichen  Zeiten  das 
Fenster  nicht  herunterließ  und  den  Wagenschlag  nicht 
öffnete.  Er  fuhr  seines  Weges  im  geschlossenen  Lan- 
dauer. Dennoch  blieb  er,  wie  durch  eine  magische 
Gewalt  gezwungen,  im  zweiten  Stockwerk  des  Hauses 
des  bürgerlichen  Pot-Bouille  wohnen,  in  das  er  nicht 
gehörte,  gegen  das  er  sich  absperrte  und  das  er  so  oft 
als  möglich  im  verschlossenen  Wagen  verließ.  Das 
ist  die  leise  Tragik  seines  Schicksals,  dessen  reiches 
Glück  seine  Tapferkeit  und  seine  Kraft  gehämmert. 


3" 


II. 

Nichts  ist  bewunderungswürdiger  an  Emile  Zolas 
Persönlichkeit  als  seine  selbstbewußte,  eigensinnige, 
trotzige  Tapferkeit.  Der  Hausklatsch  von  Pot-Bouille 
hat  äußerlichen  Ehrgeiz  —  der  Ehrgeiz  ist  immer 
niedrig  und  meist  lächerlich  —  zur  Triebfeder  seines 
Mutes  gemacht.  Weil  ein  Kammerdiener  noch  nie- 
mals einen  großen  Menschen  kennen  gelernt  hat,  so 
ist  damit  nicht  jede  Menschengröße  ausgerottet.  Ohne 
das  heilige  Feuer  des  Missionars  ist  ein  Werk  wie  das 
Emile  Zolas  undenkbar.  Ein  Charakter,  dessen  stahl- 
harte Konsequenz  niemals  in  einem  Kompromiß  ge- 
strauchelt, der  frei  geblieben  ist  von  moralischen 
Ohnmachtsanfällen  und  Augenblicken  anpassender 
Schwäche,  den  weder  tolle  Wut  noch  blindes  Lob  zu 
verwirren  vermochte,  quillt  nicht  aus  den  kleinen 
Eitelkeiten  des  homo  phänomenon,  des  Kammerdiener- 
menschen, er  empfängt  vielmehr  seine  Würde  und 
Stärke  vom  homo  noumenon,  dem  Menschen  des 
Geistes,  dessen  Entwicklung  den  Fortschritt  der  Kultur 
bedeutet. 

Als  Zola  im  Jahre  1877  als  siebenten  Band  seines 
Rougon-Macquart-Zyklus  den  Totschläger  (L'Assom- 
moir)  veröffentlichte,  der  zu  seinen  schwächeren  Wer- 
ken gehört,  wiederholte  sich  in  verstärktem  Maße  die 
öffentliche  Entrüstung,  wie  schon  seine  Therese  Ra- 
quin  —  ein  Zola  vor  Zola  —  entfesselt  hatte.  In 
der  Vorrede  der  Buchausgabe  erwiderte  er  auf  diese 
Angriffe:  „Ich  habe  dieses  Buch  geschrieben,  wie  ich 
die  anderen  schreiben  werde,  ohne  auch  nur  einen 
Augenblick  von  dem  vorgezeichneten  Wege  abzu- 
weichen. Hierin  beruht  meine  Kraft.  Ich  habe  ein 
Ziel,  das  ich  verfolge.*'  Dann  spricht  Zola  von  seinen 
schriftstellerischen  Absichten:  „Ich  habe  den  ver- 
hängnisvollen Verfall  einer  Arbeiterfamilie  in  dem 
verpesteten  Innern  der  Vorstädte  schildern  wollen. 
Trunksucht  und  Müßiggang  löst  schließlich  die  Fa- 

312 


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milie  auf,  sie  sinkt  in  den  Schmutz,  jedes  sittliche 
Gefühl  stirbt  ab  und  das  lösende  Ende  ist  Schmach 
und  Tod.  Das  ist  ganz  einfach  Handlung  gewordene 
Moral.  L'Assommoir  ist  zweifellos  das  keuscheste  mei- 
ner Bücher  .  .  .  Die  Form  allein  wirkt  verwirrend. 
Man  hat  an  der  Ausdrucksweise  Anstoß  genommen. 
Mein  Verbrechen  ist,  daß  ich  den  literarischen  Ehr- 
geiz hatte,  die  Sprache  des  Volkes  aufzufangen  und 
künstlerisch  zu  meistern  .  .  .  Niemand  scheint  ge- 
ahnt zu  haben,  daß  meine  Absicht  die  Arbeit  eines 
Philologen  war,  die,  wie  ich  meinte,  ein  lebhaftes 
historisches  und  soziales  Interesse  finden  müßte.  Im 
übrigen  verteidige  ich  mich  nicht.  Mein  Werk  wird 
mich  verteidigen.  Es  ist  ein  Werk  der  Wahrheit: 
Der  erste  Roman  über  das  Volk,  der  nicht 
lügt,  aus  dem  das  Volk  selber  spricht.  Man  darf  aus 
meinem  Buche  nicht  schließen,  daß  das  ganze  Volk 
schlecht  sei;  denn  meine  Personen  sind  nicht  schlecht, 
sie  sind  nur  unwissend  und  verderbt  durch  ihr  Lebens- 
schicksal, das  zwischen  harter  Arbeit  und  bejammerns- 
wertem Elend  wechselt.  Lesen,  verstehen,  im  Zu- 
sammenhang erfassen  müßte  man  meine  Romane,  ehe 
man  schon  fertige,  ungeheuerliche,  abscheuliche  Ur- 
teile über  meine  Person  und  meine  Werke  in  die  Welt 
setzt  .  .  .  Wenn  man  wüßte,  was  dieser  Blutmensch, 
dieser  wilde  Romanschreiber  für  ein  würdiger  Bürger 
ist,  ein  Mann  der  Wissenschaft  und  Kunst,  der  allein 
dahin  strebt,  ein  Werk  zu  hinterlassen,  so  groß  und 
lebendig,  wie  seine  Kraft  ihm  nur  gestattet.  Ich  will 
keine  Märchen  widerlegen.  Ich  arbeite  und  verlasse 
mich  auf  die  Vernunft  des  Publikums,  das  mich  schließ- 
lich doch  hervorziehen  wird  aus  dem  Schutt  von 
Narrheit  und  Torheit,  unter  dem  man  mich  begraben 
hat." 

In  diesen  Zeilen  lebt  das  ganze  Wesen  Zolas:  Man 
empört  sich  über  ihn,  er  beruft  sich  auf  die  Wahrheit 
und  die  Wissenschaft.  Interessiert  sich  nicht  auch  der 


313 


Sprachforscher  für  die  Gebilde  der  Sprache,  die  auf 
der  Gasse  geboren  wird  ?  Sollte  das  ein  Dichter  nicht 
dürfen  ?  Er  ist  unmoralisch,  weil  er  das  Laster  schil- 
dert? Welch  ein  Irrtum!  Die  Moral  selbst  gewinnt 
in  diesen  keuschen  Büchern  Gestalt.  Man  verleumdet 
ihn  ?  Nun  gut,  er  wird  arbeiten  und  seinen  Weg  gehen, 
den  er  sich  vorgezeichnet,  und  kein  Zweifel,  er  wird 
siegreich  sein  Ziel  erreichen. 

Er  siegte  denn  auch  in  der  Tat.  Aber  selbst  der 
Sieg  brachte  ihn  nicht  vom  Wege  ab.  Auf  dem  Höhe- 
punkt seines  Schaffens  barst  der  Katholizismus  und 
warf  ein  Geschling  neuer  literarischer  Werke  aus: 
der  Markt  wurde  erfüllt  von  Narrengauklern  und 
Satanstollen;  ätherische  verzückte  Seelchen  führten 
geile  Bauchtänze  auf,  Farbenräusche  des  Unsinns, 
fromme  Absynthschwärmereien  drangen  in  die  Litera- 
tur, Spiritisten,  Okkultisten,  Symbolisten  haschten  die 
feurigen  Ratten  ihrer  müßigen,  aufgepeitschten  Ein- 
bildung, die  Erschöpften  schnitten  mit  feinen  Messer- 
chen in  ihre  siechen  Gefühlchen,  und  die  Kunstgigerl 
scheuchten,  mit  parfümierten  Taschentüchern  schla- 
gend, die  brutale  Kraft  des  Lebens  von  sich  und 
schwammen  in  dem  violetten,  müden  Urduft  unsäg- 
licher Gefühlsverfeinerung.  Zola  aber  blieb  auf  der 
Erde,  fest  und  stämmig,  er  lachte  des  ärmlichen 
Narrentreibens,  verkündete  gegenüber  den  klerikalen 
Gehirnfinten  des  Nichtwissens  und  Nicht wissenkön- 
nens  die  Wissenschaft  und  die  Arbeit,  ein  Mann,  ge- 
fügt aus  dem  Kernholz  der  großen  Aufklärer,  die  in 
der  Kulturtradition  der  Menschheit  lebten  und  schu- 
fen das  barbarische  Genie,  das  mit  Axthieben  das 
neue  Jahrhundert  bahnt. 

Zola  ist  kein  Vertreter  der  Kunst  um  der  Kunst 
willen.  Zwar  kämpft  er  in  L'Oeuvre,  dem  erschüttern- 
den Roman  des  Künstlcrmartyriums,  für  die  neue 
revolutionäre  Generation,  die  vom  Hohn  des  Publi- 
kums gestäupt  wird,  weil  sie  gegen  die  stumpfe  Ge- 

* 

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wohnheit  Neues  sieht  und  gestaltet.  Aber  das  war 
auch  lediglich  die  Proklamation  von  Natur  und  Wahr- 
heit gegen  eine  matte  Afterkunst,  die  sich  in  ihr  Atelier 
sperrte.  „Das  Volk  bedarf  der  Schönheit,  um  körper- 
lich vollkommen  und  guten  Herzens  zu  werden.  Nur 
ein  Volk,  dessen  Geist  frei,  dessen  Seele  harmonisch 
ist,  kann  ein  zufriedenes  Volk  sein.  Alles  in  der  Um- 
gebung der  Menschen,  alles  in  ihren  Heimstätten  muß 
ihnen  die  Schönheit  vor  Augen  führen,  und  besonders 
die  Gegenstände  täglichen  Gebrauchs,  die  Gerät- 
schaften, die  Möbel,  die  ganze  Einrichtung  des  Hauses. 
Der  Glaube  an  die  Exklusivität,  an  den  Aristokratis- 
mus der  Kunst  ist  töricht,  die  umfassendste,  die  all- 
gemeinste, die  menschlichste  Kunst  kann  allein  das 
Leben  erweitern  und  verschönern.  Wenn  das  Kunst- 
werk allen  zugänglich  ist,  im  Hinblick  auf  alle  ge- 
schaffen wird,  dann  wird  erst  die  Kunst  eine  gewaltige 
Höhe  und  Weite  erreichen,  die  ganze  Unendlichkeit 
der  Wesen  und  Dinge  umfassen.  Denn  sie  entstammt 
der  Allgemeinheit,  sie  kommt  aus  dem  Innersten  der 
Menschheit  hervor,  und  das  unsterbliche  Kunstwerk, 
das  Jahrhunderte  überdauert,  ist  das  Produkt  eines 
ganzen  Volkes,  das  Ergebnis  einer  Epoche  und  einer 
Zivilisation.  Aus  dem  Volke  heraus  blüht  die  Kunst, 
um  sein  Dasein  zu  verschönern,  um  ihm  Duft  und 
Farbe  zu  verleihen,  die  zum  Leben  so  nötig  sind  wie 
das  tägliche  Brot." 

So  kündet  der  Evangelist  der  „Arbeit4*! 

III. 

Zolas  Lebenswerk  ist  die  Schilderung  eines  unge- 
heuren gesellschaftlichen  Zusammenbruchs.  Er  ist  der 
Kulturhistoriker,  Geograph,  Geologe  und  Prophet  einer 
Teufelsinsel,  die  in  einem  vulkanischen  Wirbel  ver- 
schlungen wird.  Er  ist  der  Jesaias  einer  kosmischen 
Katastrophe,  in  der  ein  Reich  strahlender  Fäulnis 
untergeht. 


315 


Als  der  Dichter  1869  den  Riesenplan  seines  zwanzig- 
bändigen  Rougon-Macquart-Epos  entwarf,  spürte  er 
bereits  die  Zuckungen  des  Erdbebens.  Dann  kam 
Sedan  und  der  Kommuneaufstand,  und  damit  be- 
stätigte die  Geschichte  selbst  seinen  voraneilenden 
Plan:  Das  zweite  Kaiserreich,  das  mit  dem  Staats- 
streich des  kleinen  Napoleon  begann  und  in  dem 
brennenden  Paris  seine  Feuerbestattung  fand,  erwuchs 
in  dem  Kyklopenbau  der  zwanzig  Romane.  Ein  neuerer, 
verheißender  Epilog  —  Doktor  Pascal  — ,  der  den 
Triumph  der  Wissenschaft  verkündet,  klingt  der 
Höllenfahrt  durchs  zweite  Kaiserreich  nach  —  ein 
Holüberruf  zu  sonnigem  Gestade  erlösten  Lebens. 

An  der  unerreichten  Kühnheit  des  Entwurfes  klirrt 
hemmend  die  Kette  einer  falschen  Doktrin.  Das 
Schicksal  der  Zeit  verkörpert  sich  in  einer  verschlun- 
genen Familiengeschichte.  Aus  einer  Buhlschaft  zwi- 
schen Wahnsinn  und  Verbrechen  ist  eine  Horde  ent- 
setzlicher Menschen  entstanden,  Erzväter  der  Hölle, 
eine  Schreckensgalerie  der  Entartung.  Sie  sind  die 
geheimen  Elemente,  die  den  Boden  unterwühlen,  in 
dem  das  Kaiserreich  zugrunde  geht  —  nichts  hinter- 
lassend als  den  Pestgeruch  faulenden  Menschen flei- 
sches.  So  verwandelt  sich  die  strenge  Kausalität  einer 
politisch,  ökonomisch,  psychologisch  zu  erfassenden 
Zeitentwicklung  in  ein  dunkles  Blutfatum.  Die  un- 
heimliche Ahnfrau  geht  um  und  die  Sünden  der  Väter 
werden  heimgesucht  an  Kindern  und  Kindeskindern. 
Statt  des  werdenden  Verbrechers  tritt  der  geborene 
Verbrecher  auf  den  Schauplatz.  Alles  ist  bestimmt 
in  des  Teufels  Rat,  der  in  einer  Stunde  besonderen 
Teufeltums  de/i  Wahnsinn  mit  dem  Verbrechen  kup- 
pelte. Es  gibt  kein  Entrinnen.  Das  Armesünderglöck- 
lein  läutet  heimlich  schon  bei  der  Geburt. 

Zola  selbst  aber  zerrt  unablässig  an  dem  Strange 
seiner  Doktrin,  die  seinem  ganzen  Wollen  widerstrebt. 
Er  sucht  ihr  zu  entschlüpfen,  in  die  Freiheit  zu  flüch- 

316 


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1 


ten.  Die  Miene  des  kalten  Wissenschaftlers,  der  ein- 
fach ausspricht,  was  ist  und  sein  muß,  ist  nicht  echt. 
Seine  nüchterne  Sachlichkeit  ist  nur  eine  Notlüge. 
Der  wachsende  Kampf  gegen  das  Phantom,  an  das  er 
sich  selbst  geschmiedet  hatte,  ist  die  Geschichte  seiner 
Entwicklung. 

Freilich  gewinnt  durch  diese  Unentrinnbarkeit  die 
Schicksalstragödie  der  Rougon-Macquart  jenen  dämo- 
nischen Zug  einer  gigantischen  Gestalt,  der  alles 
Menschliche  unterliegen  muß.  Zwischen  dem  Anfang 
und  dem  Ende  glimmt  die  Zündschnur,  die  unab- 
lässig und  unvermeidlich  die  Explosion  nähert.  Wir 
sehen  das  Unheil  nahen,  aber,  wie  durch  eine  Traum - 
angst  gebannt,  vermag  niemand  den  Funken  zu  zer- 
treten. 

In  den  Bänden  der  Rougon-Macquart  rast  die  wilde 
Jagd  des  Kaiserreichs,  von  blutigen  Feuer  branden 
flackernd  beleuchtet,  atemlos  vorüber.  Zola  hat  dieser 
Zeit  kein  unsagbares  Wort  und  keine  greuelvolle  Un- 
tat erspart.  Sein  gellendes  j'accuse  —  ich  klage  an  — 
stößt  die  Türen  der  kerzenstrahlenden  Schlösser  ein, 
es  durchstürmt  die  Höhlen  des  Lasters,  es  erweckt 
die  Sittenerschlaffung  des  Parlaments  und  der  Presse, 
es  reißt  die  Lustkranken  aus  Nanas  Lotterbett,  es 
lüftet  die  verschwiegenen  Vorhänge  des  bürgerlichen 
Doppellebens,  es  übertönt  den  Orgelklang  der  Kirche, 
überschreit  den  Lärm  des  orgiastisch  feilschen  Börsen- 
piraten, es  stäubt  den  Puder  von  den  Kulissen, 
die  Bordelle  decken,  es  klirrt  hinter  dem  Pflug,  der 
alle  Menschlichkeit  mit  der  Scholle  zerwühlt,  es  reizt 
den  Hunger,  der  mitten  in  prassender  Fülle  leidet, 
es  trauert  zornig  bei  dem  schuldlosen  Verbrecher, 
es  läutet  den  unter  Tage  Fronenden  die  Stunde  der 
Vergeltung  und  der  Hoffnung,  und  es  stöhnt  aus  dem 
Blutvergießen,  in  dem  die  Völker  einander  morden. 
Ich  klage  an  —  ich  klage  an  —  ich  klage  an! 

Jeder  Roman  hat  sein  besonderes  Stoffgebiet,  einen 

3i7 


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besonderen  Duft,  es  sind  Symptome  des  Verderbens, 
jedes  in  einer  anderen  Tonart.  L'Assommoir  ist  über- 
strömt von  Fuselduft  und  dem  Dunste  der  Wasch- 
küche. Nana  ist  eine  unendliche  Nacht  käuflicher 
Brunst,  das  Himmelbett  der  Dirne  steht  im  Mittel- 
punkt der  Erde,  und  wenn  die  Sonne  sinkt,  strömen 
die  Völker  zu  diesem  Götzenkult  der  unfruchtbaren 
Astarte.  Germinal  ist  das  Reich  des  im  Kohlenstaub 
erstickten  Lichtes,  in  dem  lebende  Automaten  der 
Arbeit  erbarmungslos  verwittern.  In  L'Argent  de- 
liriert das  Goldfieber,  die  Wollust  der  Spekulation. 
Der  Wahnsinn,  der  mordet,  wenn  er  liebt,  brütet  in 
La  Bete  humaine.  Ein  furchtbarer  Blutstrom  ergießt 
sich  über  den  Roman  des  deutsch-französischen  Krie- 
ges (D6bacle),  ein  Meer  von  Blut,  das  dann  gleichsam 
in  die  Flammen  sich  wandelt,  die  über  Paris  zusam- 
menschlagen. Dazwischen  taucht  die  wunderbare 
Welt  des  Eßbaren  auf,  die  in  den  Markthallen,  dem 
„Bauch  von  Paris",  sich  türmt.  Das  Warenhaus 
breitet  seinen  unerschöpflichen  Weibertand  —  au 
bonheur  des  Dames  — ,  das  die  Hirnchen  der  Bourgeois- 
damen trunken  macht  und  nebenbei  die  bescheidene 
Biederkeit  des  kleinen  Krämers  verwüstet  .  .  . 

Ist  der  Rougon-Macquart-Zyklus  die  Hölle  des 
großen  Menschheits Werkes  Zolas,  so  darf  man  die 
Trilogie  der  drei  Städte  —  Lourdes,  Rom,  Paris 
—  als  das  Fegefeuer  bezeichnen,  in  dem  sich  die  finstere 
Verzweiflung  des  „Materialisten**  an  dieser  fatalisti- 
schen Welt  von  Zucker  und  Vitriol,  das  heißt  von 
Tugend  und  Laster,  zur  neuen  Weltanschauung  der 
geistigen  und  sozialen  Befreiung  läutert.  Der  Uni- 
versalpakt des  Klerikalismus  wird  in  den  drei  Städten 
geschildert.  Der  zweifelnde  Priester  Pierre  pilgert 
nach  Lourdes,  wo  in  den  Wunderwässern  die  Haut- 
fetzen  des  Krüppel  und  Bresthaften  schwimmen. 
Kann  die  Menschheit  durch  Rückkehr  zu  dem  naiven 
Kindcrglauben  genesen,  der  von  Quellen,  Steinen, 

318 


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Puppen  Erlösung  von  ihrem  Jammer  hofft  ?  Lourdes 
antwortet:  Nein.  In  Rom  ringt  Pierre  mit  dem 
Traume  eines  verjüngten  Reformkatholizismus,  der 
sich  mit  der  Wissenschaft  und  der  Demokratie  aus- 
söhnt. Zola  hat  hier  jene  neueren  Anpassungsversuche 
der  Kirche  dargestellt,  die  selbst  mit  dem  Atheismus 
paktieren  würde,  wenn  sie  nur  so  die  Macht  zu  be- 
haupten vermöchte.  Pierre  kehrt  nach  Paris  zurück: 
Welch  lächerliche  Einbildung,  daß  ein  neuer  Katholi- 
zismus die  Religion  der  Demokratie,  das  geläuterte, 
menschliche  und  lebende  Evangelium  predigen  werde. 
Ein  letzter  Trostgedanke  bleibt  ihm;  eines  ist  wahr 
und  ewig  in  der  katholischen  Religion,  die  Nächsten- 
liebe, die  Caritas.  In  Paris  bricht  auch  dieser  Wahn 
zusammen.  „Genügt  nicht/4  ruft  Pierre  verzweifelnd 
aus,  „ein  vor  Kälte  und  Hunger  gestorbener  Greis, 
um  das  Gerüst  einer  auf  Almosen  erbauten  Gesell- 
schaft zusammenbrechen  zu  lassen  ?  Ein  einziges  Op- 
fer, und  diese  Gesellschaft  war  verurteilt."  Diese 
beleidigende  und  listige  Barmherzigkeit  der  wohl- 
tätigen Bourgeoisie  ist  in  Wahrheit  der  Bankrott  der 
Nächstenliebe:  „Die  Nächstenliebe  wird  zusammen- 
brechen ;  die  Armen  glauben  nicht  mehr  an  sie,  erbosen 
sich  über  dies  lügnerische  Paradies,  dessen  Verheißung 
ihre  Geduld  so  lange  aufrecht  hielt,  fordern,  daß 
man  sie  wegen  der  Regelung  ihres  Glücksanteils  nicht 
auf  den  Morgen  nach  dem  Begrabenwerden  vertröste. 
Ein  Schrei  nach  Gerechtigkeit  steigt  von  allen  Lippen 
auf  —  Gerechtigkeit  auf  dieser  Erde,  Gerechtigkeit 
für  die,  die  hungern  und  dürsten,  denen  zu  helfen  die 
Barmherzigkeit  seit  den  achtzehn  Jahrhunderten  des 
Evangeliums  überdrüssig  ist,  die  noch  immer  kein 
Brot  zu  essen  haben!"  Und  der  abtrünnige  Priester 
schreibt  dem  Katholizismus  die  Grabschrift:  „Wie 
wird  man  in  tausend  Jahren,  wenn  der  Katholizismus 
nur  mehr  ein  uralter,  toter  Aberglaube  sein  wird,  wie 
wird  man  staunen,  daß  die  Ahnen  diese  Religion  der 


319 


Qual  und  des  Nichts  ertragen  konnten:  Gott  ist  ein 
Henker,  der  Mensch  wird  entmannt,  bedroht,  gefol- 
tert, die  Natur  für  eine  Feindin  erklärt,  das  Leben 
verflucht,  der  Tod  allein  gilt  als  süß  und  befreiend! 
Zweitausend  Jahre  lang  wurde  das  Vorwärtsschreiten 
der  Menschheit  von  der  abscheulichen  Idee  ge- 
hemmt, daß  man  dem  Menschen  alles  entreißen  müsse, 
was  er  Menschliches  besitzt:  Wünsche,  Leidenschaf- 
ten, den  freien  Geist,  den  Willen,  die  Tat,  seine  ganze 
Kraft.  Welch  ein  freudiges  Erwachen  wird  es  sein, 
wenn  die  Jungfräulichkeit  verachtet,  die  Fruchtbar- 
keit wieder  eine  Tugend  werden  wird,  wenn  im 
Hosianna  der  befreiten  Naturkräfte  die  Wünsche 
geehrt,  die  Leidenschaft  nutzbar  gemacht,  die  Arbeit 
emporgehoben,  das  Leben  geliebt  werden  und  die 
ewige  Schöpfung  der  Liebe  zeugen  wird." 

Die  neue  Religion  des  gottlosen  Priesters  Pierre 
wird  in  dem  letzten  Romanzyklus  Zolas,  den  vier 
Evangelien,  gestaltet.  Wir  steigen  aus  dem  Fegefeuer 
zum  Paradies  empor:  die  Befreiung  der  Liebe  zur 
Fruchtbarkeit,  die  Befreiung  der  Arbeit  in  der 
sozialen  Gesellschaft,  die  Befreiung  der  Wahrheit 
im  Staate  der  Gerechtigkeit. 

Das  vierte  Evangelium,  die  Gerechtigkeit,  hat 
Zola  in  den  Tod  mitgenommen. 

IV. 

Schon  im  Laufe  der  Rougon-Macquart- Romane 
nahm  das  lehrhafte  Element  zu.  Die  älteren  Werke 
begnügen  sich  mit  den  grausamen  Tatsachen,  den 
furchtbaren  Kontrasten,  aus  denen  der  Funke  einer 
unausgesprochenen  Moral  sich  entzündet.  Später 
gipfeln  die  Dichtungen  in  Apotheosen  der  Sehnsucht, 
in  leuchtenden  Weissagungen,  in  phantastischen  Fie- 
bergesichten. Durch  all  den  Kot  schreitet  ein  Be- 
freier, der  den  Chorus  darstellt.  In  den  drei  anti- 
klerikalen Romanen  tritt  die  Tendenz  schon  herr- 

320 


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sehend  hervor,  in  den  vier  Evangelien  überwuchert 
sie  die  realistische  Handlung  und  verdichtet  sich  zur 
Utopie,  zum  Zukunftsbild. 

Aber  wenn  auch  Zola  nicht  dichtete,  um  zu  fabu- 
lieren, sondern  um  zu  kämpfen  und  zu  bilden,  so 
bedeutet  das  keineswegs  eine  Minderung  seiner  Kunst  - 
lerkraft.  Es  ist  eine  verzärtelte,  unwahre  Artisten - 
ästhetik,  die  Wissenschaft  und  Ethik  aus  der  Kunst 
aussperren  will.  Kunst  ist  in  ihrem  innersten  Wesen 
nichts  anderes  als  die  Vereinigung  wissenschaftlicher 
Erkenntnis  und  idealen  Wollens  in  der  freien,  gestal- 
tenden, sinnlich -anschaulichen,  phantasiemächtigen 
Lösung  des  Gefühls. 

Die  Wahrheit  ist,  daß  Zoias  Kunst  durch  seine 
Tendenz  erhöht  und  geadelt  worden  ist  und  ihr  über 
manche  Ebbe  der  ursprünglichen  schöpferischen  Ge- 
walt, dieindenletzten  Werken  nachließ,  tragendhinweg- 
half. Seine  Werke  sind  Dichtungen  größten  Stiles,  obzwar 
sie  zugleich  Traktate,  Weltpredigten  sind  und  sein  sollen . 

Zwar  ein  Menschenbildner  und  Seelenkünder  ist 
Zola  nicht.  Nur  die  grell  beleuchteten  Episoden- 
figuren werden  lebendig.  Sonst  wachsen  ihm  durch 
Vereinfachung  des  Mannigfaltigen  und  Herausarbei- 
tung typischer  Züge  die  Gestalten  ins  starr  Symbo- 
lische. Er  gibt  nur  den  Kehrreim  statt  des  ganzen 
Gedichtes,  das  besondere  Kennzeichen  statt  des  Por- 
träts. Und  seine  Philosophie  ist  geradlinig,  allzu  ty- 
pisch, allzu  elementar. 

Aber  das  Massendasein  dieser  bunten  Zeit,  die  Le- 
bensäußerungen der  Kultur,  das  Stimmungsbild  der 
Landschaft,  die  Abgründe  der  menschlichen  Gesell- 
schaft, die  Verruchtheit  der  Institutionen,  der  ganze 
wahnsinnige,  verbrecherische  Cancan  um  Gold  und 
Fleisch,  die  großen  Leidenschaften  und  die  bestiali- 
schen Begierden,  die  stolzen  Schöpfungen  der  mensch- 
lichen Vernunft  und  die  Kontraste  der  Barbarei  — 
all  das  verdichtet  sich  zu  tiefen  und  starken  Gebilden 


ai    Kitner,  Gewnmeltc  Schriften.  II. 


von  unerreichter  Kraft  der  Anschauung.  Zola  hat 
das  Seelenleben  der  Stadt  Paris  bis  in  die  feinsten 
Zuckungen  und  Regungen  belauscht  und  dargestellt, 
dieses  Paris,  das  in  Abendnebeln  fröstelt,  in  Regen- 
schlamm ertrinkt,  in  der  Mittagssonne  des  knospenden 
Mai  jubelt,  das  in  den  Wollustschauern  der  Mitter- 
nacht fiebert,  Paris,  das  hungert  und  praßt,  friert  und 
schwelgt,  spielt  und  tanzt,  das  in  Schmerzen  sicli 
krümmt  und  im  Rausche  torkelt,  dies  Paris  der  Spe- 
lunken und  Paläste,  der  Dirnen  und  Abenteurer,  der 
Spitäler  und  Asyle,  der  frommen  Messen  und  scham- 
losen Obszönitäten,  des  stillen  glücklichen  Friedens 
und  der  lärmenden  Sensationen,  dies  Paris  der  Kunst 
und  der  Reklame,  der  Wissenschaft  und  der  korrupten 
Lüge,  der  ernsten  Arbeit  und  des  müßigen  Schwin- 
dels, dies  Paris,  das  seine  Sünden  und  Frevel  in  der 
brennenden  Sturmflut  der  Kommune  büßt. 

Alle  Werke  Zolas  sind  erfüllt- von  solchen  gran- 
diosen Stimmungsgemälden,  die  das  Sprödeste  selbst 
zu  bändigen  wissen.  Hätte  Zola  nur  Germinal  und  D6- 
b&cle  geschrieben,  er  gehörte  unter  die  Ewigen  der 
Kunst.  Namentlich  in  den  Kriegsschilderungcn  ent- 
faltet er  eine  unerreichte  visionäre  Wucht  des  Grauen- 
haften, das  von  Entsetzen  zu  Entsetzen  steigernd  jagt : 
die  Erstürmung  von  Bazeille,  der  Marsch  durch  den 
granatenbesäeten  Wald,  die  Szene  im  Lazarett,  die 
Schrecken  im  „Lager  des  Elends",  der  Brand  von 
Paris  —  niemals  haben  bloße  Worte  so  Ungeheures 
gestaltet.  Freilich,  das  sind  nicht  die  Kriegsbilder, 
wie  sie  in  den  Nationalgalerien  hängen.  Der  Krieg 
ist  keine  Komposition  von  Heldenmut,  Patriotismus 
tiefsinniger  strategischer  Mathematik,  welthistorischer 
Mission,  blanken  Uniformknöpfen,  leuchtenden  Fah- 
nen, so  ein  heroisches  Schaustück,  auf  dem  die  paar 
Blutstropfen  nur  den  Zweck  dekorativer  Farben  Wirkung 
erfüllen  sollen.  Hier  lebt  das  entfesselte  Kannibalen- 
tum,  der  Raubtierwahnsinn,  der  sich  im  Blute  besäuft. 

322 


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Das  gehört  zu  der  Tapferkeit  und  zu  der  aufrichti- 
gen Künstlerschaft  Zolas,  daß  er  dem  Schrecken  nie- 
mals einen  Hauch  seiner  Fruchtbarkeit  genommen 
hat.  Die  Laster,  die  Zola  darstellt,  locken  nicht,  die 
Verbrechen  reizen  nicht.  Die  Armut  hat  keine  An- 
mut. Der  ganze  Ingrimm  der  verratenen  und  ge 
schändeten  Humanität  beruht  in  den  erbarmungslosen 
Bildern  des  Grausens  und  Ekels.  Könnten  Bücher 
mit  der  ganzen  Kraft  ihres  Wesens  die  Welt  umbil- 
den, es  gäbe  nach  L'Assommoir  keinen  Trunkenbold 
mehr,  nach  Nana  keine  Prostitution,  nach  Germinal 
keine  Ausbeutung,  nach  Deb&cle  keinen  Krieg,  nach 
Lourdes  keinen  Klerikalismus,  nach  Fecondite*  keinen 
Liebesverrat  mehr.  Zola  hat  die  Welt  der  kapitalisti- 
schen Barbarei  entblößt  und  zertrümmert,  aber  diese 
Welt  lebt  noch  immer  —  ein  Denkmal  der  Ohnmacht 
alles  Kunstwollens,  schüfe  es  selbst  mit  Gigantenfaust . 

V. 

Nicht  die  Tendenz  an  sich  hat  Zolas  Kunst  ge- 
schwächt, sondern  die  schwankende  Unklarheit  seiner 
Tendenz.  Der  Irrtum  seiner  ursprünglichen  Doktrin, 
die  in  einem  trüben  Blutaberglauben  der  Vererbung 
wurzelt,  bildet  die  Schranke  zwischen  dem  Dichter 
und  der  lebendigen  Entwicklung,  in  die  er  nur  einmal 
—  in  der  Dreyfusaffäre  —  unmittelbar  handelnd  ein- 
griff. Die  Geschichte  der  nie  völlig  überwindenden 
Loslösung  von  dem  Irrtum  seines  Anfanges  ist  zu- 
gleich  die  Geschichte  seines  Sozialismus,  zu  dem  er 
nie  in  ein  klares,  sicheres  Verhältnis  kam. 

In  L'Assommoir  ist  Zola  noch  völlig  in  physiolo- 
gischem Determinismus  befangen.  Es  ist  eigentlich 
nur  ein  dummer  Zufall,  daß  dieser  Coupeau  Alkoho- 
liker wurde  und  im  Delirium  umkam.  Hätte  er  nicht 
einen  Unfall  erlitten,  so  wäre  er  vermutlich  ein  ordent- 
licher Mensch  geblieben,  dem  selbst  die  lauernde  Erb- 
sünde nichts  anhaben  konnte,  und  seine  Tochter 


323 


Nana  wäre,  ordentlich  erzogen,  nicht  die  furchtbare 
Dirne  geworden,  die  ganz  Frankreich  vergiftete  und 
die  verdorbene  Nation  nach  Sedan  führte.  Ein  Bau- 
unfall  wird  so  zum  Motor  der  ganzen  erblichen  Ent- 
artung eines  dem  Untergang  verfallenen  Geschlechtes. 

In  Germinal  ist  schon  nichts  mehr  von  dieser  ober- 
flächlichen Strategie  des  Zufalls,  der  das  Schicksal 
regiert.   Aus  den  Tiefen  der  Gesellschaft  und  ihrer 
widersinnigen  Struktur  selbst  wächst  das  Elend.  Und 
in  den  hymnischen  Schlußworten,  die  das  Herz  des 
internationalen  Proletariats  zuerst  dem  Dichter  ge 
wannen,  klingt  es  fast  wie  das  Bekenntnis  zum  mo- 
dernen Sozialismus:  nichts  mehr  von  unüberlegten, 
wilden  Putschen,  man  wird  sich  still  und  stet  organi 
sieren,  die  Arbeiterklasse  zu  einem  gewaltig  anschwel- 
lenden Heere  formieren,  das  die  politische  Macht  er 
obert  und  dann  an  die  Arbeit  gehen  kann,  um  die 
Welt  umzugestalten. 

Einen  merkwürdigen  Rückschritt  bedeutet  wieder 
L'Argent.  Die  einzige  anständige  Figur  in  diesem 
Hexensabbat  des  Gründungsschwindels  ist  ein  armer 
schwindsüchtiger  Jude,  der  in  einer  Dachstube  haust 
und  Marx  studiert.  Er  arbeitet  an  einem  Werke,  in 
dem  er  die  Baupläne  für  den  sozialistischen  Zukunfts- 
Staat  ziffernmäßig  genau  entwirft.  In  dem  Zusam- 
menbruch der  Börsenpanik  stirbt  er,  in  den  Fieber  - 
gluten  seiner  letzten  Stunden  phantasiert  er  Marx, 
freilich  einen  bis  zur  Unkenntlichkeit  verstümmelten 
Marx.  Dennoch  kündet  er  die  sozialistische  Gesell- 
schaft und  in  solchen  Visionen  verklingt  der  Roman. 
Es  ist  zweifellos  keine  Verhöhnung  des  Sozialismus, 
wie  man  wohl  gemeint  hat.  Nicht  die  Umnachtung 
des  nahen  Todes,  sondern  das  ahnungsvolle  Hellsehen 
am  Rande  des  Grabes  kündet  —  nach  der  nicht  miß- 
zuverstehenden Absicht  Zolas  —  die  Zukunft.  Den- 
noch wird  der  Sozialismus  in  die  Zweideutigkeit  einer 
fiebernden  Träumerei  gebracht,  und  vor  allem,  was 

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schlimmer  ist,  er  erscheint  durchaus  unklar,  mystisch, 
verschwommen. 

Die  politische  Aktion  des  Proletariats  erscheint  am 
Schlüsse  von  De'b&cle.  Für  die  Kommune  wird  kein 
Wort  der  Sympathie  geäußert.  Im  Gegenteil:  der 
Aufstand  wird  als  eine  Folgekrankheit  des  Krieges 
erklärt,  als  eine  pathologische  Erscheinung  geschwäch- 
ter Hirne.  Um  kein  Mißverständnis  zu  erwecken: 
die  Kommune  wird  von  Zola  nicht  etwa  verurteilt, 
und  die  Schreckensherrschaft  der  Versailler  wird  keines- 
wegs geschont.  Aber  die  Revolution  wird  nicht  als 
historische  Notwendigkeit  aufgefaßt,  sondern  als  phy- 
siologischer Ausbruch  überreizter  Nerven. 

Endlich  in  den  drei  Städten  und  den  Evangelien 
bekennt  sich  Zola  unbedingt  zu  den  positiven  Idealen 
des  Sozialismus,  aber  nicht  zu  den  reifen  Formen  der 
modernen  Arbeiterbewegung.  Aus  der  Hölle  des  Ka- 
pitalismus rettet  der  Dichter  sich  in  das  Paradies 
Fouriers.  In  Paris  wird  die  lebendige  Sozialdemokratie 
nicht  gerade  sehr  sympathisch  behandelt.  Unter  leicht 
erkennbarer  Maske  wird  der  Führer  der  Marxisten 
bespöttelt.  Aber  in  den  utopischen  Schilderungen 
von  Travail  erkennt  Zola  doch  das  Endziel  des  So- 
zialismus an.  Die  Phalanxen  sind  nur  ein  Übergang, 
ein  Kompromiß,  ein  Zwischenspiel  bis  zur  endgültigen 
Vergesellschaftung  der  Produktionsmittel,  der  Be- 
seitigung der  Lohnarbeit  und  der  Errichtung  der 
sozialistischen  Gesellschaft.  Und  auch  die  Teilnahme 
an  den  politischen  Kämpfen  des  Tages  wird  nicht 
mehr  als  unnütz  und  verächtlich  verworfen. 

Zur  sozialistischen  Utopie  drängte  Zola  nicht  nur 
sein  Mangel  eines  durchgebildeten  Sozialismus,  nicht 
nur  die  künstlerische  Notwendigkeit,  die  erlöste  Zu- 
kunft in  unmittelbaren,  lebendigen  Kontrast  zur 
Gegenwart  zu  bringen,  sondern  auch  sein  Hang  zur 
Idylle.  Im  Grunde  hat  Zola  seit  jeher  einem  idylli- 
schen  Sozialismus  gehuldigt.    Er  erholte  sich  von 

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seinen  Wanderungen  durch  menschliches  Elend  in 
lichten,  himmelblauen,  zarten  Idyllen.  Neben  die 
unheimlichen  Kolosse  menschlicher  Tierheit  zeichnete 
er  gern  anmutige,  reine  Geschöpfe,  schlicht,  hingebend, 
tapfer,  opfermutig,  träumerisch,  denen  feines  Gold- 
haar  wie  ein  Heiligenschein  die  kindliche  Stirn  um- 
leuchtete. Paul  und  Virginie,  das  unvergängliche 
Liebespaar,  feierte  des  öfteren  seine  Auferstehung, 
und  Rousseaus  ewige  Sehnsucht  nach  der  einfältigen 
Größe  der  Natur  ruhte  tief  und  schwärmend  auf  dem 
Grunde  seiner  anklagenden  Modernität.  So  wird  sein 
utopischer  Sozialismus  eine  erweiterte  und  vergrößerte 
Idylle.  Paul  und  Virginie  umfangen  sich  jetzt  in  freier 
Liebe  und  verherrlichen  keuschen  Sinnes  die  Frucht 
barkeit.  Travail  strömt  über  von  derlei  holden  Idyllen. 
Die  schlichte  Naturstimmung  umströmt  nicht  mehr 
bloß  Hain  und  Bach,  Blume  und  Feld,  sie  quillt  über 
die  Riesenbauten  der  Industrie,  die  weiten  Magazine 
der  Genossenschaften,  die  Stätten  kommunistischer 
Erziehung.  Es  sind  Idyllen  mit  elektrischem  Betrieb, 
die  an  feuriger  Leidenschaft  die  Schwärmerei  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  übertreffen,  wie  das  Holz- 
feuer von  ehemals  überwunden  wird  durch  die  Glu- 
ten,  in  denen  man  Platin  schmilzt. 

Aber  dieses  idealistische  Erwecken  der  Sehnsucht 
ergänzt  notwendig  die  Größe  des  unbarmherzigen 
Kritikers  und  Anklägers.  In  der  Doppelgestalt  nur 
wird  er  würdig,  in  die  große  Befreierfamilie  aufgenom- 
men zu  werden,  die  Frankreich  der  Welt  geboren  hat. 
Auch  Zola  ist  ein  Enzyklopädist.  Er  gehört  zur  Rasse 
der  Voltaire  und  Rousseau,  wenn  er  auch  literarisch 
die  Kleidung  der  Balzac,  Flaubert  und  Hugo  trägt 
und  behauptet,  auf  die  Lehre  Taines  zu  schwören.  So 
ward  Zola  wie  der  Held  seiner  antiklerikalen  Trilogie  ein 
gottloser  Priester,  wie  alle  großen  Künstler  ein  Prophet, 
der  den  neuen  Himmel  und  die  neue  Erde  kündet. 

[1902.] 
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Strindberg  nach  der  Höllenfahrt, 

I. 

Scheiterhaufen. 

Das  Schicksal  klopft  an  die  Pforten.  Strindberg 
spricht!  Am  Ende  seines  Schaffens  sind  die  vier 
Kammerspiele  entstanden,  deren  eines  Der  Pelikan 
ist  (in  Scherings  deutscher  Übertragung  Der  Scheiter- 
haufen genannt).  Dramatische  Greisenmusik,  aus  der 
Tiefe  und  Stille  eines  langen  schweren  Lebens  ge- 
beichtet, zugleich  eine  geheimnisvoll  beklommene 
Zwiesprache  mit  den  unbekannten  Mächten  der  Ferne. 
Das  ist  die  Welt  von  Beethovens  letzten  Quartetten. 
Wie  im  Gesicht  des  Todes,  ganz  für  sich  selber  und 
darum  ganz  für  die  Ewigkeit  gesagt,  erklungen;  ja 
wie  von  jenseits  des  Grabes  her  letzte  Einsicht  kün- 
dend. 

Wer  ist  *in  Dichter  ?  Der  seiner  Zeit  den  Mythos 
zu  ersinnen  und  zu  gestalten  weiß,  in  der  Zusammen- 
drängung all  ihrer  Empfindungen  und  Gedanken,  in 
ihrer  Sprache,  ihren  Formen,  ihrem  Stoff.  Was  einem 
poctisierenden  Dilettanten  wie  Richard  Wagner  (als 
Textler  seiner  Musik)  mit  all  dem  grell  verwirrenden, 
geliehenen  Aufgebot  von  Göttern  und  Helden,  von 
Perücken  und  Stopfwaden  nicht  gelingt,  Strindberg 
läßt  es  erstehen  im  Zusammenklang  von  ein  paar 
menschlichen  Instrumenten,  in  den  Urworten  höchster, 
neusrrungener  Einfachheit,  in  den  Urgebilden  ganz 
gewöhnlicher  Vorgänge  unserer  Tage:  Götterdäm- 
merung! 

In  diesem  Scheiterhaufen-Drama  wird  sehr  eindring- 
lich gehandelt  von  Essen  und  Heizen,  von  ordentlicher 

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und  lügenhafter  Wirtschaftsführung,  von  schlechtem 
Brei,  Schulden,  Unterernährung.  Man  kann  sich 
sogar  belehren,  wie  Schneehühner  gebraten  werden 
müssen,  und  wie  man  sie  liederlich  verdirbt.  Zwei- 
mal erscheint  ein  Buch  auf  der  Bühne:  das  eine  Mal 
ein  juristisches  Lehrbuch,  aus  dem  ein  Student  für 
das  Examen  büffelt,  das  andere  Mal  ein  Kochbuch, 
aus  dem  eine  junge  Frau  sich  unterrichten  will,  wie 
man  wohlschmeckende  und  nahrhafte  Speisen  auf  den 
Tisch  bringt.  Dennoch  empfindet  man  keinen  Augen- 
blick, daß  sich  da  ein  Stück  enger  häuslicher  Misere 
vor  uns  abspielt,  irgendein  Familiendrama. 

Der  Mythus  einer  Welt  ersteht  vor  uns  — 
Götterdämmerung.  „Ich  kann  nie  mein  Examen 
machen  (stammelt  der  Student,  der  sein  Elend  und 
seinen  Hunger  im  Trunk  betäubt);  ich  glaube  nicht 
ans  Gerichtswesen;  die  Gesetze  scheinen  von  Dieben 
und  Mördern  geschrieben  zu  sein,  um  die  Schuldigen 
freizusprechen!  Ein  Wahrhaftiger  ist  nicht  beweis- 
fähig, aber  zwei  falsche  Zeugen  sind  voller  Beweis! 
Um  halb  zwölf  ist  meine  Sache  gerecht,  aber  nach 
zwölf  habe  ich  das  Recht  verloren.  Ein  Schreibfehler, 
eine  fehlende  Randbemerkung  kann  mich  unschuldig 
ins  Gefängnis  bringen!  Bin  ich  barmherzig  gegen 
einen  Schurken,  so  läßt  er  mich  wegen  Beleidigung 
bestrafen.  Meine  Verachtung  Leben,  Menschheit, 
Gesellschaft  und  mir  selber  gegenüber  ist  so  grenzen- 
los, daß  ich  mich  nicht  mehr  anstrengen  kann,  zu 
leben." 

Ein  Toter  ist  eben  aus  dem  Hause  getragen.  Es 
riecht  nach  Karbol  und  Kränzen.  In  den  durch- 
fröstelten Salon,  wo  breit  das  Ruhebett  mit  der  roten 
Plüschdecke  steht,  das  Sterbelager,  wehen  an  den  ge- 
öffneten Fenstern  die  Gardinen  und  blähen  sich,  als 
ob  sie  gespenstisch  lebten,  von  Geisterhauch  bewegt. 
In  dem  Schaukelstuhl,  der  sich  immer  von  selbst 
bewegt,  hat  der  Alte  gesessen,  dem  seine  Frau  das 

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Dasein  zerfraß.  Die  Witwe  döst  unruhig,  ein  schwarzer 
Unhold,  in  dem  vom  Tode  gezeichneten,  unberührten 
Zimmer.  Als  Schlafwandlerin  ist  sie  durchs  Leben 
gegangen.  Die  Frau  hat  nach  einem  furchtbaren 
Wort  des  Mannes,  das  jetzt  der  Sohn  ihr  ins  Gesicht 
schleudert,  früher  lügen  als  sprechen  gelernt.  Sie 
hat  in  unersättlicher  Lebensbegierde,  nie  aus  dem 
Wahn  ihrer  blind  tastenden  Natur  erwachend,  das 
Heim  zerstört,  den  Mann  betrogen,  die  Kinder  hun- 
gern und  frieren  lassen,  zuletzt  die  Tochter  dem 
eigenen  Galan  verkuppelt.  Aus  dem  frischen  Grabe, 
in  das  er  schweigend  gegangen,  steigt  nun  der  Tote 
hervor  —  Ankläger  und  Richter,  immer  unsichtbar, 
doch  von  Beginn  bis  zum  Ende  die  Szene  und  die 
Handlung  beherrschend.  Und  niemand  vermag  nach 
dieser  Enthüllung  mehr  zu  leben.  Der  Sohn  legt  Feuer 
in  der  Küche  an.  Es  gibt  kein  Entrinnen  mehr.  In 
panischem  Entsetzen,  als  Ausbruch  letzten  Lebens- 
willens, immer  noch  umhüllt  von  dem  Dunst  ihres 
Lügendaseins,  stürzt  sich  die  Frau  vom  Balkon  auf  die 
Straße.  Die  Geschwistet  aber  enden,  eng  umschlun- 
gen, vom  Rauch  betäubt  in  Visionen  eines  reineren, 
helleren  Daseins.  Jetzt  ist  es  warm  um  sie,  zum 
ersten  Male  brauchen  sie  nicht  zu  frieren.  Erinne- 
rungen wachen  ekstatisch  auf:  Weihnachtsabende,  an 
denen  man  sich  satt  essen  konnte.  Die  Totenkränzc 
des  Vaters  verbrennen,  und  das  Gesicht  seiner  ver- 
grämten, menschenhassenden  Güte  wird  lebendig. 
Der  Wäscheschrank  brennt,  es  riecht  nach  Lavendel 
und  Rosen.  Das  Küchenspind  brennt,  es  duftet  nach 
Tee  und  Kaffee,  nach  Zimt  und  Nelken.  Ist  es  nicht 
Sommer?  Die  Freiheit  der  Sommerferien ?  Ein 
frisch  gestrichener  weißer  Dampfer  liegt  im  Hafen 
und  wartet  auf  die  Kinder.  Jetzt  beginnen  die  Som- 
merferien. .  .  .  (Man  vergleiche  mit  den  aufwühlend 
betäubenden  Gesichten  dieser  Sterbenden  die  breit 
und  flach  zerrinnenden  Visionen  des  armen  Hannele 


329 


—  und  man  wird  Dichterwerte  zu  unterscheiden  ler- 
nen!) 

Es  ist  eine  zermalmende  Tragödie,  die  den  Atem 
des  Lebens  stocken  läßt  und  die  doch  voll  ist  von 
strömender  Sehnsucht  und  Freiheit.  Leise  klingt  aus 
irgendeinem  Zimmer  in  jeden  Akt  Musik.  Strindberg 
hat  vorgeschrieben,  was  man  hören  soll :  Ein  posthumes 
Impromptu  von  Chopin,  ein  Wiegenlied  von  Godard, 
ein  Walzer  von  Wolf-Ferrari.  Was  man  so  auf  dem 
Klavier  spielt,  ohne  zu  wissen,  daß  es  irgendwo  in 
der  Nachbarschaft  zu  phantastisch  schreckender  Ironie 
wird. 

[Februar  191 5.] 

II. 
Rausch. 

4 

Strindbergs  Rausch- Komödie  aus  dem  Jahre  1899 
ist  zerrissen  und  zerglüht  von  den  Inferno-Erinnerungen 
der  damals  überwundenen  Zeit  geistiger  Umnachtung. 

Eine  Komödie  —  dies  bannende  Spiel  nächtigen 
Grauens?  Bei  der  Aufführung  hatte  wohl  kaum 
einer  das  Gefühl,  im  Reich  der  Komödie  sich  zu  be- 
finden, und  der  sarkastisch-tiefsinnige,  jäh  sich  er- 
hellende Schluß-Dialog  —  Herkules  am  Scheide 
wege,  der  plötzlich  die  Lösung  findet,  daß  die  beiden 
Wege  ganz  gut  zusammenlaufen  können!  —  schien 
fast  wie  eine  unverständige  Heiterkeit,  die  der  Dichter 
mutwillig  in  sein  Stück  hineingedichtet,  als  ob  er 
die  Rolle  eines  unverständigen  Publikums,  das  bei 
den  letzten  Tiefen  einer  von  ihm  selbst  nie  erlebten 
Tragik  fassungslos  zu  lachen  pflegt,  seinem  Werke 
einverleiben  wollte. 

Dennoch  führen  die  acht  Bilder  des  Rausch-Dramas 
mit  Recht  die  Bezeichnung,  die  es  bei  der  Erstauffüh 
rung  vor  15  Jahren  trug:  Komödie!  Es  ist  die  Ein- 
gebung letzten  phantastischen  Humors,  die  mit  den 

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Mitteln  des  Wortes  und  der  Szene  erreicht,  was  bis- 
her nur  der  reinen  Instrumentalmusik  gelang. 

Ein  Schriftsteller  gewinnt  nach  einem  ganzen  Leben 
voll  Not,  Mißachtung  und  Verfolgung  einen  lärmen- 
den Bühnenerfolg.  Ganz  Paris  lebt  einen  Augenblick 
in  seinem  Namen.  Der  Sieger  aber  stürzt  sich,  be- 
rauscht, in  die  Arme  der  Verführerin,  vergißt  darüber 
den  Freund,  dessen  Geliebte  sie  war,  die  eigene  Ge- 
fährtin seiner  Not  und  sein  Kind.  Dies  Kind  stirbt 
plötzlich,  und  der  Dichter  gerät  in  den  Verdacht, 
der  Mörder  zu  sein.  Aus  der  Haft  wegen  mangelnder 
Beweise  frei  gelassen,  fällt  er  mit  seiner  Rausch-Ge- 
fährtin in  noch  tiefere  Erniedrigung:  sie  finden  sich 
in  dem  üppigsten  Restaurant  von  Paris,  ohne  einen 
Pfennig  Geld,  er  wie  ein  ertappter  Hochstapler,  sie 
von  einem  Sittenschutzmann  roh  bedroht,  unter 
Kontrolle  gestellt  zu  werden.  Schließlich  wendet  sich 
alles  zum  Guten.  Die  wirren  Beziehungen  lösen  sich. 
Der  Dichter  steigt  empor! 

Das  —  plump-inhaltlich  wiedergegeben  —  scheint 
stofflich  ein  derbes,  krasses,  gemeines  Kriminaldrama. 
Aber  der  äußere  Hergang  ist  gleichgültig  und  nichtig. 
Die  ganze  Welt  der  Erlebnisse,  Gefühle,  Stimmungen, 
Gedanken  unserer  Zeit  braust  in  ihm,  gebunden  an 
wirkliche  Pariser  Schauplätze  (mit  Dichteraugen  ge- 
sehen und  wiedergezaubert!)  und  an  wirkliche  Men- 
schen (in  ihrer  ganzen  Wirklichkeit  geschaut  und  ge- 
staltet!). Die  Nacht  spricht,  bloß  und  losgebunden, 
in  furchtbarer  Nacktheit  ihre  tiefsten  Geheimnisse 
aus.  Frevelnd  spielende  Gedanken  werden  Wirklich- 
keit, das  bewußtlos  verwegene  Wort  wird  Tat.  Die 
Menschen  ringen  miteinander  hüllenlos,  enthäutet, 
wie  im  blutig  verschlungenen  Krampf  bloßliegender 
Nerven.  Übermütige  Hirne  brüsten  sich  in  ihrem 
Wahn.  Arme  Seelen  verzittern  in  Pein.  Die  Sinne 
brennen  purpurn  in  die  Nacht,  orgiastisch  schäumt 
das  Leben  auf,  dann  —  ein  kleiner  Ruck  des  sozialen 


33i 


Räderwerks  —  und  die  Brünstigen  werden  von  der 
Schande  geschleift  und  alles  wird  leer,  schmutzig, 
häßlich. 

Hat  man  schon  das  Organ  dafür,  mit  welcher  Kraft 
und  Natürlichkeit  hier  in  ein  paar  huschenden  Augen - 
blicksbildern  das  ganze  teuflische  Zufalls-  und  Schick- 
salsspiel sozialer  Deklassierung  geformt  worden  ist? 
In  drei  Worten  werden  in  einer  Seitenbemerkung 
ganze  Daseinssphären  unserer  Gegenwart  soziologisch 
enthüllt.  Die  Astarte  der  Rauschnacht  ist  aus  guter 
Familie,  sie  entwurzelte  sich  und  wurde  Künstlerin. 
„Brich  deine  Künstlerlaufbahn  ab,  die  durch  keinen 
anderen  Beruf  bedingt  war  als  den,  hinauszukommen, 
wie  es  heißt,  zur  Freiheit  und  frohem  Leben  —  du 
siehst,  wie  froh  es  war.  Reise  heim  zu  deiner  Mutter...** 

Die  ewigen  Probleme  des  Menschentums  wandeln 
leibhaft  durch  das  Drama:  Freiheit,  Gott,  Religion, 
Kunst,  Glück,  Liebe,  Ehe,  Schuld,  Buße.  Nichts 
wird  lehrhaft  diskutiert,  jedes  Wort  wird  bildhaft, 
jeder  Gedanke  unmittelbar  dramatische  Triebkraft. 
Und  die  lastende  Schwere  des  Stoffes,  der  Stimmungen 
und  Ideen  ist  bezwungen  und  aufgelöst  durch  den 
stählern  federnden  Geist  des  Dichters,  durch  die  An- 
mut der  Kraft.  Zarathustra,  der  Prophet  und  Tän- 
zer! Strindberg  und  Nietzsche  verstanden  sich! 
Über  dem  Spiel  der  Gespenster  und  Dämonen  erhebt 
sich  die  reife  Heiterkeit  des  zu  einsamem  Frieden 
Wandernden.  Die  letzte  Szene  dieses  Dramas,  die 
unverstanden  den  äußerlichen  theatralischen  Erfolg 
schwächte,  ist  aus  der  frommen  Gottlosigkeit  des 
„schönen  Alters*'  geboren,  wie  es  Strindberg  in  Shake- 
speares Sturm  empfand,  da  er  das  junge  Paar  der 
Liebenden  in  Prosperos  Zelle,  in  keuscher  Freiheit 
und  Beherrschung  Schach  spielen  läßt.  „Zu  diesem 
Ergebnis'*  (schreibt  einmal  Strindberg)  „kam  der 
freie  Renaissancemann  Shakespeare,  als  das  Alter  ihm 
die  Weisheit  gab,  die  er  selber  nicht  zu  benutzen  ver- 

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mochte.  Alles  Schöne  aus  den  Träumen  der  Jugend 
stieg  auf,  als  er  seine  eigenen  Kinder  sich  dem  Braut- 
stand nähern  sah  .  .  .  Ist  das  nicht  schöner:  ein  Alter 
mit  wiedergewonnener  Vernunft  und  unschuldigem 
Kinderglauben  zu  sehen,  als  zu  hören,  wie  der  zynische 
Greis  am  Rand  des  Grabes  in  einem  Rinnstein  von 
seines  Vaters  Bett  und  seiner  Mutter  Torheit  singt  ?" 

Wie  soll  man  diesen  alten  Strindberg  spielen  ?  Die 
Schwierigkeit,  für  den  Rausch  den  rechten  Strindberg- 
Stil  zu  finden,  ist  nicht  geringer  als  die  Darstellung 
seiner  historischen  Dramen,  in  denen  die  Weltge- 
schichte in  Erscheinungen  und  Gestalten  wie  in  einen 
Traumzustand  gerückt  wird,  der  zugleich  gespenstische 
Unwirklichkeit  und  tiefste  Wesenhaftigkeit  ist  (so, 
wie  man  gerade  in  unserer  unmittelbaren  Gegenwart 
erlebte  Weltgeschichte  zu  empfinden  vermag!).  Die- 
sen helldunklen  Strindberg-Stil,  der  weder  ironische 
Zersetzung,  noch  handfeste  Eindeutigkeit  wirken  darf, 
hat  man  bisher  nicht  gewonnen.  Die  Aufführung  war 
ganz  auf  gespenstische  Stimmung,  auf  Nachtgraus 
und  Sinnenwahn  gestellt.  Das  Geisterhafte  wurde 
noch  gesteigert  durch  die  in  ihrer  einfachen,  starken 
Farben-  und  Formenerfindung  eindrucksvollen  Büh- 
nenbilder. So  wurde  die  Szene  im  Luxembourggarten 
zu  einer  unheimlichen  Gespenstervision.  Um  dieser 
Wirkung  willen  rückte  man  die  Szene  ins  Mitter- 
nächtige, statt  in  die  Abenddämmerung;  Strindberg 
selbst  gibt  die  Bühnenanweisung:  „Bei  der  Statue  von 
Adam  und  Eva.  Es  rauscht  in  den  Bäumen  und  auf 
dem  Boden  bewegen  sich  Laub,  Stroh  und  Papier- 
fetzen." Durch  diese  tragische  Verfinsterung  erschien 
dann  die  Schlußwendung  völlig  unvermittelt.  So 
waren  auch  die  handelnden  Personen  allzu  lastend 
ins  Düstere  und  Schwere  stilisiert.  Durch  jeden  Strind- 
bergschen  Menschen  schimmert  wie  das  eigene  Leben 
so  auch  das  Weltsymbolische  durch.  Aber  es  sind  in 
erster  Linie  doch  lebendige  Originalmenschen,  nicht 


333 


nur  sprechende  Stimmungsmasken.  Maurice  vor 
allem  sollte  wie  ein  ungebärdig  sprudelnder  Mann  von 
geistiger  Größe  und  —  bei  aller  verzweifelten  Zer- 
rissenheit —  innerer  Energie  gegeben  werden. 

[April  1915.] 

III. 

Gespenstersonatc. 

Uraufführung  in  den  Münchener  Kammer- 
spielen. 

Die  Reihe  der  Dramen  Strindbergs,  die  den  Kam- 
merspielen nicht  nur  einen  künstlerischen,  sondern 
auch  einen  materiellen  Erfolg  verschafft  haben,  ge- 
wann in  der  —  „ausverkauften"  —  deutschen  Urauf- 
führung der  Gespenstersonate  ihre  bedeutendste  Steige- 
rung. Man  staunt  immer  wieder,  mit  wieviel  Weisheit 
auch  die  Theaterwelt  regiert  wird.  Alle  die  Direk- 
toren, die  Dramaturgen  haben  die  Jahre  hindurch 
zusammen  nicht  so  viel  Einsicht  aufgebracht,  um  zu 
erkennen,  daß  die  Gespenstersonate  auch  rein  theatra- 
lisch ein  unvergleichlich  starkes  Werk  ist.  Jetzt  erst 
haben  wir  die  erste  Aufführung  in  Deutschland  erlebt, 
und  die  Gespenstersonate  wird  nun  nicht  wieder  ver- 
schwinden. 

Eine  Sonate  Beethovens,  Böcklins  Toteninsel  und 
die  Offenbarung  Johannis,  jenes  dunkel  glühende 
Buch,  das  immer  wieder  in  den  Katastrophen  des 
Daseins  große  Geister  —  einen  Fichte  z.  B.  —  mit 
seiner  mystischen  Sehnsuchtsgewalt  über  die  Ver- 
zweiflung emporzuretten  die  Kraft  hat  —  das  sind 
die  künstlerisch-religiösen  Überlieferungen,  in  die 
Strindberg  seine  eigene  Welt  hineinbaut.  Von  Beetho- 
ven übernimmt  er  mehr  als  nur  die  allgemeine  musi- 
kalische Stimmung.  Dies  Drama  ist  wie  eine  Sonate 
durchkomponiert;  und  wie  mit  dem  ersten  Takt  eines 
Beethovenschen  Werkes  der  gemeine  Tag  versinkt  und 

334 


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eine  neue,  in  sich  geborgene  Welt  aufwächst,  so  ist 
bei  Strindberg  mit  dem  ersten  Wort  und  der  ersten 
Szene  der  Zauberkreis  gezogen,  in  dem  wir  bis  zum 
letzten  Hall  gebannt  bleiben.  Hat  man  wohl  schon 
ganz  die  Unermeßlichkeit  der  dichterischen  Bildkraft 
erfaßt,  die  in  dem  Anfang  der  Gespenstersonate  sofort 
uns  von  allem  Gewohnten  absperrt  und  in  das  Reich 
neuen  Erlebens  entrückt  ?  Das  Ungewohnteste,  das 
doch  ganz  natürlich  aus  dem  Alltäglichsten,  aus  dem 
Tausenderlei  des  häuslichen  Daseins  unserer  Tage 
hervorwächst. 

Ein  vornehmes  Eckhaus,  mit  vielerlei  Leben  und 
Sterben  unter  einem  Dach.  Durch  ein  Fenster  sieht 
man  die  Marmorbüste  eines  schönen  jungen  Weibes. 
An  einem  anderen  Fenster  stehen  blaue,  weiße,  rosa 
Hyazinthen.  Über  ein  Balkongeländer  hängt  eine 
blauseidene  Bettdecke.  Vor  dem  Hause  ein  kleiner 
Platz  mit  einem  Springbrunnen  und  einer  Anschlag- 
säule. Strindberg  zeichnet  die  Szene:  „Wenn  der 
Vorhang  aufgeht,  läuten  in  der  Ferne  mehrere  Kir- 
chen. Die  beiden  Flügel  der  Haustüre  stehen  offen; 
ein  dunkel  gekleidetes  Weib  steht  unbeweglich  auf 
der  Treppe.  Die  Pförtnerin  fegt  den  Flur;  dann  reibt 
sie  das  Messing  der  Haustür;  darauf  begießt  sie  die 
Lorbeerbäume  vor  der  Haustür.  In  einem  Rollstuhl, 
der  neben  der  Anschlagsäule  steht,  sitzt  ein  alter  Herr 
und  liest  die  Zeitung.  Das  Milchmädchen  kommt  von 
der  Ecke,  trägt  Flaschen  im  Stahldrahtkorb;  sie  ist 
sommerlich  gekleidet,  mit  braunen  Schuhen,  schwar- 
zen Strümpfen  und  weißem  Barett.  Das  Milch- 
mädchen nimmt  das  Barett  ab  und  hängt  es  am 
Springbrunnen  auf;  wischt  sich  den  Schweiß  aus  der 
Stirn;  trinkt  einen  Schluck  aus  der  Schöpfkelle;  wäscht 
sich  die  Hände;  ordnet  ihr  Haar,  sich  im  Wasser 
spiegelnd."  Ein  Student,  übernächtig,  unrasiert,  ge- 
sellt sich  zu  dem  Mädchen  und  bittet  um  die  Schöpf- 
kelle, er  will  auch  trinken.  Sie  glaube  wohl,  daß  er  die 

335 


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Nacht  durchbummelt  habe.  Nein,  er  hat  die  ganze 
Nacht  Verwundete  verbunden,  Kranke  bewacht;  er 
war  bei  einem  Hauseinsturz.  Und  er  bittet  das  schwei- 
gende Mädchen  um  einen  Dienst :  „Meine  Augen  sind 
entzündet,  wie  du  siehst,  aber  meine  Hände  haben 
Verwundete  und  Leichen  berührt;  ich  kann  deshalb 
nicht  ohne  Gefahr  an  die  Augen  kommen.  Willst  du 
nun  mein  reines  Taschentuch  nehmen,  es  mit  dem 
frischen  Wasser  befeuchten  und  meine  armen  Augen 
baden?  Willst  du  das?  Willst  du  die  barmherzige 
Samariterin  sein  ?"  Das  Mädchen  tut  es  —  stumm 
und  geht.  ...   So  hebt  die  Gespenstersonate  an. 

Dann  beginnt  der  Alte  im  Rollstuhl  lästernd  die 
Geheimnisse  des  vornehmen  Hauses  zu  entschleiern. 
Alles  ist  Lüge  und  Verbrechen,  Irrsinn  und  Siechtum, 
Alter  und  Verfall.  Das  schöne  Weib,  das  dort  in 
Marmor  abgebildet  ist,  ist  jetzt  eine  lebende  Mumie. 
Hinter  dem  Balkon,  wo  die  blaue  Decke  hängt,  liegt 
ein  Toter,  ein  Konsul,  ein  wohltätiger  Lump,  der  an 
Orden  und  Würden  seine  Eitelkeit  blähte,  den  Armen 
ein  paar  öre  gab  und  den  Staat  um  Zehntausende 
von  Kronen  betrog;  jetzt  erscheint  der  tote  Konsul 
vor  dem  Hause,  er  will  die  Kränze  zählen  und  die 
Visitenkarten  mustern,  ob  auch  alle  ihre  Pflicht  getan, 
ihm  eine  schöne  Leiche  zu  rüsten.  Für  den  armen 
Studenten  aber  ist  das  Haus  wie  ein  verschlossenes 
Paradies,  das  Ziel  aller  jungen  Sehnsucht.  Denn  hinter 
dem  Hyazinthenfenster  wohnt  das  schönste  Wesen, 
die  Tochter  des  aristokratischen  Oberst. 

Beim  „Gespenstersouper"  —  der  zweite  Akt  —  ver- 
sammeln sich  die  Insassen  des  Hauses  und  zwei  Gäste : 
der  Alte  und  der  Student.  Täglich  essen  jene  mitein- 
ander, seit  zwanzig,  dreißig  Jahren,  reden  immer  das- 
selbe. Weil  jeder  weiß,  was  der  andere  in  Wahrheit 
ist,  lohnt  es  sich  für  sie  nicht  einmal  mehr,  sich  ein- 
ander mit  Worten  zu  täuschen.  Der  Oberst  ist  weder 
Aristokrat  noch  Oberst.   Seine  Tochter  ist  vielmehr 

336 


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die  Tochter  des  Alten,  im  Ehebruch  mit  der  Frau  ge- 
zeugt, die  jetzt  schwachsinnig  wie  ein  Papagei  plappert 
und  wie  eine  Mumie  aussieht.  Die  Blumenschönheit 
des  Mädchens  ist  siech  im  Quell  des  Lebens.  Heute 
aber  bricht  das  Verhängnis  über  die  Tafelrunde  herein. 
Der  Alte  entlarvt  sie.  Aber  über  dem  Ankläger  erhebt 
sich  die  Mumie:  er  ist  der  ärgste  Verbrecher,  ein 
Wucherer,  Mörder,  Menschendieb.  Ihm  fehlte,  was 
all  die  anderen  armen  Sünder  haben,  verzeihendes 
Erbarmen.  Da  erhängt  sich  der  Alte. 

Im  dritten  Akt,  im  Hyazinthenzimmer,  wirbt  in 
tiefsinnigen  Blumengesprächen  der  Student  um  das 
junge  Mädchen.  In  der  Gestalt  einer  unförmlichen 
herrischen  Köchin  erscheint  das  soziale  Gespenst.  Die 
zarte  Werbung  des  Studenten  geht  in  wild  aufschreien- 
des Bekennen  schonungsloser  Wahrheit  über:  „Es  gibt 
Gifte,  die  das  Gesicht  schwächen,  und  Gifte,  welche 
die  Augen  öffnan  —  ich  bin  gewiß  mit  dem  letzten 
geboren,  denn  ich  kann  das  Häßliche  nicht  als  etwas 
Schönes  sehen,  oder  das  Böse  gut  nennen  —  ich  kann 
nicht!  Jesus  Christus  stieg  zur  Hölle  nieder,  das  war 
seine  Wanderung  auf  Erden,  zum  Irrenhaus,  Zucht- 
haus, Leichenhaus,  —  und  die  Toren  haben  ihn  ge- 
tötet, als  er  sie  befreien  wollte;  aber  der  Räuber 
wurde  freigelassen,  der  Räuber  hat  immer  die  Sym- 
pathien! Wehe!  Wehe!  über  uns  alle!  Erlöser  der 
Welt,  erlöse  uns,  wir  vergehen!"  An  diesen  Worten 
stirbt  das  schöne  Fräulein.  Ihre  Harfe  beginnt  zu 
tönen,  und  der  Student  singt  das  Lied  des  schuldlosen 
Lebens  der  Güte.  Das  Zimmer  verschwindet,  Böck- 
lins  Toteninsel  taucht  auf,  und  während  von  ihr 
„angenehm  traurige"  Musik  herüberweht,  verkündet 
der  Student,  ein  neuer  Johannes,  die  Offenbarung  eines 
neuen  Himmels  und  einer  neuen  Erde:  „Und  Gott  wird 
abwischen  alle  Tränen  von  ihren  Augen ;  und  der  Tod 
wird  nicht  mehr  sein,  noch  Leid,  noch  Geschrei,  noch 
Schmerzen  wird  mehr  sein ;  denn  das  Erste  ist  vergangen ." 


X2    F. isner ,  (Rammelte  Schrift».  II. 


337 


In  der  Offenbarung  Johannis  stehen  nach  dieser 
Verkündung  die  Worte:  „Und  der  auf  dem  Stuhl 
saß,  sprach:  Siehe,  ich  mache  alles  neu.  Und  er 
spricht  zu  mir:  Schreibe;  denn  diese  Worte  sind  wahr- 
haftig und  gewiß."  Also  schrieb  Strindberg,  dem 
Rufe  folgend! 

Traumgesichte  zugleich  und  letzte,  höchste  Wirk- 
lichkeiten; die  winzigen,  schmutzigen  Dinge  des  All- 
tags und  die  fernen  Glockenklänge  kommender  junger 
Schönheit;  aller  Gram,  alles  Grauen  verwesenden 
Menschentums  und  reinigende  Erlösung;  Fratzen  und 
Verklärungen;  Hohn  und  Höhe:  da  wächst  im  Gegen- 
sätzlichen das  Drama  zur  tiefsten  tragischen  Einheit, 
zum  Lebensgleichnis  zusammen.  Hinter  den  gespen- 
stischen Gestalten  aber  bergen  sich  bedeutsam  Men- 
schen unserer  Zeit.  Rechnet  der  Dichter  nicht  selbst 
mit  seiner  „naturalistischen"  Vergangenheit  ab,  wenn 
er  über  den  Alten,  den  „Menschendieb",  richtet  ? 

Die  Darstellung  der  Kammerspiele,  unter  Falcken- 
bergs  feinfühlig  mitdichtender  Leitung,  vereinfachte 
und  erleichterte  sich  die  Aufgabe  insofern,  als  sie 
ganz  und  gar  das  Werk  ins  Traum-  und  Spukhafte 
rückte.  Die  puppenspielhaften  Bühnenbilder  verstärk- 
ten solche  Stimmung  noch.  Ich  empfinde  diesen  Stil 
als  Verkleinerung  der  Dichtung,  deren  Gespenstigkeit 
doch  im  Grunde  gesteigerte  Realität  ist.  Strind- 
bergs  Weltgleichnisse  sind  keine  Hannele-Phantasicn. 
Zwar  ist  sicher,  daß  durch  diese  Erleichterung  breitere 
Wirkungen  erzielt  wurden,  aber  ich  zweifle,  ob  man 
der  geistigen  Bedeutung  des  Werkes  völlig  gerecht 
wurde. 

Indem  ich  bekenne,  daß  ich  den  rechten  Strind- 
bergstil  schauspielerisch  noch  nicht  erreicht  glaube, 
will  ich  nicht  im  mindesten  das  große  Verdienst  gerade 
dieser  Aufführung  verringern,  die  ehrlich,  mit  rein 
künstlerischen  Mitteln  erarbeitet  war,  und  die  neben 
guten  auch   eine  schlechthin   geniale  Einzclleistung 


338 


brachte:  die  Mumie  der  Emilia  Unda,  die  in  ihrer 
phantastischen,  tollen,  melancholischen  Unheimlich- 
keit  unmittelbar  wie  eine  Strindbergsche  Vision  wirkte. 

[Mai  191 5.] 

IV. 

Totentanz.    Erster  Teil. 

Im  zweiten  Teil  des  Totentanz  erringt  Edgar,  der 
Kapitän  bei  der  Festungsartillerie,  nach  seiner  Ge- 
nesung den  rasch  zerrinnenden  Traum  einer  das 
ganze  Leben  lang  zuvor  vergeblich  ersehnten  Macht 
und  Geltung.  Da  fällt  ihn  Judith,  seine  Tochter,  die 
ihm  als  seine  Seelenverwandte  die  Rächerin  seines  zer- 
brochenen Daseins  werden  sollte,  indem  sie,  ganz  ohne 
Berechnung,  besinnungslos  dem  jungen  Geliebten  in 
die  Freiheit  folgt,  anstatt  den  ihr  vom  Vater  zuge- 
dachten alten  einflußreichen  Oberst  zu  ehelichen. 
Nun  ist  der  letzte  Lebenstrotz  des  „Vampyrs"  er- 
loschen. Eben  noch  hatte  über  ihn,  als  er  am  Ziele 
seiner  Wünsche  angelangt  schien,  Kurt,  der  Freund 
seiner  Jugend,  verstehend  beurteilt:  „Es  ist  der  ge- 
wöhnlichste Mensch,  den  die  Erde  trägt.  Vielleicht 
sind  wir  auch  ein  wenig  so?  Benutzen  Menschen  und 
günstige  Gelegenheiten!"  Wie  der  „Kapitän4'  dann 
elend,  ein  hilflos  lallender  Unhold  und  Unrat,  zu- 
sammengebrochen ist,  empfindet  sein  Weib,  das  ein 
Menschenalter  hindurch  jeden  Tag  die  Erlösung  von 
dem  verhaßten  Gatten  ersehnt  hatte,  in  rasendem 
Jubel  das  Schicksal  des  Mannes  als  die  Gerechtigkeit 
auf  Erden,  an  die  sie  nicht  mehr  geglaubt.  Und  sie 
läßt  grausam  dem  Verscheidenden  durch  Kurt  diese 
letzte  Botschaft  übermitteln.  Der  Alte  aber  stammelt, 
erlöschend:  „Verzeih  ihnen,  denn  sie  wissen  nicht, 
was  sie  tun.'4  Da  kommt  auch  über  die  Frau  und 
den  Freund  das  große  Erkennen  und  Verzeihen.  Der 
Tote  hatte  die  Härte  des  Übergangenen,  er  war  im 


339 


Grunde  ein  tapferer,  edler  Kämpfer  wider  das  Leben, 
und  in  der  Frau  leuchtet  es  auf:  „Ich  muß  diesen 
Mann  geliebt  haben."  „Und  gehaßt!"  fügt  Kurt 
hinzu.  „Und  gehaßt!  .  .  .  Friede  sei  mit  ihm!", 
schließt  die  Frau. 

Menschen,  die  übereinander  Schicksal  spielen  und 
ihr  Dasein  zerstören,  sind  in  den  dunklen,  irren  Toten- 
tanz um  das  Leben  gerissen.  Sie  alle  sind  im  tiefsten 
Grunde  doch  Opfer  und  Narren  eines  Verhängnisses, 
dessen  sie  nicht  Herr  werden  können,  gequälte,  ver- 
dorbene Geschöpfe  der  feindseligen  Unnatur  der  Be 
Ziehungen,  die  heute  die  menschliche  Gesellschaft 
vergiften.  Der  eine  will  Schicksal  über  die  anderen 
spielen  und  wird  so  zum  Vampyr,  der  den  Menschen 
seiner  Umgebung  das  Leben  aussaugt  und  doch  nur 
sich  selbst  zerstört.  Der  andere  nimmt  geduldig  hin, 
was  ihm  die  Umstände  auferlegen  und  wird  ein  stiller 
Unglücklicher,  der,  gütig  und  gelassen,  dennoch  nicht 
aufhört,  sich  vom  Leben  verführen  zu  lassen.  Der 
Dritte  will  sich  am  verpfuschten,  beraubten  Leben 
rächen,  um  schließlich  im  großen  Begreifen  und  Ver- 
zeihen Frieden  zu  finden.  Übergangene  sind  sie  alle, 
ihr  Lebensreigen  ist  Totentanz.  Einst  aber  wird  das 
neue  Leben  kommen,  ein  junges  und  freies  Leben,  in 
dem  die  Menschen  einander  zu  lieben  wagen. 

Vier  Akte  der  Qual  --  das  ist  der  erste  Teil  des 
Totentanzes.  In  den  zwei  Gatten,  die  25  Jahre  lang 
in  dem  grausteinernen  Turmzimmer  der  Inselfestung 
eingesperrt  sind,  erlebt  die  heutige  Menschheit  ihr 
Verhängnis.  Die  einzelne  Ehetragödie  wird  zum 
Gleichnis  allgemein  menschlicher  Beziehungen  über- 
haupt. Der  „Kapitän"  aber,  der  über  die  Menschen 
Vorsehung  sein  will,  wird  so  etwas  wie  der  grausame 
Fratzengott  der  Urzeiten,  der  alles  zerstört,  auch 
sich  selbst. 

Strindberg  bewunderte  am  16.  Jahrhundert  die 
harte,  erbarmungslose,  schmähende  Kraft,  mit  der 


34o 


damals  die  kämpfenden  Menschen  ihre  Angelegen- 
heiten austrugen.  Im  Totentanz  gewinnen  die  letzte 
Schleier  abwerfenden,  abreißenden,  psychologischen 
Offenbarungen  jene  strenge  und  grelle,  in  Hartholz 
geschnittene  Form.  Diese  Mischung  von  feinster, 
nervösester  Kunst,  die  Schwingungen  modernen  Seelen- 
lebens aufzuspüren  mit  der  rauhen,  brutalen  Bild- 
kraft, die  auch  das  Entsetzlichste  und  Abstoßendste 
unmittelbar  ohne  Abschwächung  und  Umschweife 
sinnlich  ausspricht,  ist  der  eigentümliche,  schwierige 
Stil  der  Totentanztragödie. 

Steinrücks  Kapitän  hat  die  ganz  individuelle  Auf- 
gabe der  Darstellung  erfaßt  und  zu  großem  Teile  be- 
wältigt. Er  ist  so  etwas  wie  ein  kranker  Götze  Vam- 
pyr,  ein  Ungeheuer,  das  die  Menschen  verschlingt, 
sich  trunken  aufpeitscht  und  die  Kraft  eines  Kolosses 
vortäuscht,  während  er  doch  ein  armseliger,  wanken- 
der, gleitender  Mensch  ist,  der  im  zuckenden  Toten- 
tanz gehetzt  wird. 

[August  19 15.] 

V. 

Wetterleuchten. 

Von  den  vier  Kammerspielen  Strindbergs  ist  Wet- 
terleuchten dasstillste,  beruhigtste.  Wie  er  in  den 
Lebensstimmungen  seines  „Einsam"-Buches  sein  Alter 
dargestellt,  wie  er  von  sich  als  dem  verlorenen  Wan- 
derer erzählte,  der  in  die  Fenster  der  Häuser  und  in 
die  Mienen  der  unbekannt  vorübergehenden  Menschen 
blickte  —  alle  Schicksale  ringsum  miterlebend,  je 
weniger  er  persönlich  lebte  —  so  tönt  hier  klagend, 
verhalten,  verhallend  das  Lied  von  Vergangenheit, 
Alter,  Entsagung,  Ruhe.  In  der  weißen  Sommer- 
schwüle  des  Großstadtabends  wetterleuchtet  es.  Er- 
innerungen, in  denen  die  Einsamkeit  ein  sehnsüchtig 
verzehrendes  Scheinleben  fand,  gewinnen  für  einen 


34* 


Augenblick  wiederkehrende  Wirklichkeit,  in  ihrer 
Häßlichkeit  zerrinnt  der  geträumte  Glanz,  nun  ist  die 
Vergangenheit  tot;  in  dem  strömend  entlastenden 
Regen  reinigt  sich  der  bange,  schwere  Sommer  zum 
Herbst. 

In  diesen  Alterswerken  Strindbergs  quillt  nicht  ein 
isoliertes  Stück  Dasein  aus  der  Tiefe  des  Unend- 
lichen, das  Leben  selbst  in  all  seinen  Geheimnissen 
und  Beziehungen  offenbart  sich.  Dieser  Stockholmer 
Sommerabend  ist  erfüllt  von  den  Spuren  und  Keimen 
ungezählter  Schicksale.  Das  große  Haus,  das  von  der 
Straße  gesehen  wird,  mit  seiner  sorgenvollen  Kon- 
ditorei, den  geöffneten  Fenstern  der  Einsamkeit  zu 
ebener  Erde  und  den  rot  verhängten  Lockungen  der 
abenteuernden  Verkommenheit  im  ersten  Stock,  ent- 
sendet geheimnisvolle  Kraftwellen  ins  All  der  mensch- 
lichen Gesellschaft.  In  den  paar  Stimmen,  die  die 
klagenden  Weisen  ihres  persönlichen  Daseins  verweben, 
tönt  das  ganze  brausende  Orchester  des  Lebens  mit. 
Die  Kammermusik  der  letzten  Quartette  Beethovens! 

Das  Münchener  Residenztheater,  das  am  Dienstag 
in  neuer  Einstudierung  Wetterleuchten  wieder  auf- 
nahm, fand  ein  Publikum,  dessen  versunkene  Andacht 
sich  scheute,  durch  grobe  Beifallsgeräusche  die  tief 
aufgewühlten  Gefühle  zu  zerreißen.  Die  Aufführung 
war  ineinander  fein  abgestimmte  leise  Kammermusik  : 
Einsame  Stimmen,  die  wie  aus  der  Ferne  vom  Leben 
sprechen.  Das  Rätselhafte  des  Daseins  umfließt 
ahnungsschwer  die  Gestalten,  die  Worte.  Nur  in 
Augenblicken  brechen  Leidenschaften  rauher  und 
lauter  hervor.  Steinrück  gestaltete  ein  melancho- 
lisches Larghetto,  ein  überwundenes,  gebändigtes,  ge- 
dämpftes Leben,  im  Leisesten  die  ganze  Fülle  des  Er- 
lebens andeutend. 

In  München  wird  in  dieser  Woche  Strindberg  an 
drei  Theatern  gespielt.  Dennoch  kennen  wir  immer 
erst  einen  Teil  seines  Schaffens.   Ist  diese  Zeit  nicht 


342 


endlich  auch  reif  für  die  Vollendung  des  Werkes 
Strindbergs,  für  sein  Weltdrama,  das  Traumspiel? 
Lockt  nicht  unser  Residenztheater  der  edle  Ehrgeiz, 
diese  unermeßliche  Dichtung  zuerst  in  Deutschland 
zu  wagen  ? 

[August  1915.] 

VI. 
Advent. 

(Uraufführung  in  den  Münchener  Kammerspielen.) 

Das  Weihnachtsspiel  Advent  hat  der  Dichter  als 
Fünfzigjähriger  geschrieben  —  1898;  nach  fast  zwei 
Jahrzehnten  erscheint  das  Mysterium  zum  erstenmal 
auf  der  Bühne,  in  Deutschland,  nicht  in  der  Heimat 
des  Schöpfers.  Den  Münchner  Kammerspielen  ge- 
bührt der  Ruhm,  die  Bühnenkraft  eines  Werkes  er- 
wiesen zu  haben,  die  niemand,  der  über  Theater- 
aufführungen zu  entscheiden  hatte,  bisher  erkannt 
hat.  Und  nicht  nur  die  Bühnenkraft  dieser  Weih- 
nachtstragödie, die  bei  den  sehr  unzulänglichen  tech- 
nischen Hilfsmitteln  der  kleinen  Münchner  Bühne  bei 
weitem  nicht  in  all  ihren  Möglichkeiten  herausgeholt 
werden  konnte;  vielfach  mußte  man  sich  mit  An- 
deutungen begnügen,  die  szenischen  Schwierigkeiten 
verlangsamten  die  Folge  der  Bilder  und  Vorgänge, 
und  trotz  der  Länge  der  Vorstellung,  die  erst  gegen 
Mitternacht  endete,  war  Wesentliches  gestrichen, 
darunter  gerade  die  unheimlichste  und  zugleich  be- 
deutendste Szene  des  Werkes,  vielleicht  das  Furcht- 
barste, das  seit  den  Bildern  der  Apokalypse  von  einem 
menschlichen  Geist  ersonnen,  das  Gespräch  des  Rich- 
ters und  der  Richterin  nach  ihrem  Tode  —  im  „Warte- 
saal" der  Unterwelt.  Nicht  nur  ein  Werk  von  un- 
erhörter Bühnenkraft  haben  wir  gewonnen,  sondern 
unser  Kulturbcwußtsein  wurde  um  den  Inhalt  einer 
neuen   sozial-künstlerischen    Lebenskraft  bereichert: 


343 


Wenn  je  einem  Werke  der  Kunst  die  Würde  eines 
Bühnenweihspiels  gebührt,  wenn  irgendein  Drama 
die  Stille,  Abgeschlossenheit,  Sammlung  und  Feier- 
lichkeit eines  Festspielhauses  fordern  darf,  so  ist  es 
Strindbergs  Advent. 

Die  Peinlichkeit  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß 
Strindberg  heute  so  etwas  wie  Mode  und  Spekulation 
zu  werden  beginnt.  Auf  das  lange  Totschweigen  der 
Verständnislosen  folgt  das  Marktlärmen  der  Ver- 
zückten. Dennoch  ist  es  kaum  ein  Zufall,  daß  gerade 
in  diesen  Weltkriegsjahren  das  Gestirn  Strindbergs 
endlich  aufgeht.  Ks  ist  ein  seelischer  Zusammenhang. 
Wir  sind  Zeugen  des  schaurigen  Totentanzes  einer 
zerfallenden  Zeit.  Strindberg  aber  war  der  prophe- 
tische Dichter,  der  diese  Kultur,  die  heute  in  wilden 
Zuckungen  vergeht,  durchaus  als  eine  Welt  der 
Fratzen  und  Unholde  empfand  und  Menschen  wie 
Dinge  in  dem  tief  brennenden  und  gespenstisch 
huschenden  Licht  katastrophalen  Schicksals  sah  und 
gestaltete.  Und  Strindbergs  ewige  Mission  war  es, 
die  Begebenheiten  und  Menschen  unserer  Kultur- 
periode aus  der  schwächlichen  Anpassung  des  Gleich- 
gültigen und  Gewohnten  herauszuhetzen,  und  sie 
durch  diese  Entblößung  einer  im  innersten  grauen- 
haften Wirklichkeit  den  Weg  zur  Genesung  zu  führen. 
Daß  er  selbst  ein  kranker  Mensch  war,  vom  Verfol- 
gungswahn gejagt,  von  Spukvisionen  gepeinigt,  dieses 
individuelle  Leiden  ließ  ihn  seine  Zeit  in  all  ihren 
Schrecken  wie  ein  persönliches  Erlebnis  empfinden^ 
lieh  ihm  die  phantastisch-wirkliche  Fülle  seiner  dich- 
terischen Bilder  und  Gesichte  und  machte  die  Sehn- 
sucht nach  Gesundung,  Überwindung,  Erlösung  zum 
Inbegriff  seiner  Kunst.  Sein  eigenes  Leben,  über  das 
er  in  seinen  sechs  Bekenntnisschriften  Rechnung  ab- 
legte, ward  so  zur  Autobiographie  einer  ganzen 
Menschheitsperiode.  Strindberg  hat  den  Mythus  un- 
serer Zeit  geformt. 


344 


Das  Spukhafte,  das  in  den  Dichtungen  des  Fünf- 
zigers und  Sechzigers  scheinbar  beherrschend  hervor- 
tritt, darf  ebensowenig  —  das  hieße  am  Äußerlichen 
haften  —  als  das  Wesentliche  betrachtet  werden,  wie 
man  etwa  die  „religiöse  Bekehrung"  des  einstigen 
Freigeistes  und  Rationalisten  als  den  unterwürfigen 
Abfall  eines  Zerknirschten  und  Entkräfteten  erklären 
dürfte.  Das  Spukhafte,  aus  den  Erfahrungen  seiner 
Krankheit  gewonnen,  ist  in  seiner  Dichtung  nur  Bild, 
Gleichnis,  Symbol,  ein  künstlerisches  Mittel,  seelische 
Vorgänge  sichtbar  zu  machen.  (Wäre  Strindberg  ver- 
boten, womit  uns  Shakespeare  erschüttert  ?)  Seine 
religiöse  Wendung  aber  läßt  sich  weltgeschichtlich 
am  ehesten  begreifen,  wenn  man  sie  in  Beziehung  zu 
jener  großen  geistig-revolutionären  Bewegung  bringt 
die  von  dem  Deismus  Rousseaus  ausgeht,  des  gott- 
gläubigen Ketzers,  der  in  der  Verneinung  der  Gesell- 
schaftsordnung seiner  Zeit  die  soziale  Zukunftszuver- 
sicht der  Inbrunst  eines  religiös  Gläubigen  bekennt 
und  betätigt.  Auch  Strindbergs  Religion  ist  sozialer, 
mehr:  sozialistischer  Zukunftsglauben,  sittlich  auf- 
gefaßt, urchristlich  gestimmt  und  doch  keineswegs 
romantisch-reaktionär.  Die  Triebkräfte  der  neuen 
Zeit  verneinend;  er  bekennt  sich  durchaus  zu  all  den 
wissenschaftlichen,  wirtschaftlichen,  technischen,  or- 
ganisatorischen Fortschritten  der  modernen  Welt  und 
will  sie  fruchtbar  machen  für  ein  neues,  innerlich 
gewandeltes  und  geläutertes  Menschengeschlecht. 

Strindberg  hat  in  drei  Jahrfestspielen  den  gewal- 
tigen Sinn  der  drei  großen  Feste  der  Christenheit  mit 
dem  Inhalt  unserer  Zeit  erfüllt  und  dramatisch  an- 
gedeutet. Er  ist  der  einzige,  dem  dies  gelungen,  der 
einzige,  der  diese  Aufgabe  auch  nur  begriffen  hat. 
Die  drei  Dramen,  1898  und  1900  entstanden,  müssen 
im  Zusammenhang  erfaßt  werden,  wenn  man  Strind- 
bergs letzte  Periode  verstehen  will.  Aus  den  ent- 
setzenden Finsternissen  des  Advent,  mit  seinem  Hexen- 


345 


sabbat  von  Schatten  und  Larven,  erhebt  sich  das 
Osternspiel  schon  ganz  ins  Bereich  des  Natürlich - 
Menschlichen;  die  lähmende  Angst  vor  dem  gespen- 
stischen Dämon  erweist  sich  als  Wahn.  Das  dritte 
Werk  aber,  das  sich  an  das  nordische  volksmäßige  Mitt- 
sommerfest anlehnt,  ist  völlig  irdisch-weltlich,  ein 
„ernsthaftes  Lustspiel",  voll  Sommerheiterkeit  und 
Fliederduft,  voll  guter  Menschen  und  fröhlicher  Kin- 
der, in  dem  als  Repräsentant  der  alten  kranken  Zeit 
nur  noch  ein  lächerlich  hochmütiger  Student  er- 
scheint, während  die  neue  Zeit  der  geadelten  Arbeit, 
der  menschlichen  Güte  und  des  lauteren  Charakters 
schon  lustig  sich  tummelt  und  am  Schluß  sozialdemo- 
kratische Proletarier,  die  letzten  Freunde  des  ver- 
söhnten einsamen  Dichters,  das  Lied  der  Arbeit  singen. 

Das  Weihnachtsfest  ist  in  seinem  geistig  geschicht- 
lichen Gehalt  eine  Weltwende  ungeheuerster  Kraft. 
Es  ist  der  Beginn  einer  neuen  Zeitordnung.  Der  Hei- 
land wächst  empor  aus  Niedrigkeit,  Not,  Verfolgung. 
Seine  arme  Wiege  steht  mitten  im  Blutmeer  des 
bethlehemitischcn  Kindermordes.  Die  sentimentale 
und  idyllische  Verzwergung  des  Weihnachtsfestes,  in 
der  unsere  Kalenderdaten-Poeten  sich  sonst  christ- 
festlich behagten,  —  eine  kleine  Not,  eine  kleine 
Trauer,  die  unter  dem  Weihnachtsbaum  endigt  -  - 
ist  Strindben*  unfaßbar  fremd.  Die  Geburt  des  Er- 
lösers,  die  Stunde  der  Erlösung  ist  ihm  in  Wahrheit 
Welterschütterung,  Weltzcrtrümmerung,  Weltwendc. 
Die  Gespenster  der  alten  Zeit  jagen  in  rasendem 
Taumel  vorüber,  die  verfallene  Generation  wird  mit 
Skorpionen  gezüchtigt,  und  alle  Schrecken  und  Schauer 
eines  hereingebrochenen  seelischen  Chaos  werden  auf- 
gepeitscht. Aus  letzten  Verborgenheiten  kreischen 
äußerste  Worte  schamlos  hervor,  alle  Nachtvisionen 
hemmungslos  tobenden  Fiebers  werden  leibhaftig. 

Stofflich  wächst  das  Mysterium  aus  einer  Familien- 
geschichte heraus.    Es  ist  die  Tragödie  eines  alten 

346 


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Richters  und  seiner  Richterin,  des  gerechten  Richters, 
der  immer  nach  dem  Buchstaben  des  Gesetzes  gerich- 
tet, der  nach  Recht  und  Gesetz  zum  reichen  Mann 
geworden,  und  doch  sind  die  beiden  alten  Menschen 
Verbrecher.  In  den  5  Akten,  11  Bildern  des  VVeih- 
nachtsspiels  wird  ihr  Zusammenbruch  dargestellt. 
Auch  in  diesem  Werk  sind  persönliche  Erlebnisse  des 
Dichters  (aus  dem  Martyrium  seiner  zweiten  Ehe) 
verwoben,  aber  die  Gestalten  des  Richters  und  der 
Richterin  verallgemeinern  sich  zu  Symbolen  unserer 
finsteren  Menschheitsepoche  —  vor  der  Geburt  des 
Erlösers. 

Der  Richter  und  sein  Weib  sind  reich,  habsüchtig, 
grausam.  Sie  beide  leiden  an  einem  Gebrechen,  das 
sie  vor  sich  selbst  verbergen :  sie  vermögen  die  Sonne 
nicht  zu  ertragen.  So  verfolgt  sie  in  spukhaftem  Spiel 
überall  ein  Lichtschein,  eine  ,, Sonnenkatze",  und  ver- 
brennt sie.  Mit  der  Verjagung  des  Schwiegersohnes 
und  Pächters  auf  dem  Eigentum  des  Richters  setzt  die 
Handlung  ein.  Der  Eidam  ist  mit  der  Pacht  rück- 
ständig. Darum  muß  er  fort.  Die  eigene  Tochter 
wird  zu  niedrigsten  Magddiensten  gezwungen,  die 
Enkelkinder  von  den  harten  Großeltern  mißhandelt. 
So  heftet  sich  „der  Andere"  an  die  Fersen  des  schuld- 
beladenen Paares.  Die  Gestalt  des  Satans,  der  bald 
als  Franziskaner,  bald  als  Bettler,  in  der  Dämmerszene 
des  Ballfestes  im  „Wartesaal"  der  Unterwelt  als 
greiser,  stutzerhafter  Zeremonienmeister  erscheint, 
leidet  selbst  all  das  Böse,  das  er  ausüben  muß,  um 
Schuldige  zu  bestrafen.  Es  gehört  zu  den  erschüt- 
terndsten Eingebungen  in  diesem  Werk  der  Qualen, 
wie  die  Richterin  den  unreinen  Geist  durch  Harfen- 
spiel zu  verscheuchen  sucht  und  „der  Andere"  an  der 
Schwelle  des  Zimmers  der  süßen  Musik  lauscht,  in 
Rührung  verströmend,  für  einen  Augenblick  erlöst. 

Kein  Frieden  ist  mehr  zwischen  den  alten  Leuten. 
Sic  haben  sich  erkannt,  sie  sehen  sich  in  ihrer  nackten 


347 


Häßlichkeit.  Sie  belauern  sich,  schmähen  sich  und 
finden  sich  nur  einmal  im  Trunk  zusammen.  So  bricht 
das  Schicksal  über  sie  herein.  „Der  Andere*4  zieht  sie 
hinab.  Die  eitle  häßliche  Frau,  die  nicht  alt  sein  will, 
versinkt  in  einen  Sumpf,  in  dem  sie  erfroren  auf- 
gefunden wird.  Das  wird  in  jener  „Wartesaal"- Szene 
gestaltet,  die  bei  der  Darstellung  das  Publikum  er- 
starren machte:  Ein  finsterer  Talkessel,  ein  Thron 
für  die  Ballkönigin,  tote  Krüppel  und  Bettler  als  Ball- 
gäste, Musikanten,  die  aufspielen,  ohne  daß  ein  Ton 
gehört  wird,  sieben  Frauen  —  die  Todsünden  —  um- 
geben den  Thron,  ein  buckliger  Prinz,  Satan  als  Zere- 
monienmeister. In  diesem  stummen  Höllenbachanal 
erscheint  die  Richterin,  aufgeschminkt,  mit  bloßer 
Brust,  im  Rokoko-Gewand,  sie  girrt  mit  dem  Prinzen. 
Sie  tanzen  miteinander  ein  geiles  Menuett.  Sie  lispeln 
Schmeicheleien.  Dann  aber  sagen  sie  sich  die  Wahr- 
heit, und  der  Prinz  und  die  Richterin  fallen  in  wüst 
balgender  Wut  über  sich  her. 

Über  das  Habe  des  Richters  und  ihn  selbst  wird 
Auktion  gehalten.  „Der  Andere"  versteigert  alles 
ungerecht  erworbene  Gut,  jeder  erhält  das  Seinige 
wieder  und  der  Rest  wird  unter  die  Armen  verteilt. 
Schließlich  versteigert  „der  Andere"  den  Richter 
selbst.  Aber  niemand  bietet  auf  ihn.  Die  Opfer  des 
Richters  rotten  sich  wider  ihn  zusammen.  „Gibt  es 
keine  Sühne?"  stöhnt  der  Richter.  Erbarmungslos 
erwidert  „der  Andere":  „Doch,  Strafe  ist  Sühne! 
Hinaus  mit  ihm  in  den  Wald  und  steinigt  ihn!  Nach 
dem  Gesetz  Mose!  Ein  anderes  Gesetz  kennt  der 
Richter  nicht!  Hinaus  mit  ihm!"  Und  das  Volk  stei- 
nigt den  Richter. 

In  noch  tieferes  Grauen  steigt  das  Drama  hinab. 
Im  „Wartesaal"  finden  sich  der  tote  Richter  und  sein 
Weib  wieder.  Und  dieses  höllische  Zwiegespräch 
wagte  man  in  seiner  verwegensten  Steigerung  bei 
der  Aufführung  nicht  wiederzugeben.    Ihr  ganzes 


348 


Leben  erscheint  den  beiden  wie  Verwesung,  alle  Er- 
innerungen sind  gefault.  Niemals  hat  Verzweiflung 
am  menschlichen  Leben  so  furchtbar  sich  entblößt, 
wie  in  diesem  Dialog.  Sie  sprechen  von  der  Liebe 
ihre.  Jugend,  Wein,  Gesang,  Blumen,  Kinder,  Freunde 
—  die  Worte  haben  sie  behalten,  aber  es  sind  bloß 
Klänge  ohne  Bedeutung. 

Der  Richter.   Liebe!   Was  war  das? 

Die  Richterin.  Was  das  war?  Zwei  Katzen  auf 
einem  Abtrittsdach. 

Der  Richter  (albern).  Ja,  so  war  es.  So  war  es. 
Und  drei  Hunde  auf  einem  Trottoirrand.  Es  ist 
lieblich,  sich  zu  erinnern ! 

Die  Richterin  (drückt  seine  Hand).  Lieblich  ist  es! 

Und  alle  Begierden  erwachen  in  den  beiden,  hetzen 
sie,  aber  nicht  eine  dürfen  sie  befriedigen  —  Unselige. 

Die  Bilder  des  Grauens  sind  von  Anfang  an  durch- 
wirkt von  wunderholden  Kinderszenen.  In  ihnen  er- 
tönt fein  und  lieblich  zuerst  ein  schüchterner  Weih- 
nachtsklang.  Zu  den  von  der  bösen  Großmutter  miß- 
handelten Kindern  gesellt  sich  tröstend  und  schützend 
ein  blonder  Spielkamerad,  das  Christkind.  Nach  und 
nach  schwillt  der  Friedenston  mächtig  an,  selbst  in 
dem  Wartesaal  der  Büßenden  und  durch  Buße  und 
Bekenntnis  sich  Entsühnenden  dringt  zwar  nicht 
Sonne  und  Mond,  aber  einmal  steigt  doch  ein  Stern 
so  hoch  in  die  Welt,  daß  er  selbst  in  diese  Tiefe  hinab- 
leuchtet, der  Stern  Bethlehems.  Diesen  Stern  in  der 
Weihnachtsnacht  schauen  zu  dürfen,  ist  das  Weih- 
nachtsfest dort  unten.  Das  Bild  schließt  den  vierten 
Akt.  Der  fünfte  Akt  verklingt  im  Christfest  der  be- 
freiten Kinder.  An  der  Schwelle  des  Hauses  erschei- 
nen, entsühnt,  der  Richter  und  die  Richterin,  tote 
Pilger;  friedlich  dürfen  sie  das  neue  Menschenglück 
schauen.  Das  Christkind  kommt  als  Betteljunge  und 
wird  barmherzig  aufgenommen.  Das  Weihnachts- 
zimmer weitet  sich,  die  Wände  sinken,  in  schneeigem 


349 


Glänze  wächst  ein  Fichtenwald  auf,  belebt  von  dem 
unendlichen  Gewimmel  froher  Menschen,  für  die  alle 
das  Christkind  gleichermaßen  den  Gabentisch  ge- 
deckt hat. 

[Dezember  1915] 

VII. 

Die  Damaskus -Trilogic. 
Zur  Münchner  Uraufführung. 

Vor  Pfingsten  führten  die  Münchner  Kammer- 
spiele zum  ersten  Male  August  Strindbergs  Welt- 
trilogie  vom  heilig-unheiligen  Geist  auf:  Nach  Da- 
maskus. Der  erste  Teil  ist  seit  1900  in  Schweden,  seit 
1914  auch  in  Deutschland  über  die  Bühne  gegangen. 
Der  zweite  und  dritte  Teil,  der  auch  im  Vaterlande 
des  Dichters  bisher  Buchdichtung  geblieben,  erlebte 
jetzt  in  München  die  szenische  Urschöpfung.  Fried- 
rich Kaytiler  und  Helene  Fehdmer,  die  in 
Leben  und  Kunst  innig  Gesellten,  gestalteten  die 
Wandlungen  des  Unbekannten  und  der  Dame  auf  dem 
irdischen  Passionsweg.  Otto  Falckenberg  gab  als  Re- 
gisseur den  Visionen  der  Wirklichkeit,  der  Erinnerung, 
des  Traums  und  des  Wahns  das  feierliche  Grauen,  den 
prophetischen  Ernst,  die  gehetzte  Qual  und  die  sinn- 
liche Leuchtkraft  der  einsam  mächtigen  Dichtung. 
Die  sehr  bescheidenen  technischen  Mittel  der  kleinen 
Bühne  nötigten  zu  mancherlei  Vereinfachungen,  Ein- 
schränkungen und  Notbehelfen.  Noch  wagte  man 
nicht,  das  Publikum  für  drei  Abende  nacheinander 
ins  Theater  zu  laden.  So  zog  man  den  zweiten  und 
dritten  Teil  zu  einem  Abend  zusammen.  Darüber 
wurden  Kürzungen  notwendig,  denen  besonders  ge- 
waltigste Szenen  des  dritten  Teils  zum  Opfer  fielen. 
Dabei  blieb  die  Überfülle  der  Gesichte  des  2.  und 
3.  Teils  zu  reich  für  die  gewöhnliche  Aufnahmefähig- 
keit der  Zuschauer.   Dennoch  war  dieser  Abend  ein 


350 


Fest  tragischer  Erhebung,  die  im  Zermalmen  läutert 
und  löst.  Es  strömten  alle  Tiefen  aufwühlender  Ge- 
fühle von  der  Bühne,  und  man  erlebte  jene  höchste 
Entrückung  ins  Innerste  des  Menschenwesens,  die  der 
eigentliche  Wert  und  Sinn,  das  Geheimnis  des  großen 
Dramas  ist.  So  mochten  die  Griechen  ihr  Schicksal 
in  den  Trilogien  ihrer  Tragöden,  in  niederbeugender 
Erhebung  empfinden;  wenn  freilich  auch  das  Schick- 
salsdrama des  heutigen  Dichters  noch  erst  bloß  zu 
einem  zufälligen  Publikum,  nicht  zu  einem  notwen- 
digen Volke  spricht,  und  die  Wiedergeburt  des  Dramas 
als  eines  Pfingstfestes  der  Gemeinschaft  ferne  scheint. 

Aber  den  Mut  wird  man  ja  wohl  bald  finden,  die 
Trilogie,  in  ihren  drei  Teilen  gesondert,  vollständig 
zu  spielen.  Es  ist  rechtzeitig  vor  einer  Gefahr  zu 
warnen.  Nichts  verlockt  so  zu  einer  szenisch-musikali- 
schen Überwucherung  wie  das  Damaskus-Werk.  Bei 
Strindberg  ist  das  Szenische  keineswegs  gleichgültig. 
Es  gibt  keinen  Dramatiker,  bei  dem  die  Szene  viel- 
mehr selber  so  unmittelbar  dramatisches  Agens  ist; 
der  Raum,  in  den  die  Menschen  Strindbergs  gestellt 
sind,  ist  ein  unlöslicher  Teil  der  dramatischen  Bewe- 
gung. Das  entspringt  der  revolutionierenden  Natur- 
auffassung des  Dichters,  die  nichts  Totes  kennt,  son- 
dern in  allem  Seienden  Wandlungen  des  einen  Le- 
bendigen schaut,  für  die  das  ganze  Universum  eine 
ungeheuere  Einheit  schaffender  Phantasie  ist.  Nicht 
nur  die  Menschen,  auch  die  Steine  seufzen  und  klagen, 
die  Metalle  empfinden  wie  die  Tiere,  und  zwischen 
den  Eisblumen  an  der  gefrorenen  Fensterscheibe  und 
den  feinnervig  lebenden  Pflanzen  bestehen  tiefe  Be- 
ziehungen der  Verwandtschaft.  Das  spukhaft  Mit- 
tätige der  ,, äußeren"  Umgebung  der  Strindbergschen 
Gestalten  ist  also  weder  Aberglauben  noch  Krankheit, 
wie  immer  durch  krankhafte  T)berreizbarkeit  des  Ge- 
nialen vermittelt,  sondern  in  seinem  Sinne  Wahrheit 
und  Wirklichkeit.   So  ist  das  Bühnenbild  für  Strind- 


35i 


bcrg  am  allerwenigsten  nur  äußerliche  Zutat  des  Dra- 
matischen. Aber  es  muß  bescheiden  dienendes  Mittel 
des  Verständnisses  bleiben  und  darf  nicht  die  Herr- 
schaft der  darstellenden  Menschen  und  des  gestalten- 
den Wortes  verdrängen. 

Das  gerade  war  das  vorbildliche  Verdienst  dieser 
Münchner  Uraufführung.  Friedrich  Kayßler  hat 
dem  Unbekannten,  in  schlicht  formendem,  tiefsten 
Verständnis  Strindbergs  für  immer  die  als  notwendig 
wirkende  Gestalt  gegeben.  Es  ist  ein  ganz  besonderer 
Vorzug  seiner  schauspielerischen  Schöpfung,  daß  er 
das  modische  Mißverständnis  des  Dichters  ganz  und 
gar  vermied,  als  ob  es  um  die  Tragödie  eines  Zer- 
fallenen, Zerknirschten,  reuig  und  müde  Bekehrten, 
um  ein  Drama  der  Dekadenz  ginge.  Sein  Unbekannter 
blieb  ein  aufrecht  Trotzender,  ein  faustisch  ringender 
Held  männlicher  Kraft  bis  zum  letzten  Augenblick, 
da  er  sich  mit  dem  schwarzen  Bahrtuch,  als  dem  ab- 
scheidenden Schleier  der  Vergangenheit,  entschlossen 
und  gesammelt  bedecken  läßt.  Frau  Fehdmer  ist  die 
innig  verbundene  zweite  Stimme  in  dieser  Weltklage 
des  Unbekannten,  Unbehausten,  in  dreifacher  Wand- 
lung: Die  schillernd,  zerrinnend  Unbewußte,  Un- 
bestimmte im  ersten  Teil,  das  von  allen  Tücken  und 
Bosheiten  zerfressene  und  gehetzte  Weib,  das  im 
zweiten  Teil  von  giftiger  Erkenntnis  genossen,  die 
mater  dolorosa  im  Schlußstück. 

In  einer  Zeit,  da  die  Vernunft  und  Sehnsucht  des 
einzelnen  hoffnungslos  —  wie  es  scheint  —  mit  dem 
unheilbaren  Wahnsinn  der  ganzen  Welt  ringt,  gewinnt 
das  persönliche  Schicksal  Strindbergs  in  seiner  dra- 
matischen Verewigung  und  künstlerischen  Vollendung 
eine  ungeahnte  Bedeutung.  Wir  verstehen  jetzt  alle 
wie  unser  eigenes  Erlebnis  die  ungeheuerste  Tragik 
des  Erdendaseins:  das  Suchen  des  aus  jeder  mensch- 
lichen Sicherheit  in  undurchdringliche  Wirrnis  Ge- 
schleuderten nach  neuem,  festem  Lebenssinn.  Der 

352 


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grauenschweie  Pilgervveg,  zwischen  Tod  und  Teufel, 
nach  Damaskus  ist  keine  Flucht,  keine  bußfertige, 
gebrochen-gläubige  Bekehrung,  er  ist  Wiedergeburt. 

• 

Als  Mann  von  45  Jahren  erlebte  Strindberg  in  Paris 
sein  Inferno.  Es  sind  die  Jahre  seines  dichterischen 
Schweigens,  in  denen  er  in  seinem  gärenden  Hirn  um- 
stürzende naturwissenschaftliche  Entdeckungen  wälzt, 
und  als  neuer  Alchymist  die  Umwandlung  der  Ele- 
mente —  Schwefel  in  Gold  —  experimentell  sucht, 
bis  er  die  Hände  am  glühenden  Schwefel  verbrannt, 
im  Spital  verschwindet.  Was  er  damals  in  mystischen 
Pariser  Journalen  und  in  den  voll  tiefsinnigen  wissen- 
schaftlichen Ahnungen  —  deren  Sieg  in  der  wissen- 
schaftlichen Welt  der  „Verrückte"  noch  erleben  sollte 
—  erfüllten  Buche  Sylva  Sylvarum  (1896)  mit  unver- 
minderter Kraft  der  Darstellung  schrieb,  war  das 
einzige,  was  er  in  jener  qualvollsten  Periode  seines 
Daseins  veröffentlichte.  In  der  Damaskus-Trilogie 
gestaltete  er  jene  Erlebnisse,  in  weltsymbolischer  Um- 
fassung, nach  dem  Wiederaufbruch  seines  dichterischen 
Schaffens,  als  Genesener,  indem  er  zugleich  eine  neue 
dramatische  Form  von  unerhörter  Ausdrucksfähigkeit 
für  das  Geheimste  und  Unfaßbarste  fand.  Der  erste 
und  zweite  Teil  wurde  1898,  der  dritte  1901  ge- 
schrieben. 

Strindberg  kam  nach  Paris  als  ein  Gescheiterter, 
der  völlig  außerhalb  der  Gesellschaft  stand.  Er  war  aus 
dem  Vaterland  vertrieben.  Sein  Ruhm  war  in  Ver- 
achtung und  Verleumdung  verwest.  Seine  persönlich- 
familiären  Verhältnisse  waren  bis  ins  Kriminelle  ver- 
wirrt. Er  war  von  Prozessen,  übler  Nachrede,  drän- 
genden Gläubigern  verfolgt.  Er  war  körperlich  er- 
schöpft. Über  seiner  Seele  zog  sich  der  Verfolgungs- 
wahn immer  enger  zusammen,  dessen  unheimliche  und 
marternde  Erscheinung  er  mit  seiner  immer  wachen, 


2j    E  i in  er  ,  Gesammelte  Schriften.  II. 


353 


kritisch  hellen  Intelligenz  —  zu  seinem  Heil  — 
zu  kontrollieren  vermochte.  Er  stand,  fast  mittel- 
los, menschenscheu  in  der  fremden  Stadt  und  erlebte 
so  die  Nichtigkeit  und  Wehrlosigkeit  des  einzelnen 
in  der  wüsten  Anarchie  der  heutigen  Gesellschaft, 
während  er  zuvor,  in  der  Übermenschenzeit  jener 
Jahre,  deren  größtes  Zeugnis  der  Roman  „An  offener 
See"  war,  die  weltschöpferische  Selbstherrlichkeit  der 
genialen  Persönlichkeit  gedichtet  hatte.  Alle  politi- 
schen Überzeugungen  hatten  sich  ihm  als  vergänglich 
erwiesen.  Was  gestern  als  sicherste  wissenschaftliche 
Wahrheit  sich  spreizte,  wurde  morgen  auf  den  Kehricht- 
haufen alberner  Irrtümer  geworfen.  Alles  war  Mode, 
ward  Moder.  Es  war  kein  Sinn  in  dem  wirren,  quälen- 
den Getriebe  zu  erkennen.  Ein  Zufall,  ein  Nichts  das 
Leben  des  einzelnen  wie  der  Gesamtheit,  und  eine 
Hölle  obendrein. 

In  solchen,  von  Halluzinationen  verstörten  Stim- 
mungen, die  zwischen  Verzweiflung  und  aufbäumen- 
dem Trotz  kreisten,  geriet  ihm  Balzacs  mystische  Er- 
zählung Seraphita  —  halb  ein  dämonischer  Märchen- 
spuk, halb  eine  literarische  Einführung  in  Swedenborg 
—  in  die  Hände.  Und  dann  vertiefte  er  sich  in  den 
unendlichen  Irrgarten  der  bändereichen  Himmels- 
und Höllengeheimnisse  seines  schwedischen  Lands- 
manns. Swedenborg,  der  zwischen  der  englischen  und 
französischen  Revolution  lebte,  war  als  Mann  an 
geistiger  Universalität  einem  Leibniz  ebenbürtig. 
Der  Greis  wurde  jener  „Geisterseher",  gegen  dessen 
unheimliche  Offenbarungen  einst  Kant  von  der  auf- 
gestörten Welt  behaglich  selbstsicherer  Aufklärung 
zu  Hilfe  gerufen  wurde.  Wer  heute  diese  Greisen- 
Schriften  Swedenborgs  liest,  wird  gleich  Strindberg 
von  der  unerschöpflichen  Höllengreuelphantasie  dieser 
verkleideten  moralischen  Lehrbücher  verblüfft  wer- 
den, aber  man  wird  schwerlich  den  überwältigenden 
Eindruck  empfinden,  den  der  kranke  Strindberg  er- 

354 


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litt;  denn  im  Grunde  sind  diese  Gesichte  ungezählter 
Erdenhöllen  trotz  aller  Unerschöpflichkeit  der  Er- 
findung doch  mehr  ein  dürrer  Katalog  von  tausend 
Sorten  scheußlicher  Qualen,  als  eine  dichterisch  emp- 
fundene Schilderung.  Aber  Strindberg  sah  damals 
in  Swedenborgs  Bekenntnissen  eigene  rätselhafte  Er- 
fahrungen wieder,  und  so  gewann  er  aus  dem  alten 
Geisterseher  die  Richtung  seiner  eigenen  geistigen 
Wandlung.  Unter  Swedenborgs  Einfluß  bildet  sich 
ihm  die  sittliche  Weltansicht,  daß  Sünde  und  Ver- 
brechen nicht  sowohl  Erscheinungen  seien,  die  durch 
Strafe  gebüßt  werden  sollen,  sondern  daß  sie  selber 
schon  von  einer  geheimnisvollen  Vorsehung  auferlegte 
Strafen  seien,  die  durch  Leiden  läutern;  Schuld 
heischt  nicht  Strafe,  Schuld  ist  Strafe. 

Das  ist  die  religiös-sittlich-soziale  Grundidee  der 
Damaskus-Trilogie.  Wenn  sich  die  „Bekehrung*'  des 
Ketzers  an  die  Organisationen  der  katholischen  Kirche 
ästhetisch  anzulehnen  scheint,  so  wäre  es  doch  die 
schlimmste  Verkennung,  die  Wandlung  in  irgendeiner 
noch  so  allgemeinen  Art  als  den  Prozeß  eines  gewöhn- 
lichen Konvertitentums  —  etwa  nach  dem  Vorgang 
der  deutschen  Romantiker  am  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts —  zu  deuten.  Die  Freiheit  der  menschlichen 
Vernunft,  die  Schrankenlosigkeit  der  wissenschaft- 
lichen Forschung  wird  auf  allen  Stationen  des  Pas- 
sionsweges nach  Damaskus  nicht  sowohl  verleugnet 
als  vielmehr  in  höchster  Steigerung  gefordert.  Es  ist 
keine  Rückkehr  zum  kirchlichen  Glauben,  wenn  in 
dem  Goldmacherbankett  des  zweiten  Teils  —  der 
gewaltigsten  Szene,  die  jemals  ein  Dramatiker  erson- 
nen —  die  Anmaßung  des  forschenden  Wahns  ver- 
höhnt, die  tragische  Unstäte  und  Unsicherheit  aller 
geistigen  Werte  visionär  gestaltet  wird,  ebensowenig 
wie  es  das  Kloster  eines  wirklichen  Kirchenordens  ist, 
in  dem  der  Unbekannte  schließlich  seinen  Frieden  — 
seinen  Frieden  für  neuen  Kampf!  —  findet,  sondern 


355 


die  Heimstätte  höchster  Weisheit  und  geistigster 
Freiheit. 

Strindberg  spricht  es  am  Schlüsse  der  Damaskus- 
Trilogie  deutlich  aus,  was  sein  Unbekannter  sucht: 
nicht  die  Bekehrung,  die  Abschvvörung,  sondern  die 
Zusammenfassung,  die  Einheit,  die  Synthese.  Hu- 
manität und  Resignation  —  diese  Formel,  in  der  auch 
die  deutsche  Klassik  einst  sich  vollendete  —  das  ist 
die  Mission  des  Menschen.  Der  einzelne  resigniert, 
er  findet  in  der  Entsagung  der  allzu  ungebärdigen 
Ichbegierden  die  geläuterte  Kraft  zur  Humanität;  er* 
taucht  in  die  Menschheit,  in  die  Menschlichkeit  unter. 
Das  Bahrtuch,  mit  dem  der  Unbekannte  in  dem 
Kloster  der  Urweisen  in  den  Sarg  gelegt  wurde,  bringt 
den  Übermenschen  zur  Ruhe  und  läßt  auferstehen: 
den  Menschen.  Als  Strindberg  den  Weg  nach  Da- 
maskus gefunden,  war  er,  in  religiös  verinnerlichter 
Wandlung,  zum  Sozialismus  seiner  Jugend  zurück- 
gekehrt. 

Dichterisch  aber  hatte  Strindberg  durch  diesen 
Passionsweg  vom  Ich-Künstler  zur  Menschheit  die 
Gabe  gefunden,  das  Ohr  dieser  Menschheit  zu  sein, 
das  alle  Stimmen,  alle  ihre  Klagen,  Leiden,  Sehn- 
süchte vernahm,  und  was  es  hörte,  in  künstlerischen 
Gebilden  ursprünglich  schöpferisch  wiederzugeben 
verstand. 

In  dem  Pariser  Buch  Sylva  Sylvarum  erzählt  Strind- 
berg, wie  er  einmal  im  Marmorhof  von  Versailles  an 
einer  Mauer  ein  geheimnisvolles  Brausen  vernimmt: 
„Ich  höre  ein  donnerndes  Meer,  Volkshaufen,  die 
stöhnen,  verlassene  Herzen,  deren  Schläge  ein  mattes 
Blut  aufpumpen,  Nerven,  die  mit  einem  kurzen, 
klanglosen  Knall  platzen,  Schluchzen,  Gelächter, 
Seufzer!  .  .  ."  Das  ist  das  Ohr  des  Dionys,  durch  das 
er  ganz  Paris  hörte.  So  hörte  er  dann  die  Seelen  der 
Menschheit  reden,  und  so  weiten  sich  die  ganz  ein- 
fachen Erlebnisse  und  die  natürlich  selbstverständ- 

356 


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liehen  Dinge  des  Alltags,  die  den  Grundstoff  seiner 
späten  Dramen  bilden,  zum  geheimnisvoll  erschüt- 
ternden Gleichnis  des  Unermeßlichen  und  Ewigen. 

[Pfingsten  1916.] 

VIII. 
Traumspiel. 

Keines  seiner  Werke  hat  Strindberg  so  geliebt  wie 
das  Traumspiel.  Aus  tiefster  Qual  erwachsen,  ist  dies 
Weltgleichnis  doch  zugleich  verklärt  von  dem  sehn- 
süchtigen Schimmer  einer  letzten  Liebe  (die  ihm 
wie  aus  Indras  Himmeln  herabgestiegen  schien)  und 
der  milderen  Weisheit  des  Greisen.  Die  urgewaltige 
Tragödie  ward  Strindbergs  Vermächtnis  an  die 
Menschheit  und  zugleich  sein  Martyrium  für  die 
Menschheit.  Wenn  am  Schluß  des  Traumspiels  der 
Dichter  der  Tochter  Indras,  bevor  sie  im  Flammen- 
tod von  der  irdischen  Schwere  sich  befreit  und  von 
dem  menschlichen  Schmutz  sich  reinigt,  die  Klagen 
der  Menschheit  in  einer  Bittschrift  für  den  göttlichen 
Vater  mitgibt,  damit  er  erkennte,  wie  schlimm  das 
Schicksal  der  Irdischen,  so  ist  das  mehr  wie  ein  sym- 
bolisches Finale.  Es  zittert  in  dieser  Apotheose,  vor 
der  Erhabenheit  der  eigenen  Eingebung  in  zagender 
Ehrfurcht  erschauernd,  die  tiefste  Mystik  dichterischen 
Berufs;  dem  Dichter  ist  wahrhaft  die  Kraft  verliehen, 
Fürsprech  der  leidenden  Kreatur  bei  der  geheimnisvoll 
waltenden,  ewigen  Vorsehung  zu  sein :  der  Dichter  erst 
lehrt  den  Schöpfer  der  Himmel  und  Erden,  den  Un- 
wissenden in  seiner  Allwissenheit  seinen  grenzenlosen 
Geist  erfüllen  mit  dem  Wissen  von  seinen  Geschöpfen . . . 

Die  Tochter  Indras  steigt  auf  die  Erde,  um  zu  er- 
fahren, wie  die  Menschen  leben,  um  der  Menschheit 
ganzen  Jammer  zu  sehen  und  selbst  zu  leiden.  Ein 
Heilands-Drama  in  den  Visionen  eines  Traumes!  Der 
Bühnentraum  ist  in  der  Weltliteratur  ein  häufiger 


357 


Behelf  der  Poeten.  Aber  was  man  sonst  dramatisch 
träumte,  war  nicht  sowohl  Traum  als  Märchen,  phan- 
tastisches Spiel  mit  den  Wirklichkeiten.  Erst  Strind- 
berg  hat,  mit  jener  beschwörenden  Kraft  sinnlicher 
Verdichtung  und  der  unmittelbar  zu  Wort,  Bild, 
Handlung  werdenden  Veranschaulichung  seelischer 
Erregungen,  jener  Kraft,  die  selbst  Shakespeare  gleich 
vollkommen  nicht  besessen  hat,  einen  wirklichen 
Traum  dramatisch  gestaltet.  Was  wir  auf  der  Bühne 
schauen,  ist  ein  Traum,  der  sich  seiner  selbst  bewußt 
wird  und  losgelöst  von  seinem  Träumen  sich  selber 
sichtbar  träumt.  Nicht  ohne  tiefe  Bedeutung  ist 
das  Drama  schlechthin  Traumspiel  benannt.  Denn 
nicht  sowohl  die  einzelnen  Inhalte,  Vorgänge  des 
Traumes  bilden  die  symbolischen  Beziehungen.  Das 
Traumwesen  selbst  ist  das  umfassende  Gleichnis  des 
Lebensgefühls  und  des  Wesens  alles  Menschlichen. 
Dieses  Hetzen  zugleich  und  Lähmen  —  dieses  von 
allen  Fesseln,  über  alles  mögliche  hinaus  Sichbefreien 
und  Sicherfüllen,  und  doch  wieder  das  grauenschwere 
Einschnüren,  Bannen,  Verengen,  Entleeren  —  das 
Aufglühen  und  Veröden  —  das  stürmische  Empor- 
bäumen und  das  klägliche  Zerschellen  —  das  rastlos 
sich  Erneuende,  unendlich  Blühende,  Urzauber  zeu- 
gende und  dennoch  sich  eintönig  Wiederholende,  das 
immer  wieder  noch  einmal  Hindurchmüssen  —  das 
glühend  Leuchtende  und  schattenhaft  Verwehende, 
Verwesende  —  die  Verwandlung  kleinster  Alltäglich- 
keiten in  Mysterien  des  Weltschicksals  und  die  Ver- 
zerrung der  letzten  und  höchsten  Gedanken  in  grin- 
sende Albernheiten  —  das  Aufflirren  von  Erinnerungen 
und  das  Vergessen  des  Gegenwärtigen  —  die  über- 
selige Qual  der  Lust  und  die  Erlösermacht  des  Schmer- 
zes —  die  Wunderkraft  des  Alles  verwirklichen  und  der 
Vernichtungsspuk  des  ewig  Hoffnungslosen  — :  so 
träumen  wir,  und  diese  Natur  des  Traumes  an  sich  ist 
das  innerste  Gesetz  des  Menschenschicksals.  Das  ist 


358 


die  Symbolik  der  Dichtung,  während  die  Einzelvor- 
gänge so  wenig  symbolisch  sind,  daß  sie  vielmehr 
durchaus  naturalistisch  gemeint  und  geformt  sind,  sich 
aus  eigenem  dramatischen  Recht  entfalten,  wenn 
auch  durch  das  Medium  der  Nacht  und  des  Fiebers 
gesehen  und  zu  unerhörter  stofflicher  Eigenart  und  Ur- 
sprünglichkeit gesteigert. 

Alle  diese  Bilder  von  leuchtender  Eindringlichkeit 
und  dramatischer  Gewalt  inszenieren  nur  den  einen 
großen  Dialog  zwischen  der  Tochter  Indras  und  dem 
Manne,  dessen  Hüllen  wechseln  und  der  doch  immer 
derselbe  Strindberg  ist,  ob  er  nun  als  Offizier  ewig 
gläubig  auf  die  unsichtbare  Geliebte  wartet,  ob  er 
als  Advokat  alle  Bosheiten  und  Verbrechen  seiner 
Kundschaft  in  sich  aufnimmt,  ob  er  als  Quarantäne- 
meister mit  geschwärztem  Gesicht  ein  Sanatorium 
von  Gespenstern  leitet  oder  als  Dichter,  im  Schlamme 
badend,  mit  der  Unendlichkeit  Zwiesprache  hält.  Zwi- 
schen dem  Weib,  das  vom  Himmel  stieg,  und  dem 
Manne,  der  durch  die  Höllen  der  Erde  gewandert, 
wird  die  Sache  der  Menschheit  verhandelt,  der  Dialog 
über  das  weltwehe  Wort:  Es  ist  schade  um  die  Men- 
schen! Es  ist  schwer,  Mensch  zu  sein! 

Die  Aufführung  des  Traumspiels  durch  das  Mün- 
chener Schauspielhaus,  die  so  lange  ersehnte  und  so  oft 
befürwortete,  brachte  mich  in  die  Lage  des  Zettel- 
anklebers im  Drama,  der  sich  all  die  Jahre  einen  Senk- 
hamen gewünscht,  und  wie  er  ihm  endlich  beschert 
worden,  sich  zwar  freut,  aber  auch  schmerzhaft  spürt, 
daß  er  ihn  sich  eigentlich  anders  gedacht.  Man  ehrte 
sich  durch  die  Treue  am  Text,  den  man  zum  Glück 
weder  bearbeitete,  noch  zusammenstrich.  Freilich 
wagte  sich  auch  an  dieses  erhaben-heilige  Werk  eine 
unberufene  Hand.  In  der  Strandszene  am  Mittel- 
ländischen Meere  wurde  die  soziale  Anklage  der  beiden 
Kohlenträger  verstümmelt;  man  tilgte  neben  anderem 
das  bitterste  Epigramm,  das  jemals  auf  den  Gegen- 


359 


satz  zwischen  reich  und  arm  ersonnen.  Im  Münchener 
Schauspielhause  durfte  der  Müßiggänger  nicht  er- 
scheinen und  zu  seiner  Frau  sagen,  daß  er  noch  ein 
wenig  gehen  müsse,  um  essen  zu  können.  Und  die 
Kohlenträger  durften  an  dieses  Gespräch  nicht  ihre 
Betrachtungen  fügen: 

Erster  Kohlen  träger:  UmMittag  essenzu  können. 

Zweiter  Kohlenträger:  Um  zu  können  .  .  . 

So  bin  ich  bereit,  jedes  Lob  dem  Unternehmen  zu 
spenden.  Aber  das  Traumspiel  ward  es  nicht.  Man 
hat,  wie  auch  in  Frankfurt,  statt  Strindbergs  eigenen 
Anregungen  zu  folgen,  sich  die  Berliner  Inszenierung 
geholt.  Und  die  wählte  von  allen  denkbaren  Mitteln 
der  szenischen  Bewältigung  das  falscheste:  die  Ver- 
operung,  die  Veroperung  durch  das  Übermaß  von 
Musik  und  durch  robust  aufdringliche  Dekorationen. 

In  Strindbergs  Bühnenwerken  ist  Musik  ein  wich- 
tiges musikalisches  Agens.  Aber  sie  ist  fast  immer  ein 
Teil  der  Handlung.  Wie  unheimlich  aufregend  ist 
etwa  die  Verwendung  des  sonst  so  harmlos  klingenden 
Mendelssohnschen  Trauermarsches  in  Damaskus !  Auch 
für  das  Traumspiel  hat  Strindberg  die  musikalischen 
Zutaten  vorgeschrieben;  so  soll  die  häßliche  Edith  ihre 
Leidenschaft  in  Bachs  Toccata  con  Fuga  Nr.  10  aus- 
strömen. Oder  nach  dem  Vorspiel  wünscht  er  den  Ge- 
wittersatz aus  der  Pastorale.  Für  die  Berliner  Auf- 
führung aber  hat  Reznicek  eine  eigene  Musik  geschrie- 
ben, die  man  auch  in  München  hörte.  Es  gibt  auch 
musikalische  Traumspiele,  das  größte  die  phantastische 
Symphonie  von  Berlioz  (mit  dem  Dies-irae-Cancan). 
Rezniceks  Musik  ist  gewiß  von  illustrativem  Reiz,  die 
Schatten  und  Fratzen  des  Traumes  sind  nicht  ohne 
Feinheit  und  Erfindung,  das  Holdselige  und  Sehn- 
süchtige einprägsam  zum  Klingen  gebracht.  Aber  in 
ihrem  vordrängenden  Übermaß  wirkt  diese  Musik 
nicht  die  Traumillusion  steigernd,  den  Tiefsinn  des 
Wortes,  die  phantastische  Tragik  nicht  verstärkend, 

360 


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sondern  im  Gegenteil  schwächend,  verflachend,  ab- 
lenkend, vergröbernd.  Und  wenn  die  musikalischen 
Zwischenspiele  über  die  Verwandlungspausen  hinweg- 
helfen mögen,  so  dehnen  sie  dafür  als  melodramatische 
Stimmungshelfer  Wort  und  Vorgang  —  bis  zu  sinn- 
losen Tempoverschleppungen,  die  ein  Lied  wie  die 
herrliche  Klage  der  Winde  zugrunde  richteten. 

Dasselbe  ist  gegen  die  ganze  Inszenierung  einzu- 
wenden. Auch  sie  wirkt  durchwegs  illusionszerstörend. 
Leistet  die  Technik  einerseits  nicht,  was  sie  könnte: 
das  zerrinnende  Ineinanderübergehen  der  Szenen, 
stört  vielmehr  der  knarrende  Apparat  unaufhörlich  aus 
der  Andacht,  so  sündigt  die  Inszenierung  auf  der  an- 
deren Seite  durch  ein  Zuviel.  Die  Berliner  Bühnen- 
bilder sind  —  zum  kleineren  Teil  —  von  traumhafter 
Phantastik,  im  ganzen  aber  sind  sie  grob-körperliche 
Ausstattung,  Kulissensensation,  die  die  traumversenk- 
ten nächtigen  Gespinste  grell  verdeutlichen  und  da- 
mit verscheuchen. 

[November  1916.] 

IX. 
Brandstätte. 

Deutsche  Uraufführung  in  den  Münchner 
Kammerspielen. 

D-»r  Fremde  Friedrich  Kayßler. 

Ein  altes  Wohnhaus  ist  niedergebrannt.  Nur  die 
Mauern  stehen  noch.  Möbel,  Gerät,  Bücher,  Bilder 
liegen  wüst  auf  einem  Haufen.  Die  Menschen,  die 
dort  gewohnt,  kommen,  schwatzen,  verleumden.  Der 
Brand  hat  das  Dach  von  den  Geheimnissen  der  Be- 
wohner gehoben.  Die  Geschichte  von  Generationen 
wird  enthüllt.  Die  Ruinen  reden,  beichten,  klagen  an. 
Es  war  ein  Haus  in  einem  öden  Viertel,  das  Morast 
genannt  wird.  Alles  ist  Lüge,  Täuschung.  All  diese 
Menschen  sind  einig  darin,  daß  sie  selbst  Rollen  der 
Ehrbarkeit  spielen  und  den  anderen  jedes  Verbrechen 


361 


zutrauen.  Niemand  zweifelt  daran,  daß  das  Feuer 
angelegt  worden.  Aber  wer  war  es  ?  Der  Färber,  der 
Hausbesitzer,  der  Student,  der  Steinmetz?  An  der 
Brandstätte  erscheint,  von  Sehnsucht  nach  dem 
Elternhaus  getrieben,  der  Fremde,  der  Bruder  des 
Färbers,  ein  unsteter  Weltwanderer.  Der  ist  über  das 
Leben  hinausgewachsen.  Er  sieht  in  die  Herzen, 
durchschaut  die  Geheimnisse  und  Winkelzüge  der 
verdorbenen  Seelen.  Ihn  schreckt  nichts  mehr,  ihn 
ängstigt  nichts  mehr.  Er  verfolgt  die  wunderlichen 
Launen  des  Schicksals,  das  die  Menschen  sich  weben, 
in  dem  sie  sich  zugleich  verfangen.  Er  versteht,  ohne 
zu  verzeihen,  aber  auch  ohne  zu  richten  und  zu  rächen. 
Sein  eigenes  Leben  wächst  auf  der  Brandstätte,  in 
trüben  Erinnerungen  empor.  Er  fand  den  Weg  zum 
Leiden,  zur  Wahrheit,  zur  Hoffnung.  Die  anderen 
aber  ersticken  in  ihren  Masken.  Nichts  ist  echt,  nicht 
einmal  der  Ebenholztisch,  der  Stolz  der  Familie;  das 
Feuer  brachte  es  an  den  Tag,  daß  es  nur  angstrichener 
Ahorn  gewesen.  Aber  die  niedergelegten  Mauern 
geben  den  prangenden  Garten  mit  den  blühenden 
Apfelbäumen  frei  —  ein  Paradies  der  Schönheit  über 
den  widrigen  Gebresten  dieser  Menschen  im  Morast. 
Gibt  es  für  die  Menschen  kein  Blühen  ?  Der  Student 
ist,  unschuldig,  als  Brandstifter  verhaftet;  in  seinem 
Zimmer  fand  man  die  Haarnadeln,  die  der  jungen 
Frau  des  Färbers  gehören.  Die  Frau  empfängt  in 
ihrer  Verzweiflung  über  das  Unglück  des  geliebten 
jungen  Menschen  vom  Fremden,  ihrem  Schwager, 
die  tröstende  Weisheit:  Betrübnis  gibt  Geduld,  Ge- 
duld gibt  Erfahrung,  Erfahrung  gibt  Hoffnung,  und 
die  Hoffnung  läßt  nicht  zuschanden  werden.  Dann 
rechnet  der  Fremde  mit  dem  Bruder  ab  und  verläßt 
die  Brandstätte  seiner  Heimat:  „Wieder  hinaus  in  die 
weite  Welt,  Wanderer!" 

Unmittelbar  aus  dem  Szenenbilde  wächst  das  Drama 
hervor.  In  dem  sichtbaren  Inventar  einer  Brandstätte 


362 


baut  sich  die  Tragödie  einer  verfallenden  Welt  auf. 
Dies  Drama  ist  die  tiefste,  innerlichste  Verbindung 
von  Schauen  und  Klingen.  Das  sinnliche  Bild  beginnt 
zu  tönen.  Jeder  der  kommenden  und  gehenden  Men- 
schen ist  wie  ein  symphonisches  Thema.  Die  Motive 
steigen  und  fallen,  verschlingen  und  lösen  sich,  wan- 
deln und  verändern  sich,  und  dienen  alle  der  herr- 
schenden Cello -Melodie  des  Fremden.  Strindbergs 
Kammerspiel  ist  gesprochene  Musik.  Das  ist  das  Ge- 
heimnis der  bannenden  dramatischen  Wirkung  dieser 
Szenen,  die  doch  nichts  als  ins  Unendliche  gleitende 
Gespräche  scheinen. 

Den  Fremden  sprach  Friedrich  Kayßler.  Er 
ist  auf  der  Bühne,  was  der  sinnlos  früh  gestorbene 
Emil  Milan  im  Vortragssaal  war.  Er  erlebt  in  sich 
die  dichterischen  Gestaltungen,  als  hätte  er  sie  selbst 
geschaffen  oder  vielmehr  als  schaffe  er  sie  eben. 
Kayßler  spielt  keine  Rolle,  kaum,  daß  er  die  Maske 
andeutet.  In  Strindbergs  Seele  erschließt  er  sein 
eigenes  Wesen.  Er  schlüpft  nicht  in  fremde  Körper 
und  Geister,  die  Gestalten  suchen  ihn  und  wachsen 
aus  ihm,  als  ihrem  Urgrund.  So  schwingt  jedes  Wort 
in  rauschendem  Gefühl.  Gereifte  Erfahrung  bekennt 
sich  in  gefaßter  Wehmut,  in  männlich  verhaltener 
Empfindsamkeit  und  einer  unbeirrbaren  Wahrhaftig- 
keit, die  doch  niemals  verzichtet,  Märchen  zu  träumen 
von  neuen  Kindheiten.  Bisweilen  aber  läutet  diese 
milde,  sinnende  Stimme  Sturm  und  dann  ist's  wie  die 
Ankündigung  von  zerschmetterndem  Erdbeben. 

Falckenberg,  der  auch  dies  späte  Werk  Strindbergs 
inszeniert  hat,  strebt  stilistisch  etwas  wie  einen  reli- 
giösen Ritus  an,  um  das  Eigentümliche  dieser  drama- 
tischen Wirklichkeitslegenden  zu  versinnlichen.  In 
dem  Anhauch  des  Metaphysischen  verbinden  sich 
die  beiden  Elemente  der  letzten  Dramen  Strindbergs: 
realistische  Mysterien. 

[Mai  1917.] 

363 


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Beschluß. 

Eropsyche  singt  von  neuem  Leben. 

.  .  .  Freies,  krafterfülltes,  glückgefühltes  Schreiten 
Der  beseelten  Menschen  zwischen  zwei  Gestaden 
Unbekannten,  unbewegten,  unentrinnbar 
Allumträumten  Dunkels, 
Hoch  im  Strahle  ihres  reinen  Willens  — 
Lichtbewußt  .  .  . 


364 


Di 


Inhalt 


Dritter  Teil:  Befreiung. 

Schi' 


1.  Das  ewige  Fricdensmanifest   5 

2.  Ein  Friedhof  der  Lebenden     lö 

3.  Kommunismus  des  Geistes   15 

4.  Religion  des  Sozialismus   27 

g.  Sieben  Briefe.  An  eine  Freundin   39 

Natur  und  Kultur.  —  Die  große  Unruhe.  —  Der 
verlorene  Ein/eine.  —  Solidarität.  — Fine  Welt- 
fahrt in  50  Kilometern.  —  Wagenklassen.  — 
Fremde  Seelen. 

6.  Die  ewigen  Arbeiter.    Eine  soziale  Wanderung  .  70 

7.  Unter  der  Sonne    .   86 

8.  Festlicher  Kampf   92 

q.  Die  Kindesmörderin   07 

10.  Vom  unheüigen  Weltgeist.    Eine  Pf ings tiegende  .  105 

11.  Der  Zuhälter.   Eine  Erinnerung   110 

12.  Die  neue  Lehre  von  Bethlehem   116 

13.  Kopenhagen  .141 

Nachschrift  1918  (Jaures)   148 

Vierter  Teil:  Geister. 

1.  Revolutionäre  Humanität.  Zum  Gedächtnis  Herders  153 

2.  Kant   i6> 

3.  Der  Philosoph  des  sozialen  Enthusiasmus  (Fichte)  187 

Anhang:  Zu  Fichtes  Charakterbild. 

Fichtes  Nationalismus.  —  Firhte  und 
Tolstoi. 

4.  Uber  Schillers  Idealismus   217 

5.  Das  klassische  Elend   231; 

6.  Der  punktierte  Goethe   251 


365 


7«  Das  Preußentum  Heinrich  Kleists   259 

8.  Karl  Marx*  Kunstauffassung    27g 

9.  Arno  Holz:  Ignorabimus.  Ein  Weckruf    .  .  .  .279 

10.  Jonathan  Swift    288 

11.  Marie-Joseph  Chenier   304 

12.  Zolas  Werk   3 10 

13.  Strindbcrg  nach  der  Höllenfahrt   327 

Scheiterhaufen.  —  Rausch.  —  Gespenstersonate. 

—  Totentanz.  —  Wetterleuchten.  —  Advent. 

—  Die  Damaskus-Trilogie.  —  Traumspiel  - 
Brandstätte. 

Beschluß: 

F.ropsyche  singt  von  neuem  Leben  364 


366 


■ 


In  Kürze  erscheint  im 
VERLAG  PAUL  CASSIRER  /  BERLIN  W  10 


DIE  GÖTTERPRÜFUNG 

Eine  weltgeschichtliche  Posse  in  fünf  Akten 
und  einer  Zwischenpantomime  von 

KURT  EISNER 


B  egonnen:Frühjahr  1898  im  Strafgefängnis 

am  Plötzensee. 
Vollendet:  Februar/März  1918  im  Unter- 
suchungsgefängnis am  Neudeck  zu  München. 


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SOZIALISTISCHE 
SCHRIFTEN  ZUR  REVOLUTION 

I 

Soeben  erschienen: 

FRIEDRICH  ADLER 

Friedrich  Adler  vor  dem  Ausnahmegericht  8. —  M. 

LUDWIG  BAUER 

Der  Kampf  um  den  Frieden  6.—  M. 

EDUARD  BERNSTEIN 

Völkerbund  oder  Staatenbund 

Die  Diagnose  der  Weltkrankheit  und  das  Rezept 

zu  dauernder  Gesundung   1.50  M. 

DIMITRY  GAWRONSKY 

Die  Bilanz  des  russischen  Bolschewismus.  Auf 
Grund  authentischer  Quellen  dargestellt 
Freiheit  oder  Terror   2.50  M. 

KARL  KAUTSKY 

Demokratie  oder  Diktatur  ? 

Ein  Katechismus  der  Sozialdemokratie  .    2.—  M. 

KARL  KAUTSKY 

Habsburgs  Glück  und  Ende 

Das  Buch  vom  Kampf  der  Nationalitäten  und  der 

Revolution  in  der  alten  Donaumonarchie   3.—  M. 

GUSTAV  LANDAUER 

Aufruf  zum  Sozialismus  6.—  M. 

GUSTAV  LANDAUER 

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Der  Führer  zum  Geist  der  Zukunft   .  .  .   8. —  M. 

HEINRICH  STROEBEL 

Die  erste  Milliarde  der  zweiten  Billion 

Die  Gesellschaft  der  Zukunft   10.—  M. 

Ausführlicher  Prospekt  auf  Verlangen  kostenlos 
VERLEGT  BEI  PAUL  CASSIRER,  BERLIN 


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