BERKElf Y
LIBRARY
UNIVCRSITY OP
CALIFORNIA
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GESAMMELTE
SCHRIFTEN
VON
KURT EISNER
ERSTER BAND
VERLEGT BEI PAUL CASSIRER IN BERLIN
Alle ReAte,
insbesondere das der Übersetzung vorbehalten
Copyright 1919 by Paul Cassirer, Berlin
Drude von Oscar Brandstetter in Leipzig
Wir Toten auf Urlaub.
Ein französischer Offizier hat in einem Kriegsgericht
das Wort gesprochen: „Wir sind alle heut nur Tote
auf Urlaub." War es im ersten, im zweiten Kriegs-
jahr? Ich weiß es nicht; wir haben in diesen Jahren
das Zeitgedächtnis verloren.
Mich aber ließ das Wort, seitdem ich es gelesen,
nicht wieder los und ward mir zum führenden
Schicksal.
Der Tod hat uns alle nur beurlaubt. Wir Schatten
sind auf eine Weile in das Reich des Bewußtseins zu-
rückgekehrt, das man einst Leben nannte und das
heute bloß ein mit den Prothesen des Todes sich
schwerfällig grotesk bewegender Automat ist. Wir
harren unserer Wiedereinberufung. Ein Granat-
splitter setzt unserem Urlaub das Ziel, die Geschoßnaht
eines Maschinengewehrs, eine Giftgaswelle, ein Flam-
menguß, ein Torpedo, eine Fliegerbombe, die Explosion
einer Munitionsfabrik, eine Bahnentgleisung, Hunger,
Erschöpfung, ein Raubmord, der Anfall eines Wahn-
sinnigen, der von der Front kam, oder auch das Urteil
von Richtern, die uns das Almosen des Urlaubs ab-
erkennen, weil sie selbst vergessen haben, daß auch sie
nur Tote auf Urlaub sind.
Viele suchen durch gefälschte Scheine und Pässe die
Frist sich zu verlängern, rasen in grinsenden Tob-
süchten, balgen sich geil und gierig mit den Ver-
wesungen der Welt und fürchten sich vor dem Tod,
obwohl gerade sie längst zwiefach Tote sind, die nur
die Zuckungen der letzten Todesqual Leben wähnen.
8.S1 S
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Manche aber wissen, wie sie den Urlaub menschlich
erfüllen sollen: daß sie ihre Seele retten und den Tod
nicht fürchten, von dem sie kommen; daß sie der
Wahrheit dienen und bis zur letzten Stunde die Erde
reinigen helfen für die Lebendigen von morgen, die
befreit die Kraft haben werden, den Tod aus dem
Leben zu bannen. Ihnen wird noch einmal Arbeit im
Menschheitsdienst zu der Seligkeit eines vorgefühlten
Lebens, das ihrem Geschlecht zu erringen und zu ge-
nießen versagt war.
Ein Toter — des Spruches harrend, der ihn be-
gräbt — sammelt in letzten Stunden Bruchstücke
seines Wollens und Denkens, Kampfens und Träu-
mens .. . Urlaubserinnerungen!
München,
Untersuchungfgefängnis, io. Sept. 1918
In der Sonnenaufgangsstunde.
Kurt Eisner.
6
Digitiz
Letzter Marsch.
Den Zuchthäuslern gewidmet
(Beim Rundgang im Kerkerhof zu singen.)
Schritt für Schritt, o Freund, geh' mit, die
w
1^
Not wirbt Mut
/TN
Blick um - her, die.
9i
f
Zeit läuft quer, der Tod säuft Blutl
Worte und Weise von Kurt Eisner im Gefängnis Stadelheim
ersonnen , im Ministerium des Äußern niedergeschrieben.
Nov. 1918.
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T T
v ± u jL
T \
Ii
Schritt für Schritt,
O Freund, geh mit!
Die Not
Wirbt Mut.
Blick umher
Die Zeit läuft quer!
Der Tod
Säuft Blut.
III
Ich und du
Verjagen Ruh:
Die Stadt
Wird wach;
Schreitet schwer,
Ein düstres Heer.
Verrat
Schleicht nach.
IV
Schritt für Schritt,
Der Tod geht mit.
Das Haupt
Trag hoch!
Liegt nichts dran:
Du warst ein Mann!
Wer glaubt
Siegt doch!
Am Neudeck, 22. 6. 18.
Krieg!
Drei Szenen von Kurt Eisner.
I.
Eine Sommernacht. Die Restauration eines großen
Hotels. Fremde, Studenten, Kleinbürger, Kommis,
Frauen, kleine Mädchen. Die Musikkapelle spielt:
Puppchen, du bist mein Augenstern. Das Publikum
singt mit. Lachen, Trinken, Essen, Rauchen, Schwat-
zen. An einem Tisch diskutiert man lebhaft.
Der Student: Es geht los. Endlich!
Der Kleinbürger: Sie werden mächtig ver-
droschen !
Frau Lehmann: Wenn der Lump doch bloß den
Thronfolger ermordet hätte, aber auch die Frau Ge-
mahlin ! (Gerührt.) Die armen Kinder, die armen . . .
Herr Lehmann: Damischer Hund! So eine Ge-
meinheit!
Der Student: Jetzt wird man die Kanaille Mores
lehren.
Ein anderer Kleinbürger: Ich habe gelesen,
Belgrad hat nachgegeben. Es kommt nicht zum Kriege.
Der Student (heiter, selbstbewußt): Selbstredend
kommt es zum Kriege! Wetten, daß?
Der andere Klein bürg er (eigensinnig): Ich habe
doch gelesen, Belgrad . . .
Ein Kommis (angetrunken): Unsinn . . . Morjen
ist Kriech. Frieden ist Unsinn (will sich mit dem Glas
Bier in der Hand erheben, verschüttet es) ... janz
Deutschland steht — hupp! — mit Bejeisterung bei
Bundesjenossen. (Lacht laut und gröhlt: Puppchen,
du bist mein Au . . Au . . Augenstern).
Ein Fremder (düster) : Es ist schrecklich . . .
Der Student: Pardon, sind Sie etwa Serb, —
dann — (klemmt das Monokel ein).
Ein kleines Mädchen (blickt interessiert zärtlich
auf den Fremden): Das wäre reizend, ein wirklicher
Serbe! (Zum Fremden): Müssen Sie auch in den
Krieg?
Der Fremde (erregt): Aber haben Sie alle denn
gar kein Gefühl für die Furchtbarkeit, für den Ernst . . .
Ein Zeitungsjunge bringt Extrablätter, Rufe von Tisch
zu Tisch: Der Krieg ist erklärt. Einen Augenblick
die Stille einer längst erwarteten Entscheidung, die
dennoch erschüttert, indem sie wirklich wird. Die
Musik bricht plötzlich ab. Dann johlendes Geschrei:
Musik! Deutschland, Deutschland über alles! Die
Kapelle spielt, alles singt Deutschland, Deutschland
über alles.
Der Fremde (nicht mit singend, seufzt): Ach!
Der Student (drohend): Warum singen Sie nicht
mit ?
Der Kommis: Hallo — Marsch, mitjesungen!
Der zweite Kleinbürger: Ich habe doch ge-
lesen, in Belgrad . . .
Frau Lehmann: Erhebend, daß man bei so was
dabei sein kann.
Der Student: Singen oder raus!
Das kleine Mädchen: Lassen Sie ihn doch!
Der Student: Maul halten! (Packt den Fremden
am Rock.)
Der Hoteldirektor (herbeieilend): Halt, hier
wird nicht gehauen.
Der Student: Das werden wir sehen.
Der Kommis: Sie ham heut jarnischt zu sagen.
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Der Direktor: Wenn Sie nicht Ruhe geben, spielt
die Musik nicht mehr.
Der Student: Die wird spielen.
(Der Direktor läuft zum Kapellmeister und bedeutet
ihm, aufzuhören.)
Der Kapellmeister: Das geht nicht, das Publi-
kum verlangt heute patriotische Nummern.
Der Direktor (schreiend): Ich befehle Ihnen . . .
(Die Gäste werden aufmerksam auf den Streit zwischen
Direktor und Kapellmeister und sammeln sich um das
Podium.)
Der Kapellmeister (weiter dirigierend): Scheren
Sie sich . . . !
Der Direktor (in heller Wut, brüllt): Aufhören,
aufhören !
(Ein Bierglas fliegt dicht an dem Kopf des Direktors
vorüber. Das ist das Signal zu einem allgemeinen Auf-
stand. Man schlägt mit den Stühlen auf die Tische,
schleudert sie auf den Boden, bis die Marmorplatten
zerbrechen, zertrümmert mit den Marmorstücken, mit
Biergläsern, Stöcken die elektrischen Lampen und
Kronen. Die Frauen kreischen und lachen. Die
Kapelle spielt weiter: Deutschland, Deutschland.
Während die Menge das Lied mitbrüllt, vollendet sie
im Takt das Zerstörungswerk. Der Direktor flüchtet
und ruft telephonisch nach der Polizei. Die Marmor-
trümmer werden jetzt durch die Scheiben auf die
Straße geworfen und auf demselben Wege zurückge-
schleudert. Die Lorbeerbäume, die die Hotelfront
säumen, werden aus den Kübeln gerissen, und nun
spielt man so lange durch die Fensterscheiben mit den
schweren Kübeln Fangball, bis alles kurz und klein
geschlagen ist. Eine wilde Horde stürzt sich auf die
Garderobenständer und schleppt Mäntel und Hüte auf
die Straße, die bald mit Fetzen bedeckt ist. Das Licht
in der Restauration erlischt. Die Kapelle spielt im
Dunkeln weiter. Polizei rückt an. Alles läuft davon.
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Die Kellner jammern um die Zeche, da niemand ge-
zahlt hat. In dem verwüsteten Saal ist niemand mehr
außer der Polizei, dem Direktor und den Kellnern.
Nur der Kommis liegt hilflos am Boden und rülpst:
Hoch der Kriech!)
IL
Straße einer großen Stadt.
Der Zeitungsjunge: Neuestes Extrablatt —
neuestes Extrablatt — großer Sieg — 5000 Tote —
12000 Verwundete . . .
Der Kleinbürger: Ich mag gar nicht mehr lesen.
Kein Mensch zahlt mehr. Das Geld ist aus der Welt
verschwunden. Wir müssen alle krepieren. Ganz egal,
ob die andern siegen oder wir, nich mal ein Glas Bier
kann man sich mehr leisten. Was gingen uns die
Serben an . . .
Ein Arbeiter: Seit acht Tagen haben wir kein
Stück Brot im Hause. Die Kinder verhungern.
Der zweite Arbeiter: Um so besser, dann
brauchen sie nicht zu warten, bis Granaten sie zer-
reißen.
Ein alter Arbeiter: Zwei Söhne haben sie mir
gemordet, den dritten zum Krüppel geschossen und
alle haben sie Frau und Kinder.
Ein Student (zum Kleinbürger): Darf ich um
Feuer bitten?
Der Kleinbürger: Verfluchter Hund! Hat noch
Zigaretten! (Schlägt ihn nieder.)
Ein Arzt: Ich habe Pestbazillen gezüchtet. Ich
will sie den Leuten einimpfen. Es wäre eine Erlösung
— für die Besiegten und die Sieger.
Ein Mädchen (hohlwangig, geschminkt): Komm
mit, Schatz!
Der Arzt: Sie soll den Anfang machen.
12
III
Weites Feld. Nacht. Ein dunkelroter Himmel liegt
schwer über der Erde. Es regnet Blut. Ein nacktes, totes
Kind liegt einsam in der leeren Öde. Der Hals ist ihm
herausgeschnitten und das Köpfchen liegt auf der
Schulter. Vom Blutregen rot gefärbt schleicht sich
ein menschenähnliches Gerippe heran, benagt das
Händchen des Kindes und verschlingt es. Durch die
steigende rote Flut, die den Leichnam des Kindes
sacht hebt, watet ein Zug Gespenster, Gestalten- aus
allen Zeiten und Völkern, Kronen auf den Schädeln,
Zepter und Schwert in den Händen, glitzernde Orden
an den Rippen aufgereiht, Fürsten, Kriegshelden,
Staatsmänner, Größen der Kirche und des Geldes.
Sie waten gebeugt und schleppen, alle zusammen in
dieselbe eiserne Kette eingeschirrt, hinter sich eine
ungeheuere, den Weltraum ausfüllende, schattenhaft
getürmte Last. Durch die Nacht stöhnt, während die
Blutstropfen unablässig rieseln, ein Gesang, der alle
Sprachen zu einer neuen Sprache ewiger Qual und
Klage vereinigt.
Der Zug der Verantwortlichen:
Durch blutende Nacht
Wir schleppen und schleifen
Wir Unerlösten
Gemordet Leben,
Zerstörtes Glück,
Zerstückte Leiber.
Es türmt sich die Last
Mit steigender Schuld
Am Wehe der Welt.
Eine Stimme:
Und niemals wird der Fluch von euch genommen,
Bis ihr, die göttlich Leben ruchlos rafftet,
Das Wunder lernt, die Augen eines Kindes,
Vom Krieg geschlossen, neuem Licht zu öffnen.
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Der Zug sinkt in die Kniee, daß das Blutmeer fast
über ihm zusammenschlägt und betet beschwörend zu
dem toten Kinde. Aber dessen Augen bleiben ge-
schlossen und der Zug wiederholt, weiterwandelnd,
das ewige Lied:
Durch blutende Nacht
Wir schleppen und schleifen
Wir Unerlösten
Gemordet Leben,
Zerstörtes Glück
Zerstückte Leiber,
Es türmt sich die Last
Mit steigender Schuld
Am Wehe der Wrelt.
(27. Juli 1914.)
Jaures.
Als Märtyrer des Weltfriedens ist Jean Jaures ge-
fallen. Die Kugeln eines Meuchelmörders fällten ihn,
als 6ein Lebenswerk zusammenbrach. Er bekämpfte
seit jeher mit leidenschaftlichem Heldentum den
widernatürlichen Bund der revolutionären Demokratie
Frankreichs mit dem zaristischen Kosakentum. Er war
mit derselben feurigen Begeisterung ein Prophet der
Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland.
Die wilde Wut, die dieser unbeugsame Apostel der
Humanität im Angesicht des Todes durch die Kraft
seines gefährlichen Bekennens erregte, lenkte die Ge-
schosse eines Besessenen gegen diese edle, heroische
Brust.
Die unlösbare Tragik des einzelnen ist die Tragik
aller französischen Sozialisten. So furchtbar klar und
einfach die Haltung der deutschen Sozialisten in dieser
europäischen Katastrophe ist, so grauenvoll schwer ist
sie für unsere französischen Genossen. Das deutsche
Proletariat weiß, daß es den Vernichtungskrieg gegen
den Zarismus gilt, den wir gepredigt, solange es eine
deutsche Sozialdemokratie gibt. Wir wissen freilich
auch, daß das unentwirrbare Verhängnis Europas die
Schuld einer Politik ist, deren Wurzeln tief in die Ver-
gangenheit reichen, vor der zu warnen, die zu be-
kämpfen wir niemals müde wurden. Aber es ist jetzt
nicht die Zeit, daran zu erinnern, wie schrecklich sich
die hellseherischen Worte erfüllt haben, die vor
44 Jahren Karl Marx gesprochen. Jetzt hat der
Zarismus Deutschland angegriffen, jetzt haben wir
keine Wahl, jetzt gibt es kein Zurückblicken. Jetzt
hat das deutsche Proletariat den Erbfeind der europä-
15
ischen Gesittung zu vernichten, als Deutsche, als
Demokraten, als Sozialisten ergreifen wir die Waffen
für die gerechte Sache.
Die französischen Sozialisten aber sollen an der Seite
der Kosaken gegen ihre deutschen Freunde kämpfen.
Das ist die grauenschwerste Stunde des französischen
Proletariats, ein durcn die Verkettung der europäischen
Politik der herrschenden Klassen herbeigeführter Kon-
flikt, aus dem es keinen Ausweg gibt. Unter der Qual
dieses Schicksals stehen alle französischen Sozialisten,
aber mehr als alle anderen mußte diese Tragik Jean
Jaures erschüttern, den glühenden Künder des Welt-
friedens, ihn, der Deutschland liebte, so heiß wie sein
eigenes Vaterland, der im Reiche deutscher Gedanken
erwachsen — der Philosophie Kants war sein erstes
wissenschaftliches Werk gewidmet — , der für deutsche
Kunst entflammt war.
So war für ihn der Tod Erlösung im rechten Augen-
blick. Aber für sein Land, für Europa, für die Mensch-
heit ist sein Tod ein Unglück. Seine mächtige Stimme,
die Kolosse von Widerständen niederzuzwingen ver-
mochte, wird in den kommenden Zeiten fehlen, wenn
es die Menschen, ermattet von Blut und Qual, nach
dem Worte des beschwörenden Führers verlangt. . . .
Jean Jaures gehört zu jenen weltpatriotischen Be-
kennernaturen, an denen sein Volk reich ist. Immer
wenn blinder Wahn in unaufhaltsamer Zerstörung alles
zu überfluten drohte, stellte er sich, mit der ganzen
Gewalt seiner enthusiastischen Seele, der unbeirrbaren
Sicherheit seiner Vernunft (im Geiste der Humanität)
und der herrlichen Todesverachtung des einzelnen
Helden, dem trüb gärenden Toben entgegen. Als die
klerikal-militaristische Pest des Dreyfushandels Frank-
reich verwüstete, war seine unerschrockene Kraft es
vor allem, die das Land reinigen und das Verbrechen
sühnen half. Und wie es ihm gelang, die streitenden
französischen Sekten des Sozialismus zu einer großen
x6
Partei zu einigen, so war er auch in der Internationale
der kluge Mittler und Versöhner, dessen Einfluß auf
das Proletariat der Welt von Jahr zu Jahr stieg.
Das aber wurde ihm immer mehr zur Lebensauf-
gabe: die Versöhnung Deutschlands und Frankreichs.
In den deutsch-französischen Kriegskrisen, die seit Be-
ginn des Jahrhunderts wiederholt den Frieden be-
drohten, hat er — wie immer beschimpft von seinen
Landsleuten und schroff abgewiesen von den Herr-
schenden Deutschlands — einen weit größeren Einfluß
auf Erhaltung des Friedens geübt, als bisher bekannt
geworden ist. Als Grundlage des dauernden Friedens
zwischen Frankreich und Deutschland und damit des
europäischen Friedens überhaupt erkannte er die
Schaffung von Volksheeren. In seinem Buche Die
neue Armee (Deutsch bei Eugen Diederichs in Jena
191 3 erschienen) hat Jaures die Organisation solchen
Volksheerwesens entworfen und begründet: „Die
Mobilisierung der Armee zur Mobilisierung der Na-
tion selbst machen, das heißt den Regierungen den
Gedanken an Abenteuer erschweren. Und wenn Frank-
reich dies alles ins Werk gesetzt hat, wenn es den
anderen Völkern auf einem Weg vorangeschritten ist,
den es ohne Gefahr zuerst betreten kann, weil es sich
dadurch stärkt, statt sich zu schwächen, dann werden
die anderen Nationen, dann wird vor allem Deutsch-
land ihm folgen müssen. . . . Damit wird für Europa
ein neues Zeitalter anbrechen, und diese hehre Hoff-
nung auf Frieden und Gerechtigkeit wird der Arbeiter-
klasse Frankreichs helfen, den Sinn, die Bedeutung,
die Notwendigkeit der Institution zu begreifen, die wir
in Vorschlag bringen und an deren Verwirklichung wir
leidenschaftlichen Herzens und mit beharrlichem
Willen arbeiten werden, als an einem Teile des um-
fassenden Planes der sozialen Erneuerung, der sich
heute allen guten Bürgern, allen guten Franzosen auf-
zwingt." Das sind die Schlußsätze des Buches. Und
a Eisner, Gesammelte Schriften. I.
17
in dem Gesetzentwurf, den er in Ausführung seiner
Gedanken dem Buche beifügt, lauten die beiden
letzten Artikel:
Artikel 17:
Jede Regierung, die einen Krieg unternimmt, ohne
vorher öffentlich und loyal die schiedsgerichtliche Lö-
sung des Konfliktes vorgeschlagen zu haben, ist als
Verräter an Frankreich und den Menschen, als öffent-
licher Feind des Vaterlandes und der Menschheit zu
betrachten. Jedes Parlament, das seine Zustimmung
gibt, ist des Hochverrats schuldig und von Rechts
wegen aufgelöst. Es ist die verfassungsmäßige und
nationale Pflicht der Bürger, jene Regierung zu stürzen
und sie durch eine gutgesinnte Regierung zu ersetzen,
die, indem sie den Schutz der internationalen Unab-
hängigkeit sichert, dem Gegner das Anerbieten macht,
durch einen Schiedsspruch die Feindseligkeiten zu ver-
hüten oder einzustellen.
Artikel 18:
Die Regierung Frankreichs wird aufgefordert, von
nun an mit sämtlichen am Haager Schiedsgerichtshofe
vertretenen Staaten über vollständige (bedingungslose)
Schiedsgerichtsverträge einzutreten und im Einver-
nehmen mit ihm das Schiedsgerichtsverfahren zu
regeln.
Man begreift, daß der Schöpfer dieses Gesetzent-
wurfs sein Volk in dem Augenblicke nicht an Rußlands
Seite finden wollte, da der „Friedenszar" das unge-
heuerlichste Verbrechen der Menschheitsgeschichte
verübte, da er die Welt in Brand setzte.
Es ist heute nicht die Ruhe, um die wissenschaftliche
Bedeutung Jean JaureV zu würdigen. Daß er der
größte Redner unserer Zeit gewesen, wissen alle, die
ihn jemals gehört haben, die er bezwang, auch wenn sie
seine Sprache nicht verstanden. Es war nicht eigent-
liche Beredsamkeit. Es war eine willensstarke, grenzen-
18
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lose Begeisterung und Gläubigkeit in ihm, für die das
Wort nur ein Mittel war, um die Welt, die er in seinem
Geiste sah, im voraus zu verwirklichen.
Wir werden seine Stimme nicht mehr hören. Aber
eines glauben wir, gläubig im Geiste des unsterblichen
Toten: Wenn denn aus dieser Zeit des Grauens eine
neue Erde aufersteht, die neue Menschheit wird Jean
Jaures segnen und sein Grab wird ihr heilig sein. . . .
•
Nachtrag, Stadelheim 1918. Die vorstehenden
Zeilen wurden am Sonntag, den 2. August 1914 ge-
schrieben und tags darauf in München veröffentlicht,
an demselben Tage, da ein Münchener Blatt die Nach-
richt durch Anschlag verbreitete, daß die Münchener
Quellwasserleitung vergiftet, das Ergebnis der magistrat-
lichen Untersuchung aber noch nicht abgeschlossen
sei; dabei lief das Wasser fröhlich aus der Leitung, man
folgte der Warnung und trank es nicht — man kam
nicht auf die Überlegung, daß der Magistrat doch wohl,
statt vor vergiftetem Wasser zu warnen, zuerst die
Leitung absperren würde.
Ich gebe die kleine Betrachtung über Jaures, dem ich
in meiner politischen Gesamtauffassung näher stand
als irgendeinem anderen Haupt der sozialistischen
Internationale, unverändert wieder — als Urkunde
jener Tage. Im gleichen Sinne sprach ich eine Woche
vorher zu einer gewaltigen Volksversammlung im
Münchener Kindlkeller; ich beschwor die westlichen
Völker, dem Zarismus Frieden zu gebieten . . . Dann
las ich das deutsche Weißbuch. Seitdem hätte ich
weder über die Ermordung Jaures, so schreiben noch
jene Rede wieder halten können, obwohl ich am 4. Au-
gust erst unsicher geworden war, noch nicht völlig
klar sehen konnte. Auf den Internationalen Kon-
gressen bestand nie ein Zweifel darüber, wie sich die
Sozialisten bei einem Kriege zu den nationalen Re-
19
gierungen stellen müßten: Kampf mit allen Mitteln
gegen die Regierung, die den Krieg verschuldet. In
Amsterdam hatte Jaures auch das sichere Kriterium
angegeben, wie die Kriegsschuld festzustellen sei: sie
laste auf der Regierung, die eine schiedsgerichtliche
Untersuchung des Konflikts zurückweise oder sonst
verhindere.
Wie ich zu der Auffassung kam, an der ich bis zu den
ersten Augusttagen 1914 keinen Zweifel hegte?
Die Beantwortung dieser Frage würde einen nicht
unwichtigen Beitrag zur Vorgeschichte des Krieges
bilden.
Ich begnüge mich mit der Andeutung, daß die
bayrische Regierung die leitenden Männer der bay-
rischen Sozialdemokratie seit dem November 1912
dahin instruierte, daß Deutschland von einem russi-
schen Uberfall bedroht sei; es wurden sogar Einzel-
heiten des vermuteten russischen Feldzugsplans mit-
geteilt. Schon im November 191 2 versuchte ich die
Parteipresse zu alarmieren — ohne Erfolg.
Die bayrische Regierung war es auch, die seit der
Mitte Juli 1914 die Parlamentarier von dem unmittel-
bar bevorstehenden Ausbruch der Weltkatastrophe
unterrichtete und die am Dienstag, den 28. Juli 1914,
die deutsche Mobilmachung als bis zum Schluß der
Woche bestimmt erfolgend ankündigte. Da sich diese
Information als furchtbar zuverlässig erwies, war es
psychologisch begreiflich, daß auch die seit Jahr und
Tag suggerierte kriegspolitische Auffassung zunächst
Vertrauen finden konnte, zumal sie der traditionellen,
seit Menschenaltern dogmatisch gehegten Anschauung
der deutschen Sozialdemokratie von der zaristischen
Kriegsweltgefahr durchaus entsprach.
20
Völkerrecht.
Einige Anmerkungen.
Ich kann mich in keiner Weise einverstanden
erklären mit der Declaration de St. Petersbourg,
daß die „Schwächung der feindlichen Streit-
macht" das allein berechtigte Vorgehen im
Kriege sei. Nein, alle Hilfsquellen der feind-
lichen Regierung müssen in Anspruch ge-
nommen werden, ihre Finanzen, Eisenbahnen,
Lebensmittel, selbst ihr Prestige.
Graf Moltke an J.C. Bluntschli 1880.
Sofern es auch während eines Krieges die Aufgabe
wissenschaftlichen Denkens und Forschens bleiben
sollte, die Wahrheit zu ermitteln, kann ich mich
nicht zu der Methode des Münchner Historikers Hans
Prutz bekennen, daß ohne umfassende Kenntnisse
aller Tatsachen und Urkunden schon auf Grund ein-
seitiger Parteibehauptungen ein Urteil über Recht
oder Unrecht dieser und jener Erscheinungen aus-
gesprochen werden darf. Ebensowenig vermag ich in
Wettbewerb mit jenen in allen Ländern zahlreich auf-
tretenden Völkerrechtsgelehrten zu treten, die es jetzt
für ihre Pflicht halten, je nach ihrer staatlichen Zu-
gehörigkeit die Völkerrechtsverletzungen des eigenen
Landes entweder zu leugnen oder zu beschönigen,
die der feindlichen Länder zu behaupten und anzu-
klagen. Mir scheint es ebensowenig die Aufgabe eines
Völkerrechtslehrers zu sein, das Völkerrecht als pole-
mische Waffe gegen den Feind zu mißbrauchen und
damit wissenschaftlich und praktisch zu entwerten,
wie es mir nicht die Herzensangelegenheit gerade von
21
Künstlern zu sein scheint, Zerstörungen von Kunst-
werken zu verteidigen und unersetzlichen Kultur-
besitz für minder wertvoll zu erklären als ein einziges
Menschenleben, das vermeintlich durch die Zer-
störung eines Kunstwerks gerettet werden könnte.
(Ich wenigstens werte mein Menschenleben nicht
so hoch wie eine Schöpfung ewiger Kunst, und
schätze die Kunst nicht so niedrig ein, daß sie
weniger sei als lebendige Wesen, deren völlige Wert-
losigkeit ja gerade gegenwärtig dadurch bewiesen wird,
daß sie millionenfältig verstümmelt und vernichtet
werden.)
Die üble Phrase von der „Voraussetzungslosigkeit"
der Wissenschaft hat den guten Sinn, daß ihre For-
schungsergebnisse nur abhängig sein dürfen von den
immanenten Methoden der Wissenschaft, niemals aber
von irgendeiner äußeren Autorität, nicht von einem
religiösen Dogma, noch weniger gar von dem Zufall
der Staatsangehörigkeit. Wer diese Unbefangenheit
heute nicht aufzubringen vermag, soll schweigen, nicht
aber unter dem Schutz eines Titels oder Amts, was ihm
an wissenschaftlichem Ernst abgeht, durch das Feuer
seiner unbezweifelten heiligen Überzeugungen er-
setzen.
Die nachfolgenden völkerrechtlichen Betrachtungen
liegen abseits von allen apologetischen und polemischen
Absichten. Sie wollen verdunkelte Tatsachen ans
Licht stellen, trübe Erscheinungen erklären, Pro-
bleme — an ein paar zufällig gewählten Einzel-
beispielen — dem Nachdenken vorstellen. Und
wenn diesen Anmerkungen dennoch auch die Absicht
einer Wirkung zugrunde liegen sollte, dann ist es
nur die: die völlige Zerstörung des Völkerrechts, als
des Rechts einer Völkergemeinschaft, nicht dadurch
herbeizuführen, daß man es unnützlich im Munde
führt.
22
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I.
Rechts mäßige Völkerrechtsverletzungen.
Zu den niederdrückendsten Erscheinungen dieses
Weltkrieges gehört die Mißhandlung des Völkerrechts.
Alle kriegführenden Parteien werfen sich unablässig
gegenseitig Verletzungen des Völkerrechts vor. So ist
nach den beiden Haager Weltfriedenskonferenzen von
1899 und 1907, von denen manche Schwärmer den
Beginn eines modernen Völkerbundes des Rechts und
des Friedens, den Anfang einer „Organisation der
Welt" datieren wollten, gerade in der Zeit, wo ein
dritter Haager Kongreß hätte stattfinden sollen, die
Idee der Schiedsgerichte durch den Ausbruch des ersten
Weltkrieges seit einem Jahrhundert gegeißelt worden;
und auch die Bemühungen um völkerrechtliche Bin-
dung der „Humanisierung" des Krieges sind zerstört
worden. Wer die diplomatischen Akten der Ver-
einigten Staaten kennt, deren Pariser Gesandten
1870/71 der Schutz der Deutschen anvertraut war, der
weiß, mit welcher Menschlichkeit, Kraft und Un-
parteilichkeit damals dieser Vertreter Amerikas gegen
beide kriegführenden Parteien das Völkerrecht gegen
jede Antastung — im strengsten und weitesten Sinne—
verteidigte; und wie man damals mit Ernst und Würde
Ausschreitungen bekämpfte, die heute viel zu harmlos
erscheinen würden, als daß man ihnen nur die gespielte
Empörung von fünf Druckzeilen widmen möchte.
Heute gehört die Völkerrechtsverletzung zum alltäg-
lichen Betrieb, und dies, nachdem zum erstenmal 1907
im Haag sogar etwas wie eine Schadenersatzpflicht (in
allerdings sehr unbestimmten und unklaren Wen-
dungen) für Völkerrechtsverletzungen beschlossen wor-
den ist.
Schlimmer noch: Gerade die völkerrechtliche Bin-
dung, die im Haag versucht wurde, ist zum Quell einer
furchtbaren Kriegsverschärfung geworden. Das ver-
*3
besserte Völkerrecht hat insofern die Völkerrechts-
verletzungen gesteigert,' als die gegenseitigen Be-
schuldigungen des Völkerrechtsbruchs zu Repressalien
führten, die natürlich wiederum weit außerhalb des
Völkerrechts ihre verheerenden Mittel der Abschrek-
kung, Strafe oder Rache wählten. Dabei ist es in der
Wirkung ganz gleichgültig, ob etwa die Deutschen
sich zu solchen Abwehrmitteln genötigt sahen, weil
vom Feinde das Völkerrecht wirklich verletzt war,
oder ob Kosaken erlogene Verletzungen nur zum
Vorwand nahmen, um sich nach Herzenslust außerhalb
des Völkerrechts ausrasen zu können — auf „recht-
mäßige" Weise.
Die Berufung auf das Völkerrecht wirkte auf
zweierlei Weise schädlich und schürend. Man be-
hauptete völkerrechtswidrige Vorkommnisse, die tat-
sächlich nicht geschehen oder mindestens nicht erweis-
lich waren. Oder man berief sich auf Erscheinungen,
die freilich an sich Tatsachen waren, die aber zu Un-
recht als mit dem Völkerrecht unvereinbar gekenn-
zeichnet wurden. Gerade solche Beschuldigung aber
kann dann zu wirklichen schwersten Völkerrechts ver-
letzenden Repressalien führen, ohne daß sie im Geiste
des Völkerrechts begründet wären.
Wenn es nun die beiden wichtigsten Aufgaben des
Völkerrechts sind, Kriege zu verhindern oder, wenn
das nicht möglich, ihre Leiden nicht über das Maß
des Notwendigen zu steigern, so hat die Presse die
völkerrechtlich gebotene Pflicht, nicht ihrerseits die
Kriegsleiden über den Grad des Unvermeidlichen hin-
aus dadurch zu erhöhen, daß sie jenes mißbräuchliche,
nur der Verhetzung und Verrohung dienende Völker-
rechtsgeschrei erhebt, anstatt sowohl die Tatsachen
gewissenhaft zu prüfen als auch die wahren völker-
rechtlichen Bestimmungen in Wortlaut und Sinn fest-
zustellen. Statt dessen haben wir schaudernd erlebt,
um ein deutsches Beispiel zu erwähnen, wie ein großes
24
Blatt monatelang fast täglich in immer neuen Wen-
dungen als „Repressalie" die Abschießung von Ge-
fangenen verlangte, bis es in dem schauerlichen Aber-
witz der Forderung strandete, daß englische gefangene
Offiziere in den vordersten deutschen Schützengräben
festgebunden werden müßten, um dort von den Dum-
Dum-Geschossen der eigenen Landsleute niederge-
macht zu werden!
Aber die Organe der öffentlichen Meinung in allen
Ländern haben noch eine höhere Pflicht. Gerade
während eines Krieges, wo das Völkerrecht unmittel-
bar in das Dasein aller positiv oder negativ eingreift,
ist es eine nationale Aufgabe, die Anschauungen über
das Wesen und die Bedingungen des Völkerrechts, aus
der lebendigen Erfahrung heraus, zu klären und so seine
vernünftige Entwickelung zu fördern; nach dem Kriege
ist Gefahr, ja Gewißheit, daß sich diese Probleme in
die engen Zirkel gelehrter Spezialisten zurückziehen.
Und diese tragen gerade die Schuld, daß sie das Völker-
recht als wissenschaftliches System in den erbarmungs-
würdigen Zustand gebracht haben, der jetzt die prak-
tische Durchbrechung und die gedankliche Ver-
wirrung so verhängnisvoll erleichtert.
Man redet heute von dem Bankerott des Völker-
rechts, weil die zahlreichen schweren Verletzungen
offenkundig sind. Aber die Verletzungen eines Rechts
machen nicht das Recht selbst zuschanden. Das Ver-
bot des Mordes im Kriminalrecht hebt das Gesetz
nicht selbst auf und macht es keineswegs unwirksam.
Alles Recht kann verletzt werden und wird unzählige
Male verletzt; damit wird das Recht selbst nicht auf-
gehoben. So würden die Völkerrechtsverletzungen im
Krieg 1914 so wenig die Sinnlosigkeit oder auch nur
die Ohnmacht des Völkerrechts erweisen, daß sie im
Gegenteil erst recht seine Notwendigkeit und Bedeu-
tung klarstellen.
Der Bankerott des Völkerrechts ist längst im Frie-
*5
den und zwar von den seinem Dienst gewidmeten
Juristen herbeigeführt worden. Sie haben das Völker-
recht dynamitiert, indem sie es mit dem Begriff der
rechtmäßigen Völkerrechtsverletzung beluden.
Das Völkerrecht aber ist in seinem innersten Wesen,
seiner ganzen Natur nach absolut, allgemeingültig
und ausnahmslos unverletzlich, oder es ist über-
haupt nicht. Selbstverständlich, die Möglichkeit der
Rechtsverletzung bleibt gegeben, aber den Rechtsver-
letzer hat dann die volle Verantwortung für seinen
Rechtsbruch zu treffen, und mit dieser Verantwort-
lichkeit unter allen Umständen wird das Recht
selbst bejaht und erhalten. Wer aber die Anschauung
verteidigt, daß es auch eine rechtmäßige, ge-
setzliche Völkerrechtsverletzung geben kann, der
macht das ganze Völkerrecht zum Hohn und Spott;
mehr noch: zu einer völkerrechtswidrigen vergifteten
Waffe.
Zwei kleine, harmlose Worte haben diese Selbstaut-
lösung des Völkerrechts in Wissenschaft und Praxis
verursacht. Man übernahm aus dem Kriminal- und
Zivilrecht die Begriffe der Notwehr und des Not-
standes, die an sich rechtswidrige Handlungen gesetz-
lich und schuldfrei machen. Wer in der Notwehr einen
Räuber tötet, handelt rechtmäßig. Und wer im äußer-
sten Notstand, wo es sich um seine Selbsterhaltung
handelt, ein an sich unzulässiges Mittel anwendet, darf
diese Lebensgefahr zu seinen Gunsten geltend machen.
Es ist nun die herrschende Ansicht der Völkerrechts-
gelehrten, daß Notwehr und Notstand auch für das
Gebiet des Völkerrechts gelten, und hier sogar im
weitesten Umfang. Zwar ist einigen Völkerrechtlern
sichtlich bei ihren wunderbaren Konstruktionen und
Beweisführungen nicht recht wohl, aber je unbehag-
licher und schwieriger ihnen das Werk dünkt, um so
gebieterischer stellen sie — auch eine Art von Notwehr
und Notstand! — die brüchige Behauptung unter den
26
Schutz einer allgemeinen, übereinstimmenden
Anschauung.
v. Liszt, um einen der Neueren und Angeseheneren
zu nennen, dekretiert in seinem „Völkerrecht" (6. Aufl.
1910): „Die strafrechtlich und privatrechtlich aner-
kannten Begriffe der Notwehr und des Notstandes
schließen auch für das Gebiet des Völkerrechts die
Rechtswidrigkeit der begangenen Verletzung aus."
Warum? Statt der Begründung vernehmen wir ein
Beispiel: „Auch der dauernd neutralisierte Staat darf
mithin den feindlichen Überfall mit Waffengewalt
abwehren. Er handelt in Notwehr." Sollte das nicht
doch ein wenig gedankenlos sein ? Notwehr macht eine
an sich rechtswidrige Handlung zulässig. Aber die
Abwehr eines Angriffs auf die Neutralität ist so wenig
eine rechtswidrige Handlung, daß vielmehr ihre Unter-
lassung rechtswidrig wäre. Der Schutz der Neutra-
litat gehört zum Begriff der Neutralität. Die fünfte
Haager Konvention von 1907 bestimmt im 4. Artikel
ausdrücklich, daß der neutrale Staat auf seinem Gebiet
keine Neutralitätsverletzungen dulden darf; und im
10. Artikel wird sogar gesagt, daß der Kriegführende
auch aus der gewaltsamen Zurückweisung seines An-
griffs auf neutrales Gebiet keinen casus belli machen
dajf. So wenig handelt es sich hier um einen Akt der
Notwehr; der Widerstand ist das gesetzliche Recht und
die Pflicht des Neutralen. Um dieses Beispiels willen
bedarf es also nicht der Einführung der Notwehr ins
Völkerrecht. In dem praktischen Beispiel, das wir jetzt
erlebt haben, war es auch nicht die Abwehr einer Neu-
tralitätsverletzung, sondern die Neutralitätsverletzung
selbst, die als Notwehr gerechtfertigt wurde. Bei dieser
Gelegenheit wurde auch gleich der Begriff der Putativ-
notwehr ins Völkerrecht übernommen; die Notwehr
gegen einen bloß (mit Recht oder Unrecht) ver-
muteten Angriff. Im weiteren bestreitet — gemäß
den Haager Beschlüssen — Liszt, daß in dem beson-
37
deren Völkerrechtsgebiet des Kriegsrechts das bin-
dende Gesetz durch die „Kriegsräson", die freie Ent-
scheidung der militärischen Befehlshaber, eingeschränkt
werden dürfte. Und erschreckend rigoros fügt er hinzu :
„Eine offene Stadt darf auch dann nicht be-
schossen werden, wenn von ihrer Vernich-
tung der Ausgang des Krieges abhängen
sollte." Doch fährt er beruhigend fort: „Wohl aber
greift auch im Kriege der Begriff der Notwehr Platz:
gegen rechtswidrigen Angriff ist Verteidigung stets
gestattet." Das ist es: Auch wenn das ganze Schicksal
eines Krieges davon abhängt — es ist verboten, eine
unverteidigte Stadt zu bombardieren. Aber wenn ein
Bürger der Stadt auf einen Soldaten schießt, dann kann
aus Notwehr als Repressalie die Stadt in Brand ge-
schossen werden, auch wenn's für die Entscheidung des
Krieges ganz gleichgültig ist. Berliner Völkerrechts-
wissenschaft in 6. Auflage!
Ein anderer I v. Marti tz lehrt in dem Bande des
Sammelwerks Kultur der Gegenwart, der die
Systematische Rechtswissenschaft behandelt (191 3):
„Die Regeln, nach denen gekämpft wird, bilden die
Kriegsmanier (Kriegsgebrauch, loi de guerre). Sie sind
weit genug, um der militärischen Notwendigkeit den
erforderten Spielraum zu lassen. Nur im Falle des
Notstandes würde es, schon nach allgemeinen
Rechtsgrundsätzen, nicht unzulässig sein, sich über
sie hinwegzusetzen, was man mit dem einer Miß-
deutung fähigen Ausdruck Kriegsräson bezeichnet.
Und Repressalienverfahren kommen auch im Kriege
zur Anwendung."
Warum ? Wer mag's wissen ! Der Professor sagt's so.
Die Wirkung aber sehen wir tagtäglich. Das Völkerrecht
wird verletzt — folglich muß man es noch mehr ver-
letzen — als Repressalie, aus Notwehr, aus Notstand.
So entmenschlicht das Völkerrecht den Krieg in steigen-
der Progression!
28
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Ein Dritter ! H e i 1 b o r n benachrichtigt uns in seinem
System des Völkerrechts: „Die Begriffe Notwehr
und Notstand sind allgemeiner Natur und dürfen als
bekannt vorausgesetzt werden." Diese bekannte Vor-
aussetzung scheint nun einem Vierten, Fleischmann,
doch nicht so ganz einwandfrei, und er erinnert daran,
daß der Begriff des Notstandes schon im nationalen
Recht durchaus nicht feststehend sei, und daß die
Juristen von einer „ungesunden und lückenhaften Ent-
wickelung", von einer „hilflosen Entwickelung" des
Begriffs reden.
Eine Begründung dieser Aushöhlung des Völker-
rechts durch Notwehr und Notstand wird in dem vier-
bändigen Handbuch des Völkerrechts F. v.
Holtzendorffs versucht; der Abschnitt über Kriegs-
recht ist von Prof. Lueder bearbeitet. Zunächst wird
der Krieg selbst als „Recht" deduziert:
Der kriegführende Staat und seine Organe befinden
sich in der Lage des in einem Kampf um Leben und
Tod verwickelten Einzelnen, den in diesem Kampfe
nur das Eine leitet: um jeden Preis den Gegner
niederzuwerfen, um das eigene Leben zu retten. Das
ist nicht nur natürlich, so daß es nicht anders sein
könnte, sondern es ist auch rechtlich. Das Recht ge-
stattet, wie die Beispiele der Notwehr und des
Notstandes zeigen, ihm dazu die Anwendung der
äußersten Gewaltmittel, die er zur Erreichung seines
Zweckes braucht.
Damit wird der rechtliche Charakter des Krieges
selbst aus Notwehr und Notstand begründet. In der
Tat, das ist bereits Besitzgut des allgemeinen Kultur-
bewußtseins geworden, daß die Gemeinschaft der
Völker nur in der Notwehr oder im Zustande äußerster
Not durch einen Krieg zerrissen werden darf. Daher
das Bemühen aller Kriegsparteien, für sich zu be-
weisen, daß sie sich nur gegen einen Überfall wehren.
So weit ist das Gewissen der Zivilisation dennoch vor-
29
gedrungen, daß niemand mehr wagt, sich als Angreifer
zu bekennen.
Wenn nun der „rechtliche" Charakter des Krieges nur
aus Notwehr und Notstand begründet werden kann,
welche rechtliche Bedeutung haben dann die völker-
rechtlichen Einschränkungen der Kriegführung? Die
Antwort liegt so nahe, drängt sich so unmittelbar auf,
daß sie ein Völkerrechtsprofessor unmöglich sehen kann.
Holtzendorff-Lueder erklären sich zunächst für die
völkerrechtliche, gesetzliche Bindung der Kriegführung:
Es hat sich ergeben, daß die Beschränkung weite-
rer, d.h. über den Kriegszweck hinausgehender Ge-
walt mit der Natur des Krieges vereinbar ist. Hier,
wo die dort nötige Gewalt zur brutalen Grausamkeit
oder Zerstörung werden würde, beginnt deshalb die
Möglichkeit und damit die Pflicht und Notwendigkeit
kriegsrechtlicher Beschränkung, bzw. Untersagung.
Mit allem Nachdruck wird hier die Aufstellung
eines bindenden Kriegsrechts gefordert — entgegen
der Anschauung, daß es ausschließlich Sache der krieg-
führenden Militärs sei, die Art der Kriegführung —
innerhalb gewisser humaner Gewohnheiten — zu be-
stimmen: Die Kriegsmanier (Kriegsgesetz), nicht die
Kriegsräson hat über die Sitten und Mittel der Krieg-
führung zu entscheiden. Dann aber folgt auch bei
diesen Handbüchlern die Einschränkung: In zwei
Fällen könne durch die Kriegsräson die Kriegsmanier
aufgehoben werden:
„einmal im Falle der äußersten Not, wenn der Zweck
des Krieges nur durch die Nichtbeachtung erreicht
werden kann und durch die Beachtung vereitelt
werden würde; sodann im Wege der Retorsion, also
als Erwiderung unberechtigten Nichtbeachtens der
Kriegsmanier von der Gegenseite".
Diese Zulässigkeit der Ausnahme wird mit der Er-
wägung gerechtfertigt, man könne „durch ein uner-
widertes Hingehenlassen der von der Gegenseite be-
30
gangencn Verletzungen der Kriegsmanier in Nachteil
und in eine ungünstigere Lage als der verletzende
Gegner versetzt werden hinsichtlich des mit allen
Mitteln zu erstrebenden Zieles: Brechen des gegne-
rischen Willens und Erlangen des Sieges".
Indem der Professor diese Begründung nieder-
schrieb, hatte er bereits wieder vergessen, wie er vor-
her die Möglichkeit einer völkerrechtlichen Rege-
lung nachgewiesen hatte. Sie beschränkte sich auf die
Sphäre, wo der Kriegszweck selbst in seinen Notwendig-
keiten nicht berührt werde; das Völkerrecht wolle nur
die unnützen, durch den Kriegszweck nicht gebotenen
Grausamkeiten verbieten. Danach kann es überhaupt
keine völkerrechtliche Bindung geben, die die Er-
reichung des Kriegszwecks vereitelt. Also kann auch
die absolute Unterwerfung unter das Kriegsrecht
niemals die strategische oder taktische Lage ungün-
stiger gestalten, im Verhältnis zu dem, der das Kriegs-
recht mißachtet. Die beiden Begründungen des
Völkerrechts selbst und seiner rechtmäßigen Aus-
nahmen'heben sich, wie man sieht, gegenseitig glatt
auf. Weil das Kriegs recht nichts enthalten darf und
nichts enthält, was mit dem Kriegszweck unvereinbar
ist, so kann es nur, seinem inneren Wesen nach, aus-
nahmslos gelten, oder es hört auf, ein Kriegsrecht zu
geben. Ein Konflikt ist unter dieser Annahme gar
nicht möglich. Natürlich kann das Kriegsrecht immer
gebrochen werden, aber dann eben als Rechts bruch,
nicht als Recht; es kann gar keine Gefahr sein, daß
durch die Unterwerfung unter die völkerrechtlichen
Bestimmungen die eigene Sache gefährdet werden
könnte, weil das Völkerrecht ja nur die für den Kriegs-
zweck unnötigen Maßnahmen auszuscheiden sucht.
Wenn man übrigens die Hinwegsetzung über die
Völkerrechtsbestimmungen nur für den äußersten
Notfall gestatten will, so vernehmen wir jetzt fast
täglich die andere Meinung, daß es Pflicht des mili-
3i
tärischen Kommandos sei, jedes Mittel anzuwenden,
wenn dadurch auch nur ein Soldat gerettet werden
könne.
Das ist denn die einzige denkbare rechtliche Be-
stimmung des Kriegsrechts (um uns auf diesen Teil
des Völkerrechts zu beschränken): Ist der Krieg
rechtlich aus Notwehr oder aus Notstand
zu begründen, so bezeichnet das Völker-
recht eben die Schranken in der Ausübung
der Notwehr und des Notstandes, und diese
Schranken können daher logisch nicht wieder
durch Notwehr und Notstand zertrümmert
werden; sie müssen ihrem Begriff nach aus-
nahmslos verbindlich sein.
Nach dieser Einsicht ist die andere, meine Auf-
fassung stützende Erwägung unerheblich, daß im
Völkerrecht der Rechtsbrecher aus Notwehr nicht nur
Richter in eigener Sache ist, sondern daß es auch keinen
Richter gibt, der darüber entscheiden könnte, ob wirk-
lich Notwehr und Notstand vorliegen.
Denn die zuletzt im Haag beschlossene Haftpflicht
für Völkerrechtsverletzungen ist papieren und unvoll-
ziehbar. Philipp Zorn hat diese, übrigens von Deutsch-
land beantragte, Bestimmung in erregten Ausführun-
gen für ein „Unglück", für unerträglich erklärt, und
hält es für höchste Zeit, diesen „formal-juristischen
Exzessen" ein Ende zu machen. Aber da es keinen
internationalen Gerichtshof gibt, der darüber ent-
scheidet, ist die prinzipiell allerdings revolutionäre
Bestimmung von 1907 wesenlos. Um so mehr aber
ist es erforderlich, daß man wenigstens den mora-
lischen Wert der völkerrechtlichen Bindungen nicht
durch die „formal-juristischen Exzesse" der Notwehr
und des Notstandes völlig vernichtet.
Läßt man im Kriegsrecht Ausnahmen zu. so ge-
langt man wieder zur Kriegs r äs on, die in jedem Falle
die Wahl der Mittel dem Ermessen der Heerführer
32
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überläßt. Das war aber gerade die Absicht der Haager
Beschlüsse, die nichts von Notwehr und Notstand
wissen, die allgemeine Rechtsverbindlichkeit der auf-
gestellten Regeln der Entscheidung der Heerführer
zu entziehen; und ausdrücklich ist im Haag bestimmt
worden, daß auch selbst in den durch die Konvention
nicht geregelten Fällen nicht das militärische Kom-
mando freie Hand haben solle, sondern daß „Völker
und Kriegführende unter dem Schutz und der Herr-
schaft der Grundsätze des Völkerrechts bleiben, so
wie sie aus den zwischen den zivilisierten Nationen
bestehenden Gebräuchen, Gesetzen der Menschlich-
keit und Forderungen des öffentlichen Gewissens
folgen".
In dieser Auffassung kommt der unausgeglichene
Konflikt zwischen dem Völkerrecht und der mili-
tärischen Anschauung zum Ausbruch. Daß die Völker-
rechtsprofessoren ihre eigenen Kartenhäuser wieder
umblasen, daß sich die doch offenbar geprüft scharf-
sinnigen Herren in einem kläglichen System von krassen
Widersprüchen eingraben, ist nicht einem Mangel des
Verstandes zuzuschreiben, sondern aus dem Notstand
zu erklären, daß sie ihre Wissenschaft vor dem ge-
bietenden Veto des Militärs zu retten suchen, indem
die Universität den Generalstab durch ein Kompromiß
zu beschwichtigen beflissen ist. Die Wahrheit ist, daß
die Militärs jeder völkerrechtlichen Bindung mit
Zwangsgewalt durchaus entgegen sind.
Am klarsten und schärfsten hat diesen Gegensatz
Graf Moltke (der Ältere) 1880 in einem Brief an den
Heidelberger Völkerrechtslehrer Bluntschli ausge-
sprochen. Aus dem Schreiben wird gern der Satz an-
geführt: „Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht
einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes
Weltordnung." Aber dieser Satz ist als Bekenntnis
eines persönlichen Dogmas nur für den verbindlich,
der es glaubt, und deshalb ohne allgemeine Bedeutung.
3 Ei • ner, Vor der Revolution
33
Dagegen ist der weitere Inhalt des Briefes von ent-
scheidender Wichtigkeit. Bluntschli hatte^dem General-
feldmarschall das von dem Institut für internationales
Recht veröffentlichte Handbuch des Kriegsrechts zu-
gesandt. In seiner Erwiderung lehnt Moltke sehr höf-
lich, aber auch sehr entschieden jedes „kodifizierte
Kriegsrecht" ab. Eine Humanisierung der Krieg-
führung sei nur zu erwarten „von der religiösen und
sittlichen Erziehung der einzelnen, von dem Ehr-
gefühl und dem Rechtssinne der Führer,
welche sich selbst das Gesetz geben und da-
nach handeln, soweit die abnormen Zustände des
Krieges es überhaupt möglich machen". Das Hand-
buch enthielt die völkerrechtliche Bestimmung — die
Brüsseler Konferenz von 1874 war vorausgegangen — ,
daß Requisitionen nur „im Verhältnis zu den Hilfs-
mitteln des Landes" erfolgen dürfen. Moltke ent-
gegnet: „Der Soldat, welcher Leiden und Entbeh-
rungen, Anstrengung und Gefahr erduldet, . . . muß
alles nehmen, was zu seiner Existenz nötig ist. Das
Übermenschliche darf man von ihm nicht fordern."
Im Interesse der schnellen Beendigung des Kriegs
„müssen alle, nicht geradezu verwerflichen Mittel"
frei stehen. Mit der Petersburger Deklaration, daß
nur die Schwächung der feindlichen Streitmacht
berechtigt sei, kann Moltke sich in keiner Weise ein-
verstanden erklären; alle Hilfsquellen der Regierung,
d. h. des Landes müßten in Anspruch genommen
werden. Im Handbuch waren die völkerrechtlichen
Bestimmungen über die Teilnahme der Bevölkerung
am Krieg schon so formuliert worden, wie jetzt in der
Haager Konvention. Moltke spottet: „Kein auswendig
gelernter Paragraph wird den Soldaten überzeugen,
daß er in der nichtorganisierten Bevölkerung, welche
(spontanement, also aus eigenem Antrieb) die Waffen
ergreift und durch welche er bei Tag und bei Nacht
nicht einen Augenblick seines Lebens sicher ist, einen
34
regelrechten Feind zu erblicken hat." Der Militär
stellt also nicht nur den Heerführer, sondern auch
jeden Soldaten als Richter über das Völkerrecht.
Schließlich rät Moltke, hinter den einzelnen Bestim-
mungen einzufügen: wenn es die Umstände erlauben,
wenn es sein kann, wenn es möglich, wenn es notwendig
ist. Das Völkerrecht der Professoren folgte dem Rat
und schob hinter jede Bestimmung die aufhebende
Notwehr- und Notstandsklausel ein!
Das ist der unausgleichbare Gegensatz: Das Völker-
recht will die Sicherheit der Bevölkerung schützen,
der Militär seine Truppen; das Völkerrecht steht dem
Schwachen und Wehrlosen zur Seite, der Militär,
seiner Aufgabe gemäß, dem Starken; das Völkerrecht
will Menschlichkeit, der Militär Sieg; das Völkerrecht
will dem Verteidiger helfen, der Militär den Angreifer
sichern; das Völkerrecht stellt über den Krieg und den
Heerführer das zwingende unantastbare Gesetz, der
Militär will durch nichts gebunden sein wie durch
sein, wie immer humanes, Gewissen; das Völkerrecht
proklamiert Kriegsrecht, der Militär handelt nach
Kriegsräson.
In diesem Widerspruch mußte das Völkerrecht um
so nachdrücklicher seine Sache behaupten. Statt dessen
zersetzte es sich in einem Kompromiß. Und während
alle Vertreter der Kriegswissenschaft ausnahmslos
Moltkes Anschauung teilen, bekehrte sich 1914 ein
Marburger Völkerrechtslehrer im Felde zu dem Satz:
„Der deutsche Militarismus ist doch wertvoller als
das ganze Völkerrecht."
Die Arbeit der Völkerrechtler hätte einen anderen
Weg gehen müssen, um fruchtbar zu werden. Indem
sie auf der Ausnahmslosigkeit der völkerrechtlichen
Beschlüsse streng beharrten, hätten sie aus dem Völker-
recht alles entfernen sollen, was seiner Natur nach
doch gebrochen werden wird. Hierher gehört das
Gebilde neutralisierter Staaten. In einem jüngst
35
gehaltenen Vortrag des Leipziger Völkerrechtsdozenten
Herbert Kraus, der sonst zu den anfangs gekenn-
zeichneten Erzeugnissen des flüchtig und hitzig be-
ratenen Augenblicks gehört, wurde über den deutschen
Einbruch in Belgien strategisch ganz richtig gesagt:
„Kein Gebot der Welt könnte einer Nation solche
selbstmörderischen Schranken auferlegen, uns die Zähne
an dem riesigen französischen Panzergürtel an unserer
Grenze auszubeißen . . ., statt eine schnelle Parade
gegen die einzige schwächere Stelle zu schlagen.*' Also
mit anderen Worten: die Neutralität eines Staates
kann nur so lange geschont werden, als sie nicht die
strategischen Notwendigkeiten der Kriegführung an-
derer Staaten gegen einen dritten hindert. Daraus
aber folgt nicht, daß in diesem Falle keine Völker-
rechtsverletzung begangen wurde, sondern vielmehr,
daß man längst den völkerrechtlichen Vertrag, auf
dem die Neutralität beruhte, von allen Seiten hätte
auflösen sollen; nicht zuletzt auf Betreiben des neutra-
lisierten Staates selbst. Es wäre kein Nachteil für den
Frieden der Welt, wenn es keine dauernd neutrali-
sierten Staaten mehr geben würde. Die Folge wäre,
daß alle kleineren Staaten sich vermutlich nach
Schweizer Muster eine Volkswehr schaffen würden
und daß vor jedem Ausbruch eines Kriegs die Länder,
die neutral zu bleiben wünschen, sich gemeinschaft-
lich zur Verteidigung ihrer Neutralität organisieren.
Der Kriegsanreiz würde dann wesentlich schwächer
werden.
Das ist das eine Ergebnis meiner Untersuchung:
Das Völkerrecht duldet keine Einschränkung durch
Notwehr und Notstand. Was aber unvereinbar mit
den Lebensinteressen des einen oder anderen Landes
ist oder aller Wahrscheinlichkeit einmal werden kann,
darf nicht unter die besondere Sanktion des Völker-
rechts gestellt werden. Man sichert das Völkerrecht,
indem man es entlastet.
36
II.
Volkswehr im Völkerrecht.
In einem preußischen militärischen Aktenstück, in
der Landsturmverordnung vom 21. April 181 3, be-
fahl der König dem Volk: „Jeder Staatsbürger ist
verpflichtet, sich dem andringenden Feinde mit Waffen
aller Art zu widersetzen, seinen Befehlen und Aus-
schreibungen nicht zu gehorchen, und wenn der Feind
solche mit Gewalt beitreiben will, ihm durch alle nur
aufzubietenden Mittel zu schaden ... Ist der Fall
des Aufgebots eingetreten, so ist der Kampf, wozu
der Landsturm berufen wird, ein Kampf der Notwehr,
der alle Mittel heiligt. Die schneidendsten sind die
vorzüglichsten, denn sie beenden die gerechte Sache
am siegreichsten und schnellsten. Es ist daher die Be-
stimmung des Landsturms, dem Feinde den Einbruch
wie den Rückzug zu versperren, ihn beständig außer
Atem zu halten; seine Munition, Lebensmittel, Kuriere
und Rekruten aufzufangen; seine Hospitäler auf-
zuheben; nächtliche Überfälle auszuführen, kurz, ihn
zu beunruhigen, zu peinigen, schlaflos zu machen,
einzeln und in Trupps zu vernichten, wo es nur mög-
lich ist . . . Eigen für den Landsturm verfertigte Uni-
formen oder Trachten werden nicht verstattet, weil
sie den Landstürmer kenntlich machen und der Ver-
folgung des Feindes leichter preisgeben können . . .
Die Waffen sind: alle Arten von Flinten, mit oder
ohne Bajonett, Spieße, Piken, Heugabeln, Morgen-
sterne, Säbel, Beile, gerade gezogene Sensen, Eisen . . .
Wie bei einer Fußpost sind täglich von Meile zu Meile
Boten abzuschicken, auch Weiber und Kinder von
12 bis 15 Jahren sind hierzu brauchbar . . . Späherei,
weit entfernt verächtlich zu sein, ist Pflicht gegen den
Feind . . . Dem Feinde das Leben möglichst zu er-
schweren, sich allen seinen Anordnungen mit Gewalt
zu widersetzen, alle Leistungen und Lieferungen für
37
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ihn zu versagen, ihn einzeln zu vernichten und Ab-
bruch zu tun, ist Pflicht . . . Die Städte, die sich darin
besonders hervortun, sollen belohnt werden. Die Bil-
dung der National- oder Bürgergarden unter Einfluß
und Aufsicht des Feindes ist bei Strafe schimpflicher
Landesverweisung verboten. Diese scheinbaren Ord-
nungsmittel haben dem Feinde zu oft schon Garni-
sonen in den eroberten Städten erspart. Es ist weniger
schädlich, daß einige Ausschweifungen zügellosen Ge-
sindels stattfinden, als daß der Feind frei im Schlacht-
felde über alle seine Truppen gebietet."
Aus gleichem Geist sind auch militärwissenschaft-
liche Ausführungen über das Wesen des Volkskrieges
geboren: „Ist von Verderbung der Wege, Versperrung
enger Straßen die Rede, so verhalten sich die Mittel,
welche Vorposten oder Streifkorps des Heeres an-
wenden, zu denjenigen, welche eine aufgebrachte
Bauernmasse herbeischafft, ungefähr wie die Bewe-
gungen eines Automats zu den Bewegungen eines
Menschen . . . Nach unserer Vorstellung vom Volks-
kriege muß er, wie ein nebel- und wolkenartiges Wesen,
sich nirgends zu einem widerstehenden Körper kon-
kreszieren, sonst richtet der Feind eine angemessene
Kraft auf diesen Kern, zerstört ihn und macht eine
große Menge Gefangene; dann sinkt der Mut . . .
Kein Staat sollte sein Schicksal, nämlich sein ganzes
Dasein, von einer Schlacht, sei sie auch die entschei-
dendste, abhängig glauben. Zum Sterben ist es immer
noch Zeit, und wie es ein Naturtrieb ist, daß der Unter-
gehende nach dem Strohhalm greift, so ist es in der
natürlichen Ordnung der menschlichen Welt, daß ein
Volk die letzten Mittel seiner Rettung versucht, wenn
es sich an den Rand des Abgrunds geschleudert sieht.
Wie klein und schwach ein Staat in Beziehung auf
seinen Feind auch sei, er soll sich diese letzte Kraft-
anstrengung nicht ersparen, oder man müßte sagen,
es ist keine Seele mehr in ihm." Es ist nicht bedeu-
38
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tungslos, zu erwähnen, daß diese und noch mehr Sätze
über den Volkskrieg der Klassiker deutscher Kriegs-
wissenschaft, Carl von Clausewitz, in seinem
großen Werk Vom Kriege niedergeschrieben hat!
Die Landsturmverordnung von 1813- und die Dar-
legungen des preußischen Generals von Clausewitz
über die Volksbewaffnung entstammen den furcht-
baren Erlebnissen eines Staates, dessen weltbewun-
dertes Söldner- und Leibeigenenheer unter dem An-
prall eines genial geführten Volksheeres zusammen-
gebrochen war; und die weitere Erfahrung, daß dieser
größte aller Feldherren dann selbst wieder durch die
aufständischen Volksmassen in Spanien und Tirol in
schwere Bedrängnis geriet, ließ erst recht die Bedeu-
tung eines ganzen Volkes, das sich verteidigt, in seiner
Unüberwindlichkeit erscheinen.
Seitdem sind die großen Militärstaaten zur allge-
meinen Wehrpflicht übergegangen. Damit vollzog sich
auch eine Wandlung der militärischen Auffassung. Ob-
wohl alle Heerführer in Deutschland unter dem Ein-
fluß der Lehren Carls von Clausewitz erzogen sind,
wird heute niemand seine Propaganda für den Volks-
krieg billigen. Der Krieg soll — das ist die militärische
Überzeugung der Gegenwart, wenigstens in den rein
militärischen Weltmächten — ausschließlich zwischen
den organisierten Streitkräften geführt werden. Aber
dieser in aller seiner Konsequenz mit äußerster Härte
bis zu einem Punkte, wo die Kriegführung zur Krimi-
naljustiz wird, behauptete und durchgeführte Grund-
satz ist keine völkerrechtliche Lösung des Problems.
Hier blutet die düsterste Tragik des Krieges: der
schreckliche Unterschied des Schicksals zwischen der
Bevölkerung eines vom Feinde besetzten und eines
vom Feinde freien Landes. Zwar greifen die persön-
lich-wirtschaftlichen Wirkungen des Krieges auch in
das letzte Dorf der vom Feinde nie erblickten Gebiete.
Aber welch Gegensatz zwischen dem Los der Be-
39
völkerung in Galizien und Wien, in Ostpreußen und
Berlin, in Polen und Petersburg, in Nordfrankreich
oder Belgien und München! Was vermag das Völker-
recht, was will es vermögen, um die waffenlose Be-
völkerung des Kriegsschauplatzes tatsächlich den
unmittelbaren Angriffen des Krieges zu entziehen,
der doch nicht gegen die Bürger geführt werden soll ?
Mit anderen Worten: welchen Schutz verheißt das
Völkerrecht wider den Eindringling?
Das Völkerrecht ist seinem Begriff nach schlechthin
international, die Armeen ebenso ausschließlich natio-
nal. Kann es da überhaupt einen Ausgleich geben
zwischen dem Recht, das alle Völker verbindet, und
der Gewalt, die zwischen den einzelnen Völkern in
uneingeschränkter Einseitigkeit für oder wider ent-
scheidet? Für das Völkerrecht sind alle Völker von
gleicher Qualität, und mithin gleichen Rechts, der
Krieg hingegen macht aus dem Nebeneinander der
Völker insofern eine einzige große Antinomie, als jedes
Volk auf gleiche Weise, zumeist sogar mit den gleichen
Worten, sich den Besitz der höheren Moral und des
besseren Rechts zubilligt.
Gleichwohl hat sich das Völkerrecht nicht enthalten,
Regeln für die Teilnahme der Bevölkerung am Kriege
aufzustellen.
Gerade die Haager Verhandlungen von 1899 standen
unter dem Eindruck, daß dies Problem die eigentliche
Lebensfrage des Völkerrechts umschließe. Jene De-
batten zeigten aber sofort das andere: Daß auch auf
den Friedenskonferenzen und bei der Kodifizierung
des Kriegsrechts unausgeglichen der Gegensatz
zwischen der heutigen völkerrechtlichen
und der heutigen militärischen Anschauung
klaffte, und daß über die entscheidenden Bestimmungen
nur aus internationaler diplomatischer Höflichkeit eine
formelle Verständigung erzielt wurde, während sich
jede der Parteien dabei etwas anderes dachte. So er-
40
Digitiz
kennt jeder, der das amtliche Protokoll der Konferenz
von 1899 einmal gelesen hat, daß eine innere Ver-
ständigung über den Volkskrieg nicht einheitlich
gewonnen wurde und gar nicht gewonnen werden
konnte, weil das Problem völkerrechtlich und mili-
tärisch gegenwärtig durchaus verschieden behandelt
werden muß.
Die Fragen der Teilnahme der Bevölkerung am
Kriege sind völkerrechtlich schon auf der Brüsseler
Konferenz von 1874 in Paragraphen gebracht worden,
und die damaligen (nicht ratifizierten) Beschlüsse sind
dann im Haag übernommen und bestätigt worden.
In Brüssel versuchte ein ursprünglicher Entwurf eine
mehr ins einzelne gehende Ordnung. Man hatte auch
die Pflichten der Bevölkerung eines vom Feinde an-
gegriffenen Landes gegen den Feind geregelt. Ein
Spezialparagraph war dem Fall der Erhebung der Be-
völkerung in einem bereits besetzten Lande ge-
widmet und unterwarf sie der Strenge der Justiz.
Ein anderer Paragraph verbot die isolierten feindseligen
Handlungen. Aber bei der Brüsseler Schlußredaktion
ergaben sich so viele Schwierigkeiten, daß man alle
Fragen der Volkserhebung in einem besetzten Gebiet
und der individuellen Kriegshandlungen ungeregelt
ließ. Man begnügte sich mit der Feststellung, wer
völkerrechtlich den Schutz von Kriegführenden ge-
nießen solle: die Armeen, die Milizen, die organi-
sierten Verbände und auch die Bevölkerung, die, selbst
ohne Organisation, spontan die Waffen in einem noch
nicht vom Feinde besetzten Gebiet ergreift. Die so
zustande gekommenen, eingeschränkten Brüsseler Be-
schlüsse wurden in den beiden Artikeln des Haager
Landkriegsreglements von 1899 wiederholt:
Art. 1. Die Gesetze, Rechte und Pflichten des
Krieges gelten nicht allein für die Armeen, sondern auch
für die Milizen und Freischaren, die folgende Be-
dingungen erfüllen:
4i
1. Sie müssen an ihrer Spitze eine für die Unterge-
ordneten verantwortliche Person haben;
2. sie müssen ein festes und auch in der Entfernung
erkennbares Unterscheidungszeichen tragen;
3. sie haben die Waffen offen zu tragen und
4. in ihren Handlungen sich den Gesetzen und Gebräu-
chen des Krieges zu unterwerfen.
Art. 2. Die Bevölkerung eines nicht be-
setzten Gebietes, die beim Herannahen des
Feindes aus eigenem Antriebe zu den Waffen
greift, um die eindringenden Truppen zu
bekämpfen, ohne Zeit gehabt zu haben, sich
nach Art. I zu organisieren, wird als Kriegs-
partei betrachtet, sofern sie die Gesetze und
Gebräuche des Krieges beobachtet.
Als am 20. Juni 1899 die II. Subkommission der
II. Kommission diese Anträge beriet, war die Stimmung
der großen Mehrheit offenbar, daß die alten Brüsseler
Vorschläge das absolute Recht der Volksverteidigung
unzulässig einengten. Um einer Ablehnung vorzu-
beugen, erläuterte deshalb der Präsident der Kom-
mission, v.Martens, der russische Delegierte, sofort
zu Beginn in einem längeren Vortrag Sinn und Ab-
sicht der beiden Artikel: Es handelt sich nicht darum,
der Bevölkerung das Recht der Verteidigung zu be-
streiten. Dies Recht ist heilig. Die Brüsseler Kon-
ferenz hatte (ich übersetze das französische Protokoll
gekürzt. Der Verf.) keineswegs die Absicht, das Recht
der Verteidigung abzuschaffen oder einen Kodex auf-
zustellen, der dies Recht abschaffen sollte. Sie war im
Gegenteil von dem Gedanken durchdrungen, daß die
Helden nicht durch Gesetzesparagraphen geschaffen
werden, sondern daß das einzige Gesetzbuch, das die
Helden haben, ihre Aufopferung, ihr Wille und ihr
Patriotismus ist. Früher waren die Bedingungen, denen
die Bevölkerung genügen mußte, gegenüber den Krieg-
führenden viel schwerer zu erfüllen als die in den
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Artikeln aufgestellten. Das muß man nicht aus den
Augen verlieren und sich erinnern, daß diese Be-
stimmungen nicht zum Gegenstand haben, alle Fälle
zu regeln, die sich ereignen könnten. Wir haben die
Türe offen gehalten für die heroischen Opfer, die die
Nationen bereit wären für ihre Verteidigung zu
bringen; eine heldenhafte Nation steht, wie die Helden,
jenseits der Gesetzbücher, der Regeln, der Tatsachen.
Es ist nicht unsere Aufgabe, dem Patriotismus Grenzen
zu setzen; unser Versuch geht allein dahin, durch ein
gemeinsames Abkommen zwischen den Staaten die
Rechte der Bevölkerung und die Bedingungen auf-
zustellen, die diejenigen zu erfüllen haben, die sich
rechtmäßig für ihr Vaterland zu schlagen wünschen.
Seine Ausführungen faßte v. Martens in einer
Deklaration zusammen: daß es die Absicht der Kon-
ferenz sei, die Übel des Krieges, soweit es die mili-
tärischen Notwendigkeiten zulassen, zu mildern. Es
sei nicht möglich, alle denkbaren Fälle zu regeln, es sei
aber auch nicht die Meinung, daß . in den nichtge-
regelten Fällen die Entscheidung dem Ermessen derer
überlassen bleibe, die die Armeen führen; auch sie
müßten vielmehr unter dem Gebot des Völkerrechts
bleiben.
Der belgische Deligierte Beernaert, der frühere
Minister, stimmte den Artikeln zu, unter der Voraus-
setzung, daß die Deklaration des Herrn v. Martens
bindend sei. Er verstand die Bedeutung der Regelung
dahin: Nach wie vor werden die Rechte des Siegers,
weit entfernt, daß sie unbegrenzt seien, eingeschränkt
sein durch die Gesetze des allgemeinen Gewissens,
und kein Land, kein General würde wagen, sie zu
brechen, weil er sich damit außerhalb der Gemein-
schaft der zivilisierten Völker stellen würde.
Ein holländischer Vertreter, General und ehe-
maliger * Kriegsminister, schloß sich Martens und
Beernaert an. Er hob das Interesse der kleineren
43
Staaten an der Mitwirkung der Bevölkerung im Kriege
hervor.
Danach wurde der I.Artikel einstimmig ange-
nommen, ebenso der zweite, mit dem Vorbehalt des
Schweizer Delegierten Oberst Künzli, daß seine Ab-
stimmung von dem Schicksal des englischen Zusatz-
antrages abhänge.
Dieser englische Antrag des Generals Sir John
Ardagh wünschte die Hinzufügung folgenden Ar-
tikels :
Nichts in diesem Kapitel darf als Versuch be-
trachtet werden, das Recht, das der Bevölkerung des
besetzten Landes gebührt, zu vermindern oder zu
unterdrücken, weil sie offen die Waffen gegen den
Eindringling ergriffen hatte.
Ein Schweizer Antrag hatte den Wortlaut:
Es dürfen keine Repressalien an einer Bevölkerung
eines besetzten Gebietes geübt werden, weil sie offen
die Waffen gegen den Eindringling erhoben hat.
Der Präsident versuchte zunächst den englischen
Delegierten zur Zurückziehung seines Antrages zu be-
wegen, indem er in Aussicht stellte, daß seine und die
Beernaertsche Deklaration in das Protokoll aufge-
nommen würde.
Sir John Ardagh bestand auf der Abstimmung
über seinen Antrag. Der Schweizer Delegierte Oberst
Künzli zieht seinen Antrag zugunsten des englischen
zurück: Die Deklaration des Präsidenten ist sicher von
großer Bedeutung, aber sie gibt nicht die notwendigen
Garantien, weil schließlich der Text der Konvention
entscheidend ist. Ich erkenne an, daß der Krieg seine
Bedürfnisse, seine Notwendigkeiten und selbst seine
unvermeidlichen Grausamkeiten hat. Ich bitte Sie
nur um eine einzige Änderung: Bestrafen Sie nicht
die Liebe zum Vaterlande, ergreifen Sie keine harten
Maßnahmen gegen die Völker, die sich zur Verteidi-
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gung ihres Bodens erheben! Am Anfang dieses Jahr-
hunderts haben wir in unserem Lande mehrere Er-
hebungen des Volkes in gewissen Gebirgsgegenden ge-
habt, und eine noch bedeutsamere Aktion hat sich in
einem uns benachbarten Gebirgsland vollzogen. Man
schlug sich in offenem Kampf, man mordete nicht die
Nachzügler und man tötete nicht die Kranken und
die Verwundeten. Nicht allein die Männer in der
Blüte der Jahre, sondern auch die Greise, Kinder und
Frauen nahmen an den Kämpfen teil. Sie werden
sagen, daß das Ausschreitungen des Patriotismus waren.
Mag sein, aber Ausschreitungen, die das Herz erfreuen
und die sich von neuem ereignen können. Sie be-
greifen, daß wir nicht eine Konvention unterschreiben
könnten, die einen Teil der Bevölkerung dem Stand-
recht und dem Kriegsgericht überantworten würde.
Der Präsident erwidert, daß niemals in Frage ge-
wesen sei, den patriorischen Tugenden der Völker
Grenzen zu setzen: Wir wollen das Leben und das
Eigentum der Schwachen, der Entwaffneten und der
Unbeteiligten schützen, aber wir wollen keineswegs
den Helden Gesetze vorschreiben, noch dem Elan der
Patrioten Zügel anlegen.
Der deutsche Delegierte Oberst Groß von
Schwarzhoff hatte bei den Erörterungen über die
Artikel I und II geschwiegen und ihnen zugestimmt.
Der englische Antrag veranlaßt ihn jetzt, seine Mei-
nung über die ganze Frage zu äußern. Die Rede
Künzlis habe ihm gezeigt, daß man mit dem anschei-
nend harmlosen Antrag mehr beabsichtige, als in ihm
zu stehen scheint. Die Beschlüsse der Konferenz hätten
den Zweck, die Leiden der Invasion für die Bevölke-
rung zu mildern. Eine Voraussetzung aber, so fährt
der deutsche Delegierte fort, ist allen Beschlüssen ge-
meinsam: daß die Bevölkerung friedlich bleibt;
wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist, dann verlieren
die meisten der zugunsten der Bevölkerung geschaffe-
45
nen Sicherheiten ihre Daseinsberechtigung. Heißt das
den Patriotismus beschränken oder den tapferen Leu ten
verbieten, an der Verteidigung ihrer Heimat teilzu-
nehmen ? Keineswegs ! Nichts hindert die Patrioten, in
die Reihen der Armee zu treten, oder wenn die Frie-
densstärke zu beschränkt ist, sich untereinander zu
organisieren, unabhängig von der eigentlichen Armee.
Ist es so schwer, einen Menschen zu finden, der sich
an die Spitze der Bewegung stellt, einen Bürger-
meister, einen Beamten, einen ehemaligen Soldaten ?
Ist es so schwer, ein Unterscheidungszeichen sich an-
zustecken ? Der I. Artikel sollte vollkommen genügen,
denn er engt den Patriotismus in keiner Weise ein.
Aber man ist weiter gegangen, indem man den II. Arti-
kel beschloß, der der Bevölkerung eines nicht besetzten
Gebiets die Rechte von Kriegführenden unter der
einzigen Bedingung verleiht, daß sie die Kriegsgesetze
anerkennt. Es wäre vorzuziehen, unter allen Um-
ständen auch hier ein Kennzeichen und das offene
Tragen der Waffen zu fordern. Ohnehin befinden
sich die regulären Truppen in einer ungünstigen Lage,
weil sie nicht sehen können, ob sie friedliche Bauern
oder kampfbereite Feinde vor sich haben. Der deutsche
Delegierte gesteht offen, daß er schwere Bedenken gegen
diesen Artikel habe; aber aus versöhnlichem Geiste
und um keine unüberwindlichen Schwierigkeiten zu
schaffen, habe er geglaubt, Schweigen bewahren zu
können und von einem Antrag auf Streichung abzu-
sehen. Aber jetzt, wo man die Grundsätze noch er-
weitern will, sieht er sich genötigt, zu sagen, daß die
Konzessionen hier aufhören müssen. Wenn man so
viel von Menschlichkeit spricht, glaubt er, es sei Zeit
sich zu erinnern, daß die Soldaten auch Menschen
sind und das Recht haben, mit Menschlichkeit be-
handelt zu werden. Die Soldaten, die erschöpft, nach
langen Märschen oder nach Kämpfen sich in einem
Dorf ausruhen wollen, müssen sicher sein, daß die
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friedlichen Einwohner sich nicht plötzlich in erbitterte
Feinde verwandeln.
Der französische Delegierte Leon Burgeois ver-
mittelt. Er stellt fest, daß die Subkommission im
Grunde mit Sir John Ardagh einer Meinung sei.
Nichts darf die Sicherheiten einschränken, die das
Menschenrecht den Völkern gibt, wenn sie dem Ein-
dringling Widerstand leisten. Die Frage sei, ob man
diesen Gedanken in einen besonderen Artikel des
Textes aufnehmen oder sich mit der Aufnahme der
Erklärung des Präsidenten ins Schlußprotokoll be-
gnügen werde. Wenn das letztere geschehe, wäre es
für ihn genügend.
Die Subkommission beschließt darauf, die Deklara-
tion des Präsidenten ins Schlußprotokoll aufzunehmen.
Aber erst als der italienische Delegierte Graf Nigra
den Vorschlag macht, auch den englischen Antrag
dem Schlußprotokoll einzuverleiben, „neben und als
Bestätigung der Deklaration des Präsidenten", zieht
John Ardagh versöhnlich den Antrag zurück, da er
die einmütige Billigung gefunden habe. Nochmals
widerspricht Oberst Groß von Schwarzhoff: Es
handle sich um keine bloße Formsache, sondern um
eine Prinzipienfrage. Die Beharrlichkeit, mit der man
den englischen Antrag durchzusetzen suche, beweise
in der Tat, daß eine Schlange unterm Felsen liege
und daß man die Leichtigkeit der gewährten Volks-
verteidigung noch erweitern wolle.
Schließlich kam man überein, den englischen Antrag
sowie alle dazugehörigen Bemerkungen und Ein-
schränkungen dem Protokoll einzuverleiben.
Als in der Plenarsitzung der Haager Konferenz vom
5. Juni über die Beschlüsse der Kommission Bericht
erstattet wurde, gab man den Protest des deutschen
Delegierten in noch schärferer Form wieder, als er
in dem Protokoll der Kommission verzeichnet ist. Der
Berichterstatter teilte mit, „Aber hier — hat sehr
47
kategorisch der deutsche Delegierte gesagt — hören
meine Zugeständnisse auf; es ist mir völlig unmöglich,
einen Schritt weiter zu gehen und denen zu folgen,
die eine absolute Freiheit für die Verteidigung pro-
klamieren."
Auf der zweiten Haager Konferenz von 1907 setzte
Deutschland insofern ein weitere Einschränkung durch,
als in den zweiten Artikel auch die Bedingung des
offenen Waffentragens aufgenommen wurde; ein fer-
nerer deutscher Antrag, daß die Erkennungszeichen
der Freikorps im voraus der Gegenpartei bekannt-
gegeben werden müßten, wurde zurückgezogen.
Die Haltung des deutschen Delegierten entsprach
durchaus jener Auffassung Moltkes, der es für völlig
aussichtslos erklärte, einem Soldaten den Unterschied
zwischen einem berechtigten und einem unberech-
tigten Freischärler in der Bevölkerung begreiflich zu
machen. In der Tat ergibt sich aus den Ausführungen
des deutschen Offiziers im Haag, daß die rein mili-
tärische Anschauung die Teilnahme der Bevölkerung
am Krieg auch innerhalb der Haager Bedingungen
nicht billigt, und es nicht für möglich hält, die völker-
rechtlich konzessionierten Freischärler anders zu be-
handeln wie die unzweifelhaften Verletzer der Haager
Klauseln. Umgekehrt war die große Mehrheit der
Konferenz der Ansicht, daß das oberste Recht, die
Selbstverteidigung des Volks, durch nichts ein-
geschränkt werden dürfe, daß es also in der Anwen-
dung dieses höchsten Grundsatzes überhaupt keine
Völkerrechtsverletzungen geben könne.
Es ist somit erwiesen, daß im Grunde auf den Haager
Konferenzen keine völkerrechtliche Regelung der
Volkswehr im Kriege gefunden worden ist. Der völker-
rechtlich interessierten Mehrheit gingen die Formeln,
auf die man sich höflich verständigte, lange nicht weit
genug. Und sie faßte deren Bedeutung in geradem
Gegensatz zu der militärischen Gruppe auf, die nach
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ihrer eigentlichen Uberzeugung jede Einmischung der
Bevölkerung ablehnt, zum mindesten das Urteil über
ihre Berechtigung dem Ermessen der Heerführer über-
lassen will.
Über diesen Gegensatz hilft den beiden Parteien
keine Diskussion und keine Konzession hinweg. Lassen
wir kurz die Vertreter beider Anschauungen ihre
Gründe gegeneinander messen:
Der Militär sagt: Ich habe meine Soldaten zu
schützen.
Der Völkerrechtler erwidert: Wir haben das Volk
gegen die Eindringlinge zu schützen.
Der Militär: Aber die Aufgabe der Heeresleitung ist
ja gerade, das eigene Land nicht zum Kriegsschauplatz
werden zu lassen: darum müssen wir angreifen, um es
nicht zum Angriff auf uns kommen zu lassen. So sind
wir es, die in Wahrheit unsere Bevölkerung schützen.
Der Völkerrechtler: Das Völkerrecht gilt nicht
für ein Volk, sondern für alle Völker gleichermaßen.
Darum muß es unter allen Umständen auf der Seite
derer stehen, die ihr Land gegen den Eindringling
verteidigen.
Der Militär: Und das Heer muß auf Seiten des
eigenen Volkes stehen.
Der Völkerrechtler: Damit wäre die Unverein-
barkeit des Völkerrechts mit dem militärischen Inter-
esse behauptet.
Der Militär: Nur dann, wenn das Völkerrecht
Anforderungen stellt, die mit der Kriegführung un-
vereinbar sind. Es ist ja gerade, um bei unserem Bei-
spiel zu bleiben, Humanität, daß wir mit aller Härte
den Krieg auf die Auseinandersetzung zwischen den
Streitkräften beschränken wollen. Wir wollen nicht
gegen das Land, das Volk Krieg führen, sondern nur
gegen das Heer.
Der Völkerrechtler: So sagt ihr, wenn es die
Beteiligung des Volkes am Kampfe zu bestreiten gilt.
4 Eisner, Gesammelte Schriften. I.
49
Aber sonst lehnt ihr es ab, nur gegen das feindliche
Heer Krieg zu führen. Euer Moltke hat es unzwei-
deutig ausgesprochen, daß man auch die Regierung,
das Land in Anspruch nehmen müsse. Und ent-
sprechen dem nicht die Tatsachen ? Wird nicht heute
mehr denn je die friedliche Bevölkerung in den Strudel
des Krieges gerissen: werden nicht ganze Dörfer,
Städte, Provinzen zerstört; die schuldlosen Einwohner
dem Hunger, der Obdachlosigkeit, der Flucht, selbst
dem Tode ausgeliefert ? Und sie soll sich nicht einmal
wehren dürfen? Ihr wollt nicht die Teilnahme der
Bevölkerung am Kampfe; der Krieg soll nur zwischen
Armeen geführt werden. Aber gleichzeitig laßt ihr
alle Wirkungen des Krieges mit gesteigerter Wucht
auf die Wehrlosen fallen. So wird die Bevölkerung
zum passiven Objekt der Kriegführung. Ihre be-
waffnete Selbsthilfe wird verboten, weil nur die
Armeen miteinander kämpfen sollen. Ihr erbarmungs-
loses Leiden aber wird erfordert, weil der Kriegs-
zweck über die Niederwerfung der Armee hinausgeht.
Man begrenzt human die Kriegssphäre, wenn es den
Schutz des eigenen Heeres gilt, man erweitert sie bis
ins Unbegrenzte, wenn die Opfer des Landes rücksichts-
los eingefordert werden. Eure humane Kriegsräson
heißt: alles für das Heer, alles gegen die Bevölkerung.
Der Militär: Würde man der Bevölkerung auch
noch die Teilnahme am Kampf verstatten, so wäre die
einzige Folge, daß die Kriegführung eben noch strenger
und blutiger würde. Wir haben die Verantwortung
für unsere Soldaten und für die Erreichung des Siegs.
Diesem Zweck müssen wir alles andere unterordnen.
Und ihr werdet uns zugestehen, daß unsere Kriegs-
gebräuche so human wie irgend möglich sind. Wir tun
nicht mehr Schlimmes, als unbedingt notwendig ist.
Wir verfahren ritterlich mit dem feindlichen Heere . . .
Der Völkerrechtler: Aber sehr unritterlich mit
der Bevölkerung, deren Heldenmut . . .
50
DerMilitär : Heldenmut ? Ich sehe nur Verbrechen.
Und selbst wenn es nicht Verbrechen wäre, so ist es
günstigstenfalls aussichtsloser heroischer Wahnsinn,
der ausgerottet werden muß, gerade damit wir unsere
humane Kriegsräson durchführen können, die mehr
Wert hat als eure papiernen Gesetze.
Der Völkerrechtler: Und über die Mittel der
Kriegsräson entscheidet der, der Krieg führt. Das
wollen wir gerade verhindern . . .
Der Militär: Und könnt es doch nicht . . .
Die Unterhaltung der beiden Gegner ließe sich bis ins
Unendliche mit den schlagendsten Gründen weiterfüh-
ren. Sie wird nie zu einem Ziel führen, weil der Wider-
spruch zwischen der militärischen und der völkerrecht-
lichen Grundanschauung in diesem Falle unlösbar ist.
So dürften meine Anmerkungen eine weitere Ein-
sicht gefördert haben, daß bis heute zwischen der
völkerrechtlichen und der militärischen Anschauung
unvereinbare Gegensätze bestehen. Es ist gegenwärtig
nicht die Zeit, in diesem Konflikt Partei zu nehmen,
so fest ich auch überzeugt bin, daß die praktische Ent-
scheidung nach der einen oder der anderen Seite hin
jetzt nicht nur von den ernstesten Wirkungen für die
unmittelbar am Kriege beteiligten Völker ist, sondern
darüber hinaus auch einen großen allgemeinen poli-
tischen Einfluß hat. Aber für eine Folgerung möchte
ich vielleicht doch manchen gewonnen haben: Daß
es einstweilen am besten ist, vom Völkerrecht nicht
zu reden und sich nicht auf seine Artikel zu berufen —
es geschieht doch immer nur um einer aufpeitschenden
Entrüstung willen — , sondern es dem gesitteten
Geist der Heeresleitungen und der Bürger
im Waffenrock zu überlassen, den Krieg
menschlich zu führen, — ohne Appell an
das Völkerrecht!
[Herbst 1914. Veröffentlicht: Der Neue Merkur
Dezember 14, Januar 15.]
v
51
Theorien und Phantasien vom ewigen Frieden.
... da dann durch Vermischung der Geschlechter
im ganzen das Leben unserer mit Vernunft
begabten Gattung fortschreitend erhalten
wird, unerachtet diese absichtlich an ihrer
eigenen Zerstörung (durch Kriege) arbeitet;
welche doch die immer an Kultur wachsenden
vernünftigen Geschöpfe selbst mitten im Kriege
nicht hindert, dem Menschengeschlecht in
kommenden Jahrhunderten einen Glückselig-
keitszustand, der nicht mehr rückgängig sein
wird, im Prospekt unzweideutig vorzustellen.
Kant, Anthropologie 1789.
Träume vom ewigen Frieden begleiten die Mensch-
heit durch die Wirklichkeiten ewigen Krieges. Dichter,
Propheten, Philosophen singen, weissagen, lehren durch
die Jahrtausende von dem goldenen Zeitalter, das die
einen, die sentimental Rückwärtsgewandten, in den
Anfang der Dinge als das für immer verlorene Paradies
setzen, die anderen, die tätig Revolutionären, als Idee,
als menschliche Aufgabe, als Kampfziel in die Zukunft
verlegen.
Als im 18. Jahrhundert die mächtige Kritik der Auf-
klärung, die alle Dinge und Erscheinungen unter das
unbestechliche Urteil der menschlichen Vernunft
stellten, die Schichten europäischer Bildung erfaßte;
war niemand von den bedeutenden Geistern, der nicht
mit allen Waffen beweisenden Verstandes und er-
leuchtender Sittlichkeit den Aberwitz des Krieges be-
kämpft hätte. Vor dem Hohn eines Voltaire zerrannen
alle Gründe, mit denen die Notwendigkeit und Gott-
gewolltheit der Kriege gerechtfertigt wurde; und wenn
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er aus der Heiligen patriotischen Heldentums, der
Jungfrau von Orleans, die ausgelassene Abenteuer-
travestie eines auf anderem Felde der Ehre von der
Gefahr des Fallens bedrängten derben Bauernmäd-
chens machte, so war das wiederum nur eine Polemik
gegen Krieg und Kriegsromantik. Aber wie wenig
diese Gegenbeweise der ernst lehrenden Vernunft und
des dreist entblößenden Gelächters das Geschehen der
Welt beeinflußte, wird grell durch die Tatsache ver-
anschaulicht, daß Voltaires Pucelle nirgendwo so ent-
zückte, wie im Kreise Friedrichs II. von Preußen.
Wie dann dieser gekrönte Schüler Voltaires die här-
testen und boshaftesten Worte gegen den Krieg stili-
siert hat, ohne dadurch gehindert zu werden, seine Re-
gierung mit einem Angriffskrieg zu beginnen, der
dann Europa in Flammen setzte. Und wiederum im
Alter, da er nach den Verwüstungen des Siebenjährigen
Krieges einsam und verbittert, in düstrem Menschen-
haß, auf seinem Ruhme hockte, bekannte er sich als
echter Schüler der französischen Enzyklopädisten,
predigt, wenn auch mit wenig Zuversicht, wie ein Apo-
stel des Abts St. Pierre (der ein Paradies des Menschen-
glücks gedichtet hatte) den ewigen Frieden, und spricht
von Fürsten als von Anführern von Taugenichtsen,
die nur aus Not gedungene Henker werden, um das
ehrbare Handwerk der Straßenräuber zu treiben.
Aber seit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg,
der die Vereinigten Staaten als neue demokratische
Republik von England loslöste, bemächtigt sich das
Problem mit steigender Kraft der Köpfe. Der Uni-
versalgeist des 17. Jahrhunderts, Leibniz, hatte
noch gemeint: „Der ewige Friede paßt als Aufschrift
über Kirchhofspforten, denn nur die Toten schlagen
sich nicht mehr." Jetzt erlebte die Welt, im Tiefsten
erschüttert, zum erstenmal wieder das Schauspiel,
daß der Krieg als revolutionärer Freiheitskampf eines
ganzen Volkes geführt wurde, während er von der
53
andern Seite als ein durch gedungene, überallher zu-
sammengeraffte, von ihren Landesvätern gewaltsam
gegen Säcke Goldes verkaufte Söldner verübtes Massen-
verbrechen erschien. Durfte ein solcher Krieg roher
Gewalt gegen ein Volk, das frei sein wollte, noch fürder-
hin in der Menschheit geduldet werden ? Und war
es nicht undenkbar, daß freie Völker selbst Eroberungs-
und Unterdrückungskriege in Zukunft führen würden ?
Indem Klopstock die Humanität der Kriegsführung
der Amerikaner feiert, sieht er in ihr zugleich die
Ahnung des ewigen Friedens:
O dann ist, was jetzo beginnt, der Morgenröten
schönste:
Denn sie verkündiget
Einen seligen, nie noch von Menschen erlebten Tag,
Der Jahrhunderte strahlt
Auf uns, die noch nicht wußten, der Krieg sei
Das zischendste, tiefste Brandmal der Menschheit.
Wie dann der von England geführte und besoldete
Krieg des alten Europa gegen die französische Revolu-
tion ausbrach, vertiefte sich jener Abscheu gegen einen
Krieg, in dem die Freiheit erdrosselt werden sollte.
Und wenn am Ausgang des 18. Jahrhunderts die Idee
des ewigen Friedens zum erstenmal zu einem ernsten
wissenschaftlichen System erhoben wurde, so stand
hinter den fast nur juristischen Formeln der leiden-
schaftliche Mensch, der schützend die Flügel seines
Geistes über die Sache der französischen Revolution
breiten wollte.
Es ist ein selten mit hinreichender Klarheit erkannter
Zusammenhang, daß Kant seinen philosophischen
Entwurf zum Ewigen Frieden, mit dem er seinen
ungeheuren Menschheitsbau der Vernunft krönte, un-
mittelbar nach dem Baseler Frieden vom April 1795
niederschrieb. Der Philosoph war unendlich beglückt
über diesen Frieden, den Preußen mit den Jakobinern
54
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abschloß; und zum Schutze der Republik — an
die Preußen das rechte Rheinufer bedenkenlos aus-
geliefert hatte — spann er den, geschichtlich beurteilt,
für Kants Vaterland äußerst schimpflichen Frieden
zu dem Völkervertrag eines ewigen Friedens aus.
Wie sehr die Schrift die Stimmung der Zeit traf, be-
weist ihr großer buchhändlerischer Erfolg. In Deutsch-
land waren zwei Auflagen sofort vergriffen, franzö-
sische, englische, dänische Ubersetzungen erschienen
alsbald.
Schon zuvor, im Jahre 1793, hatte Kant in einer
Abhandlung, in der er sich gegen den „Gemeinspruch"
wandte: „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt
aber nicht für die Praxis" — die Entwicklung der
Menschheit zu einem Völkerbund gezeichnet. Er
hatte Moses Mendelssohn widersprochen, der den Fort-
schritt der Menschheit leugnete und seines Freundes
Lessing Gedanken von einer Erziehung des Menschen-
geschlechts zu immer höheren Entwicklungen als Hirn-
gespinste verwarf („Wir sehen", schrieb Mendelssohn,
„das Menschengeschlecht im ganzen betrachtet, kleine
Schwingungen machen; und es tat nie einige Schritte
vorwärts, ohne bald nachher mit gedoppelter Geschwin-
digkeit in seinen vorigen Zustand zurückzugleiten").
Kant aber stimmt Lessing zu. Gerade die Not der
beständigen Kriege werde die Menschheit selbst
wider Willen dahin bringen, in die weltbürgerliche
Verfassung eines allgemeinen Friedens zu treten, zumal
die wachsenden Heere immer höhere Kosten verur-
sachten.
In seiner Schrift Zum ewigen Frieden, deren iro-
nische Vorbemerkung nur eine vorsichtige Schutz-
maßnahme ist, um den revolutionären Charakter der
Gedanken zu verdecken, entwirft Kant den ausgear-
beiteten Vertrag eines ewigen Friedens. „Stehende
Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören — lautet eine
der ersten Bestimmungen des Vertrags: „Denn sie
55
bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg
durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu er-
scheinen ; . . . und indem durch die darauf verwandten
Kosten der Frieden endlich noch drückender wird als
ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursache von An-
griffskriegen, um diese Last loszuwerden." Nur eine
Volkswehr soll verstattet sein: „Ganz anders ist es mit
der freiwilligen periodisch vorgenommenen Übung der
Staatsbürger in Waffen bewandt, sich und ihr Vater-
land dadurch gegen Angriffe von außen zu sichern."
Der Friedenszustand zwischen den Staaten setzt die
Freiheit in ihrem" Innern voraus: „Die bürgerliche
Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein."
Da in solcher Verfassung das Volk selbst über Krieg und
Frieden zu entscheiden hat, „so ist nichts natürlicher,
als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst
beschließen müßten ... sie sich bedenken werden, ein
so schlimmes Spiel anzufangen".
Die erste Stufe der Entwicklung wäre ein Völker-
bund, aus dem dann allmählich eine Weltrepubilk
hervorwächst
„Bei dem Begriffe des Völkerrechts, als eines Rechts
zum Kriege, läßt sich eigentlich gar nichts denken
(weil es ein Recht sein soll, nicht nach allgemeingültigen
äußern, die Freiheit jedes einzelnen einschränkenden
Gesetzen, sondern nach einseitigen Maximen durch
Gewalt, was Recht sei, zu bestimmen), es müßte denn
darunter verstanden werden: daß Menschen, die so
gesinnt sind, ganz recht geschieht, wenn sie sich unter-
einander aufreiben und also den ewigen Frieden in
dem weiten Grabe finden, das alle Greuel der Gewalt-
tätigkeit samt ihren Urhebern bedeckt."
Kants Schrift fand ein tief hallendes Echo in Her-
der; der leidenschaftlicher als Kant und auch Fichte,
mit diesen beiden die drei revolutionärsten deutschen
Geister der Zeit darstellt. Herder — sein wahres
Wesen erkennt man erst aus den, dem Zwang der poli-
♦
56
uigmzea Dy vjuu
tischen und persönlichen Verhältnisse zum Opfer ge-
fallenen und im Nachlaß vergrabenen Stellen seiner
Schriften — entwirft die Phantasie einer „irokesischen
Anstalt", die unter Indianerstämmen den ewigen
Frieden verwirklichen wollte. „Eine Geschichte vom
wahren Ursprünge der Kriege in Europa seit den
Kreuzzügen, schreibt er, wäre ... das niedrigste Spott-
gedicht, das geschrieben werden könnte." Er will zum
Abscheu gegen den Krieg erziehen: „Der Krieg, wo
er nicht erzwungene Selbstverteidigung, sondern ein
toller Angriff auf eine ruhige, benachbarte Nation ist,
ist ein unmenschliches, ärger als tierisches Beginnen,
indem er nicht nur der Nation, die er angreift, un-
schuldigerweise Mord und Verwüstung drohet, son-
dern auch die Nation, die ihn führet, ebenso unverdient
als schrecklich hinopfert. Kann es einen abscheuliche-
ren Anblick für ein höheres Wesen geben, als zwei
einander gegenüberstehende Menschenheere, die un-
behelligt einander morden?" „Alle edlen Menschen
sollten diese Gesinnung mit warmem Menschengefühl
ausbreiten, Väter und Mütter ihre Erfahrungen dar-
über den Kindern einflößen, damit das fürchterliche
Wort Krieg, das man so leicht ausspricht, den Men-
schen nicht nur verhaßt werde, sondern daß man es mit
gleichem Schauder als den St. Veitstanz, Pest, Hungers-
not, Erdbeben, den schwarzen Tod zu nennen oder zu
schreiben, kaum wage." Herder fordert, daß man die
Achtung gegen den Heldenruhm vermindert. Der
Heldengeist sei nicht nur ein Würgengel der Mensch-
heit, sondern verdiene auch in seinen Talenten lange
nicht die Achtung und den Ruhm, die man ihm aus
Tradition von Griechen, Römern und Barbaren her
zolle. Man solle die falsche Staatskunst, die Diplomatie
verabscheuen. In geläutertem Patriotismus müsse
jede Nation nur in sich selbst groß, schön, edel,
reich, wohlgeordnet, tätig und glücklich werden. Jede
Nation müsse es unangenehm empfinden, wenn eine
57
andere Nation beschimpft und beleidigt wird. „Wächst
dies Gefühl, so wird unvermutet eine Allianz aller
gebildeten Nationen gegen jede einzelne
anmaßende Macht." Freier Handel für alle Völker.
„Dazu ist das Weltmeer da; dazu wehen die Winde;
dazu fließen die Ströme. Sobald eine Nation allen
andern das Meer verschließen, den Wind nehmen will,
ihrer stolzen Habsucht wegen, so muß . . . der Unmut
aller Nationen gegen eine Unterjocherin des freiesten
Elements, gegen die Räuberin jedes höchsten Gewinnes,
die anmaßende Besitzerin aller Schätze und Früchte
der Erde erwachsen."
So ist für Herder der ewige Frieden letzten Endes
eine Aufgabe menschlicher Erziehung im Geiste der
Humanität. Sind aber solche Träumereien nicht heute
ganz wesenlos geworden? Sind sie nicht lediglich ge-
schichtliche Urkunden aus der klassischen Zeit des
staatlosen deutschen Gedankenlebens ?
Vielleicht sind wir den Kant und Herder viel näher,
als es scheinen will. Die damaligen Theorien und Phan-
tasien vom ewigen Frieden wuchsen unmittelbar aus
der Not eines Weltkrieges auf, der über ein Jahrzehnt
die Erde verwüstete. Ist es nicht schließlich doch der
Gedanke, der uns den Weltkrieg von heute nicht nur
ertragen, sondern selbst mit begeisterter Hingabe uns
ihm opfern läßt, — der Gedanke, die Hoffnung, die
Zuversicht und dazu das Bewußtsein organisierter
Macht: Daß es der letzte Krieg sei!
Weihnachten 1914.
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Die Theorie des großen Kriegs.
Der Offensivgeist, der die militärische Anschauung
in Deutschland bedingungslos beherrschte, übte auch
auf die Heeresleitungen des Auslandes Einfluß, wenn
auch dort, wie es scheint, man zumeist im Kampf der
Meinungen nicht zu einer einheitlichen Anschauung
gelangt ist. Übrigens verrät während des jetzigen
Krieges selbst die Tagespresse des Auslands eine be-
merkenswerte intime Kenntnis der deutschen Militär-
literatur, während die deutsche Presse es bisher nicht
für notwendig erachtete, in Deutschland Kenntnisse
für die fachliche Arbeit der fremden Militärs zu ver-
breiten
Gerade in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg
hat man in Deutschland wiederholt in aller Ausführ-
lichkeit und mit militärischer Sachlichkeit die Be-
dingungen des großen Krieges erörtert. Im Jahre 1909
erschien in dem bekannten Militärverlag von Mittler
& Sohn ein umfangreiches, mit genauen Plänen aus-
gestattetes Werk des Generals Freiherrn v. Falken -
hausen: „Der große Krieg der Jetztzeit. Eine Studie
über Bewegungskampf der Massenheere des 20. Jahr-
hunderts", ein Buch, das — nach dem russisch-ja pa-
nischen Krieg erschienen — unmittelbar in die herr-
schenden Auffassungen einführt.
Falkenhausen beginnt zunächst in üblicher Weise
mit der Verteidigung des Krieges überhaupt. Er wendet
sich gegen die Versuche, den Krieg abzuschaffen: „In
der Jetztzeit braucht der Krieg den letzten Mann, und
was ebenso einschneidend wirkt, den letzten Groschen.
Dabei ist die Opferfreudigkeit des jetzigen Geschlechts
59
für allgemeine Zwecke nicht gewachsen. Vermehrtes
Wohlleben bis in die breiten untersten Volksschichten
hinein haben die Liebe zum Leben und Besitz ge-
steigert. Selbstliebe und Eigennutz sind mächtig ge-
worden. Ideale gelten nicht mehr viel. Die Treue
zum Herrscher und die Liebe zum Vaterlande werden
von bei den Massen einflußreichen Vertretern der
zersetzenden Richtung unserer Zeit geflissentlich unter-
graben. Alles dies schafft einen trefflichen Nährboden
für die Bestrebungen derer, die den Krieg beseitigt
haben wollen . . . Dichterische und wissenschaftliche,
schriftstellerische und bildliche Erzeugnisse wetteifern
mit Versammlungen, ja Ausstellungen der Friedens-
freunde, um durch lebhafte Schilderung der Greuel
des Krieges auf die geschwächten Nerven unseres Ge-
schlechts zu wirken." Aber auch trotz der sogar
wiederholten Friedenskonferenzen im Haag werde der
„erfahrene und besonnene Kriegsmann den Glauben
an die Notwendigkeit seines Berufs nicht verlieren.
Der Gedanke eines ewigen Friedens sei eine Utopie,"
„er entspricht unklarem Denken und schwächlichem
Fühlen". Die ernste Pflicht für jeden, der mit der
Kriegsführung zu schaffen hat, sei es, „mit allen Mitteln
anzukämpfen gegen die Gefahren und Hindernisse,
welche aus der Abwendung vom kriegerischen Sinn
und Denken entstehen. Dagegen wird alle Kraft des
Nachdenkens darauf hinzulenken sein, wie man im-
stande ist, sich gründlich vorzubereiten auf kriegerische
Ereignisse, welche die Zukunft, vielleicht die nächste
bringen kann.**
Diesem Zweck dient das genannte Werk. „Grund-
legend" für die Strategie des zukünftigen großen Krie-
ges, so meint Falkenhausen, sei noch immer der deutsch-
französische Krieg von 1870/71. „Ergänzend" sei der
russisch-türkische Krieg von 1877/78, der Burenkrieg
und der russisch- japanische Krieg von 1904/5 zu be-
rücksichtigen. „Die Bedeutung für die große Kriegs-
60
führung wie der deutsch - französische Krieg haben
alle diese, auch der letzte nicht, aber sie sind von
Wichtigkeit wegen der bei ihnen zutage tretenden
fortschreitenden Wirkung der Feuerwaffen und Spreng-
mittel." Aber das Studium der Kriegsgeschichte ge-
nügt nicht, man müsse eine klare Vorstellung von
dem Zukünftigen gewinnen. Der Krieg der Zukunft
sei bestimmt durch die Millionenheere, durch die
Masse. „Die selbstverständliche Folge der Massen-
aufgebote und der kürzeren aktiven Dienstzeit ist
eine Verringerung des inneren Gehalts der aufge-
stellten Truppenkörper. Nicht nur der früher nicht
in diesem Maße bekannten, zur Verwendung in zwei-
ter und dritter Linie bestimmten, sondern infolge
der für diese notwendigen Abgaben auch derjenigen
der vordersten Linie." Falkenhausen empfindet im
Grunde das Massenheer als ungesunde Entwicklung.
Die Zahl im Kriege sei nicht ausschlaggebend. Aber
einstweilen müsse man nun einmal mit dem Massen-
heer rechnen.
Der kommende Krieg ist nicht nur durch die Massen
gekennzeichnet, durch die mehr und mehr sich durch-
setzende Ausgleichung in der Beschaffenheit der ver-
schiedenen Heere, sondern auch durch die Politik der
Bündnisse — die mehrere Völker zugleich in den Krieg
ziehen — und durch die Verbindung von Land- und
Seekrieg. Schließlich wirkt die Vervollkommnung der
Technik bestimmend, wenn man deren Einwirkungen
auch nicht überschätzen dürfte: „Die letzten Erfolge
der Kriegsführung werden immer auf dem Gebiete
der lebendigen Kraft liegen."
Falkenhausen legt nun folgende Kriegslage zugrunde :
Zu dem verbündeten blauen Heere gehören Deutsch-
land und Österreich; zu dem verbündeten roten Heere
Frankreich, England und Italien. Die Schweiz, Bel-
gien, Luxemburg und Holland sind neutral. Die Neu-
tralität der Schweiz wird gewahrt, die der übrigen
61
genannten Staaten von dem roten Heer durchbrochen.
Frankreich hat unter Verletzung der Neutralität von
Belgien und Luxemburg überraschend mit Truppen
des Friedensstandes seine Nord- und Ostgrenze über-
schritten, England unter dem Schutze einer englisch-
französischen Flotte Truppen in Holland gelandet.
Die Zerstörung der deutsch-linksrheinischen Eisen-
bahnen ist an mehrfachen entscheidenden Stellen in
nachhaltiger Weise gelungen. Italien hat das Trentino
überraschend besetzt und vereinigt seine übrigen
Streitkräfte bei Verona, Venedig, Udine. Deutsch-
land ist infolge der geschilderten Verhältnisse gezwun-
gen, seine Heere am Rhein und in Süddeutschland
zu versammeln. Seine Flotte verhält sich abwartend
in Nord- und Ostsee. Österreich wendet sich mit seinen
Hauptkräften gegen Italien und verstärkt die deutschen
Truppen in Süddeutschland.
Der Verfasser fügt hinzu, daß er für sein Schulbei-
spiel ebenso gut eine gegen Osten gerichtete Lage
hätte annehmen können.
Der Krieg beginnt im April. Die deutschen Streit-
kräfte gliedern sich in vier Armeen, zu denen als fünfte
die österreichischen Hilfstruppen (sechs Armeekorps
und 2 Kavalleriedivisionen) kommen. Außerdem stellt
Deutschland drei Reservearmeen auf. Die vier deut-
schen Armeen versammeln sich am Rhein zwischen
Wesel und Rastatt, die drei Reservearmeen in zweiter
Linie dahinter. Die österreichische Hilfsarmee wird
bei Ulm zusammengezogen. Das große Hauptquartier
ist in Frankfurt a. M.
Ein Aufmarsch vou i1/4 Millionen auf deutscher
Seite ist angenommen. Die von Blau besetzte Rhein-
linie hat eine Breite von 400 Kilometern. Nach den
bis zum 14. April früh eingegangenen Nachrichten
sind die roten Truppen inzwischen in das südliche
Oberelsaß eingedrungen, haben den Rhein bei Müll-
heim und Hüningen überschritten; sie haben Neu-
62
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Stadt, Freiburg, Breisach, Lahr erreicht. Im nörd-
lichen Oberelsaß wird Schlettstadt besetzt, ebenso
Zabern und Saarburg. In Lothringen werden Metz
und Diedenhofen eingeschlossen. Andere feindliche
Truppen dringen durch Luxemburg vor und durch
Belgien; sie besetzen Namur, Lüttich, Brüssel. Belgien
hat gegen den Einmarsch der roten Truppen Ver-
wahrung eingelegt und seine Truppen bei Antwerpen
zusammengezogen, wo sie von Rot beobachtet werden.
Die englischen Truppen besetzen Holland, die rote
Flotte beherrscht die Nordsee und ist auch in die Ost-
see vorgedrungen."
Dieses Kriegsbild beginnt also mit einer recht un-
günstigen Lage der deutsch-österreichischen Truppen.
Der Einfall des Feindes geschah so plötzlich, rasch
und infolge der Neutralitätsverletzungen so umfassend,
daß man, um die Versammlung der blauen Truppen
zu sichern, den Aufmarsch nicht mehr an die Grenze
verlegen kann, sondern zunächst am Rhein Stellung
nehmen muß. Ein Widerstand der belgischen Truppen
ist nicht erfolgt. „Es war der großen Überlegenheit
gegenüber auch nicht zu erwarten." Über die poli-
tischen Wirkungen der Neutralitätsverletzung wird
gesagt: „Der Gedanke, infolge des roten Einmarsches
die Selbstständigkeit zu verlieren, kann eine Rot freund-
liche Haltung Belgiens erschweren. Dann wird Rot
auch weiter einen Teil seiner in Belgien eingedrunge-
nen Kräfte gebrauchen, um die belgischen Truppen
und Festungen in Schach zu halten und sie zu verhin-
dern, im Laufe der Ereignisse feindlich aufzutreten.
Das unter dem Drucke des roten Einmarsches stehende
Belgien günstig für sich zu stimmen, wird eine haupt-
sächliche Aufgabe der blauen Politik sein. Da die Neu-
tralität aber einmal gebrochen ist, kann auch von Blau
auf diese keine Rücksicht mehr genommen werden,
soweit die jetzt unbedingt an der Spitze stehenden
Bedingungen der Kriegsführung dies erfordern. Hieraus
63
wird sich bei günstigem Verlauf der blauen Vorbewe-
gung in weiterem Verfolg der bedeutende Vorteil
ziehen lassen, daß die starken Befestigungsanlagen an
der französischen Grenze wirksam umgangen werden
können. Dieser Umstand wird auf die Maßnahmen
von Blau von Anfang an bestimmend wirken." Auch
die Truppenlandung in Holland findet keinen Wider-
stand. Blau hat nun die Aufgabe, sich aus der Zwangs-
lage zu befreien. Es gilt, den Rhein zu überschreiten
und nicht in der Verteidigungsstellung zu beharren.
Man muß zum Angriff schreiten, durch Lothringen und
durch Belgien vordringen. Am 14. April ist die Ver-
sammlung der blauen Truppen bei Saarbrücken, Trier,
Aachen, Rottweil.
Der erste Zusammenstoß der dritten, durch die
zweite Reservearmee verstärkten blauen Armee mit
dem Feind erfolgt an der Blies, bei St. Wendel. Die
rote Armee hat eine Front von 40 km. Das blaue
Hauptquartier, das inzwischen nach Landstuhl verlegt
ist, befiehlt für den 20. April früh den Angriff. Die
Schlacht an der Blies beginnt pünktlich zur festge-
gesetzten Zeit am 20. April. Von 8 — 10 Uhr vorm.
Artilleriekampf auf der ganzen Linie — ohne Ent-
scheidung. Dann überschreiten die Blauen den Blies.
Am frühen Nachmittag droht beiden Flügeln der roten
Armee Umfassung, infolgedessen Rückzug nach der
Saar. Der zurückweichende Feind wird unverzüglich
von den Blauen verfolgt. Am Abend des 20. April
versammelt sich unter großen Schwierigkeiten die
rote Armee am linken Saarufer. Es ist ein voller Erfolg
der Blauen, wenn auch keine Vernichtung der Roten.
„Als Ursache des Erfolges fällt die blaue Überlegen-
heit an Zahl (um 100000 Mann) schwer ins Gewicht.
Es ist von jeher als die hauptsächliche Aufgabe der
Kriegskunst, zu der auch das sogenante Glück ge-
rechnet werden muß, angesehen worden, auf dem ent-
scheidenden Punkte der Stärkere zu sein." Diese
64
Überlegenheit der Zahl ermöglicht die Offensive.
„Daß ... die Verteidigung nicht die stärkere Form
der Kriegsführung ist, kann . . aus inneren seelischen
Gründen und nach den Tatsachen der Kriegsgeschichte
bis in die neueste Zeit hinein unzweifelhaft behauptet
werden." Der Mißerfolg der Roten wird, abgesehen
von der geringeren Zahl, den Fehlern und Mängeln
einer nicht genügend beweglichen Verteidigung zu-
geschrieben, „welche sich vom Angreifer fesseln und
von diesem das Gesetz vorschreiben läßt". Dagegen
ist der Sieg von Blau dem ungestümen Angriff zu
danken: „Der Schlachterfolg der blauen Truppen ist
bei schwerem Ringen schließlich doch im Lauf eines
Schlachttages erzielt worden. Es wird jetzt vielfach
behauptet, die Schwierigkeiten des Angriffs wären
nicht an einem Tage zu besiegen . . . Mehrtägige
Kämpfe werden auch in Zukunft nicht ausbleiben.
Sie zu vermeiden, wird das Bestreben jeder kräftig
und geschickt eingeleiteten Angriffsbewiegung sein.
Ein wiederholter Angriff gegen starke Stellungen er-
folgt immer unter herabgestimmten seelischen Zu-
ständen des Angreifers. Gerade die unaufhörliche
Bedrängnis ist es, welche schließlich zum Verlassen
der Verteidigungsstellung zwingt."
Die vierte blaue Armee trifft bei Hagenau bereits
am 18. April mit dem Feind zusammen und schlägt
sie bis zum Eintritt der Dunkelheit zurück. Am
20. April siegt die vierte blaue Armee über Rot an der
Saar. Dagegen wird die zweite blaue Armee am
20. April bei Trier zum Rückzug gezwungen. Die durch
Belgien vordringende zweite Armee erkämpft — nach-
dem die belgische Besatzung von Lüttich ihre Neu-
tralität erklärt — am 20. April bei Verviers einen ent-
scheidenden Sieg; der größte Teil der roten Truppen
wird gefangen genommen. So ist — mit Ausnahme der
zweiten Armee — bis zum 20. April Blau überall sieg-
reich. Der rote Mißerfolg wird dem Verzicht auf eine
5 Ei»ner, G«ummelte Schriften. I.
kräftige Durchführung des Angriffs Verfahrens zu-
geschrieben. „Es fehlt im großen ganzen der uner-
schütterliche Wille, dessen der Erfolg im Kriege
bedarf."
Wie zu Lande, so ist auch zur See Blau zunächst
durch den überraschenden Überfall in eine Zwangs-
lage gebracht worden. Trotzdem siegt schon am
17. April bei Neuwerk die blaue Flotte über rote Ge-
schwader. In der Nacht vom 16. zum 17. April hatte
Rot bei Emden Truppen gelandet, schifft sie aber —
nach dem Bekanntwerden von der Niederlage bei
Neuwerk — wieder ein. Auch in der Ostsee waren
am 17. in der Lübecker Bucht rote Seetruppen wir-
kungslos gelandet. Am 18 April nachmittags gelingt
es aber der blauen Flotte in der Gegend der Doggerbanjc
die rote zum Kampfe zu stellen, der günstig für Blau
ausfällt und mit dem Rückaug des roten Geschwaders
nach der Ostküste von England endet. Falkenhausen
nennt den Angrifisplan der roten Flotte großzügig.
„Er umfaßt aber, auf die etwa doppelte Überlegenheit
vertrauend, zu viel auf einmal." Dem stand auf blauer
Seite „eine kräftige, entschlossene und geschickte
Ausnutzung der Lage" gegenüber: „Ein Wagnis blieb
der Entschluß zum Kampfe immer noch, aber er
führte, wie so oft im Kriege, zum Erfolg."
Dabei war die Lage von Blau noch durch politische
Rücksichten ungünstig beeinflußt worden. Die blaue
1. Kavallerie-Division hatte infolge der Weisungen
der obersten Heeresleitung das Betreten holländischen
Gebietes vermieden. Diese Weisungen „wurden augen-
scheinlich schärfer aufgefaßt, als sie beabsichtigt
waren. Denn eine Hintansetzung kriegerischer Zwecke
kann die blaue oberste Heeresleitung nicht im Sinne
gehabt haben, wenn sie aus politischen Rücksichten
die Forderung stellte, das Betreten holländischen
Gebiets möglichst zu vermeiden". Nach der roten
Neutralitätsverletzung bewegten sich blaue Streif-
66
patrouillen „mit großer Zurückhaltung auf blauem
Gebiet".
Nach den unerwarteten Seesiegen vom 17. und
18. April ist die Lage der roten Hilfstruppen so schwie-
rig geworden, daß deren Regierung in Friedensver-
handlungen eintritt, zumal Holland, von der blauen
Diplomatie gewonnen, seine Zurückhaltung gegen
Rot aufzugeben droht. Schon am 20. April wird der
Kriegszustand zwischen Blau und den roten Hilfs-
truppen aufgehoben. Holland verbündet sich mit
Blau und gestattet den Durchmarsch von blauen Trup-
pen sowie seiner Bahnen und Häfen gegen Entschädi-
gung. Ähnliche Verhandlungen werden auch mit
Belgien eingeleitet.
In der Nacht vom 20. zum 21. April beschließt die
oberste blaue Heeresleitung, den von Anfang an ge-
hegten Gedanken einer nördlichen Umgehung der
ausgedehnten roten Befestigungstruppen von Verdun
bis Nancy mit allen verfügbaren Kräften ungesäumt
in Angriff zu nehmen. Aus dem großen Hauptquartier
in Homburg ergeht also am 21. April vormittags an
die Oberkommandos der Befehl: „Auf allen Punkten
ist sofort Vormarsch fortzusetzen." Für die erste
Armee ist der Weg durch Belgien frei. Demgemäß
rücken auch die anderen blauen Armeen vor. Rot
weicht hinter die schützende Maaslinie in der .Rich-
tung Verdun zurück. Am 25. April muß die oberste
blaue Heeresleitung infolge veränderter Verhältnisse
den ursprünglichen Plan abändern. Es darf keine Zeit
verloren werden, um die Entscheidung herbeizuführen.
Den blauen Truppen werden die größten Anstrengun-
gen zugemutet. Am 28. April wird an beiden Maas-
ufern die Entscheidungsschlacht geschlagen, die das
Große Hauptquartier von Stenay aus leitet. Die
Roten werden zum Rückzug gezwungen, die teilweise
in aufgelöste Flucht ausartet. Der leitende Gedanke
von Blau, Umgehung des roten linken Flügels mit
5« 67
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starken Massen, „war mit Anwendung äußerster Kraft
folgerichtig und einheitlich bis zu den letzten Zielen
durchgeführt worden".
So ist binnen 13 Tagen, nach Beginn der blauen
Offensive, der Weltkrieg entschieden, ohne einen
einzigen — Spatenstich!
Januar 1915.
68
Die Neunte.
Das Werk der Zeit.
Die nachfolgenden Betrachtungen »ollen die
organisierten Arbeiter in den größeren Partei-
orten anregen, sich um Aufführungen der
Neunten Symphonie zu bemühen. Als 1870
Pari» belagert wurde, spielte die Große Oper
mitten in der hungernden Millionenstadt Beet-
hovens Symphonien; in den Logen lauschten
verwundete Soldaten , und über alle kamen,
bei des Deutschen Beethoven Musik, wei-
hende Augenblicke des Trostes und des Glücke».
Die Berliner Freie Volksbühne veranstaltete einmal
— es ist geraume Zeit her — einen Beethoven- Abend.
Jahre waren vergangen. Da erhielt ich, ein paar
Wochen vor Weihnachten, von einer Berliner Arbeite-
rin einen Brief. Sie erinnerte an jenen ihr unvergeß-
lichen Abend; besonders seien ihr auch Worte eine
Erinnerung fürs Leben geblieben, die damals von
Beethoven verlesen wurden. Sie bäte mich, ihr zu
sagen, wo sie das finden könne; sie wolle es in Blinden-
schrift abschreiben und es einer blinden Freundin zu
Weihnachten schenken. Der Brief erschütterte mich
im tiefsten. Welch reiches Leben in dieser armen Frau,
die mit einem Hauch der Seele Beethovens durchs
Leben ging, und von diesem Reichtum einer unglück-
lichen Freundin gütig sinnvoll mitzuteilen begehrte!
Und welche Unendlichkeit ewig aufrichtender Kraft,
die von der großen menschlich-künstlerischen Persön-
lichkeit ausströmt und noch in fernen Zeiten dem
verlorensten Leben einen Schimmer beklommenen
Glückes zu spenden vermag !
69
Es war das Heiligenstädter Testament, das solchen
unauslöschlichen Eindruck in der Besucherin des
Beethoven- Abends hinterlassen hatte; jenes stammelnde
Bekenntnis des erst 32 jährigen, beinahe schon tauben
Mannes:
„O ihr Menschen, die ihr mich für feindselig, störrisch
oder misanthropisch haltet, wie unrecht tut ihr mir,
ihr wißt nicht die geheime Ursache von dem, was euch
so scheint, mein Herz und mein Sinn waren von Kind-
heit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens; selbst
große Handlungen zu verrichten, dazu war ich immer
aufgelegt, aber bedenket nur, daß seit 6 Jahren ein
heilloser Zustand mich befallen, durch unvernünftige
Ärzte verschlimmert, von Jahr zu Jahr in der Hoffnung
gebessert zu werden, betrogen, endlich zu dem Über-
blick eines dauernden Übels gezwungen, mit einem
feurigen, lebhaften Temperamente geboren, selbst
empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft,
mußte ich früh mich absondern, einsam mein Leben
zubringen, wollte ich auch zuweilen mich einmal über
alles das hinaussetzen, o wie hart wurde ich über die
verdoppelte traurige Gefahr meines schlechten Ge-
höres dann zurückgestoßen, und doch war's mir nicht
möglich, den Menschen zu sagen: sprecht lauter,
schreit, denn ich bin taub; ach, wie wäre es möglich,
daß ich dann die Schwäche eines Sinnes zugeben sollte,
der bei mir in einem vollkommneren Grade als bei
andern sein sollte, einen Sinn, den ich einst in der größt
ten Vollkommenheit besaß, in einer Vollkommenheit,
wie ihn wenige von meinem Fache gewiß haben, noch
gehabt haben — o ich kann es nicht; drum verzeiht,
wenn ihr mich da zurückweichen sehen werdet, wo
ich mich gerne unter euch mischte, doppelt wehe tut
mein Unglück, indem ich dabei verkannt werden muß,
für mich darf Erholung in menschlicher Gesellschaft,
feinere Unterredungen, wechselseitige Ergießungen
nicht statthaben, fast nur so viel, als es die höchste
70
Notwendigkeit fordert, darf ich mich in Gesellschaft
einlassen, wie ein Verbannter muß ich leben. . .
„Gottheit, du siehst herab auf mein Inneres, du
kennst es, du weißt, daß Menschenliebe und Neigung
zum Wohltun drin hausen. 0 Menschen, wenn ihr
einst dieses leset, so denkt, daß ihr mir Unrecht getan
und der Unglückliche, er tröste sich, einen Seines-
gleichen zu finden, der, trotz aller Hindernisse der
Natur, doch noch alles getan, was in seinem Vermögen
stand, um in die Reihe würdiger Künstler und Men-
schen aufgenommen zu werden."
Wer Beethovens Musik in seiner dunkelsten Tiefe
begreifen will, der erfülle sich zuvor mit der Stimmung
des Heiligenstädter Testaments. Ein Verbannter des
Lebens, ein Ausgestoßener des Glücks hat dem Schick-
sal diese Kunst abgetrotzt; ein Mensch, der das Herr-
lichste seines Schaffens nicht mehr sinnlich wahrzu-
nehmen vermochte, der seine Musik nicht mit dem Ohr
mehr hörte, sondern geistig schaute, mit dem Herzen
fühlte. Erst wer das gemeine Leben ganz verloren, so
scheint es, ist berufen, das höhere, reinere, das wahre
Leben zu erschaffen, das in der großen Kunst sich
abbildet. Und einem solchen Märtyrer künstlerischen
Schaffens wird auch jener geheimnisvolle Weltblick
zu eigen, der ihn befähigt, in den Eingebungen seines
Genies die Visionen der Menschheit, des Erdenschick-
sals zu gestalten. Das ist das eigentliche Wunder der
Ewigkeitskunst. Jede Zeit findet in ihr aufs neue sich
offenbart. Ladet euch heute bei Shakespeare zu Gaste,
und ihr werdet in jedem Worte Deutung und Lösung
finden für all das Furchtbare, Unbegreifliche, was euch
heute bedrückt. Und wenn ihr ganz ratlos und ver-
zagt geworden, so rettet euch in die Neunte1 Sympho-
nie Beethovens, und ihr werdet auf einmal dieser qual-
vollen Gegenwart euch klar bewußt und findet aus
Wirrnis, Pein und Zerstörung den rettenden Ausweg.
Das Ausgestoßensein Beethovens aus der mensch-
7i
liehen Geselligkeit, sein körperliches Leiden, die tragi-
komische Misere seines häuslichen Eremitendaseins,
seine wirtschaftlichen Bedrängnisse, die schrullen-
haften Launen des halb verwilderten Sonderlings —
all das wird nicht etwa, als Gegensatz des öden, zu-
fälligen Daseins und des idealen Künstlertraumes und
Künstlerrausches, Inbegriff seiner Musik. Seine Ton-
gebilde erfüllt nicht das feindliche Verhältnis des Künst-
lers zu den Bedingungen seines privaten Daseins. In
Beethovens Kunst rinnt das Blut der Menschheit.
Die Weltgeschichte ringt und brennt in seiner Musik.
Alle menschliche Kreatur erscheint als ausgestoßen
aus dem vershwenderisch sich darbietenden Erden-
glück der Natur, als betrogen um ihre Seligkeit. Aber
der Künstler, als barmherzige Gottheit, überwindet
für die Menschheit den zerstörenden Gegensatz und
führt sie auf die lichten freien Höhen der Zukunft.
Die „Neunte" gehört dem letzten Jahrfünft von
Beethovens Leben an, das 1770 aufging und 1827 er-
losch; jener Zeit, da er wie in wissender Zwiesprache
mit dem Tode, den geheimsten Regungen seiner Seele
die klingende Form aus tief versenkter Schöpferkraft
in einer von jedem äußeren Einfluß unberührter Ur-
sprünglichkeit reif und reich zu finden wußte: Schöp-
fungswunder, die man erleben, nie begreifen kann.
Es wäre eine armselige Schulmeistert, die vier Sätze
der Neunten Symphonie im einzelnen auszudeuten,
ihre musikalischen Motive, ihre Verschlingung, Ver-
änderung, Steigerung zu sezieren. Man erfülle sich
mit der Andacht der Erhabenheit und man wird,
wenn nicht das erste Mal alles im Innersten verstehen,
doch die Größe fühlen und im Hören selber groß
werden. Der erste Satz, der sich wundersam aus dem
einfachen, geheimnisvoll raunenden Spiel des Geigen-
stimmens auftürmt, ist alles wilde Gärung, Kampf,
Trotz, Verzweifllung. Der zweite Teil tollt, in grellen
Kontrast, in trunkenem Lebensjubel; Betäubung,
72
Selbstvergessenheit. 'Das ist Beethovens Humor, der
über den stürzenden Trümmern der Welt in das
Krachen und Toben verwegen hineinlacht und den
Untergang mit taumelnden Reigen lebensglühender,
zugleich unendlich geistiger und unendlich sinn-
licher Spukgesellen bevölkert. Das Leben fordert
dennoch sein Recht! Aber das wilde Heer entfesselter
Lust braust vorüber. Die große feierliche Stille senkt
sich herab; und aus der Einsamkeit singt das Lied un-
sagbarer Schwermut in die Nacht, die Menschheit er-
füllt den unendlichen Raum mit ihrer trauernden
Klage und hoffenden Sehnsucht. Das ist der dritte
Satz. Der Schlußakt dieses musikalischen Schicksals-
dramas der Menschheit läßt zunächst die Stimmungen
der drei ersten Teile in chaotischem Ringen noch ein-
mal emportreiben. Als das Entsetzen zu fassungs-
losem Grauen sich steigert und keine Entwirrung mehr
möglich scheint, da ersteht in höchster Not die Men-
schenstimme als Erlöserin. Sie wehrt den dämonisch
rasenden Instrumenten ab: Nicht diese Töne! Und
wie aus der Ferne erklingt ganz einfach in Melodie und
Rhythmus, Schillers Lied an die Freude. Das Volks-
lied wächst zum Völkerlied empor. Mächtig, unwider-
stehlich schreiten die Chöre aufwärts. Das Weltall
hallt wieder von den Freudenrufen der erlösten Mensch-
heit. Die Völkerfreiheit und der Völkerfrieden er-
richtet im Stürmen sein Reich. Diesen Kuß der ganzen
Welt!
Als Beethoven über seiner Neunten Symphonie
sann, schrieb er in seine Notizhefte das Wort aus Kants
Kritik der praktischen Vernunft: „Das moralische
Gesetz in uns und der gestirnte Himmel über uns."
Dieses doppelte Wesen menschlicher Erhabenheit, die
Erkenntnis der unendlichen Natur und der Kampf
um die Erlösung der Menschheit zu höchster sozialer
Gemeinschaft, wird in der „Neunten" Gefühl, Klang,
Wirklichkeit.
73
Vor einem Jahrzehnt, am 18. März 1905, sprach
die Neunte Symphonie zum ersten Mal vor — Ar-
beitern. Die Berliner Freie Volksbühne hat das ge-
schichtliche Verdienst dieser Tat. Damals war es ein
Wagnis. Es gelang; und seitdem wurde wiederholt
Proletariern das Fest bereitet. Damals schrieb ich
diese Sätze: „War einst für den Weitblickenden die
Gründung des kleinsten Arbeitervereins wichtiger als
die Schlacht bei Königgrätz, so darf man heute kühn-
lich sagen: Was bedeutet die Schlacht bei Mukden
neben dieser Siegesfanfare des zur Menschheit er-
wachten Proletariats ! Die große Kunst flüchtete einst
zu Wort und Ton, um das Leben vergessend ertragen
zu können. Das Idealreich der Kunst stand fremd
und verabscheuend neben dem Leben, das nichts mit
ihr gemein hat. Die Kunst ist nicht mehr Flucht aus
und vor dem Leben, sondern das Leben selbst. In
dem gewaltigen Klassenkampf des Proletariats glüht
der Götterfunke der Freude, der aus der Gesellschaft
des Elends und des Zufalls zu dem Kunstwerk der neuen
Gesellschaft leuchtet. Wenn die Menschheit, durch
den Kampf des proletarischen Sozialismus befreit und
gereift, dereinst an dem Welthymnus der Neunten er-
zogen wird, wenn sie zum Katechismus ihrer Seele
wird, dann erst ist Beethovens Kunst zur Heimat
zurückgekehrt, aus der sie floh: zum Leben. 44
Heute scheint die Welt weiter von jenem Ziel ab-
geirrt denn je. Man braucht etwa nur aus der Bio-
graphie Beethovens zu erinnern, daß seine Familie
nach Bonn aus der Gegend von — Löwen eingewan-
dert ist, um zu^erschauern. Der Sinn der Menschheit
ist wie verloren, wie verschüttet. Gerade in dieser
Zeit aber gewinnt Beethovens Kunst die ganze Quell-
kraft des Lebens. Lauscht in der Neunten der Mär
eures Schicksals und ihr findet euren Glauben, eure
Bestimmung, eure Menschheit wieder!
März 1915.
74
Krottingen.
Eine Erinnerung.
Die deutschen Truppen haben Krottingen be-
setzt ! Der Name weckt mir nicht verblichene Erinne-
rungen.
Es war nach dem Königsberger Hochverratsprozeß,
m den letzten Julitagen des Jahres 1904. Ich wage es,
den im Vorwärts verlag erschienenen Bericht über jenen
Prozeß gerade heute dem allgemeinen Studium zu
empfehlen, obwohl ich der Herausgeber bin: er liest
sich gegenwärtig wie ein Buch des Schicksals ; wer über
unsere Gegenwart und unsere Zukunft urteilen will,
muß die Offenbarungen von Königsberg lebendig
erhalten.
Nach der aufreibenden Arbeit und Erregung der
Prozeßwochen wollte ich ein paar Tage verschnaufen,
zugleich das Grenzgebiet, das durch den Schriften-
schmuggel und durch allerlei seltsam geartete Zeugen
mein Interesse erweckt hatte, aus eigener Anschauung
kennen lernen und schließlich wenigstens ein paar Züge
russischer Luft einatmen.
Wir — einer der Prozeßanwälte, der seitdem ein
tragisches Ende gefunden hat — wählten den Weg zu
Wasser. Es ging über das stille unendliche kurische
Haff, vorbei an der schmalen langgestreckten „preus-
sischen Wüste44, dieser weiten verlorenen Einsamkeit
der Ostseedünen, deren gefährliches Wandern man
durch ebenso mühselige wie wenig erfolgreiche An-
pflanzungen junger Kieferntriebe aufzuhalten versucht.
Mitten in der gelben Öde eine Oase: Schwarzort, das
Bernsteindorf, grün schimmernd zwischen Meer und
75
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Haff. Gegen Sonnenuntergang schwammen wir in die
See hinaus, und dann umfing uns die holdeste Mond-
scheinnacht bei der blonden Eva. Ach, es war keine
Liebesgeschichte, sondern ein so getaufter Hügel, auf
dem wir wohl bis Mitternacht weilten und über die
Und wogende Fläche des leuchtenden Meeres irgend-
wohin in die Ferne träumten.
Am nächsten Vormittag waren wir in Memel. Ich
habe noch heute den Eindruck einer halb versunkenen
Stadt. Nur auf dem Fischmarkt, wo die litauischen
Bauern Bilder fremden Volkslebens boten, ging es
lebendig her. Sonst schien die Stadt wie ausgestorben.
Seit Jahr und Tag war eine Straßenbahn zum Bahn-
hpf fertig. Aber die Leitungsdrähte fanden noch
immer keine Verwendung. Leere Kneipen mit eng-
lischen Inschriften, eine englische Kirche mit zer-
brochenen Scheiben erinnerte noch an die Glanzzeiten
da Memel für die englischen Segelschiffe ein Rast-
hafen war und in den Straßen sich englisches Schiffs-1
volk tummelte. Das war längst vorüber. Die eng-
lischen Dampfschiffe verkehrten direkt mit den rus-
sischen Häfen, und die paar fremden Schiffe, die traurig
in dem toten Hafen lagen, blieben auch nicht lange:
der Dampfkrahn schafft schnelles Entladen. Nur der
russisch-deutsche Holzhandel blühte noch — damals!
Der nördlichste Ort des deutschen Reichs —
Nimmersatt — liegt freundlich und fruchtbar in blin-
kender Sauberkeit an der See gebettet. Hier herrschte
ein reger Grenzverkehr, nicht nur von Schmugglern,
sondern auch von russischen Uniformen, wie sie die
russischen Gymnasiasten und die russischen Offiziere
tragen. Ein flinkes Wäglein sollte uns über die Grenze
bringen. Beim letzten Haus des deutschen Nordostens
machten wir Halt: Es war die einsame Schenke des
wackeren Hirsch Feinstein, der zu den Zeugen des
Prozesses gehörte. In der Wirtsstube war ein unruhiges
Gewühl verdächtiger Gestalten; nicht recht geheuer,
76
aber Hirsch Feinsteins rothaarige Tochter beherrschte
munter und energisch die ungebärdigen Gäste.
Und nun begann Rußland! Man bedurfte keines
Grenzzeichens; man sah sofort, was russisch war. Das
grüne, sorgsam bebaute preußische Land ging jäh in
eine dürre, struppige Grashalde über, die mit großen
Steinen dicht besät war; seitdem die Eiszeit diese
erratischen Blöcke aus den Bergen Skandinaviens her-
gebracht hat, schien kein Pflug über diese weite leere
Grenzmark gegangen, auf der selbst Ziegen hätten
verhungern müssen. Dann aber erhob sich am Ein-
gang Rußlands, vor der ersten russischen Stadt Krot-
tingen, ein schmuckes Haus, alles ringsum durch offen-
baren Wohlstand überragend. Es war das Zollhaus.
Wir wußten die Ursachen solchen Behagens. Die
Beamten haben ihre Verträge mit den Schmugglern
und beziehen für ihre gewissenhafte Nichttätigkeit
gewisse Prozente von den gepaschten Waren. Wir aber
hatten keinen Vertrag mit dem mürrisch und tückisch
blickenden Wächter Rußlands. Es dauerte lange, bis
er unsere Grenzpässe durchstudiert und endlich in
Ordnung befunden hatte. Wir durchforschten indessen
einen großen Aushang, der dreisprachig — russisch,
litauisch und deutsch — uns verkündete, was alles ver-
boten sei und streng bestraft werde. Es las sich grob,
barbarisch, abschreckend; wir glaubten jeden Augen-
blick, eine Faust würde uns packen und nach Sibirien
schleppen. Das Gefühl völliger Rechtlosigkeit begann
in dem Augenblick, da wir dieses russische Amts-
gebäude betreten hatten. Sonst war außer uns nur
noch eine recht russische Erscheinung männlichen
Geschlechts da, die sich faul auf einer Pritsche räkelte
und augenblicklich eine Pause zwischen zwei Schnäp-
sen verschlief ; und ein jüdischer Reisender aus Deutsch-
land, dem der Beamte geheimnisvolle Zeichen auf
seinen Paß geschmiert hatte und der deshalb ängstlich,
wie unter dem Druck eines ungewissen Schicksals in die
77
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Stadt ging. Wir aber durften passieren, freilich nicht
vollständig. Unseren photographischen Apparat muß-
ten wir zurücklassen. „Warum ?" „Es ist Krieg."
„Aber doch auf der anderen Seite, in Asien." „Es ist
Krieg." Dabei blieb es. Wir durften in Krottingen
nicht photographieren, weil in der Mandschurei mit
Japan gekriegt wurde! Bald merkten wir noch mehr
Rußland. Um uns kreiste ein radelnder Kosak, ver-
folgte uns und ließ uns nicht aus den Augen.
Nächst der Stadt ist ein großer polnischer Herren-
sitz. Ein üppiger Park, sogar ein Palmenhaus. Frauen
arbeiteten schweigend, gebückt. Alles war unordent-
lich, verfallen. Es roch nach polnischen Romanen.
Wie kann es Reichtum in dieser Öde aushalten ? Auto-
mobile gaben uns die Antwort. Der gnädige Herr war
in Ostende, und nächste Woche wird die gnädige Frau
ins Automobil steigen und ins Salzkammergut fahren.
Krottingen ist wahrhaftig eine Stadt, es wohnen
Menschen darin: zumeist Litauer und Juden. Aber
es ist ein Gewirr elender, zerlöcherter Hütten, die
schief sich zur Erde neigen, schmutzige Holzgerüste,
die mit grauem Dreck ausgefüllt scheinen. Inmitten
der Baracken ein schmutziger Tümpel, in dem zer-
lumpte Frauen zu einem unerfindlichen Zwecke
Wäschestücke schwenken. Aus dem Unflat der Be-
hausungen ragt nur die Kirche farbig hervor. Ein
Junge, der unablässig sich in dem schwarzen Kraus-
haar kratzt, führt uns in den byzantinischen Bau.
Mein Gefährte erfüllt den leeren Raum mit Orgel-
spiel; der kleine Führer erstarrt ob solchen Übermuts
vor Schrecken und wird erst durch einige Münzen
wieder erweckt. Draußen in der blendenden Sonne
erwartet uns schon unser Aufpasser: der stumm
radelnde Kosak.
Wir haben Zeit. Es ist um Mittag. Wir hatten
zuvor gesehen, wie Rußland durch eine schwere Kette
geschlossen wurde, wie eine Haustür am Abend.
78
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Während der Mittagspause hörte der Grenzverkehr
auf, niemand durfte heraus, niemand hinein. Wir
waren wie gefangen. Und wie Gefangene schienen
auch alle diese ärmlichen, müden, traurigen Menschen,
als ob sie immer eine Gefahr im Rücken spürten, einen
Hinterhalt, Angeber, Häscher. Nirgends entdeckten
wir ein Zeitungsblatt. Obwohl ein Ausflug nach Krot-
tingen ein beliebtes Vergnügen der Königsberger ist,
schien man hier wie außerhalb der Welt zu leben und
gar nichts von den Dingen da draußen zu wissen, tau-
send Meilen jenseits aller Kultur. Die litauische Be-
völkerung wirkte verschlossen und versonnen, wie
eigenwillige Sektierer. Nur die jungen Jüdinnen, die
vor den Häusern standen, blühten wie ein Stück
Orient: gesund, ernst, von einer schwermütig-sinn-
lichen Schönheit. Mein Weggenosse geriet in Ent-
zücken und beteuerte, den Abenteuerblick im Auge,
er könne sich entschließen, sich hier anzusiedeln. An-
reden mußte er eine, auf jeden Fall, es ging nicht anders.
„Wo ist — ". Er wußte nicht recht, nach welcher
Sehenswürdigkeit von Krottingen er sich erkundigen
sollte. Aufs Geratewohl fragte er also: „Wo ist das
Armenhaus?" Das schöne Mädchen war erstaunt.
Aber Fremde haben nun einmal ihre sonderbaren Ein-
fälle. Sie geleitete uns bereitwillig und schweigsam
zur jämmerlichsten aller Hütten.
Wir treten in einen dunklen Flur ein, der nach hin-
ten einen Ausgang zu einem engen Hof hatte. Durch
die geöffnete Tür sehen wir uralte Männer und Frauen,
die Fische schuppen und salzen, während sie zugleich
die schon zugerichteten Fische in rohem Zustand
gierig verschlingen. Links und rechts in dunklen
Löchern liegt es eng neben- und übereinander auf
Brettern in modrig stinkenden Lumpen. Ewige Lara-
pen in den Nischen verbreiten eine rote Dämmerung.
Überall liegen, kauern Gestalten, stumm die einen,
unablässig lallend die anderen, Krüppel, Blinde,
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Blöde, Sieche. Wohin waren wir geraten? Armen-,
Irren-, Kranken-, Idioten- und Altershaus schien in
dieser Hölle der Verpestung und Verderbnis vereint.
Wir wurden entdeckt. Einige verkrüppelte Unholde
erhoben sich, umringten uns und bettelten unter-
würfig leiernd. Wir verteilten die paar russischen
Münzen, die wir besaßen. Da fielen sie vor uns nieder
und, Segenswünsche speiend, küßten sie brünstig
unsere staubigen Stiefel . . .
Es hielt uns nicht länger. Wir flohen aus dem Jam-
merhause, aus der Stadt, aus Rußland. Jenseits der
Grenze wagten wir uns wieder als Menschen zu fühlen.
Aber erst in dem bei Königsberg gelegenen Ostseebad
Cranz wich der Druck von mir. Gerade als ich den
Strand erreichte, wurden Zettel an den Anschlag-
tafeln angeklebt: Plehwe, der verhaßteste Gewalt-
haber Rußlands, war durch eine Bombe ausgetilgt!
Ich warf mich in den durchsonnten Sand und bis in
die sinkende Nacht blieb ich reglos" liegen, in tiefem
bebenden Frieden, als umarmte ich irgendeine neue
Freiheit. Das Meer aber begann zu brausen . . .
Seitdem — wenn ich an Rußland denke, sehe ich
immer das Armenhaus von Krottingen! . . .
März 1915.
80
Das Kursbuch als Weltgeschichte.
Die Genesis der Emser Depesche, Von Richard
Fester. Berlin 1915.
Der diplomatische Ursprung eines Krieges ist
nicht der, durch die politischen und wirtschaftlichen
Triebkräfte bestimmte geschichtliche Ursprung des
Krieges. Die Akten der Diplomaten, die Briefe der
Staatsoberhäupter verhalten sich zu der tatsächlichen
Verursachung der Ereignisse wie die Ausführung
einer Dichtung zu dem im voraus bestimmten, in
seinem Schluß feststehenden Plan. Es wird nachträg-
lich die Motivierung, die Fortführung im einzelnen
der Handlung bis zu dem von vornherein gewollten
Endergebnis ausgearbeitet. Dabei konstruiert der
Dichter nicht etwa alles in logischer Folge, Schritt
für Schritt, er läßt sich durch Zufälle treiben, gestattet
seinen Eingebungen einen weiten Spielraum, er wählt
Ab- und Umwege, bis er endlich zu seinem Ziel ge-
langt.
Für die großen Jahrtausend-Zusammenhänge der
geschichtlichen Entwickelung ist die Kenntnis der
diplomatischen Akten fast ganz belanglos. Der mäßige
Witz der Staatsmänner, die die Dinge zu schieben
glauben, ist doch nur schließlich das bewußtlose Werk-
zeug geschichtlicher Notwendigkeiten. Aber durch-
aus nicht alles, was geschieht, ist im Sinne einer ver-
nünftigen Fortentwicklung der Menschheit „not-
wendig". Tatsachen lassen sich zwar weder bestreiten
noch ungeschehen machen, deshalb sind jedoch Tat-
sachen durchaus nicht immer weltgeschichtliche Not-
wendigkeiten. Die Kriege sind solche Tatsachen, die
« Eisner, Gesammelte Schriften. I.
81
häufigsten und wirksamsten, deren „Notwendigkeit"
oder, was in geschichtlicher Bedeutung dasselbe ist,
deren Recht nachzuweisen in jedem einzelnen Falle
eine schwierige Aufgabe ist. Dieses schlechte Gewissen
der Menschen, ob es denn wirklich die ihnen zuge-
wiesene gewaltige Aufgabe durch Kriege zu fördern
vermöchte, wird schon durch die durchgängige Be
mühung bewiesen, die Verantwortung für einen Krieg
immer den andern zuzuschieben.
Kriege müssen, wie sehr sie in den großen geschicht-
lichen Gegensätzen wurzeln, letzten Endes von irgend-
welchen Persönlichkeiten herbeigeführt werden. Sie
werden in der Tat auch immer „gemacht*', in dem-
selben Grade willkürlich gemacht, als die kriege-
rische Exekution auf die engsten Zirkel herrschender
Klassen und Mächte beschränkt ist. So ist es für die
Entstehungsgeschichte von Kriegen die Kenntnis der
diplomatischen und auch dynastischen Urkunden nicht
zu entbehren.
Natürlich sind diese schriftlichen Zeugnisse staats-
männischer Betriebsamkeit niemals wörtlich zu nehmen.
Sie sind vielfach schon in Hinblick auf künftige Ver-
öffentlichung, zur Gewinnung der öffentlichen Mei-
nung stilisiert. Dennoch wäre es falsch, den Wert
solcher Urkunden nun völlig zu leugnen. Es ist ja
nicht eine einzige Partei, die redet; auch der Gegner
arbeitet und er hat das entgegengesetzte Interesse,
den anderen zu kompromittieren. So verrät für den
kritisch begabten und nur auf die Erkenntnis der Wahr-
heit gerichteten Geschichtsforscher doch der Dialog
der gegeneinander spielenden Parteien die v irklichen
Tatsachen. Außerdem hat das Kriegsspiel der Diplo-
maten, bevor es in den Ernst der militärischen Waffen
übergeht, ja auch den Zweck, unmittelbar auf den
Gang der Ereignisse einzuwirken; damit werden die
Noten der Diplomaten in einem gewissen Maaße
selbst Triebkräfte des Geschehens.
82
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Nach 44 Jahren, nach Anhäufung einer kaum noch
übersehbaren Menge gelehrter Forschungen, herrscht
über den diplomatischen Ursprung des deutsch-fran-
zösischen Krieges noch nicht die mindeste Überein-
stimmung. Wer hat diesen Krieg herbeigeführt:
Frankreich oder der Norddeutsche Bund, Napo-
leon III. oder Wilhelm I., die Ollivier und Gramont
oder Bismarck und Roon? £in deutscher Histo-
riker, der es ernst mit der Wahrheitsforschung nimmt,
müßte noch heute darauf verzichten, eine Geschichte
des diplomatischen Ursprungs des Krieges von 1870
zu schreiben. Aus einem sehr einfachen Grunde:
England hat zwar früh sein Urkundenmaterial heraus-
gegeben. Ebenso Frankreich, dessen Regierung in
den letzten Jahren sogar eine vollständige, bis jetzt
auf acht Bände gediehene Sammlung aller diploma-
tischen Aktenstücke der Vorgeschichte des Krieges
begonnen hat. Dagegen sind die preußischen und
sonstigen deutschen Archivschränke der Öffentlich-
keit bis zur Stunde gesperrt. Bismarck erlaubte
zwar, mit boshaftem Vergnügen, Herrn von Sybel
und anderen einige wohlarrangierte Urkunden zu
benutzen; er hatte dann seinen Spaß, zu sehen,
wie die Professoren auf solche ihnen vorgelegte irre-
führende Auslese kindlich harmlos hereinfielen. Eine
freie Benutzung der geheimen Papiere ist der Wissen-
schaft versagt. Nur einmal wurde eine Aktenmappe
ein wenig gelüftet: damals als Caprivi nachzuweisen
unternahm, daß Bismarck die Emser Depesche durch
seine Redaktion nicht gefälscht, sondern im Gegen-
teil sie ganz nach der Absicht seines königlichen
Herrn verwendet habe. Auch die Briefe fürstlicher
und eingeweihter politischer Personen sind nur in
vorsichtiger Auswahl bisher veröffentlicht und zeigen
gerade dort Lücken, wo die Aufklärung am dringend-
sten benötigt wird. So ist es bis jetzt schlechter-
dings unmöglich, die deutschen diplomatischen Be-
83
mühungen und Verantwortlichkeiten aktenmäßig dar-
zustellen.
Trotzdem oder richtiger: deshalb wird es immer
wieder unternommen, die diplomatische Vorgeschichte
des deutsch-französischen Krieges zu schreiben. Den
neuesten Versuch liefert eben der Hallenser Ge-
schichtsprofessor Richard Fester, der über die
Genesis der Emser Depesche ein ebenso umfang-
reiches wie unfaßbares ödes Buch zusammengeschrieben
hat. Fester fühlt sich zu dieser Arbeit einmal deshalb
berufen, weil er einen Teil der Sigmaringer Familien-
papiere über die Hohenzollerische Kandidatur für den
spanischen Königsthron durchwühlen konnte; dann
aber hauptsächlich deshalb, weil ihm der unermeßliche
Glücksfund beschieden gewesen ist, ein — Eisen-
bahnkursbuch aus dem Sommer 1870 zu ermitteln.
Mit Hilfe dieses Kursbuchs rechnet er Abgang und
Ankunft jeden Briefes, jeden Kuriers, jeder an der
Handlung beteiligten Persönlichkeit auf die Minute
nach. Und siehe da, alle Schleier fallen, alle Rätsel
lösen sich! Die Weltgeschichte entblößt sich in ihrem
innersten Getriebe. Diese Festersche Weltgeschichte
ist das große unselige und doch wieder — dank der
Genialität deutscher Staatsmannskunst — wunder-
herrlich gewendete Mißverständnis von Briefen, die
sich kreuzen, von Boten, die den Anschluß versäumen,
von Fürsten, die nicht rechtzeitig unterrichtet werden.
Wenn man zwischen Ems und Sigmaringen im Juli 1870
statt auf langem Eisenbahnwege Briefe zu schreiben,
telegraphische Verständigung versucht hätte, wer
weiß, ob die finstere Geschichte Europas nicht einen
andern Weg genommen hätte! Das geht aus dem
Kursbuch unwiderleglich hervor.
Fester konstruiert den Gang der Handlung statt
aus der Einsicht in die verschlossenen Berliner Akten-
achränke aus der Einsicht in Henschels Fahrpläne.
Irgendein neues Ergebnis wird zwar dadurch nicht
84
gewonnen, aber diese mit Hilfe der Eisenbahnzeiten
nachgeprüfte Entlastung und Verherrlichung der Bis-
marckschen Politik wirkt schließlich aufreizender als
das brutalste Pamphlet. So also kommt Weltgeschichte
zustande ! Das Endergebnis der mühseligen Sekunden-
studien ist schließlich doch nur das längst bekannte,
daß der Krieg in dem Augenblicke ausbrach, als der
eigentliche Anlaß des Konflikts — die Hohenzolle-
rische Thronkandidatur — durch die Verzichtleistung
aus dem Wege geräumt war und König Wilhelm in
Ems in dem erleichterten Gefühl seinen Brunnen trank,
daß die Gefahr jetzt beseitigt sei. Auch die Zumutung
Benedettis, des vertrauten treundes Wilhelms und
besonders der Königin Augusta, daß der König von
Preußen sich verbürgen sollte, der Sigmaringer w ürde
niemals, nach nicht unbekannten Mustern, die Kan-
didatur wieder aufnehmen, kann gerade heute nicht
mehr besonders aufregend wirken, da wir durch die
Sprache und die Forderung des österreichischen Ulti-
matums an Serbien abgehärtet sind.
Merkwürdigerweise beginnt Fester die größte Zeit
seines Helden mit der Behauptung eines schweren
diplomatischen Fehlers. Bismarck habe den König
durch folgende Erwägungen für die Zulassung der
Hohenzollerischen Kandidatur gewonnen: „Man rech-
nete mit der Macht der vollendeten Tatsache. Napo-
leon hatte so oft erklären lassen, daß er sii.h in die Ord-
nung der inneren Verhältnisse Spaniens nicht ein-
mischen wolle, daß er gegen den Erwählten der Cortes
nicht protestieren konnte, ohne sich vor ganz Europa
ins Unrecht zu setzen. Tat er es dennoch, so reizte
er die spanische Empfindlichkeit und verstrickte sich
in Händel, die seine europäische Aktionskraft noch
empfindlicher lahmlegten, als es 1866 sein mexika-
nisches Abenteuer getan hatte. Ließ er Spanien aus
dem Spiele und trieb die Dinge zum Bruche mit dem
Norddeutschen Bunde, so war man gerüstet und be-
85
fand sich in der unangreifbaren Position, daß er den
Willensakt der spanischen Nation nicht zum Kriegs -
gründe gegen Preußen machen konnte. Für wahr-
scheinlicher aber hielt man doch, daß die kaiserliche
Regierung in ohnmächtiger Wut sich wohl oder übel
mit der vollendeten Tatsache abfinden werde und die
Folgen der nationalen Erregung allein zu tragen
habe."
In dieser Berechnung habe, urteilt Fester, der
Kardinalfehler gesteckt, daß Bismarck nur die Folgen
der Wahl ins Auge gefaßt habe, aber nicht die Folgen
der Wahlansage. Er hätte nicht bedacht, was geschehen
würde, wenn — wie es tatsächlich dann kam — Spanien
die Kandidatur fallen ließe und sie selbst zugleich
vorzeitig bekannt würde.
Auch der Gegner Bismarcks wäre geneigt, den
Staatsmann gegen diesen Vorwurf beispielloser Kurz-
sichtigkeit zu verteidigen und lieber zu seinen Gunsten
anzunehmen, daß Bismarck die Kandidatur befür-
wortete, weil er die Verwicklungen voraussah und sie
für seine Politik gegen Frankreich zu benutzen ge-
dachte. Aber Fester läßt seinen Helden lieber einen
schweren Fehler begehen, der alle Ungeschicklich-
keiten der Ollivier und Gramont übersteigt, als ihn
einer weit gesponnenen Intrige für schuldig zu er-
klären. Nur scheint mir der beneidenswerte Ent-
decker des Kursbuchs vom Juli 1870 das Wesen der
diplomatischen Intrige völlig zu verkennen. Sie be-
steht nicht darin, daß man sich irgendeinen listigen
Entwurf der Aktion in allen Einzelheiten ausarbeitet,
sonder vielmehr in dem ganz gewöhnlichen Sich-
treibenlassen; man folgt dem Spiel der Ereignisse und
Zufälle, um im entscheidenden Augenblicke einzu-
greifen und auch, wenn es notwendig ist, ein wenig
zur höheren Ehre der gestellten Aufgabe nachzuhelfen.
Die Anlässe sind immer recht gleichgültig. Ein ge-
schickter Staatsmann wird nie so verfahren, daß er
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Politik wie ein künstlich durchgerechnetes Exempel
treibt und alle Fäden eigenhändig webt. Er wird
auch nie das Bedürfnis haben, auf weißem Gaule
allsichtbar voranzureiten und seine verantwortliche
Leistung zu zeigen, schon deshalb nicht, weil man ja
nie weiß, welchen Ausgang politisch-kriegerische Aben-
teuer nehmen. Mißlingen sie, ist es immerhin vorteil-
haft, wenn der Verantwortliche seine Unschuld glaub-
haft machen kann.
Das Buch Festers verdient trotz allem gelesen zu
werden. Es liefert wider Willen die schärfsten Waffen
gegen das Diplomatenmonopol der auswärtigen Politik;
gegen alle dynastische und überhaupt persönliche
Politik. Wenn man sich durch all die Minutenangaben
durchgewürgt hat, erwacht die Sehnsucht nach einem
andern Kursbuch, das die Züge anzeigt, die aus dieser
ganzen geschichtlichen Welt der Gegenwart heraus-
zuführen vermöchten.
[März 191 5.]
87
Bismarck über Kriegsführung und Kriegsziele.
Auch im deutsch-französischen Kriege von 1870/71
wurden im Ausland, besonders in der englischen Presse,
heftige Anklagen gegen die deutsche Kriegsführung
erhoben. Es waren hauptsächlich drei Maßnahmen,
die gegen Deutschland — oder damals noch richtiger :
gegen Preußen — ausgebeutet wurden: Die Nieder-
brennung von Bazeilles nach Sedan, die Aushungerung
und das Bombardement von Paris.
Bismarck war „Sentimentalitäten" in der Kriegs-
führung abhold. Es ist bekannt, daß er jeder völker-
rechtlichen Zwangsbindung der Kriegsgebräuche wider-
strebte und jedes Mittel für erlaubt hielt, das geeignet
schien, die Niederwerfung des Feindes herbeizuführen.
Aber als der deutsche Botschafter in London, Bernstorf i,
bei Bismarck im September 1870 um Hilfe bat gegen ■
die von hervorragenden Männern in der englischen
Presse erhobenen Anklagen, entschloß er sich doch
einmal, seinem Leibjournalisten Moritz Busch einen
Abwehrartikel für die deutschfreundlichen englischen
Blätter zu diktieren. Der begann:
„Wie in jedem Kriege, so sind auch in diesem eine
große Anzahl von Dörfern niedergebrannt, meist in-
folge von Artilleriefeuer, deutschem und franzö-
sischem. Dabei sind Weiber und Kinder, die sich in
Keller geflüchtet und sich nicht rechtzeitig gerettet
hatten, in den Flammen umgekommen. Das gilt auch
von Bazeilles." Dann werden für die Vernichtung
von Bazeilles die Franktireurs verantwortlich gemacht.
Es sei durch amtliche Meldung festgestellt, daß die
Einwohner von Bazeilles nicht etwa in Uniform,
sondern in Blusen und Hemdärmeln, aus den Fenstern
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auf die verwundeten und unverwundeten deutschen
Truppen in den Straßen geschossen und die Verwun-
deten zu ganzen Zimmern voll in den Häusern er-
mordet haben. Auch Weiber hätten, mit Messern
und Flinten, gegen totwunde Soldaten die größten
Grausamkeiten verübt, „andere Frauen, gewiß nicht
in Nationalgardenuniform, sich in Gemeinschaft mit
den männlichen Einwohnern ladend und selbst schie-
ßend an dem Gefechte beteiligt". Übrigens war diese
Polemik Bismarck verdrießlich, und als er den Artikel
zu Ende diktiert hatte, meinte er, künftig solle sich
aber Bernstorff selber helfen.
Gegen die Teilnahme der Zivilbevölkerung am
Kriege hielt Bismarck das rücksichtsloseste Mittel für
das beste. In dieser Hinsicht rühmte er die guten
bayrischen Kriegssitten. Ihm gefiel, wie Busch erzählt,
daß die Bayern mit dem Totschießen der Franktireurs
rasch bei der Hand seien. „Unsere Norddeutschen",
äußerte Bismarck, „halten sich zu sehr an den Befehl.
Wenn so ein Buschklepper auf einen holsteinischen
Dragoner schießt, so steigt der erst vom Pferde und
läuft mit seinem schweren Säbel dem Kerle nach und
fängt ihn. Dann bringt er ihn seinem Leutnant, und
der läßt ihn laufen oder er liefert ihn ab, und dann ist's
dasselbe, man läßt ihn auch laufen. Der Bayer macht's
anders, der weiß, daß Krieg ist, der hält noch auf alte
gute Sitten. Er wartet nicht ab, bis auf ihn von hinten
geschossen wird, sondern schießt zuerst."
Als die Angriffe gegen die Absicht einer Beschießung
von Paris begannen, erhielt Busch von Bismarck den
Auftrag, das Bombardement in der Presse zu recht-
fertigen. Es solle ein Verbrechen gegen die Zivili-
sation sein, Paris mit seinen Sammlungen, Kunst-
bauten und Denkmälern zu beschießen! Warum nicht
gar? Paris sei eine Festung. Eine Festung sei ein
Kriegsapparat, der ohne Rücksicht auf das, was sonst
mit ihm verbunden ist, unschädlich gemacht werden
89
müsse. „Wenn die Franzosen ihre Monumente, ihre
Bücher- und Gemäldesammlungen durch Krieg nicht
gefährdet wissen wollten, so durften sie diese nur nicht
mit Befestigungen umgeben."
Wiederholt, so am 4. Dezember, beklagte sich Bis-
marck über die Bemühungen der Kronprinzenpartei,
Paris zu schonen. Wenn er freie Hand hätte, würde
er mit den Parisern schon fertig werden : „Nun wollte
ich sie aber schon zwingen, die Pariser. Ich würde
sagen : Ihr zwei Millionen Menschen seid mit verant-
wortlich mit euren Leibern. Ich lasse euch noch
24 Stunden hungern, bis wir von euch haben, was wir
wollen. Und noch einmal 24 Stunden, einerlei, was
daraus wird. Das halte ich aus, aber der König, der
Kronprinz, die Damen, die ihnen ihre sentimentalen
Ansichten aufdringen, und gewisse geheime europä-
ischen Verbindungen ! . . . Das sind Leute, für die die
deutsche Sache, die Siegesfrage nicht in erster Linie
steht, sondern der Wunsch, in englischen Zeitungen
gelobt zu werden. Ja, wenn man Landgraf wäre. Das
Hartsein traue ich mir zu. Aber Landgraf ist man
nicht."
Anfang November unterhandelte Thiers mit Bis-
marck über einen Waffenstillstand. Thiers hatte zuvor
eine diplomatische Reise nach England, Italien, Öster-
reich und Rußland unternommen. Von diesen vier
neutralen Mächten war der Vorschlag eines Waffen-
stillstandes ausgegangen. Der Waffenstillstand sollte
ermöglichen, daß in Frankreich Wahlen zu einer Na-
tionalversammlung stattfänden, mit der dann über
den Frieden verhandelt werden könnte. Unerläßliche
Bedingung des Waffenstillstands sollte sein — es ist
völkerrechtlicher Grundsatz, daß sich während eines
Waffenstillstandes die Verhältnisse der Kriegsführen-
den nicht verschlechtern dürfen — daß Paris mit
Nahrungsmitteln versorgt würde, die für die Zeit des
Waffenstillstandes ausreichten. Über diese sehr inter-
90
essanten Verhandlungen, die sich durch mehrere Tage
hinzogen und schließlich ergebnislos abgebrochen
wurden, hat Thiers wörtliche Aufzeichnungen hinter-
lassen, die im Jahre 1903 veröffentlicht worden sind.
Am ersten Tage — am 2. November — wehrte
Bismarck zunächst jede Einmischung der Neutralen
ab; der englische Vorschlag, dem sich die anderen
Neutralen angeschlossen, lasse sich lang und breit über
Menschlichkeitserwägungen aus, komme aber zu keinem
präzisen Schluß. Nach dieser Verwahrung geht Bis-
marck auf die Waffenstillstandsbedingung ein. Er be-
merkt sofort: Da der Waffenstillstand nur für die
Franzosen Vorteile bringe, müßten militärische Kom- ,
pensationen verlangt werden, z. B. die Ubergabe eines
Pariser Forts.
Thiers antwortete, daß eine solche Bedingung un-
zulässig sei, das hieße Paris übergeben; weitere Be-
sprechungen seien völlig nutzlos, wenn Bismarck auf
dieser Bedingung beharrte. Bismarck meint, man
könne dann vielleicht etwas anderes fordern. Mit der
Einberufung einer Nationalversammlung sympathi-
siert Bismarck, aber nicht ohne allerlei merkwürdige
Andeutungen zu machen, daß vielleicht Napoleon mit
Hilfe des in deutscher Gefangenschaft befindlichen
Heeres, also mit Unterstützung Deutschlands, zurück-
kehren und die neue Republik beseitigen könnte. Zu
ernsten Sch wierigkeiten kommt es bei der Verhandlung
der Lebensmittelfrage:
Bismarck: Sie werden zweifellos auch fordern,
daß man während des Waffenstillstandes Paris mit
Lebensmitteln versorge.
Thiers: Zweifellos, es ist ständiger Kriegsgebrauch
und die Regel des Waffenstillstandes, die Dinge so
zu ordnen, daß die Kriegsführenden beim Ende des
Waffenstillstandes in nichts in ihren Verhältnissen
sich verschlechtert haben.
Bismarck: Einverstanden, aber Paris für einen
9i
Monat oder auch nur für 14 Tage mit Lebensmitteln
zu versorgen, wird ungeheuer schwierig sein.
Über diese Schwierigkeiten, die Thiers nicht an-
erkennt, wird des längeren gesprochen. Dann fragt
Bismarck, wie lange der Waffenstillstand dauern solle.
Thiers: mindestens 15 Tage. Bismarck: 48 Stunden
genügen für die Wahlen. Thiers weist auf die not-
wendigen Vorbereitungen hin. Schließlich erklärt Bis-
marck, er müsse sich über einzelne Punkte noch mit
den Militärs verständigen. Er wünscht dann noch,
daß die Wahlen sich nicht auf Elsaß-Lothringen er-
strecken sollen.
Thiers (sehr lebhaft): Ah, das — nein, nein! Der
Waffenstillstand ist nicht der Friedensvertrag; nie-
mals werden wir zulassen, daß ein Waffenstillstand
eine Gebietsfrage im voraus entscheide.
Bismarck erwiedert, es solle weder gegen Frankreich
noch gegen Deutschland solch ein Präjudiz geschaffen
werden.
Man spricht weiter über die Annexionsfragen.
Thiers meint, was könne Deutschland daran liegen,
einige Quadratmeilen französischen Landes zu er-
werben, und so im Herzen Frankreichs eine Wunde
zurücklassen, die es nie verzeihen würde.
Bismarck antwortet, daß für die Deutschen die
Erwerbung eines Stücks französischen Gebiets eine
Frage des deutschen Selbstbewußtseins und der Siche-
rung sei. Die Deutschen hätten nicht die Eroberungen
Ludwigs XIV. vergessen und wollten sich gegen zu-
künftige Einfälle Frankreichs sichern.
Thiers: Preußen hat weniger als jede andere Macht
das Recht, Frankreich seine Eroberungen vorzuwerfen.
Frankreich, einst Gallien, ist immer ein großes Reich
gewesen. Es erhält sein Gebiet von der Natur selbst,
nicht vom Krieg, nicht von der Politik; und die not-
wendige und rechtmäßige Eroberung seiner natür-
lichen Grenzen hat niemals als Grund den Ehrgeiz,
02
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sich zu vergrößern, gehabt. Aber im Gegensatz, Ihr
Preußen habt vom Großen Kurfürsten bis zum gegen-
wärtigen König niemals gelebt, ohne daß ihr irgend
etwas nahmt, was einem andern gehörte. Ihr wäret
i y2 Millionen zur Zeit des Großen Kurfürsten. Ein
halbes Jahrhundert später wurdet Ihr durch fried-
lich den Großen auf 10 oder 12 Millionen Untertanen
gebracht; ihr erreichtet 15 Millionen durch die Tei-
lung Polens, 18 bis 19 im Jahre 18 15, in den letzten
6 Jahren seid ihr von 20 auf 30 Millionen gestiegen,
und heute von 30 auf 40 Millionen, denn der Nord-
deutsche Bund wird nur ein Verband von Verwal-
tungsbezirken unter eurem König sein! Ihr wagt
uns unsere Eroberungssucht und unseren Ehrgeiz vor-
zuwerfen. Wahrhaftig, Herr Graf, man glaubt zu
träumen, wenn man solche Anklage in Ihrem Munde
hört.
Bismarck: Mag sein! Aber alles dies würde ver-
schwinden, wenn wir nicht territoriale Sicherheiten
hätten, wenn nicht in unseren Händen die Festungen
Metz und Straßburg wären, als unsere Bedeckungs-
mittel.
Auf diese schneidend ironische Antwort bemerkt
Thiers, daß solche strategischen Vorteile für Deutsch-
land doch in keinem Verhältnis stünden zu dem un-
versöhnlichen Groll, der in den französischen Herzen
zurückbleiben würde.
Am 3. November werden die Verhandlungen fort-
gesetzt. Bismarck erklärt, daß sich Schwierigkeiten
ergeben hätten, besonders in der Lebensmittelfrage:
„Sie verlangen von uns zu viel. Wenn wir Ihnen
zugestehen, was Sie von uns verlangen, werden Sie
zwei Monate länger zu leben haben, und wir müßten
den Winter hier bleiben, denn wir wollen Paris nicht
zerstören. Wir wollen das Ende eurer Lebensmittel
abwarten. Wenn Sie mir ein Fort geben wollen, werde
ich Ihnen Lebensmittel geben, aber Sie werden noch
93
sagen, daß ich von Ihnen den Mont-Val£rien ver-
lange!"
Thiers: Nein, kein Fort und Lebensmittel, oder
kein Waffenstillstand.
Man spricht von allerlei völkerrechtlichen Be-
schwerden. Bismarck beklagt sich, daß die Be-
satzungen deutscher Handelsschiffe gefangen ge-
nommen worden seien; man werde als Repressalie
40 Bürger besetzter französischer Städte festnehmen.
Thiers wendet ein, die französische Maßnahme ent-
spreche dem Völkerrecht, die deutsche Drohung aber
nicht. Sehr heftig wendet sich Bismarck gegen die
Franktireurs, die ihm auch einen geliebten Verwandten
umgebracht hätten. Thiers verurteilt alle Grausam-
keiten und Ausschreitungen, aber er fügt hinzu : Wenn
Gewalttaten vorgefallen seien, so seien sie immer noch
entschuldbarer, wenn sie von der Überfallenen Be-
völkerung, als wenn sie von den Eindringlingen verübt
würden. Guerillakriege seien immer zugelassen wor-
den, und um sein Vaterland zu verteidigen, sei jedes
Mittel erlaubt.
Die Verhandlungen gehen in dieser Weise hin und
her. Am 4. November fragt Thiers, was Bismarck
fordern würde, wenn man gleich Frieden schlösse.
Bismarck: Viel, und noch mehr, wenn Sie warten,
bis der Hunger Paris zur Übergabe zwingt wie Metz.
Die 200000 Mann, die Metz besetzten, rücken an;
Sie werden Ihr Land bis zum Meer besetzt sehen, und
Frankreich wird bis zur Loire ruiniert werden. Es
empfiehlt sich also, ohne Verzug zu handeln. Heute
fordern wir Elsaß, hinsichtlich Lothringens ein Stück
um Metz.
Thiers: Und Metz?
Bismarck: Wenn Sie sofort verhandeln, verspreche
ich Ihnen, mich beim König zu bemühen, daß Metz
zurückgegeben wird . . .
94
Allmählich gewinnt Thiers den Eindruck, daß Bis-
marck die Waffenstillstandsverhandlungen nur zu dem
Zwecke geführt habe, um die Neutralen, die die Sache
angeregt, nicht vor den Kopf zu stoßen. Am 6. Novem-
ber teilt Thiers dem Grafen Bismarck mit, daß er von
der Pariser Regierung den Auftrag erhalten habe, die
Verhandlungen abzubrechen.
[Ostern 15.]
95
Preußen — Italien — Österreich.
Ein halbes Jahrhundert früher.
Zur Naturgeschichte diplomatischer Ver-
handlungen und Verträge.
Bismarck rüstete die entscheidende Erweiterung
Preußens und damit dessen endgültige Sicherung als
deutsche Vormacht. Der Krieg mit Österreich war
das Mittel. Bismarck sah sich nach Bundesgenossen
für das immerhin unsichere Unternehmen um. Sie
waren durch gemeinsame Interessen gegen Österreich
gegeben. Frankreich und Italien, Napoleon III. und
Viktor Emanuel.
Die diplomatische Aktion Bismarcks war politisch,
rechtlich und persönlich ebenso heikel wie schwierig.
Preußen war mit Österreich nicht durch einen blo-
ßen Bündnisvertrag verknüpft, beide waren vielmehr
Glieder desselben Staatenbundes. Nun war das eine
Glied entschlossen, gegen das andere das Ausland zu
Hilfe zu rufen. Für dieses waghalsige und bedenkliche
Unternehmen hatte Bismarck den Gegner im eigenen
Lager: Wilhelm I. Die Staatskunst des preußischen
Ministerpräsidenten mußte nicht nur insgeheim ge-
fährliche Bündnisse schaffen, nicht nur durch alle
Mittel diplomatischer Regie die öffentliche Meinung
Europas zu gewinnen suchen, nicht nur einen Angriffs-
krieg gegen starke Widerstände erzwingen, und ihn
zugleich als Verteidigungskrieg für das populäre Ge-
müt umdeuten, — es galt auch durch zähe geduldige
und kluge Bearbeitung den König für einen Krieg
zu gewinnen, dem er im Innersten widerstrebte.
96
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Im preußischen Kronrat vom 28. Februar 1866
hatte Bismarck dargelegt, daß die Voraussetzung für
einen günstigen Erfolg der Auseinandersetzung mit
Österreich das gleichzeitige Eingreifen Italiens gegen
Österreich sei. Er hatte angeregt, daß der General
Moltke nach Florenz, der damaligen Hauptstadt
Italiens, geschickt werden sollte, um in Italien einen
Vertrag auf der Grundlage abzuschließen, daß Italien
sich verpflichte, Österreich anzugreifen, sobald Preußen
losschlage und daß beide Teile keinen Separatfrieden
schließen sollten. Moltke selbst entwarf den Vertrag,
der für Italien den Erwerb des damaligen noch
österreichischen Venetien, für Preußen die Annektions-
freiheit im deutschen Bundesgebiet verhieß. In dem
Entwurf Moltkes werden die Grundzüge eines preu-
ßisch-italienischen Bündnisses skizziert : „Die Schritte,
die wir zwecks Zentralisation der Gewalt in Deutsch-
land übernehmen werden, führen nahezu unfehlbar
einen Bruch mit dem Wiener Kabinett herbei. Die
gegenwärtigen Umstände erscheinen günstig genug,
um es darauf ankommen zu lassen. Frankreich wird
durch den absoluten Willen eines Herrschers regiert,
der sich für die Sache der Nationalitäten interessiert,
wie er das in Italien bewiesen hat. Er wird mit den in
demselben Sinne gemachten Anstrengungen Preußens
sympathisieren ... Es liegt ebenso im Interesse
Italiens wie in dem unsrigen, daß wir darüber einig
sind, alles zu tun, was zum Kriege führen kann." Uber
den Inhalt des Vertrages heißt es in Moltkes Entwurf:
„1. Die beiden Regierungen verständigen sich über den
Zeitpunkt, wann sie gleichzeitig den Krieg an Öster-
reich erklären. 2. Von diesem Zeitpunkte an ver-
pflichten sie sich weder Frieden zu schließen noch die
Feindseligkeiten einzustellen, bevor der Zweck des
Krieges von beiden kriegführenden Parteien erreicht
wird. 3. Was Italien betrifft, so ist dieser Zweck die
Besitznahme Venetiens. Wenn sich Italien im Laufe
7 Eimer, Gesammelte Schriften I.
97
des Krieges noch anderer am Adriatischen Meere ge-
legener Provinzen bemächtigt, so wird dagegen nichts
einzuwenden sein; Preußen kann jedoch nicht in die
endgültige Abtretung eines zum Deutschen Bunde ge-
hörigen Gebietes willigen. Der Zweck Preußens ist, ge-
wisse Rechte im Norden Deutschlands zu erwerben und
Österreich zu zwingen, sie anzuerkennen." Von preu-
ßischer Seite wurden also auch Erwerbungen Italiens
an der dalmatinischen Küste gutgeheißen, dagegen
Trient und Triest nicht zugestanden.
In den weiteren Vertragsbestimmungen des Ent-
wurfs wird Italien verpflichtet, 220000 Mann gegen
Österreich zu versammeln, während Preußen 200000
bis 250000 Mann gegen die böhmische Grenze führen
will. „Unsere Entschließung, die Ereignisse
so zu führen, daß sie einen Krieg hervor-
rufen (so wird weiterhin ausgeführt) hängt, von der
Frage ab, ob wir uns auf die italienische Mitwirkung
durchaus verlassen können. Noch steht es uns frei,
den Krieg in friedliche Bahnen einzulenken, und auf
kriegerische Politik zu verzichten." Der Entwurf
rechnet auch mit der Wahrscheinlichkeit, daß Öster-
reich im Notfall freiwillig Venetien an Italien abtreten
würde und er bemüht sich, nachzuweisen, daß eine
solche Abtretung auf friedliche Weise für Italien keinen
dauernden Erfolg verspräche. „Allerdings könnte Ita-
lien noch ein Mittel finden, um sich in friedlicher
Weise mit Österreich über Venetien zu verständigen.
Aber der Preis, den man zahlen müßte, wird wahr-
scheinlich größer sein als die Kosten eines Krieges,
und zugleich wird man auf diese Weise Österreich
die Mittel hefern, um seine traditionelle Politik in
Italien wieder anzufangen. Man wird nicht ver-
gessen dürfen, daß Österreich in der Zeit von 1809
bis 181 3 sich eines weit beträchtlicheren Teiles
seines italienischen Gebietes beraubt gesehen hat als
jetzt, und doch ist es ihm unter der Gunst eines
98
Glücksumschlags gelungen, dort von neuem Fuß zu
fassen."
Die Mission Moltkes wurde dann unterlassen. Man
hielt es für zweckmäßig, den Vertrag in Berlin, nicht in
Florenz abzuschließen, und so ersuchte man den ita-
lienischen Ministerpräsidenten La Marmora, einen
Unterhändler nach Berlin zu entsenden. Italien
schickte den General Govone. Die folgenden Unter-
handlungen wurden im Einverständnis und mit Kennt-
nis Napoleons geführt. Am 8. April 1866 wurde bereits
der „offensive und defensive Bündnisvertrag" zwischen
Preußen und Italien unterzeichnet. Im zweiten Ar-
tikel des Vertrags wird bestimmt: „Falls die Verhand-
lungen die Seine Majestät der König von Preußen mit
den anderen deutschen Regierungen in Absicht auf
eine den Bedürfnissen der deutschen Nation ent-
sprechende Reform der Bundesverfassung kürzlich
eröffnet hat, scheitern sollten, und Seine Majestät
sich infolgedessen genötigt sähe, die Waffen zu er-
greifen, um seine Vorschläge durchzusetzen, so wird
Seine italienische Majestät nach der von Preußen er-
griffenen Initiative, sobald sie davon benachrichtigt
sein wird, kraft des jetzigen Vertrags Österreich den
Krieg erklären." Artikel 3 bestimmt: „Von diesem
Augenblick an wird der Krieg von Ihren Majestäten
mit allen Kräften geführt werden, die die Vorsehung
ihnen zu ihrer Verfügung gestellt hat, und weder Italien
noch Preußen werden Frieden oder Waffenstillstand
ohne gegenseitige Zustimmung schließen."
Der Vertrag wurde streng geheim gehalten. Selbst
der König von Preußen scheint sich über ihn und seine
Bedeutung nicht klar geworden zu sein, denn er be-
streitet persönlich, wie die diplomatischen Berichte
aus Berlin übereinstimmend berichten, noch im Mai
gegenüber dem Kaiser von Rußland, ja sogar noch
im Juni gegenüber dem Kaiser von Österreich, daß
er mit Italien ein Bündnis abgeschlossen habe. So
99
ist von einem Schreiben der Königin von Preußen an
den Kaiser von Österreich die Rede, in dem versichert
wird, der König von Preußen habe ihr sein
Ehrenwort gegeben, es bestehe zwischen Preußen
und Italien kein wirklicher Vertrag, und wenn Italien
Österreich angreife, sei Preußen nicht verpflichtet,
ihm zu folgen. Übrigens war das Ehrenwort ja voll-
kommen in Ordnung: Preußen hatte sich nicht ver-
pflichtet, wenn Italien angriffe, zu folgen, sondern
Italien hatte Hilfe bei einem Angriff Preußens zu-
gesagt.
Dennoch scheint Österreich alsbald über den Ver-
trag unterrichtet gewesen zu sein. Jedenfalls trat ein,
was der Moltkesche Entwurf vorausgesehen. Öster-
reich bot Italien Venetien durch Vermittlung des
Kaisers Napoleon an. Wie der italienische Gesandte
in Paris, Nigra, in einem Geheimbericht vom Juni
seiner Regierung mitteilt, habe ihm Napoleon am
4. Mai den österreichischen Vorschlag mitgeteilt,
Venetien unter der Bedingung abzutreten, daß Italien
und Frankreich neutral blieben, und Österreich kein
Hindernis in den Weg legten, sich durch die Eroberung
Schlesiens an Preußen schadlos zu halten. Der italie-
nische Gesandte begründet wie folgt seine Meinung:
daß es unzulässig sei, jetzt nach Abschluß des Vertrages
das Angebot Österreichs anzunehmen. „Der Kaiser
(Napoleon) erklärte mir, daß der Vorschlag in aller
Form gemacht wäre, und fragte mich, ob die Regie-
rung des Königs in der Lage sei, sich von den Preußen
gegenüber eingegangenen Verpflichtungen loszumachen.
Indem ich diesen Vorschlag im tiefsten Geheimnis
dem Generai La Marmora mitteilte, verhehlte ich
ihm in einem Brief vom 5. Mai nicht, daß wir, trotz der
zweideutigen Auslegung, welche die preußische Re-
gierung damals dem Vertrage gab, unmöglich den
österreichischen Vorschlag annehmen könnten, ohne
uns dem Vorwurfe der Wortbrüchigkeit auszusetzen.
100
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Ich fügte hinzu, daß es mir der Würde des Königs und
eines Staates von 22 Millionen Einwohnern wenig zu
entsprechen scheine, wenn wir uns der Abtretung
Venetiens wegen mit einer neuen Dankesschuld gegen
Frankreich belasten."
Inzwischen hatte Preußen seine Rüstungen vollen-
det. Die Aufgabe war jetzt, den Kriegsfall, für den
der preußisch-italienische Vertrag abgeschlossen war,
herbeizuführen. Die diplomatischen Bemühungen
Bismarcks in dieser Richtung schildern uns sehr an-
schaulich die Berichte des italienischen Unterhändlers
in Berlin Govone. Bismarck suchte Italien zu ver-
anlassen, anzufangen. Anfang Juni schreibt Govone
dem Ministerpräsidenten La Marmora über seine letzte
Unterredung mit Bismarck: „Nun, wer wird die Lunte
ans Pulverfaß bringen, Preußen oder Italien ?" habe
ihn Bismarck gefragt. Man sprach weiter über die
Aufnahme, die der in letzter Stunde von Napoleon an-
geregte Friedenskongreß in Osterreich gefunden habe.
Bismarck glaubt schon zu wissen, daß Österreich jedem
Kongreß entgegen sei, der Gebietsabtretung innerhalb
des Deutschen Bundes zum Gegenstand habe. Bis-
marck äußert sich über die Zugeständnisse, die Frank-
reich verlange und von Preußen erhalten könne.
Govone fragt, ob es nicht möglich sei, wenn man
nicht das ganze linke Rheinufer an Frankreich abtreten
wolle, wenigstens einen Teil zu überlassen. Bismarck
antwortet: „Ja, es wäre die Mosel. Ich bin viel
weniger Deutscher als Preuße und würde kein
Bedenken tragen, die Abtretung des ganzen Landes
zwischen dem Rhein und der Mosel an Frankreich
zu unterschreiben . . . Der König jedoch, unter Ein-
fluß der Königin, die keine Preußin ist, würde
die schwersten Skrupel empfinden und sich zu einer
solchen Maßnahme nur im alleräußersten Falle ent-
schließen, wenn er auf dem Punkte stände, alles zu
verlieren oder alles zu gewinnen." Unter diesen Um-
101
ständen, meint Bismarck, bliebe nur übrig, Frank-
reich durch die französischen Teile Belgiens und der
Schweiz zu entschädigen. Dann kommt Bismarck
auf die Frage zurück, wer — Italien oder Preußen —
die Feindseligkeiten eröffnen solle. „Er sagte, daß es
ihm äußerst schwer fallen würde, den König zu be-
stimmen, die Offensive zu ergreifen; der König habe
religiöse Bedenken, ja eine abergläubische Scheu, die
Verantwortung für einen europäischen Krieg auf sich
zu nehmen; inzwischen würde man aber Zeit verlieren
und Österreich und die Staaten zweiten Ranges könnten
ihre Rüstungen vollenden und die Aussichten des Er-
folges für Preußen verringerten sich. Auch die Inter-
essen Italiens würden auf diese Weise gefährdet werden,
wenn der Sieg Österreich zufalle. Italien", fuhr er
fort, kann leicht den Krieg eröffnen, auch im Not-
fall selbst seine Maßnahmen treffen, um
von irgendeiner kroatischen Heeresabteilung
provoziert zu werden. Und es kann sicher sein,
daß am Tage darauf wir die Grenze überschreiten
würden." Ich antwortete hierauf, daß Italien sich in
einer höchst verfänglichen Lage befände. Es habe
zu Paris in der Sitzung der gesetzgebenden Versamm-
lung erklären lassen, daß der Angriff keineswegs von
ihm ausgehen werde und habe diese Erklärung in jeder
Weise wiederholt. Italien müsse stark mit der öffent-
lichen Meinung in Frankreich rechnen.
In der Tat mußte sich Preußen entschließen,
voranzugehen. Es erklärte am 18. Juni, Italien am
20. Juli den Krieg. Die italienische Kriegserklärung
war ziemlich nüchtern und geschäftsmäßig:
„Der österreichische Kaiserstaat hat mehr als
jeder andere Staat dazu beigetragen, Italien geteilt
und unterdrückt zu erhalten, und ist die Ursache
unberechenbarer materieller wie moralischer Ver-
luste gewesen, die Italien seit vielen Jahrhunderten
hat leiden müssen. Noch gegenwärtig, wo 22 Mil-
102
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lioncn Italiener sich als Nation konstituiert haben,
weigert sich als einziger unter den Großstaaten der
gebildeten Welt Österreich, diese anzuerkennen . . .
Vergeblich blieben in den letzten Jahren die Versuche
und Ratschläge befreundeter Mächte, dieser uner-
träglichen Gestaltung der Dinge ein Ende zu machen.
So wurde es unvermeidlich, daß Italien und Öster-
reich sich bei der ersten europäischen Verwicklung
als Feinde gegenüberträten. Der kürzlich erfolgte
Vorangang Österreichs im Rüsten und die
Weigerung, die es den friedlichen Vorschlägen von
drei Großmächten entgegensetzte, haben der Welt
seine kriegerischen Pläne verraten und
Italien von einem Ende zum andern in Erregung
versetzt. Aus diesem Grunde sieht sich Seine Maje-
stät der König, als eifersüchtiger Wahrer der Rechte
seines Volkes und Verteidiger der Unversehrtheit der
Nation, genötigt, dem österreichischen Kaiserstaat
den Krieg zu erklären."
Voller und merkwürdig unvergänglich tonte es
aus dem Kriegsmanifest König Wilhelms von
Preußen:
„ . . . Preußen soll geschwächt, vernich-
tet, entehrt werden. Ihm gegenüber gelten
keine Verträge mehr. Gegen Preußen werden
deutsche Bundesfürsten nicht bloß aufgerufen, son-
dern zum Bundesbruch verleitet. Wohin wir in
Deutschland schauen, sind wir von Feinden um-
geben, deren Kampfgeschrei ist: Erniedrigung
Preußens! ... Unsere Gegner irren sich, wenn
sie meinen, Preußen sei durch innere Streitigkeiten
gelähmt. Dem Feinde gegenüber ist es einig
und stark; dem Feinde gegenüber gleicht sich aus,
was sich entgegenstand, um demnächst im Glück
und Unglück vereint zu bleiben. Ich habe alles
getan, um Preußen die Leiden und Opfer
eines Krieges zu ersparen, das weiß mein
103
Volk, das weiß Gott, der die Herzen prüft.
Bis zum letzten Augenblicke habe ich, in
Gemeinschaft mit Frankreich, England und
Rußland, die Wege für eine gütliche Aus-
gleichung gesucht und offen gehalten. Österreich
hat nicht gewollt, und andere deutsche Staaten
haben sich auf seine Seite gestellt. So sei es denn.
Nicht mein ist die Schuld, wenn mein Volk
schweren Kampf kämpfen und vielleicht harte Be-
drängnis wird erdulden müssen : aber es ist uns keine
Wahl mehr geblieben ! Wir müssen fechten um
unsere Existenz . . . Flehen wir den Allmäch-
tigen, den Lenker der Geschicke der Völker, den
Lenker der Schlachten an, daß er unsere Waffen
segne!"
Im gleichen Stile sind auch die österreichischen
Kriegsurkunden abgefaßt. Der Armeebefehl des Erz-
herzogs Albrecht vom 21. Juni lautet:
„Von neuem streckt der räuberische Nach-
bar die Hand nach diesem schönen Juwel in der
Krone unseres Monarchen aus, welches Eurem
Schutze anvertraut ist . . . Verblendet durch leichte
Erfolge, die unser Gegner im Bunde mit Verrat,
Treubruch und Bestechung anderwärts gefunden,
kennt er in seiner Anmaßung, seiner Raubsucht keine
Grenzen, vermeint er seine Fahne auf dem Brenner
und auf den Höhen des Karstes aufpflanzen zu kön-
nen; doch diesmal gilt es offenen Kampf mit einer
Macht, welche fühlt, daß es sich jetzt um Sein oder
Nichtsein handelt, welche entschlossen ist zu
siegen oder ruhmvoll zu fallen, wenn es sein muß.
Mögt Ihr den Feind erneut daran erinnern, wie oft
er schon vor Euch geflohen."
Die italienische Kriegsführung war zu Lande und
zur See unglücklich. Schon am 24. Juni ließ sich die
italienische Armee bei Custozza völlig überraschen und
wurde von den Österreichern entscheidend geschlagen.
104
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Aber der Erfolg Preußens über Österreich bei König-
grätz (3. Juli) nötigte Österreich gleichwohl unter allen
Umständen den Krieg im Süden zu beendigen. Na-
poleon, für den Preußen zu sehr gesiegt hatte, ver-
mittelte. Österreich war bereit, Venetien zunächst
an Frankreich abzutreten, das es dann Italien über-
geben würde. Aber Italien lehnte dies Angebot eines
Separatfriedens ab. Es fühlte sich durch den Vertrag
mit Preußen gebunden, weiterzukämpfen, bis zum
gemeinsamen Erfolg. Überdies glaubte Italien, daß
es in seinem Interesse geboten sei, seine militärische
Niederlage auszuwetzen. Es setzte also den Krieg fort.
Als jedoch dann Preußen einen raschen Friedensschluß
mit Österreich für zweckmäßig hielt, glaubte es sich
seinerseits an den Widerspruch Italiens nicht kehren
zu müssen und verständigte sich schon am 26. Juli
über die Präliminarien eines Separatfriedens mit Öster-
reich. Jetzt war Italien isoliert und mußte am 12. Au-
gust in einen Waffenstillstand mit Österreich ein-
willigen; durchaus widerstrebend, wie Theodor von
Bernhardi, der als Vertreter Preußens im italienischen
Hauptquartier weilte, bezeugt. Ende Juli schreibt
Bernhardi in sein Tagebuch: „Victor Emanuel war
in einer gereizten Stimmung. Er zeigte sich dadurch
verletzt, daß Preußen ohne ihn Frieden schließt und
selbst ohne ihn sonderlich zu fragen; . . . gerade jetzt,
wo er in der besten Verfassung sei, entscheidend ein-
zugreifen . . . Gewähre man ihm, was er verlangt,
nämlich in Italien den Isonzo als Grenze und Welsch-
tirol, dann werde er Frieden schließen; wenn nicht,
dann setze er den Krieg allein fort, ohne Preußen."
Viktor Emanuel mußte sich fügen, Italien erhielt
durch den Wiener Frieden vom 3. Oktober auf dem
Umweg über Frankreich Venetien.
Mai 1915.
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Die Presse im Kriege.
Karl Büchner, Unsere Sache und die
Tagespresse. Tübingen 1915.
Unmittelbar nach dem 1 8. Februar lief ein Telegramm
durch die deutsche Presse, des Inhalts: Wegen des
Beginns des Unterseebootskrieges stocke der Verkehr
zwischen England und Holland fast völlig. Die eng-
lischen Zeitungen träfen nur mit großer Verspätung
ein, und auch nur in wenigen Exemplaren.
Ich las jedem, der mir gerade in den Weg lief, das
Telegramm vor und fragte : Ist das nicht zum Lachen ?
Die Antworten, die ich erhielt, waren durchweg un-
liebenswürdig. Natürlich, ich wollte auch an diesem
Erfolge nörgeln. Ich glaubte an den Erfolg des Unter-
weltkrieges nicht, als geborener Schwarzseher. Einige
schalten mich — mit dem beliebtesten Teutonen-
wort — einen Miesmacher. Ein paar vorsichtige Leute
meinten, nun ja, die Meldung sei vielleicht etwas über-
trieben, aber immerhin doch möglich. Jedem aber
mußte ich geduldig auseinandersetzen, daß ich gar
nicht über den Unterseekrieg urteilen wolle, sondern
nur über den Erzeuger des Telegramms lache, der in
der Hitze, raschen Erfolg dem begierigen Zeitungs-
leser zu verkünden, die Fabrikmarke „Schwindel!"
versehentlich seiner Erfindung gleich mit aufgedruckt
habe. Dem Mann sei es nicht genug gewesen, die Stö-
rungen des Verkehrs dadurch zu veranschaulichen, daß
die Zeitungen mit Verspätung einträfen, nein die Ver-
wüstung des Verkehrs muß so groß sein, daß diese
Zeitungen sogar nur in wenigen Exemplaren einzu-
treffen vermögen. Da es nun kein wesentlicher Unter-
106
schied der Leistung ist, ob ein Schiff, wenn es über-
haupt eintrifft, zwei oder Hunderttausende Zeitungs-
nummern mitführt, so erweise sich jener Versuch, die
Steigerung aufs höchste zu treiben, als die ganz be-
sonders einfältige Erfindung eines hirnlosen Journa-
listen. Das Unheimliche sei dabei, daß offenbar nie-
mand so krassen Unsinn merke. Wenn man also über
die heutige Entartung der Presse schelte, so trage die
Schuld zunächst der Zeitungsleser, der völlig kritiklos
alles Gedruckte in sich hineinfresse. Die geistige Ver-
wirrung der Presse spiegelt doch nur die geistige Zer-
rüttung ihres Publikums. Wenn der Zeitungsleser keine
Vernunft, keine Wahrheit hören will, warum sollen
die Hersteller der Zeitungen die Unannehmlichkeiten
auf sich nehmen, die die Stimme der Vernunft und der
Wahrheit gegenwärtig für ihre Bekenner zur Folge
hat! Das Publikum verlange anständige, kluge,
ernste und unterrichtete Blätter — und es wird sie
erhalten !
Daß die Presse die Schrecken des Weltkrieges ver-
mehrt, daß sie die Katastrophe der Menschheit in
ihrem Schrecken verschärft, erweist jeder Tag aufs
neue. Der greise Leipziger Nationalökonom Karl
Bücher hat kürzlich einige Kriegsarbeiten in einer
Broschüre zusammengefaßt. Daß er die ausländische
Presse verurteilte, ließ man sich natürlich bei uns ge-
fallen. Daß er aber von seinem Verdammungsurteil
die deutsche bürgerliche Presse nicht ausschloß, hat
ihm empfindlichen Tadel eingetragen. Es waren vor
allem Sätze wie die folgenden : „Man sollte nun glauben,
daß die Presse gerade in solchen Zeiten ein lebhaftes
Bewußtsein ihrer Aufgabe betätigen und von dem
Gefühle ihrer Verantwortlichkeit durchdrungen sein
würde, die ihr gebieten müßte, über den kämpfenden
Parteien zu stehen, der Wahrheit und nur der Wahr-
heit zu dienen und mäßigend auf die entflammten
Volksleidenschaften einzuwirken. Leider bestätigt die
107
Erfahrung diese Erwartung nicht. Ein großer Teil der
Tagespresse pflegt vielmehr in der leidenschaftlichsten
Weise Partei zu ergreifen; alle Haltung geht ihr ver-
loren, und mit einer Art satanischer Freude verschärft
und vertieft sie die Gegensätze, die im Kampfe der
Waffen aufeinanderstoßen. Die Zeitungsblätter, die
seit dem Kriegsbeginn in unsere Hände kommen,
wissen täglich von neuen Greueltaten zu berichten,
die man den Unsern andichtet ; ausgestunkene Lügen,
die durch Anwendung der einfachsten kritischen Hilfs-
mittel als solche erkannt werden könnten, werden in die
Welt gesetzt; eine ganze trübe Flut des Hasses, der
Verleumdung und Verletzung geht durch ihre Spalten,
und wir legen tief zerknirscht Nummer auf Nummer
zur Seite, um verzweifelt zu fragen, ob dies denn das
Ende aller Kultur sei und ob nicht eine allgemeine
Rückkehr zu den Urzuständen der Wilden über die
Menschheit gekommen sei."
Das ist nun zunächst gegen die feindliche Presse ge-
münzt. Aber Bücher nimmt doch auch nicht die deut-
sche Presse ganz von dem allgemeinen Verdammungs-
urteil aus. Er will zugeben, daß die deutsche Presse
„verglichen mit England, Frankreich, Belgien und
Rußland, im ganzen sich würdig hält und daß ihre
eigenen Leistungen turmhoch emporragen über die
des feindlichen Blätterwaldes. Aber es ziemt sich, daß
wir über dem Balken in des Bruders Auge nicht den
Splitter im eigenen übersehen. „Es gibt Blätter, die
an Verhetzung und Herabsetzung unserer Gegner so
Unglaubliches geleistet haben, daß unsere Krieger in
der Front sich gegen diesen Ton ernstlich verwahrt
haben." Dagegen sei es eine der erfreulichsten Er-
scheinungen „dieser großen Zeit", daß die sozialdemo-
kratische Presse, „die früher so oft durch ihren Ton
unser Mißfallen erregt hat, in ihrer Mehrzahl durch die
kritische Ruhe und Objektivität, mit denen sie die
Kriegsereignisse behandelt, sich auszeichnet."
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Die Auszeichnung der deutschen bürgerlichen Presse
gegen die ausländische ist durchaus nicht verdient.
Wer es sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Roheiten,
Lügen, Dummheiten der internationalen Kriegspresse
systematisch zu sammeln, ist durchaus von der vater-
landslosen Ebenbürtigkeit und der Gleichheit aller
kapitalistischen Preßmoral überzeugt. Ein weit ver-
breitetes deutsches Blatt schrieb, um nur ein Beispiel
aus jüngster Zeit zu nennen, über die Torpedierung
der Lusitania: „Nicht maßloses Entsetzen hat uns
erfüllt, als wir <lie Kunde von Lusitania bekamen. So
etwas ist altes Weibergeschwätz. Sondern laute
Freude"! Das las man in München. In Leipzig
jubelte und höhnte man: „Die Freude an der Ver-
nichtung der Lusitania wird noch durch allerlei Dinge
gesteigert . . ., das letzte sentimentale Mitleid mit
den „armen Opfern", die hübsch hätten „auf ihren
Hadern" bleiben sollen, dürfte die (falsche!) Fest-
stellung vernichten, daß die Lusitania mit Ge-
schützen armiert, also ein Hilfskreuzer, ein Kriegs-
schiff war." Zwei Tage darauf bezeichnete es das
selbe sehr einflußreiche Leipziger Organ als eine „der
üblichen englischen Fälschungen", daß man in
Deutschland eine unbändige Freude über der. Unter-
gang von 1400 Nichtkämpfenden empfunden habe.
In Wien sekundierte man glänzend: „Wir freuen uns
über diesen neuen Erfolg der deutschen Marine."
Endlich in Berlin dichtete ein deutscher Mensch:
Ein Schiff versenkt, Ladung und Passagier,
Hurra! — und tausend Feldgraue gerettet,
Für jeden uns'rer Braven hätten wir
Zehn Lusitanien gern zu Grund gebettet!
Dergleichen findet sich kaum im Matin oder Daily
Mail. Zu nationalem Stolz ist also nicht der mindeste
Anlaß, wie auch das Urteil Büchers national befangen
scheint, wenn er von den Kriegsberichten sagt : „Wenn
man die systematische Unterdrückung von Schiffs-
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Verlusten durch die englische Admiralität . . . die ganze
Verschweigungspolitik der britischen Regierung oder
die redselige Vertuschungsweise französischer und
russischer Schlachtberichte in Erwägung zieht, so
wird man unsere Preßzustände immer noch bei weitem
als die besseren erkennen." Gerade auf diesem Ge-
biete ist ja bereits die historische Kritik möglich. Auch
hier erzielt die vergleichende Prüfung eine merk-
würdige Gleichheit des Verfahrens. Die Technik
der amtlichen Berichte ist in den verschiedenen Län-
dern im einzelnen abweichend, alle aber sind durch die
Tendenz bestimmt: Zwischen der Informierung des
Volks, der Sorge, es bei guter Stimmung zu erhalten
und der Rücksicht auf die Beeinflussung der öffent-
lichen Meinung der Welt einen billigen Ausgleich zu
finden. Die Spannung zwischen der Wahrheit und dem
Interesse wird natürlich in demselben Maaße größer,
als es Mißerfolge zu verschleiern oder allzu bescheidene
Erfolge zu übertreiben gilt.
Trotz der unberechtigten Lobsprüche für die
deutsche Presse hat Bücher durch seine Abhandlung es
mit ihr gründlich verdorben. Seine Aufforderung,
über den kämpfenden Parteien zu stehen, wurde laut
und energisch zurückgewiesen, obwohl kein Zweifel
war, daß mit dieser Überparteilichkeit lediglich die
Aufgabe gemeint war: „der Wahrheit, und nur der
Wahrheit zu dienen". Die Frankfurter Zeitung
verspottete ihren ehemaligen Redakteur: in ihrem
Betreibe säßen nicht nur Siebzigjährige, und solche
jugendliche Temperamente gestatteten es nicht, in
dieser Zeit so abgeklärt und parteilos über den Dingen
zu schweben. Und in der Landesversammlung der
sächsischen Presse wurde gegen Bücher betont: Die
deutsche Presse könne nicht aufhören, deutsch zu
sein und müsse es ablehnen, sich inmitten des
Schlachtendonners als eine Art internationalen
Schiedsgerichts auf zu werfen.
HO
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So sehr verstimmte die gutmütige prof essorale
Mahnung, bei der Wahrheit zu bleiben. Damit hat
aber die deutsche Presse selbst auf ihr Existenzrecht
und ihre kulturelle Geltung verzichtet. Hört die Presse
auf, die Künderin der Wahrheit zu sein, so ist sie nur
noch die feile Reklame für irgend etwas; und Reklame
ist immer würdelos und verderblich, wäre es selbst pa-
triotische Reklame. Kritik ist die große Helferin des
Lebensechten. Eine Sache, die keine Kritik erträgt,
die Wahrheit scheut, ist verloren. Nach diesem
offenen Bekenntnis der deutschen bürgerlichen Presse
aber fällt dem Publikum erst recht die Aufgabe zu,
sich selbst zu helfen und von dem verwüstenden Ein-
fluß der Preßmache sich zu befreien: die Kritik, den
Wahrheitssinn zu üben, die seine Blätter mit den natio-
nalen Pflichten für unvereinbar halten. Diese Emanzi-
pation von dem gedruckten Wort ist durchaus nicht
leicht. Bücher selbst beweist auf jedem Blatt seiner
Broschüre, wie sehr gerade er das Opfer seiner deutschen
Zeitungslektüre geworden ist. Er nimmt jede Mit-
teilung gläubig hin, und wenn sie gar amtlich ist, so
erstickt auch der leiseste Versuch der Kritik. So gibt
er in seinem Heft den Aufsatz wieder, den er in einer
norwegischen Zeitschrift über „unsere Sache", d. h.
über die Ursachen des Krieges veröffentlicht hat: eine
völlig kritiklose Wiederholung der üblichen Argumente,
die er täglich im Blättchen gelesen hat. Kein Wunder,
daß seine Darlegungen den norwegischen Herausgeber
nicht überzeugten, wie Bücher selbst angibt.
Unser Professor sucht nach allerlei Mitteln, die Presse
zu heben. Was er über die kapitalistisch-offiziöse Ab-
hängigkeit der großen Nachrichtenagitatoren sagt, ist
richtig, aber nicht entscheidend. Noch weniger ist
mit einer besonderen Vorbereitung der Journalisten,
mit einer „akademischen Berufsbildung für Zeitungs-
kunde" getan. Bücher streift nicht einmal die eigent-
liche Ursache des spezifischen deutschen Presseelends:
I
Die Abhängigkeit der Journalisten von den kapita-
listischen Verlegern. Der deutsche Journalist ist nur
der Angestellte eines Zeitungsgeschäfts, der Hilfs-
arbeiter, das Werkzeug für Verlegerinteressen. Die
Richtung des Verlegers ist durch dreierlei Rücksichten
bestimmt: die Rücksicht auf den Abonnenten, den
Inserenten und die Information. Diesem also gelenkten
Verlegergeist ist jede Überzeugung der angestellten
Schreiber unterzuordnen. Durch den Wettbewerb der
Information ist die ganze deutsche bürgerliche Presse,
zumal in Fragen der auswärtigen Politik, offiziös ge-
worden; nur die von den bekannten Interessengruppen
dirigierten Alldeutschen Organe haben sich auf dem
Gebiet der auswärtigen Politik eine von der Regierung
unabhängige Freiheit des Urteils bewahrt. Deswegenhat
die kapitalistische Presse, deren Hersteller längst keine
Freiheit zu verlieren hatten, jetzt auch die formelle
Beseitigung der Meinungsfreiheit durch die Militär-
zensur schmerzlos ertragen. Ihre Beschwerden gegen
die Zensur richteten sich nicht gegen die Unterdrückung
der Kritik, sondern nur gegen einen gewissen schnei-
digen Verkehrston, gegen technische Betriebserschwe-
rungen und gegen die ungleiche Behandlung der Kon-
kurrenz, soweit sie mit Nachrichten bevorzugt schien.
In dieser Hinsicht aber steht die ausländische
Presse — trotz aller Korruption — „turmhoch" über
der deutschen. Dort ist der Publizist Herr über die
Presse. Und immer gibt es unabhängige, sittlich und
geistig bedeutende Persönlichkeiten, die auch in den
verworfensten Zeiten den Mut der Kritik, der Wahr-
heit, der Menschlichkeit bekennen und bewähren.
Auch in diesem Kriege vernimmt man dort immer
kühne kritische Stimmen. Bei uns ist alles stumm,
unterworfen und unterwürfig, kein bürgerlicher Jour-
nalist fühlt sich dabei als „gefesselter Mensch", wenig-
stens bäumt sich keiner auf, von etlichen Alldeutschen
abgesehen.
112
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Hier ist die Wurzel des deutschen Preßübels, und
hier die große Zukunftsaufgabe der sozialdemokra-
tischen Fresse, die, kapitalistisch unbeeinflußt, eine
Mission, kein Geschäft ist. Nach dem Kriege wird es
eine der dringlichsten Unternehmungen sein, unsere
Presse technisch-journalistisch so auszugestalten, daß
sie den Wettbewerb der Geschäftsblätter überwindet.
Inzwischen haben wir eine andere, im reinsten Sinne
nationale Aufgabe zu erfüllen. Auch Professor Bücher
richtet einige Bemerkungen gegen die Zensur, spär-
liche Ausführungen, die höchst anschaulich durch
klaffende Zensurlücken verstärkt werden. Niemals
darf die Presse sich die Freiheit der Meinungsäußerung
nehmen lassen; und je entscheidender die Schicksals-
zeiten der Völker andrängen, um so mehr bedürfen wir
der Sicherung, Klärung und Leitung durch den un-
bestechlichen Ehrgeiz der Wahrheit. Auch in Kriegs-
zeiten und gerade in ihnen muß jede Maßnahme der
Regierung, jede Handlung der Parteien, auch die
Einzelheiten der Kriegsführung, soweit sie einem
sachlich begründeten Urteile zugänglich sind, vor dem
Gericht der Wahrheit sich rechtfertigen. Eine Zensur,
welche die zweckdienliche Aufsicht über den militä-
rischen Nachrichtendienst überschreitet, ist nichts
weiter als die organisierte Neubelebung des alten
Untertanenlandrechts : Jetzt ist Ruhe die erste Bürger-
pflicht! Was bei dieser Ausschaltung der politischen
Mitarbeit des gesamten Volkes herauskommt, lehrt
die Geschichte. In der Tat ist es doch wohl dem recht
begriffenen nationalen Interesse förderlicher, wenn die
freie, sorgsam bedachte und mutige Überzeugung des
eigenen Volke9 die Erscheinungen der Zeit kritisiert,
als zu warten, bis das Ausland uns die Wirkung fühlbar
demonstriert, was Wahrheit ist. Wir haben nicht
Stimmungen künstlich herzurichten, die doch vor der
ersten Katastrophe panisch flüchten, wir haben viel-
mehr zur geistig kritischen Mitarbeit der gesamten
8 Biso er, Geuramelt« Schriften. I. IZ3
_ - JÖigitized by Google
Nation, zur Tapferkeit der freien Meinung und zur
Gewissenhaftigkeit des begründeten und geschulten
Urteils zu erziehen, die allein imstande sind, Kata-
strophen zu verhüten, oder wenn sie hereinbrechen,
mannhaft-ruhig tätig zu überstehen. Wir müssen ohne
Verzug die Freiheit der Meinung zurückgewinnen, um
unser aller Schicksal zu sichern und zu bestimmen.
Nur durch die öffentliche Aussprache wird echte und
beharrliche Gesinnung verbürgt; sonst vergiftet feiger
und geschwätziger Klatsch die Luft und raubt den
Atem. Wer auch nur einen Augenblick ohne die Frei-
heit der Meinung leben kann, der verdient kein Leben,
der ist wert und reif, zugrunde zu gehen. Das gilt
von den einzelnen wie von den Völkern.
Mai 191 5.
★ *
Nachdem diesem Artikel die Veröffentlichung ge-
lang, erging folgende Verfügung des stellvertretenden
Generalkommandos in Münster:
„Die Nr. 140 der ,Essener Arbeiterzeitung* enthält
einen Aufsatz ,Die Presse im Kriege*, der die
entschiedene Mißbilligung des stellvertretenden Ge-
neralkommandos gefunden und zu Maßnahmen der
Presseaufsicht Veranlassung gegeben hat. Er greift
mit groben Schmähungen den überwiegenden Teil
der deutschen Presse an, der sich unter freiwilliger Zu-
rückstellung des eigenen Parteistandpunktes während
des Krieges verständnisvoll in den Dienst der vater-
ländischen Sache gestellt und den vom militärischen
Interesse gebotenen Rücksichten angepaßt hat. Da-
durch verletzt er gröblich den Burgfrieden. Der letzte
Absatz enthält scharfe Angriffe gegen die auf gesetz-
licher Grundlage arbeitende Militärzensur und
deren dem Gebote der Staatsnotwendigkeit entsprin-
gendes Walten. Dadurch werden militärische Inter-
essen gefährdet.
114
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Der Aufsatz sucht bei Gelegenheit des Angriffs auf
die bürgerliche Presse ferner die Maßnahmen unserer
Kriegsführung, insbesondere die Torpedierung der
,Lusitania* verächtlich zu machen und trägt offen-
sichtlich eine vaterlandsfeindliche Gesinnung zur
Schau. Dadurch wird das vaterländische Gefühl
empfindlich verletzt.
Die vaterländisch gesinnte Presse wird gebeten, dem
hier gekennzeichneten Aufsatz keine weitere Erwiderung
zuteil werden zu lassen, da sie einer besonderen Recht-
fertigung ihres unbestrittenen Ehr- und Pflichtgefühls
einer derartigen sich selbst richtenden Kundgebung
gegenüber nicht bedarf.
Stellv. Generalkommando 7. Armeekorps/'
In einem längeren Schreiben habe ich mich darauf
mit dem General v. Gayl in Münster persönlich aus-
einandergesetzt. Der Empfang meines Briefes wurde
mir bestätigt.
115
Die Wiener Kongreß -Akte.
Vor hundert Jahren, am 9. Juni 181 5, wurde in Wien
jene Vertragsurkunde der europäischen Großmächte
unterzeichnet, durch die der Weltkrieg von 1914,
wenn nicht notwendig, so doch erst möglich geworden
ist. Der durch die französischen Revolutionskriege und
durch deren Vollstrecker Napoleon unternommene re-
volutionäre Versuch, das europäische Festland in eine
einheitliche Organisation zusammenzufassen, war ein-
mal an der Gegnerschaft Englands gescheitert, das
zwei Jahrzehnte hindurch einen ungeheuren Wirt-
schaftskrieg gegen diese Entwicklung führte. Dann
aber zerbrach die europäische Revolution an dem
inneren Widerspruch, daß sie sich in den Formen der
Weltmilitärdiktatur eines einzigen Staates, Frank-
reichs, durchzusetzen versuchte. Mit dem Sturz Na-
poleons, dem Träger der Idee des einheitlichen Europa,
zerfiel die junge Organisation wieder, und das alte
Europa wurde nach dem Stande vor 1789 wieder her-
gestellt : ein Europa rein dynastischer Interessen und des
„Gleichgewichts", des einzigen Gedankens, den die
Köpfe der Diplomaten des 18. Jahrhunderts enthielten.
Freilich, es war nicht die völlige Herstellung des
alten Zustandes, den die in Wien versammelten Fürsten
und ihre Bevollmächtigten vertragsmäßig ordneten.
So wurden die unzähligen geistlichen Souveränitäten,
die in den vulkanischen Zeiten untergegangen waren,
nicht wieder hergestellt, mit der einzigen Ausnahme
des römischen Kirchenstaates. Die weltlichen Dynasten
waren darin einig, die geistliche Beute nicht wieder
herauszugeben; und so wurde denn das Werk des
Wiener Kongresses nicht nur durch den Protest der
Völker, die nicht mehr befragt wurden, nachdem sie
116
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ihr Blut für ihre Fürsten geopfert, sondern auch durch
den Protest des Papstes begleitet.
Durch Vertrag vom 30. Mai 18 14 hatten sich die
rier Allierten gegen Napoleon, England, Rußland,
Österreich und Preußen, verpflichtet, die Vertreter
aller europäischen Staaten nach Wien einzuberufen,
um die Neuordnung der Dinge herbeizuführen. Es
schickten in der Tat alle europäischen Staaten ihre
Bevollmächtigten nach Wien. Nicht weniger als 90
souveräne und 53 mediatisierte Fürsten versammelten
sich dort. Aber in Wirklichkeit ist der Wiener Kon-
greß, der schon im Sommer 18 14 beginnen sollte, und
dessen Termin dann erst auf den 1. Oktober, weiter
auf den I. November verschoben wurde, niemals er-
öffnet worden. Was sich in Wien seit den Herbst-
monaten 18 14 begab, war in Wahrheit ein einziger,
großer Mummenschanz der wiederauferstandenen
Gewaltigen des alten Europas, die, beireit von der
Angst vor dem korsischen Giganten, in rauschenden
Vergnügungen und feilschenden Intriguen Länder und
Völker unter sich verhandelten und verteilten. Poten-
taten, Staatsmänner, Abenteurer feierten in Wien
die Wiederkehr der alten Zeit ihrer Herrschaft. Frauen,
wenn nicht immer schön, so doch immer liebens-
würdig und liebewillig, verschönten das Leben und
halfen durch ihre Künste auch bei der Herstellung des
europäischen Dynasten-Syndikats. Ein Heer von
Spitzeln und Agenten war aufgeboten, um die Ver-
handelnden zu überwachen. Kein Brief blieb uner-
Öffnet, kein Papierkorb undurchstöbert. Niemand
traute dem andern, einig waren sie nur gegen ihre ge-
treuen Untertanen. Es kennzeichnete den Geist des
Wiener Kongresses, daß man eines Tages, als man
gar nicht mehr wußte, welche neuen Überraschungen
man den am ewigen Karneval Übersättigten gewähren
könnte, auf den Gedanken verfiel, nachträglich die
bisher vergessene Totenfeier für den unfreiwillig hoch-
117
seligen Ludwig XVI. mit allem düsteren Pomp zu
veranstalten: eine schwarze Messe der wiedererstande-
nen Legitimität.
Die Verteilung der europäischen Beute selbst ge-
schah in den Verhandlungen von Spezialkommissionen
und Sonderverträgen zwischen den einzelnen Staaten.
Anfang 1815 waren die Gegensätze zwischen den
Mächtegruppen so sehr zugespitzt, daß Großbritan-
nien, Österreich und Frankreich sich in einem Geheim-
vertrag gegen Preußen und Rußland zusammen-
schlössen und ein Krieg der Verbündeten gegeneinander
drohte. Die Ansprüche Rußlands auf Landerwerb
waren so groß, daß England die Störung des euro-
päischen Gleichgewichts befürchtete. Der Ausbruch
Napoleons aus Elba verhinderte das Äußerste. Gegen
ihn fand man sich wieder zusammen. Kurz vor der
letzten Katastrophe Napoleons wurden die bereits
am Anfang des Jahres im wesentlichen fertigen Einzel-
verträge in der Wiener Kongreß-Akte zusammengefaßt
und deren 121 Artikel von Österreich, Spanien, Frank-
reich, Großbritannien, Portugal, Preußen, Rußland
und Schweden unterzeichnet. Der Vertrag ist nichts
weiter wie eine Aufteilung der Neuerwerbungen des
französischen Kaiserreiches und eine Neuordnung der
unter Napoleons Einfluß geratenen Gebiete. Die
Gegner Napoleons wurden entschädigt und belohnt,
seine Freunde bestraft und beraubt. In Deutschland
zahlte vor allem Sachsen die Zeche.
Auf der Höhe Napoleons umfaßte Frankreich außer
seinem alten Gebiet Belgien und die Rheinprovinz,
Teile der Schweiz, die Niederlande, ein Drittel Italiens,
die deutschen Nordseegebiete und Illyrien. Mittelbar
herrschte Napoleon über Spanien, Neapel, Italien,
das Königreich Westfalen, die deutschen Rheinbund-
staaten, Dänemark und die Schweiz. Frankreich wurde
durch die Wiener Kongreß-Akte in seine vorrevolu-
tionären Grenzen zurückgedrängt. Ihre großen Er-
118
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oberungen behielten die beiden eigentlichen Sieger
der „Freiheitskriege": England und Rußland. Der
Zar durfte sich Bessarabien, Finnland und Polen an-
eignen. Mitteleuropa wurde durch Österreich be-
herrscht, das freilich ebensowenig wie Preußen alles
Verlorene wiedererhielt, dafür aber reichlich ent-
schädigt wurde auf Kosten Italiens und Bayerns.
Holland und Belgien wurden vereinigt und neutrali-
siert, desgleichen die Schweiz. Die Karte Europas
wurde so geordnet, wie sie bis zu den Nationalkriegen
der zweiten Hälfte des Jahrhunderts geblieben ist.
Das Werk des Wiener Kongresses wurde dadurch
bezeichnet, daß der ganz schmähliche Länderhandel
ohne jede Mitwirkung der Völker durch die Fürsten
ausgeführt wurde. Eine rücksichtslos gebietende und
unterdrückende Zensur ließ auch nicht die beschei-
denste Kritik, die geringste Störung des Burgfriedens
zwischen Fürsten und Untertanen zu. Die Zerrissen-
heit Europas aber wurde noch dadurch verhängnisvoll
gesteigert, daß bei der Verteilung keinerlei Rücbichten
auf nationale Zusammengehörigkeit genommen wurde.
Das Opfer dieser brutalen Zerreißung der volksmäßig
zusammengehörenden Gebiete war vor allem Italien,
dessen nördliche Gebiete Österreich einverleibt wurden.
Polen wurde wieder unter Rußland, Österreich und
Preußen aufgeteilt, dazu noch eine neutrale Republik
Krakau geschaffen, die unter dem Schutz von öster-
reich, Rußland und Preußen gestellt wurde — mit
dem Erfolg, daß die drei Schutzmächte den für ewige
Zeiten neutralisierten Staat 1846 gewaltsam Öster-
reich übergaben, „in Erwägung, daß Krakau der Sitz
einer Zentralbehörde war, die sich Revolutionsregie-
rung nannte."
Die Schöpfung des Wiener Kongresses hielt zwar ein
halbes Jahrhundert zusammen, es war aber ein so
künstliches und naturwidriges Gebilde, das, einmal
gelockert, es Europa in immer größere Katastrophen
119
stürzen mußte. Es wurden in Wien nicht nur über
den Kopf der Völker hinweg die äußeren Grenzen der
Linder bestimmt, es wurde auch über ihre inneren
Zustände entschieden. Die Revolution wurde aus-
gerottet. Die absolute Monarchie wurde, wenigstens
in Mittel- und Osteuropa, wieder hergestellt. Alles
Freiheitsstreben der Völker wurde mit eiserner Faust
niedergeschlagen. Das deutsche Volk war von der Ein-
heit weiter entfernt denn je; zwei Großmächte, Öster-
reich und Preußen, kämpften unablässig um die Vor-
macht über das dynastisch zersplitterte Volk. Diese
beiden deutschen Großmächte wurden zugleich die
brutalsten Vorkämpfer der Reaktion. Auf dem Schaf-
fott, im Zuchthaus, endigte jeder Deutsche, der in
den nächsten Jahrzehnten für deutsche Einheit, deut-
sche Freiheit zu wirken wagte. Die Revolution 1848/49,
das Sozialistengesetz hat bei weitem nicht so viele Mär-
tyrer erfordert wie die Zeit nach dem Wiener Kongreß.
Die liberal-demokratische Legende spricht davon,
daß die Völker um den Ertrag der Freiheitskriege be-
trogen worden seien; daß man die ihnen gegebenen
Versprechungen nicht gehalten habe. Der Vorwurf ist
nicht durchaus berechtigt. Im Grunde hatte man den
Völkern nicht einmal etwas versprochen. Und schon
von Anbeginn des Krieges ließ die rücksichtslose innere
Gewaltherrschaft die Denkenden nicht im Zweifel,
daß mit der Niederwerfung des napoleonischen' Frank-
reich vor allem die Ausrottung des revolutionären
Geistes bis zur Wurzel beabsichtigt sei.
Die Wiener Kongreß-Akte regelt nur die äußeren
Beziehungen der Staaten zueinander. Ursprünglich
aber war geplant, die Veröffentlichung des Vertrages
mit einer Kundgebung an das europäische Publikum
zu begleiten, die über die letzten Absichten der ver-
einigten Fürsten Aufschluß geben sollte. Der Entwurf
aus dem Februar des Jahres 181 5 ist erhalten; er ent-
hüllt klar und bestimmt das System, das fortan für die
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Regierungen bestimmend wurde. Da hieß es: „Wenn
der Kongreß nicht alle Erwartungen der Zeitgenossen
erfüllt hat, wenn er nicht allen Wünschen entsprechen
konnte . . ., wenn er endlich nicht jene ideale Voll-
kommenheit der sozialen Ordnung zu verwirklichen
vermochte, nach der die erleuchteten Geister und die
menschenfreundlichen Herzen aller Jahrhunderte ver-
geblich geschmachtet haben, — so hat er wenigstens
die ihm unmittelbar zugefallene Aufgabe gelöst . . .
Er hat Interessen geordnet, deren Gegensatz Europa
in neue Zerrüttungen hätte schleudern können . . . ;
und nur der Stimme der ermüdeten und leidenden
Menschheit folgend, hat er dem Wunsche, den Frieden
zu sichern, den vergänglichen Glanz geopfert, den
weniger versöhnliche Menschen auf seinen Weg hätten
werfen können. Indem die Fürsten den Kongreß ver-
lassen, durchdrungen von der Wichtigkeit eines Augen-
blicks, mit dem eine neue Epoche in der Weltgeschichte
beginnen wird, erkennen sie an, daß die erste ihrer
Pflichten ist, den Frieden zu bewahren und zu festigen,
der durch so viel edle Anstrengungen, durch so viel
schmerzliche Opfer, durch die heldenhafte Hingebung
ihrer Untertanen und durch die für immer denk-
würdigen Taten ihrer tapferen Heere erkauft ist . . .
Das Glück ihrer Völker sichern, alle Arten nützlicher
Gewerbe wieder herstellen, alle Künste schützen, die
das Land bereichern und verschönern, die Verwaltung
zu vervollkommnen, ebenso wie die Gesetzgebung, die
Landeskultur in allen ihren Zweigen : das muß hinfort
der große Gegenstand all ihrer Arbeiten, ihres Strebens
und ihres Ehrgeizes bilden. Sie sind mehr wie je über-
zeugt, daß die wahre Grundlage der Sicherheit und
der Kraft der Staaten in der Weisheit der Regierungen
liegt, in der Güte der Gesetze, in der Liebe und
Treue der Völker . . . Mögen die religiösen Gefühle,
die Achtung für die eingesetzten Obrigkeiten, die
Unterwerfung unter die Gesetze und der Abscheu
121
gegen alles, was die öffentliche Ordnung stören könnte,
die unlöslichen Bande der bürgerlichen und politi-
schen Gesellschaft werden! Mögen brüderliche Be-
ziehungen, gegenseitiges Helfen und Wohlwollen zwi-
schen den Ländern herrschen!" usw.
Man sieht, daß die Souveräne, die in Wien Europa
aufteilten und den Weltfrieden stifteten, ihren Unter-
tanen keine andere Aufgabe zuwiesen, als die Pflege
religiöser Gesinnung, dynastische Treue und die Unter-
werfung unter die weisen Befehle der Obrigkeit. Der
so geordnete innere Frieden trug in seinem Schöße
die Revolution, wie der Weltfrieden der Potentaten
und Diplomaten den Weltkrieg. Die Erläuterung der
Wiener Kongreß- Akte, die zu Beginn des Jahres 1815
zwar entworfen, dann jedoch unterdrückt wurde, trat
erst im Herbst ans Licht. Der Geist jenes Entwurfes
herrschte in dem am 25. September 181 5 zwischen
dem römisch-katholischen Kaiser von Österreich, dem
griechisch-katholischen Zaren und dem protestanti-
schen König von Preußen abgeschlossenen Vertrag, in
dem sich die drei Fürsten in schwülstigen Phrasen
verpflichteten, die Ordnung der Welt, alle Politik nach
den Gesetzen des Christentums zuleiten. „Die heilige
Allianz" war die andere Seite, die innere Ergänzung
der Wiener Kongreß-Akte. Die Flüche der Völker
lasten auf ihr.
Der Wiener Kongreß hat die Entwicklung Europas
gehemmt, das innere Zusammenwachsen der Völker
und Staaten Europas verhindert. Er hat den ewigen
Frieden, den er schaffen wollte, nicht erreicht, sondern
nur einen Kirchhofsfrieden der Freiheit für eine Galgen-
frist erzwungen. Ein Jahrhundert danach sehnt sich
die Welt nach einem neuen Kongreß, der nun endlich
den Frieden zwischen den Völkern schaffen soll, einen
Kongreß, in dem die Völker selbst mündig und frei,
über ihr Schicksal entscheiden.
Juni 1915.
122
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Hu s.
Ein halbes Jahrtausend nach seinem Feuertod.
Ungezählt sind die Menschen, die durch Gewalt ihr
Leben verloren. Mit höchstem Ruhm ist die Tapfer-
keit im Kriege, der Tod in der Schlacht geehrt. Der
kollektive und legitime Mut im Dienste einer Gemein-
schaft, auf Geheiß einer Obrigkeit wird gefeiert, und
wenn die Blutbrunst über die Menschen kommt, wächst
gewaltig das Heldentum der Vernichtung. Dennoch,
all die Millionen, die so auf dem verschlungenen Wege
der menschlichen Entwicklung fielen, sind rasch ver-
gessen. Es bleibt nichts übrig als dürre Jahreszahlen
über namenlosen Massengräbern. Blut und Tränen
trocknen schnell. Und der Aufschwung der Gefühle,
der in Sieg und Untergang berauscht, hinterläßt, nach-
dem er sein Werk verrichtet, keine Spuren.
So rasch verweht der Ruf ruhmvollen Sterbens.
Anders aber erhält sich die Erinnerung an ehrlosen
Tod, an das Martyrium des Einzelnen, der aus eigenem
individuellen Entschluß wider Macht und Gesetz sich
opferte, beschimpft, verleumdet, verflucht — um einer
Uberzeugung willen. Die tiefen politischen sozialen
Ursachen, aus denen solche Aufrührer der Idee er-
standen, schwinden aus dem allgemeinen Bewußtsein
und werden zum Gegenstand geschichtlicher For-
schung. Gemeingut der Menschheit aber wird das
Gedächtnis an den Bekenner, der fiel, weil er die ein-
mal erkannte Wahrheit nicht verraten wollte. Dieser
Ruhm steigt durch die Jahrtausende, diese Helden
werden niemals vergessen. Es lebt in der Menschheit,
zu Zeiten verdunkelt, aber niemals ganz erloschen,
dennoch der Glauben, daß das Größte und Frucht-
123
barste aller menschlichen Leistung, die einzige Ge-
währ für den Aufstieg der Kultur, die uneingeschränkte
Freiheit des Gedankens und die unbeugsame persön-
liche Tapferkeit des Bekennens ist. Dieser geistige und
sittliche Wahrheitsdienst steht über allem Leben;
denn er ist die Voraussetzung eines Lebens, das wert
ist, gelebt zu werden. Als unklare Ehrfurcht vor dem
Gewaltigsten lebt dieser Heldenkult triebhaft in
jedem gesunden Menschen. Kaum zu ermessen aber
wäre es, auf welcher Höhe heute die Menschheit stände,
wenn der gleiche Todesmut, der als gebotene, gesetz-
liche Massenerscheinung auf jedem Blatt der Geschichte
verzeichnet wird, als individueller Entschluß, im Dienst
einer Überzeugung, wider alle herrschende Gewalt, von
allen gewagt würde; wenn das Sterben für die selbst-
gewählte Idee, für die eigene Sache jedem als heilige
Pflicht erschiene. Dann erst könnten wir die Märtyrer
einer dunklen Vergangenheit, die erhabenen Einzelnen
vergessen, deren wir heute mehr denn je bedürfen,
um die Seele der Menschheit nicht zu verlieren.
So gedenken wir heute, in bedeutsamer Bewegung, des
armen tschechischen Bauernsohns Johann Hus, der am
6.- Juli 141 5 zu Kostnitz (Konstanz) während desselben
Konzils verbrannt wurde, das drei Gegenpäpste ab-
setzte, einen vierten Papst erwählte, eine neue Heilige
— Brigitta — schuf, und die Hohenzollern feierlich
mit der Mark Brandenburg belehnte.^
Klerikale Geschichtsschreiber der Gegenwart, wie
Janßen, führen die ganze soziale Revolution des
16. Jahrhunderts auf die Lehre des Johann Hus zurück.
Daran ist richtig, daß die geistige Beweisführung der
Reformation, mit der die sozialen Kämpfe intellektuell
ausgefochten wurden, von Hus übernommen wurde,
wie Hus sich selbst an die Lehren des Engländers
Wiclif anlehnte. Daß die revolutionäre Bewegung der
Zeit in der Maske dogmatischer Ketzereien erschien,
war natürlich nur äußerer Schein. Um Dogmen hätte
124
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man sich niemals die Köpfe gespalten, wenn hinter
ihnen nicht die Lebensfragen kirchlich weltlicher
Macht, weltpolitisch-nationale Konflikte und tiefste
soziale Gegensätze verborgen gewesen wären.
Es ist das Zeitalter der Kirchenspaltung, der Gegen-
päpste. Das Papsttum wird national zerklüftet:
Frankreich, England, Italien, Deutschland ringen um
seine Dienste. Das damalige Papsttum selbst ist der
unersättliche Steuereinnehmer der christlichen Welt.
Er beutet den mittellosen Bürger und den zinsbelaste-
ten Bauern aus. Er nimmt sein Geld und spendet ihm
dafür den Ablaß seiner Sünden. Die Kirche ist eine
mächtige, wirtschaftliche Organisation, unter deren
Ausbeutung die Massen leiden, und die die reifenden
Nationalstaaten als Hemmung empfinden. Die Gegner-
schaft gegen das Papsttum erstarkte zuerst in England,
das den hundertjährigen Krieg mit Frankreich führte
und den mit dem Feinde verbündeten, in Avignon
sitzenden Papst bekämpfen mußte. Dieser Opposition
lieh Wiclif, unter der Duldung und Förderung der
Herrschenden Englands, seine ketzerischen Lehren. Er
berief sich auf die Heilige Schrift, erkannte nur ihre
Gebote an und hob, in schneidender Schärfe, den
Gegensatz christlicher Armut mit dem Reichtum und
der Pracht des Papstes und der Kirche hervor. Damit
griff er den Besitz und das Steuerrecht der Kirche an,
zur großen Genugtuung der weltlichen Gewalthaber,
die damit Anwartschaft auf die kirchlichen Güter er-
hielten. Wiclif entwurzelte auch geistig die Autorität
der Kirche, durch die Aufstellung des Satzes, dem
Hus dann die Prägung gab, „daß ein von Ewigkeit her
Verdammter oder ein in Todsünden Lebender keine
Rechtsgewalt über Christen haben solle". Das war die
fürchterliche Ketzerei, die Hus vor allem den Scheiter-
haufen schichtete. Es war auch in der Tat die Anfech-
tung aller Kirchenmacht. Denn indem er über alle
Hierarchie das christliche Sittengesetz stellte in seiner
125
Reinheit und Ursprünglichkeit, hatte kein Papst und kein
Bischof, übrigens auch kein König und Herzog mehr
Sicherheit und Bestand. Er stand unablässig vor dem
Gericht urchristlicher Sittenlehre und mußte jedem
Volksprediger weichen, der ihm die Verletzung der
christlichen Gebote nachwies. So wurde die öffentliche
Meinung, der schlichte Sinn ernsthafter Christenmen-
schen, die Frömmigkeit der geistig und weltlich Armen,
höchste Autorität und Richter über die herrschenden
Autoritäten — eine höchst demokratische Anschauung.
Wiclifs Lehren drangen nach Böhmen und bildeten
sich dort nach den eigentümlichen wirtschaftlichen,
sozialen und nationalen Verhältnissen um. Böhmen
war im 14. Jahrhundert das wirtschaftlich entwickeltste
Land des deutschen Reiches geworden. Die Silber-
gruben brachten großen Reichtum, belebten Gewerbe
und Wissenschaft, ließen aber auch die sozialen Gegen-
sätze um so schärfer aufeinanderprallen, als sie national
gesondert waren. Die Entwicklung des Landes geschah
durch deutsche Einwanderer, die bald den hohen Klerus,
die Universität — Prag wurde als erste deutsche Uni-
versität nach dem Vorbild von Paris gegründet — den
adligen Grundbesitz, das städtische Patriziat beherrsch-
ten, während die tschechische Urbevölkerung aus den
kleinen Leuten der Städte und den im tiefsten Elend
schmachtenden ausgebeuteten Bauern bestand. Damit
ergab sich, daß die Deutschen rechtgläubig, päpstlich
gesinnt waren, während die Tschechen in Papsttum und
Kirche den Unterdrücker haßten. Die Krone schwankte
und suchte zu vermitteln. Ein Teil des ärmeren Adel«,
den der Kampf gegen den ungeheuren Besitz lockte,
stand zur Opposition. Der Wortführer des ländlichen
und städtischen Proletariats aber wurde Hus.
Johann Hus war am 6. Juli 1373 zu Hussinecz in
Böhmen geboren, als Sohn geringer Bauern. Seine
große Begabung hob ihn empor. Er hungerte sich als
mittelloser Prager Student durch. Mit 27 Jahren ist
126
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er Professor an der Universität, zugleich einflußreicher
Prediger und Beichtvater der Königin. Er ging von
Anfang an von den Satzungen der Kirche zu den Leh-
ren des Urchristentums zurück, wie er sie in der Bibel
fand. Als er dann mit den Schriften Wiclifs bekannt
wurde, bekamen die längst in ihm lebenden Gedanken
Richtung und Form. Er schrieb und predigte nun mit
wachsender Leidenschaftlichkeit und großem Erfolg
gegen Papsttum und Kirche, gegen widerchristlichen
Aberglauben, willkürliche Gebräuche, vor allem gegen
den Ablaß, der nichts wie eine drückende Besteuerung
der Besitzlosen war. Zum ersten tiefgehenden Kon-
flikt kam es über den Machtverhältnissen an der Uni-
versität Prag, die damals eine mächtige Organisation
war und über ioooo Studenten aus aller Herren Länder
zählte. Sie war in vier Nationen gegliedert, von denen
die Tschechen nur eine Stimme hatten. Hus gelang es,
beim König durchzusetzen, daß die böhmische Nation
die Mehrheit der Stimmen erhielt. Darauf verließen
die deutschen Professoren und Studenten — an
5000 Mann — Prag und gründeten 1409 die Universi-
tät Leipzig. Hus wurde nun Rektor der Universität.
Als er Wiclifsche Schriften übersetzte, wurde er auf
Denunziation vor den Erzbischof von Prag, Zbynek
von Hasenberg, geladen, der sich aber mit seiner Er-
klärung begnügte, wenn er aus Übereilung etwas gegen
den christlichen Glauben gelehrt haben sollte, so sei
er bereit, es zu verbessern. Die Katastrophe führte die
Kühnheit herbei, mit der Hus 141 1 gegen den Krieg
und die Kriegsmittel agitierte. Papst Johann XXIII.,
dem man den Beinamen des „eingefleischten Teufels"
gegeben hat, rief die Christenvölker zum Kreuzzug
gegen den König von Neapel auf, der einen der Gegen-
päpste unterstützte. Als die päpstlichen Gesandten
nach Prag kamen und das Volk zur Entrichtung der
Kriegssteuern aufriefen — in der Form des Ablaß —
predigte Hus ungestüm dawider und das erregte Volk
127
entriß den Boten des Papstes die Bulle und verbrannte
sie, nachdem man sie in höhnendem Umzug durch die
Stadt geschleift hatte. Inzwischen war ein neuer Erz-
bischof nach Prag gekommen, wie es heißt, ein Analpha-
bet, der die Prager Begebenheiten dem Papst denun-
zierte. Hus wurde in Bann getan, seine ketzerischen
Lehren verflucht. Der König konnte ihn nicht mehr
schützen. Er verließ Prag, fand Asyl auf den Burgen
adliger Gönner, und predigte furchtlos weiter im Volke.
Im Jahre 1414 berief Kaiser Sigismund jenes Kon-
zil nach Konstanz, das drei Jahre lang die kleine Stadt
am Bodensee zum Heerlager aller Mächtigen in der
Christenheit machte. An hunderttausend Menschen
sollten sich dort versammelt haben: Päpste, Fürsten,
Kardinäle, Bischöfe, Ritter, Gelehrte, Abenteurer,
Handwerker (unter anderen allein 72 Goldschmiede)
und Händler aus allen christlichen Ländern, nicht zu
vergessen die lieblichen Zierden, von denen der Chro-
nist berichtet: „Über 700 öffentliche Dirnen in den
Frauenhäusern und solche, die eigene Häuser gemietet
hatten, dazu noch die heimlichen, deren Zahl man
gar nicht angeben kann."
Das Konzil wollte nicht nur den Streit der Päpste
beendigen, sondern auch die Ketzerei ausrotten. Hus
wurde nach Konstanz geladen. Kaiser Sigismund gab
ihm einen Geleitsbrief. Die Gelehrten streiten sich,
ob dieses freie Geleit nur einen einfachen Reisepaß
darstellte oder ihm Sicherheit für Freiheit und Leben
verbürgen sollte. Jedenfalls war das Konzil der Mei-
nung, daß einem Ketzer überhaupt keine Verpflich-
tungen zu halten seien. Am 3. November 1414 kam
Hus in Konstanz an. Er wurde von einem Ausschuß
verhört, dann für ein halbes Jahr in einem morastigen
Kerker begraben. Am 8. Juni 141 5 wurde er heraus-
geholt, damit er sich vor der Gesamtheit des Konzils
verantworte. Er verteidigte sich mit aller Glut seiner
Überzeugung, in dem Wahn, daß es die Wahrheit gelte,
128
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während doch die Interessen von Anbeginn das Urteil
entschieden hatten. Hus lehnte jeden Widerruf ab.
Das Urteil besagte, „daß, nachdem Johannes Hus als
Schüler und hartnäckiger Anhänger Wiclifs diese und
andere verwerfliche Artikel als katholisch behauptet
und veröffentlicht habe, dieselben aber teils irrig, teils
skandalös, fromme Ohren beleidigend, verwegen oder
aufrührerisch, teils auch notorisch häretisch seien, alle
einzelnen seiner Traktate und Werke verworfen und
verdammt und zur öffentlichen Verbrennung verurteilt4'
seien. Hus selbst wurde als wahren und offenkundiger
Ketzer und Verführer des Volks befunden. Seine geist-
lichen Richter rissen ihm das Priestergewand herunter,
dann übergaben sie ihn der weltlichen Gerechtigkeit.
Auf Ketzerei stand der Feuertod. Das Urteil wurde
sofort vollstreckt. „Hus trug, so erzählt der Konstan-
zer Bürger Ulrich von Richental in seiner Chronik des
Konzils (die unlängst in einer leicht lesbaren Bear-
beitung in Vogtländers „Quellenbüchern" erschienen
ist), eine weiße Bischofsmütze auf seinem Kopfe, auf
der waren zwei Teufel gemalt, und zwischen beiden
stand Heresiarcha, das heißt soviel als Erzbischof aller
Ketzer. Die von Konstanz führten ihn mit mehr als
looo gewappneten Männern hinaus. Infolge des großen
Gedränges mußte man einen Umweg machen, und es
wurden immer mehr der gewappneten Leute, gegen
3000, ohne die unbewaffneten und die Frauen. Auf
der Brücke am Geltinger Tor mußte man die Menschen
zurückhalten, nur truppweise wurden sie über die
Brücke gelassen, weil man fürchtete, daß die Brücke
zusammenbräche. Während er hinausgeführt wurde,
betete er beständig: Jesu Christe, du Sohn des leben-
digen Gottes, erbarme dich meiner. Als er auf das
äußere Feld kam und das Feuer, Holz und Stroh be-
merkte, fiel er dreimal auf seine Kniee und sprach
laut : Jesu Christe, du Sohn des lebendigen Gottes, der
du für uns gelitten hast, erbarme dich meiner. Da-
9 Bisner, GMimtuelt« Schriften. I.
129
nach fragte man ihn, ob er beichten wolle. Er sprach :
gern, obgleich es hier sehr enge ist. Es war ein Priester
da, Ulrich Schorand. Dieser ging zu Hus hin und
sprach zu ihm : Lieber Herr und Meister, wollt Ihr dem
Unglauben und der Ketzerei, um derentwillen ihr >
leiden müßt, entsagen, so will ich gern eure Beichte
hören. Wollt Ihr das aber nicht tun, so wißt Ihr selbst
wohl, daß -in den geistlichen Vorschriften steht, daß
man keinem Ketzer die Beichte hören soll. Da er-
widerte Hus : Es ist nicht nötig, ich bin kein Todsünder.
Als er darauf anfangen wollte, deutsch zu predigen,
wollte das Herzog Ludwig nicht leiden und befahl, ihn
zu verbrennen. Da ergriff ihn der Henker und band
ihn in seinem Gewand an einen Pfahl. Er stellte ihn auf
einen Schemel, legte Holz und Stroh um ihn herum,
schüttete etwas Pech hinein und brannte es an. Da be-
gann er gewaltig zu schreien und war bald verbrannt.
Es entstand aber der schlimmste Gestank, den man je
riechen konnte, denn der Kardinal Pankrazius hatte sein
Maultier, nachdem es an Altersschwäche gestorben war,
dort «begraben lassen. Infolge der Hitze tat sich die
Erde auf, so daß der Gestank herauskam. Dann führte
man alles, was man von der Asche fand, in den Rhein."
Die Legende fügt hinzu, daß ein Bäuerlein und ein
altes Weib herbeigehastet sei, um eine Tracht Holz
zu dem Scheiterhaufen beizusteuern Da habe Hus weh-
mütig gerufen: O sanete simplicitas! Heilige Einfalt!
Es war aber vergebens, die Asche in den Rhein zu
streuen, damit nichts von dem Ketzer übrig bliebe.
Soll man ihn doch auch deshalb an seinem Geburtstag
verbrannt haben, damit symbolisch auch seine Geburt
ausgetilgt werde. Von dem Scheiterhaufen waren
dennoch Funken über die Lande geflogen; die ent-
zündeten jenen Volkskrieg der Hussiten, einen Bauern-
aufstand, der von Böhmen aus mit schrecklicher Wild-
heit verheerend über Deutschland brauste.
Juli 1915.
130
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Die Angst der Toten
Ihr wißt alle, wenn ihr es auch nicht glaubt, daß
alljährlich das Christkind einmal auf die Erde kommt,
um den artigen Kindern zu bescheren. Das ist nun
gar nicht so leicht. Denn wer ist artig? Woher soll
das Christkind das so sicher wissen?
Heuer gelangte das Christkind, als es herabflog, wie
es der Zufall und die Windrichtung wollte, zuerst
nach Deutschland.
„Seid ihr auch artig dieses Jahr gewesen ?" erkun-
digte sich das Christkind.
„O, wir waren mehr wie artig, wir waren groß",
rief man durcheinander.
„Was ist das groß?" — fragte das Christkind; denn
es verstand die meisten menschlichen Worte nur
schlecht, und es war ihm schon früher bisweilen so
vorgekommen, als ob die Menschen die guten oder
dunklen Worte immer dann gebrauchten, wenn sie
etwas Böses verstecken wollten.
„Wir haben alle Feinde, die uns überfielen, mit ge-
waltiger Faust zurückgeworfen," rühmten sie sich.
„Ich kenne nur gute und schlechte Menschen, keine
Feinde", sagte das Christkind, das altmodisch von den
Feinheiten und Mischfarben der modernen Psycho-
logie keine Ahnung hatte. „Ich gehe zu allen Menschen,
die gut sind."
Aber die Leute hörten in ihrem Eifer gar nicht auf
den Einwand, sondern fuhren begeistert fort: „Die
Leichen türmen sich berghoch vor unseren Draht-
hindernissen. (Das verstand nun das Christkind wieder
nicht, niemals hatte es von Drahthindernissen ge-
9'
131
hört, aber es schwieg, weil man doch nicht zuhörte!)
Mit unsern Handgranaten zerschellten wir die Köpfe
unserer Feinde. Dabei waren wir gerecht und mensch-
lich, tapfer und barmherzig. Wir haben aber auch die
bravsten Soldaten, die gediegenste Organisation, die
tüchtigsten Offiziere, die genialsten Feldherrn, die
wundervollste Industrie und die opferfähigste Land-
wirtschaft — von unseren Staatsmännern, Ministern,
Fürsten ganz zu schweigen. Wir sind das Salz der Erde.
An deutschem Wesen soll die Welt genesen. Und wir
werden einen Frieden machen, einen Frieden, der uns
und die Menschheit vor der Wiederkehr solcher Greuel
schützen soll."
Abermals begriff das Christkind nicht, warum sich
die Leute so begeisterten über etwas, was sie selber
doch Greuel nannten und nicht wünschten, daß es
wiederkäme. Aber es faßte sich ein Herz und sagte,
wenn auch seufzend und ziemlich beklommen :
„Ich sehe, ihr seid in der Weise artig gewesen, daß
ihr gar nicht gewartet habt, bis ich komme und den Ge-
rechten beschenke und an den Ungerechten vorüber-
gehe. Ihr habt den Ungerechten selber bestraft und
euch genommen, was euch gut schien — "
„Erlaube", unterbrachen die Menschen, etwas un-
willig, „du willst doch nicht etwa sagen, daß Okku-
pation und Kontribution gegen das Völkerrecht sei.
Das ist alles genau so geschehen, wie es im Haag verein-
bart. Haben wir nun noch die Freiheit der Meere,
dann ist die ganze Welt frei . . ."
Das Christkind aber war juristisch zu ungebildet,
um darüber eine begründete Meinung zu haben und
fuhr in seinem kleinen, einfachen Gedankengang fort:
„Das mag alles sein. Aber es ist doch Eigenlob, was
ihr über euch sagt. Und Eigenlob, habt ihr mich früher
gelehrt, soll man nicht glauben. Ich will also erst die
andern fragen, ob das auch wahr ist, wessen ihr euch
berühmt. Laßt mich, ehe ich meine Geschenke aus-
13*
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breite, erst einmal geschwind zur Nachprüfung nach
England fliegen."
Das gab einen Heidenlärm unter den artigen deut-
schen Kindern. Gott strafe England, schrien sie
durcheinander, das Christkind würde doch nicht
fragen, diese rohen Geschöpfe des perfiden Albion,
diese Weltbrandstifter, diese Lügner, Heuchler, diese
geldgierigen Krämer mit den steinernen Herzen,
diese . . .
„Genug," rief das Christkind, „ihr meint also, daß
die drüben ganz gewiß nicht artig gewesen, daß sie
auch keinen Glauben verdienen — aber an wen soll
ich mich da wenden ?"
„Vielleicht fragst du den Türken, das sind unsere
guten ehrlichen Freunde, brave Menschen, und sagen
die Wahrheit. Bei denen erkundige dich, ob wir recht
gesprochen."
„Das wird nicht gut gehen," sagte das Christkind ein
wenig verlegen, „denn die Türken sind doch gewisser-
maßen keine Christen. Die wollen von mir nichts
wissen. Die glauben nicht einmal an mich. Doch
halt, — es gibt ja auch in der Türkei Christen, ich
will die Armenier fragen — "
„Nein, das geht auch nicht" — meinten die Leute.
„Sind denn die auch schändlich," fragte das Christ-
kind.
„Das nicht," antworteten die andern stockend, „es
sind wohl gute Christen, richtiger gesagt, es waren
gute Christen. Jetzt sind sie nicht mehr vorhanden."
„Schrecklich" — ächzte das Christkind —„wo sind
sie geblieben ?"
„DieTürken haben sie nicht mehr brauchen können."
„Und da behauptet ihr, die Türken seien gute Men-
schen!" rief das Christkind fast zornig. „Jetzt glaube
ich kein Wort mehr und nun fliege ich gerade zu den
Engländern."
Im Fluge hörte es noch aus der Ferne, wie man ihm
133
— wohl zur Entschuldigung — zwei geheimnisvolle
Worte nachrief: „Politische Notwendigkeit."
Die Engländer waren sehr erfreut, als das Christ-
kind kam, und es wurde mit vielen Ehren aufgenommen.
Dann erzahlte es, was die Deutschen von sich Löb-
liches gesagt und fragte, ob sie das bestätigen könnten.
Da brach eine wirkliche Wut aus: „Wie konnten
Sie, Miß Christkind, überhaupt nur zu diesen Deutschen
kommen. Die schonen weder Weib und Kind, sie
brechen jedes Gesetz und zerreißen jeden Vertrag.
Sie sind grausam, gefräßig, die reinen Barbaren. Sie
wollen sich mit ihrem Militarismus die ganze Welt
unterjochen. Deshalb haben sie diesen entsetzlichen
Krieg angefangen."
„Aber ihr seid dann mit in den Krieg gegangen,"
meinte das Christkind, „warum tatet ihr das ?"
„Weil wir die Freiheit der Welt verteidigen, für das
Recht kämpfen, weil wir die mächtigen Schützer der
Kleinen und Schwachen sind — "
„Das ist ein großer Ruhm, das ist edel," sagte das
Christkind. „Aber leider seid ihr nur ihr selbst es,
die sich so loben. Und man hat mir gesagt, daß ihr
lügt. Ich will erst einen Unparteiischen befragen."
Damit wollte es fortfliegen. Aber es wurde plötzlich
mit harten Fäusten festgehalten und bis auf die Seele
untersucht; selbst unter den Flügeln schauten sie nach.
Und man nahm ihm alle Geschenke fort, da sie alle
auf der Liste der verbotenen Waren standen. Es konnte
noch froh sein, daß man ihm die Flügel nicht abschnitt ;
denn einer hatte gemeint, die werde man in Deutsch-
land für den Luftkrieg beschlagnahmen. Schließlich
ließ man ihm die Flügel und das Christentum, weil
das doch dem Feinde nichts nützen würde.
„Nun hat es eigentlich keinen Zweck mehr, daß ich
weiterfliege", dachte das Christkind traurig, da sie
mir die schönen Geschenke abgenommen haben. Aber
134
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ich möchte doch wenigstens erfahren, wo die guten
Menschen, die artigen Kinder sind."
Und es flog nach Frankreich, Belgien, Österreich,
Serbien, Italien, Rußland, und überall hörte es das-
selbe, daß die andern Mörder, Verräter, Rechtsbrecher,
Bestien seien und schuld am Krieg, sie selbst aber wun-
derbare Helden der Freiheit, Gerechtigkeit, Mensch-
lichkeit. Die Fahrt war dabei auch sonst noch un-
behaglich. Immer wenn es über eine Kirche flog,
schössen die auf den Türmen aufgestellten Kanonen
auf das arme Christkind. Als es über die österreichische
Grenze wollte, verlangte man von ihm das Manuskript
der Ansprache, die es zu halten gedächte. Und in Frank-
reich wurde es von tausend Zeitungsschreibern um-
stellt, die Stimmungsbilder von den Feinden zu haben
wünschten.
Todmüde, ganz verzagt, wollte es schließlich den
letzten Versuch machen, Zeugen der Wahrheit zu
finden. Und es schiffte sich auf einem großen Ozean-
dampfer ein, um über das Meer zu fahren — denn
Christkinds Flügel waren arg zerschossen — zu Men-
schen, bei denen kein Krieg war. Das Schiff aber wurde
unterwegs von einem Torpedo getroffen und sank. So
kam das Christkind schwimmend zu den Menschen in
Amerika, die sich Neutrale nannten. Aber es war auch
hier unmöglich, die Wahrheit zu erfahren. Denn hier
befehdeten sich die Menschen wild untereinander, und
warfen sich gegenseitig vor, daß sie die Neutralität
verletzten und den grauenhaften Krieg verlängerten.
„Ihr liefert den Engländern, Franzosen, Russen um
sehnöden Gewinns Waffen und tragt so Schuld, wenn
das Morden nicht endet" — sagten die einen.
„Wie ? Wollt ihr etwa, daß die eine Partei wehrlos
werde und so auf Gnade und Ungnade dem Feinde
ausgeliefert wird. Ist das neutral? Heißt das nicht
vielmehr Mörder privilegieren, indem man die Opfer
entwaffnet!" — antworteten die andern.
135
So ging der Streit hin und her, und das Christkind
vermochte mit seinem kleinen Verstand nichts anderes
zu erkennen als diese traurige Einsicht : Entweder lügen
sie alle und verleumden — dann sind sie allesamt ab-
scheulich. Oder sie sagen die Wahrheit, dann sind sie
erst recht, nach ihren Beschuldigungen, des Teufels.
Und es war ganz zwecklos, daß es im ersten Eifer in
Amerika neue Geschenke eingekauft — für das Geld,
für das es einem Milliardär und Groß-Schaubuden-
unternehmer auf seine inständigen Bitten hin die Ra-
rität seiner zerschossenen Flügel überlassen hatte.
Was sollte es nun mit all den schönen Christkinds-
gaben anfangen, wenn niemand auf Erden der Spenden
würdig war ? Wenn alle sich gegenseitig bezichtigten,
Abschaum und Unflat zu sein ? Zum Himmel mochte
es nicht mehr zurückkehren, so schämte es sich; denn
es hatte früher immer gutgläubig liebliche Geschich-
ten von den holden Menschenkindern oben erzählt.
O wie dumm war es gewesen! Zudem konnte es ja
auch gar nicht mehr in den Himmel, weil es seine Flügel
verkauft hatte. Da beschloß das Christkind, ins Reich
der Toten zu wandern.
Und es ging in die Nacht der Nächte, weitfern in
die unendlichen Tiefen unter der Welt, wo die Schatten
ihre ewige Heimat finden.
Dorthin kam es. Aber es war gar nicht finster und
kalt. Zwischen Blumen in matt und mild schimmern-
dem Glänze wallten die Schatten. Es waren aber Schat-
ten, die sonderbar anzusehen waren. Es waren wie
Entkörperungen zerrissener Menschen. Dem einen
fehlten die Beine, dem andern wuchs statt des Kopfes
ein brüchig Gebinde von Splittern. Manche schleppten
ihre Eingeweide hinter sich, wie Ketten, und viele
umkrallten durchbohrte Herzen mit verstümmelten
Fingern. Und diese Schatten, diese Trümmer von
Schatten, in allen Menschenfarben — weiß, braun,
schwarz, gelb, rot — wanderten friedlich und liebreich
136
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miteinander. Und jeder versachte dem andern die
Glieder wieder zu heilen, die er ihm einst verstümmelt
hatte. Feind fand sich zu Feind und jeder gab dem
andern zurück, was er ihm auf Erden genommen. Sie
umarmten sich in hegender Liebe und trösteten sich
mit linden Worten. Und es war ein Glück und eine
Heiterkeit unter ihnen, wie es das Christkind niemals
noch bei den lebenden Menschen gefunden.
Da wußte das Christkind endlich, wen es mit Recht
beschenken dürfte. Hier war das Reich der guten
Wesen. Aber die in Amerika gekauften Gaben taugten
ihnen nicht. Es besaß insgeheim eine köstlichere Spende,
die auch die Späher der Bannware nicht hatten ent-
decken können: Die Kraft der Erfüllung! Und es trat
mitten unter die Schatten und sprach zu ihnen: „Ihr
lieben, lieben Kinder ! Seid getrost, ich bin gekommen,
um euch für alle eure Leiden zu entschädigen. Ich
schenke euch das Beste, was ich zu geben habe: Das
Leben — das Leben freudiger, gesunder, friedlicher
gütiger und schaffender Menschen. Werdet, wie ihr
hättet sein sollen! . . . Lebet! . . .
Wie das die Schatten vernahmen, drang Entsetzen
in sie. Sie umklammerten sich untereinander, als ob
sie ein wildes Geschick trennen wollte. Dann aber
flehten sie zu dem Christkind: „Nimm uns lieber
alles, aber eines nur, Barmherzige, schenke uns nicht :
das Leben!"
„Toren," sagte das Christkind, ihr wolltet dem ein-
zigen Glück widerstreben ? Was verwirrte euch also ?"
Einer von den Schatten aber trat hervor und sagte in
zitternder Furcht: „Weil wir wieder einander dann
Feind sein würden — "
„Aber ihr sollt ja nicht Feind mehr euch werden.
Jetzt wißt ihr doch, daß ihr miteinander hausen könnt
— in Frieden. Bleibt oben so, wie ihr hier unten ge-
worden !"
137
„Das gerade ist unmöglich" — sagte der Schatten
düster, voll Qual.
„Und warum wollt ihr wieder Feinde sein ?" fragte
das Christkind.
„O, niemand will es, aber man wird es uns be-
fehlen . . ."
Da breitete das Christkind seine Arme weit aus und
sprach :
„So schenke ich euch denn eine andere Gabe. Ich
erlöse euch von der Angst der Toten, wieder
leben zu müssen. Ihr dürft in eurem Frieden
wallen — in alle Ewigkeit furchtlos tot . . .
Weihnachten 191 5.
138
Hat es ein Sozialistengesetz gegeben?
Aus den Kriegsofienbarangen des St. Sylvester.
Ein Parteigenosse, der sich zur Zeit mit besonderem
Eifer auf allen Gebieten menschlichen Wissens und
Geschehens die Aufklärung des deutschen Proletariats
angelegen sein läßt, sendet uns, wie er selbst schreibt,
in vorgerückter Stunde des Umlernens den folgenden
Beitrag. Er wird vielleicht im ersten Augenblick diesen
oder jenen befremden, aber es bedarf nur ein wenig
Ausdauer und Geduld, dann wird man sich auch daran
gewöhnen. Unser Mitarbeiter schreibt uns also:
Zu den hartnäckigsten Lügen, mit denen die Welt
unserer Feinde die Zustände in unserem deutschen
Vaterlande verleumdet, gehört auch die Behauptung,
daß die deutschen Arbeiter zwölf Jahre lang durch ein
Ausnahmegesetz — das Sozialistengesetz — verfolgt,
gehetzt worden seien. Auch in diesem Falle müssen
wir leider bekennen, daß wir selbst in früheren Zeiten
durch unser Verhalten dem feindlichen Ausland An-
laß gegeben haben, solche törichte Einbildungen in
sich aufzunehmen und dadurch ihre angeborene Un-
wissenheit über deutsche Verhältnisse noch zu steigern.
Und solche Vorstellungen sind nicht ungefährlich;
denn sie sind geeignet, die Mächte der Entente in ihrem
Wahn zu erhalten, daß das deutsche Proletariat nicht
geschlossen zur Sache der Nation stehe, und damit
tragen solche Legenden zur Verlängerung des Krieges
bei. Mithin ist es hohe Zeit und ernste Pflicht, unseren
Friedenswillen auch dadurch zu bekunden, daß wir
endlich mit der Fabel vom Sozialistengesetz auf-
räumen, das es niemals gegeben hat und dessen Existenz
lediglich in der Phantasie von Reuter und Havas be-
139
gründet, eine systematische Irreführung, die freilich,
wie schon erwähnt, durch gewisse polemische Unsitten
unserer Partei — in einer glücklicherweise nunmehr
überwundenen Vergangenheit — begünstigt wurde.
Schon das geringste Nachdenken müßte den Unsinn
der Behauptung offenbaren, daß die deutsche Regie-
rung und der deutsche Reichstag im Jahre 1878 die
deutsche Arbeiterschaft mit einem ausnahmegesetz-
lichen Krieg auf Tod und Leben überfallen haben.
Wäre es nicht heller Wahnsinn gewesen, wenn die paar
Regierenden und die verhältnismäßig wenigen An-
gehörigen der besitzenden Klassen — deren geringe
Zahl wir Sozialdemokraten ja gerade in unserem nach
wie vor unveräußerlichen Programm betonen — die
riesige Übermacht der Millionen von Besitzlosen hätten
angreifen wollen? Sie wären ja in ihr eigenes Ver-
derben gelaufen. Dazu kommt die politische und wirt-
schaftliche Lage, in der sich das Deutsche Reich befand,
um derlei Pläne für die Regierung als geradezu toll-
häuslerisch, national selbstmörderisch erscheinen zu
lassen. Man denke: Das deutsche Reich, kaum erst
aus dem Kriege zurückgekehrt, notdürftig zurecht ge-
zimmert, ewig bedroht von dem Erbfeind im Westen,
der Tag und Nacht unablässig auf seine Revanche sann.
Sollte man den zum Angriff reizen, indem man im
eigenen Lande den Bürgerkrieg entfesselte ? Aber
weiter: kann wirklich irgend jemand auch der verblen-
detsten Regierung zutrauen, daß sie in einer Zeit, da
Deutschland erst mühselig begann, seine Industrie
gegenüber der englischen Ubermacht zu entwickeln,
die deutsche Wirtschaft zum Tode verurteilen würde,
indem sie die produktiven Kräfte der Industrie, die
Arbeiter, niederwarf, aus dem Lande trieb? (Und es
gehört ja zu diesem geschichtlichen Ammenmärchen,
zu erzählen, daß die deutschen Arbeiter sogar aus dem
Reiche ausgewiesen wurden, die man wahrhaftig nötig
genug dort brauchte.)
140
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Endlich genügt ein Blick auf die damalige innere
Lage, um den letzten Rest des Glaubens an jene ein-
fältige und tückische Dichtung zu verlieren. Den
Fürsten Bismarck nannte man zwar den Allmächtigen.
Tatsächlich aber hatte er niemals eine zuverlässige
Mehrheit hinter sich. Die Mehrheit des Reichstags
stand in offener oder geheimer Opposition gegen ihn.
Insonderheit war es doch völlig undenkbar, daß die
ausschlaggebende Partei, die Liberalen, die Axt an
die Wurzel derselben Verfassung hätten legen sollen,
die sie selbst kurz zuvor geschaffen hatten.
Und was hätte man erreichen wollen ? Es ist richtig,
es gab eine kleine Gruppe verrannter Arbeiterfeinde,
welche unausgesetzt die Arbeiterbewegung lästerte
und verfolgte. Sie betrachteten die Arbeiter als Sklaven
und jede politische oder wirtschaftliche Betätigung
der Arbeiter war ihnen ein Greuel. Aber diese Hand-
voll Reaktionäre war ohne jeden Einfluß auf die Re-
gierung und die Parteien des Reichstages. Ja gerade in
jenen Jahren hatte sich ja der Umschwung vom Man-
chestertum zum Schutz der nationalen Arbeit voll-
zogen. 1876 war das Hilfskassengesetz zustande ge-
kommen. Die Kathedersozialisten waren seit ihrer
1872 erfolgten Organisation in wachsendem Einfluß
begriffen. Und wie Bismarck persönlich dachte, das
wußte man ja hinlänglich aus seinen Beziehungen zu
Lassalle, aus jenem Kampf gegen die Liberalen, denen
einst das Organ des Ministerpräsidenten, die Nord-
deutsche Allgemeine Zeitung, den Satz entgegen-
geschleudert hatte: „Möge der Arbeiterstand einer
Bourgeoisie, welcher es zu wohl ist, überlassen, sich
auf das Glatteis dieses Experiments einer parlamenta-
rischen Regierung zu begeben, möge er aber auch end-
lich einsehen lernen, daß für ihn selbst von diesen
„Volksrechten" nichts anderes abfallen werde, als die
Freiheit — zu darben." Und ein Mann, der so dachte,
sollte der Bourgeoisie, von der noch dazu bloß ein kleines
Mi
Häuflein so arbeiterfeindlich gesinnt war, das Prole-
tariat geknebelt ausliefern? Lächerlich, dergleichen
auch nur zu träumen.
Aber, wird man einwenden, es muß doch irgend
etwas damals geschehen sein, denn ganz ohne Feuer
ist doch kein Rauch. Der wahre Kern des üppigen
Lügengewebes ist kurz folgender: Es hat sich damals
in der Tat etwas ereignet, nur das Umgekehrte von
dem, womit man das Ausland noch heute die leicht-
gläubigen und betörten Völker vor Deutschland grau-
lich zu machen sucht. Die Staatsgewalt hat keinen
Überfall auf die Arbeiter unternommen, vielmehr
sah sich der Staat in der Notwehr genötigt, im Inter-
esse seiner Selbsterhaltung, zur Verteidigung seiner
Kultur, gegen eine kleine Organisation verblendeter
Menschen einzuschreiten, von Kaisermördern, die
durch Verbrechen die staatliche Ordnung auflösen,
die Sicherheit von Person und Eigentum zerstören
wollten. Die Attentate von Hödel und Nobiling
ließen kein anderes Mittel der Abwehr übrig, als den
Ausbau der Straf gesetzgebung zur Sicherung gegen
die Gefahr, daß sich solche Überfälle jemals wieder-
holen könnten. Diejenigen, die heute noch meinen,
der Reichstag hätte damals dieses Mittel der Regie-
rung verweigern sollen, sind sich wohl nicht recht klar
darüber, was entstanden wäre, wenn die Mordtaten
sich fortgesetzt hätten und sie selbst die Opfer solcher
verbrecherischer Angriffe geworden wären. Da-
gegen schritt mit Recht die Staatsgewalt ein, und
es handelte sich dabei so wenig um ein Ausnahme-
gesetz, daß im Gegenteil, ohne jedes Ansehen der Per-
son und der Parteiüberzeugung, gleichmäßig alle
betroffen wurden, die sich die vom Gesetz bedrohten
Straftaten zuschulden kommen ließen. Es mag zu-
gegeben werden, daß in gewissem Grade auch die
Meinungsfreiheit eingeschränkt wurde, aber heute
wird niemand mehr im Zweifel sein, daß dieMeinungs-
142
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freiheit nur eine jener prinzipiellen Flausen ist, die
hinweggefegt werden, sobald sie bei ernsten Kämpfen
sich als störend erweisen.
Nun wissen wir allerdings, daß die Behauptung auf-
gestellt worden ist, weder Hödel noch Nobiling hätten
irgend etwas mit der Arbeiterbewegung zu tun gehabt.
Von Hödel wurde sogar gesagt, er hätte überhaupt
nicht geschossen, sondern nur durch blindes Knallen
die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen. Um den
letzteren haarstäubenden Unsinn zu widerlegen, ge-
nügt die eine Feststellung, daß ein preußisches Ge-
richt ihn zum Tode verurteilt, ein preußischer Scharf-
richter ihn geköpft hat! Ebenso steht es mit der Er-
zählung, die damalige Sozialdemokratie hätte keine
Beziehung zu den Verbrechern gehabt. Ja, glaubt
denn irgendein normalsinniger Mensch, eine Persön-
lichkeit wie Bismarck, der Schöpfer des Deutschen
Reiches, wäre imstande gewesen, öffentlich die Un-
wahrheit zu sagen ? Und Bismarck hatte immer wieder
Hödel und Nobiling als Sozialdemokraten festgestellt.
Wie antwortete doch Bismarck am 17. September 1878
auf den Ruf „Ihr seid gewarnt": „Wovor denn ge-
warnt? Doch vor nichts anderem, als vor dem nihi-
listischen Messer und der Nobilingschen Schrotflinte.
Ja, meine Herren, wenn wir in einer solchen Weise
unter der Tyrannei einer Gesellschaft von Banditen
existieren sollen, dann verliert jede Existenz ihren
Wert." Wagt es jemand, einen Bismarck Lügen zu
strafen ?
Sollte aber noch irgendein Zweifel bestehen, ob
sich nicht Bismarck vielleicht doch geirrt habe, so wird
er für immer beseitigt durch die Tatsache, daß noch
im Jahre 191 5, mitten im Weltkrieg, der Berliner Histo-
riker Professor Otto Hintze, der trotzdem nicht ein
Beiträger des Buchs der Zwanzig geworden ist, in sei-
nem Buch „Die Hohenzollern und ihr Werk" feststellte:
„Beide Verbrecher, ein Klempnergeselle und ein
143
Literat, waren. Anhänger der Sozialdemokratie,
beide haltlose, verkommene Naturen, die aus eigenem
Antriebe gehandelt hatten, ohne Verschwörung und
Mitschuldige. Aber der zuchtlose Geist einer
revolutionären Bewegung sprach doch deut-
lich genug aus diesen Mordtaten ?"
Das war's. Gegen diesen zuchtlosen Geist mußte
die Staatsgewalt, wenn sie sich nicht selber aufgeben
sollte, einschreiten. Die Regierung tat ihre Pflicht
und sie scheute dabei keine persönliche Gefahr. Rief
doch Bismarck in jener Rede, in der er die Verant-
wortung für die gesetzlichen Maßnahman stolz über-
nahm, mit unerschrockenem Todesmut aus: „Daß
bei der Gelegenheit vielleicht einige Opfer des Meuchel-
mordes unter uns noch fallen werden, das ist ja sehr
wohl möglich, aber jeder, dem das geschehen könnte,
mag eingedenk sein, daß er zum Nutzen, zum großen
Nutzen seines Vaterlandes auf dem Schlachtfeld der
Ehre bleibt!"
Das ist die Mär vom Ausnahmegesetz! Straf be-
stimmungen wider den Geist nihilistischer Messer und
Nobilingscher Schrotflinten! Das ist alles. Und daraus
hat man jene ungeheuerliche Fabel gemacht, daß
zwölf Jahre lang die deutschen Arbeiter geächtet und
niedergehetzt worden wären — jene Fabel, mit der
noch heute die neutralen und offenen Feinde Deutsch-
lands gegen uns krebsen.
Sylvester 191 5.
144
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Zusammenbruch !
Ein Jahrwendgespräch.
Der Realist. Endlich, mein Lieber, wenn du das
Ergebnis auch dieses zweiten Kriegsjahres auf dem
letzten Blatt deines Abreißkalenders vermerkst, wirst
du wohl gestehen müssen, wie sehr du dich geirrt, als
du den nahen Zusammenbruch der kapitalistischen
Gesellschaftsordnung prophezeitest .
Der Phantast. Du irrst! Vor dem Kriege habe
ich allerdings in ungezählten Reden die Zusammen-
bruchs-Jeremiasse verspottet und gerade ungekehrt
dargelegt, daß ich nirgends auch nur den Beginn einer
Zersetzung, geschweige eines Zusammenbruchs zu
erkennen vermöchte. Jetzt aber hat der Krieg meinen
Wahn geheilt. Das kapitalistische System ist zusammen-
gebrochen, fürchterlicher, jäher, als irgend jemand ver-
muten konnte.
Der Realist. Heiteres in ernster Zeit — wie die
Kriegsberichterstatter ihre Fabeln zu benennen pflegen.
Du scherzest aber ein wenig grotesk! Der Kapitalis-
mus zusammengebrochen? Gerade jetzt, in dem
Augenblick, da er das größte Wunder seiner organi-
satorischen Kraft, seiner unerschöpflichen Lebens-
fähigkeit geleistet hat —
Der Phantast — das recht alte Wunder, meinst
du, daß der Krieg den Krieg ernährt und die Friedens-
bezirke im Kriege obendrein —
Der Realist. Alt oder neu, jedenfalls ist nichts
von dem eingetroffen, was ihr zuvor zu verkündigen
liebtet —
Der Phantast — ich habe niemals zuvor von dem
io Eisner, Gesanunelte Schriften. I.
145
verkündigt, was du jetzt aufzählen willst: Daß mit
dem Ausbruch des Krieges die ganze Industrie zum
Stocken kommt, daß hungernde Arbeitermassen brot-
schreiend die Straßen der Hauptstädte erfüllen. Ich
liebte es im Gegenteil, auf die industriefördernden
Erfahrungen des amerikanischen Bürgerkrieges und
des russisch-japanischen Krieges hinzuweisen.
Der Realist. Mag sein! Wenn du es nicht tatest,
sprachen und schrieben doch alle andern so. Und die
Wirklichkeit zeigt das Gegenteil. Die Industrie blüht
nach 17 Kriegs monaten. Es fehlt an Arbeitern. Es
gibt keine Arbeitslosen, keinen Hunger. Ist das Zu-
sammenbruch ?
Der Phantast. Ich gesteh dir noch mehr zu. Es
sind neue märchenhafte Reichtümer in dieser Zeit auf-
gewuchert. In Berlin sieht man förmlich auf der Straße
den jungen Kriegsreichtum wachsen — freilich nur im
Westen.
Der Realist. — Und das nennst du Zusammen-
bruch!
Der Phantast. In vollster Klarheit heiße ich das
Zusammenbruch. Was uns als existierend, blühend,
erstarkend erscheint, ist nur ein böser Traum, ein
geistiger Dämmerzustand.
Der Realist — der reine selige Calderon — das
Leben ein Traum . . .
Der Phantast. Das Leben ist kein Traum, aber
wir verwirren es mit den Traumgespenstern schlimmer
Nächte . . . Doch antworte mir, Mann der Tatsachen,
ist es nicht wahr, daß wir vor dem Kriege in allen Par-
lamenten um jeden Pfennig feilschen mußten, der für
Zwecke höherer Kultur, besserer Menschenwohlfahrt
gefordert wurde ? Schallte uns nicht immer das Wehe-
wort der „Finanzlage" entgegen, die es den Regie-
rungen leider unmöglich machte, diesen oder jenen
an sich wünschenswerten Forderungen mehr wie
Sympathien zu schenken! Aus der verzweifelten
146
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„Finanzlage" ist plötzlich über Nacht die unendliche
„Finanzkraft" geworden. Man hat erst neulich Wahlen
gegen uns zu machen versucht, indem man den schau-
dernden Wählern vorrechnete, daß allein unsere An-
träge zur Reichsversicherungsordnung jährlich eine
Mehrbelastung von 100, 200, 300 Millionen — die
Höhe der errechneten Summe ist gleichgültig — er-
fordert hätten, wenn wir die Macht gehabt hätten, sie
durchzusetzen. Jetzt spielen 10, 20, 40, 100 Milliarden
keine Rolle mehr —
Der Realist. Das ist es eben, erst der Krieg hat
uns endlich offenbart, wie reich wir in Wirklichkeit
sind, welche Möglichkeiten der Kapitalismus zu ent-
falten vermag.
Der Phantast. Aber in dem Augenblick des
Friedens schrumpfen diese Möglichkeiten wieder
völlig zusammen, noch mehr wie zuvor. Dann haben
wir statt der Finanzkraft wieder Finanzlage.
Der Realist. Unvermeidliche Kriegsfolgen! Das
liegt in der Natur der Dinge . . .
Der Phantast. Allerdings, das liegt in der Natur
der kapitalistischen Dinge. Aber wagen wir diese
Natur zu erkennen. Das kapitalistische System ver-
hindert also, für den Aufbau neuer Kulturwerte, für
produktive Zwecke, für Mehrung und Erhöhung des
Lebens die notwendigen Mittel zu finden, es gibt aber
unendliche, in der Tat unerschöpfliche Mittel her,
um Kulturwerte zu zerstören, Leben zu verderben
und zu vernichten. Das ist der Wahnsinn schlechthin,
eine grauenhafte Teufelsposse. Das Wort „Zusammen-
bruch" ist noch viel zu milde, um die ganze Ungeheuer-
lichkeit dieser Selbstvernichtung, Selbstverbrennung
zu kennzeichnen.
Der Realist. Wenn es sich um äußerste Daseins-
notwendigkeiten der Nation handelt, zeigt der Ka-
pitalismus die gewaltige Kraft, seine Sicherheit und
seine Zukunft zu beleihen. Wenn dieser Krieg so
XO»
147
glänzend auf Kredit geführt werden kann, so beruht
die Grenzenlosigkeit dieses Kredits nicht nur auf dem
Vertrauen zum Krieg, sondern hauptsächlich auf
dem Vertrauen zur Lebensfähigkeit der kapitalistischen
Ordnung. Wir führen den Krieg gleichsam mit der
in Geld umgesetzten Zuversicht, daß der Kapitalis-
mus nicht zusammenbrechen wird, noch lange nicht,
vielleicht niemals.
Der Phantast. Du erinnerst zur rechten Zeit an
einen weiteren Wahnsinn: Zerstörung, die dadurch
möglich wird, daß die Produktionsmittelbesitzer ihre
Waren im Ausverkauf auf Kredit hergeben, denen man
durch neue Anleihen die Zinsen zahlt, in der Hoffnung,
daß künftig die Massen von der keuchenden Arbeit
ganzer Geschlechter die Ansprüche der Zinsgläubiger
befriedigen werden. Ein Weltkrieg auf kapitalistischen
Kredit, das heißt: Arbeit, Güter, Leben zerstören, für
Einzelne Gebirge von Reichtümern auftürmen, für die
Völker aber Siechtum, Verkrüppelung, Tod und zin-
sende Steuerknechtschaft in alle Zukunft. Läßt sich
überhaupt ein System menschlicher Ordnung denken,
das derart wider alle Vernunft, wider alle Zweck-
mäßigkeit ist ?
Der Realist. Die Geschichte der Menschheit ist
kein Rechenexempel der Vernunft.
Der Phantast. Danach scheint das Unwirkliche,
das Phantastische die Vernunft zu sein, und der kluge,
scharfe Sinn für das Tatsächliche gleichbedeutend mit
dem Vernunftlosen.
Der Realist. Es steckt schon Vernunft in den Din-
gen, nur tiefer verborgen, schwerer herauszuholen.
Hast nicht auch du schließlich ein Gefühl für die große
Vernunft des Kapitalismus, der diese geradezu er-
habene Umorganisation der Industrie, fast binnen
24 Stunden, zustande gebracht hat, diese prachtvolle
Mobilmachung der Friedensarbeit für den Krieg.
Der Phantast. Ein weiteres Kapitel des Zu-
148
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sammenbruchs, nichts weiter. Ist diese stolze Um-
organisation nicht nur dadurch möglich geworden,
daß die Arbeitsteilung bis zur völligen Anatomisierung
vorgeschritten ist ? Aus der menschlichen Arbeit ist
die entseelte ewige Wiederholung derselben paar Hand-
griffe geworden. Die Arbeitstätigkeit steht in keiner
Beziehung mehr zum Arbeitsprodukt. Es ist ganz
gleichgültig, was gearbeitet wird; gestern fertigten
sie Mikroskope, heute Granatenzünder.
Der Realist. Sollten etwa die Arbeiter darüber
bestimmen dürfen, welche Erzeugnisse herzustellen
seien ?
Der Phantast. Warum nicht ? Fordern wir nicht
schon jetzt die Arbeiter auf, die Herstellung von Kriegs-
munition zu verweigern — in Amerika nämlich!
Der Realist. Das ist etwas anderes
Der Phantast. Jedes ist immer etwas anderes!
Darum werden wir uns nie verständigen. Die Sprache
hat keinen einheitlichen Sinn mehr, die Gesetze der
Logik sind aufgelöst, die Grundsätze der Moral zer-
splittert. Darin findet der Zusammenbruch des Ka-
pitalismus seine ideelle Parallelerscheinung: im Zu-
sammenbruch aller geistigen und sittlichen Werte.
Jede Wahrheit hört an der Landesgrenze auf oder ver-
wandelt sich unter den Tritten der Eroberer. Was man
eben noch Patriotismus, Opfermut, nannte, wird in
dem Augenblick todeswürdiger Kriegsverrat, wenn
das Land vom Feinde besetzt ist; alsdann nennt man
Klugheit, vernünftige Vorsicht, was tags zuvor als
feige Unterwerfung gebrandmarkt worden wäre.
Der Realist. Zunächst vergißt du die erhabene
Solidarität der Volksgenossen, die als höchstes sittliches
ja ich möchte sagen, als logisches Gesetz sich endlich
durchgesetzt hat —
Der Phantast. Ich vermag keine Solidarität zwi-
schen den Volksgenossen zu erblicken, die dem Krieg
sich opfern und die mit ihm Geschäfte machen —
149
Der Realist. . . . Laß mich ausreden — Ich wollte
sagen: Wie die sittlichen Werte nicht zusammen-
gebrochen sind, sondern nur sich erhöhend gewandelt
haben, so ist auch das, was du als Zusammenbruch der
Logik empfindest, in Wahrheit nur die Spiegelung
jenes beispiellosen Ringens der verschiedenen Volks-
individualitäten, Nationalkulturen, Staatsformen und
Wirtschaftskräften um Geltung und Herrschaft. Ein
höheres Vorbild für die Entwickelung der mensch-
lichen Gesellschaft und Geschichte will das blutige
Chaos hervorbringen. Wir kämpfen im Grunde um
das neue Gesetz der Menschheit, das künftig gelten,
Richtung weisen soll . . .
Der Phantast. Volksindividualitäten! Nationale
Gegensätze! Ich finde, niemals war die Menschheit in
allen Erdteilen so furchtbar uniform. Müssen sie darum
sich zerfleischen, um das halbe Dutzend gleicher Ideen
sich abzujagen, das die ganze Menschenherde gegen-
wärtig überall in ihren Köpfen hat? Niemals haben
sich die Menschen so gut verstanden, wo sie in allen
Ländern auf genau die gleiche Weise — lügen.
Der Realist. Du schimpfst Lüge, was doch nur
die allgemeine Bedingtheit jeder Wahrheit ist und in
unseren Zeiten zudem gefordert wird, durch die Not-
wendigkeit, die geistige Freiheit von dem nationalen
Interesse überwachen zu lassen.
Der Phantast. Also ist es noch schlimmer. Es
sind Lügen auf Befehl, Lügen im Auftrag, und daß
gerade solche Lügen diesen unermeßlichen Einfluß
haben, von denen man doch weiß, wer sie angeordnet
hat, und zu welchem Zwecke, das macht den morali-
schen Zusammenbruch noch schlimmer; diese Lügner
sind nicht nur verächtlich, sondern auch lächerlich!
Und hast du wirklich kein Gefühl dafür, was es be-
deutet, daß wir nun schon siebzehn Monate ohne
geistige Freiheit leben können, daß uns die Luft zum
Atmen genommen ist, daß wir schweigen müssen, wo
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Pflicht und Überzeugung zu reden gebietet, und daß
wir, wenn wir reden, täuschen . . . Und die Menschen
ertragen es, sie schreiben, schwatzen trotzdem und
fühlen sich anscheinend ganz wohl dabei. Es geht
offenbar auch ohne geistige Freiheit.
Der Realist. Wenn höhere Interessen auf dem
Spiele stehen!
Der Phantast. Gibt es ein höheres Interesse als
geistige Freiheit ?
Der Realist. Das Leben!
Der Phantast. Nein, denn das Leben erhält
seinen Wert erst durch die Freiheit, die es erfüllt und
leitet. Weil es diese Freiheit nicht gibt, ist das Leben
selbst zusammengebrochen in allen seinen Äußerungen.
So gibt es auch keine Politik mehr.
Der Realist. Du meinst die Selbstbeschränkungen
des Burgfriedens, zu dem wir genötigt. Aber den haben
wir selbst gewollt — aus eigener klarer Erkenntnis
des Notwendigen.
Der Phantast. Nein, ich will wirklich sagen, daß
jede Politik aufgehört hat, jedes politische Gefühl, alles
politische Denken. Die Politik der Herrschenden hat
zu diesem Kriege geführt, dessen Jammer zu beklagen
alle einig sind. Wenige verantwortliche Personen
haben die Entscheidung über den Krieg herbeigeführt.
Kein Volk wollte den Krieg. Wäre es da nicht das
Natürliche gewesen, daß alle Völker sofort die Verant-
wortlichkeiten feststellten und die einzig mögliche
Schlußfolgerung zogen: Ihr, die ihr bisher allein
herrschtet, habt durch eure Politik die Welt in diese
Katastrophe geführt. Damit habt ihr zum mindesten
eure Unfähigkeit bewiesen, zu regieren. Fort mit euch,
macht anderen Platz! Jetzt wollen wir andern zeigen,
wie die Geschichte der Menschheit zu verwalten seien !
... So hätten die Menschen sprechen und handeln
müssen, wenn sie politisch dächten. Aber es war
eben auch die politische Logik erloschen, und so
151
scharten sich die Völker begeistert um die — Ver-
antwortlichen !
Der Realist. Sehr natürlich, denn im Augenblick,
da ein Feuer ausbricht, suchen nur Narren nach den
Kindern, die möglicherweise mit Streichhölzern ge-
spielt haben, um sie zu prügeln. Die Vernünftigen
löschen.
Der Phantast. Jetzt währt der Augenblick
17 Monate, und wir löschen weder,, noch ziehen wir
zur Verantwortung.
Der Realist. Die Stunde der Verantwortung
kommt nach dem Krieg, im Frieden —
Der Phantast. — für den wir nicht einmal wirken
sollen dürfen, der daher niemals werden wird, wenn
anders es auf unsere Mitwirkung ankommt.
Der Realist. Wer heute vom Frieden redet, reizt
die Feinde zum Durchhalten auf und trägt so zur Ver-
längerung des Krieges bei. Wie war doch das Echo
drüben, das unsern Friedenswünschen antwortete ?
Der Phantast. Du wirst doch nicht etwa von
den Feinden verlangen, daß sie vom Frieden sprechen.
Die notwendige Folge würde doch sein, daß deren
Friedenssehnsucht uns aufreizt, nun erst recht den
Krieg weiterzuführen.
Der Realist. Niemand will das — bei uns.
Der Phantast. Ich habe aus deiner eigenen Logik
gesprochen. Aber ich vergaß: jedes Argument hört
an der Grenze auf, jede Wahrheit verkehrt sich an
einem gewissen Meilenstein in ihr Gegenteil. Man
kann die Logik nicht mehr exportieren, das ist die
einzige Blockade, die effektiv ist, und das umorgani-
sierte Kausalgesetz lautet: die gleiche Ursache hat
immer verschiedene Wirkungen.
Der Realist. Wer die Dinge sieht, wie sie wirklich
sind, erkennt eben immer verschiedene Ursachen und
rechnet folglich mit verschiedenen Wirkungen.
Der Phantast. Als ob es sich verlohnte, die Dinge
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zu erkennen, nur um sie zu bejahen. Ihr seid wie Ärzte,
die die Pest erforschen, nicht um sie zu überwinden,
sondern um, sie weiterverbreitend, den Sinn der Pest
für den Haushalt der Menschheit schwärmend zu ent-
decken.
Der Realist. In der Tat, solchen Sinn des Krieges
haben wir zu erkennen, um zusehen, wie töricht es ist,
von Zusammenbruch zu reden. Wessen Augen nicht
doktrinär geblendet sind, wessen Hirn nicht in Formen
erstarrt und verengt ist, der muß doch begreifen, wie
Großes, wie Gewaltiges sich jetzt in blutiger Gärung
vorbereitet. Die Erde bekommt ein neues Antlitz.
Neue Grenzen der Kultur und der Herrschaft werden
abgesteckt. Die höchsten Ziele werden sichtbar, ver-
fallene Mächte versinken, und an ihre Stelle tritt der
erlösende Einfluß jugendstarker Völker, und damit
auch die Macht des Stärksten und gesundesten Prole-
tariats . . .
Der Phantast. Holla — wie du phantasierst, o
Mann des Wirklichen; ob deine Ziele nun innerlich
groß sein mögen oder nicht; du träumst von Grenz-
revolutionen, Umwälzungen von Grund aus und, im
Nu, vom Sturz vielhundertjähriger Weltherrschaft
und der Neubildung junger Weltvormacht binnen
siebzehn oder meinetwegen 24 Monaten. Das geht
rasch und radikal! Übermorgen aber, wenn Frieden
sein wird, und das innere Schicksal der Menschheit
zur Entscheidung stehen wird, wenn es sich nicht nur
um verheerende Abwechslungen, Ablösungen des
Gleichen, nicht bloß um nationalkapitalistische Be-
sitzübergänge handeln wird, dann versteinerst du
wieder zum Propheten der langsamen, sehr langsamen
Entwicklung, der gegebenen Notwendigkeiten. Dann
wirst du uns wieder bändigen, zähmen, hemmen wol-
len. Dann ist wieder gar nichts nötig, und Bedächtig-
keit und Besonnenheit ist alles. Ich aber habe in-
zwischen aus den Tatsachen der ungeheuren Zer-
153
Störung gelernt, welche Möglichkeiten frucht-
barer Arbeit gegeben sind, wenn wir nur wollen.
Das Maß des jetzigen Zusammenbruchs ist für mich
das Maß des künftigen Aufbaus. Ich nehme deine
glühende Kriegshitze für weltpolitische Zerstörung,
der kein Ding unmöglich scheint, hinüber in den Frie-
den, in den Frieden unserer Werke. Ich lasse mich
niemals mehr beruhigen, beschwichtigen, aufhalten.
Kein Opfer kann mehr groß sein. Nichts darf mehr
vertagt werden. Wenn dieser Krieg möglich war,
dann ist alles möglich — auch das Gute, auch die
Vernunft. Der Begriff der Gefahr ist wesenlos ge-
worden, es gibt keine Furcht mehr. Die Zeit des
Wagens beginnt! Das ist die einzige Lehre, die ich
aus dem Kriege ziehe: die Möglichkeit, die Notwendig-
keit, daß auch das Vernünftige sofort gestaltet werden
könnte, daß nach dem Zusammenbruch die neue Welt,
die wahrhaft neue Welt der freien Menschen in stür-
mender Ungeduld erstehen müsse. Es gibt hinfort
nur einen Weg, unser n Weg, und den müssen wir
allein gehen, hinter uns alle Brücken sprengend, die
zu den Verantwortlichen des Alten, des ewig Verur-
teilten führen!
Der Realist. Phantast! Du fliegst über alle Wirk-
lichkeiten hin.
Der Phantast. Über die Wirklichkeiten des —
Absurden, Realist! O die wunderreiche Phantastik —
logischen Denkens, heller Erkenntnis und menschlich
handelnder, sinnvoll schaffender, tapferer Vernunft!
Neujahr 1916.
154
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Die Lebenswinde
Der Gaul, der ein hochbepacktes Wägelchen müde
und langsam schleppte, sah aus, als ob man ihn einst
beim Übergang zum Autobetrieb in einen Winkel ge-
stellt und dort vergessen hätte, bis man, im Kriegs-
mangel an Autos, ihn nebst dem alten Wagen wieder
entdeckt und hervorgeholt. Sein Fell war struppig
und glanzlos, seine Augen suchten traurig umher;
Nur das Gerippe war noch ausgezeichnet erhalten, das
konnte man allzu deutlich sehen. Aber die Beine
schienen sich bei jedem Schritt tastend zu überlegen,
ob die Pflastersteine nicht eigentlich ein gefährlich
tiefes Wasser seien, vor dem man sich hüten müsse!
Es traf sich gut, daß die gepflasterte Straße aufhörte
und in eine asphaltierte einmündete, deren glatte Fläche
durch den kalt rieselnden Regen schlüpfrig geworden
war. Das ist eine schöne Gelegenheit, dachte der Gaul,
Ruhe zu bekommen; niemand wird unter so glaublichen
und offenkundigen Umständen eine Arglist dahinter
vermuten. Und der alte Gaul legte sich blitzschnell,
nachdem er ein wenig mit den Hufen vorwärts ge-
glitten, um den Anstand zu wahren, auf den Boden
nieder, fest entschlossen, durch keine Macht der Erde
sich zum Aufstehen zwingen zu lassen. Er lag wie
tot, nur das schwere, ängstliche Atmen und die trau-
rigen schwarzen Augen verrieten, daß noch Leben in
ihm war. Ein paar Peitschenhiebe sausten herab, das
Tier zuckte zusammen, wieherte leise, daß es fast wie
ein Seufzen klang, regte sich aber sonst nicht. Es hatte
bald ein großes Publikum um sich versammelt. Die
meisten tauschten ihre Meinungen über die Ursachen
des Falles aus und über den Schaden, den der Gaul
155
sich getan haben mochte. Einige versuchten aber zu
helfen, sie rissen eifrig und werktätig das Pferd an den
Zügeln, brachten auch den Kopf ein wenig empor, der
jedoch sofort wieder auf die Straße zurückfiel, wenn
sie losließen.
Nun stieg der Fuhrmann, ein ruhiger, erfahrener,
grauhariger Mann, herunter, schirrte das Tier aus und
legte ihm eine Decke unter die Füße, daß es nicht hin-
glitte beim Aufrichten. Er sprach dem Pferde freund-
lich aufmunternd zu, streichelte es, und zog mit Macht.
Nach einigen vergeblichen Versuchen, den schweren
Körper auf die Beine zu bringen, gab er die Arbeit
auf, bei der das Pferd selbst seinerseits jede Mitwir-
kung verweigerte.
Das Publikum war sich jetzt einig, daß der Gaul am
Krepieren sei.
In diesem Augenblick schritt ein Schutzmann ge-
bietend durch die Reihen. Seine Unabkömmlichkeit
hatte augenscheinlich seine brachliegenden Energien
ungeheuer aufgespeichert. Die Welt begehrt und
braucht Taten, worunter man zumeist Fäuste versteht,
und auch ein gestürztes Pferd ist ein Teil dieser Welt
und muß danach behandelt werden. Also packte er
das Tier mit gewaltigen Fäusten an, hob es auch rich-
■ tig ein Stück empor. Der Gaul aber war nicht ge-
sonnen, sich durch die bewaffnete Macht von seinem
zwar feuchten und harten, aber immerhin wagerechten
Lager drängen zu lassen, und mit dem Aufwand letzter
Kraft stieß er die Hufe so heftig in den Bauch des
Schutzmannes, daß er taumelte, bewußtlos nieder-
brach und in dem letzten Auto, das einsam auf dem
nahen Rathausplatz harrte, in die Klinik verbracht
werden mußte. Darauf wich das Publikum ein wenig
in respektvoller Entfernung zurück. Der Kutscher
aber bat einen Kollegen, nach der Feuerwehr zu tele-
phonieren. Denn nun war das Tier zweifellos ein ge-
meingefährliches Verkehrshindernis.
156
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Nach einer Weile kam ein blitzblankes Lastauto der
Feuerwehr. Sechs beherzte, behelmte Männer stiegen
herunter und schleppten an den Ort der Tat ein merk-
würdiges Gerüst, das aus drei in spitzem Winkel zu-
laufenden Stahlröhren bestand. Sie stellten es über
dem reglos liegenden Pferde auf. Im Winkel oben be-
fand sich eine Winde. Die Männer nahmen einen brei-
ten und festen Gurt, schoben ihn unter den Leib des
Tieres, hüllten es ringsum ein und schnürten den Pan-
zer fest zu. In ihm aber befand sich eine Öse, in die
ein Haken griff. Es war die Straßenimprovisation
eines Hebewerks. Hierauf zogen drei Männer an dem
über die Rolle laufenden Seil — ächzend, sich gegen-
seitig ermunternd, nicht ohne Atempausen und Ge-
dankenaustausch, langsam, sicher, unwiderstehlich.
Die Augen des überraschten Pferdes gingen von
ängstlicher Trauer in starres Entsetzen über. Das war
gänzlich unerwartet. Was für Teufel diese Menschen
sind, was sie sich für Maschinen ausdenken, die über
alle Pferdekräfte und Pferdelisten gehen, und selbst
die passive Resistenz eines verdientermaßen ruhe-
bedürftigen und entschlossen ruhebedürftigen Rosses
brechen !
Es half nichts mehr. Das arme Tier wurde höher
und höher gehoben, als sollte es in den Himmel schwe-
ben, Leib und Seele gemeinsam. Schon baumelte es
senkrecht zum Boden, so hoch, daß seine Hufe die
Straße hätten berühren können, es brauchte nur die
Beine zu strammen. Aber da erwies sich die Intelli-
genz eines abgerackerten Tieres stärker als der höl-
lische Maschinenwitz der Menschen. Die Hufe standen
nicht auf dem Asphalt, sie hingen nur schlaff pendelnd,
und sobald das Seil versuchshalber gelockert wurde,
sanken die Beine alsbald wieder in sich zusammen.
Niemand soll den Gaul zwingen, so dachte er, zu stehen
und weiter die schwere Last über die schlüpfrige Straße
zu ziehen!
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Die sechs Feuerwehrleute kamen endlich nach gründ-
licher Beratung zu dem übereinstimmenden Beschluß,
daß dem Tiere nicht mehr zu helfen sei und dem Fuhr-
mann auch nicht. Mit vieler Mühe wurde hiernach
der Pferdekörper in das Auto neben dem stählernen
Gerüst verladen. In den Augen des Gaules leuchtete
es wie geheimer Triumph; er hatte seinen Willen durch-
gesetzt, dafür wurde er jetzt selber bequem gefahren.
Er verstand offenbar die Sprache des Menschen nicht,
der unter dem Gelächter der Menge rief: Morgen gibt
es billiges prima Ochsenfleisch! Ein anderer aber be-
merkte, halb mitleidig, halb gehässig, jedenfalls den gan-
zen Vorgang endgültig und bestimmt abschließend: Die
Sache ist, daß das Tier kein Fressen in den Därmen
hat!
Das Feuerwehrauto klingelte davon. Das Publikum
verlief sich. Mir aber folgten die Augen des Pferdes
den ganzen Tag, die starren Augen, die sich über die
tückischen Maschinen der Menschen entsetzten, über
die Maschinen, die jeden Willen zur Ruhe brechen.
Und es war mir, als ob ich selber wie alle andern ins-
geheim in solche Gurte eingeschnürt sei, an denen
man uns emporwindet, wenn wir uns friedlich aus-
ruhen möchten, diese Lebenswinde der gesellschaft-
lichen Organisation und der über uns gewachsenen
Technik, die stärker sind und zwingender als unsere
jämmerlichste Müdigkeit und unser sehnsüchtigstes
Ruhebedürfnis. Wir müssen uns emporwinden lassen
und wider stehen, oder
April 191 6.
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Mensch - Ersatz •Würfel.
Ein Triumph deutscher Wissenschaft.
Alles läßt sich ersetzen — wir wissen das heute be-
stimmter, als je zuvor in der Weltgeschichte. Es gibt
Salatöl-Ersatz, in dem sich noch eher Salat als öl fin-
det. Wir ernähren uns mit Ei-Ersatz, das heißt einem
Pulver, das gänzlich unverdächtig ist, irgend etwas mit
Eigelb oder Eiweiß zu tun zu haben; nicht einmal
Eierschalen haben an diesem vortrefflichen Ersatznah-
rungsmittel Anteil. Wer hätte noch nicht auch dem
unflätigsten Regenstrom siegreich trocken widerstan-
den, sofern er nur den unübertrefflichen echten Ersatz
für den kongenialen Ersatz von prima Lederersatzersatz,
Marke Antischund, unter den Füßen getragen. Und
längst füttern wir uns billig und bekömmlich mit Gänse-
braten und Kraftbrühe in Würfelform — jeder Wür-
fel für zwei reichliche Portionen langend. Von der
geistigen Nahrung nicht zu reden, wo schlechterdings
alles Gedruckte, Gesprochene, Gedachte, Gefühlte Er-
satz für irgend etwas ist, was ehedem einmal Wahr-
heit und Vernunft war.
Aber so hervorragend auch die Technik dieser Er-
satzstoffe und die Organisation ihres Vertriebs ist, es
wurde bisher immer noch als ein peinlicher Übelstand,
geradezu als ein Verstoß gegen die Grundgesetze der
Energetik — größter Wirkungsertrag bei geringstem
Kräfteaufwand — empfunden, daß diese Ersatzstoffe
doch ein sehr weitläufiger Umweg seien, um die Exi-
stenz der Menschen zu sichern. Wie es für den ge-
sunden, technisch gereiften und sittlich gestählten
Menschenverstand nicht leicht begreiflich ist, warum
man die Kinder erst heranwachsen läßt, sie umständ-
lich und kostspielig aufzieht, um sie hernach den Wir-
kungen von Granaten, brennenden Flüssigkeiten, Gift-
gasen, Luftbomben und Torpedos auszusetzen, anstatt
159
die kleinen Wesen gleich auf chemischem Wege in
Sprengstoffe zu verwandeln und sie so unmittelbar
und ohne Kräfteverlust der Landesverteidigung dienst-
bar zu machen, — so hat deutscher Forschergeist
rastlos mit der Sinnlosigkeit gerungen, daß die Men-
schen künstlich mit Ersatzmitteln erhalten werden
müssen, anstatt daß man die Menschen selbst ersetzt.
Mit gewohnter Energie ist der Problemstellung die
Problemlösung gefolgt.
Soeben ist es dem Professor Kraftmüller, dem be-
rühmten Mitglied des Kaiser- Wilhelm- Instituts in
Berlin, gelungen, die Frage des Menschenersatzes durch
die geniale Tat zu beantworten. Und wir sind in der
Lage, soweit es die militärischen Interessen gestatten,
einige Andeutungen über diese Erfindung zu geben,
die man epochemachend nennen könnte, wenn mit
dieser letzten und endgültigen Universalerfindung
nicht auch die Epochen selbst gänzlich als überflüssig
und veraltet aufhören würden. Schon als die ersten
Gerüchte dieser Erfindung ins feindliche Ausland
drangen und man nun mit Schrecken ahnte, daß jetzt
das deutsche Menschenmaterial unbegrenzt, uner-
schöpflich, unzerstörbar, nicht mehr auszuhungern
sei, sank die anfängliche Siegesstimmung genau so auf
den Nullpunkt, wie sie übrigens, nach den amtlichen
Berichten des W.T.B, und den wahrhaft neutralen
Feststellungen des Seidwyler Extrablattes seit zwanzig
Monaten mindestens sechsmal täglich gesunken ist.
(Von diesem Seidwyler Blatt erscheint in Wirklichkeit
nur der als Quelle benötigte Titel ; der jeweilig zweck-
mäßige Inhalt entsteht erst während der telegraphi-
schen Übermittelung durch Urzeugung.) Das ficht
uns natürlich nicht an. Wir werden uns diese Erfin-
dung und ihren rücksichtslosen Gebrauch nicht be-
schränken lassen und wir würden auch einer etwaigen
Note des Präsidenten Wilson mit kühler Ruhe und un-
beirrbarer Entschlossenheit entgegensehen.
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Es ist eine bekannte Tatsache, daß der Mensch aus
einer gewissen, dem Gewicht nach nicht großen Menge
fester chemischer Bestandteile besteht ; es sind nur ein
paar Kilo. Was man so einen gewöhnlichen lebenden
Menschen nennt, ist in Wirklichkeit eine durch
Flüssigkeiten und Gase unmäßig aufgeblähte Masse, und
gerade dieses verwickelte und gedunsen üppige Bei-
werk macht die menschliche Kreatur so verwundbar,
jammervoll, widerstandsunfähig und kostspielig. Erst
im Krematorium tritt, nach Verdampfung alles Flüs-
sigen und Gasartigen, der echte Kern zutage. Aller-
dings ist dieser, den hohen Hitzegraden ausgesetzte
Kern nicht mehr als lebendig, als menschenähnlich
zu betrachten. Die Aufgabe war nun, die chemischen
Stoffe, aus denen der Mensch besteht, in den genauen
Mischung-Proportionen so zusammenzusetzen, daß
sie — ohne Raumverschwendung — einen völligen
Mensch-Ersatz — nicht nur die Aschenrückstände der
Verbrennung — erzielen. Dies aber ist Professor
Kraftmüller gelungen. Er hat ein Verfahren entdeckt,
mit dessen Hilfe automatisch aus den notwendigen
Rohstoffen sich in unbegrenzter Haltbarkeit und Zahl
kleine Mengen kristallisieren, die mit peinlichster
Präzision alle Elemente enthalten, in dem der Natur
abgelauschten Verhältnis der Zusammensetzung, die
einen Menschen ausmachen. Die verwandten Roh-
stoffe sind dabei durchaus reell, kein Ersatz; nur der
verschwindende Gehalt an Gold, der im menschlichen
Blut vorhanden ist, mußte, da der Gelehrte selbstver-
ständlich sein Gold zur Reichsbank gebracht hat, durch
kleine Partikel von Kriegsanleihe- Abschnitten (die ja
so gut wie Gold sind!) ersetzt werden. Professor
Kraftmüller hat lange geschwankt, in welcher Form
er diese Mensch-Ersatz-Masse pressen solle. Er kam
schließlich zu der Überlegung, daß die Nachahmung
der menschlichen Figur nicht empfehlenswert sei;
sie ist zu unübersichtlich, gebrechlich, die heraus-
ii Eimer, Gesammelte Schriften. I.
stehenden Glieder, die dünnen Verbindungszylinder
reizen geradezu an, sie abzubrechen und sonst zu ver-
stümmeln. So kam er zu der soliden, hinlänglich er-
probten Würfelform.
Damit ist nun die menschliche Ernährungsfrage für
immer gelöst, und alle übrigen sozialen, politischen,
religiösen, geistigen, imperialistischen, ästhetischen,
organisatorischen und disziplineilen Fragen ebenfalls.
Die ungeheuren Vorteile der Mensch-Ersatz-Würfel
sind in die Augen fallend. Es ist erstens ihr geringes
Gewicht, nur wenige Kilo, die doch alle festen che-
mischen Bestandteile des Menschen vollwertig ent-
halten. Die handliche und geschmackvolle Würfel-
form ermöglicht ihre Unterbringung auf geringstem
Raum; die gefährlichen Expansionsbedürfnisse sind
hinfort undenkbar. Die Wohnungsfrage ist gelöst.
Die Würfel verwittern fast gar nicht, so daß ihre Lebens-
dauer einige Jahrbillionen garantiert dauert, und sie
sicher noch die Vereisung und den Zerfall der Erde
unversehrt überstehen werden. Sie bedürfen keiner
Nahrung, es tritt also niemals Übervölkerung ein. Sie
können in beliebiger Zahl hergestellt werden, so daß
auch das Problem des Geburtenrückgangs ein Gespenst
der Vergangenheit ist. Dabei sind die Mensch-Ersatz-
Würfel von so widrigem Geschmack, daß selbst die
unflätigsten Tiere nicht wagen würden, sie zu ver-
schlingen; sie haben folglich absolute Sicherheit gegen
jede Gefährdung ihrer Existenz, zumal sie auch zugleich
so fest und so elastisch sind, daß keine Gewalt sie aus-
einander zu sprengen vermöchte.
Der nachdenkende Leser, und wir wissen, daß wir
nur solche haben, wird einen Einwand erheben, wie
es denn um die Seele, insbesondere um die deutsche
Seele der Mensch-Ersatz-Würfel stünde. Auch diesen
Umstand hat Professor Kraftmüller gebührend be-
rücksichtigt und es gelang ihm, nach unendlich müh-
samen Versuchen, eine verblüffend einfache Lösung
162
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zu finden. Als er nämlich daran ging, den Seelen-
extrakt aus den menschlichen Wesen, wie sie bisher
in Deutschland üblich waren, zu ziehen, gewahrte er,
daß — in einer kultivierten, d. h. organisierten und
disziplinierten Gesellschaft — das, was man Seele
nennt, nichts ist, als die Nummer, die ihr die Gesell-
schaft gibt. Und es zeigte sich denn auch in der Tat,
daß nach der Gerinnung der aus deutschem Roh-
material gewonnenen chemischen Menschenstoffe
ganz von selbst, bei der Pressung der Würfel, sich an
der Oberfläche leichte Vertiefungen bildeten, die bei
näherer Prüfung sich als — immer verschiedene —
deutlich lesbare Ziffern herausstellten. Damit war
klar, daß die Mensch-Ersatz- Würfel nicht nur eine
deutsche Seele hatten, sondern* sogar jeder einzelne
eine individuelle Seele. Und es war weiter bewiesen,
daß diese Mensch-Ersatz-Würfel eine wohlgeordnete,
höchst zivilisierte Gesellschaft besaßen, wobei es
dem ästhetischen Sinn der zur Ausbeutung der Er-
findung bereits gegründeten Aktiengesellschaft über-
lassen bleibt, die Form der Schichtung der einzelnen
Würfel möglichst geschmackvoll und zweckentspre-
chend zu wählen.
Somit steht die einzige, noch zu erledigende Auf-
gabe der deutschen Menschheit fest. Es gilt, so rasch
wie möglich eine unendliche Zahl dieser deutschen
Mensch-Ersatz-Würfel zu produzieren und über das
— größere! — Deutschland planmäßig zu verbreiten.
(Was die anderen Völker tun oder lassen, interessiert
uns nicht.) Dann ist die Unsterblichkeit und die Un-
zerstörbarkeit des deutschen Menschen verbürgt, und
wir in der bisherigen mangelhaften Form lebenden
deutschen Menschen können dann ruhig eingehen
oder uns auf eine der sinnreichen und mannigfaltigen
Weisen ausrotten, in denen die menschliche Zivilisation
es in letzter Zeit zu solcher Meisterschaft gebracht hat.
April, 191 6.
n* 163
Die vier Könige.
Die Urform einer evangelischen Erzählung.
Nach einem neuen PapyrusfundL
Zur Un-Zeit, da die Ewigkeit geschaffen ward,
herrschte in Judäa der König Herodes. Dessen Sinn
aber war verstört, also daß er alles lebendig sah, was
von den Geschlechtern der Menschen auf Erden in der
Vergangenheit gewandelt. Und die Geister der toten
Menschen bedrängten ihn und zeigten ihm die Wun-
den, an denen sie gestorben, die Verstümmelungen, die
sie erlitten, den Hunger, den sie erduldet, und die
Schmerzen, von denen sie gegeißelt waren. Und sie
waren alle blutig und schrien, und König Herodes roch
das Blut und hörte die Schreie. Und er konnte nicht
wachen bei Tag und nicht schlafen bei Nacht, sondern
er kämpfte mit den Geistern und duldete all ihre Qual,
und es war um ihn immer ein schlimmer Traum.
Herodes aber sagte niemandem, was er erschaute
und erduldete. Die Großen von Judäa aber, die ihres
Herrn Verstörung sahen, gingen zum Volke und sagten :
Sehet, König Herodes ist vom bösen Gewissen ge-
schlagen, er hat geheime Sünde auf sich geladen und
der Herr verfolgt ihn. Und sie wußten nicht, daß der
König der unglücklichste aller Menschen war, weil er
der beste war, und fühlte, was alles auf Erden jemals
an Leid geschehen und an Missetat verübt.
Und es begab sich, daß der König Nächtens durch
die Stadt wanderte, um vor den Dämonen zu ent-
weichen. Aber sie scharten sich um ihn und folgten
ihm wie eine Leibwache, und ließen ihn nicht los und
schirmten seine Qual. Da hörte er aus einem Stall,
164
der hart an der Stadtmauer stand, wo die Ärmsten
hausten, das leise Wimmern eines Kindes, eines Neu-
geborenen. Und siehe da, es versanken die Dämonen
und es ward zum erstenmal ruhig in dem kranken
Herzen des Königs.
Der König aber trat in den Stall und sah ein frierend
und weinend Knäblein in der Krippe liegen. Die
Mutter des Kindes, die auf der Streu kauerte, erschrak,
wie der König eintrat, und breitete beide Hände über
die Krippe. Da sprach der König: Fürchte dich nicht,
denn ich bin gekommen, um zu dienen deinem Kinde,
das mir den Frieden gebracht. Die Erlösung trugst
du, o Frau, in deinem Schöße, die jegliche Vergangen-
heit menschlicher Frevel vergessen macht und wirkt,
daß die Tage der Menschen leicht werden und frei
und voller Lust.
Und es ging ein Leuchten von dem Kinde aus und
es hub an zu reden : Du sprachst wahr, o König, ich bin
dir Bringer des Friedens, und alle Völker werden mir
Untertan sein. Du aber schütze mich in meiner
Schwäche, bis ich Kraft habe, die Botschaft zu erfüllen.
Hierauf ging der König zurück in seinen Palast, legte
sich auf sein Lager und es befiel ihn ein tiefer Schlaf.
Die Geister aber waren entwichen. Wie es aber gegen
Aufgang der Sonne ward, erschienen ihm im Traum
die Geister wieder und klagten: O König, bald wirst
du uns vergessen und dein Herz wird hart werden und
die Stimme der Qual verstummen. Und die Menschen
werden töten wie zuvor, und Schrecken verbreiten
und Wahnsinn dulden. Denn wie soll das eine schwache
Kindlein Gewalt des Friedens haben, wenn die andern,
die mit ihm und nach ihm geboren, Männer werden
und die Waffen ergreifen und die Feinde heraus-
fordern !
Der König fuhr aus dem Schlaf, und erschrak, und
der Schweiß troff ihm von dem zitternden Leib, und
berührte nicht Speise und Trank, und sann, wie er
165
das Unheil zu wenden vermöchte. Denn kündeten die
Geister des Zorns nicht Wahrheit ? Jeglichen Tag ge-
bären Weiber Söhne und jeglicher Sohn wird Jüngling
und Krieger, säet Tod und erntet Tod, und das Blut
fließt über die Äcker und färbt die Ströme, und Wehe-
geschrei raset unter den Völkern. Viele Krieger werden
erstehen und nur ein Erlöser des Friedens, und die
vielen werden den einen bewältigen.
Sieben Tage und Nächte sann König Herodes und
berührte nicht Speise noch Trank. Am achten Tag
aber war sein Wissen vollendet, er sammelte seine
Knechte um sich und befahl ihnen, alle Knaben, die
in Judäa geboren, hinfort zu töten und niemand zu
schonen außer dem Kinde in der Krippe, auf daß nie-
mand wäre, der Waffen führen könnte wider den Er-
löser.
Und so geschah es. Da fluchten die Mütter dem
König Herodes, weil er die Frucht ihres Leibes aus-
gerottet. Herodes aber ließ Botschaft ergehen und
den Müttern verkünden: Ist es nicht besser, eure Söhne
sterben als Kindlein, unschuldig und unbewußt, als
daß sie wachsen und den bittren Tod der Waffen er-
leiden und verbreiten, und die Blutschuld auf Erden
mehren, und also das Werk des Befreiers verderben ! So
aber der Befreier stark geworden, sollen die Mütter
wieder Söhne gebären und großziehen, weil dann
Frieden über die Völker gekommen.
Da verhüllten sich die Mütter schweigend und war-
teten, daß der Befreier wachse.
Die Kunde aber verbreitete sich, daß König Herodes
alle Knäblein in Judäa töten ließ und nur Einem das
Leben gewährte, dem armen Kindlein in dem Stalle.
Auch die drei Könige im Morgenlande, die gewaltig
über die Völker herrschten, vernahmen die Kunde
und entsetzten sich. Und sie kamen zueinander und
berieten sich.
Der erste aber sprach: Lasset uns Herodes mit
166
Krieg überziehen: denn er ist ein Unhold, der alle
Söhne seines Volkes umbringt. Befreien wir das
Volk des Jammers.
Der zweite sprach: Lasset uns Herodes mit Krieg
überziehen; denn er sinnt uns böse Tat. Dieses ist
sein Plan, daß er die Männer unserer Länder ver-
locke, in sein Reich der Weiber auszuwandern, und dann
unsere Männer auf Geheiß der fremden Weiber wider
uns sende und unsere Reiche verderbe.
Der dritte sprach: Lasset uns Herodes mit Krieg
überziehen. Denn großes Unheil spinnt er über unse-
ren Häuptern Er birgt den Herrscher des Friedens
in seinem Lande und hat alle Widersacher ausgerottet,
damit der Friede Macht und Kraft gewinne. Was
aber soll aus uns werden, wenn kein Krieg mehr auf
Erden ist? Was bedürfen die Menschen dann Herr-
scher und Eroberer und Feldherren, wenn sie imFrieden
sich freuen und keine Grenzen sind zwischen ihnen,
und der Name Feind stirbt ? Wehe uns, käme über uns
die Pest des Friedens.
Da sagte der erste und der zweite König aus dem
Morgenlande zum dritten : Du hast, Weisester, Licht
in uns gegossen. Fürwahr, so ist es, wie du gesagt.
Lasset uns Krieg führen gegen den Tyrannen des
Friedens.
Sie verabredeten aber eine List.
Sie gingen zu dreien ins Land Judäa und begehrten
das Kindlein der Wunder in frommer Demut zu schauen,
zu verehren und zu beschenken von ihrem Reichtum.
Und sie kamen zum Stall, und fielen auf die Knie,
vor der Krippe und öffneten ihre Schätze und häuften
Gold, Weihrauch und Myrrhen über dem Kindlein.
Da dankte die Mutter den reichen Fremdlingen, freute
sich ihrer Gaben und segnete sie und geleitete sie mit
frohen Worten zur Türe des Stalles. Dann ging die
Mutter zurück, um ihr Kindlein zu tränken. Siehe,
da fand sie es erdrückt unter der schweren Bürde der
167
Gaben, und es weinte nicht mehr »und lachte nicht
und öffnete nimmer die Augen.
In dieser Nacht aber drangen die Geister wieder
in den Palast des Königs Herodes und sie schrien
und rasten und trugen in ihren Händen all die umsonst
erschlagenen Söhne Judäas, die Neugeborenen.
Die drei Könige aus dem Morgenlande aber kehrten
heim und verkündeten, daß sie mit sich brächten das
große Heil, den Befreier der Welt, und in seinem
Namen wollten sie in alle Zukunft den Frieden der
Völker verwalten.
Darauf brachen sie in Judäa ein und verbrannten das
Land und töteten Herodes. Dieweil er das Kindlein
des Friedens vertrieben.
Weihnachten 191 6.
168
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Das Abreiß -Gehirn.
Eine Neujahrsbetrachtnng über die Umorganisation
des menschlichen Denkens.
Vor einiger Zeit verlebte ich ein paar Tage mit
einem Menschen, den ich ehedem für einen im Kampf
um gleiche Ziele mir ernst verbundenen Kameraden
gehalten hatte. Das glaubte ich zwar längst nicht mehr,
aber in Erinnerung an frühere Freundschaft nahm ich
die Gelegenheit wahr, um ihm ins Gewissen zu reden.
„Ihr Fehler ist," bemerkte ich, „daß an der Stelle,
wo bei andern die Gesinnung als Zentrale des Denkens
und Wollens wirkt, bei Ihnen ein durch mangelnde
Benutzung rudimentär gewordenes totes Organ sich
befindet. Darum treibt Ihre Intelligenz nicht von
innen heraus, sondern sie muß sich irgendwo anlehnen.
Sie sucht Schutz hinter und neben Mächten, die Sie
mit Recht oder Unrecht für stark und zukunftsreich
halten. Sie sind deshalb der geborene Offiziosus,
Sie kämpfen immer im Schatten eines andern, wobei
der Mann im Schatten bisweilen erst den Körper im
Licht macht. Weil Sie selbst keine Uberzeugung haben,
betrachten Sie es als Aufgabe Ihres Witzes, fremden
Überzeugungen oder richtiger fremden Interessen ver-
nunftähnliche Argumente zu liefern, wobei es nicht
sowohl darauf ankommt, daß Sie beharrlich richtig,
einheitlich sind, als vielmehr, daß sie grell genug klingen,
um von der allgemeinen geistigen Taubheit gehört
zu werden. Sie werden gewiß jeden Tag ein Dutzend
klingender Gescheitheiten erfinden, sagen und schreiben,
nur vergessen Sie, daß alle diese kleinen Gescheitheiten
— summiert — eine große und klägliche Dummheit
169
werden. Denn mit Pfiffen und Pfiffigkeiten macht
man schließlich nicht Geschichte, sondern mit dem
— dummen Herzen."
Der Kamerad von ehedem lächelte bei dieser An-
sprache. Sein bescheiden verlegenes Lächeln, das eine
gewisse Genugtuung zu verraten schien, über den
psychologischen Kraftaufwand, den ich an seine Person
geopfert, und sich über das niederdrückende Gefühl,
ungünstig beurteilt zu werden, weltmännisch mit der
Eitelkeit hinwegsetzte, daß ihm immerhin das Zeugnis
geistiger Überlegenheit zuteil geworden. Aber hinter
dem gleichmütigen Lächeln lauerte irgendein böser
Plan zukünftiger Vergeltung für die moralische Ent-
larvung und Züchtigung. Inzwischen gab er die
Antwort :
„Was Sie mangelnde Gesinnung nennen, ist in
Wahrheit, daß ich alle Überzeugungen für gleich-
berechtigt halte; man kann alles beweisen und alles
widerlegen."
„Das ist eine zu wohlwollende Deutung," versetzte
ich, allmählich mich erhitzend. „Sie verteidigen oder
bekämpfen nämlich in einem und demselben Zeit-
raum durchaus nicht alle Überzeugungen; Sie nehmen
vielmehr jeweils sehr entschieden Stellung nach der
einen oder anderen Richtung. Nur sind Sie bereit,
den Dienstag nicht wissen zu lassen, wovon Sie am
Montag überzeugt waren, und Ihre Politik vom Mitt-
woch nicht zu verpflichten, daß sie bis zum Donners-
tag vorhalten müsse. Sie spielen jeden Tag, wenn es
sein muß, jede Stunde, eine andere Rolle, aber immer
mit Brustton, immer mit hämischer Perfidie gegen die
Ihnen gerade im Wege stehende Überzeugung, obwohl
Sie gar nichts glauben. Es ist also nicht ein Skepti-
zismus, der Sie alles verstehen und alles verzeihen lehrt,
sondern Ihre verkümmerte Gesinnung wird ersetzt
durch sehr brutale Lebensinstinkte, die nach dem ver-
meinten oder wirklichen Vorteil irgendwelcher Art
170
Digiti
gerichtet ist. Und erst wenn Sie um dieser äußeren
Interessen willen — zu denen ich auch kleinen Ehrgeiz
und niedrige Eitelkeit rechne — es für geboren halten,
die Ansichten zu wechseln, belieben Sie sich auf die
Natur Ihrer Intellektualität, auf Ihre allbegreifende
Skepsis zu besinnen."
Unser Gespräch wurde heftig und wir schieden in
einem gewissen Haßgefühl. Kurze Zeit darauf ge-
langte der Kamerad von ehedem zu einer bedeutenden
Stellung, und seine neuen Freunde rühmten ihm nicht
ohne geheime Eifersucht nach, er übe eine unvergleich-
liche Macht aus.
Die Laufbahn meines alten Freundes mag denen zum
Nachdenken dienen, die immer vom Glück ausgesperrt
bleiben, bloß weil sie von der dummen Gewohnheit
nicht loskommen können, Gesinnung zu haben und
zu betätigen (die ihnen doch niemand glaubt), sich
ihr Denken mühsam zu erarbeiten, dann aber starr
und pedantisch so zu reden und so zu handeln, wie sie
denken, anstatt sich fröhlich dem Winde zu über-
lassen, der gerade weht und treibt und alle Segel
schwellt. Ich gebe zu, daß diese Menschengattung im
Aussterben begriffen ist und vollblütige Exemplare
nur noch vereinzelt anzutreffen sind. Dagegen ist
als trauriger Rückstand vergangener Gesinnungs-
ideologie dem Menschen gemeinhin das böse Gewissen
geblieben, das sie überflüssigerweise jedesmal befällt,
wenn sie ihre Meinungen dem Bedarf gemäß abtönen.
Man muß nachgerade lernen, ohne Beschwerde in
heiterer Ruhe die unvermeidlichen Änderungen zu
vollziehen. Das verächtliche Wort, daß man die Über-
zeugungen wechsele wie die Hemden, ist genau be-
trachtet ein Ruhm, denn es deutet auf Sinn für Sauber-
keit: es sind doch reine, frische Hemden, die man
eintauscht !
Man befreie sich also endlich von solchen unzeit-
gemäßen, hemmenden Gewissensbissen und wage ganz
171
zu sein, was jeweils von Vorteil ist. Aber freilich, es
fehlt auf diesem Gebiete noch die durchgearbeitete
geistige Organisation. Der Aberglaube, daß eine
Kontinuität des Denkens erforderlich sei, herrscht
insgeheim noch immer. Es ist auch nicht ganz ein-
fach, in jedem Augenblick die erforderlichen neuen
Überzeugungen ausfindig zu machen und sie als letzte
ewige Wahrheiten anständig zu begründen. Und doch
laßt sich auf die bequemste Weise die tägliche Zufuhr
von Meinungen sicherstellen: Durch den Abreiß-
kalender. In seinem jetztigen Zustand ist diese wand-
schmuckgewordene Zeit- und Raumanschauung sinnlos.
Was nützt es uns zu wissen, wann die Sonne auf- und
der Mond untergeht, oder welchem Heiligen der Tag
gewidmet sei ! Haben wir einen Nutzen davon, zu er-
fahren, welcher große Sozialist vor hundert Jahren
geboren oder, schlimmer noch, welcher die Absicht habe,
lebendig fünfzig Jahre alt zu werden ? Küchenrezepte
vollends sind heute blutige Verhöhnungen, und Weis-
heitssprüche verschollener Denker und Dichter er-
innern nur immer wieder peinlich daran, daß das
Schwert zu sühnen habe, was die Feder gesündigt.
Nein, der Abreißkalender muß unser Abreiß-
gehirn werden! Wir müssen täglich sicher wissen,
was wir zu denken haben und warum wir es zu denken
haben; und wir müssen täglich uns unserer laufen-
nen Überzeugung mit dem Blatte, das wir wegwerfen,
endgültig entledigen können.
Wer die nachfolgenden Blätter einer Durchsicht
unterzieht, wird erkennen, wie wichtig ein solches
Unternehmen ist. Ein besonderer Wert der angefügten
Proben besteht noch darin, daß jede Überzeugung
mit der Wucht schlechthin niedergeschlagener All-
gemeingültigkeit auftritt. In anderen Zeiten wählt
man vielleicht zur Bekräftigung der eigenen und zur
Einschüchterung der entgegenstehenden Überzeugung
ethische Formeln : Nur ein Schuft wird bestreiten! . . .
172
Digitiz
Heute ist die Angst, als Dummkopf zu gelten, größer
als die Besorgnis, ein Lump gescholten zu werden.
Es empfehlen sich also Anrufe an die Intelligenz . . .
1. Januar. Nur ein Narr kann sich einbilden, die
Entwicklung der Menschheit hänge ab von dem Zug
der staatlichen Grenzen. Für das Glück der Mensch-
heit ist es ganz gleichgültig, wie die Grenzen über den
Erdball laufen. Das mögen sich unsere Annexionisten
und Uberannexionisten gesagt sein lassen, die Ströme
von edelstem Blut vergießen wollen, nur um eines
territorialen Zuwachses willen für das eigene Land.
Weltherrschaft ist Verödung und Grenzverrückung
ist grenzenlose Verrücktheit.
2. Januar. Wer nicht ein Kindskopf ist, muß sich
klar darüber sein, daß nationale Erweiterung das
höchste Gesetz der Geschichte ist. Nur der Kretin
wächst nicht. Völker, die nicht der Zahl und dem Ge-
biet nach sich ausdehnen, sind zum Untergang ver-
urteilt. Nur ohnmächtige Pygmäen begeifern den
edelsten Trieb der Nation, ins Weite sich auszudehnen.
Das heißt nicht Annexion, das heißt nicht Eroberung —
das wollen wir auch nicht ! — das heißt das Naturrecht
auf freie Entfaltung völkischer Kraft.
3. Januar. Man muß einen Mittelweg gehen
zwischen Annexionspolitik und dem Status quo ante
nationaler Verkalkung, wie es auch einen natüclichen
Ausgleich zwischen rohem Eroberungswillen und uto-
pischer Selbstbestimmung gibt. Sollten wirklich noch
irgendwo Leute von so schwacher Begabung existieren,
die nicht zu der Einsicht fähig sind, daß es die Aufgabe
des Staatsmannes ist, Zug um Zug so lange zu ver-
handeln, bis die realen Garantien für das eigene Land
gewonnen sind, ohne daß der Gegner seinerseits an
realen Garantien einbüßt; und bis notwendige Ände-
rungen der Grenzen und der Verfassungen in der Weise
vollzogen werden, daß der fremde mit dem eigenen,
173
richtig verstandenen Willen zusammenfließt ? (N.B. Bei
dem zur Gewinnung der Kalenderblätter unternom-
menen Preisausschreiben wurde dieses Blatt gekrönt!)
4. Januar. Im Wettkampf der Völker entscheidet
nicht die physische Gewalt, sondern der Geist. Der
Krieg, das Maschinengewehr, die Kanone, die Blau-
säurebombe ist ein untaugliches Mittel, um kulturelle
Überlegenheit zu erhärten. Die militärische Nieder-
lage ist kein Beweis minderen Rechts, wie der mili-
tärische Sieg nicht die Kraft einer höheren Rasse oder
Volksgemeinschaft offenbart. Im Gegenteil. Schon
die natürliche Volksüberlieferung begabt die Riesen
mit — Riesendummheit. Es gibt auch heute noch
solche Riesen!
5. Januar. Der Kampf mit sogenannten geistigen
Waffen führt (nur Idioten, die aus der Geschichte
nichts gelernt haben, leugnen es) naturnotwendig zur
allgemeinen Entartung. Nur in dem körperlichen
Ringen wehrhafter Männer und reisiger Völker offen-
bart sich die sittliche Überlegenheit und der Wille
der Gottheit.
6. Januar. Solange es eine Geschichte der Mensch-
heit gibt, erweist sich der Krieg immer wieder als der
Jungbrunnen aller idealen Kräfte, als Stahlbad gegen
Verweichlichung, Selbstsucht, Laster. Ebenso sicher aber
ist für jeden, der auch nur das ABC menschlicher Bil-
dung notdürftig beherrscht, daß der Krieg das scheuß-
lichste aller Verbrechen ist, dessen Blutschuld für alle
Ewigkeit auf den Verantwortlichen lastet, wie denn
seit jeher der Krieger mit dem goldenen Lorbeer be-
kränzt wird und der Tod im Kampfe als das preisens-
werteste Glück gilt. Der frische, fröhliche Wagemut,
der erobert und zerstört, was für den Untergang reif,
ist die Tugend von Männern. Nur Feiglingen mag es
genügen, den eigenen Herd zu schirmen, den anzu-
greifen die Rache aller Patrioten wider die Frechheit
zügelloser Soldateska herausfordert.
174
Digitized by Google
j. Januar. Heute ist mehr denn je die Überzeu-
gung lebendig — und nur in völlig verfinsterten
Köpfen ist die Erkenntnis noch nicht eingedrungen — ,
daß die öffentliche Tribüne eines freien, vom ganzen
Volke kontrollierten Parlaments die einzige Schutz-
wehr gegen die Gefahren derGeheimdiplomatie, gegen
die Intrigen kapitalistischer, militaristischer, höfischer
Cliquen darbietet. Das Volk siegt, das in voller Öffent-
lichkeit sein Denken und Wollen mit unbestechlicher
Kritik und rücksichtsloser Konsequenz zu bekunden
wagt.
8. Januar. Einige schwatzbedürftige eitle Wort*
helden fordern Aussprache im Parlament. Haben denn
diese Leute immer noch nicht begriffen, daß jetzt die
Tat das Wort hat und nicht das Wort die Tat; daß sie
durch ihre Forderung auf parlamentarische Diskussion
die Geschäfte des Auslandes betreiben und außerdem
sich von den Parteigegnern im Lande düpieren lassen,
wenn sie auch denen Gelegenheit geben wollen, ihre
Forderungen zu proklamieren ? Jetzt gilt es, für das
Vaterland zu schweigen und zu — handeln.
9. Januar. Nur ein Kindskopf, ein Narr, ein Idiot
kann behaupten oder bestreiten . . .
Sylvester 1916.
175
Die Austrocknung des heiligen Geistes.
Eine Pfingstwundergeschichte aus neuerer Zeit.
In einem feindlichen Lande begab es sich. Nur in
einem feindlichen Lande konnte es sich begeben,
wie ich durch eine kürzlich mir zugegangene Ver-
fügung belehrt worden bin. Man hat also so ziemlich
den ganzen Erdkreis zur Auswahl vor sich, wenn jemand
durchaus wissen will, unter welcher besonderen Flagge
sich die Geschichte begeben. Es genügt zu versichern,
daß ihr Schauplatz unter keinen Umständen der kleine
Erdenfleck ist, innerhalb dessen ich Reichsrecht des
Unterstützungswohnsitzes genieße. Begehrt man aber
durchaus zu erfahren, in welchem Land, so kann ich
das Land deutlich kennzeichnen, indem ich verrate,
daß es früher einmal so und so viele Seelen gehabt hat,
jetzt aber nur noch aus Regierung, Armee, Munitions-
arbeitern und Presse besteht. Das ist, denke ich, klar
genug.
Die Presse — das war einmal der obligatorisch ein-
geführte heilige Geist, und außerdem der Kitt,
der den Zusammenhalt der übrigen genannten Be-
standteile möglich machte. Die Regierung ließ
es sich, man muß das bei aller grundsätzlichen Ab-
neigung gegen Regierungen einräumen, viel Mühe
kosten, diesen Kitt in immer gleicher Normalgüte
und klebriger Zähigkeit zu liefern. Von dem kriegs-
mäßig erweiterten Zentralpresseamt in der Haupt-
stadt rann unablässig der schwärzliche Stoff über das
ganze Land, bis ins letzte Dorf, und verstopfte alle
Poren eigenwilligen Widerstandes und selbständigen
Trotzes. Darum war auch durch allgemeines Gesetz
176
der Lesezwang eingeführt; wer nicht fließend lesen
konnte, wurde hart bestraft. Welch Segen strömte
aber auch aus solcher Bildung! Niemand bedurfte
mehr der Mühe, zu denken oder zu fühlen. Man er-
fuhr jederzeit durch die Presse, was man denken oder
zu fühlen vorgeben müsse. Was litt man früher unter
der menschlichen Einrichtung, die man Gedächtnis
nennt! Das war eine ewige Quälerei. Man erinnerte
sich nicht nur an alte böse Erfahrungen, sondern
schlimmer noch an frühere Überzeugungen. Immer
hatte man das schlechte Gewissen, ob man sich nicht
in Widerspruch mit sich selbst setzte. Jetzt war der
Fluch des Gedächtnisses gänzlich von der Mensch-
heit genommen. Niemand erinnerte sich mehr, was
er gestern gesagt, versprochen, gewollt hatte. Nur die
Zeugen vor Gericht wußten, unter dem befruchtenden
Einfluß des Eides, immer noch genau, was sie vor
10 Jahren am 24. Februar 6.20 Minuten nachmittags
vor dem Hause Langestraße 132 bei 15% Grad Kälte
beobachtet hatten! Sonst erinnerte sich niemand an
nichts. Das war der Erfolg der Presse. In der Zentrale
wurden nur Leute zugelassen, denen das Gedächtnis
auf operativem Wege entfernt worden war. Ihr geisti-
ger Einfluß teilte sich dann durch alle Vermittler der
Presse den Zeitungslesern mit.
Zugleich war mit der Überwindung des Gedächt-
nisses auch die alte lästige Frage der sogenannten Wahr-
heit zu aller Befriedigung aufs glücklichste gelöst.
Was jeweils in der Presse stand, war die Wahrheit.
Da jede Zeitung unmittelbar nach Gebrauch an das
Kriegspapieramt zurückgeliefert werden mußte, konnte
man auch nicht etwa durch müßiges Aufbewahren
und Zurückblättern den Gedächtnisverlust umgehen
und an der Wahrheit von heute dadurch irre werden,
daß man im gestrigen Blatt eine andere, eine entgegen-
gesetzte Wahrheit las.
So war man, obwohl es schlimme Zeiten waren, im
12 Eisner, Gesammelte Schriften. I.
177
ganzen Lande einig und zufrieden. Man hatte die
gleichen Gedanken, Wünsche, Arbeiten, Gefühle und
Stimmungen. Besonders die Stimmungen waren
prächtig organisiert. Die Presse verkündete: Begeiste-
rung — man war begeistert. Die Presse forderte : Ent-
rüstung — man war entrüstet. Die Presse mahnte
zur Geduld — man war geduldig. Die Presse reizte
zum Sturm auf — man war stürmisch. Die Presse ver-
langte, daß man irgend etwas restlos sein müsse —
man war restlos.
In jenem Sommer herrschte eine schreckliche
Trockenheit. Sie wurde durch die Presse restlos über-
wunden. Das kam so zustande: Zuerst marschierten
sämtliche Professoren auf und berichteten von einer
neuen wissenschaftlichen Entdeckung. Es sei ein Irr-
tum gewesen, lehrten sie, daß die Pflanzen zu ihrem
Wachstum Feuchtigkeit bedürften. Im Gegenteil,
das viele Wasser hätte die Nährstoffe nur verdünnt
und zur Fäulnis empfänglich gemacht. Aber die Dürre
— die lasse eine Ernte reifen, wie sie so großartig und
bekömmlich seit Menschengedenken nicht erlebt wor-
den wäre. Das lasen sie alle und freuten sich über die
Fortschritte des menschlichen Geistes.
Als dann aber kaum noch ein lebender Halm auf
den Feldern zu sehen war, traten die Militärs auf und
brachten Trost : In vier Wochen, so teilten sie auf Grund
ihrer fachmännischen geheimen Einsichten und streng
vertraulichen Voraussichten mit, wird es regnen und
alles wieder gut werden. Jeden Tag wiederholten sie:
in vier Wochen. Darüber gingen drei Monate hin.
Aber die Leute merkten es nicht. Und wenn sie am
Morgen aufstanden und das Elend der lechzenden
Saaten ihnen Furcht einflößen wollte, dann lasen sie
im Blatt die autoritative Ankündigung: In vier Wochen
regnet es. Die paar Wochen konnte man ja wohl noch
warten !
Schließlich regnete es wirklich, nämlich gerade als
178
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das spärliche Korn geschnitten war. Und nun hörte
es nicht auf. Die Frucht begann auf den Feldern zu
faulen. Wiederum kamen die Professoren und unter-
wiesen das Volk: Wasser sei die Hauptsache. Der alte
gefährliche Aberglaube, daß das Getreide trocknen
müsse, sei längst in seinem Unsinn erkannt. Das Ge-
treide müsse und solle faulen, das sei eine Vorberei-
tung und Erleichterung für die Verdauung und ent-
laste den früher grausam gequälten Magen. Wie aber
der Regen nicht aufhören wollte und das Getreide
schimmelte, da trat der Generalissimus auf den Plan und
in einer Unterredung mit den Berichterstattern sämt-
licher Blätter forderte er das Vertrauen des Volkes zur
höchsten Leitung: Er werde sorgen, daß in acht Tagen
der Regen aufhören werde, dafür verbürge er sich. Es
regnete zwei Monate lang. Weil aber jeden Tag der
Generalissimus seine Prophezeiung: In acht Tagen!
wiederholte, kam man auch über diese Schwierigkeiten
voller Hoffnung hinaus.
In ähnlicher Weise wurde man aller Schwierigkeiten
Herr. Als es im kalten Winter keine Kohlen gab,
feierte man den Nutzen des Frierens, das die Fäulnis-
keime im menschlichen Körper abtöte und so das
Leben verlängere. Als Milchmangel eintrat, bewies
man, daß Milch gesundheitsschädlich sei. Wenn trotz-
dem die kleinen Kinder massenhaft starben, so lag
das eben daran, daß sie noch nicht lesen konnten,
folglich nicht wußten, daß Milch ungesund und Milch-
mangel gesund sei . . .
Ich habe vergessen mitzuteilen, daß es eine höchst
Uberale und aufgeklärte Regierung war, die auf diese
sinnreiche Weise die Menschen erzog. Selbstver-
ständlich konnte nur eine liberale und aufgeklärte
Regierung dermaßen mit rein geistiger Beeinflus-
sung arbeiten. Aber (ich darf es nicht verschwei-
gen) sie erlitt Schiffbruch mit dieser humanen Me-
thode. Das Unheil kam von der Milch. Man hatte zu
179
lange wiederholt, daß die Milch gesundheitsschädlich
sei. Als die Kühe wieder genügend Milch hatten,
kaufte sie niemand. Die Milchbauern wurden wild
und stürzten die Regierung. Und die andern, die jetzt
gezwungen werden sollten, nichts als Milch zu trinken,
drohten mit Streik und Aufruhr.
Nun kam die Reaktion ans Ruder. Die erkannte,
daß alles Unheil von der Presse gekommen sei. Die
Überfütterung des sogenannten Geistes führe nur zu
Unzufriedenheit, Nörgelei, Opposition, Revolution.
Da außerdem die Männer der neuen Regierung unter
dem vorigen Regime des Gedächtnis so sehr eingebüßt
hatten, daß sie auch die Buchstaben vergessen und nicht
mehr lesen konnten, unterdrückten sie mit einem
Sclüage die ganze Presse. Nun würde man in alle
Ewigkeit Ruhe haben und über ein stilles, bescheidenes,
arbeitswilliges und jedem Befehl untertäniges Volk
regieren können.
Die Welt war über Nacht — restlos! — gewandelt.
Es gab keine Zeitungen mehr. Man erfuhr nichts
mehr, außer die regierenden Befehle, die nach alter
Weise vom Boten ausgeklingelt wurden. Man wußte
nicht mehr, was man denken, glauben, empfinden
solle. Der Geist war ausgerottet. Es war eine Lust
zu regieren. Die Austrocknung des heiligen Geistes,
nannte den Zustand der Kriegsminister, ein witziger
und energischer Mann.
Ja — niemand war sich bewußt, wie es kam — all-
mählich ging eine Änderung in den Seelen vor sich.
Es regte sich etwas Neues, rührte sich, wuchs, quoll.
Und auf einmal war es da — neu, stark, gewaltig: Das
Gedächtnis, das längst verlorene Gedächtnis. Und
anderes blühte auf: Die Menschen fingen plötzlich
an zu denken, ganz gerade und einfach zu denken,
vernünftig zu denken. Aus dem Innern rauschte
etwas Unbekanntes, Herrliches empor: ein tiefes,
glühendes, menschliches Fühlen. Es war als ob man
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sich selber wiedergefunden hätte, seitdem man nicht
von außen mehr — durch den Preßgeist — dressiert
worden war. Man war nicht mehr so einig unter-
einander, aber wundersam einig mit sich selbst. Aus
dieser jungen Klarheit und Kraft wuchs dann eine
andere große Einheit hervor, die Einheit der Erkennt-
nis, wie jämmerlich sie um ihr Leben betrogen waren
— durch den geschändeten Geist.
Als die reaktionäre Regierung sah, was sie angerichtet,
setzte sie hastig den alten Preßapparat der liberalen
und aufgeklärten Regierung in Bewegung. Aber es
war zu spät — das Leben ließ sich nicht mehr in Papier
begraben . . .
Pfingsten 191 7.
181
Aus Tagheften.
1914 — 1918.
Humor und Idylle. Die rüden Ulkkarten, mit
denen man die Feinde als jämmerliche Feiglinge ver-
höhnte, sind endlich, viel zu spät, durch behördliche
Eingriffe beseitigt, nachdem man allmählich, im Wan-
del des Kriegsglücks, erkannt hatte, daß sie in Wahr-
heit unsere eigenen Truppen beleidigten, die nicht
einmal mit Feiglingen sofort fertig werden könnten.
Diese Bilder des „neuen Geistes" merkantiler Kultur
und zivilen Käufergeschmacks sind so ziemlich ver-
schwunden. Nur die Lyriker und die Professoren sind
noch nicht zum Schweigen gebracht; sie kompromit-
tieren sich schließlich nur selbst, nicht die, welche
mit ihrem Leben zahlen. Der schlimmste Unfug
aber, schlimmer als Ulkkarten, Nervenchoklyrik und
professorale Umgelerntheiten zusammengenommen,
wuchert scheußlich weiter: Die gemütvollen Humore
und Idyllen, die den grauenhaftesten aller Kriege zu
niedlicher Gartenlaubenpoesie fälschen. Es scheint
leider eine Spezialität deutscher Bilderblätter zu sein,
auf diese Weise den Krieg zu sehen, die viel widerwär-
tiger ist als selbst die haßwilden und hetzerischen Il-
lustrationen gewisser ausländischer Veröffentlichungen.
Wenn die Soldaten draußen sich die Not ihres Da-
seins humoristisch aufhellen, so hat hier der Humor
jene Kraft der Selbsterhaltung, wie er auch in den
Gefängnissen blüht, ja unter dem Galgen selbst. Wer
den Tod vor Augen hat, für den ist der Humor Tröster,
Ernährer und Erbarmer. Und wer in der ewigen Bran-
dung chemischer Explosionen zu leben verurteilt ist,
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der bringt gern in sein rauhes Dasein Idyllen der Stille
und des Behagens. Aber das ist nicht der Krieg, über
den die Weltgeschichte vielleicht einmal als Motto
die Feststellung setzen wird, die sich in dem deutschen
amtlichen Bericht vom 12. September findet: „Noch
nie in den gesamten Kämpfen des Ostheeres . . . sind
unsere Truppen über so viele russische Leichen hinweg-
geschritten."
Wer aber unsere illustrierten Blätter sieht, der muß
zu dem Glauben gelangen, daß es da draußen gar
lustig und gemütlich hergehe, ein wenig abenteuer-
lich und absonderlich zwar, aber das erhöhe nur
die Vergnüglichkeit. Nur ganz selten werden einige
Spuren der Zerstörung abgebildet ; um den Triumph
der großen Brummer herzhaft zu feiern. Wo ein
Leichtverwundeter gezeigt wird, so offenbar nur zu
dem Zwecke, um zu veranschaulichen, wie menschlich
man sich um ihn bemühe. Bisweilen wird ein Soldaten -
grab gewagt, bloß zu dem Zweck, den sentimentalen
Philister zu beruhigen, daß die Pietät selbst dieses
Sterben in Einsamkeit schmücke. Aber sonst ist der
Krieg ganz anders. Der auf den Kriegsschauplatz
entsandte Spezialzeichner malt sich selbst, wie er
lachend im Schützengraben bei vollen Gläsern mit
nicht minder lachlustigen Offizieren kneipt. Wir
schauen, wie die Soldaten Weiber und Kinder der
Feinde gütig mit Nahrung versehen, wie sie sich im
Schützengraben rasieren lassen und während der „Ge-
fechtspause" — Leutnants und Mannschaften ge-
meinsam! — zum Klange einer Ziehharmonika mords-
fidel gröhlen. Diese Glücklichen kommen entweder
von der Entenjagd, suchen — harmlos wie die Kinder —
am Meere Muscheln oder pflanzen sich bequem als
verspätete Strandgäste auf einer Bank an der Prome-
nade eines großen Seebades. An der Türe einer bel-
gischen Schenke sehen wir gar, als ob in Belgien sich
nichts anderes ereignet hätte als ein bißchen will-
183
kommene Einquartierung, einen deutschen Soldaten
herzhaft mit der lustigen feindlichen Kellnerin schä-
kern, oder ein Trupp Marinesoldaten holt feierlich den
Sonntagsbraten ein — eine lebendige Sau, das einzige
Wesen auf allen diesen Bildern, das Angst hat und zeigt.
So ist der Krieg! Und es hat anscheinend niemand
eine Empfindung dafür, daß dieser freche Kriegs-
kitsch wieder nur eine Verhöhnung der Opfer ist,
derer, die sich selbst darbringen.
Internationales Gespräch. A. Ich wünsche
mit der ganzen Inbrunst meines Herzens dem eine
Niederlage, der diesen Krieg herbeigeführt hat.
B. Schurke!
A. Wünschen Sie denn unseren — Feinden den
Sieg?
B.
Diplomatische Abhärtung. Der Weltkrieg hat
eine sehr auffällige Abstumpfung der Feinfühligkeit
der Diplomatie bewirkt.
Vor zehn Monaten erklärte Deutschland an Ruß-
land den Krieg, weil es soeben von seiner Mobilisie-
rung erfahren hatte.
Inzwischen hat Deutschland zehn Monate lang ge-
duldig zugesehen, wie Italien, offen vor aller Welt,
gegen Deutschland und Österreich mobilisierte, und
hat seinerseits doch nicht den Krieg erklärt, nicht ein-
mal ein Ultimatum gestellt.
Im Sommer 19 14 hat es die deutsche Diplomatie
abgelehnt, Österreich die Demütigung zuzumuten,
über die unterwürfig nachgiebige Antwort Serbiens
auf das Ultimatum Österreichs auch nur einen Tag
lang zu unterhandeln. Ein halbes Jahr später hat
Deutschland Österreich in monatelang währenden
Verhandlungen unbedenklich nahegelegt, österreichi-
sches Gebiet freiwillig an einen feindselig trotzenden
Bundesgenossen abzutreten.
184
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Am 23. Juli 1914 hat Österreich von Serbien ver-
langt, „daß in Serbien Organe der K. und K. Regie-
rung bei der Unterdrückung der gegen die territoriale
Integrität der Monarchie gerichteten subversiven Be-
wegung mitwirken."
Von Italien hat Österreich niemals gefordert, daß
die italienische Regierung die gegen die Integrität
der Monarchie unverhüllt gerichtete Bewegung unter-
drücke, geschweige, daß es für sich beansprucht hätte,
mit österreichischen Organen im fremden Lande
Maßnahmen der Polizei und Justiz durchführen zu
dürfen. Im Gegenteil: Österreich hat die Berechtigung
der gegen die territoriale Integrität der Monarchie ge-
richtete Bewegung anerkannt; indem es sich bereit
erklärte, auf seine territoriale Integrität zu verzichten.
In zehn Monaten sind also die diplomatischen Be-
griffe von nationaler Reizbarkeit und nationalem Ehr-
gefühl von Grund aus gewandelt. Sollte diese Ab-
härtung nicht für die Herbeiführung des Friedens nutz-
bar gemacht werden können?
Zuchthaus für Stimmungsbilder. Englands
Weltherrschaft kracht in allen Fugen. Der heilige
Krieg erfaßt die Gemüter der Indier . . Schon brechen
die Eingeborenen Ägyptens los, um die englische
Tyrannei abzuschütteln . . Am Suez haben die Eng-
länder eine vernichtende Niederlage erlitten . . In
Rußland steht die Revolution vor der Türe . . Die
Stimmung in Bulgarien wird täglich ententefeind-
licher . . In Bukarest plant man Anschluß an den
Zweibund . . Eine hervorragende neutrale Persönlich-
lichkeit, die eben aus Italien kommt entwirft ein trost-
loses Bild von der verzweifelten Stimmung . .
Nichts anderes lesen wir seit einem Jahr in den Blät-
tern. Immer werden wir in diese intimsten Geheim-
nisse des Auslandes eingeweiht, bis zu den leisesten
nervösen Zuckungen der Volksseele und der genauen
185
Summe, die leitende Staatsmänner -als Bestechungs-
gelder empfangen. Und wie bei uns geht es in andern
Ländern, nur daß man dort das gleiche über Deutsch-
land, Österreich, die Türkei berichtet — immer in
Stimmungen schwelgend, immer genau informiert,
und immer nur Dinge berichtend, die im eigenen
Lande angenehm wirken. Das ist die edle Kochkunst
der Stimmungsbrühe. Man würgt das Zeug gewohn-
heitsmäßig in ungeheuren Mengen herunter, wundert
sich, wie schnell die Zeitungen alles erfahren und was
sie alles wissen, glaubt kein Wort von alledem und
allmählich ist doch das ganze Bewußtsein von dem Un-
sinn angefüllt und beherrscht. Und sämtliche Fabri-
kanten der öffentlichen Meinung auf der ganzen Erde
versichern, daß es gar nicht anders ginge, man müsse im
nationalen Interesse auf derlei Weise die gute Stim-
mung erhalten.
Und auf einmal soll das löbliche Tun ein Ende
haben ? Was eben noch als patriotisches Werk galt,
soll von nun an als Verbrechen des schweren Betrugs
ausgerottet werden. Das erste Opfer der Wandlung
ist der arme Franz Enkc geworden. Er kam als Flücht-
ling aus dem ägyptischen Sudan und brachte die er-
freuliche Nachricht mit, daß wegen einer vernichten-
den Niederlage durch die aufständischen Eingebore-
nen die englische Weltherrschaft zu wanken beginne.
Die Vossische Zeitung bezahlte die angenehme Mit-
teilung, die zudem so flott geschrieben war, wie es
eben nur die eigene Anschauung und die nationale
Begeisterung ermöglicht, gewiß nicht zu teuer mit
300 Mark. Andere bedeutende Organe ließen sich
auch nicht lumpen. Das Wolffsche Telegraphen-
bureau verbreitete das schöne Stimmungsbild in alle
Welt. Der verdienstvolle Urheber aber erhielt wegen
dieser förderlichen Leistung vom Dresdner Land-
gericht zwei Jahre Zuchthaus, 300 Mark Geldstrafe,
5 Jahre Ehrverlust. Warum ? Nur wegen des ganz
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unerheblichen Umstandes, daß er nachweislich nie
in Ägypten gewesen, auch kein tropischer Pflanzer und
Züchter war, sondern ein deutscher Hausknecht oder
etwas ähnliches. Auch war er wegen Betruges bereits
vorbestraft.
Wenn der so prächtig dem gegenwärtigen Zustande
der Presse angepaßte Mann zufällig einen Tag lang
in Ägypten gewesen wäre und hätte genau dieselben
Geschichten sich aus den Fingern gesogen, er wäre der
klassische Gewährsmann höchster Wahrheit geblieben.
Wie aber — auch unsere andern Journalisten sind nicht
täglich allgegenwärtig in Rom, Paris, London, Peters-
burg, Sophia, Washington und wissen doch alles haar-
klein zu berichten! Soll das nun künftig auch Betrug
sein? Oder ist es nur ein Verbrechen, wenn man Re-
daktionen anschmiert, dagegen ein wohlgefälliges
Werk, wenn das Publikum daran glauben muß?
Sollen die tropischen Entenzüchter nun alle Zwangs-
arbeit leisten und führt der Weg von der Stimmungs-
zuchtanstalt der Redaktionen direkt ins gänzlich
stimmungslose Zuchthaus ? Und werden wir niemals
wieder lesen: Aus politischen Kreisen Stockholms er-
fährt man durch ein Budapester Telegramm über die
Stimmung in Cetinje . . ?
Die Kriegssprache. Die Blutlyriker umhüllen
noch immer den Krieg mit mystischem Glanz; sie
schwelgen in ungeheuren Empfindungen und ersinnen
große und rauschende Worte. Dagegen ist die tech-
nische Kriegssprache von einer harten Sachlichkeit, in
der das wirkliche Wesen des Kriegs um so wahrhaftiger
zum Ausdruck kommt, als dieser Stil ganz absichts-
los entstanden ist, ohne das man sich seines grauen-
haften fletschenden Hohns auch nur bewußt wird.
Wir hören, daß die Stadt X „ausgiebig mit Bomben
belegt" sei. Jedes Wort ist hier wie vom Genius der
Unmenschlichkeit selbst geformt. Ausgiebig . . belegt!
187
Man könnte gar keine anderen Wendungen finden, die
so diesen entsetzlichen grinsenden Humor befriedigter
Zerstörung bezeichnen.
Oder die Versenkung etlicher Schiffe wird durch den
Satz mitgeteilt, daß die Unterseeboote „saubere Ar-
beit verrichtet hätten". Die ganze Welt schaffender
Arbeit versinkt in dieser parodistischen Anwendung
des Begriffs Arbeit zur Kennzeichnung des Gegen-
teils aller menschlichen Arbeit.
„Franzosennester wurden vom Feinde gesäubert."
Welche versteinernde Wahrhaftigkeit! Für den Krieg
sind in der Tat Menschen nur eingenistetes Ungeziefer,
von denen man die Erde säubert. Die höchste Steige-
rung der Kriegssprache aber konnte man neulich in
der triumphierenden Feststellung erleben: daß Ser-
bien vom Feind gesäubert sei. Wer ist der Feind, von
dem Serbien gesäubert worden? Die eigenen Be-
wohner, die eigenen Soldaten des Landes! Die Men-
schen werden in dem Augenblick, wo sie ihr Vater-
land verteidigen, zum Feinde ihrer eigenen Erde. Und
das ist die rechte Sprache des Krieges, der in der Tat
nichts kennt, wie Gewalt, Haß, Vernichtung; und für
den auch der Patriot vor der überlegenen Macht zum
Ungeziefer des eigenen Grund und Bodens wird, den
man säubert von den Menschen, die gestern noch
auf ihm ackerten, ernteten und sich freuten . . .
Laute Gedanken. Man hat in diesem Kriege
alle Waffen angewendet, die der Dämon der Zer-
störung ersinnen kann. Man hat jede völkerrechtliche
Vereinbarung, jeden Vertrag, der die Kriegsführung
irgendwie hinderte, verletzt. Nur eine Waffe hat
bisher niemand anzuwenden gewagt: die Wahrheit.
Vielleicht ist das gerade die einzige Waffe, die den
Frieden erkämpft.
* *
188
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In einer zukünftigen Menschheit wird man es nicht
mehr verstehen, daß Millionen Menschen sich gegen-
seitig morden, weil entschieden werden soll, wie die
staatlichen Grenzen über die Erde laufen. Dann wird
es für ebenso gleichgültig gehalten werden, zu welchem
staatlichen Verband dies oder jenes Volk gehöre, um
so wichtiger aber wird es sein, daß das Volk sich inner-
halb seiner Grenzen eine wahre Heimat schaffe.
* *
*
Nachdem man in den Krieg geraten, sucht man be-
gierig eine Ideologie des Kriegs, die das Furchtbare
erträglich machen soll. Also fordert man Sicherung
gegen zukünftige Kriege und die Freiheit der Meere.
Sollte man nicht zuvor erst Sicherung gegen den gegen-
wärtigen Krieg und die Freiheit der Länder ver-
langen ?
Von einem Parteigenossen las ich jüngst einen Ar-
tikel, in dem nicht ohne Selbstbewußtsein festgestellt
wurde, daß „wir Sozialisten" gelernt haben, nicht
politischen Spekulationen, Betrachtungen und Wün-
schen zu vertrauen, sondern der Macht der wirtschaft-
lichen Tatsachen und Entwicklungen. Danach schei-
nen „wir Sozialisten'* uns von den Kapitalisten zur
Zeit nur noch dadurch zu unterscheiden, daß wir
materialistischen Sozialisten die Macht der wirtschaft-
lichen Tatsachen erkennen, während die ideolo-
gischen Kapitalisten es vorziehen, die Macht der wirt-
schaftlichen Tatsachen nicht zu erkennen, aber sie an-
zuwenden, auszuüben, auszubeuten!
* *
Jedesmal, wenn die Gefahr bestand, daß ein weiterer
Staat sich dem Krieg gegen Deutschland anschließen
würde, las ich in deutschen sozialdemokratischen
189
Blättern stürmische, fast revolutionäre Betrachtun-
gen, in denen das italienische, rumänische, griechische
Volk belehrt wurde, welches Verbrechen, welchen
Selbstmord sie begehen würden, wenn sie sich in den
Krieg hetzen würden. Es fiel mir auf, daß diese Frie-
dens-Beschwörungen im Falle der Türkei und Bulga-
rien unterblieben!
*
Wir hören heute oft, daß die Sonderlinge, die dem
Kriegswahn trotzen, verrückt seien. Abgesehen davon,
daß es mir recht barbarisch erscheint, Menschen, die
geisteskrank sind, ihr Leiden ins Gesicht zu schreien
und sie obendrein noch wegen ihrer Erkrankung zu
beschimpfen, in welchem fürchterlichen Wahnsinn ist
zu dieser Zeit die gesunde Menschheit befangen, daß
man toll sein muß, um zu wagen, auszusprechen, was
man denkt; daß nur der sich einbildet, durch die Macht
der Vernunft wirken zu können, der unheilbar ver-
rückt ist.
* . *
Die Schwierigkeiten des Komparativs. Der
Zeitungsleser will täglich eine Entwicklung, eine
Steigerung der Ereignisse, im günstigen oder un-
günstigen Sinne. Die Erfüllung dieses Verlangens ist
schon deshalb schwierig, wenn nicht unmöglich, weil
die Zeitungsleser aller am Kriege beteiligten Völker
die gleiche Steigerung ersehnen, zugunsten der
eignen, zuungunsten der feindlichen Macht. Zudem
ist es die Art des modernen Krieges, daß er nicht die
dramatisch raschen Steigerungen kennt, die von der
ungeduldigen Phantasie begehrt werden. Da die Ereig-
nisse selbst solcher Neigung sich sträuben, begibt
sich die Presse in die üppig fruchtbaren Gelände der
— „Stimmungen", auf denen man täglich aufs neue
mähen und säen kann. Aber auch die Steigerung der
190
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Stimmungen erweist sich als äußerst heikel, und nur
durchführbar, wenn man voraussetzt, daß das Gedächt-
nis des Zeitungslesers keinesfalls die Grenze von sechs
Stunden überschreitet, daß man bei der Lektüre des
Abendblatts bereits alles vergessen hat, was man im
Morgenblatt gelesen.
Der Anfang nämlich ist allemal der dröhnende
Superlativ, das Höchstmaß erreichbarer Kraftent-
faltung. Will man da auf den im ersten Sturm ge-
nommenen Gipfel immer neue Erhöhungen türmen,
den Superlativ des Anfangs durch nachfolgende Kom-
parative steigern?
Als der Krieg ausbrach, konnte man in Petersburg,
Berlin, London und Paris gleichermaßen lesen, das —
feindliche — Volk zöge so widerwillig und verzweifelt
in den Krieg, daß es gegen die Regierung revolutio-
niere. Vierzehn Tage später erfuhr man, wiederum
gleichermaßen in Petersburg, Berlin, London und
Paris, daß die anfänglich so begeisterte Stimmung
(beim Feinde!) nachzulassen beginne; um nach ferne-
ren zwei Wochen abermals zu erfahren, daß die noch
vor vierzehn Tagen überschwengliche Jubelstimmung
Anzeichen des Niedergangs verrate. Seitdem läßt
nun in demselben Grade die Stimmung immer mehr
oder auch immer weniger nach. Um dieser fortgesetzten
Minderung der Begeisterung fähig zu sein, muß also
die Stimmung zu Beginn nicht hoffnungslos ver-
zweifelt gewesen sein, sondern über alle Maßen be-
rauscht.
Ähnlich wird die Stimmung im Verlaufe einer der
mehrwöchigen Riesenschlachten positiv oder negativ
gesteigert. Beim Beginn der Schlacht wird die Stim-
mung des Gegners dahin gekennzeichnet, daß er ohne
jede Erwartung, wie ein im voraus zum Tode Verur-
teilter, müde und widerwillig hineingetrieben werde.
Acht Tage später hören wir von einem Nachlassen
der anfänglichen Siegeszuversicht, und nach vierzehn
191
wird gemeldet, daß man nach dem prahlerischen
Siegesgeschrei anfange, etwas kleinlaut zu werden.
Diesen Komparativen, die nicht mehr wissen, was
ihr Positiv ist und dem vergessenen Superlativ folgen,
verdanken gewisse kleinere Völker den Vorteil, daß
sie immer wieder geschlagen werden können, obwohl
sie längst durch Feind, Seuche und Demoralisation
bis auf den letzten Mann ausgerottet sind. Wir lassen
etwa folgende Entwicklungsreihe auf uns wirken :
Erstens: Die feindliche Armee ist mit Hinterlassung
von vielen Tausenden von Toten, Verwundeten und
Gefangenen in wilder Flucht aufgelöst; sie ist nicht
mehr kampffähig; sie hat drei Viertel ihres Bestandes
verloren, der Rest hat die Waffen weggeworfen.
Zweitens (drei Wochen später): Die feindliche
Armee rückte mit starken Kräften vor; sie wurde mit
schweren Verlusten — die fast die Hälfte der ursprüng-
lichen Armee ausmachen — zurückgeworfen. Drittens
(zwei Monate später) : Die feindliche Armee ist über die
Grenze vorgedrungen, wir gingen, um eine günstigere
Stellung zu gewinnen, unbemerkt und ungestört vom
Feinde langsam und in voller Ordnung zurück; im
feindlichen Heere wütet die Cholera. — So wird im
Laufe des Krieges solch ein merkwürdig zähes Volk
allmählich zu gut fünfzehn oder zwanzig Vierteln
ausgetilgt und — marschiert trotzdem immer noch
vorwärts . . .
Sollte der Zeitungsleser nicht schließlich doch an-
fangen, weniger Stimmungen und mehr Tatsachen,
weniger Superlative und Komparative und dafür lieber
ganz bescheidene schlichte Positivformen des Geschehens
zu verlangen ? (Antwort 191 8 auf die Frage von 191 5 :
Der Komparativ wütet unermüdlich!)
Die neue Erfindung. Vier Herren sitzen beim
Mittagessen im Speisesaal des vornehmen Hotels. Sie
sind ältlich, glatzköpfig, die Backen und Stirnen ge-
192
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rötet vom angestrengten Essen und Trinken. Sie
reden — ein wenig fiebrig — aufeinander ein und be-
stärken sich in ihren Meinungen, indem sie sich, sie
einander immer wiederholend, mitteilen.
Der eine, der mit der verfettetsten Herrschermiene,
führt das Wort. Er ist offenbar der Erfolgreichste der
Tafelrunde von Kriegslieferanten, als die ihre Ge-
spräche sie sofort kennzeichnen.
„England, hm England — die Sache ist die, daß ein
englischer Kaufmann oder Fabrikant nur 4 — 5 Stunden
täglich arbeitet. Daher unsere Überlegenheit und ihr
Neid. Sie wollen selbst nicht schuften und gönnen
uns unseren Fleiß nicht. Wissen Sie, was ich täglich
arbeite ? . . .*'
Die andern wußten es zwar, aber sie bezeugten doch
ihren lebhaften Drang, es noch einmal zu erfahren.
Der Gebietende fuhr eifrig fort: „Um 8 Uhr bin
ich in der Fabrik, und um 6 Uhr bin ich es noch. Ein
Hundeleben! Ich weiß oft nicht, wo mir der Kopf
steht. Und dann das ewige Reisen. Vor drei Wochen
in Königsberg, vorige Woche in Köln und in (er zwin-
kert bedeutsam geheimnisvoll) Brüssel. Jetzt in Mün-
chen. Wissen Sie, und immer Ärger. Ich brauche für
einen meiner Artikel eine Werkzeugmaschine. Ich
fahre nach Leipzig, um sie zu kaufen. Früher hat das
Ding 1800 M. gekostet. Raten Sie, was die Kerle jetzt
von mir verlangt haben! Sie raten es doch nicht:
6400 M. ! Sage und schreibe. Keinen Pfennig weniger.
Ich sage zu dem Direktor: Das ist aber teuer! Was
antwortet er: Wenn Sie kein Geld haben, brauchen
Sie ja nicht zu kaufen . . . Was sollte ich machen.
Ich blechte . . ."
Die andern waren einig in der Entrüstung über
solche Übervorteilung. „Man könnte sonst jetzt noch
viel mehr verdienen," klagte einer. Der bescheidenste
aber der Vier, der fast ein wenig kümmerlich aussah,
meinte seufzend, es wäre gleichwohl am besten, wenn
13 Eisoer, Gesammelt« Schriften. I.
193
der Krieg bald aufhöre. Sein Bedarf am Krieg wäre
gedeckt: „Wann glauben Sie, fällt die Entscheidung?"
Der Gebietende zwinkerte, dämpfte seine Stimme
zu einem rauhen Flüstern und lockte damit die andern
drei Köpfe, sich zu seinem Munde vorzubeugen.
Dann sagte er:
„Wir haben eine neue Erfindung! Aber natür-
lich ganz im Vertrauen, meine Herren. Es wäre mir sehr
peinlich, wenn etwas weitergesagt würde. Also diese
Erfindung — die andern haben keine Ahnung davon —
ist eine Maschine, die Stichflammen erzeugt, die
auf iooo Meter Reichweite alles versengen, alles ver-
brennen. So werden wir die Schützengräben aus-
räuchern. Auch von Zeppelinen und Fliegern werden
wir die Flammen aussenden. Tausend Meter Reich-
weite, die bald noch vergrößert werden wird. Hundert-
tausend Maschinen sind fertig, Tag und Nacht wird
gearbeitet. Sache, waa aas ss ?!.. ."
Einen Augenblick schweigt alles in den Schauern der
neuen Offenbarung. Die Köpfe leuchten. Ihre Phan-
tasie schwelgt in den Bildern von Menschenhaufen, die
durch die Feuersglut in ihren Gräben wie zusammen-
gelötet werden, von Städten, die plöztlich in Flammen
stehen, von Kriegsschiffen, deren Mannschaft aus
Angst vor den Flammenpfeilen über Bord springen;
vergebens, denn auch ins Wasser dringt siedend das
stechende Feuer.
Dann löst sich der Bann. Alle sind einig: „Der Feind
wird schwitzen!" — „Und niemand kann uns das nach-
machen; niemand, Ehrenwort!" schließt der Gebie-
tende.
„Darauf sollten wir eins trinken", meint sein Gegen-
über. — „Machen wir! Ich zahle. Aber was?" —
„Natürlich Sekt!" — „Geht nicht!"
Der Gebietende schaut sich vorsichtig im Lokal
um: „Irroy könnte unangenehm auffallen."
194
„Deutscher Sekt genügt auch," rät der Kümmer-
liche.
„Nein, nein — das geht noch weniger. Aber warten
Sie . . . Die Leute haben sich doch höchst anständig
benommen. Trinken wir 'ne gediegene Marke — in
Luxemburg auf Flaschen gefüllt" . . .
Französische Gedankengänge. In der eng-
lischen Zeitschrift Harpers Weekly schreibt 1915 Nor-
man Hapgood über die „revolutionären" Gesichts-
punkte, unter denen die Franzosen einen vollkommenen
Sieg über Deutschland betrachten. Der Artikel ge-
winnt dadurch eine gewisse Bedeutung, daß die Hu-
manite' in ihm eine sehr klare Darstellung französischer
Gedankengänge findet.
In den Augen der Franzosen, schreibt Hapgood,
würde der Sieg vollständig sein, der den von der
oligarchischen Regierung unterdrückten Individualis-
mus in Deutschland wiederherstellen würde; der, wie
immer auch um den Preis einer Revolution, in der
deutschen Politik die demokratische Kontrolle herbei-
führen würde. Niemand ist so naiv zu glauben, daß die
zukünftige Regierung Deutschlands von außen ein-
gesetzt werden könnte. Sicher glaubt mehr als ein
Franzose, daß Großbritannien die Waffen nicht früher
niederlegen würde, als bis es sich der Person Wilhelms II.
bemächtigt hätte, wie es sich Napoleons bemächtigte;
aber diese Meinung hat nichts zu tun mit den über die
notwendigen Änderungen des deutschen Ideals ver-
breiteten Gedanken. Diese Änderungen müssen vom
Volk selbst gewollt sein, und es wird sie wollen, wenn
die Niederlage ihm das militaristische und imperia-
listische Ideal verleidet hat. In seiner Industrie mehr
getroffen als seine Verbündeten, grausamer leidend
unter dem Verlust seiner Söhne, weil es weniger Kin-
der erzeugt, sieht Frankreich das Heil nur in der zu-
künftigen Demokratisierung Deutschlands, die ihm
13- 195
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erlauben würde aufzuatmen und seine Zukunft sichern
würde. Ein solches Ergebnis kann nicht von einem
hinkenden Frieden kommen, der nur den Hochmut
des unbesiegten Deutschlands steigern und es bereit
machen würde, ein neues Abenteuer vorzubereiten.
Ganz Frankreich glaubt, daß eine Niederlage Deutsch-
land viel nützen würde, während ein Sieg Deutsch-
lands das Ende der französischen Zivilisation wäre.
Deshalb ist Frankreich heute so ruhig, so tapfer, so
geduldig, so verschieden von dem, was die Ignoranten
draußen erwarteten. Es sagt stolz vor aller Welt, daß
es den Frieden wollte, aber daß niemand von ihm er-
warten könne, es würde noch einmal einer so schreck-
lichen Drohung die Stirne bieten müssen ... Es
wünscht einen Sieg der Völker, die den Frieden lieben,
über die Nation, die die Beute des Militarismus ge-
worden ist . . . Ich für meine Person weiß nicht, fügte
der englische Verfasser hinzu, ob wirklich eine voll-
ständige Niederlage nötig ist, um den Angriffsgeist
Deutschlands zu ändern; ich sage nur, daß das die
Meinung in Frankreich ist.
Die Verdurstung als Kriegsmittel. Bei der
Belagerung von Paris 1870/71 galt es, nicht nur durch
Aushungerung der Millionenbevölkerung, sondern
auch durch Erschwerung der Trinkwasserzufuhr die
Pariser zur Verzweiflung und zur Übergabe zu treiben.
Man hatte vor Paris in der Villa des Ministers Rouher
die Spezialpläne der Wasserleitungen von Paris ge-
funden. Einige Quellwasserleitungen und Kanäle ge-
lang es in der Tat abzuschneiden. Unmöglich war es
natürlich, Paris ganz das Wasser zu entziehen, sonst
hatte man Seine und Marne ableiten müssen. Dagegen
rechnete man auf die ungünstigen Wirkungen, die eine
Störung der Wasserleitungen zur Folge haben mußten.
In Betracht kamen besonders das aus der Marne
schöpfende Dampfpumpwerk von St. Maur. Gelang
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es, dieses Werk zu zerstören, so waren die Arbeiter-
viertel von Belleville und Neuil montant ohne Wasser.
Was man damit erreichen wollte, hat der damalige
Leiter der Artillerieoperationen gegen das Werk, der
Hauptmann Reinhold Wagner, später so dargestellt:
„Jene Stadtteile waren nicht nur die am dichtesten
bevölkerten von Paris, sondern diese meist aus Ar-
beitern bestehenden Volksmassen auch von jeher am
ehesten zu revolutionären Bewegungen geneigt . . .
Kam zu den sonstigen Entbehrungen dieser unbe-
mittelten Volksmassen noch Wassermangel hinzu, so
ließen sich davon füglich Rückwirkungen auf die Ver-
teidigung der Stadt erwarten, welche deren Fall be-
schleunigen konnten. War hierauf auch nicht mit ab-
soluter Gewißheit zu rechnen, so hatte doch anfäng-
lich auch Moltke Hoffnungen auf unruhige Bewegungen
in der Stadt gesetzt."
Übrigens mißlang der Plan. Die Artillerie erreichte
das Werk nicht.
Und sie schrieben Briefe. In seinem Buch
„Rußland und der Krieg" teilt Alexinsky den folgen-
den Schulaufsatz eines kleinen Chinesen über den
Ursprung des Weltkriegs mit: „Gegenwärtig gerade
gibt es einen großen Krieg in Europa. Der Krieg hat
begonnen, weil der Prinz von Österreich mit seiner
Prinzessin nach Serbien gereist ist. Ein Mann in Ser-
bien hat sie getötet. Österreich hat sich geärgert und
den Krieg gegen Serbien angefangen. Deutschland
schrieb Briefe an Österreich und sagte: Ich werde dir
helfen. Rußland schrieb einen Brief an Serbien: Ich
helfe dir. Frankreich hatte keine Lust, sich zu schlagen,
aber bereitete seine Soldaten vor. Da schrieb Deutsch-
land einen Brief an Frankreich: Du darfst dich nicht
vorbereiten, denn wenn du es tust, werde ich dich
in neun Stunden schlagen. Und Deutschland begann
sich mit Frankreich zu schlagen und marschierte auf
197
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Belgien. Belgien sagt: Ich bin ein Land und nicht
eine Straße für dich. Und Belgien schrieb einen Brief
nach England, um ihm mitzuteilen, was Deutschland
begangen hatte. Und so leistete England Belgien
Hilfe." — Dieser Aufsatz eines chinesischen Knaben
bildet eine furchtbare Bekräftigung der alten Mahnung :
man soll keine Briefe schreiben.
Distanz. Im Waldfriedhof zu München haben die
Kriegsgefallenen ihr eigenes Gelände. Jede Abteilung
hat innerhalb ihres Bereichs das gleiche Marterl auf
jedem Grabe als Schmuck und Namensmal ; aber von Ab-
teilung zu Abteilung wechseln die Grabzeichen Farbe,
Form, Verzierung. Dieser Wechsel von Gleichheit und
Mannigfaltigkeit spiegelt im Tode die Kameradschaft
im selben kleinen Verband und die Verschiedenheit
der Abzeichen der größeren Truppeneinheiten wieder.
Der Tod hat hier unter den hohen Tannen fast etwas
wie bunte einfache bäuerliche Kirmes -Freudigkeit,
die ermüdet eingeschlafen ist und, still geworden, vom
lustigen Tage träumt . . . *Dann aber sieht man ab-
seits vom Haufen Einzelgräber von Gefallenen, deren
Marterln größer und reicher sind, auch das Personale
der Aufschriften ausführlicher und ehrerbietiger mit-
teilen. Das ist das Totenkasino der Offiziere, das von
der stummen Mannschaftskantine räumlich und sozial-
ästhetisch streng getrennt ist.
Erhält der Friedhof der Gefallenen einmal ein Gitter
und ein besonderes Portal, so wird man auf ihm die
Worte aus Heinrich V. anbringen müssen:
Daß wir dies blut'ge Feld durchwandern dürfen,
Die Toten zu verzeichnen und begraben,
Die Edlen vom gemeinen Volk zu sondern;
Daß — o des Wehs ! — viel unsrer Prinzen liegen
Ersäuft und eingeweicht in Söldnerblut;
So taucht auch unser Pöbel rote Glieder
In Prinzenblut . . .
198
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Was übrigens heute an der Front nicht zu be-
fürchten wäre, soweit es Prinzen sind . . .
Märzstürme 191 8. Die erhabene Begeisterungs-
sprache vom August 1914 ist wieder erstanden. Wie
damals Wilhelm II. der Welt verkündete: „Nun wollen
wir sie dreschen!" und sein ältester Sohn ermunternd
wiederholte: „Immer feste druff," so äußert sich jetzt
in der gleichen Sprache Hindenburg: „Die Geschichte
da drüben ist ins Rutschen geraten," worauf der Kriegs-
berichterstatter des Berliner Lokalanzeigers ins Rut-
schen geriet und stammelte : „Und Hindenburg sagte,
als ich mich in der Abendstunde von ihm verabschieden
durfte, indem er mir die Hand reichte, „in seiner
wunderbaren, überwältigenden Schlichtheit
der Rede: „Die Geschichte da drüben" usw. In
dieser selben wunderbaren, überwältigenden Schlicht-
heit der Rede erzählte mir im Dezember 191 7 (im
Eisenbahnwagen) ein Soldat, wie sie die englischen
Gefangenen truppweise abführten (besonders die Ka-
nadier, die so unverschämt seien, sich noch zu wehren,
wenn man schon bei ihnen wäre) und dann Hand-
granaten unter sie würfen : „So kriegen wir das Zeug's
weg." (Derselbe Soldat hatte auch das weiche deutsche
Gemüt; denn vorher hatte er tränenden Auges be-
richtet, wie er in Gotha die Sachen eines gefallenen
Offiziers dessen Mutter übergeben und dabei so er-
schüttert gewesen sei, daß er sofort wieder weggelaufen
sei, weil er den Schmerz der Frau nicht aushalten
konnte.)
Auch die Kanonenhymnen leben wieder auf: teils
mit Verzückung, teils mit neckischem Humor, wie bei
den 42 cm-Geschützen, die die Jungfer Lüttich seiner
Zeit entjungferten (wie die Dichter damals kriegs-
erotisch anschaulich sangen). Heute weidet man sich
an der witzigen Überraschung, daß aus märchenhafter
Ferne plötzlich ungezählte Granaten auf Paris hageln,
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spottet über die phantastischen Erklärungen der Pariser
Zeitungen und jauchzt über den Triumph deutscher
Wissenschaft und Technik. Auffällig aber und undank-
bar ist, daß man das wesentliche Mittel der deutschen
Offensiverfolge nicht als die letzte höchste Eingebung
germanischen Erfindergeistes und deutscher Kultur
feiert: das Giftgas! Das Giftgas entscheidet die Welt-
geschichte! Da man gleichzeitig mit gesteigerter In-
brunst und Häufigkeit sich in den offiziellen Kund-
gebungen auf den besonderen gnädigen Beistand Gottes
beruft, ist nunmehr das Wesen dieses Gottes der deut-
schen Fürsten und Generäle endgültig festgestellt:
Sie sagen Gott und vergiften die Luft. Gott ist ein
Giftgas! . . . Gibt es nicht außerhalb dieser Erde
irgendwo ein Zuchthaus, in das man mich von dieser
großen Zeit abschließen kann?
Die „Deutsche Tageszeitung" schrieb am 25. März:
„Und hätte man vor wenigen Wochen behauptet,
wir Deutsche hätten Geschütze, die 120 Kilometer
Schußweite besitzen, so daß wir von unserer bisherigen
Front bis nach Paris hinein langen können, man
wäre zum mindesten als Phantast angesehen worden.
Wieder ist die ganze Welt durch die nun zur Tat-
sache gewordenen Beschießung der Festung
Paris vor ein Wunderwerk deutschen Erfinder-
geistes, deutscher Technik und Schaffenskraft ge-
stellt worden; und muß sich staunend fragen: Was
kann und muß ein solches Volk, das solche
Taten und solche Wunderwerke aus eigener
Kraft hervorbringt, im Frieden einst
leisten?"
Was mag man dann wohl aus 120 km Entfernung be-
schießen ? Was mag einer, der die kühnsten, technisch
glänzendsten Einbrüche verübt (aus eigener Kraft!),
erst leisten, wenn er — nicht einbricht ! Es ist die gleiche
Frage. Übrigens hat der Dreißigjährige Krieg die Ant-
wort gegeben.
200
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Ein Opfer. Die arme Sonja hat sich in Stadelheim
erhängt. Nicht wegen des „Landesverrats", sondern
um der tiefsten Demütigung ihrer Frauenliebe zuvor-
zukommen. Es war ein paar Tage vor dem Termin
ihrer Ehescheidung. Dieser prachtvolle deutsche
Philologe, für den die Sonja gearbeitet und gerackert
hatte, der sich vor mir einen Tolstoianer nannte,
widerstrebte gleichwohl dem Übel, und veröffentlichte
in dem Augenblick, als seine Frau unter Anklage eines
mit Zuchthaus bedrohten Verbrechens verhaftet war,
in den Blättern eine Erklärung, daß er schon vor einiger
Zeit die Scheidungsklage eingeleitet habe. Die deutsche
Öffentlichkeit nahm an dieser Handlung anscheinend
keinen Anstoß; man fand sie offenbar selbstverständ-
lich. Not kennt kein Gebot. Die Deutschen sind ja
das ritterliche Volk. Außerdem war sie nur eine kleine
russische Jüdin und er ein kerndeutscher Mann wenn
auch Romanist. Sie schämte sich für ihn, und als sie
sah, daß er es wirklich zum Scheidungstermin kommen
ließ, vollzog sie freiwillig und gründlich die Scheidung.
Denn sie liebte diesen Mannl Sie hatte sich während
der Streikwoche mir anvertraut. Man hatte ihr ein-
geredet, daß politische Agitation — „Landesverrat"
stand ja damals noch nicht in Frage — ein Scheidungs-
grund sei. Unter dieser lächerlichen Pression hatte sie
eingewilligt, die Ehe friedlich zu trennen. Als ich ihr
den Unsinn auseinandersetzte, daß deshalb eine Ehe
geschieden werden könnte, wollte sie zum Rechts-
anwalt gehen und ihre Einwilligung zurückziehen.
Das sagte sie mir am 31. Januar, während des Mün-
chener Demonstrationszuges. Ihre Absicht wurde
durch die Verhaftung vereitelt. Ich bemühte mich, sie
zu trösten : Ein Mann, der so handle, sei es doch nicht
wert, daß man seinetwegen leide. Da wurde sie erregt
und ersuchte mich sehr energisch, darüber nicht zu
reden : ihr Mann sei ein Charakter. Da wußte ich, daß
sie den Mann dennoch liebte. An dieser Liebe ist sie
201
gestorben. Die Gefängnis-Psychose, die langen ein-
samen, schlaflosen Nächte vollendeten das Werk see-
lischer Zerrüttung. Ich sah sie seit unserer Verhaftung
zweimal. Einmal begegnete sie mir noch im Polizei-
gewahrsam. Sie wollte auf mich zu und mir die Hand
geben. Das wurde verhindert. Das zweite Mal sah
ich sie im Hof des Untersuchungsgefängnisses; sie
stand naß im Regen, frierend, völlig zusammengefallen,
an die Mauer gelehnt, wie eine Versinnbildlichung
der Obdachlosigkeit; sie endigte ihren „Spaziergang"
und ich begann ihn, wir nickten uns bei dieser Ab-
lösung stumm zu. Eine russische Märtyrerin auf deut-
schem Boden. Sie erlebte das Martyrium doppelt, als
russische Sozialistin in der deutschen Partei und als
russische Frau bei dem deutschen Universitätsgelehrten
. . . Später erfuhr ich, daß ihr Mann sie während der
Haftzeit niemals besucht hat.
Die Sorge um Soissons. Einer der Professoren
des kaiserlichen Hauptquartiers, die unseren Weltruf
als Hunnen und „gelehrte Barbaren" zu widerlegen
beamtet sind, indem ihnen die durch unsere Invasion
unmittelbar und mittelbar veranlaßte Zerstörung hei-
ligsten Kunstgutes unablässig das Herz bricht und
dann von ihnen wissenschaftlich-katologisch ersetzt
wird, ohne zu ahnen, wie gerade diese Mischung von
Gemüt, Wissenschaft und Kriegsnotwendigkeit bei
den Betroffenen wirkt, — Herr Paul Clemen schrieb
am i. August 191 8 im Berliner Tageblatt am Schlüsse
von Betrachtungen über die Zerstörung von Soissons:
„Die bange Frage stellt sich ein: in welchem Zustand
werden wir die Stadt einst im Frieden abtreten
können ? Die Vollendung der Zerstörung liegt jetzt
ganz bei den Gegnern." Als der Professor seine Bangig-
keit in die Presse ausströmte, räumten wir gerade
Soissons. So entriß der Franzose in grausamer Tücke
den deutschen Professor, der über den Kunstschätzen
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Soissons zärtlich wachte, seinen Seelenqualen, der
Gegner möchte, um der Kunst willen, nicht auf die Ver-
drängung der Deutschen aus seinem Lande verzichten,
sondern lieber brutal die eigenen Kunstwerke und
ihre fremden Pfleger bombardieren. Das war der feind-
liche Dank für den deutschen Kunstprofessor, der den
Franzosen eben großmütig verheißen hatte, wir wür-
den ihnen Soissons einst im Frieden wiedergeben!
Sie konnten bis dahin nicht warten! Und die Gönner
des Professors — vermutlich zu seinem fassungslosen
Erstaunen — auch nicht !
Redeoffensive. Alle die Maßgebenden, die seit
dem deutschen Rückzug im Sommer 191 8 plötzlich
rednerisch zum Volk herabstiegen, bedienten sich der
aufrichtigen Versicherung: Wir haben schon schlimmere
Krisen überwunden als die heutige! Das ist eine Sen-
sation. Wie? Wir haben schon schlimme Gefahr-
zeiten hinter uns? Wann hat man uns ein einziges
Mal während der vier Kriegsjahre gesagt, daß die Lage
schwierig sei ? War sie nicht immer gut, ausgezeichnet ;
beruhigte man uns nicht immer, daß wir's schaffen
würden ? Auf einmal enthüllt man uns die ungeahnten
Bedrängnisse, die wir — hinter uns haben: so schlimm
wie damals (als es doch nach den übereinstimmenden
Pressebeteuerungen ganz prächtig war!) stünde es
jetzt nicht. Man reißt von der Vergangenheit die
Maske, um mit ihren Fetzen sich vor den Fragen der
Gegenwart zu verbergen. Wir wissen aber jetzt, daß
man uns die Wahrheit erst immer hinterher sagt und
fordern Auskunft. Welch Mittel habt ihr in Zukunft
bereit, um die Gefahr von heute zu bewältigen? —
Wir fordern? Ach nein; wir werden erst später hören,
wie wir uns heute befinden, und darauf warten wir
in Geduld. Wir fordern nichts. Wir haben keine Be-
dürfnisse, die Dinge zu erkennen, so lange sie sind und
wirken. Wir leben für die Archive ... wir Achiver!
203
Kleine Kriegs-Märchen.
I. Das Merkmal der Rassenzüchtung. Ein
Marsgeschöpf kam auf die Erde und ließ Erscheinungen
und Vorgänge sich erklären. In einer Stadt sah er viele,
viele Wesen, die blind waren, denen Beine und Arme
fehlten, die fortwährend zitterten, die in Atemnot
keuchten und in Schmerzen sich krümmten; auch
solche, die ihren Verstand verloren hatten. Arme
Menschen, sagte das Marsgeschöpf, die so mißraten auf
die Welt gekommen sind; aber es scheint mir grausam,
daß man sie noch besonders kenntlich macht, indem
man ihnen eiserne Kreuze an die Brust heftet. Ein
Mißverständnis, sagte sein Führer: Das sind unsere
Helden, die im Krieg verstümmelt ^wurden, und die
Kreuze sind hohe Ehrungen. Warum führt ihr Krieg?
fragte das Marsgeschöpf. Der Krieg ist ein Gesetz
der Rassenzüchtung, die den Stärkeren siegen und über-
leben läßt, erläuterte sein menschlicher Begleiter; er
dient zur Erhaltung einer starken Rasse.
Das Marsgeschöpf kam in eine Anstalt : Wieder sah er
verkrüppelte, blinde, sieche, geisteskranke Menschen.
Helden! rief das Marsgeschöpf in schmerzlicher Be-
wunderung aus. Nicht doch, erwiderte sein Führer
verächtlich: Das ist ein armseliger Menschenabfall.
Unrat schlechter Züchtung; das Zeug ist schon so ge-
boren. Ah, ich begreife, sagte das Marsgeschöpf, zum
Unterschied von den Helden tragen sie keine eisernen
Kreuze !
Als der Marsbürger heimkehrte, erklärte er seinen
Mitgeschöpfen seine Eindrücke:
Die Erdenmenschen treiben Rassenzüchtung: gute
und schlechte. Die gute geschieht durch den Krieg,
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die schlechte durch die Zeugung. Das sichtbare Er-
gebnis ist in beiden Fällen das gleiche. Nur nennt
man die einen Helden, die anderen Entartete. Damit
man sie nicht verwechselt, hängt man den ersteren
eiserne Kreuze an die Vorderseite.
II. Arithmetischer Landesverrat. In den
Angriff wurden 50000 Menschen geführt, es kamen
10000 zurück. Die übrigen lagen auf der zerrissenen
Erde und konnten nicht zurückkehren, teils weil sie
tot waren, teils weil sie keine Beine hatten.
Der Kriegsberichterstatter berichtete seinem Blatt :
Unsere Verluste waren erschreckend gering. Er hatte
sich verschrieben. Aber die Zensur merkte den Fehler
und schrieb: erfreulich. Dem gedankenlosen Kriegs-
berichterstatter aber wurde als Strafarbeit aufgegeben,
seinem Blatt zu melden: Ich ging auf dem unauf-
geräumten Schlachtfeld spazieren und sah nur zwei von
den Unseren als Leichen; dagegen ist der Boden buch-
stäblich mit feindlichen Leichen besät. Da die Toten
alle nackt ausgezogen lagen, der Beute und Ausrüstung
der Lebenden wegen, hatte der Kriegsberichterstatter
nur zwei jüdische Leichen unterscheiden können, als
er auf dem Schlachtfeld aufgeräumt spazieren ging.
Ein Soldat aber schrieb nach Hause: 50000 waren
wir, als wir den Sturmangriff machten, jetzt sind wir
nur 10000.
Der Empfänger des Briefes rechnete und erzählte
schaudernd: Das Gefecht hat uns 40000 Menschen
gekostet.
Das Reichsgericht verurteilte ihn zu sechs Jahren
Zuchthaus, weil er die deutsche Heeresmacht um
39998 Mann beeinträchtigt hätte; die zwei vom Kriegs-
berichterstatter mit eigenen Augen gesehenen deut-
schen Leichen wurden anerkannt und strafmildernd
abgezogen.
205
III. Die völkerrechtswidrige leichte Ver-
wundung. Der Generalstabsarzt, eine wissenschaft-
liche Autorität, begutachtete: Alle unsere Verwun-
dungen sind sehr leicht, wir werden 99% heilen.
Da verbreitete sich das Gerücht, wie human der
Feind sei, daß er so unschädliche Geschosse verwende.
Das Gerücht kam dem Hauptquartier zu Ohren.
Alsbald begutachtete der Generalstabsarzt, daß der
Feind Geschosse benutze, die scheußliche Zerreißungen
im Körper hervorrufen, die aller Heilkunst spotteten.
Und im Namen des Völkerrechts wurde gegen das
niederträchtige Verfahren des vertierten Feindes vor
Gott und den Menschen Verwahrung eingelegt.
Als dieser Protest bekannt wurde, stiegen im Volke
Dankgebete für den Feind auf und alle segneten ihn.
Im Hauptquartier war man ratlos. Man rief einen
Feldwebel, der den besonderen Auftrag hatte, die
Stimmung in den Massen zu beobachten. Ob er sich
das Rätsel erklären könne. Selbstredend, sagte der Feld-
webel; vor nichts haben die Leute so sehr Angst, als
vor der leichten Heilung, weil sie dann gleich wieder
hinausgeschickt werden.
Bei der nächsten Gelegenheit las man im Tages-
bericht : Die Verwundungen, die der barbarische Feind
völkerrechtswidrig den Unseren zufügte, waren aus-
nahmslos so leicht, daß 99 Prozent unter Verlust der
Kriegs Verwendungsfähigkeit rasch geheilt werden.
IV. Grenzsicherungen. Nachdem wir das Land
des Feindes völlig zerstört hatten, zwangen wir ihn
zum Frieden. Wer die Verwüstungen im Feindesland
gesehen hat, sagte man bei uns, der begreift, wie not-
wendig es ist, daß wir unsere Grenzen gegen solche Ge-
fahren schützen. Und man nahm dem feindlichen
Land ein Drittel des Gebietes zur Grenzsicherung ab.
Das alte Grenzgebiet war nun gesichert, aber das
neue! Also begann man, um der Sicherung der neuen
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Grenze willen, abermals einen Krieg um Sein und
Nichtsein, und fügte ein zweites Drittel des feindlichen
Landes, nur zur Sicherung, hinzu. Worauf wir ge-
wahrten, daß auch unsere letzte Erwerbung wieder
Grenzgebiet geworden sei, das man sichern müsse.
Nach einem neuen siegreichen Krieg eigneten wir uns
das letzte Drittel an.
Nun standen wir am Meere. Aber das Wasser ist
bekanntlich die schlechteste aller Grenzen. Also waren
wir genötigt, das Land jenseits des Meeres durch einen
Krieg zur Gewährung von Grenzsicherungen zu zwin-
gen.
So ging es fort, immer westwärts, mit neuen Grenz-
sicherungen, bis wir schließlich ein Gebiet erreichten,
das uns auffällig bekannt vorkam: wir hatten unsere
eigene stark gesicherte Ostgrenze erreicht und be-
merkten nun schaudernd, wie völlig ungesichert gerade
deshalb unsere mit ihr jetzt zusammenfallende neue
Westgrenze war. Da blieb uns nichts anderes übrig,
als uns selbst anzugreifen.
In diesem Augenblick trat ein Mann auf und lehrte :
Es gibt nur eine Grenzsicherung: keine Grenzen!
Utopist! — lachte man.
V. Das Leichengemüt. Von den Menschen war
nach der Schlacht nicht viel übrig geblieben: ein
Darmfetzen, ein Stück Herz, ein Unterschenkel, eine
halbe Hand, ein mit Kot vermengter Hirnbrei. Man
teilte die Haufen menschlicher Bruchstücke in mög-
lichst gleiche Mengen, und nachdem man ungefähr
ein menschliches Lebendgewicht beisammen hatte,
begrub man es, errichtete ein schön gemaltes Marterl
auf dem Hügel und nun konnte man lesen, daß der
Kanonier Obermeyer den Heldentod fürs Vaterland
gestorben sei. Es mochten auch einige Bruchteile des
Infanteristen Niedermeier darunter geraten sein, viel-
leicht sogar auch ein paar Knochen und Hautstücke
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feindlichen Ursprungs — aber der Tod löscht allen
Haß aus, wenn man ein menschliches Gemüt hat; und
das haben wir Deutschen, Gott sei gedankt.
Nach einem Jahr besetzte der Feind das Gebiet, in
dem der sinnige Friedhof lag, und voll Haß kratzten
sie die Namen von den Marterln ab und nagelten einen
ruchlosen Bretterzaun vor die so kunstreich errichtete
Gräberstätte.
Nach einem Jahre waren wir wieder im Besitze der
Friedhofgegend und sahen die Schändung. Der heilige
Zorn übermannte uns. Das deutsche Gemüt er-
grimmte. Die Photographen arbeiteten im Schweiß.
Gibt es etwas Grausameres als eine Bretterwand und
die Abkratzung von Buchstaben eines Holzkreuzes ?
Von Stund an pflegten wir, wenn wir die Gefan-
genen abführten, Handgranaten unter sie zu werfen.
Danach aber begruben wir, was übrig blieb, und
schmückten ihre Gräber. Wir Deutsche ehren auch
den Feind, wenn er erst einmal explodiert ist . . .
[I— V Pfingsten 1918.]
VI. Die Opposition. Die Partei war program-
matisch revolutionär. Das Programm war erlaubt, die
Revolution nicht. Also nahm man vom Verbotenen
und Erlaubten das Mittel und gestaltete eine höhere
Einheit: Man ward Opposition. Man war gegen alles
und tat nichts. Die Partei wurde dabei fett, die Führer
noch mehr. Und es begab sich, daß ein Krieg drohte.
Da stieg die Partei auf die Schanzen und machte Oppo-
sition gegen den Krieg. Aber der Krieg brach aus. Nun
war auch die Opposition verboten. In diesem Augen-
blick kam den Führern eine zwar schreckliche, aber
doch zugleich rettende Erkenntnis. Man endteckte,
daß es die Natur jeder Opposition sei, so lange nicht
handeln, schaffen zu können, bis sie die Macht hätte.
Da man nun die Macht nicht hatte, konnte man sterben,
ohne etwas getan zu haben. Man war nie dabei, man
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stand draußen. Es gab nur einen Ausweg: Man mußte
die Opposition aufgeben. So geschah es. Endlich hatte
man die Möglichkeit, zu schaffen. Man hatte die Frei-
heit, nach Herzenslust alles zu fördern, wogegen man
früher Opposition getrieben hatte. Man war dabei.
Man stand drinnen. Man war nicht mehr negativ, son-
dern positiv. Man hatte politischen Einfluß.
So trieb man es Jahr und Tag, und hielt es endlich
an der Zeit, nun auch mit zu regieren, und nicht nur
dabei zu sein. Das Gesuch wurde wegen Überfüllung
des Berufs höflich abgewiesen. Da kam eine neue Er-
kenntnis über die Enttäuschten: Man kann auch nicht
handeln, schaffen, wenn man dabei ist, und inzwischen
geht die Partei zum Teufel.
Am nächsten Tage wurde man wieder programma-
tisch revolutionär, in der höheren Einheit unnach-
giebiger Opposition.
VII. Der Unheilbare. Hans war seit seiner Kind-
heit ein Besessener der Wahrheit. Nie hatte ihn jemand
lügen hören. Es kam aber eine Zeit, da alle logen; man
nannte das Patriotismus. Doch Hans log nicht und
sagte die Wahrheit. Als er entdeckte, daß er der einzige
geblieben war, der nicht log, äußerte er in seiner Ge-
wissenhaftigkeit schmerzlich: Alles lügt, nur ich nicht.
Damit gab er ein untrügliches Kennzeichen von sich : Er
war verrückt geworden. Denn nur der Verrückte hält
die ganze Welt für wahnsinnig und sich für vernünftig.
Ein Freund kam zum Irrenarzt: „Unheilbar," sagte
der und zuckte die Schultern. „Kann man ihm denn
diesen Wahn nicht ausreden, daß er allein die Wahr-
heit sagt?"
„Wenn mir das gelänge," sagte der Irrenarzt, „dann
wäre er wirklich verrückt. Denn er hat ja recht, daß
er als einziger die Wahrheit sagt. Ihn heilen, heißt
ihn verrückt machen. Er ist folglich unter allen Um-
ständen unheilbar."
14 Eiioer, Gesammelte Schriften. I.
209
VIII. Führer an die Front! Es war die Art
deutscher Kraft und deutschen Organisationsgeistes,
daß die Genies des Hauptquartiers jede Offensive mit
der genauesten Berechnung aller Einzelheiten vorbe-
reiteten. Die Großkampftage waren nur die materielle
Reproduktion der vorher zum Abschluß gelangten
Gehirntätigkeit. Drei Monate vorher war Tag, Stunde,
Minute, Sekunde des Beginns festgesetzt. Wie in
einem Spezialitätenprogramm war bestimmt, wer und
was um 9 Uhr 35 Minuten aufzutreten habe. Alles
war vorgesehen, die Überraschung der Feinde, der
unvergleichliche Angriffsgeist unserer herrlichen Trup-
pen, die Beschuldigungen der Gefangenen, die sie
teils gegeneinander, teils gegen ihre unfähige Leitung
richteten, die Lippen der Franzosen mit den Clemen-
ceau-Flüchen darauf, die fehlenden Amerikaner, die
Schlachtfelder, auf denen Wälle von Feindesleichen
sich türmten, die Ziele, die, wenn sie erreicht wurden,
genau die waren, die man vorgesehen hatte, und wenn
sie nicht gewonnen wurden, außerhalb des Planes ge-
standen hatten.
So wurde auch die letzte Offensive vorbereitet, die
um den Endsieg Mit seiner humorhaften Ruhe hatte
der gewaltige Generalissimus den aufhorchenden Kriegs-
berichterstattern erklärt: Meine Herren: Es kommt
zum Klappen und es wird klappen.
In diesem Augenblick aber erschien es dem Haupt-
quartier als Pflicht und Lust, bevor der Jungbrunnen
des Krieges wieder für längere Zeit verstopft würde,
einmal wenigstens persönlich den aufgestellten Plan
auszuführen und so alle Ehre für sich zu nehmen. Also
begab man sich, nachdem alles endgültig angeordnet
war und jeder in der Millionenarmee wußte, was er
zu tun habe, in den vordersten Schützengraben des
Frontteils, an dem der endgültige Durchbruch vor-
zunehmen war. Und den Feldherren und Schlachten-
denkern schlössen sich an: die Fürsten und Prinzen,
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die Besitzer, Leiter und Aktionäre der Rüstungs-
betriebe, die Professoren der Giftgase, die Parlamen-
tarier, die Parteiführer, die Preßhomeriden, die
Reichsgerichtsräte, nachdem sie den letzten Landes-
verräter unschädlich gemacht.
Um 4 Uhr 23 Minuten 5 lJt Sekunden morgens brachen
diese Elite-Stoßtruppen programmäßig vor. Der herr-
liche Angriffsgeist überragte alles, was man bisher ge-
wohnt war; weil diese Sturmtruppen ja hoch über denen
standen, die bisher für solche Unternehmungen ver-
wendet wurden, und sie außerdem ihren eigenen Plan
auszuführen, mithin jedes Vertrauen hatten. Sie
wußten vor allem, daß meilenweit keine deutschen
Leichen zu sehen sein würden, daß auch sonstige Ver-
luste überraschend gering sein und die Wunden leicht
heilen würden : Sie hatten es selbst so bestimmt !
Und sie stürmten durch das Gebiet der Meilen, auf
denen vorschriftsgemäß keine deutsche Leiche ge-
funden werden konnte.
Da — plötzlich — klatschte etwas nieder und war
nur noch ein blutiger Klumpen. Aber es war kein
Zweifel möglich, die 24 Orden, die durch eine Fügung
Gottes an der Stelle, die einst eine Menschenbrust war,
unverletzt erhalten waren, bewiesen es: die Leiche
war deutsch!
„Haaalt!" schrie der Generalissimus: „Ein Fehler
im Plan! Alles muß umgeorgelt werden!"
Die Fürsten und Prinzen sahen gleichfalls deutsche
Leichen und sie beschlossen, angesichts solchen durch
die Vorsehung an ihnen verübten Verrats die Führung
niederzulegen.
Die Industrieherren, die Parlamentarier, die Aktio-
näre, die Parteiführer, die Professoren der Giftgase er-
kannten die Notwendigkeit, sich dem Vaterlande zu
erhalten.
Die Preßdichter warfen sich verzweifelt auf die Ur-
schriften der Vorabends hergestellten Siegestelegramme
U9
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die sie bereits abgeschickt hatten. Aber meilenweit
sah man immer mehr Leichen, die deutsch waren.
Im letzten Augenblick schrie noch einer: er nehme
die Kriegserklärung zurück. Aber niemand hörte das
Angebot.
Der Generalquartiermeister wütete: Es muß sich
ein Schreibfehler in den Plan eingeschlichen haben!
Dann sah man auch ihn meilenweit still und deutsch.
So endigte die letzte Offensive und der letzte Krieg.
[Juni 191 8].
Ich habe es nicht gewollt! Ein Mann schlief
mit einem Weibe. Es bekam ein Kind. Der Mann
sollte Alimente zahlen. Er weigerte sich. Er leug-
nete nicht, daß er mit dem Weibe gespielt hätte;
aber andere seien in der gleichen Lage mit demselben
Weibe betroffen worden. Vor allem aber schwor erf
ich habe es nicht gewollt — das Kind nämlich.
Der Richter verurteilte ihn zu den Alimenten und
außerdem — wegen versuchter Empfängnisverhinde-
rung im Komplott mit anderen — zu lebenslänglichem
Zuchthaus, sowie zur Adoption des Kindes, das eine
kretinistische Mißgeburt war.
X. Kultur mit Wasserspülung. Ein Gewerk-
schafter schrieb im ersten Kriegsjahr: „Wir haben
das Ausland überschätzt. Jetzt, wo ich es mit eigenen
Augen gesehen, weiß ich, was Frankreich ist. Der
Schmutz ist unbeschreiblich, und weit und breit nicht
einmal ein Klosett mit Wasserspülung. Sollen wir uns
von solchem Volke besiegen lassen ? Weh uns, wenn ein
solcher Feind über den Rhein käme! Aber weil wir
immer nur unsere eigenen Fehler hervorgehoben und
übertrieben, das Ausland dagegen verherrlicht haben,
darum bildete man sich in der Welt ein, es sei für uns
Deutsche von Vorteil, wenn man uns überfiele. Wir
deutschen Arbeiter werden dafür sorgen, daß siekeine
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Gelegenheit erhalten werden, uns mit ihrer Sorte von
Kultur zu beglücken."
Ich erkundigte mich nach dem Schreiber. Und als
er später einmal auf Urlaub nach Berlin kam, nahm ich
ihn mit zu Kempinski. Ich führte ihn in die unter-
irdischen Lokalitäten — dorthin, wo selbst in Kriegs-
zeiten noch die Wasserspülung reichlich funktioniert,
wenn auch die Handtücher aus umgearbeiteten Vossi-
schen gewebt sind. Der Gewerkschafter war vor Wonne
geneigt, Abführmittel zu gebrauchen, nur um jede der
marmornen Kabinen ausprobieren zu können. Er war
in der langen Zeit der Fremde kulturverhungert und
äußerte: Jetzt fühlt man sich doch wieder als Mensch!
Darauf beschloß er, der Vaterlandspartei beizutreten
und ein huldigendes Treuegelöbnis telegraphisch an
Hindenburg zu schicken. Er wollte unter allen Um-
ständen verhindern, daß die Franzosen nach Berlin
kämen und bei Kempinski die Wasserspülung ab-
schraubten.
[15. 6. 1918.]
Die Schule des Fliegens. Ein Mann ging
einsam auf dem geschlossenen Hofe, immer rundum.
Auf den Betonplatten hallten seine Schritte. Ringsum
sah er graue Mauern, die aus vielen kleinen, eisern ver-
gitterten Fenstern böse und drohend auf ihn herab-
blickten. Da flog ein großer Schatten über den grell
besonnten Boden; wie von einem mächtigen Adler.
Als er aber emporblickte, gewahrte er, daß es zwei
ganz kleine Vögel waren, die hintereinander im Hofe
flogen. Der Mann verstand sich nicht sonderlich auf
Vogelkunde: so war er entschlossen, die beiden kleinen
Vögel für ein Meisenpärchen zu halten, weil es we-
der Spatzen noch Schwalben, noch Amseln waren, die
er kannte. Dankbar sah er ihrem Spiele zu. Es war
Frühling, und die beiden Vögel flatterten lustig im
Spiel der Liebe. Das Männchen flog von der Gefähr-
2x3
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tin weg, als ob es ihr entwischen wollte, ließ sich aber
bald auf einer der vielen Eisenstangen nieder und pfiff
— schon saß das Weibchen eng neben ihm. Dann
machte sich das Weibchen auf und davon, doch nicht
für lange, an einem benachbarten Gitter fanden sie
sich wieder.
Der Mann sprach zu ihnen : „Dumme Vögel, mußtet
ihr euer Nest zwischen diesen öden Steinmauern des
Schreckens bauen ?" — Denn sie hatten ihr Nest unter
der Dachrinne in einer Ecke des Hofes angehängt.
Da flog der Gatte an eines der Fenster ganz unten
und die Gespielin folgte ihm auf die gleiche Eisenstange.
Und beide äugten nach dem Mann, der also gesprochen
und seinen Rundgang unterbrechend stehen blieb, um
ein Gespräch anzubandeln. Seit vielen Monaten ja
mußte er schweigen.
„Pfch! Pfch!" sagte der junge Vogelherr. „Du
großes, schweres, häßliches Tier, du bist gewiß das
gute Geschöpf, das alle diese Eisenstangen für uns an-
gebracht hat, damit wir überall einen Sitz hätten, wo
wir beide miteinander schnäbeln können?" Und er
zeigte, zur Beweisführung seiner Meinung, wie man
das macht. Die Meisin bestätigte darauf anmutig
und glücklich die Ansicht des Ehegatten. Dann flatter-
ten beide zum nächsten Fenster und dort gab das
Männchen dem Rundgänger noch eine Schlußbetrach-
tung auf den Weg: „Pfch! Pfch! Niiiicht? Die Welt
ist doch schön und gut und zweckmäßig! Wir nennen
aber auch diesen Hof das Paradies der tausend
Liebesgötter! Pfiiielen Dank!"
Der Sommer kam. Der Mann ging immer noch auf
dem Hofe, rundum. Im Neste unter der Dachrinne
piepste es jetzt mehrstimmig Und siehe! da flog nun
ein Meisenbübchen im Hof. Es war noch recht ängst-
lich, als ob es wüßte, daß es schwerer sei als die Luft
und nach dem Naturgesetz fallen müßte, wie ein Stein
oder wie das Schwesterchen, das neulich beim Gewitter-
214
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sturmregen aus dem Nest gespült ward und auf dem
Boden zerschellte. Doch die Mama paßte auf, flog
in großen Bögen um das schwerfällig auf und ab
tauchende Junge, und strengte die Kehle gewaltig an,
um recht merkbare und erzieherische Schreck-, Warn-
und Wegweislaute herauszubringen. Der Kleine flog
immer nur eine kurze Strecke und dann flüchtete er
sich auf eine Stange und wollte gar nicht mehr recht
fort, bis er sich schließlich doch, unter den energischen
Ermunterungen der alten Meisin, wieder in die ge-
fährlich freie Luft hinauswagte und zum nächsten
Gitter hupfte.
Die Meisin saß besorgt und stolz in der Nähe.
Der Menschenmann sprach zu ihr: „Ist das nicht
töricht, daß ihr eure Kinder in diesen Ort der Unfreiheit
verbannt ?"
Da antwortete die Vogelmutter, die die Menschen-
sprache so verstand, wie sie wollte: „Ja, ja! Mein
Mann hatte recht! Pfchch! Er fliegt draußen, um
Räupchen fürs Nest zu holen. Sonst würde er persön-
lich Ihnen seinen Dank aussprechen. Pfch! Ein wahrer
Segen, daß Sie die vielen Stangen hier gebaut haben.
Sonst würden sich unsere Kleinen ängstigen, sich gar
nicht in die Luft hinaustrauen und niemals fliegen
lernen. Sie haben gewiß viele Arbeit damit gehabt.
Ja, ja! Pfchchch! Die Welt ist schön und gut und
' zweckmäßig. Wissen Sie, wie wir den Hof nennen ?
Die Schule des Fliegens!" . . .
Hinter den vergitterten Fenstern aber hockten
stumm und dumpf hundertundfünfzig Menschen,
dachten hungrig an die nächste „Kost" — die Abend-
suppe — und grübelten, wieviel ihres Daseins die Rich-
ter ihnen wohl rauben würden, diese gesetzlichen Ein-
brecher ins Leben : neun Monate, zwei, acht, fünfzehn
Jahre ? Oder bis zum Tode ? Einige hatten auch dar-
über nachzusinnen, ob ihnen wohl der Kopf abgehackt
werden würde. Der Schlimmste aber war der Mann,
215
der allein im Hofe ging. Der hatte versucht, fest-
zustellen, ob die Welt nicht doch schön und gut und
zweckmäßig wäre und hatte die Seelen fliegen lehren
wollen — über alle eisernen Gitter und engen Höfe
hinaus. Da hatte man ihn fern von der Geliebten in
dem Paradies der tausend Liebesgitter eingesperrt,
und weil er nach Freiheit begehrt, saß er — dringend
verdächtig — nun fest in der Schule des Fliegens.
[17. Juni 1918.]
Das Kriegsziel. Kellner, Kinder und Könige
werden bei den Vornamen gerufen. Heinrich — oder,
ich weiß nicht — Emil war zwar kein König, aber
der Sohn — oder, ich weiß nicht — der Neffe eines
Königs (ich habe keine Begabung für Verwandtschafts-
verhältnisse). Jedenfalls gehörte er zur Dynastie,
und die Familienangehörigen genießen auch das Recht
auf den rufenden Vornamen.
Dieser Heinrich oder Emil, dieser Königssohn oder
Königsneffe zog gleich zu Beginn des Krieges hinaus.
Vorher aber machte er sein Testament. Das bestand
aus vielen, vielen Artikeln. So viele gehörten dazu,
um über seine Habe zu verfügen. Es ist aber auch aus
dieser Vorsorge zu ersehen, daß er nicht an eine soziale
Revolution glaubte! Nachdem er also über seine ma-
teriellen Güter verfügt, empfand er das Bedürfnis,
auch seine Ideale zu vermachen. Und er schrieb:
Wenn der Krieg zur Wiederherstellung des Königs-
hauses der Orleans führen wird, so soll zur Krönungs-
feier ein Strauß weißer Lilien mit blau-weißem Seiden-
bande in meinem Namen überreicht werden. Heinrich
oder Emil war nämlich mit den Orleans verwandt. Er
hatte Familiensinn.
Heinrich oder Emil ist wirklich im Kriege verun-
glückt. Das Vermächtnis seiner irdischen Güter ist
in Kraft getreten, aber das seiner Ideale harrt immer
noch der Voraussetzung seiner Erfüllung Er ist um-
216
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sonst gefallen, wenn der Krieg nicht so lange geführt
wird, bis er in seinem tiefsten Sinn und seiner letzten
Ursache vollendet ist. Dieser Prinz wußte, daß es ein
Ringen um ideale weiße Lilien ist . . .
Es wird Leute geben, die behaupten, daß dies kein
Märchen sei.
Verlustliste. Ums Jahr iooo nach Gründung
des Völkerbundes wollte ein Gelehrter, der sich mit
Prähistorie befaßte, die Sage des großen Krieges schrei-
ben. Das war eine schwere Arbeit, weniger deshalb,
weil das Welt-Museum des Krieges nebst Bibliothek —
das in Jerusalem erbaut war — ein ganzes Stadtviertel
einnahm, sondern weil die Veröffentlichungen der
letzten Kriegsjahre nur unter Anwendung chemischer
Reagentien teilweise lesbar gemacht werden konnten.
Das Papier war zerfallen und gedunkelt, die Druck-
farbe erloschen. So konnte der Forscher auf einem
Zeitungsblatt nur noch zwei Zeilen entziffern: „Ver-
kohlte Leiche. Bei Auffindung glaubte man Halsbinde
zu sehen. Reste von Papierwäsche gefunden."
Der Gelehrte dachte lange nach. Dann schrieb er:
In den letzten Jahren des Krieges war jeder Bürger
Soldat. Es gab keine Uniformen mehr. Man ging an
die Front, wie ins Geschäft, ins Amt oder ins Theater.
Jeder wurde in seiner häuslichen Kleidung, die nur
noch aus Papier zusammengeklebt war, in das Gemetzel
getrieben. In den Verlustlisten wurde dann angegeben,
was man an Resten der Bekleidungsstücke vorgefunden,
damit die Angehörigen sich melden konnten, offen-
bar um diese Überbleibsel für die Familie zu verwenden.
Es ergab sich in dieser unbegreiflich schauervollen
Schlußzeit der menschlichen Vorgeschichte, daß Papier-
wäsche sich gegen die militärischen Vernichtungs-
mittel wiederstandsfähiger zeigte als der Menschenleib.
Ein Gegner des Gelehrten meinte zwar, es handle
sich in jenen Zeilen wohl um das unbekannte Opfer
217
eines Eisenbahnunglücks. Aber alles, was man sonst
über den Krieg ermittelt hatte, deutete darauf hin,
daß es in der Tat die Aufzeichnungen einer Kriegs-
verlustliste war.
14. August 191 8.]
Der Lebenshaß. Der große Feldherr war auch
ein großer Christ. Darum haßte er dieses sinnliche
Leben des Jammertales und pries den Krieg, der die
Geschöpfe von der Last und Sünde des Lebens be-
freite. Darum zürnte er seinem persönlichen Schick-
sal, daß ihm zur Pflicht machte, sich im Kriege zu
schonen, weit hinter der Front, um die Strategie des
Todes zu leiten. Er pflegte zu sagen: Ich wünschte,
ich wäre ein gewöhnlicher Soldat, in der vordersten
Linie. Dann hätte ich Hoffnung, in Ehren zu sterben.
Er hatte aber einen Schüler und Gehilfen, der gleich
ihm das Leben haßte und der tüchtigste Tanzmeister
des Todes war. Der befaßte sich in seinen Mußestunden
mit allerlei Teufelskünsten. Es drängte ihn, ein Gift-
gas zu erfinden, das nicht nur die Schutzmasken zer-
störte, sondern auch jeden Menschen, jedes Tier,
Bäume, Pflanzen, selbst Erde und Steine, die es träfe,
sofort selbst in ein Giftgas auflöste, also, daß eine ein-
zige Bombe automatisch ihre Kraft ins Unendliche
sich zu vervielfältigen vermöchte. Die Vorsehung
fügte es jedoch, daß er ganz etwas anderes erfand.
Der große Feldherr hatte gerade bescheiden aus-
reichend zu Mittag gegessen und lag behaglich-düster,
mit einer gewissen schmunzelnden Verzweiflung auf
dem Ruhebett, während draußen die Schlacht nach
seinem genialen Plane ihren Fortgang nahm. Eben
wollte er aus diesem Verdauungsdämmer in einen ge-
diegenen Schlaf übergehen — der pflegte sich an-
zukündigen, indem seine tiefen Gedanken über Durch-
bruch, Umfassung und innere Linie in merkwürdiger
Verschlingung unbemerkt einen sowohl elastischen wie
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strategischen Rückzug antraten — da stürzte sein
Schüler und Gehilfe mit rotem Kopf erregt in das
Zimmer und konnte nichts sagen als : Wehe, o göttlicher
Meister!
Der göttliche Meister gab ihm ein Glas Friedens-
burgunder, das er hastig leerte, und eine Zigarette, die
er anzündete. Da wurde er ruhiger und vermochte
zu berichten, was ihm geschehen.
O Meister, sprach er, ich habe eine grauenhafte Ent-
deckung gemacht. Wehe mir Sünder und Antichrist!
Ich habe den Saft gefunden, der ewiges Leben verleiht.
Damit holte er ein Fläschchen hervor, in dem es
wie flüssiges Gold leuchtete.
Der große Feldherr aber brauste zornig auf und rief :
Und du Unglückseliger hast dein Werk nicht vernichtet,
hast am Ende selbst von dem verruchten Saft gekostet ?
Daß mich die Hölle behüte, sprach der andere, ich
habe nicht die Absicht, mein elend-heldenhaftes Da-
sein zu verlängern. Aber seltsam, als ich den Saft ver-
nichten wollte, wurde ich feig und fragte mich, ob es
neileicht nicht doch Menschen geben möchte, die
Freude am Dasein hätten und gern ewig leben wollten.
Der verräterische Wille der verblendeten Sinnlich-
keit, warf der Feldherr empört dazwischen, und den
willst du unterstützen, du, mein Schüler! Und was
sollten wir dann anfangen ! Wir würden ebenso über-
flüssig, wie der Krieg, der unser Beruf, wenn niemand
mehr stirbt. Ein Krieg ohne Tote, ein Feldherr ohne
Krieg! — gibt es so Sinnloses?
Der Gehilfe erwiderte, eingeschüchtert: Das war
nun einmal meine Schwäche. Mir war, als sollte ich
einen Mord — einen Mord im Sinne des Strafgesetz-
buches — begehen, als ich den Saft ins Feuer gießen
wollte. Vollführe du das Werk, o Meister, und zerstöre
den Trank, daß Unheil verhütet werde. Ein Tropfen
— schauderhaft! — genügt, um ewiges Leben anzu-
zünden.
219
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Der große Feldherr war schon besänftigt und ver-
sprach, rasch und gewissenhaft das Fläschchen un-
schädlich zu machen. Aber, meinte er, du wirst von
neuem den Saft herstellen — in deinem Fürwitz.
Wie sollte ich das vermögen ? antwortete der Jünger.
Nur alle hundert Jahre ereignet sich die Stellung der
Gestirne, die notwendig ist, um den Saft zu erzeugen
Und da ich nicht von ihm trank, nehme ich das Ge-
heimnis in den Tod.
Das ist gut, ganz ausgezeichnet, rief der Feldherr,
wieder gleichmütig und schlafselig in seiner blühenden
Gesundheit geworden, gib das Fläschchen, ich will's
ins tiefste Meer versenken.
Der Gehilfe gab es und ging erleichtert von dannen.
Zehn Tage darauf aber geschah es, daß feindliche
Flieger das Schloß des großen Feldherrn angriffen.
Der lief eilig, pflicht- und instruktionsgemäß, in den
Weinkeller, doch auf der obersten Stufe erwischte ihn
noch ein Splitter und verwundete ihn schwer. Noch
lebend zwar wurde er ins Lazarett getragen.
Sei fröhlich, sprach der Arzt, du wirst bald von der
Trübsalbürde des Lebens erlöst sein.
Endlich, jauchzte der Verwundete und wurde ge-
spensterhaft fahl . . .
Der große Feldherr atmete den letzten Hauch aus.
Sein Antlitz aber war nicht friedlich und ganz und gar
nicht selig, sondern wie von einer geheimen Wut ver-
stört, die er mit hinübergenommen.
Neben seinem Lager befand sich auf dem Tisch ein
leeres Fläschchen nebst einem Zettel. Der trug als
Aufschrift, mit sterbender Hand mühsam gekritzelt,
den Namen des Schülers und Gehilfen. Darunter aber
stand nur ein Wort:
Betrüger!
[24. August 1918.]
220
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Marx-Feier.
Karl Marx. Geschichte seines Lebens, von Franz Mehring.
XII und 544 S. Leipzig 1918. Druck und Verlag der
Leipziger Buchdruckerei Aktiengesellschaft.
I.
An den Gedenktagen der geistigen Führer, die im
klassischen Zeitalter die Befreiung des deutschen
Bürgertums kündeten, pflegte die sozialdemokratische
Presse zu höhnen, daß die heutige Bourgeoisie, frierend
in der armseligen Öde ihres seelischen Daseins einen
zugleich frechen und lächerlichen Götzendienst mit
den Heroen treibe, von deren Wesen sie keinen Hauch
verspürt hätte und die sie erst zu kümmerlichen Zwerg-
fratzen verkrüppeln müßte, um nicht von der wahr-
haften Größe erschreckt und erschlagen zu werden.
Wir unternahmen es dann, das Bild ihres geistigen
Lebens und Wirkens zu entwerfen, und nannten uns
stolz ihre Erben.
Jetzt aber kam der Tag, da wir dem Denker unsers
eigenen Blutes, dem deutschen kämpfenden Genius
des internationalen Proletariats an dem Jahrhundert-
tage seiner Geburt huldigen konnten und man —
wiederholte in läppisch stümpernder Nachahmung
jene bürgerlichen Jubiläumsposen : eine sozial-national-
liberale Partei, die sich würdeloser und dümmer von
der Sozialdemokratie losgelöst hatte, als einst die deut-
schen Liberalen von der Demokratie, feierte Karl
Marx, der wahrlich nicht in seinen finsteren Stunden
9ich das Schicksal vermutet hätte, hundert Jahre nach
seiner Geburt in Anspruch genommen zu werden von
einer Partei seines Heimatlandes, die nach dem Sieg
221
der russischen Revolution, nach dem ersten Versuch,
den Großgrundbesitz zu sozialisieren und Marx zu
verwirklichen, keine größere Sorge hatte, als durch
taktische Gerissenheit sich in dem Lager von Regie-
rungspart ien behaupten zu dürfen, die einen un ver-
hüllt konterrevolutionären Krieg führten. Er hätte
sich unter dem Albdruck nicht träumen lassen, daß
ihn dereinst Parteiführer als ihren Meister ansprechen
würden, die — um mit ihm zu reden — das Mundstück
für all die tapferen Worte sind, die man ruft, wenn
man davonläuft, deren ganze Lebenskraft günstigsten-
falls in die — gespaltene — Zunge geflüchtet ist. Aber
er wurde gefeiert, mit Schriften, Artikeln, Zitaten, Re-
den, von Leuten, die alle Begriffe der Demokratie und
des Sozialismus zu demagogischen Schlagworten ernie-
drigen, die die Internationalität mißbrauchten : von den
Handlungen einzelner, die unter zärtlicher Berufung auf
die sozialistische Kameradschaft Sozialisten des feind-
lichen Auslands für Zwecke der deutschen Kriegsfüh-
rung zu gewinnen unternahmen, bis zu den allgemeinen
parteiamtlichen Kundgebungen internationaler Ge-
sinnung, hinter denen keine ernstliche Absicht steckte,
es sei denn die, draußen kriegsgegnerische Taten zu
erzeugen, die bei ihnen selbst auch nur als leere Stim-
mung zu verhüten sie alles aufboten. Diese Marxanbeter
haben es zuwege gebracht, daß das bedeutendste Organ
der französischen Bourgeoisie im Kampfe gegen eine
Marx- Feier in Frankreich, der Temps, Marx den per-
fidesten und gefährlichsten aller Deutschen nennen
durfte; denn es sei der erste und glühendste jener So-
zialdemokraten gewesen, die „dem Imperialismus
jenseits des Rheins auf allen Gebieten gedient, die
europäische Umfassung des Militarismus begünstigt
haben, indem sie systematisch die revolutionäre Gefahr
in allen Ländern hervorriefen, mit denen Deutsch-
land sich eines Tages in Konflikt befinden konnte,
während sie sorgfältig dieselbe Gefahr von ihrem eige-
222
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nen Vaterland fernhielten." Das war zwar der Aberwitz
einer in künstlicher Bosheit gesteigerten Unwissenheit,
und die Denunziation hat auch die französischen So-
zialisten nicht gehindert, ihre Dankbarkeit für den
Deutschen Karl Marx zu bekennen, mitten im grauen-
haftesten und drohendsten Anprall des Krieges; aber
nur die Erniedrigung jener deutschen Partei hat es
möglich gemacht, daß derartige Äußerungen nicht
im allgemeinen Gelächter sich ducken mußten.
Solche Entwicklung des deutschen Sozialismus ist
nicht die Wirkung marxistischer Lehren, sie hat viel-
mehr nur an den Tag gebracht, daß Marx im deutschen
Proletariat, zumal in seinen Führer-Epigonen, nicht
wahrhaft lebendig geworden ist. Wir sehen heute klar,
daß es wesentlich die Schulung durch eine allmählich
sich entseelende ungeheuer aufgedunsene Organisation
gewesen ist, deren verhängnisvolle Wirkungen wir
jetzt schaudernd erleiden: Eine Partei, die sich revo-
lutionär nennt und doch in ihrer Leitung und Politik
— bei aller betriebsamen Tüchtigkeit, fleißigen Ge-
wissenhaftigkeit und erfolgreichen Geschäftsgewandt-
heit — ein ängstlich kleinbürgerliches Philistergebilde
geworden ist, die jede Tugend haben mag, nur gerade
die nicht, die der Inbegriff von Karl Marx ist : heroische
Genialität. Indem sich die deutsche Sozialdemokratie
jene politische Organisation gab, deren publizistische,
finanzielle und wahltechnische Leistungsfähigkeit die
Bewunderung der Welt erregte, ward sie unbewußt
mehr und mehr eine bis zur Komik getreue Volksaus-
gabe des Staats, in dem sie lebt, nur daß ihr gerade die
Kraft fehlte, die dem herrschenden Staat die Macht
erhielt: die militärische Exekutive. Zudem wurde
die Organisation die Laufbahn fähiger Proletarier, in
die sie aus dem Elend der körperlichen Lohnarbeit sich
retten konnten, die einzige Zuflucht für alle jene uner-
meßlichen gebundenen Kräfte, für die ein Staatswesen
ohne jede demokratische Auslese nicht einmal ausnahms-
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weise für sich selbst Verwendung hat. Das ist das Ge-
heimnis der äußeren organischen Größe der deutschen
Partei, die alle Kräfte des Proletariats für sich ver-
brauchen konnte, aber diese Gunst schließt auch die
Ursache des inneren Verfalls in sich : die kleinbürgerlich
gesicherte Existenz wurde unbewußt Ideal, Ziel und
Bedingung aller politischen Erwägungen. Es war keine
Partei mehr, die — mit geschäftlichen und Existenz-
rücksichten belastet — Welterschütterungen gewachsen
war, und die zusammenbrach in der ersten großen
Katastrophe, einem jener Erdbeben, in denen Karl
Marx, bei allem menschlichen Entsetzen, doch, trot-
zig aufatmend, nur die Gelegenheit erblickt hätte,
im brausenden Chaos die geschichtliche Mission des
Proletariats zu erfüllen.
Und die jene Mission verrieten und zu vernichten
trachteten, feierten Karl Marx!
So war es fast eine gnädige Fügung, daß wir Franz
Mehrings Marx-Werk nicht zu dem Gedenktag,
wie geplant, empfangen konnten, sondern daß der
beschämende Feierlärm inzwischen vorübergegangen
ist. Jetzt dürfen wir, unbeirrt durch äußeren zufälligen
Anlaß, uns des Clara Zetkin als der „Erbin marxisti-
schen Geistes" gewidmeten Buches freuen, in dem das
Leben von Karl Marx in seiner erhabenen Tragik auf-
ersteht, und eine neue größere Generation des deut-
schen Proletariats nicht nur den sicheren Führer zu
den Gedanken und Schriften, den Kämpfen und Taten
des Meisters, sondern auch den sicheren Weg zu sich
selbst finden wird.
Marx' geistiges Lebenswerk war, die Entdeckung des
Menschen, die die Revolution des 18. Jahrhunderts
geleistet hat, zu vertiefen, zu erklären, zu festigen, zu
realisieren. Er zeigt, wie die Menschen, die Masse
der leidenden, besitzlosen Menschen, sich selbst zu
entdecken, zu vermenschlichen vermöchten. Er scheucht
die Köpfe und die Willen aus der Selbstmystifizierung
224
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verworrener und verrucht diktatorischer Begriffe. Frei-
heit, die ganze Freiheit, die soziale Freiheit wird wissen-
schaftliche Notwendigkeit. Geschichte ist ihm das
Gesamtleben der wirklichen Menschen in all ihren
in gesetzlicher Einheit erfaßten tatsächlichen Bezie-
hungen und Bedingungen. Wie Marx das Leben der
Menschen unter der erstickenden Decke gauklerischer
Ideologie hervorgeholt hat, so gilt es heute, sein Werk
zu gewinnen, indem wir den Menschen erleben.
Diese Aufgabe hat Mehring sich gestellt und in der
ruhigen Bewegtheit und erfüllten Klarheit seines Stils
vollendet. Sich dieses Lebens tätig ganz bewußt zu
werden, das heißt, für das Proletariat aus einem or-
ganisierten Automaten zu einem bewußt wollenden
lebendigen Organismus werden.
II.
Sternenfern ist die Persönlichkeit des Karl Marx,
wie ihn Mehring nacherlebt, den Figuren, die heute
behaupten, seines Geistes voll zu sein. Welch un-
begreiflich unpraktisches Leben, dem so ganz die kühle
Nüchternheit vernünftiger Gesinnungslosigkeit fehlt,
in dem sogar die revolutionäre Leidenschaft nicht nur
ein wildes Fieber der Pubertät ist — was das erfahrene
Alter mit belustigter Herablassung schließlich als
muntere Jugendsünde zu entschuldigen bereit ist — ,
sondern im Gegenteil aus jedem neu reifenden Jahr-
zehnt stärkere Nahrung und Kraft zieht. Ein Jüngling,
von der Natur verschwenderisch ausgestattet mit allen
Gaben des Körpers und Geistes, ein Sonntagskind des
Märchens. Sorglos, ungehemmt, in glücklichen Fa-
milienverhältnissen aufwachsend, darf er mit frei sich
dehnender Lunge alle geistige Luft der menschlichen
Kulturen einsaugen. Nichts verkümmert seine Ent-
wicklung. Das meistumschwärmte, schönste Mädchen
der Stadt, aus vornehmer Familie, wird dem Studenten
schon die verheißene Gefährtin seines Daseins. Seit
15 EiiDir, Gesammelte Schriften. I.
225
frühen Jahren ist er ein Menschenbezwinger; ihm eignet
die Fähigkeit, die Hegel die magische Kraft der
Seele nennt. Er hat eine ebenso unbändige Arbeitskraft
wie Arbeitslust: er bewältigt im Fluge das Schwerste
sein Kopf blüht von Entwürfen. Er vereint den grübeln-
den peinlichen Scharfsinn des Forschers mit der künst-
lerisch formenden Phantasie des Dichters. Er hat den
leichten funkelnden Witz, mit dem der Schriftsteller
die Kampfe des Tages behauptet, und die tiefschöpfe-
rische Größe des Denkers, der Systeme aufbaut. Alle
Türen öffnen sich ihm. Jede Höhe winkt ihm, wie
im Fluge erreichbar. Überall zeigen sich ihm die Pfade
mühelosen Aufstiegs.
Er aber folgt dem Stern in seiner Brust, jenem
Daimonion des Sokrates, das die geheimnisvolle Füh-
rung des Genies übernimmt : Er ist für immer Revolu-
tionär, Verkünder der proletarischen Weltbefreiung.
So geht er, unbeirrt, keinen Augenblick schwankend,
diesen Weg des Martyriums, das er nicht ächzend be-
klagt, sondern faustisch als Element seiner Größe
verarbeitet. Er scheitert in seiner bürgerlichen Existenz.
Er wird ins Exil gehetzt. Die Revolution bricht nach
einem Frühling der Hoffnung schmählich zusammen.
Nun wird ihm die Verbannung das Schicksal seines
ganzen Lebens. Keine Not bleibt ihm erspart, keine
Hemmung, kein Fluch der kapitalistischen Ordnung.
Er gleitet mit seiner Familie bis an den Rand desPauper-
Elends, aus dem es keine Erhebung mehr gibt. Im
Hause herrschen Schulden, Hunger, Krankheiten, Tod.
Als ein Söhnchen stirbt, fehlt das Geld für seine Be-
stattung. Er flüchtet sich vor den Gläubigern und dem
Pfänder in die umfriedete Stille der öffentlichen Biblio-
thek, in die er sich vergräbt, die ihm zum Reich der
Freiheit wird. Politische Betätigung, nach der sein
Herz verlangt ? Ein leeres, zänkisches, eitel wahnhaftes
Emigrantentreiben umlärmt ihn. Jahrelang muß er
sich tatenlos in die Klause seiner Studien zurückziehen.
226
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Er arbeitet alle Tage und Nächte; die Verkürzung der
Arbeitszeit, die ihm Anfang und Vorbedingung der
Befreiung des Proletariats ist, hat für sein Dasein keine
Bedeutung, wie das Geld nicht für den Enthüller des
Kapitals. Aber seine Arbeit hat keinen Markt, keinen
materiellen, kaum einen ideellen. In seinen vormärz-
lichen Exilzeiten muß der Schriftsteller ahnungslos
Unterkunft in einem Organ suchen, das von einem
Spitzel ausgehalten wird; es gehört zur politischen
Polizeitechnik, daß man revolutionäre Zeitungen und
Zeitschriften gründet oder unterstützt, wenn nicht
zu provokatorischen oder ablenkenden Zwecken, so
in der Absicht, die Verschwörer gegen Staat und Ge-
sellschaft unter Kontrolle zu haben, sie zu kennen.
Eine der genialsten Urkunden politischen Schrifttums,
der achtzehnte Brumaire, verdankt nur dem Zufall die
Veröffentlichung, daß in Neuyork ein namenloser
Proletarier, ein Schneider, seine Ersparnisse für den
Druck hergibt.
Während er für ein amerikanisches Blatt frondet,
übler behandelt als ein Heimarbeiter, dem die geleistete
und geforderte Arbeit häufig nicht abgenommen wird
und ertraglos bleibt, muß er Zeit und Stimmung in
ärgerlichen politisch -literarischen Fehden verzetteln.
Zwar wird seine wirtschaftliche Lage besser, zuletzt
sorgenfrei. Aber bis zu seinem Tode hat er niemals
eine selbständige Existenz gehabt ; aus „eigener Kraft"
hat er niemals sich und die Seinen ernähren können.
Ohne die Freundschaft von Friedrich Engels, der nicht
nur seine Mittel hergab, sondern auch seine besten
Jahre dem „hündischen Kommerz" opferte, um diese
Mittel für den Freund zu beschaffen, hätte Marx nicht
arbeiten können; er wäre mit den Seinen jämmerlich
zugrunde gegangen. Aber selbst da sein Einfluß zu
wachsen beginnt, da man seine Bedeutung erkennt,
welche Mühe hat Marx auch dann noch, auch nur einen
Verleger, Drucker für seine Arbeiten zu gewinnen.
'5
Meist in geringen Auflagen erschienen, fanden sie
noch weniger Abnehmer. Seine Freunde müssen sich
mit rührend aufdringlichem Eifer bemühen, daß seinen
Werken irgendein bescheidenes Echo in der Öffentlich-
keit werde. Es ist noch nicht gar so lange her, daß einer
der berühmtesten deutschen Professoren in seiner Ge-
schichte der Nationalökonomie den Namen Marx nur
in den paar Zeilen einer Fußnote erwähnt, in denen
seine Wertkritik mit einer nachlässig autoritären Hand-
bewegung als verfehlt abgetan wird. Und heute l Spe-
kulative, kriegsmäßig „marxistische" Windbeuteleien
werden in Millionen Zeitungsblättern gefeiert, und
ihre Verleger haben nicht Papier und Arbeitskräfte
genug, um den Bedarf neuer Auflagen zu befriedigen;
und dieser ganze lärmende Erfolg nur deshalb, weil der
gerissene Autor sich unter den Schutz von Karl Marx
stellt, in dessen ausgeleertes Gehäuse er seine gelenkigen
Glieder verbirgt. Freilich diese gescheiteren Nach-
folger machen ihre Bücher auch schnell, handlich und
bequem fertig. Der arme Marx aber hinterläßt sein
Hauptwerk, an das er in unermüdlicher Arbeit, niemals
sich selbst genügend, das letzte seiner Kraft hingegeben
hat, als ein ungeheures Fragment; von den vier Büchern
des Kapitals ist nur das erste bis zur Vollendung der
Reife gediehen.
Ist endlich nicht auch der Politiker, der Kämpfer,
der Revolutionär gestrandet ? Er ist der Schöpfer der
Internationale. Verging sie nicht in widrigem Streit ?
War es nicht alles in allem doch ein verfehltes Dasein ?
War es zweckmäßig, in einer stumpfen Welt die starre
Aufgabe des Revolutionärs auf sich zu nehmen und
von ihr nicht abzulassen?
Man hat seitdem in unsern Tagen die überraschende
Entdeckung gemacht, daß revolutionäre Opposition
die merkwürdige Eigenschaft besitzt, so lange von der
herrschenden Gewalt auszuschließen, bis man sie nicht
selbst erobert hat. Für den weltfremden Karl Marx
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war das noch eine Selbstverständlichkeit. Er wußte,
daß die „prinzipienreitende" Negation zwar durchaus
nicht die reformerische Arbeit ausschließt, daß man
im Gegenteil mit ihr alles erreichen kann, was ihr über-
haupt, vor der Umwälzung von Grund aus, erreich-
bar ist ; Marx hat ja für die Möglichkeiten wie für die
Schranken der Reform erst die wissenschaftliche Grund-
lage und Begründung gegeben. Man könnte sogar
— ich eigne mir die erschütternd prophetische Kritik
der deutschen Partei an, die Jaures in Amsterdam
übte! — auf dem parlamentarischen Boden gefahrlos
erheblich weiter gehen, als es bis zum Kriege geschah,
sofern nur zugleich der prinzipielle Gegensatz bis
zu seinen letzten Folgerungen in dem lebendigen, tätig
und ehrlich entschlossenen Willen der „Führer" ge-
sichert ist und die Bewegung und Aktion der Massen un-
gestüm und unmittelbar zur Entscheidung und Macht
drängt. Aber Marx wußte allerdings auch, daß man in
solch selbstgewählter Rolle auch auf die beglückende
Möglichkeit verzichten muß, im Rate der Götter selbst
den Drang nach „positiver Arbeit" ehrenvoll und an-
gesehen schäumig zu befriedigen. Heute hat eine Partei,
die ihre Abstammung von Marx durch Papiere und
neuerdings auch durch zivilrechtliche Gerichtsurteile
beweisen kann, eine Lösung für das Problem gefunden,
den Konflikt zwischen Opposition und „positiver Ar-
beit" auszugleichen: man gibt die revolutionäre Uber-
zeugung auf (wenn man auch die alten Papiere sorg-
fältig und stolz aufbewahrt!), und — siehe da! — nun
braucht man nicht mehr abseits zu stehen, sondern
kann überall dabei sein und herrlich mithelfen an der
positiven Politik, die doch nur den kleinen überseh-
baren Schönheitsfehler hat, daß sie gerade das positiv
erstrebt, was man negierte, und das negiert, was man
positiv erreichen wollte. Die Hauptsache ist gelungen,
daß erlaubt wird, dabei zu sein! Man hat denn auch
diese wonnereiche realpolitische Taktik des Hans
229
Dampf in allen" Gassen (der überall und immer dabei
ist) bis zu dem Grade zu steigern verstanden, daß noch
Anfang 1917 das Amtsblatt der Generalkommission
der Gewerkschaften dringend forderte, daß man den
Kampf um das preußische Wahlrecht bis nach Be-
endigung des Kriegs vertage, eine Offenbarung, die
augenscheinlich letzthin den Grafen -Spee zu seiner
unerwarteten Inspiration angeregt hat . . .
Indem ich versucht habe, das Bild von Karl Marx
nachzuzeichnen, wie es Mehring in vollkommener
Beherrschung und kritischer Durchdringung des Ma-
terials geformt hat, erstand in seinem irdischen Schick-
sal der größte Geist, der bedeutendste politische Kopf
des 19. Jahrhunderts, vor dessen universaler Bedeutung
all die Staatsmänner, Gelehrten, Feldherren jenes
Jahrhunderts, die bei Lebzeiten vergoldet und ver-
göttert wurden, verblassen und versinken. Ein künf-
tiger Forscher, der die Weltgeschichte des 19. Jahr-
hunderts schreibt, wird Deutschland das abschließende
Epigramm widmen: Es zwang seinen gewaltigsten
Genius, in der Verbannung zu leben.
III.
Marx ist die vollendete Einheit von Gedanke und
Tat, von Forschung und Handlung. Er ist Kämpfer
und Denker, oder vielmehr, er ist Denker, um Kämpfer
zu sein. So stellt Mehring mit Recht den Menschen,
den revolutionären Kämpfer dem Schriftsteller, For-
scher, Entdecker voran. So stark ist der Eindruck der
Überfülle dieses Mannes auf den, der sein Wesen und
seine Leistung zu ermessen vermag, daß Mehring, ob-
wohl sein Buch ein zuverlässiger, kundiger und kristallen
durchsichtiger Kommentar ist für alles, was Marx ge-
schrieben, wie für die Gesamtheit seiner geistigen Ent-
wicklung, dennoch in beinahe verzagter El irr u rc ht
darauf verzichtet, auf das Titelblatt zu schreiben:
Die Geschichte seines Lebens und seiner Schriften.
230
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Nur die Geschichte seines Lebens kündigt er an, in
dem Bewußtsein, daß selbst seine große Fähigkeit, das
Wesentliche der Schriften aufzuspüren und lebendig
anschaulich zu skizzieren, nicht mehr erreichen könne
als bloße Andeutung, nicht eine erschöpfende, die Ge-
danken in all ihren Verflechtungen, in Ursprung und
Weltvvirken kritisch analysierende Darstellung.
Damit dies Leben in voller Frische erscheine, hat
Mehring alle gelehrten Spuren seiner mühseligen Ar-
beit vieler Jahre getilgt und so jene edle Volkstümlich-
keit erreicht, die jedem redlich Lesenden zugänglich
ist, ohne daß die geringsten Zugeständnisse an die
träge Bequemlichkeit einer abplattenden Erleichterung
gemacht würden. Aber auch der Leser, der in den
Urstoff vollständig eindringen möchte, findet in
dem Quellenverzeichnis des Anhangs jede mögliche
Förderung.
Welche Kunst Mehring in der Zergliederung der
wissenschaftlicher Leistungen von Karl Marx entfaltet,
mag man in den verhältnismäßig wenigen Seiten be-
wundern, auf denen es ihm gelingt, den Gedanken-
gang des „Kapitals" aufzuzeigen. Für den zweiten und
dritten Band wird er hier durch einen Beitrag von
Rosa Luxemburg unterstützt, die mit leichter Hand
in anregendster Form den spröden Stoff meistert.
Natürlich können diese Anleitungen zum Lesen nicht
das Studium des Werks selbst ersetzen, wohl aber er-
leichtern. Frau Luxemburg kann zwar die Lösung des
vor dem späten Erscheinen des dritten Buches des
Kapitals undurchdringlichen Problems der „durch-
schnittlichen Profitrate" geben, aber es ist undenkbar,
auf einer knappen Seite den mühseligen Weg vom
Mehrwert zu jener Ausgleichung der Profitrate nach-
zuschreiten, den Marx gehen mußte, um die letzte
Erklärung zu finden, wie es möglich ward, daß sich
das kapitalistische System in das dunkle Tyrannenreich
mystischer Fetischgewalten verselbständigte, in dem
23i
seine Existenzbedingung, die Aneignung unbezahlter
Arbeit, der als Marktware gekauften Arbeitskraft
völlig ausgelöscht schien. Wenn hier für eine künftige
Auflage noch ein Wunsch übrig bleiben möchte, so
der, einige Erläuterungen über die angewandte wissen-
schaftliche Methode der Marxschen Untersuchung
(abgesehen von der „Dialektik") hinzuzufügen. Diese
Methode ist zwar das klassische Verfahren aller
Wissenschaft, wird aber noch immer nicht begriffen
und ist der Ausgangspunkt aller gedankenlosen Ein-
wendungen gegen ihre Ergebnisse. Ich meine vor allem
die Aufklärung, was die „Gesetze", die — philoso-
phisch gesprochen — reinen Gesetze bedeuten, die
ihre Wahrheit in der Wirklichkeit der Erscheinungen
nicht sowohl durch Bestätigungen wie durch Ab-
weichungen beweisen: „Es ist," sagt Marx, bei der
ganzen kapitalistischen Produktion immer nur in einer
so verwickelten und annähernden Weise, als nie fest-
zustellender Durchschnitt ewiger Schwankungen, daß
sich das allgemeine Gesetz als die beherrschende Ten-
denz durchsetzt."
Die Geschichte des Lebens von Karl Marx und die
Weltgeschichte seiner Zeit ist untrennbar. Mehring
verfolgt die politisch-soziale Gesamtentwicklung der
Jahrzehnte, die sein Leben umspannt, die geistigen
Strömungen, die auf ihn einwirken, das Emporwachsen
und die Konflikte der proletarischen Bewegung. Im
Schatten Hegels, im Berliner Vormärz radikaler Ein-
gänger und Sonderlinge, ringt sich gewaltig das geistige
Bewußtsein des Jünglings zur ersten Klarheit durch.
Das Alter sieht das Erstarken der nationalen sozia-
listischen Parteien, die nationalen Verfolgungen, das
Sozialistengesetz. Von Anbeginn aber bis in die letzen
Jahre lugt Marx scharfäugig und sehnsüchtig nach den
Anzeichen der Erscheinung aus, die ihn intellektuell
und gefühlsmäßig sein Leben lang beherrscht: der
Weltrevolution. Zuletzt erhoffte er aus dem russisch-
232
türkischen Krieg von 1878 und aus der erwarteten
Niederlage Rußlands dessen sozialen Zusammenbruch
und soziale Umwälzung, von wo aus dann der Um-
schwung in ganz Europa sich fortpflanzen würde.
Die persönlich-literarischen und parteipolitischen
Händel, in die Marx eingriff, versteht Mehring nicht
nur in ihrer vergessenen, verwickelten Zusammen-
hängen zu entwirren und in einfachen Linien dem
heutigen Leser durchsichtig und interessant zu machen,
er steht auch seinem Helden in freier Unbefangenheit
gegenüber. Der Historiker hat die Aufgabe, die Kant
einmal in der Würdigung seiner Vorgänger dem Philo-
sophen zuweist : Piaton besser zu verstehen als dieser sich
selbst. So übt Mehring Gerechtigkeit, indem er Männer,
die Marx parteipolitisch bekämpfte, gegen Übermaß
und Grundlosigkeit des Angriffs verteidigt. Ein
Kämpfer, der in rastlos ringender Arbeit Klarheit ge-
wonnen hat, wird notwendig zu Zeiten mit heftigerer
Leidenschaft als die Gegner jene Freunde nieder-
zuschlagen suchen, die gerade, weil sie dasselbe Ziel
verfolgen oder vorgeben, ihm als die gefährlichsten
Schädlinge der Sache erscheinen; denn deren Unklar-
heiten, Illusionen, Beschränktheiten, Torheiten drohen
die gemeinsame Bewegung von innen heraus zu ver-
derben und zu zerstören. Es ist zugleich die schlimme
Eigentümlichkeit aller solcher Bruderkämpfe, daß sie
selbst den Reinsten und Stärksten gelegentlich herab-
ziehen. Sind diese Fehden aber geschichtlich geworden,
so hat der Historiker die Pflicht, über dem Triumph
des Siegers nicht das Recht des Besiegten zu vergessen.
Mehrings ritterliche Unparteilichkeit, die im Buch
des Siegers den von Marx Überwältigten gerechte
Würdigung widerfahren läßt, verdient auch dann
Anerkennung, wenn die Ergebnisse seiner Forschung
nicht immer überzeugen. So bleibt für mich, im
Gegensatz zu Mehring, die Politik des letzten Lassalle
und noch mehr die Schweitzers auch in ihrer geschicht-
233
liehen Bedingtheit heute mehr denn je unannehmbar.
Mir scheint ein nicht zu erklärender Widerspruch
zwischen dem elften Kapitel des Marxbuches, das die
preußische Politik der sechziger Jahre behandelt,
und dem vierzehnten zu bestehen, das die Kriegs-
probleme von 1870 darstellt. Mehring interpretiert
auch die Äußerungen von Marx und Engels in ihrem
Briefwechsel zu wohlwollend zugunsten Schweitzers,
dessen Fähigkeiten die beiden stets anerkannt, dessen
Charakter und Politik sie aber, ohne jede Schwankung,
schroff abgelehnt haben. Was sie über die Politik
Lassalles dachten, hat Marx in dem jüngst von Kautsky
veröffentlichten Brief an Kugelmann endgültig zu-
sammenfassend ausgesprochen. Noch im Jahre 1894
hat Engels den Lassalleanern den sozialistischen Cha-
rakter abgesprochen; weil sich in Deutschland die
Lasselleaner Sozialdemokraten nannten, hätten Marx
und er sich stets als Kommunisten bezeichnet ; obwohl
die Masse der Parteianhänger Lassalles „mehr und mehr
die Notwendigkeit der Vergesellschaftung der Produk-
tionsmittel einsah, blieben die spezifisch lassalleschen
Produktionsgenossenschaften mit Staatshilfe doch der
einzig öffentlich anerkannte Programmpunkt. Für
Marx und mich war es daher rein unmöglich, zur Be-
zeichnung unsres speziellen Standpunkts einen Aus-
druck von solcher Dehnbarkeit zu wählen." Immerhin,
man kann heute wenigstens jene Politik Lassalles und
seines Nachfolgers begreifen als die Verzweiflungs-
taktik der Ungeduld von Männern, die in einem in-
dustriell noch wenig entwickelten Lande mit einem
sehr geringen Anhang aufgeklärter Arbeitermassen die
Welt aus den Angeln zu heben suchten, indem sie den
damals tatsächlich tiefgehenden Konflikt zwischen
der Bourgeoisie und dem Junkertum ausnutzten. In
ihrer Politik war doch Überlegung, Energie und die
Möglichkeit unmittelbarer Erfolge. Welch Absturz der
sozialdemokratischen Staatsmänner von heute, die,
234
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in einem durch die Industrie sozial beherrschten Reiche,
verfügend über große organisatorische, parlamentarische,
journalistische und finanzielle Mittel in der Wende ge-
schichtlicher Entscheidung das Proletariat in das Lager
der Gegner überführten, deren innere Gegensätze
nur noch die Oberfläche kratzen, während ihre poli-
tische Einheit und Richtung seit Jahrzehnten durch
den Pakt des feudalen Agrariertums mit der feudali-
sierten Industrie gegeben ist. Erwägt man diese bei-
spiellos unfähige und verdächtig zersetzende poli-
tische Führung, die sich unmäßig weise in ihrer illusions-
freien Realpolitik dünkt und den alten Grundsätzen
dabei treu geblieben zu sein behauptet; eine Führung
die mit nachtwandlerischer Sicherheit an allen Fenstern
entlang gleitet, wo ergiebige Güsse für den zudring-
lichen Liebhaber bereitstehen, — so ist man heute fast
geneigt, gegenüber dieser opportunistischen Irreal-
politik von Tölpeln die alte wirkliche Realpolitik der
Lassalleaner zu verteidigen.
IV.
Mit besonderer Aufmerksamkeit wird man in Meh-
rings Marx-Buch die Seiten über den Krieg 1870/71
lesen. Mehring hat die Auffassung von Marx in voll-
kommener und umfassender Sachlichkeit geklärt. Man
vergleiche mit dieser Zeichnung geschichtlicher Wahr-
heit, was neue Marxschriften von Autoren sozialistischer
Vergangenheit und über diese Angelegenheit zu
sagen wissen. In dem mageren, aber deshalb nicht
inhaltschweren Heft eines der zynischen Angestellten
der Parvus-Wumba wird diese offenbar ganz unwesent-
liche Episode mit Schweigen übergangen, abgesehen
von der bedeutsamen Mitteilung, daß Sedan am 2. Sep-
tember gewesen ist; außerdem wird Marx zitiert, wie
er den französischen Freunden riet, die neu entstan-
dene Republik, angesichts des Feindes, nicht durch
ein soziale Revolution zu erschüttern. Noch schlimmer
235
steht es um ein Marx-Brevier, das im Vorwärts-Verlag
erschienen ist; hier geben die gewählten Zitate schein-
bar ein objektives Bild, in Wirklichkeit aber sind sie
eine Lappen Verkleidung gegenwärtiger regierungs-
sozialistischer Kriegspolitik, und müssen den Nicht-
kenner der Materie gründlich in die Irre führen.
Marx begnügt sich nicht mit der aufregenden Ent-
hüllung, daß der Krieg in den kapitalistischen Gegen-
sätzen verursacht sei (er enthüllt es nicht einmal); daß
die Herrschenden drüben wie hüben gleich schuldig
seien, und daß deshalb das Proletariat jeden Landes die
Kriegspolitik der eigenen Schuldigen — zu bekämpfen ?
nein, — zu unterstützen habe. Marx prüft den ge-
schichtlichen Sachverhalt in allen Einzelheiten und
Zusammenhängen. Er verkennt niemals die Bedeu-
tung leitender Persönlichkeiten (in deren Charakteristik
er vielmehr seine höchste literarische Kunst bewährt;
man lese seine Palmerston- Aufsätze der fünfziger Jahre!)
Er nimmt eindeutig Partei — immer bestimmt von
seinem obersten Leitgedanken: der proletarischen Re-
volution. Er hält die Kriegsaufgaben des Proletariats
auch nicht damit erledigt, daß es die Regierungen
in Wort und Schrift ersucht, die Friedenshand aus
zustrecken — wobei denn darauf zu sehen sei, daß auf
keinen Fall die nationale Friedenshand ärmer in die
gewohnte Faustlage zurückkehrt — , sondern er züch-
tigt im Gegenteil die französischen Friedenshandaus-
strecker, die Thiers, Jules Favre, Trochu als Verräter
an der nationalen Verteidigung, deren Vorkämpfer zu
sein sie sich vor der Öffentlichkeit rühmten. Das
Sonderbarste aber ist, daß sich in allen Kundgebungen
und Äußerungen von Marx über die 1870er Kriegs-
und Friedenspolitik (mit einer Ausnahme!) kein ein-
ziges wirtschaftliches Argument findet; er ahnt
nicht, daß es, im Geiste der Marxschen Lehre, die
Aufgabe des Proletariats sei, national die durch die
gewerkschaftliche Tätigkeit erreichte Lohnhöhe zu
236
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verteidigen, oder die Beschaffung von Rohstoffen und
handelspolitische Interessen zu schützen oder gar die
„höhere Entvvicklungsform des Kapitalismus**, die in
der Verbindung von Finanzkapital und Industrie liegt,
zum Siege zu führen, und daß es deshalb die marx-
gewollte Sendung des deutschen Proletariats sei,
zunächst einmal die rückständige englische Weltherr-
schaft durch die auf dem Wege zur sozialen Weltrevo-
lution vorgeschrittene Macht Deutschlands zu er-
setzen. Aber einmal spricht Marx doch von wirt-
schaftlichen Interessen, in jenen Sätzen nämlich, da
er sich mit dem französischen Großindustriellen
Pouyer-Quertier beschäftigt, der als Friedensbote mit
Jules Favre zu Bismarck nach Frankfurt wallfahrtete,
mit dem festen Entschluß, im Interesse seiner Baum-
wollspinnerei Schutzzölle gegen — Elsaß-Lothringen
bei Bismarck durchzusetzen. Marx nennt ihn einen
Mann, „der die Konterrevolution als ein Mittel ansah,
um den Arbeitslohn in Rouen herunterzudrücken, und
die Abtrennung französischer Provinzen als ein Mittel,
den Preis seiner Waren in Frankreich heraufzuschrau-
ben". Welche Verkennung eines Menschen, der offen-
bar als einziger (Marx inbegriffen!) damals die Gabe
besessen hat, über Krieg und Frieden — marxistisch zu
denken! Im übrigen, es gibt gegenwärtig keine Marxsche
Schrift, die eifriger verdiente gelesen zu werden, als
der Bürgerkrieg in Frankreich aus dem Mai 1871.
Mehring würde nicht die Eignung haben, eine
Natur wie Karl Marx zu erfassen, wenn er nicht selbst
auch die Kraft des Grollens, Zürnens, Hassens hätte.
Im Text des Buches führt er freilich kein Fehden
gegen Zeitgenossen, die ihm sonst parteigenössisch ver-
bunden sind, nur in ein paar Nebenbemerkungen
flackert rasch die Erinnerung alten Unmuts auf. Aber
in der Vorrede und den Anmerkungen wetterleuchtet
es grell, ein Nachfeuer polemischer Gewitter, die mit
der Spannung, aus der sie entstanden, vorübergegangen
237
und vergessen sind. Hier wird der unbefangene und
kritische Leser sich genau so zu dem Verfasser verhalten,
wie Mehring selbst gegen Marx verfährt: er wird sich
selbst die Freiheit historischen Schlichtens nehmen,
in diesen persönlichen Kämpfen Recht und Unrecht
abzuwägen und sich die eigene Meinung über den
Grad und die Ausdehnung des Mehringschen Urteils
auch dann vorbehalten, wenn er selbst in dem besonde-
ren Streitfall das Recht auf Seiten Mehrings sieht . . .
Die Welt hat jetzt die erste wissenschaftliche Bio-
graphie von Karl Marx. Ein Werk strengster wissen-
schaftlicher Forschung, ist es aber und soll es sein, ein
Buch für das Proletariat. Der heillose Aberglaube, daß
Arbeiter mit den Suppenwürfeln dürrer Broschüren ab-
gespeist werden müssen, daß sie vor dicken Büchern eine
Scheu haben, wird hoffentlich an dem Buche Mehrings
zuschanden werden. Die Arbeiter, die die besten Stun-
den ihres ganzen Lebens an die sinnlose Arbeit für
den Profit des Kapitalisten vergeuden müssen, haben
wahrhaftig mehr Anlaß als irgendeine andere Klasse,
die karge Zeit ihrer Muße der höchsten geistigen Er-
hebung hinzugeben. Nur dann haben sie, auch in dem
Grauen heutigen Elends, ein lebenswürdiges Dasein,
nur dann können sie auch zur Höhe und Reife ihrer ge-
schichtlichen Aufgabe emporwachsen. Die großen
Probleme des menschlichen Geistes, der Wissenschaft
und Gesellschaft in mageren Bettelsuppen hastig
hinunterschlingen wollen, heißt sich mit intellektuellem
Nahrungsschwindel aufblähen, ohne einen Gran echter
Kraft zu genießen.
Ich weiß nicht, ob an der älteren Generation noch
viel zu erziehen ist. Die Stunde wird ja in gar nicht
ferner Zukunft kommen, wo sich die „bewährten
Führer" nicht genug werden beeilen können, die ver-
lernte Sprache der „internationalen, revolutionären,
völkerbefreienden" Sozialdemokratie wieder zu proben.
Aber niemand wird das mehr ernst nehmen. Ich wünsche
238
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Mehrings Buch vor allem die junge Generation (in
die ich die jung gebliebene einrechne) als Leser; —
die Generation, die sich nicht mehr damit bescheiden
wird, in frühem Vereinsdrill schnellfertig und gefügig
ihre Jugend bloß für die spätere Einreihung in die
verödeten Organisationen der „Erwachsenen" her-
zugeben, sondern die in ihrem eigenen Rechte lebt, die
Sturm und Gärung, Kraft und Begeisterung in sich
fühlt, die herrlichen Regungen jener gütigsten und
wunderbarsten Naturgewalt: der ewigen Regeneration
des Menschen in der Jugend, die es vollbringt, daß —
trotz der gesellschaftlichen Zustände — immer wieder
Leben da ist, das zum Höchsten langen will.
Karl Marx, dessen Jugendfeuer erst an dem Tage
schwand, da sein Leben erlosch, und sein greiser Bio-
graph, dessen Daimonion in ihm die Altarflammen
unzermürbter, tapferer und freier Menschlichkeit
hütet, sind berufen, diese neue Generation des Prole-
tariats zu hellerem Wesen, größeren Aufgaben, kühne-
ren Wagnissen und reichsten Erfüllungen zu führen.
Denn wir bedürfen der Genialität der Klasse!
239
Die Heerstraße zum Abgrund
Das gelbe Zeichen.
„Glücklicherweise hängt das Wohl
Deutschlands nicht von seinen Fürsten
allein ab."
Herzog Ernst II an den Prinz-
geraahl Albert am 26. Marz 1850.
„Unsere Fürsten kommen mir wie die
egyptischen Pharaonen vor, die nach
jeder Plage, die über sie und Egypten
gebracht worden, sogleich wieder ver-
stockten Herzens wurden. Leider hat
Deutschland noch nicht den rechten
Moses gefunden/1
Aus der Antwort des Prinzgemahls.
Als die Juden noch ihre separierten Stadtviertel be-
saßen, da war ihnen vergönnt, als Symbol ihres geson-
derten Menschentums ein gelbes Zeichen am Haupte zu
tragen, das den heiligen Orden der Ausgestoßenen in .
sich einte und schied gegen die Träger des gemeinen
Glücks. Mit den Ghettos ist das gelbe Zeichen ge-
schwunden ; es gibt keine Orden mehr, die von Geburt
an sichtbarlich getragen werden. Nur ein Rest noch
jener Weltanschauung ist geblieben, die in der Geburt
das ganze Dasein fixiert; nur ein gelbes Zeichen noch
wird in die Wiege als unveräußerliches Patengeschenk
gelegt. Das Zeichen ist nicht von grobem Zeug, es
ist von dem edelsten gelben Metall, von Gold, und die
Träger sind die höheren Ausgestoßenen, die Kultus-
gemeinde des Herrschertums : es ist die ummauerte
Welt des Fürstenghettos und der gelben Königskronen.
Gleichartig ist das Schicksal der Fürsten und Juden;
ihre Geburt ist ihr Fatum: abgesperrte Kontroll-
243
menschen, die vom ersten bis zum letzten Tage der
unermüdlichen Neugier der freien Mischlinge geopfert
sind. Durch Inzucht pflanzen sie sich fort, und enge,
nicht erwählte Beschäftigung prägt ihren Geist. Auch
die Fürsten sind von Geburt an auf das politische Ge-
werbe gedrängt, auch sie haben sich einen äußerst leb-
haften Geschäftssinn erworben, der von nichts anderem
erfüllt ist als von Vorteilen und von Nachteilen, von
feinen und faulen Abschlüssen. Die fortgesetzte In-
zucht züchtet extreme Geschöpfe im guten und schlim-
men, Genies der Tugenden und Laster, der Kraft und
der Schwäche. Freilich bleibt stets zu erwägen, ob die
grellen Kontraste die Folgen der scharfen Beleuchtung
oder der intensiven Leuchtkraft sind. Aber selbst
physiognomisch ähneln sich die beiden Gattungen von
Ghettomenschen. Die Fabel von dem jüdischen Blut,
das in den Fürstengeschlechtern fließt, ist entstanden
aus dem „jüdischen" Äußeren; und diese physiogno-
mische Ähnlichkeit entspringt den verwandten Ent-
wicklungsbedingungen. Das Jüdische ist nicht die
Rasse der Juden, sondern des Ghettos, die Dekadence
der Abgesperrten, der Inzuchtmenschen, der Berufs-
beschränkung.
Das Fürstenghetto hat das Judenghetto überdauert.
Die jüdische Emanzipation steht hart vor der Vollen-
dung, die fürstliche beginnt schüchtern und ratlos
tastend. Und doch dürfte die Öffnung des Fürsten-
ghettos weniger Schwierigkeiten zur Folge haben, als
die Judenemanzipation. Während durch diese die Juden-
frage sich entzündet hat, dürfte die Fürstenemanzi-
pation die Fürstenfrage lösen.
Herzog Ernst II. von Sachsen Koburg-Gotha, dessen
Hinscheiden jüngst die Zeitungen zu beklagen ver-
standen, gehört zu den, noch seltenen, Fürsten, die,
unbewußt zwar, begannen, sich auf ihre Menschen-
rechte zu besinnen und den Weg aus dem Ghetto zu
suchen. Er hat weite Exkursionen in die Freiheit unter-
244
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nommen; aber er kehrte stets und — gern in die Ab-
sperrung zurück, und das gelbe Zeichen löste sich nicht
von seiner Stirn. Wer dereinst die Geschichte der
Fürstenemanzipation schreibt, wird mit Fug Ernst den
Zweiten unter den Vorkämpfern nennen ; und in dieser
Geschichte wird sein Platz länger belegt sein, als in der
Historie der deutschen Einheit, obwohl er sich in den
krausen Irrgängen dieser Entwicklung als unermüd-
licher Kavalier rüstig getummelt hat.
Herzog Emsts Glanzzeit fiel in die dunkelste Epoche
Deutschlands ; so ward es leicht, eine Leuchte zu schei-
nen. Er war ein Liberaler in Politik und Kirche, und
er war stolz auf diesen aufgeklärten Liberalismus, der
ihn emporhob über die politischen Nekrophilen, die
auf den Thronen Deutschlands saßen . Bei allen Schützen,
Sängern und Turnern war er ein Radikaler, und dieses
Lob des Radikalismus machte ihm Spaß, da es ja so
ganz und gar nicht berechtigt war. Es bedurfte gar
nicht englischen Einflusses, daß sich der Herzog für
Konstitutionalismus begeisterte; politische Unter-
haltungen gehörten zu seinen Lieblingsbeschäftigungen
und so förderte er ehrlich die Schaffung eines Instituts,
daß derartiger Tätigkeit ausschließlich gewidmet war.
Aber der Herzog war ein Idealist; nicht umsonst war
der Mörder einer „Klytämnestra", Herr Tempeltey,
sein Vertrauter. Die Forderung konstitutioneller
Freiheit durfte nicht durch plump materielle Wünsche
entweiht, hinabgezogen werden in das Gemeine, das
uns alle bändigt. Sein Liberalismus schwelgte in reiner
Freiheit und Humanität, er trug eine Rose im Knopf-
loch, lächelte liebenswürdig und glitt geräuschlos und
aufgeklärt in zierlichen Lackschuhen auf wohlgeglätte-
tem Parkett. Und dieser Gentleman -Liberalismus,
diese Nektar- und Ambrosiahumanität erschrak mit
Fug und Recht vor dem Ansturm der 48 er Revolution,
die sich nicht mit dem enterdigten Begriff Freiheit be-
gnügte, sondern durch nichtsnutzig praktische Inter-
245
essen die selbstlose Begeisterung befleckte. „Allein
wenn in den ersten Tagen des März dieser — man
möchte sagen ideale — Zug noch vorherrschte, so
stellten sich doch auch in den kleinen thüringischen
Ländern alsbald Einflüsse von ganz anderer Art hervor,
und anti monarchische, sozialistische und anarchistische
Bestrebungen traten an die Oberfläche . . . Schon
kamen die bedenklichsten Dinge zum Vorschein: man
verlangte alsbald die Ablösung aller Feudallasten in
bezug auf die Hütgerechtsame, Beseitigung der Stände-
unterschiede und des erblichen Rechts bei der Landes -
Vertretung, Einverleibung des Domanialvermögens in
das Staatsgut, Besetzung aller Staatsämter mit „volks-
tümlichen Männern", Durchführung der Öffentlich-
keit und Mündlichkeit in der gesamten Verwaltung,
Sicherstellung der Holzbedürfnisse des Volks, Auf-
hebung der Verbrauchssteuern, Ermäßigung der Stol-
gebühren, Abschaffung des Jagdrechts usw." So
schreibt Herzog Ernst (oder läßt es durch seinen Pro-
fessor U. Lorenz schreiben) schmerzlich in seinen Me-
moiren: „Aus meinem Leben und aus meiner Zeit".
Und gewiß, es war zum mindesten unhöflich und un-
dankbar, dergleichen zu fordern von einem Fürsten,
der stets bürgerlich gesonnen war und die Freiheit in
freigebigster Weise dem Volke zur Verfügung stellte.
Besonders rücksichtslos war die Forderung der Ab-
schaffung des Jagdrechts, kannte man doch die Jagd-
leidenschaft des hochherzigen Fürsten, die so gedieh,
daß sein Nachfolger nichts Eiligeres zu tun hatte, als
eine Amnestie für Forstvergehen zu erlassen.
Die erwähnten Memoiren sind in gewisser Be-
ziehung das Widerspiel zu den Büchern Julius Casars,
in denen Cäsar in der dritten Person eingeführt wird,
obwohl er selbst der Autor der Taten und ihrer Schilde-
rungen ist; Herzog Ernst bedient sich in seinen Dar-
legungen der ersten Person. Seine Erinnerungen
haben den ausgesprochenen Zweck, seine Bedeutung
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richtig einzuschätzen, und seine Deklaration ist nicht
die eines Hinterziehers. „In den Erzählungen der
Nachgeborenen wird nur derjenige hoffen können, einen
sicheren Platz zu behaupten, welcher dafür Sorge ge-
tragen hat, daß von seinen Bestrebungen schriftliche
Kunde bestehe" — heißt es in der Einleitung. Und
weiterhin: „Ich kann mich nicht bestimmt finden, mir
mein Recht verkümmern zu lassen, die Dinge dar-
zustellen, wie ich dieselben erlebt, empfunden und mit-
bewirkt habe. Mir war ein halbes Jahrhundert hin-
durch Gelegenheit geboten, im Vordertreffen zu stehen,
ich habe vieles erfahren, die Ereignisse scharf beobach-
tet, und kein wirklicher Kenner der Zeit dürfte meinen
bescheidenen Anteil an den Gestaltungen unseres
Vaterlandes in Zweifel ziehen wollen." Historische
Forschungen haben manches von seinen mit der Feder
erworbenen Verdiensten korrigiert. Der Sieg bei
Eckernförde zum Exempel ist nicht sein Werk, er kam
zu spät an, sonst wäre er gewiß der Sieger geworden.
Er war aber immerhin in der Nachbarschaft des be-
deutenden Kampfes, wie er überhaupt stets der Nach-
bar des Bedeutenden war. Er hospitiert in allen Wissen-
schaften und Künsten, auch in der Kunst, verheiratet
und doch glücklich zu sein. Er ist Meister in allen
Arten des Sports, sein Gemütsleben ist reich an den
edelsten Ausflüssen zärtlicher Liebe und Freundschaft,
zwischen ihm und dem Prinzgemahl Albert ist ein gerade-
zu klassischer Herzensbund, er ist ein tapferer Soldat,
ein großer Gelehrter, ein vollendeter Weltmann, ein
humaner Volksfreund von aristokratischen Manieren,
ein freier Geist und heller Kopf und alles das nicht etwa
von Gottes Gnaden, sondern nach koburg-gothaischem
Hausgebrauch aus eigener Kraft. Er betätigte sich in
allen hochherrschaftlichen Bestrebungen selbst im
Bauernlegen, und ist doch zugleich ein echter Bürger-
herzog, der einen Gustav Freytag den höchsten Trägern
des gelben Zeichens vorzieht.
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Trotz aller Einwendungen der Historiker haben seine
Memoiren eine merkwürdige Akustik, welche die fal-
schen Töne dem feinen Ohr in richtige verwandeln. Wir
lernen den Wert jener Zeit nach 1848 kennen, welche
die deutsche Einheit ausbrüten half, jene verlorene
Zeit der diplomatischen Belustigungen des Verstandes
und Witzes — der Zuschauer.
Den einzelnen befällt in Gespensterstunden das
Grauen der verlorenen Zeit: Wie viel hätte man tun
können und wie wenig hat man getan! Schon tropft
das Leben ab, in furchtbarer Stetigkeit, Tropfen auf
Tropfen, und bald ist's vorüber, unwiederbringlich die
Zeit der Kraft vergeudet ! Gibt es auch für die Verant-
wortlichen der Weltgeschichte solche Gespenster-
stunden? Wohl kaum! Wahnsinnig müßten sie ins-
gesamt werden, wenn sie sich der nutzlos verstriche-
nen Zeit bewußt würden. Die Weltgeschichte kennt
nicht nur vertrödelte Stunden, sie kennt vertrödelte
Jahrhunderte. Aber die Verantwortlichen kennen nicht
die wilde Pflicht peinlicher Zeitausbeutung. Sie sind
stolz, wenn sie die Zeit ausfüllen.
Wir Jüngeren haben leicht die Anschauung, als sei
das Werk der Blut- und Eisenmänner die Erfüllung der
Sehnsucht gewesen, die die Deutschen seit dem An-
fang unseres Jahrhunderts, seit den Heidelberger
Tagen der jungen Romantik erfüllte. Das ist mehr
sedantesk als historisch gedacht. Die offiziellen Macht-
leute haben dem wachsenden Drängen dreier Genera-
tionen nachgegeben, haben eine Abschlagszahlung dem
Volke geleistet und zugleich den Ruhm dieser Ab-
schlagszahlung für sich in Anspruch genommen. Auch
die deutsche Einheit bedeutet nichts als ein Entgegen-
kommen „berechtigten" Wünschen gegenüber.
Etwas Ähnliches hat sich bei der späteren Sozialreform
ergeben. Die Urheber dieser Sozialreform gaben, ge-
drängt, ein paar Prozent dessen, was man von ihnen
begehrte. Nichtsdestoweniger ließen sie sich für diese
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Initiative preisen. Wir wissen alle, daß das Arbeiter-
schutzgesetz z. B. nicht dem gleich ist, das die Schutz-
bedürftigen forderten.
Nicht aus tiefstem Herzensdrange haben die Fürsten
die Einheitsbestrebungen poussiert, die „deutschen
Angelegenheiten" gefördert. In ihren Köpfen nistete
die Furcht vor den neuen Gedanken, die aus Frank-
reich kamen. „Deutschland muß vor der neuen Re-
publik gerettet werden," schrieb der Prinzgemahl
Albert an seinen Bruder. Von dem „kommunistischen
Aufruhr und den drohenden Aufständen" sprach
Friedrich Wilhelm IV. in seiner Schlußrede auf dem
Berliner Fürstentag.
Der Parallelismus mit gegenwärtigen Strömungen ist
augenfällig. Die aus der Begeisterung des deutsch-
französischen Krieges geborene Einheit ist kein Ab-
schluß gewesen, und die Volksstrebungen von 1870
sind nach den kriegerischen Lorbeeren ruhig weiter-
gesponnen worden, als hätte es nie die pompöse Eini-
gung gegeben. Die Memoiren des Herzogs zeigen, wie
es manche hohe Persönlichkeiten gab, die die deutsche
Einheit lediglich auffaßten als Präservativ gegen die
„kommunistische" Seuche gleichwie später die Sozial-
reform. Der Berliner Fürstentag von 1850 ist in der
Tendenz durchaus verwandt dem vierzig Jahre später
vom deutschen Kaiser zusammenberufenen Sozial-
kongreß. Eine geheime Befürchtung saß den fürstlichen
Schwärmern für einiges Deutschland im Nacken und
trieb sie vorwärts. Wie deutlich spricht dies unruhige
Gewissen aus den zornigen Worten des Herzogs von
Braunschweig, der dem widerhaarigen Kurfürsten von
Hessen auf dem Berliner Fürstenparlament zurief:
„Sie sind schon einmal daran gewesen, aus dem Lande
hinausgejagt zu werden, Sie wünschen dies Verhängnis
auf alle deutschen Fürsten auszudehnen."
Die Überwindung des Radikalismus durch Ent-
gegenkommen, dieses liberale Lieblingsdogma, beseelte
249
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auch Ernst II. „Auch die dunkle Macht der Demo-
kratie habe ich bei Licht gesehen und meine Ansicht
bestätigt gefunden, daß sie an sich nur eine negative,
daß sie aber eine gewaltige ist, wenn es zur positiven
Wahrheit wird, daß die Völker falsch regiert werden.
Die Demokratie als Partei hat sich selbst vernichtet;
ihr schwaches Glimmen wird durch die fehlerhaften
Bemühungen der extremen Gegenpartei erhalten."
Also schrieb Herzog Ernst an Friedrich Wilhelm IV.
in dem denkwürdigen Memorandum, in dem er Fried-
rich Wilhelm IV. vom Osten gen Westen, von Rußland
nach England ziehen wollte. Ebenso bezweckte der
Verein, der 1853 unter G. Frey tags entscheidender
Mitwirkung zur Hebung des konstitutionellen Sinnes
gegründet war, „sowohl der herrschenden Reaktion
als auch den fortdauernden demokratischen Bewegun-
gen entgegenzuwirken." Noch bemerkenswerter ist in
dem erwähnten Memorandum der folgende Passus:
„Wenn auch von so vielen, die ich nicht näher bezeich-
nen will, versucht werden wird, Ew. Majestät den
Glauben beizubringen, daß ein Abwenden von dem
Osten Ew. Majestät dem Lager jener imaginierten
Macht der Demokraten näherführen würde, so mögen
Sie mir glauben, daß es geradezu die entgegengesetzte
Richtung haben wird. Die Demokratie ist besiegt,
sobald jener ausländische, von allen gefühlte und ge-
haßte Druck vom Volke und den Regierungen ge-
nommen wird." Also auch hier die Erscheinung: be-
stimmend für die Bündnispolitik der Diplomaten bleibt
einzig und allein die Furcht vor der Demokratie. Die
Real- und Gewaltpolitiker schließen sich an Rußland
an, nicht aus irgendwelchen patriotischen, geschichts-
philosophischen oder machtstatischen Erwägungen,
nicht aus staatsmännischem Tiefsinn und weltweiser
Hellseherei, sondern einfach deshalb, weil man im
Osten den Hort gegen die Revolution erblickt. Um-
gekehrt suchen die Liberalen des Ungeheuers Herr zu
250
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werden, indem sie aus dem Westen konstitutionelle
Freiheit importieren. Jene wollen die Bestie mit der
Knute bändigen, diese sie in der Freiheit dressieren.
Dort arbeitet man mit dem Totschläger, hier mit
milden Purganzen. Es ist derselbe Gegensatz, der die
Geister beim Sozialistengesetz schied. Die Junker
suchen die Gefahr durch Knebelung zu ersticken, die
Liberalen durch liebenswürdige Unterredung fort-
zudisputieren. Die gleiche Erscheinung in der äußere-
ren wie in der inneren Politik : Bestimmend wirkt nicht
die Phrase vom europäischen Gleichgewicht, sondern
im Grunde die Sympathie und Antipathie der Welt-
anschauungen. Kein Zweifel, daß sich die Anhänger
des Ostens lieber eine Eroberung durch den Zarismus
als eine freie Etablierung, eine demokratische Republik
hätten gefallen lassen. Ein östlicher Buonaparte hätte
gewiß den Enthusiasmus der preußischen Reaktionäre
zu derselben Leidenschaft entflammt, wie der west-
liche seiner Zeit die Liberalen begeistert hatte. Die
äußere Politik ist nur eine Konsequenz der inneren.
Gegen die demokratische Seuche sollten — nach der
Sehnsucht der Reaktion — innerlich Soldaten und
Polizei, äußerlich Rußland angewendet werden, wäh-
rend die Liberalen innerlich Konstitutionalismus und
äußerlich England verordneten. So lösen sich die In-
spirationen schöpferischen Tiefblicks auf in gewöhn-
liche Emanationen des Willens, der Begierde, — wenn
man will — der Sehnsucht. Wer mag ermessen, welchen
Weg die Entwicklung Europas genommen hätte, wenn
der Herzog Ernst einmal das Vergnügen gehabt hätte,
Preußen für sein Denken, das immer über Vlissingen
ging, zu gewinnen, wenn er Friedrich Wilhelm IV.
in der Tat zum Westen hinübergezogen, wenn Europa
Rußland isoliert hätte. Wenn 1854 ein westeuropäi-
scher Staatenbund zustande gekommen wäre, ob
wohl dann heute noch das bei der Einigung vergessene
Fürstentum Lichtenstein das glücklichste deutsche
25*
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Land wäre, schwelgend in dem dreifachen Genuß der
Steuerfreiheit, der Soldatenlosigkeit und eines dauernd
abwesenden Fürsten? Das, was damals Demokratie
genannt wurde, wäre weder auf die eine noch die andere
Weise bewilligt worden, die rein politische Verfassung
Europas aber hätte vielleicht ein freundlicheres Aus-
sehen. Mag sein, daß englisches Geld durch Koburg
floß, die Tatsache, daß Bestechungen verübt wurden,
diskreditiert nicht die Sache eines westeuropäischen,
Bundes. Auch die gute Sache bedarf der Bestechungen,
die Pessimisten sagen: mehr noch als die schlechte.
Es ist anders gekommen, als Ernst II. plante. Rußland
und die Reaktion hat gesiegt. Die deutsche Einheit ist
mit dem Osten gegen den Westen zustande gebracht.
Der gegenwärtige politische Zustand Europas ist die
Folge davon, daß in der deutsch-demokratischen Frage
die östlich-reaktionäre Gewalttheorie die Oberhand
gewonnen hat. Der Eindruck von 1848, als das ent-
scheidende Jugenderlebnis, hat die Gründer der deut-
schen Einheit stets geleitet. Die zweite Hälfte des
19. Jahrhunderts ist nichts als die siegreiche Reaktion
gegen 1848, eine Reaktion, die größtenteils die kon-
servative Repressionstheorie, zum kleinen Teil das
liberale Prinzip des Entgegenkommens handhabte.
Die Zeit vor Bismarcks intensiver Einheitschwei-
ßung ist die Epoche der westeuropäisch geträumten
Einheitssuche: die Verkörperung ihrer emsigen Rat-
losigkeit ist Herzog Ernst. Unruhig geschäftig ist Ernst
wie derCauseur und Moralist des französischen Dramas,
überall und immer zugegen. In jeder Türe, die sich
öffnet, erscheint dieser internationale Unterhändler,
er ist in London, Wien, Paris, Berlin schier zu gleicher
Zeit, wenn zwei Unterhaltungen, Unterhandlungen
pflegen, der Herzog ist stets der eine Partner, er regiert
dabei noch unentwegt volkstümlich sein Sachsen- Ko-
burg-Gotha, hält Schützenreden, komponiert, schrift-
stellert, leitet den Nationalverein, und fährt gelegent-
252
lieh nach Afrika hinüber. Selbst die Orsinibombe darf
nicht platzen, ohne daß d erHerzog Zeuge der Schreckens-
tat gewesen wäre. Sein Geist weht panspermistisch
über Europa, aber — seltsam — sei es, daß Europa
einem schnöden Malthusianismus huldigte, oder ob
das Geistessperma der zureichenden Kraft entbehrte —
gewiß ist, daß nirgends süße Pfänder dieser feurigen
Aktionsliebe zu spüren sind. Alle seine Erfolge haben
keine Folgen, all seine Anstrengungen, Ausstreuungen,
Anregungen blieben ohne greifbaren Effekt. Er war
kinderlos auch in der Politik, zum Glück sagen die einen,
zum Schaden glauben die andern. So versandete der
Fürstentag in Berlin, so zerwehte das westeuropäische
Bündnis. Freilich betrieb er die verschiedenartigsten
Geschäfte mit gleichem Eifer zu gleicher Zeit. Wenn
er 1854 zu Paris Napoleon III. für seine politischen
Zwecke zu gewinnen sucht, so vergißt er nicht, neben-
her seine Oper „Santa Chiara" der Großen Oper an-
zuhängen, und freudig konstatiert er die sechzigmalige
Aufführung.
Es war im Jahre 1866, als Herzog Ernst mit der
osteuropäischen Einheitsbewegung seinen Frieden
schloß. Die Kriegskosten wurden ihm vergütet. Herzog
Ernst, der Mann der deutschen Einheit und des Libera-
lismus, blieb seitdem verschollen.
In den letzten Jahrzehnten führte Herzog Ernst
das Dasein eines Rentiers, der sich von den Geschäften
zurückzieht und nur noch seinen Liebhabereien lebt.
Aus einem unverantwortlichen Regenten wurde er —
ohne Not ! — verantwortlicher Autor. Trotz der eige-
nen Produktion förderte er Kunst und Wissenschaft —
natürlich mit Auswahl. Daneben entwickelte sich in
dem kleinen Ländchen die Blaufärberei zu bedeutender
Blüte. Gar mancher, dessen Vater, noch bürgerlich
und produktenbörslich gesinnt, den „Börsenkurier41
las, wurde durch die Koburger Veredelungsindustrie
ein staatsmännischer Abonnent der „Post" und ein
253
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hochadliges Mitglied des Unionklubs. Mit dem Tode
des veredelnden Fürsten sind die Freiherren und Barone
in die Hausse gekommen; sie standen vorher infolge
der Koburger Überproduktion unter pari.
Politisch hörte man allerlei Seltsamkeiten aus dem
thüringischen Ländchen. Die Gefängniszustände in
Ichtershausen konnten den ausschweifendsten An-
sprüchen verwöhnter Sibirier genügen. In Koburg-
Gotha war der Kriegsschauplatz des Streits um die
vielberufene Broschüre: „Auch ein Programm aus den
99 Tagen." Man hat heute das Gefühl, daß der Ver-
fasser dieses Pamphlets, das den Freisinn einer Konspi-
ration gegen Bismarck unter Kaiser Friedrich beschul-
digte, jemand war, der den Sturz Bismarcks bereits
ahnte und ihn verhindern wollte, indem er angebliche
Verschwörungen einer dem Kanzler verhaßten Partei
gegen Bismarck ausheckte. Wilhelm II. würde, so
nahm man etwa an, das Odium scheuen, Intrigen zu
erfüllen, die an seines Vaters Totenbett von der Oppo-
sition gesponnen wurden. Die Broschüre trägt das
Kennzeichen der meisten politischen Fehdeschriften:
Die Wirtschaft mit weitverzweigten dunklen Verschwö-
rungen. Ist Herzog Ernst wirklich der Verfasser gewesen
— und die Behauptung ist unwiderlegt geblieben —
so muß sich der alte Herr aus einem zahmen Liberalen
zu einem sehr ungebärdigen Reaktionär entwickelt
haben. Es muß hinter dieser Broschüre eine sehr selt-
same Geheimgeschichte stecken, deren Aufklarung noch
heute interessieren würde.
Auch der schmerzlichen Enttäuschungen barg sein
Lebensabend. Er, der doch allezeit das Beste des
Volks in freiheitlichem Geist erstrebt, mußte es er-
leben, daß Gotha durch einen Sozialdemokraten im
Reichstag vertreten wurde. Kein Wunder, daß er sich
lieber auf die Kunst zurückzog, die er allezeit zu
kommandieren verstand, wenn auch nicht ganz im
Goethischen Sinn. Zuletzt lockten ihn die Erfolge
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Sonzognos und er veranstaltete Opernpreisausschreiben
und Mustervorstellungen. Bei einer dieser Auffüh-
rungen erlitt er einen Unfall, der die Ursache seines
Todes geworden sein soll. So ist er gleichsam auf dem
Felde der Kunst gestorben.
An seine Stelle ist ein englischer Fürst getreten.
Gegen diese englische Einfuhr hatte man in manchen
Kreisen Bedenken. Bisher ist aber kein Unglück ge-
schehen, auch keine Annexion. Die Anglophoben
trösten sich wohl mit der Aussicht, daß demnächst ein
Russe in Oldenburg thronen und so der englische Ein-
fluß paralysiert wird. Inzwischen scheint die finan-
zielle Zerrüttung des Herzogtums dringlicher der
Heilung zu bedürfen als die nationale.
Die Gefahr, daß die thüringischen Fürsten aus-
stürben, ist wieder in die Ferne gerückt, und damit auch
die Gefahr, daß es statt der thüringischen Fürsten-
tümer eine Provinz Thüringen mit einem Regierungs-
präsidenten in Erfurt gäbe. Fürwahr, es wäre ein
unermeßlicher Schaden. Verloren auf einmal der Duft
jahrhundertelanger Lebensüppigkeit, zerronnen das
Gedächtnis kunstvoller Filigranintrigen, schwül ver-
knoteter Liebesgeschichten. Statt märchenschöner
Frauengestalten von geheimnisvollem Reiz und uner-
gründlicher Tugend, von abenteuerlichem Heißblut
und herrschfroher Hingebung, eine biedere, brave,
deutsch-keusche Hausfrau, eine Geborene, welche die
Küchenbücher der Mägde kontrolliert, deren Lebens-
zenith erreicht ist bei der Verheiratung der letzten
Tochter und deren höchste Tragik die Übergehung
des geliebten großen Mannes beim Ordensfest bedeutet;
statt einer chronique scandaleuse aus rosafarbenen
parfümierten kokett gekritzelten Blättchen blaue steife
Aktendeckel mit starkem Kanzleipapier in Folio gefüllt
und in der Mitte gescheitelt wie das Haupt des Chefs;
vorbei all die teilnahmsvollen Erkundigungen nach
der libido und potentia der Durchlauchtigen, kurz:
255
preußische legitime Prosa für prickelnde Poesie mit
einem Stich ins Konfiszierte. Fern noch möge die
Zeit mitleidsvoller Humanität sein, welche die Eman-
zipation des Menschengeschlechts auch diesen letz-
ten Abgesperrten bringt, die Tore öffnet und
das gelbe Zeichen liebevoll von der gedrückten Stirne
nimmt.
(September 1893.)
256
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Wir haben genug!
„Aber seine (Börnes) Worte: „Kein euro-
päischer Fürst ist so verblendet, daß er glaubt,
seine Enkel werden seinen Thron besteigen",
diese Worte muß ich leider bezweifeln. Es
muß ärger werden, ehe es besser
wird." Der fünfzehnjährige Lassalle.
„Man muß sich hüten, den Notstand öffent-
lich anzuerkennen, weil dadurch nur die Ar-
beitsscheu und die Begehrlichkeit gesteigert
wird. Das Niveau der Menschen im all-
gemeinen und der Arbeiter im besonderen
sinkt herab, wenn sich eine übermäßige Hilfs-
bereitschaft gegenüber Arbeitslosigkeit zeigt."
Herr Stadtbaurat Hobrecht-Berlin.
Am 23. Januar 1894 war's im Sprechsaal des all-
gemeinen, gleichen, direkten, geheimen und deutschen
Volkes, genannt Reichstag, recht langweilig. Es roch
förmlich nach Wärmehallen, drei-Pfennig- Kaffee und
zehn-Pfenn:g-Diners, und der schweißige Dunst der
Vielzuvielen, der von irgendwoher sich eingeschlichen
hatte, wurde nur mäßig aromatisiert durch den ur-
kräftigen Duft polizeilicher Gummiartikel, dieser
fürtrefflichen schlauchförmigen Präservative gegen die
üblen Folgen des Hangers.
Es war, wie gesagt, sehr langweilig: der zweite Tag
der allwinterlich wiederkehrenden Notstandsdebatten.
Ich bitte, kann man wirklich von einem seit Jahren ver-
hungernden Agrarier verlangen, daß er sich in anderer
Leute private Angelegenheiten mischt, wo ihm selbst
das Dach unter der Last der Hypotheken zusammen-
zustürzen droht? Nein, das wäre sträflicher Fürwitz,
ein unberechtigter Eingriff in fremde Familienver-
hältnisse. Und überdies ist der Notstand genau das,
sf Eitner. G«sammelt-» Schrift«. I.
257
was Frühling und Liebe in der Lyrik ist. Es läßt sich
nichts Neues über diesen Gegenstand sagen, und des-
halb wird ein gebildeter und intelligenter Mensch das
Thema vermeiden. Höchstens den Auserwählten des
Himmels beschert fromme Spezialerleuchtung ein
neues Sprüchlein, wie das des braven Zentrumsmannes
Fuchs, der da sehr richtig und originell bemerkte:
„Die Geschichte lehrt, daß, solange es Menschen ge-
geben hat, auch Notstände existieren. In der Tat, die
Menschheit liegt krank und elend am Wege aller Zeiten,
auch der unserigen, — und daran werden auch Sie
nichts ändern; denn es ist eben Gottes Wille, daß dem
so sei. Die Erde ist eben kein Paradies, und wir können
uns auch selbst hienieden keins schaffen. Not und Elend
füllen das Dasein des Menschen aus ; indem wir sie mit
Ergebung in Gottes Willen ertragen, sollen wir uns
den Himmel verdienen." Womit freilich das Sträuben
gegen den — nach der Ansicht des Herrn — teuflischen
Zukunftsstaat unerklärlich wird, dessen verbessertes,
d. h. vergrößertes Elend doch eine um so tüchtigere
Vorbereitungsschule zur Erlangung des Reifezeugnisses
für die himmlische Karriere sein dürfte.
Während so böse Umstürzler um ein bißchen Hunger
und Frost mit der Vorsehung und der Ordnung des
Diesseits haderten, schritt draußen in gewaltigem
Gang die Weltgeschichte und rüttelte an den Morse-
apparaten und an den Redaktionshirnen, und nachdem
sie sich genistet in der dämmerigen Einsamkeit eines
edlen Weingewölbes, türmte sie aus Briefen und Loko-
motiven, aus Empfangsentwürfen, Ernennungen, Diners,
Wacht am Rhein, Flaggen, gebildeter und besitzender
Begeisterung, Gruppenbildern, Leitartikeln und Tele-
grammen ein Riesenwerk des Reinmenschlichen: Ver-
söhnung zwischen Bismarck und Wilhelm II.!
Und die Menschen gingen hin in den hehren Karten-
dom der Versöhnung, in dem die Legende die Fest-
predigt hielt, und lauschten andächtig den Worten
«5»
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des Friedens, und es war alles wie ein historischer Akt-
schluß mit schöner bedeutender Gruppenbildung und
gutem Notausgang.
Selbst die gerecht verbitterten Agrarier, auf deren
Existenz — ich weiß es nicht recht, ist es durch das
alte Rom oder durch die französische Revolution histo-
risch erwiesen — das Dasein der Welt beruht, ent-
deckten, nachdem sie sich zuvor fürsorglich vergewis-
sert, daß das Ganze nicht etwa eine Intrige zugunsten
des russischen Handelsvertrages sei, ihre jauchzende
vom Alp befreite Volksseele . . .
Im Sprechsaal des allgemeinen, gleichen, direkten,
geheimen und deutschen Volkes sprach der Sozial-
demokrat Kühn gerade über das sogenannte Weber-
elend in Schlesien. Es wohnen dort nämlich jene unan-
genehmen Leute, die zu faul sind, um sich ordentlich
satt zu essen, denen deshalb die Haut — und noch dazu
eine schmutzige, fleckige Haut — direkt ohne jeden
Zwischenhandel von Fleisch und Fett über das
Knochengerüst gespannt scheint, das sich überdies
noch in wunderlichen Windungen und Wendungen
gefällt; nirgends sieht man die Köpfe in so mannig-
facher Weise an den Rumpf genietet wie in jener unan-
genehmen Gegend. „Also eine Familie von zwei Er-
wachsenen und einem arbeitsfähigen Kinde verdient
bei voller Arbeit die Riesensumme von 6% M. pro
Woche im günstigsten Fall — sagt dieses Zentrums-
blatt . . . Die Häuser sind so, daß vorne und hinten so
viele Risse in der Lehmwand sind, daß, wenn man
gegen die Vorderwand einen Stein wirft, er hinten
wieder hinausfliegt . . . Das Stückchen Land, das einzelne
haben, ist an den Berglehnen und Steinrücken so
herumgelegen, und von den mühseligen paar Halmen,
die sich da mit unendlich vieler Mühe die Arbeiter früh
morgens und abends nach ihrer regelmäßigen Erwerbs-
arbeit erzeugen, müssen sie nicht etwa den zehnten
Teil, sondern oft die Hälfte und in einzelnen Fällen
259
das Ganze wieder opfern, und zwar für die gräflichen
Hirsche, Rehe und Hasen, die in den angrenzenden
Forsten ihren Sitz haben, und die natürlich nicht erst
um Erlaubnis fragen, ob sie etwas abfressen oder zer-
trampeln dürfen . . ." Derlei abgedroschene Dinge
führte Herr Kühn in eintönige! Breite vor, in dem welt-
historischer Moment, da das hochgespannte Empfinden
der Nation die Chamade umjubelte, die aus der Fan-
fare: „Le roi me reverra!" gezähmt worden war, wie
es schien; solche triste Sentimentalitäten wagte Herr
Kühn auszuspinnen, obwohl Herr v. Kardorff — einer
von denen, ohne die der Staat nicht leben kann! —
bereits seine jauchzende Volksseele entdeckt und in
stolzem Mut offen bekannt hatte. Da ließ sich die
mißhandelte Volksseele nicht länger bändigen. Hatte
Herr Kropatscheck zuerst in höflicher Verwarnung
die Volksstimme eines Bekannten vorgeführt, der zu
ihm geäußert: „Heute wird es wohl große Radau-
reden hier im Reichstag geben!" so mußte jetzt etwas
deutlicher gegen die die Feierstimmung der Nation
schnöde entweihenden Radaureden protestiert werden
und mit einem kräftigen: „Wir haben genug!" verließ
ein Teil der Rechten demonstrativ das Haus. Das
parlamentarische Elendsschauspiel schloß mit grellem,
höhnischem Klang, während das hochpoetische, groß-
zügige Historiendrama, das sich gleichzeitig abspielte,
schön und befriedigend endete, in vollendeter Technik
und mit meisterhafter Wahrung der Einheit der Zeit.
Ein schneidendes: „Wir haben genug!" dort, ein sehn-
süchtiges : „O, währte es ewig !" hier, ungemilderte, un-
veredelte Wahrheit im ersten, glänzende Stilisierung,
Glättung, Beleuchtung im anderen Fall. Aus den Tiefen
der Volksseele stammt nur die Bewunderung, die weiß,
daß eigentlich alles nicht wahr ist, was sie bewundert.
Das Unwahre allein ist das Befriedigende, das Be-
geisternde, man betet das Unwahre an, indem man das
Unmögliche möglich denkt. Selbst historische Fa-
260
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miliendramcn sind nur dann wirksam, wenn sie nicht
von Menschenkennern geschrieben sind und keine
Menschenkenner als Publikum verlangen. Vor einigen
Jahren ereignete sich einmal im Berliner Residenz-
theater ein seltsamer Vorfall. Herrn Daudets „Kampf
ums Dasein" wurde aufgeführt. Auf dem Zettel
standen vier Akte vermerkt, aber der dritte Akt war
hinterlistigerweise durch eine Verwandlung halbiert.
Als nun am Schlüsse des dritten Aktes der Held, der
bis dahin ein röher, gemütloser, vor keinem Verbrechen
zurückscheuender Streber war, in einer reinmensch-
lichen Aufwallung vor einer edelmütigen Dame auf
die Knie stürzte, da war das Publikum hocherbaut und
tiefergriffen und — eilte nach der Garderobe. Es
kostete einige Mühe, die Leute zu überreden, sich
noch den vierten Akt zu beschauen, der minder ver-
söhnlich war. Es geschieht öfters, daß wir das zweite
Bild des dritten Aktes mit dem vierten Akte verwechseln,
weil wir alles Menschliche für möglich zu halten wün-
schen, ausgenommen das Menschenmögliche, was
zumeist das Unversöhnliche und Unbefriedigende ist.
Wir haben auch keine Lust, das Wahre, das Wesent-
liche würdig zu bewältigen, aber die Anekdote in
Galauniform wissen wir zu feiern und zu genießen.
Ergreifend ist es zu lesen, wie ein blonder Mann aus
derProvinz unlängst, beim Einzug des Fürsten Bismarck
in Berlin, zwei Leute von peinlich gekrümmtem Äuße-
ren barsch zurechtwies, weil sie, anstatt „Deutschland,
Deutschland über alles" mitzusingen, von Kreditaktien
sich unterhielten. Welch feiner Takt für das in ge-
weihten Höhenzeiten Schickliche spricht aus dieser
national-blonden Zurechtweisung. Und nun vergleiche
man dieses vielleicht übertriebene zarte Taktgefühl
mit der Art, wie man die reichstäglichen Notstands-
debatten erledigte. Wenn man bei Notstandsdebatten,
anstatt in feierlicher Ergriffenheit unserer Regierung,
unseren Ersten, unseren Verhältnissen, unserer Zeit
261
ein Vertrauensvotum auszustellen, die Herrlichkeit
des Erworbenen preisend, von Arbeitslosigkeit, Elend
und so weiter spricht, so ist das genau so, wie wenn ein
Hebräer am deutsch-nationalen Versöhnungstag von
Kreditaktien spricht. Selbst Herr v. Boetticher hat
etwas von seinem alten schönen Pathos eingebüßt,
auch er sprach gelegentlich von Kreditaktien — will
sagen von Arbeitslosigkeit, und es kostete ihm einige
Mühe, an statistischen Rettungsseilen auf den Boden
der idealen Zustände zu klettern. Doch besaß er
wenigstens so viel Ritterlichkeit, sich auf banausischen
Abhilfgedanken nicht einzulassen. Mehr Lob ver-
dient Herr v. Stumm. Sein sehnsüchtiges Ringen nach
einem neuen Sozialistengesetz zeigt, daß es immer noch
Männer gibt, die eine schönere, von der Misere des
kleinen erbärmlichen Alltagslebens unbefleckte Zeit
heraufzuführen beflissen sind. Und in welch hoch-
herziger Weise wehrte er die Würde germanischer
Standesart, als er die Hetzer und Volksbeglücker auf
die Schmach hinwies, daß sie sich für ihre Tätigkeit
bezahlen ließen. Bisher haben die Führer der deut-
schen Nation von Industrie-, Landwirtschafts- und
Gottesgnaden, die Minister, Staatssekretäre, Land-
räte, Regierungspräsidenten niemals sich für die
Leistung ihrer Ehrenpflicht besolden lassen, und selbst
die Landbriefträger, Weichensteller und Volksschul-
lehrer, die in ihrem Pöbelsinn von Haus aus soldgieriger
sind, werden durch die weise Einwirkung einer ethi-
schen Regierung zur Abgewöhnung dieses schmutzigen
Triebes erzogen. Es gab dann wohl noch einige Licht-
punkte: die herrlichen Worte, die man dem Christen-
tum gewidmet hat, der freisinnige Gedanke, daß nur
wenn die Menschen Engel wären, sie für das Zucht-
haus des Zukunftsstaates befähigt sein würden; doch
kann dieser Lichtpunkt auch eine optische Täuschung
sein. Aber immerhin war das Herrenwort : „Wir haben
genug!" wie eine Erlösung.
262
— 1
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Sonderbar ist es nur, daß selbst die Herren Sozial-
demokraten» trotzdem man ihnen zuliebe das schöne
Thema in die Niedrigkeit verkommenen Menschen-
tums gezogen hat, so ganz und gar nicht zufrieden mit
dem Verlauf der Verhandlungen sind. Es ist immer der
alte Jammer, daß sie sich, statt einfach begeistert zu
fühlen, in allerlei grauen Abstraktionen rationalistisch
denken. So erreichte mich, während ich gerade die
großen Begebnisse der letzten Tage berauscht — ich
hoffe, daß ein wenig von dieser Stimmung noch in
diesen Zeilen zu spüren ist — auf dem Sofa nach-
träumte, ein bitterböser Brief aus der Provinz, der u. a.
folgende Stelle enthielt : „Während die guten Leute die
Regierung für unfähig halten, auch nur einem Hungern-
den ein Stückchen Brot, einem Frierenden einen Rock,
einem Obdachlosen eine Stube zu verschaffen, glauben
sie mit fanatischer Inbrunst an die gewaltige Kraft-
wirkung, die eine rein menschliche Impression eines
Fürsten, der Frieden schließen will — oder zu schließen-
scheint — mit einem entlassenen Diener (die Schul-
geschichte wird das einst unter die schönen Züge
buchen!) auf die Gestaltung der Dinge zu üben ver-
mag. Nie ist mir so klar geworden, wie klein doch
eigentlich der Größenkultus ist: niederige politische
Sinnlichkeit, die kläglich absticht gegen die reine
Geistigkeit, die an Gedanken glaubt, die Ideen in
Taten zu verwandeln strebt. Wehe denen, die all
ihre Leidenschaft für politisches Operngepränge ver-
geuden, und nichts übrig haben für das Wesentliche
der modernen Kultur, für die eigentliche Mission der
Zeit!"
Pfui, sind diese Provinzialen nüchtern, abstrakt,
gemein!
Ich aber schwärme, und mein Kopf tanzt wie ein
lachender Löwe.
Deutschland, Deutschland über alles!
(Februar 1894.)
263
Der goldene Magnetberg.
Karl Kautsky hat unlängst einmal die Bemerkung
gemacht, das unterscheidende Merkmal der Sozial-
demokratie gegenüber allen bürgerlichen Parteien
sei gar nicht mehr die Auffassung über den Kapitalis-
mus, sondern das Verhältnis zum Militarismus. Der
Ausspruch wirkte beim ersten Aufnehmen überraschend
wie eine unerhörte und dazu unbegründete Ketzerei.
Überlegte man sich aber das Paradoxon näher, so ent-
deckte man nicht ohne Erstaunen, daß Kautsky,
wenigstens soweit die Entwickelung der deutschen
Parteien und Richtungen in Betracht kommt, ein kluges
Wort der Selbstbesinnung über den gegenwärtigen
politischen Tatbestand gefunden hat.
In Wahrheit, wir sehen heute innerhalb der bürger-
lichen Parteien das ganze Spektrum antikapitalistischer
und Sozialist elnder Nuancen vertreten. Das reine
Manchestertum, das als solches gegenüber dem grund-
satzlosen, erweichten Eklektizismus den nicht verächt-
lichen Wert einer zwar falschen, aber wissenschaftlich
strebenden Lehrmeinung beanspruchen darf, hat die
gewaltige Geltung, die es noch vor dreißig Jahren als
Erkenntnislehre wirtschaftlicher Gesetzmäßigkeit be-
sessen, bis auf den letzten Rest eingebüßt. Auch die
paar Azteken des großen Irrtums wagen nur noch ver-
stohlen von dem wundertätigen Spiel der freien Kräfte
zu schwärmen, und der durch die Gesetzgebung
überall eingeschnürte Kapitalismus — ohne daß diese
bemühte Oberaufsicht des Staates imstande wäre,
irgendwelche ernstliche Schranken seiner Entfaltung
entgegenzusetzen — wird nirgends und von niemandem
mehr für eine ewige, unantastbare Einrichtung mensch-
264
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licher Organisation gehalten. Der bürgerliche Staat
hat das Prinzip des Manchester- Kapitalismus längst
preisgegeben. Er selbst stümpert in sozialistischer
Pfuscherei. Die bürgerliche Gelehrsamkeit liefert im
systemlosen Kathedersozialismus Viertel-, Halb- und
Dreiviertelfabrikate des Sozialismus. Es gibt keine
Partei mehr, die sozialistische Argumente verschmäht,
und kleinere bürgerliche Richtungen sind bereit, sogar
den Klassenkampf des sozialistischen Proletariats zu
unterstützen. Die gewaltige Arbeiterbewegung hat
eben alle zu Konzessionen gezwungen. In dem vor
ein paar Jahren zum agrarischen Feldgeschrei erhobe-
nen Antrag Kanitz, der eine Art Verstaatlichung des
Getreidehandels und eine fixierte Rente für die Groß-
grundbesitzer anstrebte, versuchte sich endlich selbst
der Feudalismus in einer Fratzesozialistischer Gedanken.
So ist allerdings kaum zu leugnen, daß die Grenzen
zwischen der Sozialdemokratie und den bürgerlichen
Richtungen, namentlich wenn man die Bemühungen
radikaler Eingänger mit berücksichtigt, einigermaßen
zu verschwimmen beginnen, wenn auch das eigentliche
sozialistische Ziel, die Vergesellschaftung der Pro-
duktionsmittel, noch ausschließlich von der Sozialf
demokratie erstrebt wird. Die Kluft der Anschauun-
gen, die vor einem Menschenalter unüberbrückbar war,
hat sich, vornehmlich in der theoretischen Meinung,
minder in der praktischen Übung, unzweifelhaft
verringert.
Genau den entgegengesetzten Weg haben die Auf-
fassungen über den Militarismus genommen. Die
deutsche liberale Bourgeoisie ist im Kampfe gegen den
Militärstaat erwachsen, der ihre Entwickelung hemmte.
Bismarck überwand die Abneigung der liberalen
Doktrin und des liberalen Interesses gegen den Mili-
tarismus, indem er Gegenbeweise der Tat provozierte,
und da diese Gegenbeweise — die drei Bismarckschen
Kriege — erfolgreich waren, ging ein großer Teil des
265
Bürgertums, der noch eben im wilden Konflikt gegen
den feudal gerüsteten Militärstaat gekämpft, mit
stramm durchgedrückten Knien zur Religion des
Säbels über: Beethoven wurde durch Militärmusik
überwunden. Immerhin blieben auch nach 1870 be-
deutende Parteien Gegner der Gewalt- und Rüstungs-
politik. Das durch den Kulturkampf gestählte Zen-
trum blieb in leidenschaftlicher Opposition, Freisinnige
und Demokraten stritten, immer noch ein bißchen
grundsätzlich, gegen das gefährlichste Machtmittel
der nationalen und internationalen Reaktion.
Dies Verhältnis hat sich nun im letzten Jahrfünft
von Grund aus geändert. Das Zentrum ward regie-
rende Partei und verfolgte jetzt die Taktik, ein paar
Monate unwirsch über die unersättlichen Opfer des
bewaffneten Friedens zu schimpfen, um sie dann zu
bewilligen. 1893 gab es die letzte Reichtsagsauflösung
wegen der Ablehnung einer Militärvorlage; seitdem
sorgten die Klerikalen dafür, daß jede Forderung der
Art — wenn auch mit einigen Anstandsabstrichen —
durchgesetzt wurde. Den gleichen Weg ging der Frei-
sinn, der hinfort entweder gar keine oder doch nur
finanzielle oder konstitutionelle Bedenken geltend
machte. 1898 begann dann auch mit der ersten großen
Marinevorlage der gleichmütige Verzicht auf das
jährliche Budgetrecht, und es ist ein offenes Geheim-
nis, daß bei der Fünf-Milliarden-Marinevorlage dieses
Jahres die beiden demokratischen Fraktionen der
äußersten Linken, die zwar gegen diese konstitutionelle
Monstrosität stimmten, ihre Wähler nicht hinter sich
hatten; prinzipielle Gegnerschaft gegen die Zu-
mutungen des Militarismus und Marinismus wurde
von bürgerlichen Vertretern überhaupt nicht mehr
geltend gemacht.
So ist es denn in Wirklichkeit allein die Sozialdemo-
kratie, die in altem Trotz gegen den kulturwidrigen
Militarismus der staubigen und der wässrigen Spielart
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verharrt. Die grundsätzliche Gegnerschaft gegen den
Militarismus ist, wie Kautsky richtig erkannte, das
Trennende zwischen dem Proletariat und der gesam-
ten Bourgeoisie.
In dieser Gegnerschaft aber steckt zugleich die Diffe-
renz der sittlichen Weltanschauung, für die der Mili-
tarismus den Prüfstein bildet.
Wenn die Sozialdemokratie den Militarismus prin-
zipiell bekämpft und die Bourgeoisie ihn hätschelt, so
heißt das mit anderen Worten: Das Proletariat hat
von der liberalen Bourgeoisie die von ihr verratene und
verlassene kulturelle Weltanschauung weltbürgerlicher
Humanität übernommen, die sonst nirgends mehr eine
Stätte findet. Die Stellung zum Militarismus ist in
erster Linie das Bekenntnis einer sittlichen Weltan-
schauung, in ihr scheiden sich die Wege der Barbarei
und der Sittlichkeit; die Sozialdemokratie geht den
Weg menschheitlicher Sittlichkeit.
Die militaristische Frage ist im tiefsten Gehalt ein
ethisches Problem. Ethisch denken und handeln aber
heißt nicht ins Blaue schwärmen, heißt nicht nach
rauhem Werkeltag für ein paar Feststunden mit glitzern-
dem Flitter sich aufputzen, sondern Ethik bedeutet die
wissenschaftliche Erkenntnis der einzigen Lebens-
und Entwickelungsmöglichkeit der Völker und der
Menschheit. Die humane Weltanschauung ist in Wahr-
heit die wirkliche Realpolitik, weil sie die kulturelle
Notwendigkeit möglich macht — die Aufgabe
allen menschlichen Handelns ist, nicht das Mögliche
notwendig, sondern das Notwendige möglich zu
machen — weil sie in tiefschauendem Verständnis
den Weg und das Mittel weist zu dem, was not-
wendig ist. Der überpfiffige Realpolitiker aber, der
über das humane Narrentum höhnt, ist, weltgeschicht-
lich betrachtet, der eigentliche Utopist, der in ver-
brecherischem Aberwitz sich gegen die Notwendigkeit
auflehnt und die Bedingungen des Daseins zu würgen
267
sucht. Der Realpolitiker der landläufigen Maulwurfs-
gattung ist der geprellte Preller, der gemeingefährliche
Geisteskranke.
Hat man aber diese Bedeutung des Militarismus er-
kannt, so wird die Lächerlichkeit derer offenbar, die
der Sozialdemokratie den Rat geben, doch auch
„national" zu werden. Das würde nichts weniger als
die Selbstentmündigung und den Selbstmord des
Proletariats bedeuten, und die ganze Menschheit ver-
löre darüber die Vernunft.
In dem Problem des Militarismus erscheint überdies
auch in anderer Form wieder das alte kapitalistische
Manchestertum, das, aus den nationalen Verbänden
vertrieben, sich auf den Weltmarkt geflüchtet hat:
Weltpolitik, Kolonialpolitik ist die roheste, verderb-
lichste und zweckwidrigste Entartung des kapitalisti-
schen Manchestertums, es ist das vom Kapital aus-
gehaltene freie Kraftspiel der See- und Landräuberei,
das alle Schranken kultureller Satzungen mißachtet,
die fessellos tobende Barbarei. Weil aber humane Sitt-
lichkeit, zweckmäßige Vernunft und notwendige Ent-
wickelung identische Begriffe sind, darum bedeutet die
sittliche Verurteilung dieser Politik zugleich ein Urteil
über ihre Möglichkeit überhaupt. Der Ethiker ist
nicht ein müßiger Phantaist, der die realen Verhält-
nisse nicht berücksichtigt, sondern er ist im Gegenteil
der Mann der wissenschaftlichen Erkenntnis der Reali-
täten, er ist der prophetische Mahner, der weiß, daß
der Weg der kurzsichtigen „Weltkenner" in den Ab-
grund führt. Alles politische Geschehen an den Grund-
sätzen sittlicher Weltanschauung messen heißt nicht
spielen und träumen, sondern die Zukunft schaffen,
die werden muß, wenn anders die Menschheit nicht
in krystallinischer Erstarrung an ihrem Wahn zer-
splittern soll.
268
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Weltpolitik ist Weltmanchestertum. Sie bedeutet
den ungeheuerlichen Versuch des Kapitalismus, auf
einem Umwege wieder die Schranken zu zerstören,
die von der Macht der Arbeiterbewegung und, unter
ihrem Zwange, von den nationalen Gesetzgebungen
in den modernen Industriestaaten seinem ungezügelten
Ausleben gesetzt wurden. Das Kapital will wieder
mit freier Willkür über die ganze Kraft von Arbeiter-
massen verfügen. So erklärt sich die tiefe Sehnsucht
nach China, nach seinen Millionen willfähriger, fleißi-
ger bedürfnisloser Kulis. Darum drängt das euro-
päische Kapital nach diesem Paradies der unerschlosse-
nen Bodenschätze und der unerwachten Sklaven. Das
Kapital bringt nicht die Kulis nach Europa, wo sie
leicht politisch infiziert werden könnten, es geht
vielmehr selbst zu ihnen — in der Sache aber bleibt
es derselbe Versuch, durch die Konkurrenz der Kuli-
massen der Begehrlichkeit der zum Kraftbewußtsein
erwachten Arbeiter der modernen Industriestaaten
Schach zu bieten; es ist der Kuliimport in anderer,
wirksamerer Form, es ist das Unterfangen, moderne
Industrie ohne moderne Arbeiter zu produzieren, es
ist — in der Tendenz — eine Generalaussperrung
des gesamten organisierten Proletariats.
Aber indem das kapitalistische Weltmanchestertum
sich mit der rohen Rückständigkeit des feudalen Mili-
tarismus verbündete, wurde es utopisch. Als der welt-
politische Flottenwahn die Köpfe, namentlich der
„Intellektuellen", benebelte, wies die Sozialdemokratie
auf den Widersinn, die innere Unmöglichkeit dieses
Weltmanchestertums hin. Gerade vom Interessen-
standpunkt des Kapitalismus war diese Weltpolitik mit
Panzerschiffen und Kanonen utopisch, ein Taumeln
zur Katastrophe. Die Nomaden des Kapitalismus be-
dürfen des Friedens, um die Weideplätze des Erd-
balls abzugrasen. Der Kapitalismus kann nur als stiller
Einschleichet kommen, der sanfte Goldregen er-
269
öffnet den Schoß, den die brutale Vergewaltigung zum
Widerstand reizt.
Unerwartet schnell haben die Tatsachen diesem
Urteil recht gegeben. Die reichsdeutsche, imperia-
listische Weltpolitik, der deutsche Bonapartismus, „in
dem" — um mit Marx zu reden — „der Staat zu seiner
ältesten Form zurückgekehrt ist, zur unverschämt ein-
fachen Form von Säbel und Kutte", ist bei ihrer ersten
Ausfahrt furchtbar gescheitert, sie ist in einem blutigen
Abenteuer zusammengebrochen, von dem sie sich
— bei allen äußeren militärischen Erfolgen — so
leicht nicht erholen wird. Und nicht nur das Deutsche
Reich, die ganze europäische Politik des Wettrüstens,
der gepanzerten Faust, der Völkerausraubung ist vom
Krach erfaßt, der dadurch noch verschärft wird, daß
er zusammentrifft mit einer jähen wirtschaftlichen
Krisis nach dem ungeheuren Aufschwung, den man
für endlos halten wollte: die chinesischen Boxerfäuste
haben in wunderbarer Fernwirkung die Denkerstirnen
der europäisch-amerikanischen Börsianer mit Beulen ge-
schmückt, die Kugeln der Krieger Tuans sind in den
papiernen Eiffelturm der Aktienkurse gefahren —
der ganze Bau ist geborsten, und die Marktverweser
der internationalen Spekulation haben in besinnungs-
loser Panik die Trümmer im Stich gelassen.
Hat der Burenkrieg gelehrt, wie ohnmächtig inner-
lich die englische Weltmacht gegenüber einem Volk
ist, das an Zahl von deutschen Großstädten um das
Vielfache übertroffen wird, so hat der Aufstand der
Boxer unbarmherzig die Fäulnis des ganzen herrschen-
den Systems, des militärisch-marinistisch bewehrten
Raubkapitalismus bloßgelegt.
Europa hat seit 1870 etwa 40 Milliarden für den
Kultus des bewaffneten Friedens ausgegeben. Gegen-
wärtig werden in schnell steigender Progression all-
jährlich 4'/t Milliarden von den Staaten Europas für
Heer und Flotte ausgegeben — ungerechnet die Kriegs-
270
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mittel der Vereinigten Staaten und Japans. Jedes
neue Dutzend Panzerschiffe, das die deutschen Re-
gierungen fordern, wird mit der Notwendigkeit be-
gründet, den deutschen Handel und die Deutschen
im Auslande zu schützen. Deutschland allein begehrte
nach einem Kaiserwort, stark genug zu sein, um der
ganzen Welt den Frieden zu gebieten — und jetzt
sind die vereinigte Militärstaaten der ganzen Erde
wochenlang nicht imstande gewesen, 150 km von der
chinesischen Küste entfernt wohnende Fremde vor
der Wut eines lange mißhandelten Volkes zu schützen,
jetzt vermochte dies Riesenaufgebot von Machtmitteln
nicht die Vernichtung des Handels, die Zerstörung von
Eisenbahnen zu hemmen. Die Kanonen haben sich
nicht als Agitatoren des Welthandels und der Groß-
industrie erwiesen, sondern als deren Zerstörer. Und
dieser innere Bankerott bleibt bestehen, wenn sich
auch die chinesische Affäre vielleicht minder gefähr-
lich gestalten sollte als es zuerst schien. Europa hat
seine Ohnmacht erwiesen, Europäer im Auslande zu
schützen, und es ist den Chinesen, nicht Europa zu
verdanken, wenn die Fremden nicht den Untergang ge-
funden haben. Endigt das weltpolitische Abenteuer
für Europa noch einigermaßen glimpflich, so ist das
nicht das Verdienst Europas, sondern der Erfolg chine-
sischer Zerrissenheit und Unschlüssigkeit, es ist die
zufällige Wirkung militärischer Minderwertigkeit, die
kulturelle Überlegenheit ist.
In dieser, an grauenhaft humoristischen Zügen
reichen chinesischen Blutfarce, die aus keinerlei staats-
männischen Berechnungen geschaffen und geleitet,
sondern aus lauter Überraschungen zusammengesetzt
ist, war der plötzliche glorreiche Vormarsch der ver-
einigten Truppen nach Peking ein abenteuerlicher
Witz. Ruhig blieben die tapferen Krieger in Tientsin,
obwohl Tag für Tag die schlimmsten Nachrichten über
die Lage der Fremden in Peking verbreitet wurden.
271
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Die militärischen Fachleute bewiesen die Unmöglich-
keit eines Vormarsches. Als dann aber Deutschland
seine rasselnden Prahlereien in alle Winde schrie —
da war das Unmögliche plötzlich ausführbar. Deutsch-
land sollte nicht dabei sein, wenn die flatternden
Kulturfahnen in Peking den Frieden diktierten. Man
rückte vor, und die Rettung gelang ohne erhebliche
Anstrengung.
Vielleicht ist auch das plötzliche Erlöschen des
militärischen Widerstandes der Chinesen, deren helden-
mütige Wehr zuerst das Erstaunen und die sinnlose
Angst der vereinigten „Kultur" erregt hat, nicht auf
ganz natürliche Ursachen zurückzuführen. Es ist nicht
unwahrscheinlich, daß von Anfang an russisch-ameri-
kanische Geheimverhandlungen mit China gesponnen
wurden, und daß diese in dem Augenblick zum Ziele
führten, als Deutschland seine Weltverblüffungs-
mission — Marke: Uns kann keiner! — proklamierte.
Das schöne Fastnachtsspiel vom Weltgeneralissimus
Grafen Waldersee mit dem transportablen Asbesthaus,
den delikaten Konservenbüchsen und dem Pränume-
rando-Triumphzug sollte dann den gesalzenen Hohn
noch mehren, der Deutschland auf dem Weltmarkt des
bestialischen Ulks zum unüberwindlichen Konkurrenten
gemacht hat.
•
Als im November 1897 Kiautschou den ahnungslosen
Chinesen mitten im tiefsten Frieden fortgenommen
worden war, träumte der deutsche Kapitalismus von
ungemessenen, zauberhaften Herrlichkeiten endloser
Beute. Welche weitschauenden Pläne die deutschen
Staatsmänner mit diesem Welttheatercoup verfolgten,
ist bis zur Stunde unaufgeklärt. Des Grafen Bülow, des
Heißgeliebten der Journalisten beider Welten, tieferes
Gedankenleben ist ja bisher nicht von seinen zahlreichen
Zeitungsgönnern entschleiert worden, und seine eige-
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nen Kundgebungen sind plumpe Variationen über ein
fehlendes Thema. Aber der Verdacht ist nicht ab-
zuweisen, daß hinter der ganzen großen Aktion nichts
steckte, wie ein Bedürfnis der inneren Politik; man
wollte Beweismaterial für die Notwendigkeit jenes
ersten Marineplanes beibringen, der damals den guten
Deutschen noch sehr wenig einleuchtete; man hielt
sich zu jener Zeit noch für ein Landvolk. Das ist der
ewige Kreislauf der Dinge: Man braucht Schiffe, um
Kolonien zu schützen, dann braucht man wieder Ko-
lonien, um Schiffe fordern zu können. Kiautschou
war notwendig, sonst hätten die deutschen Regierungen
ihre Flottenvorlage nicht durchgebracht.
Und dies gefällige Unternehmen war ja äußerst
erfolgreich. Die Chinesen liefen davon und verstanden
sich freudig zu der Pachtung auf 99 Jahre. Oberhaupt
wußte man von den Chinesen nichts anderes, als daß
sie davonlaufen — so im chinesisch- japanischen Kriege,
so bei dem Einbruch in Kiautschou. Merkwürdiger-
weise hatte man ganz vergessen, welche blutigen Opfer
Jules Ferry in den achtziger Jahren unter dem Fluch
des französischen Volkes brachte, als er den Bankerott
seiner Politik durch die Ablenkung des Gloire-Bedürf-
nisses im Tonking-Abenteuer zu verschleiern suchte.
Niemand freute sich so sehr über diese Vergeudung
französischer Kraft, wie Bismarck, und noch heute er-
fordert Tongking, weit entfernt, die ungeheuren Opfer
der Erwerbung zu verzinsen, bei lächerlich geringem
Handelsverkehr fortgesetzte Aufwendungen seitens
Frankreichs. Daran dachte man in Deutschland in
den Flitterwochen der Weltpolitik nicht. Kiautschou
ward beliebt. Die schnelle, glückliche Pachtung im-
ponierte auch außerhalb der jugendlichen Kreise,
die ihre Phantasie an Piratenromanen erziehen. Man
bewunderte die Durchschlagskraft der europäisch-
deutschen Kultur und erwartete allerlei märchenhafte
Profite. Und damals vollzog sich auch zum erstenmal
18 Eisner, Gesammelte Schriften. I.
273
in aller Schroffheit jene Scheidung sozialdemokratisch-
proletarischer Weltpolitik und bourgeoiser Weltmacht-
politik. Einzig und allein die Sozialdemokratie verur-
teilte entschieden den völkerrechtswidrigen Gewaltakt,
der in unübersehbare Abenteuer führen und dessen
erhoffter Nutzen sich leicht in eine schwere wirtschaft-
liche Gefahr für Deutschland verwandeln könnte, wenn
erst das erschlossene China als unterbietender Kon-
kurrent auf dem Weltmarkt erscheinen würde. Die
bürgerlichen Parteien lachten ob der doktrinären Be-
denken und gingen freudestrahlend und hoffnungselig
nach Kiautschou.
Seitdem hörte man allerdings wenig Erfreuliches
von der Pachtung. Kurz nach dem Einbruch ermordete
ein Chinese einen deutschen Wachtposten — ein früher
Beweis, wie irrig die Annahme war, daß die scheinbare
Ruhe, mit der die Chinesen die Eroberung hinnahmen,
eine wirkliche Ruhe war. Der Übeltäter wurde er-
griffen, gefoltert, enthauptet, und der Kopf an das Tor
befestigt. Unsere europäischen Kulturpioniere besitzen
ja die ertsaunliche Fähigkeit, wenn sie wirklich einmal
im fremden Land auf eine Barbarei stoßen, die man
in der Heimat nicht mehr kennt, sich sofort solchen
Sitten anzupassen; sie bringen alles Barbarische vom
Vaterlande mit und mehren diesen Schatz dann durch
die Grausamkeiten, die sie in dem Lande vorfinden, das
sie zivilisieren wollen.
Weiter erfuhr man, daß die nach Kiautschou de-
portierten deutschen Soldaten durch klimatische Krank-
heiten in erschreckender Zahl dahingerafft wurden.
Endlich legte in neuester Zeit eine in einer Wochen-
schrift verbreitete photographische Aufnahme Zeug-
nis ab von der raschen Ausbreitung deutscher Kultur:
auf ödem Felde in gleichen Abständen sechs Pfähle, an
jedem Pfahl ein Chinese angebunden, und zwanzig
deutsche Soldaten zielend auf die der Hinrichtung
Verfallenen. Ich weiß nicht, was die Chinesen ver-
274
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brochen hatten, das aber weiß ich, daß wir damit einen
erhebenden Kulturfortschritt nach China gebracht
haben; denn bisher war es dort nicht üblich, solche
Szenen der höheren Zivilisation zu — Photographie -
ren ! . . . Die bürgerlichen Parteien äußerten ihre Freude
an der gedeihlichen Entwickelung der Pachtung, und
die letzte Denkschrift der Regierung veranschaulichte
in Lichtbildern die Reize des Bülowschen Platzes an
der Sonne.
Es kann heute keinem Zweifel mehr unterliegen, daß
der Boxeraufstand, wie immer er mit sozialen und anti-
dynastischen Beweggründen kompliziert sein mag, im
entscheidend erregenden Motiv nach Kiautschou
zurückführt. Die weiteren Pachtungen, Port Arthur
und Weihaiwei, das schneidige Gerede der Weltmacht-
politiker von der Aufteilung Chinas, das Evangelium
der gepanzerten Faust, das Wilhelm II. seinen Bruder
in China zu verkünden hieß, mußten den nationalen
Widerstand herausfordern. Die christlichen Missio-
nare, deren Lehren den wißbegierigen Chinesen früher
vielfach als interessante Spekulationen des mensch-
lichen Intellekts nicht unwillkommen waren, mußten
jetzt als hinterlistige Spione der europäischen Erobe-
rungsgier erscheinen; denn welch normaler Kopf hätte
sich anders den Widerspruch erklären können, daß die
Verkündung christlicher Nächstenliebe sich mit Raub
und Gewalt paarte. Und die Chinesen erfüllten die
christliche Lehre, daß, wer das Schwert ziehe, durch
das Schwert umkomme — europäische Waffenfabrikan-
ten und militärische Instruktoren lieferten das Schwert
und erwiesen in seinem zweckdienlichen Gebrauch.
Der nationale Freiheitskrieg der Chinesen brach aus —
in einer plötzlichen Explosion, die allem Anschein nach
in seiner akuten Phase, durch den Einbruch in Taku
veranlaßt wurde.
275
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Abermals vollzog sich in der öffentlichen Meinung
Deutschlands jene schroffe Scheidung. Alle bürger-
lichen Parteien rasten in chauvinistischen Schmähun-
gen der verruchten gelben Teufel, die sich die Seg-
nungen der europäischen Kultur nicht gefallen lassen
wollten — niemals hat die deutsche Presse einen solchen
Grad sittlicher und intellektueller Verwahrlosung er-
reicht, wie in diesen Wochen. Dabei verbarg sich hinter
dem sinnlosen Toben nur die schlotternde Angst des
schlechten Gewissens vor ungeheuerlichen Konse-
quenzen, die man nicht zu übersehen vermochte.
Der europäische Kannibalismus' der Kulturbestien
nahm in Deutschland eine unsagbar verrucht -groteske
Form an. Deutschland schrieb, redete und handelte
nach der Moral und der Intelligenz eines blutrünstigen
Hintertreppenromans. Das erhebende Bewußtsein,
daß man unerschöpflich viele totschlagsfähige Soldaten
und unzählige Kanonen habe, hat die Intelligenz des
herrschenden Deutschland zerstört. Was hat man
nötig, den Kopf, das Denken zu bemühen, wenn man
die Fäuste für sich hat ! Die ausschweifendste Räuber-
romantik wurde zum leitenden Prinzip. Die epilep-
tische innere Politik erschien — zum Erstaunen und
boshaften Gelächter der Welt — auf der internatio-
nalen Diplomatenmesse, und wenn ein Kulturhistoriker
einmal über den „Sadismus in der Politik" schreiben
sollte, so wird er in dem Studium des Khaki-Sommers
1900 reiche Anregung finden. Dieses Chaos von Kinde-
rei, Roheit, Mordsucht, Ruhmredigkeit, Kulturheuche-
lei, Verlogenheit und frömmelnder Mystik, das in der
deutschen Presse orgiastisch tollte, stellte die tiefste
sittliche und intellektuelle Erniedrigung Deutschlands
dar — fast hätte man Sehnsucht nach einem neuen
gründlichen Jena, aus dem die Möglichkeit einer
humanen Wiedergeburt erwüchse.
Wir dürfen den Boxern dankbar sein, daß ihre viel-
leicht heroischen, vielleicht nur unbesonnenen Auf-
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lehnungsversuche mit einem grausamen Griff den
schimmernden Schleier zerrissen, der über der poli-
tischen Barbarei Deutschlands liegt. Wir kennen jetzt
— dank den Boxern — die unsägliche Gemeinheit und
Dummheit dieses kapitalistischen Parvenustaats, der
die verwegenen Roheiten des militärischen Feudalis-
mus und die Unbarmherzigkeiten der Kapitalmagnaten
mit der Stupidität eines um seine Ersparnisse zitternden
Kleinkrämers und der Narrheit einer wild schweifen-
den unbehausten Romantik zu vereinigen weiß.
Die Panik eines Bankruns, Gebeteleiern und Flüche-
lallen, blindwütiges Umherfahren mit geballter Hand,
völlige Besinnungslosigkeit und Unfähigkeit politischen
Denkens, grauenhaft lächerlicher Mangel an grund-
sätzlicher und kritischer Überlegung — so stellte sich
der Gemütszustand der bürgerlichen Presse dar. Wir
haben Äußerungen abgrundtiefer Infamie gehört, wie
man sie in deutscher Sprache bisher für unmöglich
hielt. Der Vorschlag, eine Verbrecherarmee gegen
China zu entsenden, war weder der niedrigste noch der
dümmste Gehirnexzeß aus dieser Zeit. Man hat noch
weit schlimmere Äußerungen gehört, ohne daß man
sich auch nur groß verwundert hätte.
Es ergab sich, daß sich die Bourgeoisie, namentlich
die liberale, überhaupt jeden politischen Urteils ent-
ledigt hat. Die Angst um die in China angelegten
Millionen deutschen Kapitals und die Gier nach neuen
Profiten beherrschte ausschließlich die Christen -
menschen der weißen Rasse. Im übrigen blökten sie
als verängstigte Schafe geduldig, wie die liberalen, frei-
sinnigen und demokratischen Hammel des Grafen
Bülow blökten. Man vertraute in rührender Unschuld
dem Geistreichtum des ministeriellen Hofbeamten, der
durch eine blasse Programmlosigkeit die leidenschaft-
lichen Impressionen der Krone zu wässern und zu
meistern bemüht war. Aber man vertraute auch zu-
gleich der Energie des preußischen Bundesfürsten —
277
man ließ sich bewundernd von jeglichem Licht er-
leuchten, sofern es nur von oben kam.
Dabei äußerte sich das politische Denken der bürger-
lichen Presse im grellen Spielzeugstil kindischer Naive-
tät. Man wirtschaftete mit den primitivsten Instinkten
und trieb den psychologischen Aufwand eines Küchen-
romanziers. Die Heerscharen der Engel kämpften
gegen die dunklen teuflischen Mächte. Das Khakitum
wurde mit einem schön vergoldeten Heiligenschein
ausgestattet. Man spielte Rauber und Prinzessin
mimte den Kampf mit dem Drachen, schwärmte für
Blutrache, den Kreuzzug der Hunnen zu einer Ven-
detta-Ausstattungsburleske gestaltend. Der deutsche
Michel wurde zum Kasperle der Puppenkomödie, der
den leibhaftigen Gottseibeiuns tot drischt und selbst
den Tod tapfer und keilefreudig über das Knie legt.
Aus Neu-Ruppin bezog man die historisch-geographi-
schen Anschauungsbilder, und Ammenmärchen wurden
zur Bibel der Staatsweisheit. Dem deutschen Volk
wurde tatsächlich von der bürgerlichen Presse angeson-
sen, in Heldenpossen Lauffschen Stils ernsthaft mit-
zuspielen — nur daß das Spiel, das die blöde Phantasie
der Presse ausgeheckt, auf Tod und Leben ging.
Darum konnte der spottende Beobachter keine reine
Freude an der Mobilisierung des Narrentums haben;
die Narren wateten in echtem Menschenblut, und ein
ekelhafter Ludergeruch sentimentaler Bestialität, die
sich als Patriotismus deklarierte — ließ das Lachen
verstummen.
Zugleich aber hat das deutsche Zeitungsgebaren
das Ausland ermuntert, seinen unverschämten Spott
mit Deutschland zu treiben. Was anderes ist es als Spott,
wenn die englische Presse fortwährend die absurdesten
Chinatelegramme erfindet, um durch eine pfiffige
Mischung von haarsträubenden Greueln und rohen
Schmeicheleien die in Deutschland herrschende
psychologische Stimmung zu beeinflussen, um für
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England, das durch den Transvaalkrieg militärisch
geknebelt ist, in China einen zu allem willigen tölpel-
haften Bravo kostenfrei zu gewinnen!
Die deutsche öffentliche Meinung hat Ruchlosig-
keiten das Wort geredet, denen gegenüber die Raub-
züge eines Louis XIV., in deren Verabscheuung unsere
Jugend erzogen wird, leuchtende Kulturtaten dar-
stellen. Und zugleich hat die Bourgeoisie in ihrer
jämmerlichen Angst um die bedrohten, in China an-
gelegten Millionen wider ihre eigenen Interessen ge-
wütet, indem sie sich bedingungslos der Lorbeersucht
der militärischen Streber ausliefert, denn die besondere
fratzenhafte Form der China-Weltpolitik ist nicht
sowohl aus den wohlverstandenen Interessen der Bour-
geoisie zu erklären, als vielmehr aus den absolutistischen
Tendenzen des modernen christlichen Ritters ä la
Waldersee und dem Ruhmbedürfnis des friedensüber-
drüssigen Offiziers.
Die im System des Militarismus angehäufte Zerstö-
rungskraft sucht einen Ausweg. Aber dieser interna-
tionale Militarismus ist nicht nur brutal und grausam,
sondern auch feig, und so tobt er seine Begierde, prak-
tische Experimente zu versuchen, möglichst an Wehr-
losen aus: die allzu stark gerüsteten Völker Europas
scheinen ihm zu gefährliche Gegner, darum wählt er
sich China zum Exerzierplatz für seine Scharfschieß-
übungen und veranstaltet mörderische Menschen-
jagden auf ein von Haus aus friedfertiges Kulturvolk.
Der chinesische Raubzug ist nicht einmal ein Krieg,
er ist eine Treibjagd auf ohnmächtige Menschen.
Die Kulturehre Europas inmitten dieses wüstenTobens
zu wahren, übernahm die Sozialdemokratie, das organi-
sierte Proletariat, nicht minder beschimpft als die
Boxer. Mit schneidender Schärfe wies sie auf die
Folgen einer abenteuerlichen Politik hin, die sie stets
279
bekämpft hat und deren Verantwortung sie allein
daher ablehnen darf. Sie höhnte über die groteske
Heuchelei, daß Europa nichts wolle, als mit seiner ver-
einigten russisch-galizisch-ostelbisch-abruzzisch-spani-
schen Zivilisation die — einer tollen Zeitungslegende
zufolge — „erstarrte" chinesische Kultur flüssig machen.
Sie erkannte das Recht der Chinesen an, sich gegen die
Vergewaltigung ihrer nationalen Selbständigkeit mit
allen Mitteln zu wehren, und sie wies auf die völlige
Sinnlosigkeit eines Krieges hin, den untereinander
todfeindlich zerklüftete Staaten gegen ein Volk von
400 Millionen unternehmen.
Dabei führten die bürgerlichen Blätter des Inlands,
sowie die Korrespondenten, die die ausländische Presse
bedienten, über die wirkliche Stimmung der Massen
des Volkes völlig irre. Die Wahrheit ist, daß das Volk
keinerlei Begeisterung für den Krieg der Rache und
des Christentums hegt. Ebensowenig hat man sonder-
liches Vertrauen zu der Geschicklichkeit und der Weis-
heit unserer Staatsmänner. Wenn sich herausgestellt
hat, daß die kostspieligen Diplomaten in Peking selbst
keine Ahnung von den wirklichen Verhältnissen hatten,
warum soll man da annehmen, daß der durch eine
sechs wöchentliche Seereise von China entfernte glatte
Graf Bülow über die dortigen Zustände wohl erleuchtet
sei. Talleyrand hat die Diplomaten gewaltig über-
schätzt, deren Sprache doch nur dazu dient, die Ge-
dankenlosigkeit zu verbergen.
Gleichermaßen ist das Ausland über die Aufnahme
getäuscht worden, die den verschiedenen Reden Wil-
helms II. beschieden gewesen ist. Sie haben in Deutsch-
land weder so überraschend, noch so stimulierend ge-
wirkt, wie man draußen annimmt. Wir wissen, daß der
Kaiser sich in allen Fragen als der leidenschaftliche
Held eines heroischen Schauspiels fühlt, der mit seiner
überlegenen Kraft die Widerstände der Kleinlichen
und Engherzigen überwindet. In dem gleichen ener-
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gischen Stil seiner Chinareden hat er einst der Bismarck-
sehen Fronde die Zerschmetterung angekündigt, hat
er die Sozialdemokratie auszurotten versprochen, denen,
die zum Streike anreizen, das Zuchthaus in Aussicht
gestellt, und den kanalfeindlichen Agrariern seinen
unbeugsamen Willen erklärt, den Mittellandkanal zu
bauen. Mit so impulsiver Wucht hat der Kaiser auch
im Januar 1 896 den durch den Jameson-Einfall belästig-
ten Buren seine Sympathien ausgesprochen. Gleichwohl
existiert die Bismarcksche Fronde noch heute, die
Sozialdemokratie ist stärker als je, die Zuchthausvor-
lage ist schroff abgelehnt worden, ohne daß Weiterun-
gen erfolgt wären, der Mittellandkanal ist immer noch
nicht gebaut, und im Burenkrieg hat der Kaiser Eng-
land seine Sympathie geliehen.
Freilich findet die Politik des Kaisers in den inter-
nationalen Fragen nicht den gleichen organisierten
Widerstand, wie im Innern, und darin liegt die schwere
Gefahr, die verstärkt wird durch die listigen, ziel-
bewußten Provokationen des Auslandes, den byzan-
tinischen spekulativen Kretinismus einer gewissen
Presse und die geistige Bedeutungslosigkeit der verant-
wortlichen Beamten. Wenn der Kaiser den Chinesen
eine Rache ankündigt, wie sie die Welt noch nicht ge-
sehen, wenn er wünscht, daß für jeden ermordeten
Deutschen eine chinesische Stadt zu bombardieren sei,
wenn er den deutschen Soldaten als oberster Kriegs-
herr verbietet, Pardon zu geben und Gefangene zu
machen, wenn er für unser Volk den Weltruhm der
Hunnen heischt und zugleich die Erfolge christgläubiger
Kreuzfahrer vom Himmel erfleht — so sind das für den
Kenner deutscher Zustände keinerlei überraschende
Erscheinungen, haben doch solche Grundanschauungen
— in der notwendigen formalen Modulierung — auch
die innere Politik bestimmend beeinflußt. Aber in
der inneren Politik hat die Rhetorik des Kaisers, diese
in Kontrasten stürmende dramatische Auffassung der
281
Vorgänge, niemals Anspruch auf buchstäbliche
Umsetzung in Handlungen erhoben. Der Kaiser will
immer nur der große Anreger und Ansporner sein,
mag dann die Politik der verantwortlichen Regierung
die nötige Abschwächung vornehmen.
Anders in der auswärtigen Politik. Hier wagt die
verantwortliche Regierung nicht den ausreichenden
Widerstand gegen die wörtliche Auslegung der kaiser-
lichen Anregungen, wie sehr immer der Salontragiko-
miker der Weltpolitik, Graf Bülow, seine ratlose Ver-
legenheit in diplomatischen Kundgebungen abschwä-
chend stilisieren mag. Die deutsche Regierung hat
weder die kriegerischen Racheaktionen, noch die um-
fangreichen Truppensendungen, die das Völkerrecht
und die Verfassung in die Luft sprengten, zu ver-
hindern gewußt. Deutschland hat durch seine China -
politik sein europäisches Prestige schwer erschüttert,
blind unübersehbare Konflikte heraufbeschworen, die
wirtschaftlichen Hoffnungen, die man auf den Handels-
verkehr mit China setzen durfte, für Jahre hinaus ver-
nichtet — ganz abgesehen von den demoralisierenden
Wirkungen des Hunnenkults der Presse und dem Staats-
streich wider die verfassungsmäßigen Rechte der
Volksvertretung.
* •
Die gewalttätige Weltmachtpolitik des Kapitalis-
mus ist bei ihrem ersten Ausflug furchtbar gestrandet.
Die in Interessengegensätzen hadernden Militärstaaten
haben ihre Unfähigkeit zu gemeinsamer Aktion be-
wiesen.
Der Raubkrieg in China, zu dem die Weltpolitik
der gepanzerten Faust geführt hat, verschlingt Ströme
von Menschenblut und opfert nutzlos die Ernte der
wirtschaftlichen Völkerarbeit. An seinem Horizont
droht der Weltbrand.
Bei alledem wird der Kapitalismus, gleichgültig,
282
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wie die chinesische Wirrnis ausgehen möge, um die
erhofften Früchte geprellt werden. Die Sehnsucht
der europäisch-amerikanischen Kapitalisten wird sich
nicht erfüllen, daß sie in China mit den billigen und
willigen Arbeitskräften und den reichen unerschlosse-
nen Schätzen des Bodens Waren produzieren. Wird
China der modernen Industrieentwicklung erschlossen,
so wird der Chinese selbst als gefährlicher Kon-
kurrent auf dem Weltmarkt erscheinen. Als hervor-
ragend begabter Kaufmann hat er sich längst erwiesen.
Daß er eine dem Japaner ähnliche Gelehrigkeit be-
sitzt, haben die neuesten Ereignisse gezeigt. Mit
behender Schnelligkeit hat er sich die Geheimnisse
der europäischen Mordtechnik, wenn auch noch nicht
vollkommen, angeeignet, und wir wissen, daß in den
großen Waffenfabriken, die in China bereits bestehen,
nicht nur chinesische Arbeiter, sondern auch aus-
schließlich chinesische Ingenieure beschäftigt werden.
Der Chinese wird sich den Profit, den die industrielle
Entwicklung mit sich bringt, nicht von den Fremden
aus der Hand nehmen lassen. Die grauenvollen Opfer
der Weltpolitik werden sich nicht bezahlt machen.
Zwar nicht in allen Ländern ist die Chinapolitik so
sinnlos, wie in Deutschland. Von Anfang an behan-
delten Rußland und die Vereinigten Staaten Amerikas
die chinesische Frage mit ausgesuchter Behutsamkeit
und Höflichkeit. Man erbittert nicht Leute, mit
denen man handeln will; man mißhandelt nicht
Menschen, an deren Beeinflussung man interessiert ist.
Gerade Amerika und Rußland haben aber auch ein
besonderes Zukunftsinteresse: Entwickelt sich China
industriell im modernen Sinne, so wird das dichtbe-
völkerte Reich, wenn nicht alles trügt, zu einem In-
dustrieartikel exportierenden und Lebensmittel im-
portierenden Land. So hat Rußland und Amerika
Anlaß, ihrer überschüssigen Lebensmittelproduktion
den neuen großen Markt zu gewinnen, und dieser Um-
283
stand dürfte die Beflissenheit hinlänglich erklären,
mit der die beiden Staaten sich als Freunde und Retter
Chinas empfehlen.
Müßte man aber ganz im allgemeinen zugeben, daß
die Weltpolitik in weiser Zweckmäßigkeit, wenn auch
mit abscheulichen Mitteln, den Notwendigkeiten der
kapitalistischen Entwicklung, ja dem Augenblicks-
interesse einzelner oder auch der gesamten Arbeiter
diene, so würde aus solchem Zugeständnis für die So-
zialdemokraten nur die Aufgabe folgen, um so eifriger
und konsequenter diese Politik der kapitalistischen
Exzesse zu bekämpfen; man scheint sich hier und da
noch immer nicht ganz klar darüber zu sein, daß der
Sozialismus nicht der Agent, sondern der Feind des
Kapitalismus ist, daß er ihn also unter allen Umständen
und in jeder Entwicklungsform zu bekämpfen hat, wie
immer er als weltgeschichtliche „Notwendigkeit"
anerkannt werden mag.
Im alten deutschen Volksbuch vom Herzog Ernst wird
das orientalische Märchen vom Magnetberg erzählt, der
die eisernen Teile der Schiffe unwiderstehlich anzieht,
daß sie zerschellen. Schiffstrümmer, verwesende Leich-
name und gebleichte Knochen umkreisen den Berg
des Schreckens.
Ein goldner Magnetberg — das ist die Weltpolitik
des Kapitalismus, die militärisches Ruhmbedürfnis
und abenteuernde Romantik in Blut, Grauen und Ge-
lächter taucht.
(August 1900.)
284
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Sozialdemokratie und Staatsform
Eiue öffentliche Diskussion
zwischen
Kurt Eisner und Karl Kautsky
1904.
Die Aufnahme dieser Diskussion, die mir
mein Freund Kautsky gestattet hat, geschieht
nicht, um alten persönlichen Streit zu beleben
— denn heute besteht zwischen Kautsky und
mir in fast allen Fragen der politischen Theorie
und Praxis Ubereinstimmung — sondern wegen
der urkundlichen Bedeutung jener Debatte für
die Erkenntnis der Parteientwickelung. Ich
stand 1904 in der Partei, als Vorwärts-Redak-
teur, gefährlich isoliert, auf der Seite JaureV.
I.
Die deutsche bürgerliche und vor allem die reak-
tionäre französische Presse hat die Äußerungen Bebels*)
über den plutokratischen Klassencharakter auch der
bürgerlichen Republik dahin mißzuverstehen gesucht,
daß Bebel oder gar die ganze deutsche Sozialdemokratie
die Vorzüge der Monarchie gegenüber der Republik
anerkannt habe, ja, zum Apostel der sozialen Monarchie
geworden ist.
In der letzten Nummer der Neuen Zeit weist Ge-
nosse Kautsky diese tendenziösen Mißdeutungen der
Bebeischen Bemerkungen schlagend zurück und ge-
langt dann zu folgenden Betrachtungen:
*) Auf dem Internationalen Sozialistenkongreß in Amster-
dam, 1904.
285
„Aber die Republik ist uns sympathisch nicht bloß
mit Rücksicht auf den mehr oder weniger entfernten
Zukunftsstaat der sozialen Republik. Auch als bürger-
liche Republik muß sie dem sozialistischen Proletariat
wertvoller sein als die Monarchie, so daß es sich für
die Republik entscheidet, wo immer es die Wahl
zwischen den beiden Staatsformen hat. Denn die
bürgerliche Republik ist die Staatsform, in der der
Entscheidungskampf zwischen Proletariat und Bour-
geoisie am ehesten und besten ausgefochten werden
kann. Das wird aber bewirkt dadurch, daß der Klassen-
gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie in der
Republik am schärfsten und klarsten zum Ausdruck
kommt.
Wohl steht die Monarchie dem um seine Befreiung
ringenden Proletariat notwendigerweise feindselig
gegenüber, denn diese Befreiung erheischt die Auf-
hebung der Klassen, also die Aufhebung der Grund-
bedingung der Monarchie. Aber diese hat kein Inter-
esse daran, eine andere Klasse zur Alleinherrschaft
kommen zu lassen; die Macht der Monarchie ist am
größten dort, wo die verschiedenen Klassen sich die
Waage halten. Das kann eine monarchische Regierung
unter Umständen dazu veranlassen, das Proletariat
gegenüber der Bourgeoisie in Schutz zu nehmen.
Andererseits kann sich in einer Monarchie die Bour-
geoisie unter Umständen durch die Regierung, die nicht
direkt ihre Klassenregierung ist, mehr beengt fühlen
als durch das Proletariat; sie kann es zur Schwächung
der Regierung aufrufen und zu diesem Zwecke stärken.
Endlich findet in einem monarchischen Lande das
Proletariat selbst zwischen sich und der Bourgeoisie die
Monarchie, als einen von jener verschiedenen Gegner.
Dadurch wird seine Aufmerksamkeit geteilt, die
Schärfe des Klassengegensatzes vermindert, die Inten-
sität des Klassenkampfes geschwächt.
Ganz anders in einer bürgerlichen Republik unter
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entwickelter kapitalistischer Produktion. Hier herrscht
die Bourgeoisie direkt, hier stehen sich Proletariat und
Bourgeoisie unvermittelt gegenüber, hier hat das Pro-
letariat nicht die trennende Wand einer monarchischen
Regierung zu übersteigen, will es der Bourgeoisie an den
Kragen gehen.
In monarchischen Ländern — und das gilt um so
mehr, je absoluter die Monarchie, alo am meisten für
Rußland — ist das Proletariat oft gezwungen, seine
ganze Kraft auf die Bekämpfung der Regierung zu kon-
zentrieren. Gelingt es ihm dort, die Staatsgewalt
niederzuwerfen, so steht es nicht am Ende seiner
Kämpfe, sondern nur am Beginn einer neuen, inten-
siveren Phase des Klassenkampfes. Gelingt es ihm da-
gegen in der bürgerlichen Republik, die bestehende
Staatsgewalt zu stürzen, so hat es damit endgültig über
die Bourgeoisie gesiegt, ihre politische Expropriation
vollzogen und ihre Ökonomische Expropriation unab-
wendbar gemacht.
Deshalb die große Bedeutung, welche schon die bür-
gerliche Republik für das Proletariat hat. Aber gerade
deswegen ist auch in der Republik das Klassenbewußt-
sein und der Klassenhaß der Bourgeoisie gegenüber
dem Proletariat mehr entwickelt, und ist dort die
Bourgeoisie um so skrupelloser in ihrem Klassenkampfe
gegen das Proletariat, unbedenklicher in der Wahl ihrer
Mittel, sei es brutaler Niederwerfung, sei es heim-
tückischer Überlistung und Korrumpierung.
So hoch uns daher die Republik, auch die bürger-
liche, steht, so wichtig sie uns für den Befreiungskampf
des Proletariats erscheint, so darf uns das noch nicht
blind machen gegen den arbeiterfeindlichen Cha-
rakter, den jede bürgerliche Republik und jede Regie-
rung einer bürgerlichen Republik entwickeln muß.
Gerade in dieser Erkenntnis unterscheiden wir uns
von der bürgerlichen Demokratie, die der Republik
eine geheimnisvolle Kraft der Schwächung der Klassen-
287
gegensätze zuschreibt und wähnt, der republikanischen
Bourgeoisie wohne eine weit größere Neigung inne,
die Befreiung der Arbeiterklasse zu fördern, als der
Monarchie und der monarchistischen Bourgeoisie.
Dieser republikanische Aberglaube gehört aber auch
zu den Illusionen, die dank dem Revisionismus selbst
in unsere Reihen hier und da Eingang gefunden haben.
Da war es sehr am Platze, wenn Bebel demgegenüber
wieder unseren Standpunkt darlegte, der den des
Republikaners mit dem des proletarischen Klassen-
kämpfers vereinigt."
Indem Kautsky hier zutreffend darlegt, daß auch
die bürgerliche Republik ihren Klassencharakter bei-
behält, sind doch zugleich seine Darlegungen über den
— wie man aus einzelnen Wendungen schließen könnte,
nach seiner Meinung — abgestumpften oder doch
wenigstens verwischten Klassencharakter in der Mon-
archie und sein Wort vom republikanischen Aber-
glauben geeignet, neuer Verkennung Bebelscher und
sozialdemokratischer Auffassungen wider die Absicht
Vorschub zu leisten.
Es könnte der Anschein entstehen, als ob Bebel tat-
sächlich der Meinung wäre, daß in der Monarchie die
Klassen nicht so unmittelbar und so brutal aufeinander-
stoßen, wie in Republiken. Solche Meinung, die natürlich
Bebel nicht hat und haben kann, wäre aber eine Kon-
zession an jene grundverlogene „Theorie" dynastischer
Hauslehrer des Staatsrechtes, die der Monarchie die
geheimnisvolle Wunderkraft des Über-den-Parteien-
Stehens und der zwischen den Klassen ausgleichenden
Gerechtigkeit zuschreiben. Tatsächlich lehrt die ge-
schichtliche Erfahrung und zeigt die innere Logik
der gesellschaftlich-staatlichen Organisationsform, daß
keine herrschende Klasse eine mit starker staatsrecht-
licher Machtvollkommenheit ausgestattete Monarchie
erträgt, die sich ihr nicht mit Haut und Haaren ver-
schreibt. Deshalb gleicht eine Monarchie, sofern sie
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nicht zur bloßen dekorativen Formalität verflüchtigt
ist, sondern mehr oder minder tief im Absolutismus
stecken geblieben ist, nicht, in wenn auch noch so
bescheidener Form, die Interessen zwischen den be-
herrschten und den herrschenden Klassen aus, sondern
sie sucht lediglich die verschiedenen Interessen zwi-
schen den herrschenden Klassen selbst auszugleichen.
Sie muß fortwährend bedacht sein, die diversen
„Stützen des Thrones" bei guter Laune zu erhalten,
und deshalb muß sie ihnen — auf Kosten der proleta-
rischen Masse — abwechselnd alle erdenklichen Vor-
teile zuschanzen — Die Notwendigkeit, sich auf die
herrschenden Klassen zu stützen und die innerhalb der
besitzenden Gesellschaft infolge der wirtschaftlichen
Entwickelung vielfach ausbrechenden Gegensätze zu
versöhnen, damit sie nicht selbst zwischen den herr-
schenden Klassen zerrissen wird, zwingt die Mon-
archie zu immer verstärkten Anstrengungen in der
Verleihung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Pri-
vilegien.
Auf der anderen Seite werden die herrschenden
Klassen im Wettstreit um die Gunst der Krone immer
reaktionärer und, indem sie sich der höfischen Natur
und der Art der für die dynastischen Bedingungen
tauglichsten und stärksten Klasse anzupassen suchen,
offenbart sich der Klassencharakter nicht nur in der
rohesten, sondern auch oft in der ihren eigenen wirt-
schaftlichen Interessen zuwiderlaufenden unsinnigsten
Form. In keiner Republik ist deshalb der Klassen-
kampf brutaler und zugleich absurder, wie in dem
monarchischen Preußen und in dem monarchischen
Sachsen.
Während so auf der einen Seite die absolutistische
oder halb absolutistische Monarchie ihre Politik auf
den Ausgleich der Interessen der herrschenden Klassen
zuungunsten des Proletariats richten muß, fühlen
sich andererseits die herrschenden Klassen hinter dem
19 Eisner. Gesammelt« Schriften. I. 289
Schutzwall einer starken Monarchie so sicher, daß sie
gar keine Notwendigkeit einsehen, sich mit dem Prole-
tariat zu verständigen, es durch Konzessionen zu be-
friedigen. Und wenn die Monarchie es für gut halt,
dem Proletariat für den auf seinem Rücken ver-
mittelten Ausgleich der Interessen der herrschenden
Klassen untereinander auch einige Scheinkonzessionen
zukommen zu lassen, so widersetzen sich solchen Ver-
suchen die herrschenden Klassen aufs hartnäckigste.
So wird schließlich nur so viel „monarchische Sozial-
reforra" gewährt, als die herrschenden Klassen es ge-
statten. Es gibt deshalb nirgends so rückständig bor-
nierte Klassenherrschaft, wie sie das Junkertum und der
mit ihm versippte bürgerliche Fabrikfeudalismus
wiederum in dem monarchischen Preußen und in dem
monarchischen Sachsen ausübt.
Umgekehrt sind in demokratischen Republiken und
in den konstitutionellen Scheinmonarchien, wie Eng-
land, die herrschenden Klassen genötigt, in ihrem
inneren Interessenstreit das Proletariat durch Zu-
geständnisse auf ihre Seite zu locken. Die sozialen
Konzessionen in diesen Staaten mögen nicht immer
so aufdringlich sichtbar werden, wie die bureaukratisch-
selbstgefällige Sozialreform in monarchischen Staaten,
aber ihr innerer Wert ist vielfach überlegen. Und vor
allen müssen die herrschenden Klassen in der Demo-
kratie durch politische Freiheiten sich die Sympathie
und Hilfe der für ihre Herrschaft unentbehrlichen
Massen zu gewinnen trachten.
Es widerspricht den Tatsachen und stellt das wirk-
liche Verhältnis auf den Kopf, daß die reinere und
schroffere Form des Klassenkampfes in den Repu-
bliken zur Geltung komme. In der bürgerlichen Re-
publik und verwandten Staatsformen versucht man
die Arbeiter durch Geschenke zu korrumpieren, in
der absolutistischen Monarchie durch Gewalt einzu-
schüchtern. Der „republikanische Aberglaube" ist
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sonach eine recht revolutionäre, sehr radikale und in
allen Fällen eine unbedingt notwendige Anschauung.
Der beste und einzige Interpret seiner Anschau-
ung ist schließlich Bebel selbst. Gerade vor einem
Jahre hat Bebel in seinem Aufsatz über die Vize-
Präsidentenfrage mit großer Scharfe und durchaus
zutreffend gegen die Genossen polemisiert, die nach
seiner Meinung sich gegenüber der fundamental wich-
tigen Staatsform zu gleichgültig verhielten. Er führte
in der Neuen Zeit vom 5. September 1903 unter der
Kapitelüberschrift „Die Staatsform mehr Neben-
sache für die Sozialdemokratie" aus:
„Wir sollten nicht das Hauptgewicht auf die Staats-
form legen und nicht annehmen, daß man durch
eine Audienz bei dem Kaiser eine Art Reverenz vor
ihm mache. Nicht auf die Staatsform, auf den sozialen
Inhalt der Gesellschaft komme es nach unseren
eigenen Grundanschauungen hauptsächlich an, rufen
übereinstimmend Vollmar und Göhre. Letzterer wid-
met diesem Thema in der Chemnitzer Volksstimme
einen ganzen Leitartikel, aus dem ich die Überzeugung
gewann, daß dem Genossen Göhre der Nationalsoziale
noch sehr im Nacken sitzt.
Es fällt mir nicht ein, die Staatsform zu überschät-
zen. Aber sie ist sehr wesentlich. Es gibt allerdings
Monarchien, wie zum Beispiel die englische, die ich
mancher Republik vorziehe, zum Beispiel den süd-
amerikanischen. Aber auch zwischen den Monarchien
ist ein gewaltiger Unterschied. Eine starke Monarchie
bedeutet ein schwaches Parlament. Und wenn das
Königtum durch Heer und Flotte und Beamten-
hierarchie usw. schon stark ist und durch die herr-
schenden Klassen noch besonders gestützt wird, dann
ist es für jede Demokratie eine ganz besondere Gefahr!
Daher ist die Monarchie in Preußen die Monarchie
par excellence, die es in der ganzen Welt nicht zum
zweiten Male gibt. Und der jeweilige preußische
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Monarch, der zugleich deutscher Kaiser ist, ist auch
der systematische Stärker des Junkertums, in dem er
seine vornehmste Stütze sieht. Er ist es auch, an dem
das Dreiklassen- Wahlsystem mit all seinen Ungleich-
heiten in Staat und Kommune für die Arbeiterklasse
seinen Grund- und Eckstein findet, der alles billigt,
was bisher die Sozialdemokratie in Preußen rechtlos
gemacht und geschädigt hat . . .
Wäre dagegen Preußen-Deutschland eine Republik
und wäre sie noch so blau, so besäßen wir höchst
wahrscheinlich das allgemeine, gleiche, direkte und
geheime Wahlrecht für alle Vertretungskörper, Diäten-
zahlung an die Abgeordneten, eine gerechtere Eintei-
lung der Wahlkreise, womöglich das Proportionalwahl-
system, ein viel freieres Vereins- und Versammlungs-
recht, eine größere Preßfreiheit, eine vollkommenere
Sozialreform, für die dann unsere Macht ganz anders
in die Wagschale fiele wie jetzt, ein demokratischer
gestaltetes Militärsystem, eine dem Parlament ver-
antwortliche Regierung, kurz, es wäre eine Reihe
unserer nächsten Programmforderungen erfüllt, um
die wir jetzt noch lange und voraussichtlich sehr
schwere Kämpfe zu bestehen und große Opfer zu brin-
gen haben.
Wollen Vollmar und Göhre auch jetzt noch behaup-
ten, daß die Staatsform mehr nebensächlich sei ? Was
werden die belgischen, französischen, österreichischen,
italienischen Genossen denken, wenn sie ihre Aus-
führungen lesen ?"
Man braucht nur an diese Darlegungen zu erinnern,
um ein- für allemal der Legende der deutschen und
französischen bürgerlichen Presse ein Ende zu machen,
die der deutschen Sozialdemokratie monarchische Nei-
gungen, republikanischen Skeptizismus oder auch nur
Gleichgültigkeit gegenüber der Staatsform zuschreiben
möchte.
Gewiß, es läßt sich denken, daß die Monarchie
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keine direkte Klassenregierung ist, es läßt sich denken,
daß in der Monarchie der Klassenkampf minder rauhe
Formen annimmt wie in der Republik; es läßt sich
denken, daß in der Monarchie dem Proletariat ein
größerer Schutz zuteil wird — und niemand wäre
so zufrieden, wenn die Monarchie diese Eigenschaften
hätte, wie die deutsche Sozialdemokratie. Aber, nach
einem Philosophenwort: Ein gedachter Taler ist kein
wirklicher Taler. Die Erfahrung lehrt das Gegenteil.
Und Bebel, der vor einem Jahre den monarchistischen
Aberglauben der Revisionisten oder doch den der
monarchistischen Indifferenz bekämpfte, hat sich
besser gegen falsche Interepreten gesichert, als sein
heutiger Verteidiger, der vor dem Revisionismus des
„republikanischen Aberglaubens" warnt. Beiderlei
Aberglauben ist vom Übel — aber einstweilen steckt
in dem „republikanischen Aberglauben" noch ein so
schweres und unumgängliches Problem, daß es uns
gar nicht wichtig genug sein kann.
Im übrigen scheint uns die binnen Jahresfrist so
seltsam veränderte Umschreibung revisionistischer
Ziele — vom monarchischen zum republikanischen
Aberglauben — die Einsicht dafür zu schärfen, ob
es der tieferen Erkenntnis und der fruchtbaren Klärung
parteigenössischer Streitfragen dient, mit dem Stempel
fester „Richtungsworte" allzu eifrig zu arbeiten.
II.
K. E. bringt im Vorwärts vom 30. August eine
Polemik gegen meine Ausführungen in der Neuen Zeit
über die Bedeutung der Republik für den proleta-
rischen Klassenkampf Ich hatte diese Darlegungen
im Anschluß an Bebels Äußerungen in Dresden ge-
macht, K. E. aber glaubt nachweisen zu können,
daß ich, statt Bebel zu interpretieren, mich in Wider-
spruch zu ihm gesetzt habe, der vor einem Jahr^ in
293
der Neuen Zeit über die Republik ganz anders ge-
urteilt habe, wie ich in meinem letzten Artikel.
Ich muß darauf bemerken, daß ich nicht den Artikel
vom vorigen Jahre, sondern die jüngste Rede Bebels
zu interpretieren suchte. Will K. E. behaupten,
meine Ausführungen ständen im Widerspruch zu dieser
Rede?
Ich glaube kaum; dann aber liefe seine ganze Dar-
legung auf den Versuch hinaus, indirekt einen Wider-
spruch zwischen dem Bebel von heute und dem vom
vorigen Jahre zu konstruieren. Und allerdings, wer
nur nach Äußerlichkeiten urteilt, mag leicht auf die
Idee kommen, zwischen den beiden Darlegungen be-
stehe ein Gegensatz. Ganz anders, wenn man naher
zusieht.
Es ist ein großer Fehler, der sich aber immer wieder-
holt und der namentlich bei den Beweisen für angeb-
lich vollzogene Mauserungen der Sozialdemokratie
eine bedeutende Rolle spielt, daß man Sätze aus ein-
zelnen polemischen Reden oder Artikeln ohne Rück-
sicht auf den Zusammenhang, in dem sie stehen,
und die Situation, der sie entstammen, gebraucht.
Es ist klar, daß man in der Polemik stets diejenigen
Seiten hervorhebt, in denen man sich vom Gegner
unterscheidet. Wenn ich heute mit einem Anarchisten
und morgen mit einem Konservativen polemisiere,
werde ich jedesmal ganz andere Argumente gebrau-
chen, und wer diese ohne weiteres nebeneinander-
stellt, kann dann oft Widersprüche konstruieren, wo
in Wirklichkeit völlige Einheitlichkeit des Denkens
besteht.
So auch hier. Was als Widerspruch zwischen dem
Bebel vom September 1903 und dem vom August 1904
erscheinen mag, ist in Wirklichkeit ein Widerspruch
zwischen den Genossen, gegen die er seinen Stand-
punkt zu verfechten hatte — Vollmar und Göhre
einerseits, die da meinten, die Staatsform sei ziemlich
294
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gleichgültig, und Jaures, der die Bedeutung der Re-
publik überschätzt. Bebel bekämpft, und mit Recht,
die eine Anschauung ebenso, wie die andere. Es ist
jedoch klar, daß man nicht beide mit den gleichen
Argumenten bekämpfen kann.
Sind aber seine Argumente in dem einen und
dem anderen Fall verschieden, so sind sie nicht mit-
einander unvereinbar; auch mit dem, was ich jetzt
in der Neuen Zeit entwickelt habe, ist der Stand-
punkt, den dort Bebel vor einem Jahre darlegte, sehr
wohl zu vereinigen.
Wie Bebel damals, erklare ich jetzt, daß die Repu-
blik für das kämpfende Proletariat von äußerster
Wichtigkeit ist, daß es dort seiner Befreiung näher
steht als in der Monarchie. Was ich „republikani-
schen Aberglauben" nenne, ist der Wahn, „der repu-
blikanischen Bourgeoisie wohne eine weit größere
Neigung inne, die Befreiung der Arbeiterklasse zu
fördern, als der Monarchie und der monarchistischen
Bourgeoisie".
Man muß scharf unterscheiden zwischen republi-
kanischer Bourgeoisie und republikanischer Staats-
form. Die Anerkennung der Wichtigkeit der einen
für den Befreiungskampf des Proletariats darf uns
nicht blind machen gegen die große Tatsache, daß,
gerade weil die Republik diesen Befreiungskampf be-
günstigt, die Bourgeoisie in der Republik dem Prole-
tariat gegenüber nervöser und skrupelloser verfährt
als in der Monarchie — unter sonst gleichen Um-
ständen, das heißt, bei gleicher politischer und ökono-
mischer Kraft des Proletariats.
In der Republik entwickeln sich bei gleicher ökono-
mischer Höhe die Klassengegensätze zwischen Bour-
geoisie und Proletariat früher und schärfer als in der
Monarchie. Nichts ist irriger, als die Behauptung
K. E.s:
„Es widerspricht den Tatsachen und stellt das
295
wirkliche Verhältnis auf den Kopf, daß die reinere
und schroffere Form des Klassenkampfes in den
Republiken zur Geltung komme. In der bürgerlichen
Republik und verwandten Staatsformen versucht man
die Arbeiter durch Geschenke zu korrumpieren, in der
absolutistischen Monarchie durch Gewalt einzu-
schüchtern."
Ein Blick auf die Geschichte genügt, diese Schablone
über den Haufen zu werfen. Es war die französische
Republik, die Baboeuf köpfte, die die Blutbäder vom
Juni 1848 und Mai 1871 auf dem Gewissen hat. Auf
die Praxis der Schweiz, bei jedem erheblichen Streik
Militär gegen die Streikenden aufzubieten, hat der
Vorwärts erst jüngst aufmerksam gemacht. Und
einen Kampf, wie er sich seit Monaten in Colorado
abspielt, haben wir bei uns noch nie gekannt.
Es war andererseits die Monarchie, die versuchte,
die deutschen Arbeiter durch die Geschenke des all-
gemeinen Wahlrechts und der Arbeiterversicherung zu
gewinnen. Und wir haben in Preußen eine Steuer-
gesetzgebung, die hoch über der französischen und
amerikanischen steht.
Damit wollen wir natürlich nicht sagen, daß die
Monarchie dort, wo sie sich bedroht fühlt, gegen ihre
Widersacher weniger brutal vorgeht als die bürger-
liche Republik gegen die Arbeiter. Es fällt uns nicht
ein, die Unterdrückungsmethoden der Monarchie
beschönigen zu wollen. Nur den Glauben an die
Arbeiterfreundlichkeit der republikanischen Bour-
geoisie wollen wir erschüttern und zeigen, daß mit
gleicher Rücksichtslosigkeit, mit der die Monarchie den
Republikanern aller Klassen, die republikanische Bour-
geoisie dem Proletariat gegenübersteht, daß der
Klassenkampf in der Republik daher ein energischerer,
der Klassengegensatz ein schrofferer ist als in der
Monarchie, wo er vielfach durch den Kampf gegen
das monarchische System verschleiert wird. Das be-
296
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zeichnet keineswegs die Bedeutungslosigkeit, sondern
vielmehr die große Bedeutung, welche die Staats-
form für den Sozialismus hat.
Wenn aber der angebliche Widerspruch zwischen
Bebel und mir oder zwischen dem Bebel, der Voll-
mar und Göhre kritisiert, und dem, der Jaures kriti-
siert, sich in Wirklichkeit in einem Widerspruch
zwischen Jaures und seiner deutschen Gesinnungs-
genossen auflöst — beweist das nicht, daß man unter
dem Wort „Revisionismus" sehr verschiedene An-
schauungen zusammenfaßt, die gar nicht zusammen-
gehören? In der Tat meint K. E. am Schlüsse seines
Artikels:
„Im übrigen erscheint uns die binnen Jahresfrist
so seltsam veränderte Umschreibung revisionistischer
Ziele — vom monarchischen zum republikanischen
Aberglauben — die Einsicht dafür zu schärfen, ob es
der tieferen Erkenntnis und der fruchtbaren Klärung
parteigenössischer Streitfragen dient, mit dem Stempel
fester ,Richtungsworte* allzu eifrig zu arbeiten."
Diese „Einsicht" wurde bei mir leider nicht „ge-
schärft", denn ich bin der Meinung, daß auch der
Widerspruch zwischen dem „monarchischen und dem
republikanischen Aberglauben" — um diese Termino-
logie beizubehalten — nur ein äußerlicher ist und bei
„tiefererJSinsicht" sich in eine höhere Einheit auflöst.
Vor allem ist der Widerspruch kein zeitlicher, son-
dern ein räumlicher. Wir haben nicht vor Jahresfrist
den „monarchischen Aberglauben" des Revisionis-
mus und heute den republikanischen, sondern wir
haben in monarchischen Ländern, so am auffallend-
sten in Italien und England, den monarchischen,
in republikanischen den republikanischen „Aber-
glauben" des Revisionismus, das heißt, wir finden
überall bei ihm den gleichen „Aberglauben", daß
mit dem bestehenden Staatswesen sich auskommen
lasse. Ja, wie finden, daß der Republikaner Jaures
297
selbst"**seinem „republikanischen Aberglauben" nur
für die Republik huldigt, an deren Regierung er Anteil
nimmt.
Derselbe Jaur£s, der jetzt in seiner Humanit6 die
Einigungsaktion damit einleitet, daß er als ihre Vor-
bedingung verlangt, die sozialistische Partei Frank-
reichs solle die Ausführungen über die bürgerliche
Republik desavouieren, die Guesde in Amsterdam
getan, er hat vor Jahresfrist die wärmsten Sympathien
für die in Deutschland beantragte Hofgängerei an
den Tag gelegt, er hat den König von Italien als
Vertreter des italienischen Volkes begrüßt und hat
Teil an seiner Tafelrunde genommen — im Gegensatz
zu den Republikanern Italiens.
Löst sich also der anscheinende Gegensatz zwischen
republikanischem und monarchischem Aberglauben
im Revisionismus in die höhere Einheit auf, daß er
trachtet, sich mit jeder jeweiligen Regierung abzu-
finden, so löst sich auf der anderen Seite der anschei-
nende Gegensatz zwischen der Bekämpfung des monar-
chischen und des republikanischen Aberglaubens dahin
auf, daß wir überall am schärfsten jene bürgerliche
Regierung bekämpfen, die uns gerade gegenübersteht,
daß wir daher in der bürgerlichen Republik dem repu-
blikanischen Aberglauben ebenso zu Leibe gehen
müssen, wie in der Monarchie dem monarchischen.
Wenn Bebel in Dresden anders sprach als in Amster-
dam, so erklärt sich das nicht daraus, daß er binnen
Jahresfrist seine Auffassung vom Revisionismus ge-
ändert hat, sondern daraus, daß er das eine Mal zur
deutschen, das andere Mal in erster Linie zur fran-
zösischen Sozialdemokratie sprach. Der Gedanke, von
dem er ausging, war aber jedesmal derselbe: Kampf
gegen jedes bürgerliche Regime, Zerstörung aller
Illusionen über die Möglichkeit, durch ein Abkommen
mit einer oder der anderen Art bürgerlicher Regierung
dem Proletariat größere Kraft zu verleihen.
298
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Ich hätte mir gern diese Erneuerung einer Revisio-
nistendebatte erspart, nach der ich nicht das geringste
Verlangen trage. Nachdem K. £. sie aber einmal
aufs Tapet gebracht, war es notwendig, jedem mög-
lichen Mißverständnis vorzubeugen. K.
III.
Kautsky stellt also eine „höhere Einheit" her,
welche die von ihm als scheinbar, als äußerlich zu-
gegebenen Widersprüche zwischen der schroffen und
unbedingten Verherrlichung der Republik im Vor-
jahre und der neuerlichen seltsamen Neigung, der
Monarchie sogar einige Vorzüge gegenüber der Repu-
blik zuzugestehen, auflösen soll.
Eine „Einheit" mag Kautsky zustande gebracht
haben, eine, ,höhere" aber ist sie sicher nicht. Denn
wenn die Einheit lediglich darin bestehen soll, daß
sowohl der republikanische wie der monarchische
Aberglauben vom Übel ist, so wäre das ein sehr mäßiger
Ertrag dieser und der Amsterdamer Debatte. Dal'»
die bürgerliche Demokratie keine sozialistische Demo-
kratie ist, bedarf unter Parteigenossen ebensowenig
einer Debatte, wie etwa die Weisheit, daß der Kapi-
talismus kein Sozialismus. Und daß die Monarchie
nicht die Vorzüge hat, die etwa Nationalsoziale ihr
beimessen, ist doch auch keine lohnende Erörterung
für Sozialdemokraten. Es handelt sich vielmehr darum,
ob es noch richtig ist, was Bebel vor einem Jahre
schrieb, daß „eine Republik und wäre sie noch so blau",
das heißt noch so kapitalistisch, aus unzähligen Grün-
den einer Monarchie von der Art der preußisch-
deutschen vorzuziehen und als proletarische Lebens-
frage zu erstreben sei. Es handelt sich darum, ob in
den demokratischen Republiken, zu denen auch Eng-
land zu rechnen ist, oder den absolutistischen Monar-
chien der Klassenkampf schärfer und brutaler ist.
Nun meint Kautsky, im Dienste der „höheren Ein-
299
heit" des scheinbaren Widerspruches, es sei ja selbst-
verständlich, daß man in der Polemik je nach dem
Gegner die Argumente wähle und wechsle. In der Tat :
selbstverständlich. Aber welche Argumente man auch
immer vorzieht, das jeweilige Argument selbst muß
richtig, eindeutig sein. Ein Argument ist entweder
wahr oder falsch, niemals aber kann es im Kampf
mit einem Gegner heute wahr, und im Kampf mit
dem anderen morgen falsch sein. Würde man nicht
nur die Argumente, sondern auch Wert und Inhalt
der Argumente wechseln, so lassen sich mit dieser
Methode vielleicht Augenblickserfolge in polemischen
Schlachten erringen, aber sie wäre auch das Ende
einer prinzipiellen und aufrichtigen Aufklärung und
der Anfang geistiger Verwirrung und Meinungs-
vergiftung. Zum Glück wird niemand eine solche
Methode anwenden und empfehlen.
Ich habe nun behauptet und nachzuweisen versucht,
daß Kautskys jetzige Argumente mit denen Bebels
vom Vorjahre nicht zu reimen sind, daß die jetzigen
falsch, die damaligen der alten richtigen sozialdemo-
kratischen Tradition entsprechen. Kautsky freilich
meint, dann liefe die Polemik eigentlich auf die Be-
hauptung von Widersprüchen zwischen dem Bebel
von Dresden und dem Bebel von Amsterdam hinaus;
er habe ja nur Bebels Amsterdamer Darlegungen
interpretiert.
Ich gebe zu — weil ich das ehrlicher- und offener-
weise muß — , daß einzelne Wendungen Bebels in
Amsterdam befremdend klangen. Aber jedes Miß-
verständnis wurde durch die weiteren Ausführungen
Bebels ausgeschlossen, in denen er vollständig seine
Überzeugungen vom Vorjahre vertrat. Es wäre
kleinlich gewesen, jene im Feuer des Geisteskampfes
allzu stark geschmiedeten Bemerkungen — nichts
begreiflicher als dies — hervorzuzerren, da an der
Tendenz des Ganzen kein Zweifel war. Nachdem aber
300
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Kautsky gerade jene auffallenden Äußerungen in eine
Art festes, wenn auch — ganz gegen Kautskys son-
stigen Charakter — sonderbar schillerndes und schwan-
kendes System gebracht hat, fühlte ich aus gewichtigen
Gründen, die ich weiter unten erörtern werde, die
Fflicht zum Widerspruch.
Ich habe in meinem ersten Artikel den Unterschied
zwischen der bürgerlich-republikanischen oder auch
nur parlamentarischen Demokratie und der im Ab-
solutismus stecken gebliebenen Monarchie dahin prä-
zisiert, daß in der bürgerlichen Demokratie aus ihren
eigenen Existenzbedingungen heraus das Proletariat
von den verschiedenen Gruppen der herrschenden
Klassen weit intensiver umworben werden muß als
in der Monarchie, daß daher in ihr der Klassenkampf
verschleierter erscheint. In einer Demokratie, in der
das allgemeine Wahlrecht für alle Körperschaften
Grundbedingung ist, würde natürlich keine Gruppe
der herrschenden Gesellschaft auch nur einen Tag
an der politischen Macht bleiben, wenn sie nicht auf
die Stimmen des Proletariats rechnen könnte. Daher
das Interesse am Arbeiterfang! Welches Interesse
aber hätte Junkertum und Bourgeoisie in Preußen
oder Sachsen mit ihrem Dreiklassen-Wahlrecht, um die
Freundschaft der Arbeiter durch Konzessionen zu
buhlen ? Andererseits ist die Monarchie gerade, sofern
sie von starker staatsrechtlicher Machtvollkommenheit
ist, der Gefangene dieser borniertesten Klassen, die es
nicht dulden können, daß diese Macht gegen sie
gerichtet sei.
Ich weiß nicht recht, ob Kautsky die Anschauung
nicht auch hat; aber einzelne Ausführungen über mili-
tärische Aufgebote gegen Streiks usw. scheinen meiner
Auffassung doch zu widersprechen. Man braucht
aber nicht bis zur französischen Revolution, auch
nicht bis zur Kommune zurückzuschweifen, um die
Tatsache zu erhärten, daß es keine borniertere und
301
grausamere Klassenherrschaft gibt, als in der absolu-
tistischen Monarchie. Das Erfahrungsmaterial der
Gegenwart reicht vollständig aus, um den Beweis zu
führen.
Es ist immer dasselbe Argument der militärischen
Streikbekämpfung und der preußischen Steuer-Gesetz-
gebung, welche gegen die französische Republik und
für die preußische Monarchie angeführt werden. Es
ist begreiflich, wenn solche dürftigen Schaustücke
in dem französischen Parteistreit von französischen
Genossen vorgetragen werden; aber es ist unverständ-
lich, daß man in dem Deutschland des Sozialisten-
gesetzes, der Zuchthausvorlage, der Gesindeordnung,
des Kontrakt bruchsgesetzes, in dem Deutschland von
Löbtau und Laurahütte solche Argumente ausspielt.
Hat man denn ganz vergessen, daß es der ewige Traum
Bismarcks war, in einer blutigen Militärschlacht das
deutsche Proletariat niederzuwerfen ? Wenn in Deutsch-
land gegen Streiks in der Regel kein Militär auf-
geboten wird, so ist das das Verdienst des Polizei -
Staates und der wunderbaren Disziplin des sozial-
demokratischen Proletariats. Die Polizei nimmt so
rechtzeitig schon den ersten Demonstranten fest, daß
das Militär gar nichts mehr zu tun haben würde. Auf
wen sollte das Militär schießen ? Es würde höchstens
demonstrierende Arbeitgeber und Streikbrecheragenten
treffen. Und die Sozialdemokratie hat das deutsche
Proletariat dazu erzogen, sich dieser Polizeidisziplin
zu unterwerfen und auf Demonstrationen zu verzich-
ten. Wenn in Deutschland ähnlich wie in Chalons
demonstriert werden würde, wie viele Jahre Zuchthaus
und wie viele Tote würde es dann geben ? Es ist keine
Eigentümlichkeit der Republik, auf Streikende zu
schießen und kein Vorzug der Monarchie, die Sol-
daten in der Kaserne zu lassen. Nirgends wird soviel
Arbeiterblut vergossen wie in der österreichischen
Monarchie.
302
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Aber^weiter. rHat man denn wirklich~ganz ver-
gessen, wieviel Hunderte von Jahren Zuchthaus und
Gefängnis deutsche Gerichte über Arbeiter verhängen,
die im Kampf um ihre Existenz kaum auch die schärfste
Polizeiverordnung nur ein wenig übertreten, wenn
sie sie überhaupt übertreten. Hört man von solchen
Bluturteilen aus Frankreich? Im Gegenteil. Man
hört vom „guten Richter". Diese blutrünstige fran-
zösische Bourgeoisie hat ihre Richter so schlecht er-
zogen, daß sie ihr im Kampf gegen streikende Arbeiter
nicht helfen und diese monarchisch abgeschwächte
deutsche Bourgeoisie hat ihre Richter so vorzüglich
ausgebildet, daß jede Strafkammer ein Regiment er-
setzt. Mit dieser neuesten Legende sollte man also
schnell aufhören. Das zweite Schaustück ist die fran-
zösische Steuergesetzgebung, auch eine ganz neue
Entdeckung. Eine Eigentümlichkeit der bürgerlichen
Demokratie ist es nicht, sich gegen die direkte Ein-
kommenbesteuerung zu sträuben. Das englische Bür-
gertum besteuert sich gegenüber dem deutschen in
einer geradezu bewunderungswürdigen Weise. Es ist
richtig, daß Frankreich eine starke Abneigung gegen
die direkte Einkommensteuer hat, aber das ist nicht
die Schuld der Republik, auch nicht der demokra-
tischen Bourgeoisie, sondern die Folge der eigentüm-
lichen sozialen Struktur Frankreichs. Ein wesentlich
kleinbürgerliches Land, dessen Bürger den Ehrgeiz
haben, Rentner zu werden, haben naturgemäß keine
Vorliebe dafür, von ihrer Rente bare Abzüge an den
Staat zu entrichten; und gar so schlimm ist die Be-
steuerung auch nicht.
Man bedenke, daß die Grundsteuer außerordentlich
hohe Beträge in Frankreich liefert, während in Preußen
die Grundsteuerregulierung auf eine Liebesgabe für
die Großgrundbesitzer hinausläuft. Ferner ist zu
bedenken, daß Frankreich große Erträge aus der Erb-
schaftssteuer zieht, jährlich etwa 200 Millionen
303
Franks, in Preußen 15 Millionen Mark. Der Ertrag
der französischen Erbschaftssteuer ist also größer als
die berühmte preußische Einkommensteuer, die im
Jahre 1901 185 Millionen Mark eingebracht hat, genau
so viel wie in Frankreich die Grundsteuer ergibt.
Aber, so sagt Kautsky, die deutsche Monarchie ver-
sucht, die Arbeiter durch die Arbeiterversicherung
zu gewinnen. Auch dieser Hinweis ist eine bedenkliche
Revision unsrer bisherigen Anschauung. Bisher pfleg-
ten wir zu sagen, daß die ganze Arbeiterschutz-Gesetz-
gebung nicht so viel wert ist, wie ein freies Koalitions-
recht und eine Verkürzung der Arbeitszeit. Beides
haben wir in Preußen und Deutschland nicht, dagegen
erfreut sich das französische Proletariat des freien und
geschützten Koalitionsrechts, das auch auf die Staats-
betriebe ausgedehnt ist. Die französischen Arbeiter
haben zum größten Teil den Zehnstundentag gesetz-
lich festgelegt erhalten und für die Staatsbetriebe
ist der Achtstundentag durchgeführt. Ich meine,
Bebel hat recht, daß auch die blaueste Republik in
Hinsicht der sozialen Reform unendlich der Monarchie
überlegen ist. Was die Monarchie, was der Imperialis-
mus oder Cäsarismus leisten kann, das ist einmal sehr
lebendig gezeichnet worden: Die widerspruchsvolle
Aufgabe einer solchen Monarchie erkläre die Wider-
sprüche ihrer Regierung: „Das unklare Hin- und
Hertappen, das bald diese, bald jene Klasse bald zu
gewinnen, bald zu demütigen sucht und alle gleich-
mäßig gegen sich aufbringt, dessen praktische Un-
sicherheit einen hochkomischen Kontrast bildet zu
dem gebieterischen kategorischen Stil der Regierungs-
akte . . ."
Die Monarchie „möchte als der patriarchalische
Wohltäter aller Klassen erscheinen. Aber sie kann
keiner geben, ohne der andern zu nehmen" . . .
„Von den widersprechenden Forderungen ihrer Situa-
tion gejagt, zugleich wie ein Taschenspieler in der Not-
304
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wendigkeit, durch beständige Überraschung die Augen
des Publikums auf sich . . . gerichtet zu halten . . .,
bringt sie die ganze bürgerliche Wirtschaft in Wirr-
warr, tastet alles an, was der Revolution von 1848
unantastbar schien, macht die einen revolutions-
geduldig, die andern revolutionslustig und erzeugt
die Anarchie selbst im Namen der Ordnung, während
sie zugleich der ganzen Staatsmaschine den Heiligen-
schein abstreift, sie profaniert, sie zugleich ekelhaft
und lächerlich macht."
Das ist ungefähr das Höchste, was die Monarchie,
„die keine direkte Klassenherrschaft ist", leisten kann.
Karl Marx hat das Bild im 18. Brumaire gezeichnet.
Ich ziehe mit Bebel auch die blaueste Republik diesem
„Interessenausgleich" vor.
Ich glaube ja nicht, daß für Deutschland es sehr not-
wendig ist, über das Wesen der Monarchie und der
Republik Diskussionen anzustellen. Die Monarchie
der deutschen Gegenwart läßt eine Konfusion der
Vorstellungen über die Staatsform nicht aufkommen,
eine Konfusion, die entweder zu Naumann oder —
Friedeberg führen müßte. Was die bürgerliche Presse
über unsere monarchistischen Anwandlungen sagen
mag, ist gleichgültig. Vereinzelt ist auch ein Partei-
blatt aus dem Gleichgewicht geworfen worden, wenn
es Bebel in Amsterdam fälschlich dahin verstand (am
14. August):
„Die bürgerliche Republik ist eine unverhüllte
Klassenherrschaft der Bourgeoisie; sie würde die
Schandzustände, die heute der Berliner Kommunal-
freisinn in der Residenz und die Sonnemannokratie in
Frankfurt am Main geschaffen hat, zu deutschen
Staatseinrichtungen erheben; sie würde in Deutsch-
land ein Ministerium Richter-Sonnemann-Bassermann
mit einem Ministerium Richter-Sonnemann-Spahn ab-
wechseln lassen und die beispiellose Niedertracht des
to Biso er. Gesammelte Schrift««. !.
305
deutschen Unternehmertums bei Arbeitskämpfen mit
blauen Bohnen und Kartätschen bewaffnen."
Wenn die Dinge allerdings so stehen, wenn das der
einzige Fortschritt einer deutschen Republik ist,
daß sie zur bisherigen Niedertracht des Unternehmer-
tums noch die blauen Bohnen fügt, dann wäre es ja
ein Frevel, auch nur republikanisch zu denken, ge-
schweige eine Republik zu erstreben. Auch Kautskys
Kunst der höheren Einheit würde es nicht fertig
bringen, diese Wendung mit Bebels Meinung zu ver-
einigen, daß auch die blaueste Republik unendlich
besser sei als die deutsche Monarchie. Solche momen-
tane Verwirrung ist schon deshalb nicht tragisch zu
nehmen, weil dasselbe Blatt gleichzeitig sich bereits
korrigierte, indem es wieder zu der Erkenntnis der
Wahrheit gelangt ist: „Wo die politische Demokratie
ausgebildet ist, wie in England, in der Schweiz, auch
in Frankreich, ist der Einfluß des Unternehmertums
auf die Staatsorgane durch zahlreiche Einrichtungen
anderer Art abgeschwächt und durchkreuzt."
Aus einem anderen sehr ernsten Grunde habe ich
diese Auseinandersetzung begonnen. Ich halte für
die wichtigste Frage der Zukunft des Sozialismus
die Bildung einer starken und einheitlichen franzö-
sischen Sozialdemokratie. Hiervon hängt das nächste
Schicksal der proletarischen Bewegung ab. Eine starke,
einheitliche deutsche und eine starke einheitliche
französische Sozialdemokratie ist unüberwindlich und
von unermeßlichem Einfluß auf die Ent Wickelung der
europäischen Verhältnisse.
Um dies Ziel zu erreichen, müßten die Mißver-
ständnisse zwischen der deutschen und der franzö-
sischen Arbeiterbewegung beseitigt werden. Und um
die Mißverständnisse zu beseitigen, ist es notwendig,
daß wir im Interesse der französischen Einheit nicht
eine individuelle Richtung unterstützen, deren Taktik
in jedem Punkte der deutschen Taktik widerspricht
306
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und die sich doch mit einem Schein von Recht auf die
deutsche Sozialdemokratie berufen kann.
Kautsky gilt, ich weiß nicht, ob mit Recht oder
Unrecht, als der Sachwalter der Guesdisten für
Deutschland. Kautskys Darlegungen über Monarchie
und Republik stimmen nun zwar nicht überein mit
denen Guesdes in Amsterdam, aber gerade in ihrer un-
sicheren Zwiespältigkeit sind sie geeignet, Guesdes
Theorien wieder zu bestärken, und deshalb glaubte ich
eine bestimmte und unzweideutige Antwort auf die
Frage veranlassen zu sollen.
Guesde sagte in Amsterdam:
„Sie — zu den Jauresisten gewandt — haben gar
nicht das Gefühl des Klassenkampfes, von dem Sie
sprechen, Sie haben ihn niemals praktisch geführt.
M an sieht das sehr gut, wenn Sie auf das Gebiet der
historischen Entwickelung der Völker abschweifen,
auf Ihre ,Rettung der Republik*. Nehmen wir einen
Augenblick an, daß die Republik durch Ihre Freunde
gerettet worden sei, wieso, frage ich Sie, würde die
Form der Republik die Befreiung des Proletariats um
einen Tag beschleunigen ? Bebel sagte Ihnen gestern,
daß die republikanische Form das Gebiet sei, auf dem
alle Fraktionen der bürgerlichen Klasse sich vereinen,
und daß in gewissem Sinne die Monarchie, sofern sie
über den Klassen steht, ihr überfegen ist. Er hätte
vielleicht auch an das Wort Thiers' erinnern können,
das der Ausdruck des Empfindens einer ganzen
Klasse ist: ,Die Republik ist diejenige Regierungsform,
welche uns am wenigsten trennt*. Also selbst wenn Sie
die Republik gerettet hätten, so würden sie damit
nichts für das Proletariat getan haben. Wenn das
Proletariat, um sie zu retten, wenn sie in Gefahr ist,
jedesmal seine Forderungen aufgeben muß, dann ist
die Republik die schlimmste der Regierungen . . .
Schauen wir uns einmal die Reformen an, mit denen
Sie das Proletariat beglückten. Sie rühmen die Ver-
307
weltlichung der Schule, die Trennung von Staat und
Kirche? Nehmen wir an, daß die republikanische
Bourgeoisie alles das durchführen würde, so würde
dies keine Wirkung haben. Schauen Sie nach Amerika,
wo die Kirche vom Staate getrennt ist! Der Unter-
richt ist trotzdem konfessionell, weil eben keine geistige
Befreiung möglich ist vor der völligen Umwandlung
der kapitalistischen Gesellschaft. Jaures hat uns
weiter gesagt, daß die Majorität Herrn Combes viel-
leicht nicht fragen werde, da beginne dann die Komö-
die des Antiklerikalismus wieder von vorn. Soll ich
noch vom Zehnstundengesetz sprechen, von dem Sie
sich das Verdienst zuschreiben l Das Gesetz ist mitten
in der Reaktion 1892 beschlossen worden, und Sie
haben nur die Ausführung um zehn Jahre verzögert.
(Zwischenruf: Das stimmt nicht! Vaillant hat das
Gegenteil in der Kammer erklärt.) Sie haben an-
gekündigt, daß eine Arbeiter- Invalidenunterstützung
in Vorbereitung sei; aber sie gewährt den Arbeitern
nur den zehnten Teil dessen, was die Monarchie der
Hohenzollern den Arbeitern gewährt hat. (Zwischen-
ruf: Sie wissen, daß das nicht wahr ist.) Und was
den Krieg anbetrifft, so haben wir ihn 1877 und 1880
vorausgesehen, Sie aber bereiten ihn vor, indem Sie
das Militärbudget bewilligen. (Zwischenruf: Das
ist wiederum falsch!) Es ist übrigens nichts Wunder-
bares, daß Sie so handeln. Ihr Irrtum ist ein funda-
mentaler. Sie verbinden den Sozialismus mit der
Republik und mit der französischen Revolution. Wir
aber sagen, daß der Sozialismus das Resultat rein
wirtschaftlicher Erscheinungen ist, und diese Grund-
auffassung steht in unversöhnlichem Gegensatz zu
Ihrer Auffassung. Sie machen aus der Republik das
erste Kapitel oder das Vorwort des Sozialismus. Wenn
das wahr wäre für Frankreich, dann wäre es auch
wahr für alle Länder, deshalb bringen wir eben diese
Frage vor das Proletariat aller Länder. Glaubt man,
308
daß die Eroberung der Republik die Lebenslage des
Proletariats verbessern würde ? Aber Ihr habt so wenig
sozialistisches Verständnis, daß Ihr annehmt, es gebe
in dem historischen Ursprung und in der Augenblicks-
situation begründete Unterschiede, die dem Gedan-
ken widersprechen, daß es eine einheitliche sozialisti-
sche Praxis, eine gleichmäßige internationale Aktion
des Sozialismus gebe.**
Man braucht diese Bemerkungen nur zu lesen, um
sofort zu erkennen, daß die deutsche Sozialdemokratie
nichts mit diesen Anschauungen gemein hat. Bebel
zieht die blaueste Republik der Monarchie vor, Guesde
hält die Staatsform für gänzlich gleichgültig. Ja,
wenn die Republik nur gerettet werden könne, wenn
die Arbeiter ihre Forderungen aufgeben, dann ist
sie ihm die schlechteste Staatsform. Welch unsinnige
Hypothese! Die demokratische Republik bleibt die
beste bürgerliche Staatsform in jedem Fall, und wenn
zu ihrer „Rettung** die Arbeiter ihre Forderungen
aufgeben, dann würde nicht die Republik die Schuld
tragen, sondern die mangelhafte Aufklärung der
Arbeiter oder die schlechte Führung der Sozialdemo-
kratie.
Guesde hält den Kampf gegen den Klerikalismus
für wertlos, eine gute Schule könne erst in der soziali-
stischen Gesellschaft hergestellt werden. Insofern
ist das richtig, als unsere Ideale erst mit Vollendung
unserer Mission erreicht werden können. Aber hat
jemals die deutsche Sozialdemokratie deshalb unter-
lassen, auch die kleine positive Verbesserungsarbeit
des Tages zu leisten? Guesdes Konsequenz ist der
völlige Verzicht auf den Parlamentarismus, auf die
Beeinflussung des Gesetzgebers, sie ist das Warten
auf den einen großen Tag. Mit einem solchen Guesde
könnte, wenn er in Deutschland wirkte, die Sozial-
demokratie niemals einig werden, er würde sich unter
anarchistischen Eingängern verlieren. Kann man es
309
da für möglich halten, daß auf Grundlage dieses Pro-
gramms eine Einheit in . Frankreich zustande kommen
kann ?
Das ist unmöglich, und deshalb sollten wir im In-
teresse der französischen Einheit ernst und nachdrück-
lich gegen derartige Auffassungen Stellung nehmen,
anstatt sie scheinbar zu unterstützen. Damit dienen
wir der Einheit des französischen Sozialismus, andern-
falls wirken wir mit an der Spaltung.
Gerade wenn wir diese guesdistischen Meinungen
ablehnen, können wir dann um so fruchtbarer auch
die jauresistische Taktik kritisieren^ Es ist ja der
Fluch jeder Sozialdemokratie, die sich spaltet, daß im
Gegensatz der Richtungen jede über sich selbst hinaus
entartet. Um diese Bemerkungen nicht ins Ungebühr-
liche auszudehnen, verzichte ich für heute auf eine
Auseinandersetzung mit dem Jaur&ismus, dessen
schlimmster Fehler mir zu sein scheint, daß er die
Block-Politik nicht als der Übel verhältnismäßig ge-
ringstes widerstrebend mitmacht, sondern sie über-
schwenglich als der Güter höchstes preist.
Wir sollten unsere französischen Genossen nicht
in ihren Irrungen bestärken, weder die einen noch die
anderen. Dann fördern wir unsererseits den Weg
zur Einheit, die — wie Bebel in seinem begeisternden
Schlußwort zu Amsterdam prophetisch kündete —
der größte Glücksfall der internationalen Sozial-
demokratie wäre. Ich halte die Dresdener Resolution
für ein Manifest der richtigen Taktik, aber es wider-
spricht dieser Taktik, wenn man — wie Guesde es
tut — den Kampf um die Republik, gegen den Kleri-
kalismus für ein Nichts erklärt. Deshalb wollte ich
dem möglichen Mißverständnis vorzubeugen suchen,
daß die Ausführungen Kautskys wieder im Bruder-
zwist der französischen Genossen verschärfend und
verwirrend benutzt werden könnten. E.
310
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IV.
Daß eine Reihe bürgerlicher Blätter aus Bebels
Äußerungen über den republikanischen Aberglauben
den Schluß zogen, er wolle für den monarchischen
Aberglauben Propaganda machen, war sonderbar
genug. Nun fühlt sich aber gar der leitende Kopf
unseres Zentralorgans genötigt, die Republik vor mir
zu retten, der ich den gleichen Gedankengang wie Bebel
entwickelt, und mir die Idee zu unterschieben, ich
wollte für die preußische Monarchie gegenüber der
französischen Republik eine Lanze einlegen.
Ein wenig mehr Verständnis für den Einfluß, den
wir der Staatsform auf den Klassenkampf zuschreiben,
hätte ich allerdings an dieser Stelle erwartet, nament-
lich angesichts meiner wiederholten ausdrücklichen
Anerkennung der Wichtigkeit der republikanischen
Staatsform für den Befreiungskampf des Proletariats.
Ich sehe jetzt, daß ich zu viel vorausgesetzt, und
muß daher, um jedes Mißverständnis auszuschließen,
nochmals den Gegenstand eingehender behandeln.
Dazu erscheint mir aber der Vorwärts nicht geeignet;
ich werde mich darüber in der Neuen Zeit äußern,
und zwar nach dem Bremer Parteitag, wo für diese
theoretische Frage in der Neuen Zeit mehr Platz
und bei den Lesern mehr Interesse vorhanden sein
dürfte als jetzt, wo der nahende Parteitag andere Dinge
in den Vordergrund drängt.
Aber eines möchte ich nicht bis dahin verschieben.
Ich hatte die Empfindung, Genosse K. E. habe
den Streit mit mir ohne jeden ersichtlichen Zweck
vom Zaune gebrochen. Er belehrt mich eines Besseren.
Eine sittliche Pflicht habe ihn dazu gedrängt im In-
teresse — der Einigung des französischen Sozialismus.
Dieser dienten wir am besten dadurch, daß wir „ernst
und nachdrücklich" gegen Jules Guesde Stellung
nehmen und ihn entschieden desavouieren, der nur
3"
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eine „individuelle Richtung" vertritt und dessen
„Taktik in jedem Punkte der deutschen widerspricht".
So viel Worte, so viel Unrichtigkeiten.
Guesde sprach in Amsterdam nicht im Namen
einer „individuellen Richtung", sondern im Namen
der stärksten sozialistischen Organisation Frankreichs.
Nichts falscher als die Angabe, die Jauresisten bilde-
ten die stärkere Fraktion. Der Parti socialiste de
France hat seine Mitgliederzahl im letzten Jahre von
15000 auf 17000 wachsen sehen, während die Mit-
gliederzahl der jauresistischen Organisation von 11 000
auf 8000 zurückging. Vor der Öffentlichkeit freilich
erscheint die letztere Organisation als die mächtigere,
weil ihr die Mehrzahl der sozialistischen Abgeord-
neten angehört und sie über genügend Geldleute ver-
fügt, um sich den Luxus zweier täglicher Blätter in
Paris erlauben zu können, ganz abgesehen davon, daß
die bürgerliche Presse ausschließlich von ihr Notiz
nimmt und die andere Fraktion totschweigt. Aber
als Organisation ist diese weitaus die stärkste.
Mit dieser soll nun die deutsche Sozialdemokratie
einen Streit beginnen, mit derselben Leichtigkeit,
mit der K. E. seinen Streit mit mir begann — im
Interesse der Einigkeit des Proletariats!
Und der gewichtige Grund, der ihm diese „sittliche
Pflicht" auferlegt? Seine Deutung der Rede, die
Guesde in Amsterdam gehalten hat. Ich sage, seine
Deutung, denn ihr Inhalt ist ein anderer als die
Deutung besagt.
Vor allem ist der Wortlaut des Berichtes, nach dem
K. E. zitiert, keineswegs einwandfrei. Einige der am
anstößigsten klingenden Wendungen erinnere ich
mich nicht gehört zu haben, obwohl gerade sie hätten
auffallen müssen, und auch der Bericht der Rede, den
der Socialiste, das Zentralorgan des P. S. de F. gibt,
enthält diese Wendungen nicht.
Was aber den Inhalt der Rede anbelangt, so muß
312
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man zu ihrem Verständnis wissen, daß die Frage, um
die es sich damals handelte, nicht etwa die war, ob
wir die Republik wollen oder nicht, ob wir die Tren-
nung der Kirche vom Staate wollen oder nicht; das
erschien allen als selbstverständlich. Sondern es
handelte sich darum, ob die Taten der bürgerlichen
Republik für das Proletariat wirklich so immense
Erfolge bedeuteten, wie Jaures behauptete. Wenn
man das in Betracht zieht, erhält die Rede einen ganz
anderen Sinn, als K. E. ihr gibt.
So läßt z. B. K. E. Guesde sagen :
„Selbst wenn sie die Republik gerettet hätten, so
würden sie damit nichts für das Proletariat getan
haben. Wenn das Proletariat, um sie zu retten, wenn
sie in Gefahr ist, jedesmal seine Forderungen auf-
geben muß, dann ist die Republik die schlimmste der
Regierungen."
Darauf erwidert K. E. entrüstet :
„Guesde hält die Staatsform für gänzlich gleich-
gültig, ja, wenn die Republik nur gerettet werden
kann, wenn die Arbeiter ihre Forderungen aufgeben,
dann ist sie ihm die schlechteste Staatsform Welch
unsinnige Hypothese! usw."
Nach dem Berichte im Socialiste hat Guesde in
Wirklichkeit gesagt:
„Wenn es wahr wäre, daß Ihr die Republik gerettet
habt, was habt Ihr dann durch Rettung der Bour-
geoisrepublik zur Befreiung des Proletariats getan?
Ihr habt die Idee des wahren Klassenkampfes ver-
dunkelt, der darin besteht, daß dem Block des Pro-
letariats der Block der Bourgeoisie gegenübersteht.
Wenn man die Republik so auffaßt, dann wird sie
zum schlimmsten Bankerott der Demokratie."
Hier wendet sich Guesde nicht gegen die Republik,
erklärt sie nicht für gleichgültig, stellt keine Hypo-
these auf, sondern er erklärt: Um die Republik zu
retten, habt Ihr den Klassenkampf verdunkelt, einen
3i3
Block mit der Bourgeoisie gebildet, also ein Mittel
erwählt, das die Vorteile aufhebt, welche die Republik
für das Proletariat haben kann.
War Guesde nicht berechtigt, das zu sagen? Wie
darf man daraus schließen, die Republik sei ihm gleich-
gültig ?
Man denke sich einen analogen Fall in Deutschland.
Nicht die Republik, wohl aber das allgemeine Wahl-
recht ist bei uns gefährdet. Nehmen wir nun an,
ein kluger Staatsmann erstünde in unserer Mitte und
riete uns, um das Wahlrecht zu retten, sollten wir mit
der Regierung Frieden machen, auf jede Opposition
verzichten und dem Proletariat raten, von der Ver-
fechtung seiner Forderungen abzustehen. Und nun
wendete sich dagegen ein deutscher Guesde und
riefe: „Nein, wenn das Wahlrecht nur gerettet werden
könnte durch den Verzicht auf unseren Kampf und
unsere Forderungen, dann würde der Versuch, es
auf diese Weise zu retten, uns mehr schädigen, als
der Verlust des Wahlrechtes selbst." Würde dann
wohl K. E. mit derselben Logik behaupten, diesem
deutschen Guesde sei das Wahlrecht etwas Gleich-
gültiges, seine Taktik widerspreche in jedem Punkte
der deutschen Taktik und es sei unsere sittliche Pflicht,
einen Mann, der uns so kompromittiert, entschieden
abzuschütteln ?
Wie mit der Staatsform, ist es mit der Trennung
von Kirche und Staat. Guesde hat nirgends behauptet,
daß „das keine Wirkung haben würde", wie K. E.
ihn sagen läßt; er hat bloß Jaures gegenüber, der von
der „Befreiung der Gehirne" sprach, darauf hingewiesen,
und mit Recht, daß man auch die Wirkungen einer
so entschiedenen Maßregel, wie die Trennung von
Kirche und Staat, in der bürgerlichen Gesellschaft
nicht überschätzen und nicht erwarten dürfe, daß
daraus schon die Entchristianisierung des Volkes
hervorginge. In den Vereinigten Staaten sei das
3M
Digitized
*
Christentum ebenso mächtig wie in Frankreich. Ist
das etwa nicht auch richtig?
Was macht K. E. mit flinker Hand daraus f
„Guesde hält den Kampf gegen den Klerikalismus
für wertlos, eine gute Schule könne erst in der sozia-
listischen Gesellschaft hergestellt werden. Insofern
ist das richtig, als unsere Ideale erst mit Vollendung
unserer Mission erreicht werden können. Aber hat
jemals die deutsche Sozialdemokratie deshalb unter-
lassen, auch die kleine, positive Verbesserungsarbeit
des Tages zu leisten? Guesdes Konsequenz ist der
völlige Verzicht auf den Parlamentarismus, auf die
Beeinflussung des Gesetzgebers, sie ist das Warten
auf den einen großen Tag. Mit einem solchen Guesde
könnte, wenn er in Deutschland wirkte, die Sozial-
demokratie niemals einig werden, er würde sich unter
anarchistischen Eingängern verlieren. Kann man
'es da für möglich halten, daß auf Grundlage diese? '
Programms eine Einheit in Frankreich zustande kom-
men wird?"
So wird Jules Guesde feierlich in der Lindenstraße
aus der Sozialdemokratie ausgeschlossen, um die Ein-
heit in Frankreich zustande zu bringen. Vergeblich
fragt man, welche Worte Guesdes diese große Ent-
rüstung K. E.s rechtfertigen. Sie sollen ein Pro-
gramm sein, wo sie tatsächlich eine Kritik sind. Wenn
aber Genosse K. E. das Programm Guesdes kennen
lernen will, braucht er bloß das der sozialistischen
Partei Frankreichs von 1903 anzusehen, an dem
Guesde mitgearbeitet. Er findet da in 45 Paragraphen
eine sehr ins Detail gehende Liste von Forderungen
„für die kleine positive Verbesserungsarbeit des Tages",
und gleich im 3. Artikel findet er die Forderung:
Trennung des Staates von der Kirche, Aufhebung
des Kultusbudgets.
Oder will K. E. Guesde lieber nach seinen Taten
beurteilen? Nun, Guesde kämpfte für die Republik,
3*5
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als dies in Frankreich noch eine revolutionäre Tat
war, nicht ein Kampf um Konservierung der be-
stehenden Regierung. Die erste seiner vielen Gefäng-
nisstrafen erlitt er unter dem Kaiserreich, 1870, wegen
eines Artikels, in dem er die Bevölkerung aufforderte,
sie sollte lieber, statt gegen die Deutschen, gegen das
Kaiserreich zu Felde ziehen.
Als nach der Niederschlagung der Kommune in der
zweiten Hälfte der siebziger Jahre wieder eine Arbeiter-
bewegung in Frankreich begann, da war Jules Guesde
einer der Ersten, der seine ganze Energie und Be-
gabung einsetzte, um Theorie und taktische Prinzipien
der deutschen Sozialdemokratie nach Frankreich zu
verpflanzen und im Gegensatz zu Anarchismus, Nur-
gewerkschafderei und Putschmacherei eine parla-
mentarische sozialdemokratische Partei zu begründen.
Es waren schwere Kämpfe, die er zu führen hatte,
nicht bloß gegen die Bourgeoisie, sondern auch gegen
die eben gekennzeichneten Richtungen der fran-
zösischen Arbeiterbewegung. Die einen wie die an-
deren hielten ihm gern als vernichtendes Argument
den deutschen Charakter seiner Agitation entgegen.
Seine Haltung war damals die gleiche wie heute,
Marx und Engels haben sie mit Freuden begrüßt —
sie wußten freilich wahrscheinlich nicht so gut, wie
K. E., welches die Taktik der deutschen Sozialdemo-
kratie sei, und konnten weniger scharf als er einen
vollkommenen Sozialdemokraten, für den sie Guesde
hielten, von einem „anarchistischen Eingänger" unter-
scheiden.
Als Guesde endlich ins Parlament kam (1893), da
war er unermüdlich im Einbringen von Reform-
regeln zum Schutze der Arbeiterschaft. Ebenso großen
Wert, wie auf diese parlamentarische Reformarbeit,
legte er auf die Gewinnung von Majoritäten in den
Gemeinden und deren Ausnutzung für die „kleine
positive Verbesserungsarbeit". Die besten Leistungen
316
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des sogenannten Munizipalsozialismus sind in Frank-
reich mit dem Namen Guesdes und seiner Partei
verknüpft. Endlich hat er die Gewerkschaftsbewegung
stets gefördert soviel er konnte.
Wenn diese seine Tätigkeit seit einigen Jahren ge-
hemmt ist, haben wir das nicht einer Veränderung
Seiner Anschauungen über die Reformarbeit zuzu-
schreiben, sondern einfach den Wechselfällen des
Wahlglückes, das z. B. auch einen Viktor Adler hart-
näckig vom Parlament fernhält.
Sollte die Schroffheit und Kürze der Guesdeschen
Rede, von Amsterdam wirklich einem Leser ihre
Deutung im Sinne von K. E. nahelegen, so muß
dies für jeden ausgeschlossen sein, der Guesde und
seine Geschichte kennt. Wenn K. E. sie nicht kennt,
so ist diese Unkenntnis ein schlechter Grund, einen
der verdientesten Parteigenossen vor dem deutschen
Proletariat herunterzureißen.
Ist auch Guesde nicht mehr in der Kammer, so
steht er doch auf gleichem Boden mit seinen Ge-
nossen dort, deren Anschauungen und Taktik er völlig
billigt. Da ist nun bemerkenswert die Tatsache, daß
derselbe Jaures, der jetzt die Wirkungen einer Tren-
nung von Kirche und Staat so enorm übertreibt,
diese Trennung erst praktisch fördert, seitdem die
Regierung sich nicht mehr ablehnend dagegen verhält.
Ich habe im vorigen Jahre in einem Artikel der
Neuen Zeit über „Jaures' Kirchen politik" dargelegt,
wie zweideutig seine Haltung 1902 war, als es sich
in der Kammer darum handelte, die Regierung zur
Anerkennung dieser Forderung zu zwingen.
Als im Oktober 1902 in der Kammer der Kultur-
kampf gegen die Kongregationen verhandelt wurde,
suchte die sozialistisch-revolutionäre Gruppe — die
Freunde Guesdes — den Kampf zuzuspitzen und
brachte eine Resolution ein, welche die Regierung
einlud, das Konkordat aufzuheben und die Trennung
317
von Staat und Kirche herbeizuführen. Jaures aber,
weit entfernt, sich dieser Resolution anzuschließen,
wußte die Abstimmung über sie zu vereiteln, indem
er eine andere einbrachte, die einfach, ohne ein Wort
über die Trennung von Staat und Kirche zu ent-
halten, der Regierung ihr Vertrauen aussprach. Ich
habe aber noch nie vernommen, daß K. E. deswegen
Jaures seine Mißbilligung ausgesprochen hätte. Noch
mehr. Guesde wird von K. £. aus dem Rahmen der
Sozialdemokratie ausgeschlossen, weil er sich über
die Wirkungen einer Trennung von Kirche und
Staat skeptisch äußert. Was tat aber Millerand? Er
stimmte für das Kultusbudget, lieferte der Priester-
schaft 40 Millionen Staatsgelder jährlich aus. Das
vermochte aber den warmen Sympathien keinen Ein-
trag zu tun, die Jaures und K. E. für diesen würdigen
Sozialisten empfanden.
Und derselbe K. E., der sich vor Entrüstung nicht
fassen kann, weil Guesde meinte, die bürgerliche Re-
publik wäre durch Preisgebung der Forderungen und
der Selbständigkeit des Proletariats zu teuer erkauft,
er trug es Millerand nicht nach, als dieser dem abso-
luten Despoten Rußlands die Hand küßte, und ich
habe auch nicht mehr gesehen, daß er sich entrüstete,
als Jaures dem König von Italien seine Reverenz
erwies. Derartiges hätte Guesde nie zustande ge-
bracht, dazu ist er ein zu guter Republikaner. Er
bekämpft das bürgerliche Regiment auch in der
Republik, aber er bleibt der unversöhnliche Feind
jeglicher Monarchie.
Man kann nach alledem ermessen, wie tief die sitt-
liche Pflicht empfunden war, die K. E. zwang, gerade
jetzt wegen einiger, wahrscheinlich nicht richtig
berichteten, sicher falsch gedeuteten Worte jede Eini-
gung eines Sozialdemokraten mit Guesde für unmög-
lich zu erklären. Das Wesen dieser sittlichen Pflicht
wird aber noch deutlicher, wenn man erfährt, daß
318
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der Ausfall des K. E. gegen Guesde nichts ist als
der getreue Abklatsch des Ausfalles, den wenige Tage
vorher Jaures in seiner Humanite" gemacht.
In Amsterdam hatte Renaudel, ein Angehöriger
der Minorität der Jauresisten, die in Opposition zu
Jaures steht, erklärt, seine Freunde seien bereit, die
Einigung mit der Gegenseite, also Guesde und seinen
Freunden, anzustreben. Er gab diese Erklärung ohne
jede Einschränkung ab unter dem frischen Eindrucke
der Guesdeschen Rede. Vaillant antwortete ent-
gegenkommend in seinem und seiner Partei — also
auch in Guesdes Namen.« Jaures hatte den Kongreß
schon verlassen, als diese Erklärungen ausgetauscht
wurden. Aber nach Paris zurückgekehrt, beeilte er
sich, in der Humanne" zu erklären, nach der Guesde-
schen Rede sei eine Einigung unmöglich, solange nicht
Guesde von seiner Partei desavouiert werde. Das
heißt, indirekt, er lehnt die Einigung ab, die er direkt
freilich nicht gut ablehnen konnte. Das ist nicht sehr
erfreulich, aber begreiflich, denn für Jaures steht
viel auf dem Spiele, wenn sich die Einigung auf den in
Amsterdam geschaffenen Grundlagen vollzieht.
Weniger aber ist es begreiflich, daß nun K. E. in
dasselbe Horn stößt und die Jaur£ssche Beweisführung
für das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie
kopiert, wodurch er dieses zum Werkzeug von Be-
strebungen macht, die mühsam angebahnte und schwer
durchzuführende Vereinigung der französischen Sozia-
listen zu durchkreuzen. Das ganze große Ansehen,
das der Vorwärts, dank der Bedeutung der deutschen
Sozialdemokratie, bei den Parteigenossen des Aus-
landes genießt, wird so von seinem Chefredakteur
in den Dienst der Gegner der Einigung gestellt.
Das ist trotz aller sittlichen Pflichten, die er empfin-
det, die notwendige Folge seines Eingreifens in die
französische Einigungsaktion. Es bedeutet eine ganz
grundlose, ja geradezu mutwillige Störung des Kon-
3X9
solidierungsprozesses der Sozialdemokratie Frankreichs,
wogegen man nicht energisch genug Front machen
kann.
Friedenau, den 4. September 1904.
K.
V.
Die Leser werden mit Verwunderung bemerkt
haben, welchen Gang die Debatte genommen hat.
Sie begann mit dem Protest gegen die Kautskysche
„Interpretation", daß die Monarchie „keine direkte
Klassenregierung" sei — daß aus tiefsinnigen Gründen
die Bourgeoisie in demokratischen Republiken einen
noch brutaleren Klassenkampf führe als in Monar-
chien — , sie endigt mit dem liebenswürdigen Hin-
weise, daß ich die Partei und den Vorwärts „kompro-
mittiere". Da ich aber in dieser Kompromittierung
beim besten Willen kein neues Argument für die relativ
größere sozialpolitische Aufgeklärtheit der Monarchien
und für die Verruchtheit der demokratischen Republik
anerkennen kann, ist in diesem Punkte jede weitere
Erwiderung überflüssig. Kautsky redet nicht mehr
von der preußischen Steuergesetzgebung — er wird
sich inzwischen überzeugt haben, daß der französische
Etat weit antikapitalistischer ist als die preußisch-
deutsche Steuerschröpfung — und er erinnert auch
nicht mehr an die französischen Streikmetzeleien.
Ich bin so optimistisch, anzunehmen, daß er sich von
diesen verzweifelten Argumenten hat abbringen lassen.
Dafür unterhält er sich nur noch über Guesdismus
und Jauresismus. Er erweist mir die Ehre, mich für
einen „Jauresisten" zu erklären, obwohl ich ausdrück-
lich meine Gegnerschaft bekannt habe, ja, er schreibt
mir einstige Sympathien für Millerand zu, die ich zwar
nicht für kompromittierend halten würde — denn
warum sollte ich mich nicht aus der Ferne über den
Charakter eines mir persönlich unbekannten Mannes
320
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irren dürfen ? — , aber Kautsky ist doch wohl Leser
der Neuen Zeit, und er weiß also, daß ich das einzige
Mal, wo ich mich über die Frage des Ministerialismus
geäußert habe — in Ausführungen, die ich noch heute
in jedem Wort aufrecht erhalte — , rein theoretisch
argumentiert und ausdrücklich jedes Urteil über den
besonderen Fall Millerand abgelehnt habe.
Freilich, wie soll Kautsky noch richtig meine Aus-
führungen vom Jahre 1901 wiederzugeben imstande
sein, wenn er nicht einmal korrekt wiederholt, was
ich gestern geschrieben habe. Ich habe mit keiner
Silbe die Ausschließung Guesdes aus der Partei ver-
langt; mir ist es fremd, solche Bannflüche für Be-
weise zu halten. Ich habe einfach festgestellt, ohne
über Guesdes Vergangenheit ein Wort zu sagen,
daß Guesde unter dem psychologischen Drucke, den
Spaltungen immer bewirken, gegenwärtig Anschau-
ungen vertritt, die mit der deutschen Auffassung
nicht übereinstimmen. Ich habe gemeint, daß auf der
Grundlage solcher Ansichten sich keine Einheit in
Frankreich verwirklichen ließe. Darin hat Jaur£s
vollkommen recht, der — wie ich glaube, wieder mit
Recht — gegen Guesdes Intransigenz sich auf Vaillants
Anschauungen beruft. Schließlich hat ja auch die
deutsche Delegation in Amsterdam ganz entschieden
jenen „Guesdismus" zurückgewiesen, der auf dem
merkwürdigen Wege der Übersetzung — „nicht er-
streben" wurde in „nicht annehmen" übersetzt —
die Dresdener Resolution grundsätzlich zu verschärfen
suchte. Mein „Ausschlußantrag" aber beschränkt sich
auf die ebenso bescheidene wie dringlich notwendige
Mahnung, man solle Guesdes unmögliche Meinungen
von gewisser deutscher Seite nicht noch unterstützen,
ihn nicht in Äußerungen bestärken, die eine Einheit
in Frankreich aussichtslos machen mußten. Die offen-
bare Tendenz dieser meiner Darlegung war, Guesdes
deutsche Freunde selbst müßten ihn dahin beeinflussen,
31 Eisner, OsaniraeUe Schriften. I.
daß er sich den klaren Anschauungen der deutschen
Partei nähere, auf deren Basis eine Einigung auch in
Frankreich möglich wäre. Guesdes Anschauungen, die
er in Amsterdam vortrug, stehen — ohne Über-
setzungskünste — nicht auf dem Boden der Dresdener
Resolution und der Pariser Resolution Kautskys. Er
war tatsächlich ebenso isoliert wie Jaures.
Es wäre leicht, aus den letzten Jahren reiches Ma-
terial zusammenzubringen, um zu erhärten, daß
Guesde neuerdings nicht die deutsche Taktik vertritt;
man denke z. B. an die Frage der Staatsschule, die
Guesde ablehnt, weil man dem Bourgeoisiestaate
jegliche Herrschaftsmittel verweigern müsse. Solche
Unklarheit ist denn auch die Ursache, daß man auf
dem letzten Liller Guesdistenkongresse die eigene
guesdistische Fraktion arg gescholten hat, weil sie in
der Kammer ganz — jauresistisch sei. Daher auch die
bedenkliche Erscheinung, daß heute die französischen
Scharfmacher, welche die „Kanaille", die in Marseille
ausgesperrt ist, zu füsilieren auffordern, dem ehrlichen
Guesde, gegenüber dem Geschäftssozialisten Jaures,
die Brüderschaft antragen. Bebel hat in Dresden
gesagt, wenn er von den Gegnern gelobt werde, fürchte
er immer, eine Dummheit begangen zu haben. Das
trifft nicht immer zu, bleibt aber doch eine goldene
Regel. Man wende sie nur — unbeschadet aller ver-
ständlichen und zu billigenden Kameradschaft — auf
den Fall Guesde an!
Noch ein Wort über mein Zitat aus Guesdes Taktik-
rede. Kautsky, der übrigens meine Kritik der guesdisti-
schen Äußerungen an der entscheidenden Stelle ab-
bricht, bezweifelt den von mir gegebenen Wortlaut.
Ich habe allerdings das Verbrechen begangen, wört-
lich aus dem Manuskript — des amtlichen Protokolles
des Amsterdamer Kongresses zu zitieren. Ich finde
aber, daß der Text, wie ihn Kautsky gibt, noch viel
kompromittierender für Guesde ist. Danach hätte
322
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Guesde in Amsterdam gemeint, wenn man die Repu-
blik nur durch einen „Block" mit der Bourgeoisie
retten könne (d. h. doch nur mit gewissen Gruppen
der Bourgeoisie), so sei diese „Verdunkelung des
Klassenkampfes" die ganze Republik nicht wert. Und
Kautsky fügt hinzu, wenn wir nur durch solch einen
„Block" mit der Bourgeoisie das Wahlrecht in Deutsch-
land retten könnten, so wäre das auch verwerflich. Der
Vergleich ist schon deshalb sinnlos, weil es in Deutsch-
land gar keine demokratische Bourgeoisie gibt, die sich
auf einen „Block" mit der Sozialdemokratie einlassen
würde. Gäbe es aber solche Hilfe, so würde nur der
sie zurückweisen, „der dem Wahlrecht keine Träne
nachweint".
Aber freilich, Kautsky macht sich das Beweisen
leicht. Als Bedingung des „Blockes" setzt er den Ver-
zicht des Proletariats auf seine Forderungen voraus.
Warum geht er nicht weiter und nimmt als Bedingung
solchen Zusammengehens an, daß sich alle Sozial-
demokraten aufhängen sollen; dann ließe sich noch
leichter beweisen, daß dann das Wahlrecht für die
Sozialdemokraten keinen Wert habe. Ich gestehe,
daß ich solche Scherze für kompromittierend halte.
Selbstverständlich muß man unter allen Umständen
die Republik retten, selbstverständlich muß man mit
allen Mitteln das Wahlrecht retten. Solche Verzicht-
leistungen, wie sie Kautsky an die Wand malt, sind
weder jemals in Frankreich vorgekommen, noch sind
sie sonst denkbar — nur ein Tollhäusler von Bourgeois
könnte solche Verpflichtungen auch nur fordern, weil
er ja genau weiß, daß keine Macht der Welt ihre Er-
füllung erzwingen könnte.
Um schließlich noch zu dem ernsten Ausgang der
Debatte zurückzukehren. Will man den Unterschied
zwischen der Sozialpolitik in einer demokratischen
Republik und der Monarchie, „die keine direkte Klassen -
regierung" ist, so braucht man nur an Krimmitschau
ii« 323
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zu erinnern, wo, obwohl es sich um eine von den
Unternehmern provozierte Machtprobe handelte, die
Regierung durch alle Organe nicht nur nicht zu-
gunsten der Arbeiter vermittelte, sondern mit gepan-
zerter Faust jede öffentliche Ausübung des Koalitions-
rechtes verhinderte, sogar die Weihnachtsfeier unter-
drückte.
Gegenwärtig spielt sich in Marseille ein gewaltiger
Konflikt zwischen Arbeitern und Unternehmern ab.
Die ganze reaktionäre Presse fordert unablässig zur
gewaltsamen Niederschlagung der Hafenarbeiter und
Matrosen auf. Im monarchischen Staate der deutschen
Sozialreform ist es unseren Genossen auch gelungen,
das Koalitionsrecht für die Matrosen der Handels-
marine zu erringen. In diesem „brutalen*4 Frankreich
aber, das sogar ein Koalitionsverbot für Matrosen
aus dem Kaiserreich bewahrt hat, verhält sich die
Regierung nach der Schilderung eines bürgerlichen
Blattes, des Hamburger Korresp., wie folgt:
„Der Präsident der Pariser Handelskammer, der mit
unermüdlichem Eifer eine Verständigung zwischen
den Reedern und den ausgesperrten und streikenden
Hafenarbeitern und Handelsmatrosen herbeizuführen
sucht, hat sich nach der Unterredung mit den Ver-
tretern der Reeder und Spediteure überaus ent-
mutigt gezeigt, da alle seine versöhnlichen Bemühungen
abgelehnt wurden. Die Reeder verlangen als Grund-
bedingung für den Eintritt in weitere Unterhandlungen
erstens die strenge Durchführung des Dekrets von
1852, das die ein Schiff verlassenden Handelsmatrosen
den Deserteuren hinsichtlich der zu verhängenden
Strafen gleichstellt. Die Reeder beharren bei dieser
Forderung, obwohl der Marineminister Pelletan er-
klärt hat, daß er sich nie und nimmer dazu verstehen
würde, jenes absolut undurchführbare Dekret anzu-
wenden, wie dies übrigens auch sein direkter Vorgänger
im Amte, Herr de Lanessan, auf Grund eines Gut-
324
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achtens einer Kommission von Admirälen getan hat.
Unter den Hafenarbeitern und Matrosen hat die
Haltung der Reeder eine sehr gereizte Stimmung ver-
ursacht, die bereits in dem Beschlüsse der Hafen-
arbeiter zutage getreten ist, von der Föderation in
Cette zu verlangen, daß diese den allgemeinen Aus-
stand aller Hafenarbeiter der französischen Mittel-
meerhafen des Festlandes und Algeriens anordne, falls
den Marseiller Arbeitern nicht sofort die verlangte
Genugtuung gewährt wird. Die Ausdehnung der
Arbeitseinstellung auf die anderen französischen Häfen
des Mittelmeeres würde so schwere wirtschaftliche
Folgen nach sich ziehen, daß man denn doch noch
auf eine gütliche Beilegung des Konfliktes zählen zu
dürfen glaubt. Die Aussichten darauf sind aber sehr
gering, zumal die Reeder als zweite Bedingung für
eine Verständigung mit den Arbeitern und Matrosen
von der Regierung ernstliche Bürgschaften dafür ver-
langen, daß die zukünftigen Abmachungen von den
Arbeitern vollinhaltlich respektiert werden. Der-
artige Bürgschaften wird die Regierung aber kaum
bieten können. Sehr energisch verwahren sich die
Reeder gegen das Schreiben des Handelsministers
Trouillot, der sie bekanntlich an die in den abgeschlos-
senen Verträgen enthaltenen Strafbestimmungen er-
innerte. Die Reeder glauben in dem Schreiben des
Handelsministers einen nicht zu rechtfertigenden Ein-
schüchterungsversuch der Regierung erblicken zu
müssen."
Zu bemerken ist dazu, daß trotzdem de Pressens6
in JaureV Humanite" die Schwäche und Halbheit der
Regierung gegenüber den Unternehmern sehr ent-
schieden tadelt.
E.
325
Der Sultan des Weltkrieges.
I.
Auswärtige Politik in der deutschen Sozialdemokratie.
Persönliche Erfahrungen.
Am 30. Mai 1905 wurde der Reichstag plötzlich in
die Ferien geschickt. Der deutsche Sommerschlaf be-
gann, der von der Fortsetzung im gewohnten Winter-
schlaf sich dadurch unterscheidet, daß man in jenem
schweigend träumt, in diesem aber sehr redselig aus
dem Schlafe spricht.
Bald darauf erhielt ich von französischen Partei-
freunden einen angstvoll beschwörenden Brief, der
mir erklärte, warum der Reichstag vom Grafen Bülow
beseitigt worden war: Der Kanzler wünschte un-
gestört mit dem Weltkrieg zu spielen. In solchen
Zeiten kann man das Parlament nicht brauchen
(auch 1914 nicht !). In Berlin wußte niemand — außer-
halb des engen Zirkels der Pangermanisten, der hohen
militärischen „Domköpfe", der führenden Rüstungs-
und Schwerindustriellen — , daß sich irgend etwas
Besonderes auf der Weltbühne vorbereitete. Der
Pariser Brief, der mir die unmittelbare Gefahr des
Ausbruchs eines Weltkrieges bewies und aus dem
schaudernden Gewissen der Humanität das deutsche
Proletariat um Hilfe anflehte, war für mich eine
furchtbare Erschütterung. So also kam für uns der
Weltkrieg, wie der Einbrecher in der Nacht, während
wir ahnungslos uns im Bette streckten. In jenem
Augenblick stand es für mich fest, daß die deutsche
Weltpolitik nicht nur rhetorische Romantik sei,
nicht nur schwärmende Ägirlogik und dilettierendes
326
Digitized by Google
Nibelungen-Ästhetentum, auch nicht nur unerschöpf-
liches Lieferungsgeschäft.
Auf meine Anregung luden die Berliner Partei-
genossen Jaures zu einer Versammlung ein. Jaures
sagte sofort zu. Aber Bülows Ausweisungsdrohung
sperrte dem Sendboten des Völkerfriedens die deutsche
Grenze. Die gleichzeitig geplante Reise August Bebels
nach Paris scheiterte an dem Widerstand des deutschen
Parteiführers; er war Aktionen abgeneigt, die ohne
sein Zutun unternommen waren: er rebellierte zwar
gern gegen „Instanzen", vorausgesetzt, daß er nicht
selber diese Instanz war, in der ihm die Identität von
Person und Sache mehr und mehr unlösbar verkörpert
schien. Im Vorwärts erschien dann JaureV ungehaltene,
aber auch im gedruckten Wort überwältigende Berliner
Rede.
Seit jenen erregenden Wochen wußte ich, daß der
Weltkrieg wie ein unentrinnbares Verhängnis sich
heranwälzte, ungeschlacht, unbemerkt, unaufhaltsam.
Ich war mir klar, daß das im eigenen Lande insgeheim
gemästete Ungeheuer ein völlig ahnungsloses Volk
eines Tages überfallen würde. Ich bemühte mich,
die Gleichgültigkeit der deutschen Arbeiterschaft
gegen die auswärtige Politik, soviel an mir lag, zu
überwinden. Das war ein hoffnungsloses Beginnen.
Das ganze deutsche Volk wußte nichts von auswärtiger
Politik, wollte nichts wissen. Die Presse verarbeitete
und verbreitete lediglich das Vorzimmergewäsch des
auswärtigen Amtes wie Theaterreklamen der Direk-
torenbureaus; diese Dramaturgen der auswärtigen
Politik und ihre gefälligen Preßhelfer sitzen zu oberst
auf der Bank der Verantwortlichen. Im deutschen
Reichstag wurde niemals eine Rede über Probleme
der internationalen Politik gehalten, die von selbstän-
digem Studium der Probleme zeugte. Als bester
Renner galt grundloserweise Herr v. Hertling, der
es freilich verstand, nicht ohne elegante Bosheit den
327
Herrn v. Bülow kasuistisch in seiner Marokko-Blöße
zu demonstrieren, aber gerade in dieser wirksamen
Rede bewies, daß ihm die Kenntnis elementarer Dinge
abging. Als einmal ein Parteijournalist in fremden
Parlamentsakten las und einiges übersetzte als Material
für die Etatsrede eines sozialdemokratischen Vertreters,
erschien dieser Redner den Regierungskommissaren
als ein unheimlicher Kenner und unterirdischer In-
spirister, den sie fortan staunend und beklommen
schätzten und fürchteten; diese zwar leicht beschaffte,
aber unerhörte Aktenkenntnis wurde der Beginn seines
späteren Aufstiegs.
Mit dem November 1905 verlor ich den Vorwärts
als Tribüne für meine Bestrebungen; die bekannten
Vorgänge veranlaßten mich, die Redaktion nieder-
zulegen. Das französische Gelbbuch über die Marokko-
affäre war erschienen und enthüllte die possenhaften
Teufeleien der deutschen Diplomatie. In Berlin kannte
und besaß niemand das Heft; auch die Parlamentarier
nicht. Ich bemühte mich umsonst, mir das Gelbbuch
zu verschaffen. Schließlich nahm ich die Dienste
des französischen Botschafters Bihourd in Anspruch,
der mir dann aus Paris ein Exemplar beschaffte. An-
fangs des Jahres 1906 veröffentlichte ich die Ge-
schichte der Marokkokrisis unter dem Titel: „Der
Sultan des Weltkrieges. Ein marokkanisches Sitten-
bild deutscher Diplomatenpolitik." Es war wohl, in
der neueren Zeit der deutschen Sozialdemokratie die
erste Broschüre, die sich mit den konkreten Vor-
gängen der auswärtigen Politik beschäftigte. Jaures
interessierte sich für die Arbeit, in Deutschland blieb
sie gänzlich unbeachtet. Der Vorwärtskonflikt ward
Anlaß, daß mein Name und meine Sache wochenlang
durch die gesamte Presse geschleift wurde; mein Be-
mühen, zu gleicher Zeit die Hirne und Gewissen zu
den katastrophalen Weltfragen der Gegenwart auf-
zuraffen, zerrann spurlos — innerhalb und außerhalb
328
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der Partei. Der Broschürenballen blieb in ungestörter
Ruhe beim Verleger liegen. Zehn Jahre später,
im Weltkrieg, begann man das Pamphlet zu lesen; es
brachte manchem jähe Aufklärung. Heute ist es
vergriffen.
Mir genügte aber nicht das gedruckte Wort. Ais
ich sah, daß sich niemand um diesen düster drohenden
Verhängnisprozeß kümmerte, entschloß ich mich,
meine Scheu vor öffentlichem Zurschaustellen zu über-
winden. So kam es, daß ich mit vierzig Jahren meine
erste Volksversammlungsrede hielt. Ich sprach über
die Marokkopolitik. Vom ersten Wort fühlte ich den
passiven Widerstand der Hörer. Das waren alles Dinge,
die weit außerhalb ihres Interesses lagen. Und daß es
mal Krieg geben würde, nun das wußte man ja ohne-
hin längst; übrigens hatte das noch Zeit, sich damit
zu beschäftigen: der Krieg gehört zu den vielen
Glaubensartikeln, an die man — nicht glaubte, oder
vielleicht richtiger: an die man sich so als Versamm-
lung«- und Zeitungsphrasen gewöhnt hatte, daß sie
wesenlos geworden waren. In den Jahrzehnten der
sozialdemokratischen Agitation war auch der Krieg,
wie vieles andere in unserer Parteitätigkeit, zum bloßen
dekorativen Wort verblaßt, das die Phantasie und den
Willen nicht mit seiner Realität erfüllte. Man nahm
nichts mehr ernst außer die allernächsten und aller-
gröbsten Sorgen. Das radikal-ideale Bedürfnis befrie-
digte man in der Schwärmerei für Revolutionen, die
andere Völker machten. Dafür bezahlte man auch
begeistert und saß auch mit leidenschaftlicher Hin-
gabe im Theater, um sich Revolutionsstücke vorspielen
zu lassen. Ich gab gelegentlich das Rezept für eine
deutsche Revolution: Man solle einige Zehntausend
ausländischer Proletarier beschaffen und sie bei uns
gegen anständige Diäten — unsere Kassen waren ja
immer in Ordnung und Fülle — Revolution machen
lassen. Es ist doch ein sehr merkwürdiges Kapitel der
329
Völkerpsychologie, wie ähnlich die geistige Entwick-
lung des deutschen Proletariats der des deutschen
Bürgertums in seiner idealistischen Periode war.
Als ich dann die Leitung des Nürnberger Partei -
blattes übernahm, ging ich mit zäher Konsequenz
daran, es zu einem Organ weltpolitischer Aufklärung
zu machen. Das ging eine Weile ganz gut. EinesTages
aber gab es eine — sehr wohlwollende und freund-
schaftliche — Auseinandersetzung in der Preß-
kommission: Man sei doch ein deutsches, insbesondere
ein bayrisches und ganz speziell ein Nürnberger Blatt,
was sollten da die ewigen Artikel über auswärtige
Politik. Eis war die allgemeine Meinung. Ich ant-
wortete, ich könnte keine Besserung versprechen, ich
würde so fortfahren. Bald darauf trat die bosnische
Annexionskrisis ein. Die Weltkriegsgefahr reckte sich
blutig und nah empor. Jetzt fühlten auch die
Massen seine Schauer. In der Preßkommission gab
es für mich eine Überraschung. Es erhob sich einer
und stattete mir den einmütigen Dank der Partei-
genossen ab. Man habe eingesehen, daß die frühere
Kritik an meiner Redaktionsführung falsch gewesen
sei, sie hätte einen weiteren Blick bewiesen als sie
selbst gehabt hätten. Diese ehrliche Bekehrung und ihr
offenes Geständnis gehört zu meinen liebsten Partei -
erinnerungen, wenn auch mit dem Vorübergehen der
Katastrophe das Interesse an der auswärtigen Politik
wieder erlosch. Auf dem Leipziger Parteitag der
Sozialdemokratie aber wurde ein Ulkblatt verbreitet, in
dem die Nürnberger diplomatische Weltpolitikasterei
und Kriegsprophetie verspottet wurde; der leitende
Redakteur der Leipziger Volkszeitung war damals
Herr Lensch!
Ich erzähle diese persönlichen Erfahrungen nicht,
um mich zu rühmen, als ob ich in diesen Dingen eine
besondere Leistung vollbracht hätte, sondern um aus
der Kenntnis der inneren Vorgänge und Verhältnisse
330
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begreiflich zu machen, wie die Partei dann, als die
Katastrophe eintrat, jene Politik trieb, die zum Welt-
verhängnis wurde. Der Krieg überraschte sie, traf
sie unvorbereitet, geistig völlig ungerüstet. Schließlich
konnte es gar nicht anders sein. Die deutsche Verfassung
ist eine Fiktion. In ihr leben, sie dulden, heißt
auch die Massenpolitik zur Fiktion werden lassen. Erst
wenn das Volk über sich selbst bestimmt und verant-
wortlich über sich entscheidet, können die Probleme
der Politik zum triebkräftig bestimmenden Inhalt
des wirklichen Lebens werden, des lebendigen Wirkens
der Köpfe, Willen und — Arme.
Als urkundlicher Beleg für diese persönlichen
Erinnerungen seien aus meiner. Marokko-Broschüre
von 1906 das Vorwort und das Schlußkapitel wieder-
gegeben.
[September 191 8.]
II.
Vorwort.
Diese Flugschrift ist bestimmt, dem deutschen Pro-
letariat und der deutschen Öffentlichkeit den Inhalt
des französischen Gelbbuchs über Marokko zugänglich
zu machen. Ich kenne keine Sammlung von diplo-
matischen Aktenstücken, die auf so erbarmungslose
Weise das gemeingefährliche Wesen aller Weltpolitik
bloßlegt, einer Weltpolitik, die aber zugleich in der
deutschen Fassung den Schrecken mit dem Unsinn
vereinigt. Keine Regierung eines zivilisierten Staates,
in dem das Volk sein Geschick leitet, wäre nach der-
artigen Enthüllungen nur eine Stunde möglich.
Bei uns hat es die durchweg von Galopins des Aus-
wärtigen Amtes korrumpierte bürgerliche Presse er-
reicht, daß man in Deutschland nicht einmal ahnt,
was geschehen ist; nur in der „Zukunft" wurden
etliche Notwendigkeiten schart gesagt. Die Lächerlich-
keit des deutschen Weißbuchs hat vollends die Un-
33i
geheuerlichkeiten dieser Politik der Wirrnis und des
Verderbens entblößt. Wenn es nicht mehr zu bezwei-
feln ist, daß Europa in den letzten zwölf Monaten
zweimal, vielleicht dreimal, vor der unmittelbaren
Gefahr eines Krieges stand, in den die Proletarier
gegeneinander gehetzt werden sollten, ohne daß sie
wußten, aus welchem Grunde und zu welchem Zweck,
so ist es wahrlich Zeit, daß die Sozialdemokratie hüben
und drüben rücksichtslos die Tollheiten einer frevel-
haften und dabei zwecklosen Politik brandmarkt, die
die inneren Tendenzen des Kapitalismus in blinden
und perversen Leidenschaften ausprägt. Wir wollen
uns endlich ein Vaterland erobern, indem wir es von
der Tyrannei des blutigen Zufalls erlösen.
Die internationale Politik ist in Deutschland der Beein-
flussung, ja selbst der Kontrolle und Kritik der Nation
entzogen, die auf dem Proletariat ruht. Der Bundes-
rat versagt stets gegenüber der preußischen Barbarei,
die Einzelstaaten, insonderheit Preußen und Sachsen,
schließen das Volk von der politischen Mitarbeit aus,
auch die Reichs Verfassung ist immer noch nur eine
Verkleidung des Absolutismus, in der man ein wenig
das Recht hat, die eigene Ohnmacht zu kritisieren.
So ist auch der Marokko- Skandal letztes Endes für
Deutschland eine Wahlrechtsfrage, und es erhebt
sich immer bedrohlicher die Entscheidung: Freie
demokratische Selbstbestimmung oder Völkerkrieg.
Unsere Parteigenossen in Frankreich halten mit be-
wunderungswürdiger Selbstentsagung und großem
Erfolg ihre Diplomatie, als die Sachwalter des repu-
blikanischen Kapitalismus und Militarismus, am Zügel.
Es ist unsere Pflicht, im Deutschen Reiche endlich
die Hand zu legen auf die Entscheidung über unser
Leben.
[Am preußischen Wahlrechtssonntage,
21. Januar 1906.]
33»
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III.
Ergebnis.
Wie eine läppische Phantasie aus Grauen und Ge-
lachter ist dieser Marokkohandel in nüchternen Akten-
stücken an dem Leser vorübergezogen, und er wird
des öfteren den Zweifel nicht haben zurückdrängen
können, ob denn das wirklich alles wahr sei.
Drohte wirklich der blutigste Völkerkrieg, den Eu-
ropa jemals gesehen? Und warum? Wegen Marokko!
Ja, nicht eigentlich einmal wegen Marokko, sondern
wegen — ja, das ist nicht so einfach zu sagen.
Die deutsche Marokkopolitik hätte vom Standpunkt
eines abenteuernden und brutalen Imperialismus
wenigstens noch Zweck und Sinn, wenn Deutschland
wirklich beabsichtigte, auf irgendeine Weise über
Marokko in den Kreis der Mittelmeerstaaten einzu-
dringen, wenn der Admiral des atlantischen Ozeans
ein realer Begriff zu werden begehrte, nachdem freilich
der Admiral des stillen Ozeans ganz still geworden ist.
Eine solche Politik würde eine internationale Revolu-
tion bedeuten, wäre aber dann wenigstens aus den
Tendenzen der kapitalistischen Weltraubpolitik zu
begreifen. Aber Deutschland denkt ja, so schwört es,
an nichts dergleichen, es tut auch nichts, um solche
Pläne zu verwirklichen.
Warum also hat die deutsche Regierung nun das
Schwert aus der Scheide ziehen wollen? Erinnern
wir uns:
Erstens : Weil sie den französisch-englischen Vertrag
nicht in einem besonderen an sie adressierten Briefe
erhalten hatte. Aber sie kannte ihn schon vor der
Veröffentlichung.
Zweitens: Weil die Souveränität des Sultans von
Marokko auf alle Fälle geschützt werden muß. Aber
der Sultan ist niemals Souverän im Vollbegriff des
Wortes gewesen, sein Rest von Souveränität dient
333
nur zum Verderben des Landes, und Deutschland
selbst wollte, wenn es sein müßte, durch einen Krieg,
den Sultan unter die Vormundschah einer — inter-
nationalen Konferenz stellen.
Drittens: Weil Herr Taillandier ein europäisches
Mandat behauptet habe. Aber er hat es bestritten
und maurische Despoten sind schlechte Zeugen.
Viertens : Weil die Handelsfreiheit und die deutschen
Interessen in Marokko geschützt werden müssen. Aber
diese Handelsfreiheit ist garantiert, und diese Inter-
essen existieren nicht.
Fünftens: Weil dem Sultan von Deutschland Ver-
sprechungen gemacht worden sind. Aber diese Ver-
sprechungen, wenn sie wirklich erfolgt sein sollen, sind
von keinem verantwortlichen Vertreter der Reichs-
gewalt gegeben worden. Die Nation haftet nicht für.
persönliche Zusicherungen eines einzelnen.
Sechstens: Weil nicht geduldet werden könne, daß
Frankreich in Marokko eine singulare Stellung bean-
spruche. Aber die deutsche Regierung hat schließlich
wiederholt dieses Recht anerkannt.
Siebentens: Weil Frankreich erst die Konferenz an-
nehmen und dann über ihr Programm verhandeln
sollte, während Frankreich meinte, sie müsse erst
den Zweck der Konferenz kennen lernen, ehe es für die
Konferenz sich erklären könnte. Aber auch hier hat
Deutschland schließlich durch die Tat den französi-
schen Anspruch anerkannt.
Achtens: Weil Deutschland für Gleichberechtigung
aller Nationen, für die Integrität in Marokko und gegen
alle Annexionspolitik ist. Aber was liegt ihm dann
überhaupt an Marokko ? . . .
Das sind die Gründe, die von der Regierung de»
Fürsten Bülow öffentlich und amtlich als einzige
Motive und einzige Zwecke ihres, selbst zum Kriege
334
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entschlossenen Vorgehens bezeichnet wurden. Kann
man sich vorstellen, daß irgendein Ausländer an solche
Art zu regieren glaubt ? So niedrig mag auch der Feind-
seligste nicht von der Regierung eines großen Kultur-
volkes denken. Weltkriege provozieren, fortwährend
mit den Waffen drohen, ohne irgendein Machtziel —
nein, das ist selbst der Regierung des Fürsten Bülow
nicht zuzutrauen. Nein, die reichlich albern erson-
nenen deutschen Vorwände müssen nur machiavellisti-
sche Kniffe sein — so ist man überall überzeugt. Wozu
baut sich Deutschland denn auch sonst seine Riesen-
flotte i Und man studiert die alldeutschen Marokko-
pläne, und diesen Text legt man den friedlichen Flöten-
liedern der deutschen Regierung unter, um zu er-
klären, warum die harmlosen und idyllischen Hirten-
gesänge auf einmal ohne sichtbaren Grund in wildem
Schlachtenlärm endigen.
„Marokko verloren l" — so betitelt sich im Sommer
1904 „ein Mahn wort in letzter Stunde" von einem
alldeutschen Rechtsanwalt Claß.
„Wir sehen uns übergangen," schrie der Germane
schmerzbewegt. „Auf eine Stufe mit Spanien ge-
stellt, sehen wir uns betrogen um einen Besitz, auf den
wir ebenso viel Anspruch hatten wie Frankreich —
dies alles, obgleich dereinst verkündet wurde, keine
große Entscheidung darf mehr fallen in der Welt,
ohne daß der deutsche Kaiser mitredet."
Was ist das Ziel?
„Die deutsche Staatsleitung ist verpflichtet, von
sich aus sofort die marokkanische Frage dadurch für
uns zur Erledigung zu bringen, daß sie alles südwest-
lich der Wasserscheide liegende Land einschließlich
der ganzen atlantischen Küste Marokkos für das
Deutsche Reich in Besitz nimmt." Das sei unbedingt
zu verlangen, „kraft des sittlichen Rechtes der Not-
wendigkeit, die am letzten Ende allein der richtige
Maßstab im Völkerleben ist und bleiben wird."
335
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Und das Mittel?
Auf die Frage des im Frühjahr 1904 noch harmlos
friedfertigen Bülow, ob wir denn um Marokko einen
Krieg führen sollten, antwortete der Alldeutsche mit
der Gegenfrage, „ob er den Frieden haben wolle t
koste es, was es koste":
„Wenn die Ehre des Reiches angetastet wird, sollen
wir dann vor einem Krieg zurückschrecken? Wir
werden behandelt wie Spanien, greift das nicht an
unsere Ehre t Das letzte Volksansiedelungsgebiet wird
uns entrissen — verstößt das nicht gegen ein Lebens-
interesse ? Für was geben wir ungeheuere Summen
jahraus jahrein für unser Heer, für unsere Flotte aus,
wenn man von vornherein entschlossen ist, keinen
Krieg zu führen ? Dazu sind wir nicht reich genug,
um beide für Paradezwecke zu unterhalten."
Schluß: Wir sollen unverzüglich den Südwesten
Marokkos besetzen; um aber den Franzosen zu zeigen,
daß wir auch noch da sind und daß man uns doch
nicht ungestraft auf der Nase herumtanzen darf,
heben wir auch gleich noch die Meistbegünstigungs-
klausel des Frankfurter Friedens auf.
Noch lauter forderte der Graf Pfeil zum Kriege
auf, dem wir nebst Karl Peters durch eigenmächtige
Flaggenhissung die erste deutsche Kolonie und damit
den Anfang unserer Kolonialpolitik verdanken. „Wa-
rum brauchen wir Marokko?" fragte dieser immer
noch frei umherlaufende, die Sicherheit nicht von ein
paar Straßen, sondern von ganz Europa bedrohende
Pizzarro in einer gleichfalls alldeutschen Flugschrift.
Wir brauchen Marokko : was soll sonst uns eine Marine
ohne Flottenstationen nützen! Wir brauchen es,
weil es das Idealland zur Besiedelung mit Deutschen
sei. Wir brauchen es, weil — man höre den grau-
samen Schwärmer für Steuergerechtigkeit in — —
Marokko! — „die Bevölkerung durch ein rücksichts-
loses Steuersystem ausgebeutet (wird), so daß ihre
336
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Kaufkraft sich jährlich mindert statt zu steigen,".
Weil wir Marokko aber brauchen, müssen wir es haben,
und erhalten wir es nicht gutwillig, dann „tausendmal
ja": Krieg! „Wir sind von Hammergottes-Geschlecht
und es ziemt uns, mit dem Hammer Land zu erwer-
ben." Unter dem Hammer meint der Wotangläubige
aber nicht die produktiv schmiedende Arbeit, son-
dern Granaten, Maschinengewehre, Kavallerieattacken !
Ohne kriegerische Unternehmungen würde es nun
einmal nicht gehen: „Aber was schadet das?" Alles
ist „seit langem vorbereitet" — also los!
Krieg! Krieg! Krieg! Während das offizielle
Deutschland für die Souveränität des Sultans die
Menschen und Kanonen übers Meer fahren lassen will,
heischen die Kolonialpolitiker den blutigen Hammer-
Gottesdienst, um die Herrschaft Abd-el-Aziz durch die
des befreundeten Wilhelm II. zu ersetzen, wobei frei-
lich dann die neuen Untertanen ein nicht sehr viel
besseres Steuersystem eintauschen, dafür aber nach
aüdwestafrikanischem Vorbild Gelegenheit erhalten
könnten, ausgerottet, und mit Prämien auf ihre Köpfe
(auch nach sultanischer Sitte) beschenkt zu werden.
Wenn nun das Ausland sieht, daß die Regierung
des Fürsten Bülow tatsächlich im Laufe eines Jahres
wiederholt mit dem Hammer politisiert hat, kann
irgend jemand noch glauben, das Wort: Deutschland
steht hinter Marokko, bedeute nur, daß wir für
Abd-el-Aziz und für die 2 bis 3 Millionen deutschen
Export sterben wollen ? Oder wird man nicht vielmehr
folgern, daß, wo die vom großen Pfeil angekündig-
ten Mittel offenkundig angedroht werden, auch die
Pfeilschen Zwecke vorhanden sein müssen!
Daher vermutet man blutigen Ernst hinter den
wirren Kreuz- und Querzügen der deutschen Diplo-
matie. Man glaubt, daß Deutschland nach Marokko,
nach Kleinasien, ja nach Brasilien und Indien die
Hände ausstreckt!
*t El »oer, Gesammelte Schriften. !.
337
. Und das ist der drohende Quell steter Katastrophen.
Wir haben gesehen, wie aufmerksam der französische
Vertreter in Berlin die russische Krisis in die welt-
politische Rechnung setzt.
Der ostasiatische Krieg und die russische Revolution
hat das europäische Gleichgewicht gestört. Solange
die ungeheuere russische Masse scheinbar unbeweglich
durch die Gravitation des Kosakentums die Staaten
Europas im Bann hielt, fühlt sich Deutschland und
Frankreich sicher zugleich und gefesselt. Seitdem die
russische Militärmacht ausgeschaltet ward, geriet alles
in eine tolle Bewegung lüsterner Begierden und banger
Furcht. Das Deutsche Reich hat so lange mit dem
Dreizack drohend gefuchtelt, daß England ernstlich
für seine Weltherrschaft bangt. Soll es ruhig zusehen,
wie Deutschlands Flotte üppig wächst? Oder ist
es nicht billiger, dem Spuk mit einem Male ein
Ende zu machen? Auf dem Grunde des Meeres
haben ebensoviel, wie auf seinem Spiegel wenige
Panzerschiffe Platz! Nur der Tod kennt keine Kon-
kurrenz.
Die französische Demokratie hat ihren Delcasse*
davongejagt. Der deutsche bürgerliche Scheinparla-
mentarismus sprach zu Beginn der Reichstagssession
seinem Bülow das vollste Vertrauen der Nation aus,
nachdem ihre schreibenden, telegraphierenden und
telephonierenden Zeitungsritter vorher einen ver-
gnügten parlamentarischen Abend bei ihrem Kanzler-
fürsten angeregt verschwatzt und in gesegnetem Appe-
tit verschmatzt hatten!
Nachdem die Welt die wilden sinnlosen Kriegs-
drohungen um Marokko willen erlebt hat, kann kein
Vertrauen und Frieden mehr werden. Geht Marokko
vorüber, irgendwo taucht aufs neue eine Frage auf,
bis einmal doch die verheerende Katastrophe losbricht.
Der Hunnenzug und Südwestafrika, das waren schon
Erdbeben der Weltpolitik. Marokko wäre beinahe
338
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ein Weltbrand geworden. Was birgt nun das Morgen
und welche Macht haben wir, um dem wahnwitzig
schaltenden Ungefähr entgegenzuwirken ?
Die Sphinx der Weltpolitik gibt uns nur das ungelöste
Rätsel der inneren Politik dräuend auf. Lösen wir dies
Rätsel, so stürzt jene sich in das Nichts.
Die französische Demokratie, die unter dem be-
fruchtenden Einfluß der Sozialisten sichln der Ge-
schichte wieder einmal als stärkste Kulturmacht be-
hauptete, hat gegenwärtig den Kampf gegen die
Maffia der Diplomatie aufgenommen. Auch die
Volksvertretung der Republik hat bisher gar keinen
oder doch nur sehr geringen Einfluß auf die aus-
wärtige Diplomatenpolitik nehmen können, für welche
der kriminelle Begriff der Verschleierung höchstes
Gesetz und Wurzel ihrer Existenz ist.
Die bürgerliche Öffentlichkeit Deutschlands hat
vollends den ganzen Marokkokonflikt tatenlos und un-
wissend verschlafen. Von irgendeinem obskuren Ge-
heimrat läßt sich die ganze Presse der Bourgeoisie
. narren, der ihnen selbst die Traumtexte für den Schlaf
fertig liefert. Aber das ist schließlich nur eine jammer-
volle Teilerscheinung der einen großen Tatsache, daß
es in Deutschland überhaupt noch kein Öffentliches,
kein aktives politisches Volksleben gegeben hat. Deutsch-
land ist noch lange kein Verfassungsstaat, und was die
Bourgeoisie versäumt hat, wird erst das Proletariat
erobern müssen. Die Marokkoaffäre hat gezeigt, was
wir von einer in Klassen- Inzucht entarteten Bureau-
kratie zu erwarten haben, die nicht einmal fähig ist,
das niedrige Handwerk einer kapitalistischen Geschäfts-
politik mit leidlichem Anstand und rechnender Voraus-
sicht zu bewältigen. Selbst mit dem rohen Appell
an die Gewalt der Zerstörung hat sie nichts erreicht
und viel verloren! Indem das deutsche Proletariat
um die politischen Elementarrechte, um die Erobe-
rung des Parlaments, um das demokratische Wahl-
339
System in allen gesetzgebenden Körperschaften ringt,
arbeitet es zugleich für den Frieden und die Kultur
Europas! .
•
Und schon genug deutsches Blut hat dieses Land
der Ruinen und des Schutts, der versandenden Häfen
und verfaÄnden Mauern, der Verwesung und des
Kots getrunken. Mit dem Gestank menschlicher und
tierischer Ausscheidungen, den jeder Regen wie aus
den Tiefen und Anlagerungen von Jahrtausenden
aufwühlt, scheint sich der Ludergeruch des nutzlos
vergossenen Menschenbluts zu mengen. Alles, was
eine unbewegte tausendjährige Herrschaft des welt-
lichen und geistlichen Despotismus an Entartung und
Greueln hervorbringen kann, ist in diesem verfluchten
Boden erstanden und versunken. Bei Alcazar brach
1578 Portugals Weltmacht zusammen; an diesem
von der Dichtung versponnenen Kreuzzug Dom
Sebastians nahmen auch 3000 Deutsche teil; sie ver-
westen unbeerdigt auf dem Felde der Dreikönigschlacht
von Alcazar. Deutsche wurden ja immer für fremde
Zwecke als Kriegstiere verkauft; auch die Weltpolitik
von heute ist fremder Zweck! Hier sind ungezählte
Deutsche in den Jahrhunderten marokkanischer See-
räuberherrschaft als Sklaven verreckt; Sultan Ismael,
der Bluthund, hat allein in den ersten Jahren seiner
Regierung 20000 seiner Sklaven — welch herrliche
Strecke! — mit eigner Hand erlegt. Von den Zinnen
dieser westlichen Veste des Islam grinsen gerade deut-
sche Häupter! . . .
Von dem bei Tanger*) kraft des ersten internatio-
nalen Marokko Vertrags — von einem Franzosen —
erbauten Leuchtturm bei Kap Spartel erzählt ein
Marokkoforscher, wie die Vögelzüge, die im Herbst
*) Beiläufig: Sprich „Tandscha".
340
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Europa verlassen, an ihm zugrunde gehen. In dichten
Massen richten sie ihren Flug auf jenen hellen Punkt,
und werfen sich in voller Wucht gegen den Turm,
den sie umkreisen, einhüllen und an dessen starkem,
die Laterne schützenden Drahtgitter die Vögel zer-
schellen, geblendet von dem großen und ungewohnten
Lichte. Das Geschrei und die dumpfen Töne des
Massenanpralls, die das Toben des Meeres selbst über-
tönen, hält stundenlang an, bis zuletzt die erschöpften
Tiere weiterziehen. Ein furchtbares Schauspiel, am
nächsten Morgen die entsetzliche Verheerung anzu-
sehen; zu hunderten liegen die Vögel mit zerstoßenen
Köpfen, gebrochenen Flügeln und zersplitterten Schnä-
beln überall umher, oder hängen noch in den Draht-
gittern. . . .
Im Laufe dieses Marokkohandels hat es wiederholt
geschienen, als ob es wirklich das Los europäischer
Völker sei, an dem die Weltmeerstraßen des Kapitalis-
mus lockend bestrahlenden Leuchtturm von Cap
Spartel das Leben zu zerschellen! Schon glaubte man
das Unheil zu sehen, wie diese wirren, ins Licht des
fernen Gewinns treibenden, flatternden, taumelnden
Zugvögel heranstürmen, nur daß es nicht freie Vögel
waren, die den Sommer suchen und an Lichtgittern
zerschellen, sondern wehrlose Schwärme, die blind-
lings hinausgestoßen — , gegen den Turm geschleudert
werden sollten. . .
Proletarier Europas,
schützt die heiligsten Güter der Völker!
34i
Die Tragikomödie des deutschen Liberalismus.
„Geist genug zu allen Fragen und Zweifeln
und kein Genie zu ihrer Lösung."
Rudolf v. Bennigsen an seine Mutter.
17. September 1847.
I.
Vom deutschen Liberalismus, der immer und über-
all dabei war und doch niemals zur Macht gelangte,
erzählt Hermann Oncken auf fast anderthalbtausend
großen Lexikonseiten, indem er aus den nachgelassenen
Papieren Rudolf v. Bennigsens das Leben des liberalen
Führers schreibt und die von ihm selbst nicht auf-
gezeichneten Memoiren eines im Vordergrund ge-
schäftigen Daseins zu rekonstruieren versucht. Her-
mann Oncken hat damit ein Quellenwerk ersten Ranges
für die deutsche Parteigeschichte geliefert und reiche
Beiträge zu der Durchdringung des Problems gespen-
det, warum wir in Deutschland immer nur einen
zugrunde gehenden, sich verlierenden, faulenden Libe-
ralismus gehabt haben.
Wir kannten aus persönlicher Anschauung nur den
Bennigsen des neuen Deutschen Reiches und des
. Reichstages. Auch damals unterschied sich der Führer
der älteren nationalliberalen Generation noch wesent-
lich von seinen Epigonen, den platten politischen
Geschäftsleuten von der Rasse der Paasche, Basser-
mann, Semler. Er hatte doch etwas von einem gebil-
deten europäischen Politiker, er hatte Kenntnisse, ein
idealistisch gerichtetes Wollen, oder besser Wünschen,
und durch seine blasse, ein wenig müde Rhetorik
schimmerte doch zuweilen eine vornehme Gesinnung
342
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und feinere Geistigkeit durch, die sich an allerlei
Schätzen der Kultur genährt hatte. Aber dieser Mann
war schon zugrunde gegangen, als er im Deutschen
Reich zu wirken begann, ein Liberaler, der am deut-
schen Liberalismus verkommen war. Er war von Haus
aus in Wahrheit eine politische Natur. Der bei uns so
seltene politische Dämon wohnte und wirkte in ihm,
wenn auch ein deutsch temperierter Dämon. Aber
diese Zeit politischer Kraft und geschichtlicher
Charaktere lag längst hinter ihm, als wir ihn in der
Nähe agieren sahen. Auch er war zerschellt an dem
unpolitischen Krämer- und Philistersinn des deutschen
Bürgertums. Er wollte kein Verbannter sein, wie die
großen Vorkämpfer deutscher Freiheit, er wollte das
Mögliche, das Erreichbare durchsetzen, und so riß
er vom Liberalismus Stück für Stück los, bis er nur noch
ein wirres Gefüge treibender Trümmer war.
Von zwei Klippen ist die deutsche bürgerliche
Politik niemals losgekommen: von einem starren Dok-
trinarismus, der seine Feigheit tätiger Verantwortung
hinter die Pflicht verschanzt, unantastbare Grund-
sätze in voller Reinheit zu erhalten, und von seinem
Gegenspiel, wirklich grundsätzliches Handeln in eine
überzeugungs- und richtungslose leere Betriebsam-
keit aufzulösen, die immer siegt, indem sie nie eine
Schlacht wagt. Bennigsen hatte in jungen Jahren
diese beiden Todsünden der Politik erkannt, dann
aber, um nicht doktrinär zu sein, ward er der macht-
politisierende Opportunist der Ohnmacht, der echte
Irrealpolitiker im Wahne realistischer Politik.
Rudolf v. Bennigsen stammt aus einem uralten nieder-
deutschen Adelsgeschlecht. Die Bennigsen — nach
einem Dorf, südlich von Hannover — sind schon
als Herren von Bennucheshusen im 14. Jahrhundert
nachweisbar; sie gehörten zu den 80 herrschenden
Rittergeschlechtem, die Hannover als ihre Domäne
ausbeuteten, wenn auch nicht zu dem Kern der 20
343
Familien, die die Minister- und alle höheren Posten
im Staate einnahmen. Sie waren mäßig begütert,
leisteten vielfach Kriegsdienste im Ausland; der
russische General v. Bennigsen gab 1801 das Signa!
zur Familienermordung des Zaren Paul I. Bennigsens
Großvater war preußischer Offizier, der den ruhm-
losen Feldzug gegen die französische Revolution mit-
machte und dann 1806 zu den Kapitulanten von
Magdeburg gehörte; eine in jeder Hinsicht zerrüttete
und verbitterte Existenz, unglücklich in seinem Fa-
milienleben, gebrochen in seiner Laufbahn, von
Schulden belastet, das Familiengut dem Konkurs
ausliefernd. Sein Sohn, Rudolfs Vater, baute dann
in zäher Hingebung die verfallene Familienexistenz
auf, auch er ein Militär, in Wahrheit mehr eine hu-
mane Gelehrtennatur, beschaulich und philosophisch
gestimmt, kein Sklave seiner Kaste und voll zärtlicher
Sorgfalt für seine Söhne, deren freie Entwicklung er
opfernd und verständnisvoll förderte. Von mütter-
licher Seite hat Rudolf v. Bennigsen Hugenottenblut
ererbt.
Die englische Fremdherrschaft ersparte Hannover
das Schicksal der anderen deutschen Vaterländer,
von ihren angestammten Fürstenhäusern ausgesogen
zu werden; die fremde Monarchie kostete Hannover
durchschnittlich nur 12542 Taler jährlich. Auch
gestattete die englische Herrschaft eine größere
geistige Freiheit. Auf der hannoverschen Universität
Göttingen wirkte der erste liberale deutsche Publizist,
Schlözer, der die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts
mit seinem Ruhm erfüllte, und freilich auch gleich
„nationalliberal" gesinnt war, mit seinem Kultus
des „gemäßigten Fortschritts" und seiner Angst vor
radikalen Forderungen und Taten als Teufeleien, die
nur die „Reaktion" fördern. Aber die liberale Ge-
sinnung war doch nur ein zartes Pflänzchen literarischer
Zivilisation. Sonst drückte auf dem Staat eine extrem
344
Digitiz
konservative Adelsherrschaft; zwei Drittel aller Ritter-
güter waren in den Händen des Adels, der alle Staats-
stellen als seine Majorate erblich inne hatte.
Rudolf verbringt seine Kindheit in Hameln, Lüne-
burg, Hannover. Er ist eine „Primus"-Natur, ein
ausgezeichneter Schüler, der in einem freien, geistigen
und innigen Familienleben seine Gaben entfalten
kann. Er ist ein Büchervertilger und Schillerschwär-
mer; Wilhelm Teil ist sein Held. Aber in dieser
später so glatt harmonisch erscheinenden Natur geht
doch ein Gespenst jäher Leidenschaft um: Der sech-
zehnjährige Knabe unternimmt einen höchst ernst-
haften Selbstmordversuch, vermutlich in der Zer-
rissenheit einer jungen Liebe. Mit einem Reife-
zeugnis „erster Klasse" verläßt er das Lyzeum. Vier
Jahre später nennt er die Schulmethode „geistes-
tötend" und spricht von seiner „glänzenden Ober-
flächlichkeit", die für Genie gehalten worden sei.
Er studiert in Göttingen die Rechte. Die Universität
stand noch ganz unter dem Eindruck der Maßregelung
der „Sieben" im Jahre 1837. Was da noch lehrte,
war öde Mittelmäßigkeit; so bezog Bennigsen seinen
ersten volkswirtschaftlichen Unterricht von dem jun-
gen Roscher, dem Begründer der „historischen Schule",
dem ebenso platten wie erfolgreichen übervulgären
Kompendienschreiber der Nationalökonomie, der in
seiner „Geschichte der Nationalökonomie" noch 1874
Karl Marx in einer Fußnote erledigte.
Bennigsen wird aus rein persönlichen Gründen
Korpsstudent, obwohl er politisch zu den Burschen-
schaften neigt. Er ist lebenslustig, auch wild und
stürmisch, macht Schulden, aber niemals roh und
gemein. Als die Familie 1842 — der Vater wurde
militärischer Bundesbevollmächtigter beim Bundes-
tag — nach Frankfurt a. M. übersiedelt, gerät der Stu-
dent in die liberale Luft der Heidelberger Universität,
wo Gervinus und Schlosser wirkten. Er vertieft sich
345
hier in politisch-radikale Schriften, ist empfänglich
für den Romansozialismus Eugene Sues, dessen „sehr
anregende Diskussionen über jetzige soziale Verhält-
nisse, besonders über die Erleichterung des traurigen
Loses der arbeitenden Klassen" ihn mächtig bewegen.
Er verbummelt ein wenig, bleibt nicht ohne studen-
tische Disziplinarstrafen, mit einem schlechten Zeugnis,
der Wirkung eines alsbald von ihm selbst beklagten
„wilden und leidenschaftlichen Studentenlebens" tritt
er in die hannoversche Beamtenlaufbahn ein, die er
unruhig und unzufrieden sofort wieder aufgeben will.
Er denkt an den akademischen Beruf, er träumt von
dem Professor als Schöpfer und Former eines neuen
staatlichen und gesellschaftlichen Lebens: „Die Wis-
senschaft muß sich vom Schulstaub immer mehr be-
freien und nur in einer höheren Auffassung und Ge-
staltung des Lebens ihr Ziel suchen, dann hört sie
aber von selbst auf, reine Theorie zu sein, und wird
gewiß in edlerem Sinne „eine praktische" genannt
werden können als die gesamte Beamtenschreiberei",
schreibt er 1846 an den Vater. Er sieht den Sturm
kommen, der alle europäischen Verhältnisse aufzu-
wühlen droht und schwärmt : „Soll nicht zum zweiten
Male in Europa eine jahrhundertelange Barbarei,
folgend auf eine ebenso lange dauernde Umwälzung
an die Stelle einer dem Untergange nahen Kultur-
epoche treten, so ist das nur durch eine Vereinigung
der im Volke liegenden schöpferischen Kraft und noch
ungebrochenen Leidenschaft und des wärmsten, auf-
opferndsten wissenschaftlichen Eifers aller derer aus
unseren sogenannten gebildeten Klassen möglich, die
für das Wohl der Menschheit noch einer Begeisterung
fähig sind und die an einer glücklichen Entwicklung
zu einer besseren Epoche noch nicht verzweifelt haben."
Schon regt sich in solchen Wendungen ein radikaler
Geist.
Aber Bennigsen ist schon früh ein Mensch von
346
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schnellem Verzicht. Die nebensächliche Hemmung,
daß er als Beamter keinen Urlaub erhält, um sich auf
die Universitätskarriere vorzubereiten, bestimmt ihn,
den Plan überhaupt aufzugeben. Doch er geht von
der Verwaltung in die freiere Richterlaufbahn über.
Noch hat er einen Hang zur goldenen Mitte
der Lebensauffassung. Er verabscheut in seiner reli-
giösen Weltanschauung Atheismus und Materialis-
mus, aber ebenso den Katholizismus und die protestan-
tische Orthodoxie, und erwartet eine neue Reformation.
Ein Besuch im Kölner Dom erfüllt ihn mit Wider-
willen: „Kein Ende nahm das Knien und Knixen und
Räuchern und Klingeln. Bequem ist die katholische
Religion wahrlich, aber wo bleibt die menschliche
Würde bei diesen Spielereien?" Und er sehnt sich
nach einem Befreier: „Wann wird endlich der für
das schwer ringende Deutschland so notwendige
Genius erstehen, der an die Stelle des verfallenden,
in dem Bewußtsein der größeren Menge der gebildeten
Männerwelt wenigstens verloren gegangenen Christen-
tums einen Ideenkreis von gleicher Fülle und Inner-
lichkeit und gleicher Gestaltungskraft für alle Lebens-
verhältnisse zu setzen imstande ist r"
II.
Die tolle Wunderkraft des Jahres 1848 läßt Bennig-
sens Ideen rasch zum äußersten Radikalismus klären.
Er bleibt Zuschauer der Ereignisse, aber ein tief hin-
gerissener Zuschauer. Er ist Republikaner, Demokrat,
ein wenig selbst Sozialist. Er findet die bittersten
Worte über die Monarchen und Monarchien, die
herrschenden Klassen und Parteien. Aber er verbindet
mit dem Enthusiasmus für die Ideen ein helläugiges
Mißtrauen für die Menschen, die sie verwirklichen
wollen — bis zur verzweifelnden Menschenverachtung,
die ihn zugleich scharfsichtig macht und ihn bald den
347
Zusammenbruch der überschwenglichen Hoffnungen
voraussehen läßt.
Der Anfang des Jahres 1848 findet Bennigsen als
Auditor in Osnabrück, wo mit ihm Windthorst und
Planck, der spätere Hauptschöpfer des deutschen
bürgerlichen Gesetzbuchs, wirken. Mit 23 Jahren
erlebt er die Revolution. Er neigt zum linken Zentrum
in Frankfurt a. M. und dilettiert in sozialistischen
Gedanken französisch-utopistischer Herkunft. Und
am Anfang des Jahres erwartet er naiv die unblutige
deutsche Revolution, die Deutschland die Einheit
und Freiheit bringen soll, von den Fürsten, die sich
freiwillig durch die Parlamente auf die Stellung
englischer Lords herabdrücken lassen. „Wäre eine
Politik, die freiwillig den Übergang von der Monarchie
zur Republik herbeiführt, indem sie sich mit der Rolle
eines konstitutionellen Königs begnügt, eines deutschen
Königs nicht würdig . . .!" (6. März.) Er hofft
auf Männer wie Lamartine und Louis Blanc, deren
Partei „durch den Sozialismus den Kommunismus
und mit ihm die Anarchie" bewältigen könnte. Eine
„großherzige Politik" vermöchte das mittlere und
westliche Europa vor Kriegen zu bewahren, „die
endlich zu einem furchtbaren Prinzipienkampfe zwi-
schen Dynastien und Völkern nicht bloß — da wäre
der Sieg schon entschieden — , sondern auch zwischen
Besitz und Arbeit führen, wo der geistige Kampf erst
begonnen hat — also zur Barbarei". So trübe werde
es jedoch nicht werden. Deutschlands Werk wäre es
vielmehr, „nachdem ihm durch Frankreichs letzte Re-
volution die politische Entwickelung gesichert ist", jene
„Einheit von Altertum und Christentum" heraufzube-
schwören, die neue Religion einer praktischen Liebe,
die von dieser Welt wäre und die die Aufgabe durch-
führte, „das physische und geistige Elend der arbeiten-
den Klassen durch die Energie der Vernunft und der
Liebe in dem neuen sozialen Staate zu bewältigen".
34«
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In dem Wirbelsturm der rasenden Ereignisse ver-
wehen schnell solche Illusionen und Phantasien. Ganz
anders schreibt Bennigsen wenige Tage später, nach
den deutschen Märztagen, am 22. März: „Schwarz-
rot-goldene Fahnen wehen von vielen Häusern, die
deutsche Kokarde trägt beinahe jeder. Alle paar Tage
große Volksversammlungen, sogar auf offenem Markte . . .
Mit Freiheit und Gleicheit wird man in den Schlaf
gesungen und wieder aufgeweckt." Er berichtet be-
geistert der Mutter von der einstimmig angenommenen
Petition um ganz allgemeines Wahlrecht und um so-
fortige Beeidigung des Militärs auf die Verfassung.
Er interessiert sich für das Landproletariat: „Die
Lage der hiesigen Heuerleute (Zeitpächter) den
Kolonen (Grundeigentümer) gegenüber soll sehr
drückend sein, die französischen sozialistischen Zu-
sicherungen sind in gedruckten Proklamationen von
der äußersten Partei auch hier schon unter das Volk
geworfen." Er zeichnet mit unverhohlener Genug-
tuung dieses revolutionäre Erlebnis, das seinem
Standesgenossen Schele-Schelenburg passierte. Der
hat einem seiner bäuerlichen „Untertanen" einen
Hund totgeschossen. Die Bauern lassen einen großen
schönen Sarg für den Hund zimmern, legen ihn hinein,
tragen ihn in feierlicher Prozession vor das Erbbegräb-
nis des Herrn v. Scheie. Eine Deputation erscheint
vor dem Herrn und fordert ihn auf: „Er möge diesen
Hund zu den anderen Hunden in die Gruft stellen
lassen."
Der ganz unwiderstehliche Zug der Bewegung werde
nun auch dem Blindesten klar: Deutschland einig und
das Volk frei! Eine Demonstration vor dem Schloß
dünkt Bennigsen recht angenehm': „Tausende hatten
das Schloß belagert. Als der König nicht nachgeben
wollte, ist ein Zettel mit den Konzessionen dem Herrn
v. Münchhausen (dem Kabinettsrat des Königs) über-
geben worden mit dem Bedeuten, „wenn nicht binnen
349
fünf Minuten alle diese Punkte bewilligt seien, so
würde man das Schloß und Palais an allen Ecken
anzünden". Diese Drohung hat durchgeschlagen.
Zwei Jahrzehnte später durfte Graf Münster, der
spätere Pariser Botschafter, an jene Hannoversche
Schloßszene von 1848 in folgender Weise zu erinnern
wagen — in einem Brief an Bennigsen: „Ich sehe den
Mann (Münchhausen) noch immer, wie er .... sich
auf der Leinestraße durch zwei Hoflakaien auf einen
Stuhl heben ließ und dem versammelten Pöbel, den
hundert Bummlern, zweihundert Straßenjungen und
einigen Zuschauern ... die verlangten Konzessionen . . .
in langer Rede im Namen des Königs zugestand".
Pöbel, Bummler und Straßenjungen waren nach der
Bismärckischen Restauration aus dem Volk von 1848
• geworden, dessen Kundgebung damals Bennigsen so
gewaltig schien, daß er die Frage aufwirft: ob der
König, „überzeugt von dem Recht dieses überein-
stimmenden deutschen Willens, die gänzliche Ret-
tungslosigkeit seines Systems eingesehen und aufge-
geben habe, um seinem Enkel den Thron zu sichern ?
Armes Kind ! Wenn du erwachsen bist, wird es keinen
Thron mehr zu besteigen geben". Eine Prophezeiung,
die freilich nur für die Weifen, nicht für die Throne
in Erfüllung ging. 1848 aber dachte Bennigsen über
das Schicksal der Hohenzollern nicht anders, wie über
das der Hannoveraner:
Über das schandliche Verfahren des Königs von
Preußen ist auch bei allen Konservativen nur eine
Stimme. Diese unselige Nacht hat aber den großen
Erfolg, daß keine freie Nation ihr Schicksal ferner
dem Zufall der Geburt anvertrauen wird und einem
solchen frömmelnden, unfähigen Scheusal die Macht
gibt, ein Volk in den Abgrund zu stürzen. Während
einer solchen Nacht hat sich seine Eitelkeit und
Frömmelei endlich in ihrer wahren Nacktheit ge-
zeigt. Die gezwungene Demütigung war aber auch
350
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eine furchtbare Rache für einen Frömmler." (Brief
vom 22. März.)
Über das Recht der Revolution wird in diesen Früh-
zeiten Bennigsens nicht diskutiert; mit keiner Silbe
wird darüber vernünftelt, die ganze Rechtsfrage
fehlt so völlig in seinem Bewußtsein, daß er gar nicht
an sie denkt. Alle Lügen des feudal-absolutistischen
Zeitalters sind auf einmal zerstoben, die bewährten
germanischen Gefühle für Thron und Altar, für Ord-
nung und Sitte entkleidet und verloren. Selbst der
alte Vater bereitet sich ernsthaft auf den neuen Zu-
stand der Dinge vor, er, der Militärbevollmächtigte
des Deutschen Bundes, macht Vorstudien für eine
Verbindung des stehenden Heeres mit der Volks-
bewaffnung. Seine Vorschläge wurden auch gedruckt,
sie zielen zugleich auf höhere Wehrhaftigkeit, Besei-
tigung des militärischen Kastengeistes und eine
innigere Verbindung zwischen Volk und Heer ab
(Linie mit stark verkürzter Dienstzeit, Bürgerwehr,
militärischer Unterricht in den Schulen, Abschaffung
der Garde und der Kadettenhäuser). Der Sohn
grübelt derweilen über die Demokratisierung der
Rechtsinstitute. Öffentlichkeit und Mündlichkeit des
Strafprozesses ist nur ein Anfang. „Das Recht, wie
es doch seine Natur verlangt, wieder vollständig in
Volksbewußtsein und Sitte wurzeln, daher sein leben-
diges Bestehen und seine gute Fortbildung nehmen
zu lassen, das ist freilich das Ziel, in welchem alle
einig sind." Die beginnende Wiederbelebung des
Adels ist ihm ein Abscheu. Er ist mit den Demo-
kraten, „die durch Eifer und Talent ihre Zahl ver-
doppeln", erbittert über den „krassen Egoismus der
hiesigen Patrizierfamilien", und er legt das Bekenntnis
ab: „Ich glaube jetzt an den Sieg der Freiheit in der
Demokratie so fest wie an mein eigenes Dasein und
nicht minder daran, daß wir nicht wie Frankreich
58 Jahre mit fünf Revolutionen mit Strömen von Blut
551
zu demselben werden nötig haben." (16. Mai 1848.)
Einen Monat später ist er mit der Politik der äußersten
Linken in Frankfurt höchst unzufrieden, deren Ziele
er sich doch zu eigen macht:
„Schade ist es immer, daß sich so kräftige Persön-
lichkeiten wie Hecker und Rüge bislang so traurige
Rollen auferlegt haben, um so mehr, als man doch
jede Stunde mehr sich überzeugt, daß das Prinzip
der linken Partei Deutschlands, die reine Demokratie,
und damit die frühere oder spätere Errichtung der
Republik siegen muß. Was ist aus der Kaiseridee ge-
worden ? Was überhaupt aus den Doktrinen von Gervi-
nus und Dahlmann ? Ohne Diskussion sind diese Ge-
danken eines konstitutionellen monarchischen Ober-
hauptes zu Boden gefallen, und doch ist es an sich klar
und von der doktrinellen Partei evident bewiesen,
daß ein republikanisches Haupt und monarchische
Fürsten sich gegenseitig nicht dulden können. Wer
aber da siegen wird, scheint mir trotz aller äußerer
Eventualitäten bei der in geometrischer Progression
täglich wachsenden Energie des demokratischen Geistes
keinen Augenblick zweifelhaft. Umsonst hat die Neme-
sis der Geschichte nicht auf fast alle Throne Europas
und speziell Deutschlands Fürsten gesetzt, entweder
an Geist oder an Willen oder auch an beiden unfähig
für die Bewältigung, und wäre es auch nur eine mo-
mentane, der heutigen Bewegung." (23. Juni 1848.)
Er eilt im Sommer 1848 nach Frankfurt, hört in
fiebernder Erregung die Verhandlungen in der Pauls-
kirche und denkt daran, in das Reichsministerium des
Äußeren zu treten, wie der junge Chlodwig von Hohen-
lohe, ohne sich doch ganz die Laufbahn in Hannover
verderben zu wollen. Der Septemberaufstand zerstört
den Plan Bennigsens; er kehrt im Herbst in die Osna-
brücker Gerichtsstube zurück. In Hannover vollzieht
sich eine radikale Beseitigung der Junkerherrschaft.
Die erste Kammer, bisher die unumschränkte Domäne
352
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der Ritter, wird eine „zweite zweite" Kammer, in der
die Bauern die Mehrheit haben. Trotzdem ist sein
Radikalismus nicht befriedigt. In verzweifelnder
Resignation und doch zukunftsgläubig sieht er die
neue Erde wieder im Nebel verschwinden. Sein enger
Beruf ekelt ihn; wird er doch täglich, stündlich daran
erinnert, „daß eine Welt in Trümmer geht, in der man
doch lebte, wenn man sie auch haßte". Der Sieg
kommt nicht so rasch. „Sind wir doch nur die vor-
dersten Linien eines stürmenden Heeres, und erst
wenn wir mit unseren Leibern den Graben ausgefüllt
haben, wird es der nachdringenden Generation ge-
lingen, über uns hinweg die Bresche zu nehmen. Den
Staat der Liebe sollen wir gründen helfen, und unsere
Waffen sind der Haß, unser Ziel die Vernichtung.
Und alle träumten doch so schön, die Alten von ihrer
demokratischen Monarchie, die alles versöhnen, und
die Jungen von der sozialen Republik, die den Himmel
auf Erden verwirklichen sollte. Aber das Register
hatte ein Loch." Den deutschen Fürsten und Aristo-
kraten sei es ebensowenig ernst mit einer konstitu-
tionellen Monarchie, wie Ludwig XVI., und trotz
Louis Blanc und G. Sand sei der gemeine Mann
ebenso roh wie die mittleren und höheren Klassen.
Seine Bekannten wollten von seinen radikalen Grund-
sätzen nichts wissen, und mit den Osnabrücker Radi-
kalen möchte er wieder nichts zu tun haben, da sie
an Engherzigkeit und Roheit ihresgleichen suchen,
klagt er der Mutter am 4. November 1848.
In düsterster Volksfeindstimmung beendigt er das
Jahr der zertrümmerten Verheißungen:
„In unseren deutschen Angelegenheiten sehe ich
auch täglich schwärzer. Der Enthusiasmus ist überall
verflogen, und der Bodensatz, der geblieben, stinkt.
Trunkene Reformatoren und jugendliche Helden
haben wir gehabt, und den Intriganten und Jesuiten
sind wir wieder in die Hände geraten. Nüchtern ist
33 Bim er, Gesammelt« Schrift«. I.
353
man geworden; aber der Katzenjammer ist noch keine
Klarheit. Und dazu als breiteste demokratische Basis
unser deutsches Gelehrten- und Philistertum! Man
könnte rasend werden . . . Wenn uns nicht bald große
Ereignisse packen und zusammenschütteln, daß wir
etwas munter und frisch werden, so liefern wir mit
allen Märzerrungenschaften nichts als den aller-
elendesten Abklatsch des 16. und 17. Jahrhunderts.
So ein Stück dreißigjährigen Krieges, im Lichte der
neuesten Zeit. Wie würden unsere Nachbarn Chorus
machen: Hot Österreich, hü Preußen, faß ihn, Pro-
testant, pack ihn, Katholik ! Für diese dicken, dummen
deutschen Schädel ist nichts unmöglich."
Im März 1849, nach der Frankfurter Kaiserwahl,
zuckt die Hoffnung wieder empor, um bald wieder
für immer zu verlöschen. Schon taucht das national-
liberale Dogma auf „von dem Grundübel der Deut-
schen, dem eigensinnigen Beharren auf der sofortigen
und vollständigen Verwirklichung ihrer Prinzipien".
Noch aber ist er gegen die Gemäßigten. Unerbittlich
werde die Geschichte die ins Deutsche übertragenen
Girondiers richten, die sich so jämmerlich in der Natur
der deutschen Fürsten getäuscht, die in feiger Ver-
zweiflung den Platz verlassen, auf den das deutsche
Volk sie gestellt. „Ich hasse diese Männer, und doch
sehe ich klar, daß nur mit ihrer Hilfe Deutschland zu
retten ist." Und zum erstenmal schaut er klarer in
den sozialen Urgrund der Dinge: „Was bedeuten heut-
zutage das absolute Veto, die Monarchie selbst, wo
in der nächsten Zukunft ein zufälliges Ereignis, ein
paar Mißernten oder irgendein an sich gänzlich
äußerlicher Umstand einen sozialen Kampf hervor»
rufen kann, in dem, so roh und aller oragnisierenden
Kraft bar, wie die sozialen Lehren bis jetzt noch sind,
alle Kultur und Menschlichkeit zugrunde gehen
müßte." (22. Mai 1849.) »»Auf die niederträchtigen
preußischen Mittelklassen mit ihrer besonnenen Bettel-
354
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Weisheit" kann er im Juni 1849 nicht mehr rechnen,
und wie in einer Ahnung seines eigenen späteren
Schicksals spottet er über die „politischen Handlanger,
die ewig nur von einem Tage zum anderen leben",
über die „Politik des fait accompli". Ja, er weiß auch
die letzte Ursache deä Scheiterns der Revolution:
„Da kam die Furcht vor der roten Anarchie, und die
ewige Halbheit und süßliche Gutmütigkeit, alles läuft
davon; die großen liberalen Blätter liebäugeln mit der
Frankfurter Verfassung links und den Berliner Pro-
jekten rechts."
Sein Abschied von der Revolution ist bitter. Er
sagt allen Hoffnungen auf Freiheit und politische
Macht in Deutschland Lebewohl. „Denn was die
Regierungen von geschenkter Freiheit halten, wenn
an die Stelle der Furcht bei ihnen die Verachtung
getreten ist, haben wir doch zur Genüge gesehen."
(9. Juni 1849.)
III.
Auf den unerhörten Aufschwung des Revolutions-
jahrs — mehr ein Aufschwung des Gefühls als der
Tat — folgt die trostlose Zeit der reaktionären Starre,
in der alles Hoffen versiegt und alles Handeln polizei-
lich verboten ist. Der unpolitische Deutsche pflegt
sich in politischen Perioden, ohne sonderliche Ungeduld
und Qual, in Philosophie, Kunst und Familienkultus
zu flüchten. So folgen auch bei Bennigsen auf revolu-
tionäre Ergüsse gänzlich unpolitische Liebesbriefe an
die Verlobte, die bald sein Eheweib ward; Briefe von
einer eigentümlichen kühlen Zartheit, ohne leiden-
schaftliche Ausbrüche, mehr Umschreibungen des
bürgerlichen Rechts als Offenbarungen innerster
Empfindungsglüt. Es sind — fast möchte man voraus-
nehmend sagen — nationalliberale Liebesbriefe. Sie
kennzeichnen in der Tat auch den Politiker und seine
Partei : Die große revolutionäre Phantasie, die Grund*
»3- 355
bedingung des starken, geschichtlich wirkenden Gei-
stes, das Ungestüm, das brennende Hirn in der Ver-
wirklichung seiner verzehrenden Gebilde zu löschen,
ist ihm fremd. Der Mann, der einmal Raimunds
Märchen- und Zauberspiele „scheußlichen Unsinn"
nennt — nach zwei Akten vom „Bauer als Millionär"
wurde ihm übel und er ergriff die Flucht — , hatte
nichts von einem Romantiker. Aber vielleicht gerade
deshalb war er auch niemals das, was er sein wollte,
ein Realpolitiker. Indem er immer auf Gelegenheiten
lauerte, ergriff er keine. Sein jugendlicher, demo-
kratisch und selbst sozialistisch gefärbter Radikalismus
wandelte sich schnell in einen staatsmännischen Libe-
ralismus, der idealer Zielgedanken nicht entbehrte.
Bennigsen wird der Gründer der ersten großen
Parteibildung in Deutschland, des Nationalvereins,
er ist sein Präsident von Anfang bis zum Ende, und
er steht an seinem raschen, ruhmlosen Grabe, wie an
seiner hoffenden Wiege. Der deutsche Liberalismus
vor den Bismarckschen Kriegen hat noch politisches
Feuer, aber es genügt gerade nur, um die Öffentliche
Meinung ein wenig anzuwärmen und im übrigen
seinem Todfeind, Bismarck, damit das Brennmaterial
zu liefern, mit dem er Deutschland anzündete, um
Preußen auszubauen; mit dem er das liberale Bürger-
tum ausräucherte, um die dynastische Junkerherrschaft
des Ostens zu verewigen.
Von allem geschah das Gegenteil des Erstrebten:
Das war das Schicksal des deutschen Liberalismus
und Bennigsens. Einmal — 1866, am Vorabend des
deutschen Krieges — trat an ihn das Angebot regie-
render Macht heran, aber in der Form einer schamlos
entehrenden Bismarckschen Aufforderung zum Hoch-
und Landesverrat; für solche Dienste war Bennigsen
nun wieder zu wohlanständig. Und ab schließlich der
Traum seines Lebens sich erfüllte, die deutsche Ein-
heit, da war es doch gerade nur das verhaßte und be-
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kämpfte Großpreußen ohne Freiheit, und Bennigsen
selbst und seine National vereinler waren, wie er in
einem Brief vom 26. Juli 1866 schrieb, in dem ent-
scheidenden Augenblick nicht die Sieger, sondern unter
den Zuschauern.
In den wirren, ohnmächtigen und zielzittrigen Stre-
bungen des Nationalvereins erkennt Bennigsen wohl
bisweilen die Ursache aller Mißerfolge, und er sehnt
sich nach der Hilfe der großen starken Volksmasse der
Besitzlosen, aber er beruhigt sich doch immer gleich
wieder bei jener redefrohen und kongreßlustigen
Politik, die nicht einmal bürgerliche Klassenpolitik ist,
sondern nur betriebsame Honoratiorenpolitik. Er
schilt über dieses feige, unlustige, zu keinem Opfer
fähige deutsche Bürgertum, aber er geht über seine
Grenzen nicht hinaus. Er sieht wohl das schnelle
Ende aller rein demonstrativen Politik, die bald die
Grenze der Steigerungsmöglichkeit und damit des
Erfolges erreicht, aber er stürmt doch nur — von
Demonstrationen zu Demonstrationen. So ist der
Liberalismus von Anbeginn der Lärm eines Dinges,
das im Grunde nicht existiert. Nur eins mag ihm
in seinen Anfängen zum Ruhm dienen: seine An-
hänger wurden verfolgt und sie hielten den Ver-
folgungen stand . . .
Die preußische Reaktion, die nach Hannover über-
greift, begleitet Bennigsen zunächst mit brieflichen
Flüchen. Er versteht die Schandtaten der preußischen
Machthaber; „der Ärger, vor einem so feigen Gesindel
— den „konstitutionellen Helden" — , das freilich
die Peitsche täglich verdient und freudig empfängt,
jemals gezittert zu haben, mag groß genug sein",
schreibt er Anfang 1850 an die Mutter. Eher werde
der Prinz von Preußen eine Palastrevolution machen,
„als die preußische konstitutionelle Partei mit ihrer
langweiligen Philist erhaftigkeit und überklugen Feig-
heit das Verständnis erhält, daß man nach einem
357
jahrelangen Nachgeben wenigstens in der einen Stunde
eine so wohlfeile Festigkeit zeigen muß, wo es . . .
alles zu gewinnen und gar nichts zu verlieren gibt'*.
Aber man brauche ihnen nur mit dem Arnim und
Gerlach zu drohen: „Wartet nur! Seid artig, oder der
Butzemann kommt! Und sie waren artig." — Die
ewige liberale Furcht vor der noch schlimmeren
Reaktion! Bald sollte Bennigsen selbst mit dem „Ge-
sindel" Politik treiben müssen.
Noch sieht er bisweilen den Sieg der freilich schon
geläuterten Revolution voraus. Der fürstliche Wahn-
witz wird in wenigen Jahren auch die ruhigsten
Männer zur Verzweiflung und Leidenschaft und an
die Seite der Partei treiben, welche vor Jahren aller-
dings zum großen Teil aus unreifer Jugend, blinder
Wut und entfesselter Roheit zusammengesetzt war,
die aber dann auch gewiß durch äußere und innere
Erfahrungen gekräftigt und geläutert den Kampf
beginnen und den Sieg festhalten wird. (i. Juli 1850.)
Drohender klingt es am Ende des Jahres aus Bennig-
sens Briefen: „Die Ruhe unserer europäischen Kön:gs-
geschlechter über so viel Gräbern soll nicht durch
böse Erinnerungen und Träume allein gestört werden.
In höchstens einem Dutzend Jahren wird es ja wohl
wieder gewittern und dreinschlagen, und von uns
Jüngeren schwören täglich mehrere im stillen, daß
man, einerlei ob Konstitutioneller oder Radikaler,
durch elende Versprechungen im Augenblicke der
Furcht sich nicht wieder täuschen lassen wird. Man
wird die ganze Gesellschaft nach Amerika schicken
und nachher sich zu einigen suchen, ob man sich einen
König oder Präsidenten setzen will."
Doch diese königsmörderischen Stimmungen ver-
ebben mit den Jahren, und ein halb Jahrhundert
später, beim Jubiläum der Revolution, war es Bennig-
sen, der gegen Bebels Verherrlichung der Märztage
im deutschen Reichstage auftrat!
358
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Die äußeren Schicksale Bennigsens zeigen den Mann
von Charakter. Er wird Richter und Staatsanwalt
(1850 — 1856}; einsam und unbefriedigt in klein-
städtischer Enge. Die Reaktion lastet auf seinem
Gemüt. Scharf erkennt er im konterrevolutionären
Preußentum den klerikalen Grundzug. Alle Re-
aktion in der modernen Zeit ist irgendwie klerikal.
„Tut Buße, kreuzigt eure Vernunft und fallet vor
uns nieder, predigen die Jesuiten schon am Rhein,
in Münster, in Osnabrück. Das protestantisch pieti-
stische Gesindel, welches freilich der Kreuzigung der
Vernunft überhoben bleibt, drängt sich zu ihren
Predigten . . . Und der preußische Minister lächelt
blödsinnig über die Niederlagen der Revolution und
bereichert die Literatur mit albernen Gleichnissen
und Noten, während die „Kreuzzeitung" lehrt, daß
die Zeit erfüllt ist und die Rückkehr in den Schoß
der alleinseligmachenden Kirche kommt. Die Träume
der Romantiker und die Phantasien von Radowitz
erhalten Form und Wirklichkeit. In dem einen
Jesuitenorden ist wieder mehr Wille und Kraft als
in sämtlichen protestantischen Regierungen . . . Was
seine Macht nicht tut, bewirkt der entsetzliche Taumel
und jene angstvolle Verblendung, die in einer Zeit,
wo die Reiche zerfallen, die Kirchen sich auflösen, wo
den Gesetzen die Furcht und dem Glauben die Hoff-
nung genommen ist, alle Menschen überwältigte,
welche den festen Halt nicht in sich, sondern nur in
äußeren Schranken und Mächten tragen." So schreibt
er 1851 an die Mutter. Aber solche briefliche Ge-
ständnisse eines aufrechten Liberalismus hindern ihn
doch wieder nicht, recht peinliche Adelsvorrechte für
seine hannoversche Laufbahn eifrig nutzbar zu machen.
Staatsanwalt in Hannover, geht er aus Gründen poli-
tischer Unabhängigkeit in das Richtertum über —
nach Göttingen. Er neigt zur Menschenfeindschaft,
verliert die Lust an Leben und Wissenschaft. Er tritt
359
nicht öffentlich hervor. Die hannoversche Reaktion
begleitet er zunächst nur als zorniger Beobachter.
Dann aber wird er in die Verfassungskämpfe seines
Heimatstaates hineingestoßen, unfreiwillig, und nun
wächst er rasch zum tapferen Vorkämpfer des Libera-
lismus empor, wird der anerkannte Führer im Parlament
und in der Parteibewegung, gehört zu den volkstüm-
lichsten Gestalten der bürgerlichen Opposition in
Deutschland und gewinnt europäischen Ruf. Als die
Regierung ihm nicht erlaubt, sein Mandat in der
Ständeversammlung auszuüben — das soeben ok-
troyierte Wahlgesetz forderte für die Beamten solche
Erlaubnis — , zieht er entschlossen die letzte Konse-
quenz, scheidet aus dem Staatsdienst aus (1856) und
widmet sich der Bewirtschaftung seines Familiengutes.
Seitdem ist er ein unabhängiger Landwirt.
Die hannoversche Reaktion ist ein Werk des deut-
schen Bundes, der dort die vorher beseitigte Adels-
herrschaft gewaltsam wiederherstellte, gerufen von
einem geistig verwirrten Gottesgnädling auf dem
Throne! Es ist der Fluch der deutschen Einheit, daß
ihre Form immer ohnmächtig zu allem Guten und
Freien war, dagegen stets brutal in der Exekution der
Unterdrückung und des Rückschritts. Der preußische
Bundesrat des Deutschen Reichs hat in dieser Hin-
sicht das Erbe des seligen Bundes angetreten: Die
nationale Konzentration als Werkzeug reaktionärer
Absonderung!
In den parlamentarischen Kämpfen verteidigt Bennig-
sen mit besonderer Energie die völlige Unabhängig-
keit der Beamten. „Man will diesen unteren Organen"
— ruft er dem Minister v. Borries entgegen — „alle
eigene Meinung, Freiheit und Selbständigkeit nehmen
und sie unbedingt der Willkür der konzentrierten
Organe, speziell des Ministerii, preisgeben." Er weist
auf das Beispiel Frankreichs hin: „Was nutzten die
Maschinen, zu denen man die Staatsdiener herab-
360
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gewürdigt hatte, als es ernstlich darauf ankam, die
Monarchie zu stützen ?" Die Charakterfestigkeit, die
freudige Erfüllung der schwierigen Pflichten müsse
für den Beamtenstand verloren gehen, wenn man
von ihm verlange, sich den Ansichten, den wechselnden
Ansichten der Regierung stets unterzuordnen, wenn
man ihm den Stolz nehme, selbständig zu handeln,
wenn man ihn darauf hinweise, politische Belohnungen
zu suchen, politische Strafe zu fürchten. Er fordert
die Vereidigung der Beamten auf die Verfassung, die
nicht Bediente des Königs sein dürfen.
Bennigsens hannoversche Opposition ist durchaus
radikal. Er verweigert dem Staat 1857/58 die Aus-
gaben für Kasernenbauten, weil es sich bei derartigen
Bewilligungen um die Gesamtheit des politischen
Systems handelt, dem das Volk Opfer zu bringen hat.
Er greift die Politik der Pfaffen, der „kleinen Nach-
folger eines großen Apostels" an, die sich als diejenigen
darstellen, „welche allein den Zorn und das Gericht
Gottes zu verwalten haben". Er verteidigt das Recht
auf Revolution: Die Inhaber der Gewalt verzichten
nie freiwillig auf sie. Man muß sie ihnen entreißen.
Wenn man derartige zwingende Verhältnisse als ein
Unrecht auffasse, so hebe man damit die Möglichkeit
aller geschichtlichen Entwicklung der rechtlichen und
politischen Verhältnisse auf, man gebe sich dem
Dogma unpraktischer Stubengelehrter hin, demzufolge
lediglich die Gewalt der Stärkeren über den Schwä-
cheren bestimmend sei. Bennigsen tritt für die Bürger-
wehr ein. Wenn die Regierung so wenig Vertrauen
im Volke genieße, daß man sich scheuen müsse, Waffen
in den Händen der Bürger zu sehen, dann werde
doch alles gar nichts helfen.
IV.
Die große europäische Krisis des Jahres 1859, in
der die Marx, Engels, Lassalle den Weg des Sozialis-
361
mus und der Demokratie kündeten, gedeiht für
Bennigsen zur Schöpfung der Partei des Liberalismus.
Der National verein wird begründet.
Die große Auseinandersetzung zwischen Frankreich
und Österreich im Jahre 1859 brachte alle deutschen
Fragen in Fluß. Die aufsteigende Bourgeoisie bedurfte
für wirtschaftliche Zwecke der politischen Einheit.
Darüber herrschte Übereinstimmung. Nur über Form
und Mittel gingen die Meinungen immer weiter aus-
einander. Sollte Österreich ein- oder ausgeschlossen
werden? Sollte es die Führung übernehmen? War
Süddeutschland einzubeziehen ? Oder mußte man
sich vorerst mit der Einigung Norddeutschlands be-
gnügen? Einheitsstaat oder föderative Verfassung?
Monarchie oder Republik ? Preußische Spitze oder
rheinbundähnliche Organisationen mit süddeutschem
Übergewicht ? Einheit oder Freiheit oder beides
zugleich oder in welcher Rangordnung, erst die Freiheit,
dann die Einheit oder umgekehrt ? Zwei Strömungen
sonderten sich : Die großdeutschen Einheitsbestrebun-
gen, demokratisch süddeutsch, alle deutschen Stämme
umfassend. Die großpreußische Bewegung, nord- und
mitteldeutsch, liberalisierend, bundesstaatliche Ver-
fassung mit gemeindeutschem Parlament und preu-
ßisch-monarchischem Oberhaupt. Die großpreußische
Bewegung fand in der 1859 erfolgten Gründung des
Nationalvereins ihre Parteiorganisation. Aber unter
den Leuten des Nationalvereins war man wiederum
in keiner Frage einig. Nur das Ziel irgendeiner Einheit
stand fest. Mit den Vokabeln Einheit und Freiheit
wurde jongliert, und die Freiheit ließ man gern auf den
Boden rollen — Jongleur und Parodist komischen Un-
geschicks zugleich. Auch über die preußische Vormacht-
stellung war man sich ziemlich einig, nur wollte man
mit dieser Ehre nicht das wirkliche, das reaktionäre, ver-
junkerte und verpfaffte Preußen betrauen, sondern ein
ideales Preußen, das man aus Illusionen auferbaute.
362
Der Nationalverein begann seine die Gründung vor-
bereitende Tätigkeit mit jener Erklärung, die Preußen
mit allen schönen Aufgaben vertrauensvoll belehnte:
„Möge Preußen nicht länger zögern, möge es offen
an den patriotischen Sinn der Regierungen und den
nationalen Geist des Volkes sich wenden und schon in
nächster Zeit Schritte tun, welche die Einberufung
eines deutschen Parlaments und die mehr einheitliche
Organisation der militärischen und politischen Kräfte
Deutschlands herbeiführen, ehe neue Kämpfe in Eu-
ropa ausbrechen und ein unvorbereitetes und zersplit-
tertes Deutschland mit schweren Gefahren bedrohen.*4
Eine Erklärung, die auf Preußen den Eindruck machte,
daß der Versuch unternommen werden könnte, ein
paar einflußreiche nichtpreußische Politiker für Preu-
ßen zu kaufen; Preußen treibt ja seit jeher den Ankauf
nichtpreußischer Geheimagenten im großen Stil.
Mit Bennigsen wurde durch den Staatsrechtslehrer
Karl Aegidi verhandelt, der bis in unsere Tage als
zählebiges, preußisches Reptil wirkte. So viel wurde
erwirkt, daß man mit den preußischen Liberalen
Fühlung bekam. Zudem wendete das herrschende
Preußen den anderen, immer wiederholten Trick an,
liberal zu schillern. Auf die wilhelminische „neue
Ära" und den „völligen Umschwung" nach den Toll-
hauszeiten Friedrich Wilhelms IV. fielen alle liberalen
Gründlinge gründlich herein. In der hannoverschen
Ständeversammlung feierte damals Bennigsen das neue
Preußen, das die Ideale von 1848 praktisch durch-
führe. Schon seien Konstitutionelle und Demokraten
einig. Aber auf diese radikalen Preußenträume ant-
wortete der Minister v. Borries (nicht mit Unrecht), das
seien alles Utopien, und dazu strafwürdige Utopien,
weil man an die Massen bis zu den „unteren Hand-
werkerklassen" hinab appelliere.
Der Koburger Herzog Ernst, der dem National-
verein als gefürsteter „Volkstribun" betriebsam,
363
eitel und ungeschickt 'voranmarschierte, wollte ur-
sprünglich einen straff zentralisierten Geheimbund
organisieren. Aber die Männer des Nationalvereins
wollten in der Mehrzahl loyale Untertanen bleiben.
So wurde er als öffentlicher Verein gegründet. Mit
Bismarck, dem Erzjunker, versuchte man vergebens
anzuknüpfen. Bald sollte der Sturz Bismarcks, als
Vorbedingung jeden Einheitskampfes, die lauteste
und wirksamste Losung der Nationalvereinler werden.
Und Bismarck hatte man in Verdacht, daß er bereit
sei, die nationale Todsünde zu begehen und das linke
Rheinufer an Frankreich auszuliefern, um sich in
Norddeutschland zu arrondieren. Der bekannte Pro-
fessor Biedermann beruft sich in einem Brief an
Bennigsen vom Februar 1860 auf derlei Pariser Infor-
mationen. Es sei darüber schon mit „gewissen diplo-
matischen Persönlichkeiten (nicht unmittelbar im
Ministerium, aber demselben nahestehend) korre-
spondiert worden". Damit war Bismarck gemeint.
Bismarck selbst hat das als eine vom Koburger Herzog
ausgehende Verleumdung bezeichnet. Bennigsen je-
doch war von der Richtigkeit der Meldung überzeugt,
sie hätte übrigens auch nur der hundertjährigen Tra-
dition preußischer Politik entsprochen.
Die großdeutschen Demokraten bekämpfen die
Gothaer: „Unland ist mehr für Österreich und hat
den Beitritt abgelehnt . . . Auch jetzt spukt die
rote Demokratie wieder allenthalben. Vogt in Genf . . .
empfiehlt jetzt einen Bund der Republiken und arbei-
tet gegen den Nationalverein, bei dem es ihm zu ge-
setzlich zugeht. Er, der mit fremdem Gelde nur
aufwühlt, um keine Saat aufkommen zu lassen, findet
aber Glauben bei vielen . . ." So klagt es aus einem
Briefe an Bennigsen. Aber ebensowenig Vertrauen
haben die Regierungen zum Nationalverein. Warnend
künd:gt Gustav Freytag, zugleich Vertrauter des Ko-
burgers, preußischer Agent und Nationalvereinler,
364
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die Exekution des Vereins durch den Bund an. Tat*
sächlich hat es ihm nie an Verfolgungen gefehlt, vor
allem nicht von Preußens Seite, obwohl die leitenden
Männer des Nationalvereins immer aufs neue zur
„strengsten Legalität" auffordern und die „radikalen
Elemente" zurückscheuchen.
Die Illusionen von preußischer Freiheit zerstieben
bald, doch bleibt die „preußische Spitze" als Dogma
des National Vereins. Man entwirft Programme und
Resolutionen: Deutsche Einheit unter der Führung
eines befreiten Preußens. Auf ein Ideal mehr oder
weniger kam es so genau nicht an. Schon 1860 schreibt
Bennigsen von dem „beschränkten spezifischen Preu-
ßentum", von seiner „unfähigen, erbärmlichen Diplo-
matie". In Berlin findet er das „alte Lied oder Leid,
Uberweisheit oder Beschränktheit des politischen
Gesichtskreises bei den älteren, Mangel an Selbst-
vertrauen, an Beruf, selbständig aufzutreten, seinen
Ruf, seinen Einfluß einmal zu riskieren, bei den
jüngeren Politikern, das Interesse für die preußischen
Krisen ganz vorherrschend, das Verständnis und
Pathos für Weltfragen kaum vorhanden oder zu gering,
um zur Tat zu treiben". Die angestammte Regierung
Bennigsens aber verhängte die Acht über alle Männer
des Nationalvereins und spielte geraume Zeit hin-
durch mit dem Gedanken, Bennigsen wegen Hoch-
und Landesverrats zu verfolgen. Das gelang nicht.
Dafür ließ man den strebsamen, ehemaligen preußi-
schen Regierungsassessor Oskar Meding (den späteren
Verfasser vielgelesener „zeithistorischer" Kolportage-
romane) eine Schmähschrift gegen Bennigsen ver-
fassen, die ihm den ewigen deutschen Vorwurf wider
jede radikale Politik entgegenhielt: er habe sich „in
dem Dienste der Negation" einen wohlfeilen Ruhm zu
erwerben gesucht. Bennigsen wurde darin als blutiger
Umstürzler behandelt: „Wenn Sie . . . mit daran
arbeiten, dem Bauernstande seine innere und äußere
365
Grundlage zu zerstören und an die Stelle dieses ge-
sunden Kerns der staatlichen Gliederung ein faules
und nichtsnutziges Proletariat zu setzen, so werden
Sie freilich — im Falle des Gelingens — ein vortreff-
liches Material der Revolution geschaffen haben . . .
Sie haben die misera contribuens plebs (die besitzlose,
steuerzahlende Masse) gegen Adel und Beamtentum ins
Feld geführt." Meding, der eben erst Hannoveraner
geworden war, wütete ebenso als streng hannöverscher
Legitimist wie die vielen Nicht-Preußen, die preußisch
wurden, dann sich schwarz- weiß überechrien; man
denke an den Sachsen Treitschke.
Wie bürgerlich gemäßigt immer der National verein
begann — er radikalisierte sich erst in der Konflikts-
zeit — , so erweckte er doch die Angst der deutschen
Fürsten. Das Jahr 1848 war noch nicht vergessen,
und das Verlangen nach Wiederherstellung der Frank-
furter Reichsverfassung von 1849 dünstete für die
höchsten Herrschaften den Ludergeruch der Revolu-
tion aus. Als der ehemalige preußische Minister
Heinrich von Arnim 1860 eine Zusammenkunft aller
Abgeordneten deutscher Landtage in Heidelberg
anregte, schrieb der Prinzregent von Preußen, Wilhelm,
in einem Brief an den Koburger Herzog, er würde
solchem Plane einer Art von Vorparlament bestimmt
entgegengeschritten sein, „weil dies die Repetition
des schmählichen Anfanges von 1848 gewesen wäre
und wir keine Repetition der Volksbeglückung von
unten herauf brauchen können". Das schrieb der
Heros liberaler Hoffnungen Dabei trat das Verlangen
nach der Reichsverfassung von 1849 erst später in den
Vordergrund, als sich der Nationalverein dem Kampf
gegen Bismarck anschloß. 1860 ersuchte Bennigsen
seine Freunde noch dringend, „in dieser Sache sich
nicht zu weit avancieren". Das Zustandekommen der
Reichsverfassung ist mit so erbärmlichen Intrigen
verknüpft. Von der preußischen Regierung zurück-
366
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gewiesen, von der Partei, welche sie schuf, im Stich
gelassen, von der demokratischen als Vehikel benützt
zur Erreichung anderweitiger Parteizwecke, durch
Kot und Blut geschleift, hat sie der trüben Erinnerun-
gen und gefährlichen Bedenken zu viel, um große
Chancen zu bieten, unter ihrer Form eine Einigung
zustande zu bringen."
Von den deutschen Fürsten hofften die National-
vereinler nichts. Sie sind österreichisch und preußen-
feindlich gesinnt. Bei der Zusammenkunft der deut-
schen Fürsten mit Napoleon III. in Baden-Baden
(Sommer 1860) machen die deutschen Potentaten vor
dem kleinen Napoleon, als ob er der große gewesen
wäre, den „untertänigen Katzenbuckel, wie denn zum
Beispiel der König von Sachsen im Wagen aufstand,
um zu grüßen", schreibt Rochau an Bennigsen. Dafür
bemühten sich die deutschen Fürsten um Einschrän-
kung des Nationalvereins und seiner „bouleversieren-
den Zwecke".
Doch worauf stützte sich denn nun der National-
verein ? Verfolgt man seine Tätigkeit an der ausführ-
lichen Darstellung des Oncken-Werkes in all seinen
Kreuz- und Querzügen, so büßt diese erste bürger-
liche Parteibewegung Ruhm und Glanz völlig ein.
Es sind die eifrigen Leute mit Namen, die der Reporter
bei großen Leichen zu bemerken pflegt, die ihre Unter-
schriften unter gemeinnützige Aufrufe zu setzen
pflegen: Höhere Beamte, Professoren, Publizisten,
einzelstaatliche Parlamentarier, Industrielle bearbeiten
unter duodezfürstlicher Protektion die öffentliche
Meinung. Sie veranstalten Kongresse, Demonstra-
tionen, Versammlungen; halten Reden und inspirieren
Zeitungsartikel (für 3500 Gulden jährlich bearbeitete
man auch die ausländische Presse!). Weder haben sie
die Einheit der Überzeugung und des Ziels, noch
irgendeine Klarheit über die Mittel. Das Ganze ist
redselige Ohnmacht. Bennigsen selbst fühlt tief die
367
politische Unfruchtbarkeit. Was seien Verfassungen,
die man durch Verordnungen umwerfen könne! Der
neue Versuch, den Kampfplatz auf däs nationale
Gebiet zu verlegen, sei recht schwächlich geblieben,
„und der Rest des politischen Kampfes ist — selbst
Preußen nicht ausgenommen — so durchaus unwahr
und verlogen und so bar allen Ernstes, welcher Ent-
scheidungen nicht scheut und herbeizuführen imstande
ist . . .", schreibt Bennigsen Weihnachten 1860,
zugleich eine Kritik über die Tätigkeit seines National-
vereins, für den er doch unermüdlich arbeitet. Schon
zeigt sich auch bereits die liberale Klage über den
schlechten Ton der Leute, der ein Zusammengehen
hindere. Diese Klassengegensätze innerhalb der libe-
ralen Schichten verkleiden sich von Anbeginn gern als
Anstandsregeln. „Wir können mit Leuten nicht um-
gehen," schreibt ein Frankfurter Gesinnungsgenosse an
Bennigsen, „die uns fortwährend feig, Kretin, Eunuch
usw. benennen . . . wir halten uns für zu gut, um
mit derartigen Leuten innig zusammenzugehen."
Und dabei waren die Nationalvereinler zum Teil
Barrikadenkämpfer von 1848!
Schließlich erwartete man alles Heil von irgend-
einem Umschwung draußen, in der Ferne, der ohne
ihr Zutun wie ein Göttergeschenk kommen sollte.
Irgendein äußeres Ungefähr mußte helfen. Deshalb
hatte man kriegerische Stimmungen, man wollte einen
nationalen Krieg. Waren einmal die Waffen losgebun-
den, so würde es sich auch im Innern wandeln; im
Kriegstaumel brauchte man sich dann auch nicht vor
Schutzmann und Staatsanwalt zu fürchten. Es kam
ja dann auch die Umwälzung von einem Kriege, aber
gerade einem, den sie nicht wollten, von dem Bruder-
krieg 1866, in dem nicht der deutsche Liberalismus,
sondern die preußische Reaktion triumphierte.
Der National verein, als Organisation von Besitz und
Bildung, widerstrebte der Masse; das wurde sein Ver-
368
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hängnis, wie das des deutschen Liberalismus. Und
diese Massenscheu behauptete sich selbst in den Zeiten
radikalster Opposition !
V.
Die liberale Furcht vor der Masse nahm dem
Nationalverein die Macht. Wir finden in dieser Partei
neben Radikalen wie Johann Jacoby und dem (später
sozialdemokratischen) Schweriner Hofbaurat Demm-
ler Großindustrielle wie Werner Siemens, Hermann
Gruson, Georg Egestorff, den Begründer des Nord-
deutschen Lloyd H. H. Meier, Graf Henckel von
Donnersmarck, Schriftsteller, Advokaten, Gutsbesitzer,
Studenten und als breite Staffage den bürgerlichen
Mittelstand. Aber die Masse fehlte und sollte fehlen,
obwohl man sie doch wieder zu gewinnen begehrte
als anspruchslose Gefolgschaft für gutbürgerliche
Zwecke. Der hannoversche Industrielle Egestorff,
der aus geschäftlichen Gründen für den anrüchigen
Verein mit seinem Namen nicht hervorzutreten wagte,
gab insgeheim Unterstützungsgelder zur Gründung
eines Blattes für Bauern, Handwerker und Arbeiter;
„denn in den Massen liegt die Macht". Der National-
verein hat 1862 die höchste Zahl der Mitglieder
erreicht, nicht viel mehr als 25000; mit der Unter-
drückungs- und Abtreibungspolitik Bismarcks schmolz
die Zahl rasch und unaufhaltsam zusammen — nach
den kriegerischen Erfolgen Bismarcks war es mit
Verein und Liberalismus gleichermaßen aus. Immer-
hin war es bis dahin in Deutschland unerhört, daß
ein Agitationsverein über so große Geldmittel ver-
fügte, die freilich an heutigen Verhältnissen gemessen,
lächerlich gering waren: er nahm 1861 bis 1867
300000 Gulden ein. Die Presseunternehmungen ge-
diehen nur kümmerlich.
Man sehnte sich nach den Massen und hielt sie
<loch künstlich fern. Deshalb lehnte man den Antrag
34 Eisner, Gesammelte Schrift«. I.
369
ab, den Vereinsbeitrag von einem Taler jährlich in
monatlichen Raten zahlen zu lassen.
Das sperrte die Arbeiter aus, die man dann wieder
durch so läppische Mittel zu ködern versuchte, daß
man auf Kosten des Vereins zwölf richtige Proletarier
zur Londoner Weltausstellung sandte.
So kam es, daß der Nationalverein in demselben
Maße, als er sich während der Konfliktszeit radikali-
sierte — so daß ihn Gustav Freytag in einem Briefe
an Treitschke aus dem Jahre 1865 „eine Kleinkinder-
bewahranstalt für zuchtlose Demokratie" nannte — ,
zerbröckelte statt zu erstarken. Zwar hielt es Bennigsen
persönlich für erwiesen und erfreulich, daß der intelli-
gente Arbeiterstand Deutschlands fähig und bereit sei,
an den nationalen Bestrebungen teilzunehmen, aber er
drang bei den Freunden nicht durch, denen vor einer
Überflutung durch „Handwerbgesellen" bangte; und
wenn ihm selbst eine Sache am Herzen lag, wie etwa
die Angliederung von militärischen Turnvereinen an
den Nationalverein (als eine Art Volkswehr), so möchte
er am liebsten sogar den verdächtigen Nationalverein
im Hintergrund halten. Bei solcher Gelegenheit
schreibt er zum Beispiel einmal an den Sekretär des
Herzogs von Koburg: „Soll die Sache in größerem
Umfange ermöglicht werden, so müssen außer den
Geldern, die der Verein zahlt, um die Sache in Gang
zu bringen, Gemeindebehörden, reiche Privaten, wo-
möglich auch wohlmeinende Regierungen sich der
Sache öffentlich annehmen. Letzteres hat den großen
Vorteil, der Sache in den Augen der Piepmeier jeden
bedenklichen revolutionären Beigeschmack zu nehmen."
Mit diesen Piepmeiern aber wollte Bennigsen Politik
treiben, obwohl er über das deutsche Bürgertum keine
Illusionen hatte. In einem Briefe vom Jahre 1862
schreibt er über den „empörenden Mangel an wirk-
lichem Verständnis für das, was zu politischen Erfolgen
nötig ist und an wahrer Opferwilligkeit". Er hält es
370
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für fraglich, „ob das «deutsche Bürgertum für die
Dauer zur politischen Herrschaft berufen ist", und er
beweist sich als ein wahrer Prophet, wenn er dieses
Zukunftsbild des deutschen Liberalismus malt: „In-
mitten der kirchlichen und politischen Reaktion auf
der einen Seite und der drohenden Arbeiterfrage auf
der anderen, wird der deutsche Bürger sich bald ent-
schließen müssen, die unendliche Wertschätzung seiner
kostbaren Person und des nervus rerum etwas herab-
zusetzen, sonst wird er dem wohlverdienten Schicksal
des französischen Bourgeois schwerlich entgehen.
Feigheit und Geiz sind die verderblichsten Laster für
jede politische Partei. Für eine Partei aber, die es
darauf angelegt hat, durch ihre allgemeine Haltung —
vorläufig also jedenfalls durch bloße Worte — ihren
Gegnern zu imponieren, könnte schon der bloße Ver-
dacht solcher Untugenden tödlich werden."
Aber es war doch wieder nur ein Ausdruck solcher
bürgerlicher Angstpolitik, wenn Bennigsen selbst in
den hannoverschen Parlamentskämpfen an der Spitze
einer festen liberalen Majorität nichts Durchgreifendes
zu unternehmen wagte, um nicht durch vorzeitigen
Sturz des lauliberalen Ministeriums Erzreaktionäre
von der Art des Grafen Borries wieder ans Ruder zu
bringen. Damals — 1864 — verleidete ihm diese
seine höchst fatale Stellung noch die ganze Politik.
Er findet solche Diplomatie aufreibend und verzweifelt,
und doch erscheint ihm die Politik des ewigen Ab War-
tens als das einzig mögliche. So trieb man im Grunde
doch nur von einer großartigen, aber wirkungslosen
Versammlung zu einer noch großartigeren und noch
wirkungsloseren. Nicht als ob man dem Aberglauben
der unbedingten Gesetzlichkeit gefrönt hätte. Be-
sonders war es Miquel, der nächste Gefährte Bennig-
sens, der die jugendlichen Aufstandsstimmungen seiner
Briefe an Karl Marx durchaus noch nicht überwunden
hatte und immer wieder leidenschaftlich mahnte, es
37i
käme nicht auf Resolutionen,- sondern aufs Handeln
an: „Ehe wir an dem Erfolg der gesetzlichen Mittel
verzweifeln, müssen wir mit nachhaltiger Kraft sie
gebrauchen; schlägt dann ohne unsere Schuld der
Versuch fehl, scheitert derselbe . . . dann . . . findet
sich das andere." Aber das andere fand sich eben nicht,
sondern es fanden sich nur abermals Resolutionen,
Versammlungen, Kongresse, und zur Abwechslung
höchstens Volksfeste. Deutsche Politiker sollten die
Seiten 494 und folgende des ersten Bandes des Oncken-
schen Werkes gründlich studieren.
Es war ein Zusammentreffen von symbolischer Be-
deutung, wie damals der künftige Massenführer August
Bebel flüchtig an den schwankenden Kahn des National-
vereins streifte. Von ihm als dem Vorsitzenden des
Leipziger Arbeiterbildungsvereins unterschrieben, aber
nicht verfaßt ist jener Brief vom 24. Juli 1865, in dem
der Leipziger Verein den Ausschluß des National-
vereins um 200 Gulden zur Unterstützung gegen die
Agitation Lassalles bittet: ,,Denn das Gift jener Irr-
lehren schleicht sich unvermerkt in die Massen ein,
und die grellen Farben, mit denen man das Elend der
arbeitenden Klassen gegenüber der Tyrannei derer
schildert, „die sich auf ihren Geldsäcken wälzen",
der ewige Refrain, daß man „nicht dafür könne, wenn
man zur Revolution gezwungen werde", dürften uns
deutlich zeigen, daß die Fahne des roten Kommunis-
mus nur auf die Gelegenheit harre, um mit all ihren
Schrecken entfaltet zu werden." Bebels Dankschreiben
für die Bewilligung der Summe stammt von ihm per-
sönlich und enthält dergleichen Phrasen nicht, vielmehr
versichert Bebel in taktvoller Klugheit dem Präsidenten
des Nationalvereins, daß „eine solche Unterstützung
der guten Sache das beste Mittel sein wird, diese häu-
fig ausgesprochenen Vorwürfe und Verdächtigungen
gegen den Nationalverein zu entkräften und dafür
Hochachtung und Anerkennung zu verbreiten".
372
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Bald war Bebel Führer der Masse, während Bennig-
sen an der Spitze liberaler Piepmeier von der preußi-
schen Gewaltpolitik elend zerbrochen wurde. Mit
welchen Mitteln aber die Politik Bismarcks arbeitete,
daran zu erinnern ist nicht unnütz in unseren Tagen,
da die preußischen Junker und das liberale Bürgertum
schon darüber aus den Fugen geraten, wenn Sozial-
demokraten den Verfassungseid der Abgeordneten
nicht höher einschätzen als was er ist: eine erzwungene
Formel und Formalität.
VI.
Für Bennigsen ward mehr und mehr Bismarck das
Hemmnis aller nationalen Einheits- und Freiheits-
bestrebungen. Preußen, die einzige Macht, die er für
fähig hielt, Deutschland zu einigen, mußte zunächst
von Bismarck befreit werden. Die militärische Diktatur
Preußens genügte ihm nicht; mit der Machtentfaltung
müsse die freiheitliche Entwicklung Hand in Hand
gehen. Er mißtraut auch den Rechten, die monar-
chisches Wohlwollen schenkt und die durch keine An-
strengung des Volks erworben. 1863 schreibt einmal
Gustav Freytag an Bennigsen : „Das ganze Unglück
der Preußen läßt sich in die Worte zusammenfassen,
daß sie nach dem Eintritt der Bewegungszeit für
Deutschland das große Unglück gehabt haben, zwei
Fürsten zu erhalten, die in der öden Zeit Metternichs
und der Karlsbader Beschlüsse aufgewachsen sind.
Das hatte auch das Volk zurückgehalten. Der Kampf
gegen eine abgestandene Generation, die gespenster-
haft alle wichtigen Stellen des Staates besetzt hält,
ist wie ein Kampf gegen Tote." Drohend antwortet
Bennigsen auf diesen im Grunde doch byzantinischen
Seufzer: „Wenn nicht in wenigen Wochen das Bis-
marcksche Regiment beseitigt ist und König Wilhelm
oder «ein Nachfolger sich für die Einberufung eines
wirklichen (deutschen) Parlaments erklärt und wirksam
373
auftritt, so steht für Preußen das Äußerste auf dem
Spiele und der Verlauf der deutschen Geschichte
wird auf Jahre hinaus ganz abnorm und unberechen-
bar. Halbe Maßregeln und Verbesserungen in Preußen
würden höchst nachteilig sein."
Auf diesen Ton sind alle Äußerungen Bennigsens
über Preußen und Bismarck in jenen Jahren gestimmt.
Aber Bennigsen drohte doch wieder immer nur mit
der Revolution, die andere machen würden, wenn
man die Wünsche der Gemäßigten, die selber durch-
aus keine Revolution machen wollen und können,
nicht berücksichtige. Das waren Wendungen, die
den Hohn Lassalles in seiner (sonst höchst bedenklichen
und offenbar krankhaft erregten) letzten Solinger Rede
rechtfertigten, wenn er auch fälschlich den Anschein
zu erwecken suchte, als ob der Führer des National-
vereins mit seiner verhüllten Revolutionsankündigung
für immer die Revolution abgeschworen habe: „Er-
heben wir also unsere Arme" — rief Lassalle den
Arbeitern zu — „und verpflichten wir uns, wenn je-
mals dieser Umschwung, sei es auf diesem, sei es auf
jenem Wege, käme, es den Fortschrittlern und Natio-
nalvereinlern gedenken zu wollen, daß sie bis zum
letzten Augenblicke erklärt haben: sie wollen keine
Revolution ! Verpflichtet euch dazu, hebt eure Hände
empor." Der jähe Tod hat Lassalle vor dem furcht-
baren Schicksal bewahrt, die demokratische und
sozialistische Sache mit Bismarck gewinnen zu wollen ;
sein Zusammenbruch wäre noch verheerender gewesen
als der des Liberalismus, der die Einheit und Freiheit
gegen Bismarck zu erringen versuchte! Dennoch er-
kannte Lassalle durchaus richtig die Neigung Bennig-
sens zur „realpolitischen" Halbheit. Mußte doch
selbst Miquel den Freund vor Konzessionen bei einem
klerikalen Synodenentwurf warnen, indem er — Ok-
tober 1863 — ihm schrieb: „Man ist im Volke durch-
aus nicht mehr auf dem alten, starren Glaubensgrunde,
374
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der in der Kirche noch zu Recht besteht. Wenn die
Bewegung dies auch nicht laut proklamiert hat, so
ist dies nur die Folge des richtigen Instinkts in den
Massen, daß man erst die Pfaffenherrschaft brechen,
sich selbst zum Herrscher machen und dann weiter-
gehen müßte."
„Ist es nicht geraten, gegen diesen gemeingefähr-
lichen Menschen alle Minen springen zu lassen,"
schreibt Bennigsen im Herbst 1863, als ihm kompro-
mittierende Enthüllungen über Bismarcks Verhalten
in der Holsteinschen Sache angekündigt werden. Der
gemeingefährliche Mensch war Bismarck. Im National-
verein war man damals dafür, in Schleswig-Holstein
einen Aufstand zu entfesseln, ein Freikorps für einen
Handstreich zu werben, und in der nationalen Begeiste-
rung Bismarck zu stürzen. „Es gilt einen General-
sturm auf die Regierungen, vor allen anderen auf die
preußische und hannoversche. In Preußen muß der
Schrei: ,Nieder mit Bismarck!* organisiert werden,"
heißt es in einem Brief Rochaus an Miquel. „Preußische
Spitze unter allen Umständen ist unser Programm
nicht." — „Im Norden nimmt die Bismarcksche Rich-
tung, das ist die Anbetung der militärischen Macht
und diplomatischen Erfolge, in erschreckender Weise
überhand." — „Eine militärische Vergewaltigung
Nord- und Mitteldeutschlands von Berlin aus (wird)
um so sicherer eintreten und um so länger die all-
gemeine Einigung Deutschlands aufhalten, je träger
und gleichgültiger das Bürgertum den Akten und Er-
folgen preußischer Gewalt zusieht oder je mehr eine
feige Überklugheit dem Altpreußentum speichelleckt
und auf Süddeutschland verzichtet" — so tönt es
aus Bennigsens Briefen im Jahre 1864. Und selbst
als Bismarck, am Vorabend der kriegerisch-dynastischen
Revolution von 1866, plötzlich das Ideal des National-
vereins, das deutsche Parlament auf Grund des all-
gemeinen Wahlrechts, zu seinem eigenen Programm
375
erhebt, meint Bennigsen, er wolle der Frontverände-
rung Bismarcks, angesichts der Vergangenheit des
Mannes, eine gewisse Großartigkeit nicht absprechen,
„eine Großartigkeit, die aber zum Ridikülen (Lächer-
lichen) doch in einer näheren Beziehung zu stehen
scheint als zum Tragischen". Am 15. April 1866
prophezeit Bennigsen: „Treibt Bismarck die deutschen
Fürsten auf das unbeschiffte Meer, zerstört er die Fun-
damente und alle Prinzipien der konservativen Par-
teien, so kann sich daraus eine ungeheure Entwicklung
gestalten, in der nicht allein Bismarck, sondern auch
ganz andere Existenzen schleunigst verschwinden."
Ja sogar nach 1866, als Bennigsen sich im treuesten
Gefolge Bismarcks befand, konnte er über seine zu
inneren Zwecken angestifteten Kriegstreibereien gegen
Frankreich schreiben: „Er hat die Franzosen in einer
ganz fabelhaften Weise hinters Licht geführt. Napo-
leon, früher in den Augen der Welt sein eigentlicher
Lehrmeister, ist wie der dümmste Junge von ihm
genarrt. Die Diplomatie ist eins der verlogensten Ge-
schäfte, aber wenn sie im deutschen Interesse in einer
so großartigen Weise der Täuschung und Energie ge-
trieben ist wie durch Bismarck, kann man ihr eine ge-
wisse Bewunderung nicht versagen." (Bennigsen an
seine Frau, 8. April 1867.) Ein hübsches Beispiel
zu dem unergründlichen Kapitel bürgerlicher Heuche-
lei: Ethik und Politik!
Für Bismarck gab es in der Tat keinerlei Skrupel
in der Wahl seiner Mittel: er schoß wirklich nicht
mit öffentlicher Meinung, wie die Liberalen, sondern
mit Pulver und Blei, und obendrein mit Bestechung,
Verrat, Treubruch, Lüge und jeglichem Verbrechen.
Bismarcks plötzliche Bekehrung zum deutschen Parla-
ment erregte gradezu eine Panik unter den Vorkämpfern
dieses Ideal von 1849. War es nur ein listiger Trick,
um die Gemüter für seine andern Zwecke preußischer
Machterweiterung zu gewinnen? Das glaubten die
376
meisten, und die wenigsten ahnten, daß es ihm ernst
war, ganz ernst — mit dem Parlament des demokra-
tischen Wahlrechts: Das Aufgebot der unaufgeklärten
Masse gegen die bürgerliche Opposition, die pommer-
schen Grenadiere nicht nur gegen Österreich, sondern
auch gegen die liberale Intelligenz!
Bennigsen aber begann, mit Bismarck zu rechnen*
Und so wagte der hannoversche Politiker, nach dessen
Vaterland Preußen bereits die Hand ausstreckte, im
Mai 1866 den zwar nicht unehrenhaft gemeinten, aber
höchst zweideutig wirkenden Besuch bei Bismarck,
einer Einladung folgend. Bismarcks Absicht war, den
Führer der hannoverschen Opposition für Preußen
zu gewinnen. Zwar bot Bismarck ihm damals nicht die
persönliche Mitwirkung an der preußischen Regierung
an, aber er unterließ diese direkte Aufforderung zum
Landesverrat nur deshalb, weil er an dem Verhalten
Bennigsens merkte, daß er dafür nicht zu haben sei.
Am 16. Mai 1866 „beruhigte" Bennigsen seine Frau
mit der Mitteilung, „daß ich zwar bei meiner Ankunft
eine bestimmte Nachricht aus dem kronprinzlichen
Lager bekam, Bismarck beabsichtige mich und Herrn
N. N. (der ursprünglich hier geschriebene Name des
Badener Staatsmannes Roggenbach ist durchstrichen)
ins Ministerium zu nehmen, daß mir Bismarck selbst
aber in der langen Besprechung . . . kein solches
Anerbieten gemacht hat". Jedenfalls gelang es Bis-
marck, durch diese Unterredung Bennigsen schwer
zu kompromittieren. Als jedoch das Los Hannovers
entschieden war, schreckte Bismarck auch davor nicht
mehr zurück, dem Hannoveraner das äußerste Ver-
brechen anzusinnen.
Bennigsen lag ernstlich an der Rettung der hanno-
verschen Selbständigkeit. Nur war es eine Illusion,
wenn er glaubte, sein Vaterland könnte sich durch
neutrales Wohlverhalten retten. Die Frucht war
längst reif für den preußischen Hunger — so oder so.
377
Die hannoversche Regierung wußte es besser, als sie
sich, gegen Bennigsens Rat, entschloß, an der Seite
Österreichs das Waffenglück zu probieren; Bennigsens
Neutralitätspolitik hätte Hannover nicht erhalten
können, es wäre doch — unter irgendeinem Vorwand
— verschluckt worden.
Unmittelbar vor der Katastrophe Hannovers be-
mühte sich Bismarck, den Führer der hannoverschen
Opposition zu gewinnen. Zunächst beauftragte er den
preußischen Gesandten, Prinzen Ysenburg, mit Ben-
nigsen über die Übernahme der Verwaltung Hanno-
vers nach dem Einmarsch der preußischen Truppen
zu verhandeln; der wich, unter allerlei Vorwänden,
der Aufforderung aus, den Kuppler solchen Hoch-
und Landesverrats zu spielen. Dann schickte Bismarck
den Bürgermeister Duncker aus Berlin zu Bennigsen.
Der brachte ihm die Botschaft, die Besetzung Hanno-
vers durch preußische Truppen und Errichtung einer
preußischen Regierung stünde unmittelbar bevor.
„Bismarck machte mir," so skizziert ein Jahrzehnt
später Bennigsen seinem Freunde Lasker die Dar-
legungen Dunckers, „den Vorschlag, an die Spitze
dieser Regierung zu treten. Ich erwiderte Herrn
Duncker in continenti, daß ich die Proposition ab-
lehnen und mir jede weitere Verhandlung darüber
verbitten müsse. Nachdem . . . Herr Duncker sich
entschuldigt hatte, daß er mir den Vorschlag über-
brachte, da er den Auftrag nicht gut habe ablehnen
können, bat er um Erlaubnis, noch mit einem anderen
Auftrag herauskommen zu dürfen, wogegen ich natür-
lich nichts einwendete. Bismarck wünschte eine Er-
klärung von mir, ob ich bereit sei, meinen Einfluß
dafür zu verwenden, daß in Deutschland zu einem
Reichstage mit allgemeinem Wahlrecht gewählt werde,
wenn Preußen, in dem Kriege gegen Österreich sieg-
reich, dazu auffordere."
Die Absichten der Bismarckschen Niedertracht
378
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waren offenbar. Einmal wollte er durch den Verräter
im feindlichen Lager sich den Sieg erleichtern und
dann zugleich in dem Verräter, nach dem Siege, die
liberale Opposition für immer unschädlich machen!
Bennigsen aber widerstand dem äußeren Verrat,
jedoch nicht der inneren Unterwerfung.
Österreich wurde besiegt, Hannover wie Hessen -
Nassau, Frankfurt a. M. von Preußen aufgezehrt.
Bennigsen und seine hannoverschen Freunde waren
Preußen geworden. Sie wußten, was bevorstand.
Noch während des Krieges schrieb Planck an Bennig-
sen: „Daß Preußen, welches unter diesem Junker-
regiment gesiegt hat, nach dem Siege von selbst eine
liberale Regierung erhalten sollte, ist mir innerlich
höchst unwahrscheinlich, und wir werden, wenn
auch die Einheit erreicht wird, aber mit jenem bitteren
Zusätze (des preußischen Junkerregiments), der der
Masse des Volkes sofort fühlbar wird, während sie
Segnungen der Einheit nicht so bald fühlt, einen
schweren Stand haben. Indessen . . .** Ähnlich
äußerte sich Bennigsen selbst; und auch er fügte das
„indessen" hinzu, das heißt, den Entschluß nach dem
Scheitern aller liberalen Jugendträume nun mit Bis-
marck im Tauschhandel den Liberalismus sacht in den
Junkerstaat einsickern zu machen. Und während
Bismarck nun die erste Probe jener echt preußischen
Blockpolitik unternahm, die den Liberalen gestattete,
konservative Politik zu treiben, begannen die deut-
schen Liberalen jene verhängnisvolle Taktik, ihre un-
vermeidlichen Siege zu organisieren, indem sie den
Liberalismus Stück für Stück preisgaben. Jeder neue
Erfolg der liberalen Führer ward eine neue Niederlage
der liberalen Idee!
VII.
Es gehört zu den eisernen Geschichtslegenden, aus
denen in Deutschland die Geschichtswissenschaft be-
379
I
steht, daß die Gründung des Deutschen Reiches sich
seit 1866 unter liberalem Gestirn vollzogen. Auch
Oncken huldigt diesem Märchen, das ihm ja allein
ermöglicht, seinen Helden — wenn zwar unter star-
kem Vorbehalt — liberale Siege gewinnen zu lassen.
Das liberale Gestirn stand in der Tat prangend am
Himmel. Aber es hatte ebensowenig Einfluß auf
die Geburt des Deutschen Reiches, wie sonst ein Zu-
sammenhang zwischen Sternen und öeburten besteht
— trotz Horoskop und Hokuspokus.
Der Liberalismus in Preußen-Deutschland bestand
zu jener Zeit genau in derselben Erscheinung wie vor-
her und seitdem : daß sich die preußische Politik durch-
setzt im Kampfe gegen die Junker der rabiaten Fär-
bung. Aber deshalb, weil die Regierung in Preußen
stets mit den wilden Männern der feudalen Welt
sich raufen muß, ist sie niemals liberal. Im Gegenteil:
die Reibereien mit den Junkern, die Verweigerung
ihrer blödesten Tollheiten Hat doch stets nur den
Zweck und stets den Erfolg, das konservative preußi-
sche System zu erhalten. Dem deutschen Liberalismus
ist die Aufgabe zugefallen, die konservative Sache
gegen die Konservativen, das Junkerwesen gegen
das Junkertum zu retten. Das war der liberale Sieg,
der mit so viel staatsmännischer Selbstentäußerung
erkauft wurde. Die Liberalen wurden Sieger, indem
der Liberalismus besiegt wurde, und die liberalen Füh-
rer blieben, nach einem ebenso hübschen wie bos-
haften Wort Bismarcks — Bennigsen teilt die Äußerung
seiner Frau in einem Brief vom 2. Dezember 1867
mit — „die Minister des Kronprinzen". In Wahrheit,
das war die Rolle des deutschen Liberalismus: sie
blieben immer die Minister des zukünftigen Herrn,
und um diese große Gunst nicht zu verscherzen,
opferten sie für die Gegenwart ein Stück des Liberalis-
mus nach dem anderen. Die endlosen Reibungen Bis-
marcks mit seinen junkerlichen Standesgenossen, deren
380
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klügster er war, hinderten ihn ebensowenig, deren
sonst verlorene und verfallene Sache zu restaurieren,
wie er auch die kirchliche Reaktion stärkte, obwohl er
die Pfaffenmacht, persönlich ein Ungläubiger — trotz
seiner angeblichen Jugendbekehrung nach wüster
Gottlosigkeit — bekämpfte; wie er endlich die hoff-
nungslos erschütterte Monarchie wieder belebte,
wenngleich er vor den Trägern der Krone nicht die
mindeste Achtung hatte und weder vor dem Groß-
vater, noch vor dem Sohne, noch vor dem Enkel,
seinen drei königlichen Herren, Achtung hatte!
Auch vor dem Heldengreis nicht! Bennigsen sagt die
Wahrheit, wenn er 1867 seiner Frau schreibt: „Der
König und er haben eher Haß wie Freundschaft gegen-
einander; mit dem Nachfolger hat Bismarck ein ganz
kaltes Verhältnis."
Die liberale Konzessions- und Kompromißpolitik
blieb also ohne jede Frucht. Man erntete nur liberale
Atrappen, die wie Früchte aussahen. Das zeigte
sich sofort, als Bennigsen seine Wirksamkeit im Reichs-
tage des Norddeutschen Bundes und im preußischen
Landtag begann. Er und die Seinen hatten von vorn-
herein alle weiterstrebenden liberalen Grundsätze
als Ballast über Bord geworfen, um vorerst wenigstens
ein paar „unveräußerliche" liberale Forderungen zu
sichern. Aber auch diese setzen sie nicht durch, Bis-
marck bewilligte ihnen allenfalls einige personale
Liebenswürdigkeiten — Sturz eines besonders dumm-
reaktionären Ministers und dergleichen mehr! — ,
aber die konservative preußische Sache ließ er im Kern
nicht antasten. So scheiterten die Liberalen sofort
mit ihren beiden dringendsten Forderungen: mit den
konstitutionellen Sicherheiten in der Reichs-(Bundes-)
Verfassung und bei der Regelung des Verhältnisses
von Preußen zum Reich. Und wenn sich die Liberalen
damals trösteten, das augenblicklich „Unerreichbare"
werde durch die innere Naturgewalt der Dinge sich
38i
doch bald durchsetzen, so sind auch jene bescheiden-
sten liberalen Forderungen von 1866 bis 1870, jenes
liberale Mindestprogramm, bis zur Stunde so wenig
der Erfüllung auch nur angenähert, daß es die Libera-
len heute selbst nicht mehr fordern.
„Bismarck ist jetzt der Damm gegen das Herein-
brechen der Reaktion" — das ist der große Wahn
(er ist schon im Herbst 1866 in einem Brief an Bennig-
sen in diese Formel gefügt!) — , mit dem die Liberalen
unmittelbar nach dem preußischen Kriegserfolg ihr
gründliches Umlernen rechtfertigen. „Die Zeit der
Ideale ist vorüber. Die deutsche Einheit ist aus der
Traumwelt in die prosaische Welt der Wirklichkeit
hinuntergestiegen. Politiker haben heute weniger
als je zu fragen, was wünschenswert, als was erreichbar
ist," rief Miquel 1867 aus. „Das Erreichbare" — das
ist seitdem die Begräbnisformel geblieben, mit der
jeder liberale Grundsatz zur Ruhe bestattet worden ist.
Unerreichbar dünkte Bennigsen natürlich die parla-
mentarische Verfassung. „Die Physiognomie des Par-
laments wird von der des achtundvierziger außerordent-
lich abweichen und dasselbe, nach dem damaligen
Maß gemessen, eine sehr bescheidene Rolle spielen."
Die Nation könne „vorerst gar keinen begründeten
Anspruch erheben, von der preußischen Krone und
dem deutschen Richelieu den Parlamentarismus und
den ganzen Komplex von Freiheiten in Gnaden ver-
liehen zu erhalten". Für die Durchsetzung des Er-
reichbaren wurde die nationalliberale Partei gegründet,
deren Mission es wurde, das „Nichts" zu erreichen,
weil sie das „Alles" schreckte. Nach den Wahlen für
den konstituierenden Reichstag schrieb Bennigsen
an seine Frau: „Sehr befriedigend wird das Resultat
für die verfassungsmäßigen Rechte nicht werden.
Dazu sind die Wahlen in Preußen viel zu konservativ
ausgefallen." Aber als später die Wahlen ganz national-
liberal ausfielen, wurde der Liberalismus erst recht
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aussichtslos. Was man in der Ohnmacht nicht konnte,
traute man sich nicht in der Macht. Zum Überfluß
begann Bismarck gleich mit der Politik, durch Ein-
fadelung auswärtiger Verwicklungen die innere Politik
zu fesseln. Seit 1867 begann er die Kriegshetze gegen
Frankreich. Er hatte immer eine Affäre bei der Hand,
hieß sie nun „Luxemburg" oder sonstwie, und vor
lauter Eifer, in so kritischen Augenblicken national
zu blasen, hatten die Liberalen keine Zeit und Kraft,
liberal zu pfeifen. Die ganze Arbeit an der Verfassung
des Norddeutschen Bundes — der heutigen Reichs-
verfassung — wurde durch auswärtigen Lärm ein-
geschüchtert. Bennigsen kannte die Triebfedern
dieser Politik : „Hier (in Berlin) ist, wie überall, die
Politik zu neun Zehnteln persönliches Interesse,
was man auch, wenn man die Politik anders auffaßt
und betreibt, sich stets klar und gegenwärtig halten
muß, um nicht düpiert zu werden" (an seine Frau,
10. März 1867). Bennigsen trieb keine Politik persön-
lichen Interesses. Er ist auch aus der Gründerzeit
unbefleckt hervorgegangen, und als man ihn solcher
Gründungsgelüste beschuldigte, konnte er wahrheits-
gemäß die Erklärung abgeben, die für die heutigen
Liberalen tödlich sein dürfte: „Ich bin kein Ge-
schäftsmann. Deshalb und mit Rücksicht auf meine
öffentliche Stellung würde ich es für unpassend und
für wenig ehrenvoll halten, wenn ich die Mitwirkung
bei der Begründung einer Eisenbahn dazu hätte be-
nutzen wollen, irgendeinen derartigen Geschäftsgewinn
zu erstreben oder anzunehmen." Aber er machte auch
für den Liberalismus keine Geschäfte. Er ließ sich
düpieren !
Zwei „unerläßliche" Forderungen stellte Bennigsen
für die Bundesverfassung auf: ein verantwortliches
Bundesministerium und Diäten für die Abgeordneten.
Der Regierungsentwurf der Verfassung sah ursprüng-
lich als Bundeskanzler nur eine Art untergeordneten
383
Sekretär des preußischen Ministers der auswärtigen
Angelegenheiten vor. Der Antrag Bennigsens auf
Schaffung eines verantwortlichen kollegialen Bundes-
ministeriums unter dem Vorsitz eines Bundeskanzlers
brachte Bismarck auf den Gedanken, bloß einen „ver-
antwortlichen Kanzler" zu schaffen. Damit wurde
das Gegenteil der liberalen Absicht erreicht. Im Reichs-
kanzler wurde das Reich nicht, wie die Liberalen
wollten, verselbständigt, sondern zur Filiale Preußens.
Statt einer wirklichen Verfassung bekam der Bund
einen paragraphierten Menschen; ein zufälliger Mensch
— Bismarck — wurde in der deutschen Verfassung
staatsrechtlich verewigt. Dazu war dieser Kanzler
nur auf dem Papier verantwortlich. Die nähere
Regelung wurde einem besonderen Gesetz vorbehalten.
Dieses besondere Gesetz gibt es noch heute nicht.
Die Konzessionen der Liberalen haben das „Erreich-
bare" in Wirklichkeit für Generationen unerreichbar
gemacht. Ebenso ging es mit den Diäten; Bennigsen
beharrte auf ihnen. Bismarck weigerte sich. Bennigsen
hielt es „für ein ganz bedenkliches Experiment, daß
in einem deutschen Parlament die Diäten beseitigt
werden sollen"; er hielt „die Folgen für durchaus
unberechenbar". Dennoch überließ er und die Libe-
ralen auch dieses „Erreichbare" der Zukunft, die erst
unter dem Fürsten Bülow kam!
Es war auch kein Erfolg der Liberalen, daß Bismarck
ihren Antrag des geheimen Wahlrechts akzeptierte.
Denn Bismarck gewährte ja das Reichstagswahlrecht,
um die unaufgeklärten Massen gegen die Liberalen
auszuspielen. Und die Liberalen wußten das; es war
im Gründungsprogramm der nationalliberalen Partei
vom 12. Juni 1867 klar ausgesprochen worden: „Das
allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht
ist unter unserer Mitwirkung zur Grundlage des
öffentlichen Lebens gemacht. Wir verhehlen uns
nicht die Gefahren, welche es mit sich bringt, solange
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Preßfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht polizei-
lich verkümmert sind, die Volksschule unter lahmen-
den Regulativen steht, die Wahlen bureaukratischen
Einrichtungen unterworfen sind, zumal da die Ver-
sagung der Diäten die Wählbarkeit beschränkt." Man
erkennt die ganze Entartung, der der Liberalismus
seitdem verfallen: damals sah man noch die Gefahren
für das allgemeine Wahlrecht in der durch die Reak-
tion bewirkten Unfreiheit des Gebrauchs; heute be-
kämpft man es, weil das Volk den freien Gebrauch
zu lernen begonnen hat.
Noch elender als im Reichstag war der Zusammen-
bruch des Liberalismus gleich in Preußen. Im national-
liberalen Programm hieß es: „Als Ziel schwebt uns
vor, daß die parlamentarischen Funktionen des Staates
möglichst vollständig in den Reichstag verlegt werden.
Auch der preußische Landtag soll sich nach und nach
mit einer Stellung begnügen, welche in keiner Weise
geeignet sei, dem Ansehen und der Wirksamkeit des
Reichstages Eintrag zu tun." Man verlangte ferner
„Ausbau und Revision der preußischen Verfassung",
„Ausführung der in der Verfassung verheißenen Ge-
setze und die Reform des Herrenhauses als Vorbedin-
gung aller Reformen", „Aufhebung der gutsherrlichen
Obrigkeit und gutsherrlichen Polizei". Keine der libe-
ralen Vorbedingungen ist bis heute erfüllt worden.
Noch schärfer, als im Programmentwurf, deuten
Äußerungen Bennigsens auf das Ziel dieser annektierten
Preußen hin. Sie erstrebten die vollständige Beseiti-
gung der preußischen Zentralgewalt. Bennigsen war
durchaus der Meinung seines Freundes Friedrich
ötker, der in der kurhessischen Opposition die Ge-
schäfte Preußens besorgt hatte : die ganze preußische
Landesgesetzgebung müsse allmählich zugunsten der
Bundes- und der Provinzialgesetzgebung aufhören,
also der Landtag allmählich trockengelegt werden.
Man dachte sich die Vereinigung aller Zentralgewalt
23 Eisner, Gesammelte Schriften. I.
385
im Reich und die Dezentralisation Preußens in provin-
ziale Selbstverwaltungsgebiete. Die Provinzen erhiel-
ten ja allerdings eine Art Selbstverwaltung — Bennig-
sen selbst war zwanzig Jahre lang Landesdirektor in
Hannover — , aber der preußische Landtag und die
preußische Regierung, als Werkzeug des Junkertums,
vereinigten immer noch die politische Macht in und
über Deutschland. Trockengelegt wurde der Libe-
ralismus und das Reich! Und die „Vollendung" der
deutschen Einheit nach dem Kriege von 1870/71 war
die Vollendung dieser Trockenlegung.
VIII.
» -
Die Angliederung des deutschen Südens an den
Norddeutschen Bund verstärkte keineswegs die libera-
len Triebkräfte in der Politik des Reiches und Preußens.
Vielmehr befeuerte sie nur den Eifer des Junkertums,
in demselben Maße vorzudringen, in dem die Liberalen
das Geschäft fortsetzten, die schweren Opfer ihrer
liberalen Grundsätze gewerbsmäßig auf dem nationalen
Altar darzubringen. Immer wenn die Liberalen gerade
liberal sein wollten oder doch sein sollten, war irgend
etwas geschehen, was ihnen zu Gemüte führte, „daß
jetzt die Zeit nicht da ist", um liberaler Forderungen
willen Konflikte zu versuchen. Bennigsen sprach dies
Wort 1874 aus, als die Liberalen das militärische
Budgetrecht preisgaben. Aber diese Zeit war nie da;
immer gab es gerade Umstände, die für den Liberalis-
mus hinderlich waren, liberal zu sein. Und wenn die
Liberalen dergestalt sich überwunden hatten, so
jubelten sie jedesmal, daß es den Gegnern nicht ge-
lungen sei, sie auszuschalten — sie auszuschalten näm-
lich von der Möglichkeit, antiliberale Politik treiben zu
dürfen. Dieses Argument des „Ausschaltens" finden
wir in dem liberalen Sprach- und Denkgebrauch von
Anbeginn. So schrieb damals — 1874 — , als es ge-
lungen war, durch das Septennatskompromiß den
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wichtigsten liberalen Grundsatz, das Budgetrecht, zu
verraten, so ein Liberaler triumphierend in sein Tage-
buch: „Beispielloser Jubel . . . Wir freuten uns
sehr . . . Alle Gemüter waren voll davon, daß der
vom Zentrum und den Konservativen gehoffte, von
uns gefürchtete Konflikt vermieden ist. Die Kon-
servativen sind wütend . . . Die Wut der Konser-
vativen, daß wir eine Verständigung herbeigeführt
und daß der von ihnen sicher gehoffte Konflikt ver-
mieden ist, übersteigt alle Grenzen."
Die Politik Bismarcks, durch äußere Verwicklungen
die innere dynastisch-junkerliche Herrschaft zu sichern,
forderte ihren Abschluß durch den deutsch-französi-
schen Krieg. Sofort nach 1866 sehen wir die deutsch-
französischen Zwischenfälle aufwuchern, mit denen auch
Bennigsen bewußt operiert. Dauerndes Kriegsgeschrei
übertönt, verwirrt und verstümmelt die liberale Ver-
fassungsarbeit. „Jetzt ist die Zeit nicht da!" ... In
militärischen Kreisen wird sofort nach dem Siege von
1 866 nur noch über den Termin des Losschlagens, nicht
über die Notwendigkeit des Krieges selbst debattiert.
Man will die Zeit wählen, wo Frankreich mitten in der
Armeereform wäre. Wenn auch die letzte Entschei-
dung die Emser Depeschenfälschung brachte, so war
dieses weltgeschichtliche Verbrechen nur die Krönung
eines lang gesponnenen Komplotts. Das Kampfziel
war weniger die Demütigung Frankreichs und die
Annexion Elsaß- Lothringens, sondern die Demütigung
des deutschen Bürgertums und die Annexion der Libe-
ralen. Das war auch der Ertrag. 1870 liquidierte end-
gültig 1848. Die aus wirtschaftlichen Gründen not-
wendige, nicht mehr aufzuhaltende Einigung Deutsch-
lands sollte sich unter antiliberalen Sicherheiten voll-
ziehen, und um diesen Erfolg zu erreichen, bediente
sich Bismarck nicht der Konservativen, sondern eben
der Liberalen. Seine diabolische Verachtung des
liberalen Bürgertums wußte, daß nur eine Klasse, nur
387
eine Partei bereit sei, jederzeit auf ihre Grundsätze
zu verzichten: die Bourgeoisie und die Liberalen.
Als der Krieg ausbricht, eilen, schreiben, telegra-
phieren die Liberalen geschäftig im Lande umher,
um dafür zu sorgen, daß in jetziger Zeit nicht von
Freiheit geredet werde, sondern eben nur noch von
Einheit. Am eifrigsten ist in dieser Abschnürung des
zweiten Teiles des Parteinamens Lasker, der doch die
„linke Seele" der Nationalliberalen darstellte. Als
freiwillige Agenten Bismarcks suchen sie Bayern, Würt-
temberg, Baden zum Anschluß zu gewinnen. Dabei
werden sie von dem Bundeskanzler übel behandelt.
Glaubt er allein fertig zu werden, so stellt er die un-
gebetenen Helfer bloß, und erst, wenn er Mißerfolge
hat, ruft er sie, damit sie öffentliche Meinung fabrizie-
ren und die „Tintenklexer" mobil machen. Und wenn
es Bismarck nicht gelingt, die bayerischen Reservat-
rechte zu hindern, so beschuldigt er die Liberalen,
daß ihr allzu weites Entgegenkommen an die bayeri-
schen Forderungen ihm das Geschäft verdorben habe.
Dabei mußten gerade bei den Reservatrechten die
Liberalen gleich wieder ihre heiligsten Grundsätze
opfern; denn ihren unitarischen Bestrebungen waren
die Bismarckschen Konzessionen viel zu weitgehend.
Und vertraulich telegraphiert Bamberger Ende No-
vember 1870, daß man die Bundesverträge trotz ihrer
Mängel nicht verwerfen und auch nicht amendieren
dürfe.
Auch für Bennigsen war der deutsch-französische
Krieg ein gewolltes Mittel der inneren deutschen
Politik, was immer er auch öffentlich über den gerech-
ten Verteidigungskrieg reden mochte. In seinen
Privatbriefen verschwindet die Kriegsglorie. So lesen
wir in einem an seine Frau gerichteten Schreiben vom
2. Mai 1871: „Hört man von den zurückkehrenden
Beamten manche interessante Details über den Krieg,
so ist man doppelt froh, daß das Kriegführen unserer
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Truppen aufhört und die diktatorische Verwaltung zu
Ende geht. Von Erschießenlassen und Niederbrennen
der Dörfer erzählen die Herren mit größter Gemütlich-
keit. Daß diese Maßregeln notwendig waren, begreife
ich bei dem wahnsinnigen Verhalten der französischen
Bevölkerung. Zuletzt stumpft sich das menschliche
Gefühl unserer Truppen und Beamten aber doch in
einer entsetzlichen Weise ab. Auch über die Zahl
bedenklicher Krankheitsfälle in den Lazaretten bei
verheirateten Landwehrleuten machte Prinz Hohen-
lohe sehr fatale Mitteilungen. Manches Hundert
Landwehrleute wird ihren Frauen kein schönes An-
denken von den liederlichen Französinnen mit-
bringen."
War der französische Krieg für Bismarck eine Not-
wendigkeit der inneren preußischen Politik, so war er
insbesondere das letzte Mittel nicht nur, um die Reste
einer bürgerlichen Opposition zu vernichten, sondern
auch um sein „nationales" Programm eines Groß-
preußen durchzuführen und zu sichern. Der deutsche
Krieg von 1866 hatte den deutschen Süden durch-
aus nicht preußisch gestimmt. Die Wahlen zum deut-
schen Zollparlament waren im Süden gegen Preußen
ausgefallen. Der Norddeutsche Bund war eine durch-
aus preußische Organisation. Bismarck dachte niemals
daran, ihn durch die Anfügung gleichberechtigter,
unabhängiger Südstaaten aus dem Preußischen ins
Deutsche übersetzen zu lassen. Dieser nationalen
Auffassung von deutscher Einheit widerstrebte er
aufs äußerste. Die Aufnahme Süddeutschlands war
nur unter Formen zu dulden, in denen Sicherheit
geboten war, daß die süddeutschen Staaten in einem
schwachen Verbände nicht als Rivalen Preußens er-
starken könnten. Die Überschreitung der Mainlinie
auf dem Wege zur deutschen Einheit durfte nur den
Zweck haben, die Alleinherrschaft Preußens auch im
Süden zu gründen. Eine deutsche Verfassung, wie sie
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I
Bismarck dachte, war immer nur eine mildere Form
der Annexion, die scheinbar freiwillige Unterwerfung
unter die preußische Vormacht. Der Süden war aber
für diese preußische Einheit nicht zu haben, und des-
halb bedurfte Bismarck zur Krönung seines Werkes
des nationalen Krieges.
Aus derselben Politik der Niederbrechung des
nichtpreußischen Deutschlands, nicht etwa aus irgend-
welchen geistigen Idealen, entfesselte Bismarck dann
auch den Kulturkampf. Die katholische Kirche wur-
zelte im Süden; sie war gegen das als protestantisch
geltende Preußen gestimmt und war so eine ernst-
hafte und nicht leicht zu überwindende Schutzmacht
für die Erhaltung eines selbständigen Südens; darum
bediente sich Bismarck des Kampfmittels des Anti-
klerikalismus.
Wenn Oncken den Kulturkampf, trotz durchschim-
mernder besserer Einsichten, doch gern als eine welt-
geschichtliche Auseinandersetzung zwischen Katho-
lizismus und Protestantismus zu nationalen Zwecken
der Einheit rechtfertigen möchte, so ist das unklare
und phrasenhafte Mystik. Der Jahrhunderte durch-
geführte Rivalenkampf zwischen Hohenzollern und
Habsburgern war 1866 beendigt. Man hat mit Bayern
ein Stück südliches Großdeutschland in das nord-
deutsche gefügte Reich bekommen, vielmehr gewalt-
sam gepreßt; denn nur mit dem Revolver in der Hand
hatte man dem schon geisteskranken Ludwig II. von
Bayern die Unterschrift für die „deutsche Einheit"
abgerungen. In der katholischen Kirche organisierten
sich diese zentrifugalen Kräfte. Also redete man auf
preußische Weise mit ihr. Man dachte nicht daran,
Deutschland vom Klerikalismus zu reinigen. Keine
Trennung von Kirche und Staat; keine Trennung
der Schule von der Kirche — wo herrschte mehr
Klerikalismus als in dem protestantischen Ostelbien! —
nur ein paar polizeiliche und staatsanwaltliche Schi-
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kancn für die Träger der kirchlichen Organisation, nur
einige Sprengungs versuche ihrer unbequemen Macht
— das war der so jämmerlich zusammenbrechende
Kulturkampf,
Aber zugleich verfolgte auch hier wieder Bismarck
die Politik der Ablenkung. Er warf den Liberalen
den Kulturkampf hin, damit sie einen hübschen
liberalen Zeitvertreib hätten, während der innere
Ausbau des Deutschen Reiches sich reaktionär vollzog.
Die Spekulation auf die liberalen Philister gelang.
Die liberalen Führer freilich waren sich des Spiels
zum Teil wohl bewußt. Zwar erfreute der Kultur-
kampf Bennigsens von Jugend an genährte antiklerikale
Stimmung, seine Abneigung gegen die „Römlinge";
aber die rein machtpolitische Tendenz der Bismarck-
schen Ausnahmegesetze war ihm nicht verborgen.
Das zeigt schon der Ton, in dem er über die klerikale
Gefahr spottet, so wie die preußischen Polizeihirne
und die von ihnen verdunkelten Leute immer Ge-
fahren ausmalen, handle es sich nun um Demagogen,
Demokraten, liberale Umstürzler, Sozialisten, Anar-
chisten oder wer sonst gerade als Feind der preußischen
Ordnung zu kennzeichnen ist. Bennigsen schildert
seiner Frau (am i. Dezember 1874) seine Unterredun-
gen mit Bismarck: „Er sprach wiederholt davon, daß
er seine Entlassung nehmen müsse; er könne den
Ärger am Hofe und mit einer unsicheren Reichstags -
.mehrheit nicht mehr aushalten. Zweimal sei bereits
auf ihn geschossen. Täglich erhalte er jetzt Warnungen
der Polizei, nicht mehr auszugehen oder im offenen
Wagen auszufahren. Jetzt möge einmal ein anderer
Kanzler von fanatischen katholischen Gesellen auf
sich schießen lassen. Leider regen seine Frau und
Tochter, wie schon in Kissingen, ihn hier mit ihrer
Angst und Sorge wohl auch immer mehr auf. Die
Fürstin Bismarck, mit welcher ich mich heute nach
dem Diner längere Zeit unterhielt, glaubt erstens an
39i
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eine große ultramontane Mordverschwörung, wo täg-
lich neue Attentate auf Order erfolgen können. Der
armselige Tiroler Priester Hanthaler war wie Kull-
mann im Komplott ; darauf will sie einen Glaubenseid
leisten" usw.
Uber dieser klerikalen Gefahr war dann nicht die
Zeit da, das Deutsche Reich liberal auszubauen. Man
war sicher stolz darauf, daß man bei der Feststellung
der Heeresstärke das verlangte Äternat durch ein im
Grunde dasselbe besagendes Septennat ersetzte; denn
ob man das Budgetrecht für „ewig" oder über sieben
Jahre beseitigen ließ, war ein unerheblicher Unter-
schied. Und Bennigsen, der Vater dieses Kompro-
misses, wußte sehr gut, wie tief der monarchische
Militärabsolutismus in Preußen eingefressen war.
Schrieb er doch einmal (am 17. Dezember 1874) an
seine Frau: „Soeben war ich auf einem Diner beim
Kaiser, wo dieser sich mir dafür bedankte, daß wir die
Offiziers- und Löhnungsverhältnisse der Garderegi-
menter intakt gelassen hätten ... Er könne sich
doch jetzt vor seinen Garden wieder sehen lassen.
Solche Dinge nimmt doch auch ein ungewöhnlicher
Fürst, wie der alte Kaiser, seltsam persönlich."
Gleich unheilvoll war die liberale Kompromißsucht
in den Justizgesetzen. Willig unterwarf man sich
dem sich steigernden Anspruch Bismarcks, den linken
Flügel der Nationalliberalen zu unterdrücken. So
kam denn das unerhörte Schauspiel zustande, daß nicht
nur der Führer der Partei, die Jahre hindurch sowohl
im Reichstag wie im Landtag (Bennigsen war Präsi-
dent des preußischen Abgeordnetenhauses) die stärkste
und schlechterdings ausschlaggebende Partei war,
einmal in spottender Wehmut äußern konnte, daß
die richtige konstitutionelle Theorie in diesem Jahr-
hundert nicht mehr vollständig realisiert werden
würde (Brief vom 16. November 1873), sondern daß
auch sein feiernder Biograph bekennen muß: „Von
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einer nationalliberalen Ära der siebziger Jahre im all-
gemeinen kann man nicht sprechen. Weder haben die
Führer der Fraktion selbst an der Leitung der Ge-
schäfte teilgenommen, noch hat die Politik im Reich
und in Preußen sich in den Linien des nationalliberalen
Programms bewegt." In der Tat war der höchste
Erfolg Bennigsens, daß er einmal zum Nachfolger
Bismarcks ernannt wurde, — aber nur von der „Wiener
Neuen Freien Presse"!
Über den Kulturkampf verzichtete man auf die
liberale Rechtsausgestaltung des neuen Reiches. Und
als nun 1877/78 auch die liberale Wirtschaftspolitik
verlassen werden sollte, warf Bismarck den Liberalen
eine andere Schreckpuppe hin: die Arbeiterbewegung.
Wieder wirkten die Liberalen, bewußt der Lüge,
an dieser ablenkenden Politik Bismarckschen Terrors
mit. In solchem äußersten Frevel ist denn der deutsche
Liberalismus völlig verwest.
IX.
Der deutsche Liberalismus hatte am Ausgang seiner
parlamentarischen, zahlenmäßig gegebenen Macht
nur noch eins zu verlieren, den Lebens- und Wesens-
kern der liberalen Weltanschauung: die Erkämpfung
und Verteidigung der staatsbürgerlichen Rechts-
gleichheit. Diese Seele ihm aus der Brust zu reißen,
war die Aufgabe Bismarcks, als er sich entschloß, mit
den Nationalliberalen zu brechen oder, besser, den
deutschen Liberalismus vollständig zu zerbrechen;
was er als äußerlicher Freund der Nationalliberalen
begonnen hatte', wollte er nunmehr als ihr Gegner
vollenden. Es war die Zeit der agrarisch-schutzzöll-
nerischen Wendung in der Wirtschaftspolitik, als der
Gewaltige sich entschloß, die Nationalliberalen an die
Wand zu drücken, daß sie Sauce gäben! (So soll die
vornehme Wendung in Wirklichkeit gelautet haben.)
Diesem Bismarckschen Pogrom gegen die Liberalen
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ging ein Kaufversuch Bennigsens voraus, die ernst-
hafteste Verhandlung wegen Übernahme eines preußi-
schen Ministerpostens.
Man konnte noch im Zweifel sein, ob nicht schon
mit ihrer Zustimmung zu den Kulturkampfgesetzen
die Liberalen die bürgerlichen Rechtsgleichheit ver-
lassen hatten. Immerhin waren das eher Spezial-
gesetze gegen eine bestimmte Institution (wie etwa ein
Börsengesetz), als Ausnahmegesetze. An dem Aus-
nahmecharakter des Sozialistengesetzes aber war kein
Zweifel; es richtete sich gegen eine ganze Weltan-
schauung, gegen eine Klasse, gegen eine Partei. Gerade
diesen Bruch der Verfassung, der Rechtsgleichheit,
diese Peitschung der Liberalen, mit denen er solange
zusammengearbeitet hatte, wollte Bismarck. Als die
Liberalen ihm ihre Bedenken gegen den (ersten)
Entwurf äußerten, beharrte Bismarck auf seiner An-
sicht — wie sein ehemaliger Chef der Reichskanzlei,
Tiedemann, berichtet — , „daß man die Sozialdemo-
kratie nur wirksam ins Herz treffen könnte, wenn
man berechtigt sei, über die Barrieren hinwegzusetzen,
die die Verfassung in übergroßer doktrinärer Fürsorge
zum Schutze des einzelnen und der Parteien in den
sogenannten Grundrechten errichtet habe". In Wahr-
heit meinte er: daß man die Liberalen nur wirksam
ins Herz treffen könnte. „Das war die Kriegserklärung
gegen den liberalen Geist, mit dem zusammen er
die Verfassung des Reiches aufgebaut hatte," bekennt
Oncken.
Es gibt keine Veröffentlichung, in der die ganze
Verruchtheit des Bismarckschen Spiels mit dem roten
Schrecken so erschreckend grell hervorgeht, wie aus
dem Bennigsen- Werk. Die Niederhetzung der großen
Masse des Volkes war für den infamsten aller Terro-
risten nur ein taktisches Manöver. Man kann die
Fäden dieser Verschwörung jetzt genau verfolgen.
Das Sozialistengesetz diente Bismarck dazu, einmal
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die liberale Partei zu sprengen, ihre Linke in die
Opposition zu drängen, ihre Rechte als wehrlose
Regierungspartei zu knechten. Zugleich galt es, gegen
den Liberalismus die eigene Gefolgschaft aufzuhetzen.
Das konnte auf keine Weise bequemer geschehen, als
durch die Aufreizung der brutalsten großbürgerlichen
Klasseninstinkte gegen die Arbeiterbewegung. Bis-
marck stellte mit diabolischer Kunst die Liberalen
vor die Entscheidung: entweder liberal zu bleiben,
die Verfassung zu achten, das Ausnahmegesetz abzu-
lehnen und dann das liberale zahlungsfähige Gefolge
zu verlieren, oder sich Bismarck zu beugen und damit
den Liberalismus zu verlieren. Auf beiderlei Weise
ward der Weg frei, die letzten Regungen eines politi-
schen bürgerlichen Parteiidealismus zu vernichten und
die Partei umzuwandeln in eine nackte Interessen-
vertretung von Berufsgruppen, denen das Parlament
nur eine Tribüne der unmittelbaren Geschäftsförde-
rung war: so konnte die Schutzzollpolitik möglich
werden, gegen die sich ja auch die Arbeiterschaft
— durch das Ausnahmegesetz niedergeworfen —
nicht wehren können sollte. Mit dem Sozialisten-
gesetz begann jene Auflösung bürgerlicher Parteien
in reine Geschäftsagenturen, die wir heute vollendet
sehen. Es begann die Entpolitisierung des Bürger-
tums, die wieder anfing, noch ehe es zur Politik recht
gereift war.
In dieses Intrigenspiel der Jahre 1877/78 platzt
das Hödelsche Attentat so zur rechten Zeit hinein,
wie auf das Stichwort im Komödienspiel, daß an einen
Zufall zu glauben, das Bekenntnis zum Wunder zu-
muten hieße. Man wird den Verdacht nicht los, daß
der höchst wahrscheinlich blind geladene Revolver
des christlich-sozialen Narren ihm von Leuten in die
Hand gesteckt war, die das Attentat brauchten. Das
zweite ernste Attentat läßt sich durch den Nach-
ahmungstrieb von Geisteskranken erklären, das die Re-
395
gierung denn auch weit mehr — freudig — über-
raschte, als das erste, auf das man geradezu vorbereitet
zu sein schien.
Die „Gefahr der Sozialdemokratie" taucht erst
genau in dem Augenblick auf, als der Terror gewünscht
wurde. Auf all den Hunderten von Blättern des
Bennigsen-Werkes, die vorausgehen, findet man nicht
die leiseste Andeutung, daß der Führer der National-
liberalen von dieser Gefahr etwas wußte. Uber seine
jugendlichen Sympathien für den utopischen Sozialis-
mus war er freilich langst hinausgekommen, aber ein
gewisses Verständnis für soziale Fragen, auch für die
Arbeiterbewegung, War ihm geblieben. Jetzt sollte
er plötzlich nicht nur an die rote Gefahr glauben,
sondern sie auch durch Preisgabe der elementaren
liberalen Grundsätze zu bannen versuchen. Aber
Bennigsen glaubte nicht an den Popanz, sondern er
wußte vielmehr ganz genau, daß Bismarck den Libera-
lismus treffen wollte; und dennoch beugte er sich
schließlich dem Bismarckschen Terror.
Mit den Reichstagswahlen von 1877 hatte der Zer-
fall der Nationalliberalen, der Aufstieg der Konser-
vativen begonnen. Die nationalliberale Fraktion zählte
immerhin noch 127 Mitglieder. Die Abrechnung mit
den Nationalliberalen wurde eingeleitet durch Ver-
handlungen mit Bennigsen über seinen Eintritt ins
Ministerium. Diese Verhandlungen sind zumeist,
so namentlich von Eugen Richter, als ein nicht ernst
gemeintes Manöver aufgefaßt worden, die den späteren
jähen Bruch aus nationalliberalem Verschulden er-
scheinen lassen sollten. Das vorliegende Material
zwingt, diese Auffassung preiszugeben. Bismarck
wollte wirklich den einflußreichsten Mann des Libe-
ralismus aus seiner Partei herausholen, und indem er
ihm das Polizei ministerium anbot, wo jeder Mensch
konservativ regieren muß — der liberale Bennigsen
hätte gleich das Sozialistengesetz machen dürfen! — ,
396
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hatte Bismarck den Liberalismus zugleich regierungs-
fähig und unschädlich gemacht. Der Plan scheiterte
einmal an Bennigsen, der klug genug war, als Bedingung
seines Eintritts den gleichzeitigen Eintritt zweier
anderer Liberalen zu fordern und an der greisenhaften
Halsstarrigkeit Wilhelms I., der wieder ganz zum Kar-
tätschenprinz geworden war und in jedem Liberalen
einer Revoluzzer sah. Als dem Kaiser die Verhand-
lungen mit Bennigsen zugetragen wurden, schrieb
er dem Kanzler einen aufgeregten und groben Brief.
Er verlangte von Bismarck, daß er die Gerüchte demen-
tiere, „da niemand besser weiß, als Sie selbst, daß Sie
mir keine Silbe über diesen Gegenstand mitgeteilt
haben". „Dies hat mich denn doch in einem Maße
frappiert, daß ich anfangen muß, zu glauben, es sei
wirklich etwas derart im Werke, von dem ich gar nichts
weiß." Der Brief schloß: „Ich muß Sie also ersuchen,
mir Mitteilung zu machen, was denn eigentlich vor-
geht? Was Bennigsen betrifft, so würde ich seinen
Eintritt in das Ministerium nicht mit Vertrauen be-
grüßen können, denn so fähig er ist, so würde er den
ruhigen und konservativen Gang meiner Regierung,
den Sie selbst zu gehen sich ganz entschieden gegen
mich ausgesprochen haben, nicht gehen können."
Damit war denn der Plan für Bismarck erledigt, ohne
daß er es für nötig hielt, Bennigsen von dieser Wen-
dung in Kenntnis zu setzen. Bismarck hat in seinen
„Gedanken und Erinnerungen" diese Vorgänge ge-
flissentlich falsch dargestellt — eine Kunst der Fäl-
schung, die Oncken mit der bewundernden Wendung
umschreibt: „Er macht Geschichte, auch wenn er
Geschichte schreibt."
Solange die Verhandlungen zwischen Bismarck und
Bennigsen noch schwebten, solange also der Plan noch
nicht gescheitert war, den rechten Flügel der Liberalen
für die neue Wirtschaftspolitik hinüberzuziehen,
wurde mit dem roten Schrecken noch nicht gearbeitet.
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Erst als Bennigsens Kandidatur unmöglich geworden
war, begann das Spiel mit dem Umsturz.
Die nationalliberale Fraktion beschloß einstimmig,
das erste Ausnahmegesetz abzulehnen. Bennigsen
deutete in seiner Reichstagsrede vom 23. Mai 1878 an,
„daß es bei dieser Vorlage weniger abgesehen gewesen
ist auf wirksame Maßregeln gemeinschaftlich mit dem
Reichstag gegen die Sozialdemokratie, als auf ander-
weitige politische Coups". Bennigsen verzichtete
in dieser bedeutsamen Rede nicht auf Umsturzgeschrei
und Klagen über sozialdemokratische Ausschreitungen,
aber er weigerte sich, den Boden des gemeinen Rechts
zu verlassen — seien denn „die Zustände in Deutsch-
land auf einmal über Nacht so verhängnisvoll geworden,
daß wir zu diesem äußersten und verzweifelten Mittel
greifen müssen" — und er bewies sein Verständnis
für den Sozialismus: „Unter diesen Zielen sind nun
viele, von denen, ich möchte sagen, jeder Menschen-
freund, jede wohlmeinende Regierung einen Teil
auch unter ihre Aufgaben aufnimmt . . . Wir haben
auch gesehen, daß Ziele der Sozialdemokratie, wo es
sich um Schonung der Gesundheit der Arbeiter, um
Schutz der Frauen, der Kinder gegen Ausbeutung
durch die Fabrikanten handelt — daß ebenso wie
die Gesetzgebung anderer Länder auch die deutsche
Gesetzgebung sich mit Aufgaben beschäftigt, die
zugleich von den Sozialdemokraten unter ihre Ziele
aufgenommen sind." Auch bekundete er Einsicht
in die geschichtliche Wandlung aller wirtschaftlichen
Produktionsformen .
Dann kam das Attentat Nobilings. Das erste Wort
Bismarcks war: „Jetzt habe ich sie — jetzt lösen wir
den Reichstag auf." Die „sie" waren die National-
liberalen. Wir kennen die verschiedenen Entwürfe,
die Bismarck bei der Reichstagsauflösung als Wahl-
anweisung für die Behörden ausarbeitete. Das Akten-
stück wurde immer aufs neue so korrigiert, daß die
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Sozialdemokratie nahezu verschwand, und der linke
Flügel der Nationalliberalen an ihre Stelle trat. Ben-
nigsen wußte wohl, daß auch der zweite Entwurf
ganz andere Zwecke verfolgte, als er vorspiegelte.
Noch am 15. September 1878 schrieb er an seine
Frau: Die nationalliberale Fraktion werde sich bei
der ersten Lesung möglichst reserviert halten, „da ihr
die Entscheidung schließlich zufallen wird und wir
auch gar nicht wissen, was Bismarck eigentlich will,
das heißt, ob es ihm darum zu tun ist, ein Sozialisten-
gesetz zustande zu bringen, oder ,uns an die Wand
zu drücken*, wie sein beliebter Ausdruck sein soll."
Dennoch unterhandelte er mit Bismarck und er hat
schließlich die Annahme möglich gemacht, nachdem
die Laskersche Forderung der zeitlichen Begrenzung
von Bismarck zugestanden war; mit dieser Konzes-
sion beschwichtigten die Liberalen ihr Gewissen,
in ihrer ewigen Kompromißpolitik hatten sie ganz
das Gefühl verloren für den Schimpf und die Dumm-
heit dieses Frevels. Sie wollten sich eben nicht aus- .
schalten lassen, und so verteidigte Bennigsen, was
er wenige Monate vorher verurteilt hatte. Damit
begann der Zusammenbruch des Liberalismus. Das
Ausnahmegesetz war, so gesteht Oncken, „vom liberalen
Standpunkt eine weit größere Aufgabe ihrer Ideale,
als der Partei bisher jemals zugemutet worden war".
X.
Die Bismarcksche Politik der achtziger Jahre hat
zwei Jahrzehnte später durch den zwerghaften Plagia-
tor des ersten Kanzlers, durch den Fürsten Bülow, ihre
lächerliche Nachäffung gefunden. Die Reichsfinanz-
reform von 1909 hat ihr Vorspiel in der ersten großen
Reichsfinanzreform von 1879. Zugleich mit dem
Sozialistengesetz vollzieht sich die Abrüstung des
Kulturkampfes und die Bildung des schwarz- blauen
Blocks, der Verbindung von Konservativen und Zen-
399
trura. Schon diese erste Finanzreform, mit der die
Massenbelastung durch Zölle und indirekte Steuern
beginnt, wird von Konservativen und Zentrum ge-
gemacht, und die Liberalen werden rücksichtslos
hinausgeworfen.
Nicht als ob Bennigsen Bedenken gegen die Schutz-
zollpolitik gehabt hätte. Der Hinweis auf die alten
englischen Kornzölle sei eine ungeheure Übertreibung ;
damals hätte der Zoll für Weizen 2—4 Mark betragen,
jetzt werde für Roggen nur 25 Pfennige verlangt.
„Glauben Sie", führt er beruhigend aus, „daß es
möglich ist, in Deutschland Kornzölle auf die Dauer
einzuführen, die eine wesentliche Verteuerung der
Lebensmittel herbeiführen, glauben Sie, daß solche
Kornzölle irgendeine politische Komplikation über-
leben würden? Nein, ein wirklicher Schutzzoll auf
Getreide, wenn Sie ihn einführen wollten, wäre von
vornherein zum Tode verurteilt, und es würde nur auf
die Umstände und Gelegenheit ankommen, einige
Jahre früher oder später, wann das Todesurteil voll-
zogen würde. Der Schutz, der darin für die Land-
wirtschaft liegen soll, ist eine reine Illusion." War
Bennigsen also für einen kleinen mehr Finanz- als
Schutzzoll zu haben, so war doch der rein freihändle-
rische Teil der Nationalliberalen stark, und alle waren
einig, daß man das parlamentarische Einnahme-
Bewilligungsrecht nicht preisgeben, ebensowenig das
Reich abhängig machen dürfe von den Einzelstaaten.
Daher der Antrag Bennigsens, gewisse indirekte
Reichssteuern jährlich zu quotisieren. Bei diesem
Punkte brach der Konflikt mit Bismarck aus. Die
Führung übernahm Windthorst, Bennigsens alter
Gegner aus der hannoverschen Zeit, und mit der
Franckensteinschen Klausel kettete er das Reich an
die Einzelstaaten. Im Reichstag geht das Präsidium
von den Nationalliberalen auf die Konservativen über.
Die nationalliberale Partei zerfasert sich, erst bröckelt
400
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sie rechts, dann links ab. Bismarck verfolgt und ver-
hetzt die Liberalen, die er zerbricht, nachdem er sie
all die Jahre hindurch entnervt hat. Der Kanzler
arbeitet mit zwei Mehrheiten. Er macht den National-
liberalen antiliberale Politik und mit dem Zentrum
antiliberale Wirtschaft. Frühzeitig taucht aber bei
Bismarck auch schon der mittelparteiliche Kartell-
gedanke auf. Unmittelbar nach dem schroffen Bruch
läßt Bismarck Bennigsen durch einen Vetter die Bot-
schaft übermitteln (September 1880): Er solle den
Sezessionisten (den Lasker und Bamberger) die Türe
zumachen. „Mit nur negierenden Parteien kann die
Staatsregierung nicht gehen. Ich hoffe (meinte Bis-
marck), daß eine Einigung zwischen der nationalen
Partei und den Konservativen, natürlich ausgeschlossen
der Kreuzzeitungspartei, stattfinden wird." Über die
Schutzzollfrage werde man sich, meint Bismarck,
einigen: „Findet eine derartige Einigung nicht statt,
so treiben wir dem Absolutismus direkt entgegen.
Ein Wechsel im System der Verwaltung ist von der
Nation bedingt, hat längere Zeit Freihandel statt-
gefunden, so wird durch die unvermeidlichen Aus-
wüchse desselben dem Schutzzoll in die Arme gearbei-
tet, wird der Schutzzoll längere Zeit eingeführt sein,
so wird auch hier wieder ein Wechsel naturgemäß
werden."
Dem Manchestertum war Bennigsen nie ganz ver-
fallen. Deshalb wird es ihm auch leicht, Bismarck in
seinen sozialpolitischen Täuschungsversuchen zu unter-
stützen. Aber wie zaghaft und mißtrauisch ist man
damals, während man heute es den Sozialdemokraten
als Verbrechen anrechnet, gegen jene ersten Entwürfe
gestimmt zu haben. Noch 1881 wandte sich Bennigsen
in einer Magdeburger Rede gegen den Gedanken einer
staatlichen Alters- und Invalidenversicherung: Der
Staat müsse sich auf Aufstellung gewisser allgemeiner
Normen und gesetzlicher Vorschriften beschränken,
«6 Bisner, Gesammelte Schriften. I.
401
könne das Werk aber nicht in die Hand nehmen, son-
dern müsse die Durchführung Privaten, großen Fabri-
kanten, Aktiengesellschaften, Gemeinden, größeren
Kommunalverbänden und Korporationen überlassen ;
dem deutschen Charakter sei so etwas, was aussieht
wie Sozialbureaukratie, ebenso fremdartig wie Sozial-
demokratie. Und von der „herrlichen" kaiserlichen
Botschaft von 1881, die von dem „engeren Anschluß
an die realen Kräfte des christlichen Volkslebens"
frömmelte, meinte gar Bennigsen in einem späteren
Brief an Hammacher, Bismarck sollte „solche Schleu-
dercoups, wie die lediglich auf Windthorst zugespitzte
kaiserliche Botschaft . . . unterlassen. Mit solchen
Kunststücken kommt er nicht zum Ziel." Aber dem
Manchestertum ist er doch geistig überlegen, und
1882 (15. Juni) äußert er gegen Bamberger über die
sozialdemokratische Bewegung: „Ich glaube nicht,
daß wir es hier mit einer Bewegung zu tun haben,
die nur durch Agitatoren hervorgerufen und unter-
halten wird ; ich glaube, daß wir hier an einem Wende-
punkt der ganzen Geschichte der zivilisierten Mensch-
heit in Europa angelangt sind, wo es notwendig ist,
zu prüfen, was in diesen Bewegungen, welche so un-
geheure Massen schon an sich gerissen haben, der ge-
sunde Kern ist und was nur an Auswüchsen durch
revolutionäre und agitatorische Arbeit hinzugetan ist."
Man erkennt das liberale Verhängnis, die ewige un-
heilbare Erkrankung am „gesunden Kern". So ver-
bindet sich die Fähigkeit weltpolitischen Erkennens
mit der Zustimmung zu allen Verlängerungen des
Sozialistengesetzes .
Unterdessen ist Bennigsen zum Führer einer kleinen
Mittelpartei geworden. Die Wahlen von 1881 haben
die Nationalliberalen zerrieben. Bennigsen leidet
längst unter politischem Ekel. Bisweilen flackert noch
ein gewisser liberaler Trotz auf, so wenn er die politi-
sche Freiheit der Beamten gegen Bismarck verteidigt.
402
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Wiederholt will er sich vom politischen Leben zurück-
ziehen. 1883 führt er den Entschluß aus, er legt die
Mandate zum Reichstag und preußischen Landtag
nieder und bleibt bis 1887 den Parlamenten fern. In
demselben Jahre verlaßt auch Lasker Europa und stirbt
in Amerika. Als das Repräsentantenhaus der Ver-
einigten Staaten dem Reichskanzler eine Beileidsadresse
zur Übermittelung an den Reichstag übersendet,
lehnt Bismarck diese „Briefträgerrolle" ab und schickt
die Adresse, die seinem liberalen Helfer zur deutschen
Einheit huldigte, nach Washington zurück!
Die liberale Führung gleitet jetzt von Bennigsen
auf Miquel über, den durch keinerlei Grundsätze
mehr belasteten Geschäftsmann, der in allen kapita-
listischen Wässern sich gebadet hat und als preußischer
Agrarier endigt. Erst bei den Septennats wählen von
1887 — der Militärkonflikt ist von Bismarck lange, seit
1884, vorbereitet, um angesichts des zu erwartenden
Thronwechsels und des fortschrittlich spielenden
Kaiser Friedrichs sich mit einer konservativ-liberalen
Mehrheit zu gürten — tritt Bennigsen wieder hervor.
Aber zu liberaler Betätigung hat er keinen Raum mehr.
Der kleine liberale Lärm gegen das christliche Volks-
schulgesetz, für das die Liberalen im neuen Jahr-
hundert dann doch stimmten, ist nur eine Tages-
episode geblieben. Endlich schließt Bennigsen auch
Frieden mit den Klerikalen, und in den schwarzen
Block, den er früher für ein „verrücktes Projekt"
erklärt hatte, tritt er selbst noch ein. Bei den Ver-
handlungen über das Bürgerliche Gesetzbuch teilt ihm
Karl Bachem mit, daß dem Zentrum die Zustimmung
zu dem „großen nationalen Werk" nur durch „den
selbstlosen Beirat der Jesuiten" möglich werde; Bennig-
sen solle nun dankbar für die Aufhebung des Jesuiten-
gesetzes eintreten. Dies hübsche Aktenstück klerikaler
Politik wird freilich von Bennigsen ablehnend beant-
wortet.
96'
403
Wie Schattenbilder gleiten die letzten Jahrzehnte
flüchtig vorüber: Der Leichenhandel um Kaiser
Friedrich, der Regierungsantritt Wilhelms II. (der
Bennigsen gleich zum Oberpräsidenten von Hannover
macht und Miquel das Oberpräsidium der Rhein-
provinz anbietet, um seinen Liberalismus zu beweisen),
Bismarcks Sturz, Caprivi, die Handelsverträge, die Um-
sturzvorlage, Hohenlohe, die Zuchthausvorlage. Die
mitgeteilten Urkunden sind sehr instruktiv für die
Erkenntnis der wirklichen politischen Beziehungen,
die zum Beispiel Bennigsen mit dem Finanzminister
Miquel verbinden, manche öffentliche Legende wird
durch diese vertrauten Äußerungen vernichtet. Aber
der Herausgeber hat hier sehr vorsichtige Auswahl
getroffen; so teilt er nur einen Brief über die Zucht-
hausvorlage mit, der freilich schon beweist, daß Ben-
nigsen hinter der Büsinggruppe stand, die den Kadaver
zu retten versuchte. So sehr war Bennigsen jenseits
aller liberalen Grundsätze abgeglitten, — trotz ge-
legentlicher Sehnsüchte nach einem kräftigen einheit-
lichen Gesamtliberalismus und obwohl es ein gütiges
Geschick gefügt hat, daß er am Ende seiner politischen
Laufbahn seine Entlassung als Oberpräsident nehmen
mußte, weil er im Reichstag im Sommer 1897 für die
Aufhebung des Vereinsverbindungsverbots (Antrag
Rickert) gestimmt hatte, der sich gegen das preußische
Vereinsgesetz richtete.
Im Kompromiß vollzog sich der Untergang des
deutschen Liberalismus. Dennoch will Bennigsens
Biograph gerade in dieser Vorurteilslosigkeit die staats-
männische Bedeutung seines Helden erkennen. Diese
Ausführungen sind offenbar in den Honigmonden des
Bülowblocks geschrieben, und der Verfasser hat sie
später herauszukorrigieren vergessen, — das Lob
„positiver Politik", die eben nur gerade für die liberalen
Ideen ganz und gar negativ bleibt.
Versöhnend wirkt menschlich, wie der — am
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Schluß seines Lebens durch schweres Familienmiß-
geschick bedrängte — Mann nach seinem Ausscheiden
aus der aktiven Politik ab greiser Student wieder zu
den Füßen der Göttinger Professoren saß und Natur-
wissenschaften studierte. Und so beweist wohl dieser
Ausgang eines tätigen, reich bewegten und doch inner-
lich unfruchtbaren Lebens wieder die Gemeineigen-
tümlichkeit des deutschen Bürgertums in seinem vor-
nehmsten Vertreter: weitschauende Ideen zu spinnen,
um sie in der Praxis des Lebens zu verlieren. Das
war Bennigsens Schicksal und zugleich das des deut-
schen Liberalismus, der mit seinem bedeutendsten
Führer aufstieg, zerrann und endigte.
[1910.]
405
Anekdoten vom Tage.
I.
Der Schwindler.
Es war einmal ein frommer Knabe, der lernte fleißig
Bibelsprüche, und sonst nichts. Gott liebte ihn und er
bestand viele Prüfungen, wurde Professor, Geheimrat,
Exzellenz. Da entdeckte man eines Tages zufällig,
daß die Leuchte des Landes ein Einfaltspinsel war, gar
nichts wußte und nicht fähig war, zwei Gedanken logisch
zu entwickeln. Als man das sah, berief man ihn als
erbliches Mitglied in die Erste Kammer und alle Welt
bewunderte ihn: Wie groß muß doch ein Mann sein,
der nichts weiß, und es doch so weit gebracht hat.
Und es war ein anderer Knabe, ein gottloser Bube,
der immer nur hinter den Büchern saß und es deshalb
nur zum Hausdiener brachte. Nicht einmal das ver-
stand er. Er lief davon, durchwanderte die Welt,
lernte viele Sprachen und mancherlei Wissenschaft.
Schließlich kehrte er in die Heimat zurück, voll Tücke
und Bosheit. Und er benutzte eine schwache Stunde
seiner Mitmenschen, nistete sich unbemerkt als Lehrer
ein, gab Sprachunterricht und schrieb Bücher, die die
Welt lobte. Die Schüler verehrten ihn, und eine
Schülerin heiratete ihn sogar. Der Frau aber offen-
barte er sich, daß er nicht das kleinste Examen bestan-
den habe. Die fiel erst in Ohnmacht, verweigerte dann
die eheliche Pflicht und denunzierte schließlich den
Unhold. So erfuhr man, daß der treffliche Gelehrte
ein ganz gemeiner Hausdiener gewesen sei, und alle
Welt fluchte dem Schwindler, der sich in die gebildeten
Kreise eingeschlichen, und er ward ausgestoßen. Jetzt
ist er Kohlengräber!
406
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II.
Der Mord.
Der Richter: Gestehe, Scheusal, du hast dein Kind
in der Geburt erstickt.
Die Mutter: Ich gestehe. Ich war bettelarm und
einsam auf eisiger Landstraße. Da erbarmte ich mich
des Wurms.
Der Richter: Auf das Schaffot, Verruchte!
Der Ri ch t er : Du hast deinen Feind getötet. Weißt
du nicht, daß geschrieben steht: Liebe deinen
Nächsten.
Der Mörder: Er hat mich aber nicht geliebt. Er
hat mich mit Wucherzinsen verfolgt, mir mein Letztes
geraubt und mich in Elend und Verzweiflung gestoßen.
So zertrat ich ihn.
Der Richter: Du verhöhnst noch das Gericht, und
kennst keine Reue! Du erhältst einen Tag Haft wegen
Ungebühr und verfällst dem Henker, weil du aus
Eigennutz, um einen Vermögensvorteil zu haben,
einen unbemakelten Bürger grausam hingeschlachtet
hast.
Der Richter: In deiner Fabrik stirbt jährlich ein
Viertel deiner Arbeiter an Schwindsucht ?
Der Unternehmer: Jawohl, ich habe es zu einem
großen Betrieb gebracht.
Der Richter: Der scharfe Staub zerfetzt ihre Lun-
gen ? Das weißt du ?
Der Unternehmer: Jawohl, wo eine große Pro-
duktion ist, gibt es viel Staub.
Der Richter: Und das läßt sich nicht vermeiden?
Der Unternehmer: Nein, denn es würde die
Unkosten steigern.
407
Der Richter: Dein Geschäft geht aber?
Der Unternehmer: Ich kann nicht klagen. Wir
verteilten im letzten Jahre zwanzig Prozent Dividende
und gaben außerdem ein halb Prozent in die Waisen-
kasse.
Der Richter: O du wohltätiger Mann, würdest
du wohl die Gnade haben, mir zwei bis drei Aktien
zu verkaufen?
III.
Das freie Opfer.
Der Strom schwoll. Er brach ein in alle Winkel,
Höhlen des Bodens, sprengte alle Wölbungen, zer-
brach die sichere Decke der Erde, stürzte tausend-
jährige Heiligtümer der Kunst, warf die Behausungen
der Menschen ein, tötete Menschen, Tiere, schwemmte
Brot und Früchte fort, löschte das Licht und zer-
nagte den Verkehr, und trug auf seinen tückischen
Wogen Hunger und Seuchen.
Die Menschen traf das Ungeheure über Nacht.
Sie hatten sich alle so geborgen gefühlt, und waren
nun hilfloser als Robinson auf der Insel. Aber schnell
erwachte in ihnen der Mut und Stolz der gemeinsamen
Tat der opfernden Solidarität. Sie verzweifelten nicht
und wichen nicht vor dem Unheil. Sie waren eins
geworden durch das Unglück, halfen einander, ver-
richteten Wunder an Tapferkeit und Selbstpreisgabe.
Niemand sicherte das eigene Leben und das eigene
Gut, um das der anderen zu schützen. Der Strom
hatte die Menschen zu Brüdern und Helden ge-
tauft ....
Längst floß der Strom in ruhigem, seichtem Bett.
Aber über den Wassern verwehten ohne Unterlaß
ungestört die Seufzer der Leidenden, die Schreie
der Verzweifelnden, das Keuchen der Verfolgten und
Bedrohten.
Da rief einer das Volk zum Strom und sagte zu ihm:
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Sehet, dort unten auf dem Grunde liegt ein goldner
Schlüssel. Wer ihn bringt, der kann endlich dieser
armen Menschheit die versiegelte Pforte zum Paradies
eröffnen, und alle Not ist vorüber.
Das Volk richtete die Köpfe in jäher Hoffnung be-
gehrend empor und wartete.
Und die Stimme erscholl wieder: „Wer holt uns den
goldnen Schlüssel der Erlösung?"
Einer trat kühn an den Rand des Stroms, beugte
sich hinab, netzte die Fingerspitze und sagte:
„Nein, die Temperatur ist noch zu niedrig. Ich
könnte mich doch erkälten."
Ein zweiter lief zum Ufer. Im Spiegel des Wassers
sah er sich und sagte dann:
„Wie schade, gerade heut habe ich meinen Sonn-
tagsanzug an. Ich würde ihn verderben "
Und ein dritter drängte sich vor, lief mit einem An-
satz und blieb stehen, versuchte es nochmals und noch
einmal, und immer kam ihm im letzten Augenblick
ein Gedanke, der ihn lähmte. Endlich kehrte er zurück,
senkte den Kopf und lachte bitter:
„Wer weiß, ob's denn was hilft, ob's auch kein
Schwindel mit dem Schlüssel und dem Paradies ist.
Dazu ist mir schließlich mein Leben zu wertvoll . . ."
IV.
Ein Leutnant und zehn Mann*
Dreimal hatte der Landtag das allgemeine, gleiche,
direkte und geheime Wahlrecht abgelehnt. Dreimal
war der Landtag aufgelöst. Aber am Ende ward es
den Abgeordneten zu dumm und sie ließen sich nicht
mehr auflösen.
Da kam ein Leutnant und zehn Mann!
Am Tor empfing sie freundlich der Präsident : „Ah,
welche Ehre, Kameraden. Grüßen Sie Ihren Herrn von
uns und bestellen Sie ihm, daß wir Kröchers früher
in der Mark waren als die Hohenzollern. Wir werden
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also auch später in der Mark sein, wenn Ihr Herr
durchaus nicht lange leben will. Im übrigen haben
Sie sich in der Adresse geirrt. Drüben im Reichstag
haben "sie sich erfrecht, eine Erbschaftssteuer anzuneh-
men. Bitte, meine Herren, es wird mir ein Vergnügen
sein, Sie zu führen."
Und der Präsident geleitet den Leutnant und die
zehn Mann in den Reichstag.
Als die kleine Schar rasch ihre Aufgabe erledigt
hatte, fand man beim Aufkehren zwei Papierblätter
im leeren Saal. Auf dem einen stand:
Resolution.
„Indem wir erneut unser unverbrüchliches Be-
kenntnis zur monarchischen Staatsordnung ablegen
und im Heer die Grundlage nationaler Sicherheit bis
zum letzten Blutstropfen verteidigen, bedauern wir
ebenso lebhaft und entrüstet, daß durch den Über-
griff eines Leutnants der Reichstag an weiterer ge-
deihlicher Arbeit gehindert worden ist. Wir vertrauen
aber auf den gesunden Sinn des Volkes und behalten
uns weitere Schritte vor."
Auf dem anderen Zettel war zu lesen:
Resolution.
„In Erwägung, daß die Schließung des Reichstags
durch die bewaffnete Macht geeignet ist, das monar-
chische Bewußtsein im Volke auf das schwerste zu
schädigen, fordern wir den verantwortlichen Herrn
Reichskanzler auf, den tiefgekränkten Gefühlen der
Nation und ihrer berechtigten Vertreter Genugtuung
zu verschaffen und beim Monarchen alle geeigneten
Schritte zu tun, um mit möglichster Beschleunigung
eine Wiedereröffnung des so schwer geschädigten Par-
laments zu ermöglichen."
Unter dem ersten Zettel stand der Name Basser-
mann, unter dem zweiten v. Payer . . .
Februar 1910.
410
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Luise.
Eine Heiligengeschichte aus dem 19. Jahrhundert.
Ein wahrhaftes Königspaar ist für den gan-
zen Menschen, was eine Konstitution für den
bloßen Verstand ist. Man kann sich für eine
Konstitution nur wie für einen Buchstaben
interessieren. . . Ist nicht ein Mensch ein kür-
zerer, schönerer Ausdruck eines Geistes als ein
Kollegium?. . . Der König und die Königin
beschützen die Monarchie mehr als
200000 Mann.
Novalis auf Friedrich Wilhelm III. und die
Königin Luise, 1798.
I.
Es war einmal eine wunderschöne, engelgleiche
Fürstin, die hatte ein Herz von purem roten Golde.
Das Volk liebte sie und wo sie erschien, fiel alles in
Ehrfurcht vor ihr nieder. Sie bezwang die Sünder
und richtete die Unglücklichen auf. Niemand aber
vermochte ihr zu widerstehen, und wem sie ein Wort
ihrer purpurnen, hold geschwungenen Lippen gönnte,
der ward bereit zu jeglicher Guttat, ob er auch sonst
hart und verstockt sein mochte. Es war die Königin
Schneewittchen, der das Spieglein an der Wand tau-
sendmal am Tage kündete, daß sie schöner sei als die
schönsten Frauen des Landes.
Über so viel Tugend und Holdseligkeit ergrimmte
der Teufel. Er machte eine schreckliche Revolution
an den Grenzen des Landes, errichtete sich selber ein
Blutmeer, einen Thron und krönte sich zum Kaiser
der Welt. Dann überfiel er grausam das friedliche
Reich der Fürstin, tötete ihr Volk und vertrieb die
411
reine Frau. Sie aber, in unbesieglichem Vertrauen auf
Gott und die Tugend, voll unendlicher Liebe für ihr
gequältes Land, nahm tapfer unsägliche Leiden auf
sich, wanderte unter Schmerzen und Qualen in ferne
eisige Wüsten, kaum daß sie hatte, ihre Blößen zu
decken. Der böse Feind ließ sich durch so viel Schön-
heit, Unschuld, Reinheit und Heldentum nicht rühren.
Die hohe Frau aber stellte sich dem Satan stolz gegen-
über und rang mit seiner schwarzen Seele, um ihr
Vaterland zu retten. Doch der Unhold triumphierte
höhnend.
Der frommen und herrlich blondlockigen Fürstin
Vertrauen zur ewigen Macht des Guten war dennoch
nicht zu brechen. Sie hungerte und dürstete um ihres
Volkes willen und verlor nicht den Glauben. Wie aber
Satan nicht weichen wollte, brachte sie ein letztes
Opfer. Sie riß ihr Herz von purem roten Golde aus
dem schönen Busen und warf es ihrem Volke zum
Heile hin. So starb sie.
Ihr Herz aber hörte nicht auf zu klopfen. Und all-
mählich klopften all die bisher stummen und feigen
Herzen ihres Volkes mit, so groß und tapfer wie das
geopferte Herz der Fürstin. Und bald erhob sich das
Volk in grimmem Zorne und zog in den heiligen Krieg
gegen den Satan und vernichtete seine Herrschaft.
Das Land der Fürstin aber ist das mächtigste und
tugendhafteste Reich der Erde geworden, unsterblich
und unbesieglich, weil das geopferte Herz der Fürstin
purpurn und rot ewig in ihm klopft . . .
Das ist die Legende von der Königin Luise, die im
19. Jahrhundert entstanden ist, eine Legende voll
Süßigkeit, Tugend und Wunderkraft, und dazu eine
protestantische und preußische Legende. Eine Ge-
schichte, der Zeit nach und seltsam genug, daß man
— hundertster Todestag der Märtyrerin und Heldin —
die modische Frage auf werfen und beantworten darf:
„Hat die heilige Luise gelebt?"
412
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II.
I
Die monarchische Verehrung des guten Bürgers ist
mit einer Dosis gallig verkleinernder Mißgunst ver-
setzt. Indem er den Fetisch über sich erhebt, möchte
er doch, sein eigenes Werk neidend, sich wieder über
ihn erheben. So fügt er seiner Vergottung hoher
Herrschaften lüstern ehrfürchtigen Klatsch hinzu,
Dinge, die ängstlich geheimgehalten werden, die ihm,
dem guten Bürger, aber doch nicht verborgen geblie-
ben sind.
In meiner Kindheit war in den besseren Bürger-
familien Berlins die Königin Luise eine vertraute Ge-
stalt. Sie wurde bewundert und geliebt, obwohl sie
niemand mehr mit Augen gesehen hatte und niemand
etwas Bestimmtes von ihr wußte. Sie galt als etwas
sehr Schönes, Feines, Edles, wie ein verkörperter herr-
licher Roman, der aber zum Erbarmen traurig endigt,
eine Mischung von übermenschlichen Reizen, Fürsten-
glanz und Opferblut. In dem lieblichsten Eck des
Tiergartens begeisterte ihre marmorne Huldgestalt;
und Sonntags pilgerte man wohl nach Charlottenburg
ins Mausoleum, wo sie, von Rauch gemeißelt, weiß
und friedlich, die feinen schlanken Hände wie schüt-
zend über das schmerzende Herz gekreuzt, griechisch
stilisiert in magischem Lichte schlummert. Wenn man
aber all das Feierliche gehört und gefühlt hatte, so brach
unvermittelt am Schluß flüsternd wie eine gefährliche
Enthüllung, schadenfroh, die Frage in den Heiligen-
dienst ein: ob man wisse, warum Luise immer ein
breites Band um den Hals getragen habe. Nein, man
wußte nicht einmal etwas von dem Bande. „Sie hatte
nämlich einen Kropf." Der Knecht wurde glücklich
Herr über seinen Fetisch.
Der armen Luise ist es übel mit ihrem Kropf ge-
gangen, der vielleicht auch nur Legende ist. Eine
Heilige darf keinen Kropf haben, wie etwa ein Schlach-
4i3
tendenker unter keinen Umständen auf dem Klosett
sterben darf, was aber der alte Moltke dennoch
gewagt hat. Also retouchierte man den Kropf weg.
Dieses Bemühen aber stachelte nun wieder die Wiß-
begier. Man forschte und forschte, bis es auf ein-
mal schien, als sei auf diesem Fleck der Geschichte
überhaupt keine Heilige, nicht einmal ein gewöhn-
licher Mensch, sondern nur ein Kropf, nichts weiter
als ein Kropf.
Der ausschweifende Luisenkult der Hofgeschichts-
und Hofgeschichtenschreiber hat sich bitter an dem
Gedächtnis einer hübschen, liebenswürdigen Frau ge-
rächt. Indem man sie um und um durchstöberte und
durchleuchtete, hat man die Historie schließlich ernst
nehmen müssen und vor die Schranken des Welt-
gerichts gefordert. Das Ergebnis, das unumstößliche
Ergebnis war denn, daß diese reizende, wenn auch der
Fülle schillernder Beweglichkeit entbehrende Prin-
zessin von Mecklenburg, deren Schicksal einst fügte,
die Königin des preußischen Zusammenbruches zu
sein; daß diese Luise, weit entfernt, die Heilige und
der gute Genius in dunkler Nacht zu sein, vielmehr
die gefährliche Mitschuldige der schimpflichsten Kata-
strophe gewesen ist, die jemals einen Staat betroffen
hat. Die heilige Luise hat niemals gelebt.
III.
Zu Luisens Zeiten las der Deutsche nicht Goethe
und dachte nicht Fichte. Er las und dachte im Gegen-
teil Lafontaine, den deutschen Lafontaine, der in Hun-
derten von Bänden die tränenreichen Schicksale edler
Weiblichkeit geschildert hatte, wie sie sich durch
Tugend und Standhaftigkeit aus schweren Bedräng-
nissen schließlich rettete. Lafontaine wollte nicht nur
spannen, sondern auch belehren. So streute er Briefe
zur Einwirkung auf schöne Seelen ein. Er war der
unermüdliche Lobredner weiblicher Tugend, ohne
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beängstigende und unbequeme Strenge, sondern einer
milden, erträglichen Tugend, die so lange nicht als
„gefallen" gewertet wird, so lange sie sich dem Äußer*
sten nicht hingab.
Luisens Lieblingsschriftsteller war dieser Lafontaine
und seine Familiengeschichten erfüllten ihre Welt und
Weltanschauung. Während aber die Literarhistorie
den' platten Aufklärungsromancier verächtlich oder
gutmütig spottend auf dem Schindanger des Tages-
schrifttums verscharrt, haben die preußischen Ge-
schichtsschreiber die Lafontaineschen Geistesäußerun-
gen der schreibfrohen Luise bis in die neueste Zeit zu
dicken Bänden ausschweifend huldigend ausgewalzt
und all die unendlichen Wiederholungen von Tugend,
Liebe und Gerechtigkeit als die rührend erhabenen
Zeugnisse einer in unmenschlichen Prüfungen über-
irdisch gesteigerten Frauenseele beschwatzt und be-
staunt.
In Wahrheit aber war Luise wirklich nichts weiter
ab die Femelette, als das Weibchen, als das sie sich
selbst einmal, halb abwehrend, halb zugebend, im
Sinne des Freiherrn v. Stein, bezeichnet, mit jener
leichten Neigung zur spaßenden Selbstironie, die der
liebenswürdigste Zug ihres Charakters ist.
Das Luisenproblem kann auf eine ganz kurze und
doch erschöpfende Formel gebracht werden: Diese
Frau versucht, in einer Zeit ungeheuerster Spannungen,
Weltgeschichte als eine romanhafte Familiengeschichte
zu bewältigen, in der eine hinreißende, durch persön-
liche Huldigungen und Erfolge verwöhnte Frau durch
die Macht ihrer Weiblichkeit das Schicksal meistert.
Niemals war eine Frau, die sich der Politik vermaß, so
erschreckend ohnmächtig, auch nur zu begreifen, was
Politik bedeutet, oder auch nur die Staatsidee, ein
Allgemeininteresse zu verstehen.
Luise kennt keinen anderen Lebenszweck als das
• Glück und den Glanz ihrer Familie. Wo sie flüchtig
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von Volk und Vaterland redet, da erscheint „ihr" Volk
und „ihr" Vaterland als bloße Staffage ihrer Familie.
Den Zusammenbruch Preußens empfindet sie als eine
unverdiente Zerstörung ihres dynastischen Behagens.
Die Weltgeschichte besteht für sie aus Luise und
Friedrich Wilhelm nebst dero Kindern, aus Schwestern
und Vettern, aus dem Zar Alexander und dem Kaiser
von Österreich, aus dem Herzog von Braunschweig
und dem General Bennigsen, aus Hardenberg und
Haugwitz, und vor allem — als dem bösen Prinzip —
aus Napoleon, dem Menschen, dem Manne Napoleon,
der keine Politik treibt, nicht Geschichte macht, son-
dern lediglich ein Teufel 'St, der sich aus dem Kot
emporgeschwungen hat und der kein fühlendes Herz
hat, weil er den Tränen und Bitten einer schönen,
in entzückendem, weich wallendem und durchsichtig
schimmerndem Gewände erscheinenden Dame wider-
steht. Jede politische Handlung Napoleons hat Luise
als eine Beeinträchtigung ihres Familiengutes auf-
gefaßt, und wenn der Eroberer die Hand nach den
preußischen Domänen auszustrecken droht, so denkt
die Königin nur an den Verlust „ihrer" Domänen oder
der Domänen ihres Mannes als an einen Raub ihres
privaten Eigentums.
Diese Frau, die in der furchtbarsten Zeit Preußens
ihre schlanken Finger in allen entscheidenden Wen-
dungen hatte, hat niemals eine politische Äußerung
sachlichen Inhalts getan. An der Seite eines unbeweg-
lich stumpfen und unerträglich störrischen Gemahls
spielt sie das Schicksal der Monarchie, obwohl sie nichts
kennt als ein paar moralische Gefühle — wie Tugend,
Gerechtigkeit, Stolz, Ehre — , als den Gegensatz des
verruchten Feindes Napoleon und des göttlichen
Freundes, des Zaren — als das eine Ziel, der Familie
die Krone, das Land, das Glück zu erhalten.
Und eine Figur solcher Enge und Kleinheit nimmt
den Kampf gegen einen Giganten wie Napoleon auf,
416
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der nichts ist als der Träger des ungeheuren Welt-
kampfes der Revolution wider die alten Mächte:
England und Rußland.
IV.
Gewohnt, alle Dinge durch die bewährte Beredsam-
keit ihrer Frauenanmut zu entscheiden, läßt sich Luise
auch wieder leicht von starken Persönlichkeiten beein-
flussen. Die leidenschaftliche Liederlichkeit des stür-
misch jungen Louis Ferdinand und ihre an Ver-
zückung grenzende, von ihr selbst bekannte „Seelen-
liebe" für den schönen Zaren Alexander — die all-
gemein verbreitete Soldatensage deutete diese Schwär-
merei derb als Buhlschaft, um derentwillen man sich
habe totschlagen lassen müssen — beeinflussen sie vor
1806 kriegerisch. So durchkreuzen ihre schlanken
Hände ahnungslos die durchaus ernsthafte und auf-
richtige Politik Napoleons, der in dem von ihm zuerst
auch noch überschätzten Militärstaat einen Bundes-
genossen wider England und Rußland zu werben
wünschte und erst dann den Krieg erklärte, als die
Zaren politik Luisens die Unmöglichkeit bewies, sich
auf Preußen zu verlassen.
Hilft Luise derart am Sturz Preußens mit, so tut
sie nach der Katastrophe nichts, um zur Wiedergeburt
des Staates zu helfen. Im Gegenteil. Für die Refor-
men des Freiherrn v. Stein hatte sie gar kein Ver-
ständnis, sein idealistisches Ungestüm war ihr eher
widerwärtig. Sie hielt ihn nicht, als ihr Mann ihn als
frechen Dienstboten davonjagte. Sie wendete sich
an Stein als Retter, als keine andere Hilfe aus der
Bedrängnis sich mehr bot. Als sie aber sah, daß Stein
an den Staat dachte und nicht an das hohenzollernsche
Familienglück, da trat sie an die Spitze seiner Feinde
und half zu seinem zweiten Sturze. Luise verlangte
180S als Entschädigung für zweieinhalb Jahre Unglück
eine Reise nach Petersburg. Als Stein widersprach
17 Eisoer, Gesammelte Schriften. I.
417
— wegen der Kosten und aus politischen Erwägun-
gen — , mußte er Königsberg verlassen.
Das war das „Märtyrertum". Während der unsäg-
lichsten Not des Landes, als den Bauern das Korn
zur Aussaat fehlte, als man vielfach mit Baumrinde
den Hunger zu stillen suchte, hielt das Königspaar in
Memel wie in Königsberg einen höchst kostspieligen
Hofhalt, der einen erheblichen Teil der Landes-
einkünfte verschlang und bei dem zu sparen sich Luise
entschiedenst weigerte. Gleichwohl jammerte sie end-
los über ihre Not.
Aus diesem verhaßten Memel herauszukommen, das
erfüllte all ihr Sinnen und Trachten. Darum wesent-
lich (und um Magdeburg für ihren Mann zu retten)
ging sie uneingeladen zu dem vordem roh und einfältig
beschimpften Napoleon nach Tilsit und versuchte, ihn
zu beeinflussen. Als sie nichts ausrichtete, schmähte
sie den Menschen ohne Herz wieder, wollte aber noch
im gleichen Jahre nach Paris fahren, um ihn wiederum
anzuflehen. Ja wir kennen sogar seit kurzem den würde-
losen Brief, den Luise damals an Napoleon schrieb.
Sie will durchaus nach Berlin zurückkehren; denn in
Memel leide sie mehr als irgendein anderer. „Meine
Gesundheit ist völlig zerstört, da ich das feuchte und
kalte nordische Klima nicht vertragen kann." Sie
unterbreitet diese Bitte dem Kaiser, weil sie weiß, daß er
sich für ihre Person interessiert. „Ich schmeichle mir,
daß Sie diesmal der Stimme Ihres Herzens folgen
und Preußen, dem König und mir das Glück zurück-
geben werden, ein Glück, dessen Wert wir doppelt
schätzen werden, wenn wir es aus den Händen Eurer
Majestät empfangen."
Ein Jahr später fleht sie den Zaren an, sich nicht
mit Napoleon einzulassen: „Ich beschwöre Sie, lieber
Vetter, mit aller Zärtlichkeit, deren meine Freund-
schaft fähig ist, seien Sie auf Ihrer Hut gegen diesen
gewandten Lügner und hören Sie auf meine Stimme,
418
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die nur für Sie spricht, für Ihren Ruhm, den ich liebe
wie den meinigen; lassen Sie sich nicht zu Unter-
nehmungen gegen Österreich hinreißen." Sie will ihn
als „guter Genius" nach Erfurt begleiten. In einem
persönlichen Zusammentreffen mit dem Zaren be-
nimmt sich Luise mit einer Überschwenglichkeit, mit
Ausbrüchen ihrer weiblichen Empfindungen, die selbst
den preußischen Hofhistoriographen Sorge einflößen.
Der gute Genius schwebt eifersüchtig über den Ver-
gnügungen von Erfurt, sie möchte den Freund vor fri-
volen Zerstreuungen behüten, ihn — in Erfurt —
auf der Bahn der Tugend festhalten. Als dann aber
der Zar trotzdem seinen Frieden mit dem Lügner
schließt, findet sich Luise sofort drein, daß Preußen
als Schmarotzer im französisch-russischen Bunde em-
porwächst. Und sie, die eben noch an Erhebungs-
plänen gegen Napoleon geholfen, läßt jetzt Stein
stürzen, weil er durch die ernsten Vorbereitungen
einer solchen Organisation die Ruhe der königlichen
Familie gefährdet! Sie geht nach Steins Beseitigung
zu den rauschenden Festen am Zarenhof und kehrt
zurück — voll bitterer Äußerungen über den ange-
beteten Alexander. Der Zar hatte nämlich die Ge-
legenheit benützt, sich von dem Verdacht eines Ver-
hältnisses mit Luisen zu reinigen, indem er in ihrer
Gegenwart brutal seine Maitresse auszeichnete.
Auf einer Vergnügungsreise ist Luise im Juli 1810
von einer Lungenentzündung weggerafft worden.
V.
Der Luisenkult begann früh. Der Heiligenschein
dieser Frau sollte das Dunkel von Jena gnädig über-
strahlen. Heute ist Luise geradezu zur Schutzpatronin
des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie ge-
worden. Jede historische Feststellung über diese Frau
gilt als Schändung des Erhabensten.
Die Heilige wirkt in der Tat auch nach ihrem Tode
419
Wunder, freilich Wunder preußischer Art. 1855 wurde
ein Artikel des Züricher „Sozialdemokrat" über die
Königin Luise von dem Minister Puttkamer als wich-
tigster Beweis für die Notwendigkeit des Sozialisten-
gesetzes verwendet. In unseren Tagen hat der Di-
rektor der Spirituszentrale, der konservative Abgeord-
nete Kreth im Reichstag, wegen eines Luisenartikels
der „Leipziger Volkszeitung" Strafgesetze gegen die
Geschichtsforschung verlangt. Und auch ohne dieses
Gesetz und obwohl das deutsche Strafgesetzbuch nicht
die Ahnen des regierenden Königs schützt, wurde der
Redakteur der „Königsberger Volkszeitung'* am 4. Jänner
1908 zu fünfzehn Monaten Gefängnis verurteilt, weil
er einige unzweifelhafte geschichtliche Tatsachen über
die Königin Luise zusammengestellt hatte.
So wirkt die preußische Heilige noch nach einem
Jahrhundert, die Mächte zu fördern, die einst die
Katastrophe Preußens verschuldet haben und die in
ihr mit Recht ihren Schutzengel verehren mögen.
[Juli 1910.]
420
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Die Meineidslinde von Essen
In Preußen wird nicht nach der preußischen, auch
nicht nach der deutschen Verfassung regiert. Schon
deshalb nicht, weil diese feierlichen, aber konfusen
Papiere, nicht die Quelle des staatsbürgerlichen Rechts,
sondern lediglich die Quelle staatsrechtlicher Diskus-
sionen sind. Die Grundrechte eines Preußen sind
Streitfragen Bediensteter an den Universitäten. Und
die herrschende Lehre stellt über alle gedruckten Para-
graphen die Staatsnotwendigkeit. Was aber eine
Staatsnotwendigkeit ist, entscheidet Wilhelm II. oder
Herr Bethmann . . .
Die Wahrheit ist: Es wird in Preußen noch immer
nach dem allgemeinen Landrecht regiert, in dem schon
die Gelehrten Friedrichs des Zweiten die Kunst jenes
preußischen Jargon übten, durch liberale Rechts-
phrasen die Diktatur der Gewalt (der Staatsnotwendig-
keit) zu verkleiden.
Nach dem Landrecht aber ist die wichtigste Obrig-
keit die Polizei. Ihre Rechte sind ungemessen. Ihre
Aufgabe ist ganz allgemein, die innere Ordnung
aufrecht zu erhalten. Was die innere Ordnung ist,
verfügen wieder die jeweiligen Machthaber.
Die Polizei ist zur Vollendung der Staatsnotwendig-
keiten da. Demgemäß sind die ausführenden Organe
der Polizei mit höchster Machtvollkommenheit aus-
gestattet. Das ewige Menschenrecht der Notwehr
bricht vor einem preußischen Schutzmann ehrfürchtig
zusammen . . . Ein Polizist kann ohne Untersuchung
und Verhandlung ein Todesurteil fällen und sofort
vollstrecken. Zu seiner tatkräftigen Ausrüstung gehört
421
der Säbel, der Browning (man darf gewisse technische
Fortschritte gegen die Zeit Friedrichs des Zweiten
nicht leugnen, wenn man nicht in den Verdacht bös-
williger Verkleinerungssucht geraten will!) und der
Gerichtseid. Auch dieser Polizisteneid gehört zu den
staatsnotwendigen Mitteln. Es wird beschworen, was
staatsnotwendig ist. So tief wurzelt in dem schlichten
Marin mit dem Browning der Instinkt für das Preußisch-
Notwendige, daß in seinem Bewußtsein alle Vorgänge
der Außenwelt so gerinnen, wie sie der innere Dienst-
betrieb erfordert. Ist der Eid gar zu kompliziert
und droht das Bewußtsein, der gute Glaube, zu
versagen, so springt der Vorgesetzte ein, der die
Erlaubnis zur Aussage verweigert — aus Gründen der
Staatssicherheit.
Wer das preußische Wesen nicht kennt, entrüstet
sich über häutige Bevorrechtung des Schutzmannseides
vor zivilen, besonders vor proletarischen Eiden. Wenn
man aber in das allgemeine Landrecht schaut, so
schwindet die Entrüstung und man beugt sich er-
griffen vor dem zähen Leben des alten ständischen
Rechts, das in der preußischen Justiz heute noch auto-
matisch wirkt, obwohl es längst durch allerlei windige
neumodische Gesetze abgelöst ist. Im ständischen
Staat der absoluten Monarchie kannte man eben nicht
den gleichen Eid. Die Bedeutung des Eides wurde
bewertet nach dem Stande dessen, der ihn leistete.
Waren die Eide nicht miteinander vereinbar, so wur-
den sie nach ständischen Points berechnet und be-
wertet. Es war gesetzliche Vorschrift, daß ein unifor-
mierter einem bürgerlichen Eid vorgezogen werden
mußte. Die alte gute Vorschrift ist zwar heut im
Sinne des papiernen Rechts gesetzwidrig, dafür aber
Praxis — ein herrlicher Beweis für die Lebenskraft
des friderizianischen Gesetzbuchs . . .
422
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All vor 15 Jahren der Gendarm Münter den Eid
leistete, daß er den Vertrauensmann der Bergarbeiter
nicht zu Boden geschlagen, erzielte er damit den
Erfolg, daß sieben sozialdemokratische oder sozial-
demokratischer Gesinnung verdächtige Männer i8l/t
Jahre Zuchthaus und 6 Monate Gefängnis erhielten.
Die Güte eines Eides bewährt sich in der Nützlich-
keit für den Staat. Herr Münter hatte also einen
sehr guten Eid geschworen . . .
Dieser eine Eid berauschte die Geschworenen, unter
denen sich kein Arbeiter befand, daß sie das Schuldig
aussprachen. Dieser Polizisteneid befeuerte so die
staatsanwaltliche Energie, daß er mit stürmischer
Leidenschaft die höchsten Strafen forderte. Dieser
Münter-Eid beherrschte die gelehrten Richter, die aus
einer dünnen bürgerlichen Oberschicht sich rekrutieren,
daß sie die furchtbarsten Strafen verhängten. Dieser
Eid eines Halunken blieb 15 Jahre lange in unge-
schwächter Kraft.
Mochten die Zuchthäusler ihre Unschuld beteuern,
mochte das ganze Proletariat aufschreien in Schmerz
und Zorn, mochte der eidschwürige Polizist sofort als
ein höchst verdächtiger Patron entlarvt werden,
mochte die gesunde Vernunft die innere Unmöglich-
keit, den Widersinn des ganzen Prozesses nachweisen,
mochte der Verteidiger der Angeklagten unermüdlich
für das Recht kämpfen — die herrschende Welt fügte
sich dem Eid des Gendarmen, und alle wurden mit-
schuldig an dem Verbrechen . . .
Bis zur letzten Minute mußten die Unglücklichen
die Strafe auskosten, und die ungezählten Schuldigen
und Mitschuldigen scheinen in ihrem ruhigen Schlum-
mer nicht gestört worden zu sein; sonst hätte das
herrschende Deutschland, unter dem Fluch der Zucht-
häusler, von einer Pest der Schlaflosigkeit befallen
werden müssen.
423
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Der Freispruch nach fünfzehn Jahren ist keine
Sühne.
Den Opfern ist der Freispruch eine späte, leise
Freude, die Geldentschädigung mag das Gröbste mil-
dern — all das ist keine Sühne.
Man pflanze zu Essen eine Meineidslinde; man
pflanze sie mit diesem Gelöbnis: Wenn dein Stamm
sich reckt, deine Äste sich breiten, deine Blätter
schatten, dann soll — das werden wir erfüllen — die
Jugend eines glücklicheren Geschlechts um dich tanzen !
[Februar 191 1.]
424
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Chefredakteur Wilhelm.
Die Independance Beige meldet: Kaiser
Wilhelm werde eine eigene große Zeitung grün-
den, deren Besitzer, Direktor und Redakteur
er selbst sein werde, während der Fürst von
Fürstenberg das Geld hergibt. Die Tendenz
des Blattes ist Kampf gegen den Sozialismus.
Der Präsident der Vereinigten Staaten Roosevelt ist
nach dem Ablauf seines Amtes der Redakteur irgend-
eines Blattes geworden, nicht einmal der leitende,
sondern nur einer für selbsterlebte Reiseabenteuer und
weltgeschichtliche Auszüge aus dem Konversations-
lexikon. Immerhin ist er nur Redakteur und nicht
auch Präsident. Die überlegene europäische Erbkultur
vermag natürlich höhere Leistungen hervorzubringen.
Hier vermag ein Monarch zugleich ein großes Reich
zu regieren und eine große Zeitung zu redigieren,
deren Eigentum und geschäftliche Direktion ihm
selbstverständlich auch noch zufällt.
Feinfühlige Propheten haben diese Entwicklung
kommen sehen. Seitdem Wilhelm II. dem Fürsten
Bülow den Revers unterschrieben hat, daß er nicht
mehr reden und telegraphieren werde, war ihm seine
geistige Betätigung nahezu unterbunden, und mehr
und mehr fühlte er sich von seinem Volke abgesperrt,
bis zur Entfremdung losgelöst. In jenen Tagen des
November beschlich Wilhelm II. ein Gefühl, als ob
er vielleicht doch seinen Beruf verfehlt habe, und
dieses Gefühl bestätigte ihm seine journalistische Be-
gabung; denn ein Journalist ist ja ein berufsmäßiger
Berufsverfehler. Dazu kamen die materiellen Sorgen,
die durch die Teuerung aller Lebensmittel und die
4^5
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große Familie hervorgerufen waren, und die ihm den
Gedanken an die Laufbahn eines Hungerkandidaten
besonders nahelegten. Endlich hatte der Kaiser so
viele Jahre hindurch mit Zeitungsausschnitten zu tun
gehabt, daß ihm auch die notwendige technische Vor-
bildung nicht ermangelte, zumal er auf dem Casseler
Gymnasium mit der Schulbildung gründlich zerfallen,
mithin für den journalistischen Beruf geradezu be-
rufen war. Und da Freund Egon das Geld hergeben
wollte, stand der Ausführung des Unternehmens nichts
mehr im Weg.
Als August Scherl von der furchtbaren Konkurrenz
hörte, bot er sofort unter fabelhaften Bedingungen
die Chefredaktion des Lokalanzeigers an, aber Wil-
helm II. lehnte dankend ab: er wolle endlich einmal
sein eigener Herr sein. August Scherl gedachte einen
Augenblick sein Haupt unter seine Einschienenbahn
zu legen, dann aber fiel ihm rechtzeitig ein, daß Wil-
helm II. ein politisches Tendenzblatt herausgeben
wollte, daß er mit seinem Zeitungspapier die Sozial-
demokratie zu vernichten gedenke. Sofort wurde seine
Seele ruhig, er lächelte fein, beschloß zu warten und
sich zwei neue Redakteure für Mordprozesse anzu-
werben.
Die zu erwartende Konkurrenz bedroht auch unser
Blatt. Wir haben deshalb erhöhte Aufwendungen
gemacht und es ist uns gelungen, dank unseren vor-
züglichen Verbindungen schon heute mitteilen zu
können, was das Kaiserblatt künftig bringen wird, und
welche Schicksale ihm beschieden sein werden. Wir
greifen in unsere Aktenmappe und geben zur Probe
aus unserem geschwollenen Schatz vorläufig nur ein
paar Häppchen wieder, mit dem Versprechen, unsere
Leser weiter vorzeitig über das Kaiserblatt auf dem
Laufenden zu erhalten.
426
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Aus der Abonnementseinladung... und so
fällt denn das gefährliche Steigen der roten Flut zu-
sammen mit jenem unglückseligen Versprechen, das
ich dem gewesenen Reichskanzler Fürsten Bülow ge-
geben habe. Nichts ist begreiflicher, als daß mein
Volk, das seinen Kaiser nicht mehr reden hört, den
Verführungen von Narren, Schurken und Verbrechern
zum Opfer fällt. Ich aber werde meine Feder so
führen, daß für tausend Jahre kein vaterlandsloser
Geselle einen Deutschen scheel anzusehen wagen wird.
Das Blatt Papier, das jetzt täglich dreimal zwischen
mir und meinem Volke stehen wird, beseitigt die
Schranken zwischen dem Thron und der Nation. Ein
Gott, ein König, eine Zeitung — das ist die Losung
meines Blattes.
Ich werde die Welt von dem Irrwahn des Sozialis-
mus befreien, ich werde der Kunst und der Wissen-
schaft die richtigen Wege weisen, Religion und Sitte
erhalten, sowie auf allen Gebieten mein Volk herr-
lichen Tagen entgegenführen . . . Inserate finden in
allen Kreisen der Gesellschaft die größte Verbreitung,
Wirkung, deshalb garantiert . . .
•
Aus einem Artikel „Das Wesen des Sozialis-
mus" .. . Der Sozialismus besteht also darin, daß
eine Rotte von Menschen, die nicht wert ist, den
Namen Deutscher zu tragen, den armen Mann aus
der Werkstatt um seine mühsam erarbeiteten Groschen
bringt, mit denen die sogenannten Führer sich dann
im Sumpfe aller Laster wälzen. Zu jeder Arbeit un-
lustig und unfähig, wollen sie auch die berufenen
Führer der gesitteten Menschheit am Arbeiten hin-
dern : die Fürsten am Regieren, die Offiziere am Krieg-
führen, die Priester Gottes an der religiösen Propa-
ganda, die Kapitalisten an der Unternehmerintelligenz,
die Familie an der ehelichen Liebe. Auf den Trüm-
427
mern unserer tausendjährigen Kultur werden sie, wenn
das verblendete Volk ihnen weiter Vertrauen schenkt,
dann die wüsten Orgien der freien Liebe feiern. Ich
aber werde das hindern . . .
•
Parlamentarisches . . . Wie wir aus zuverlässiger
Quelle vernehmen, hat die sozialdemokratische Reichs-
tagsfraktion sich als eine Bande organisiert, die plan-
mäßig jene Einbruchsdiebstähle und Raubmorde ver-
anstaltet hat, die unsere treue Bevölkerung von Berlin
in letzter Zeit mit Angst und Schrecken erfüllt hat.
Die Verhaftung steht unmittelbar bevor . . .
•
Eine Berichtigung... Die sozialdemokratische
Reichstagsfraktion sendet uns eine Berichtigung, in
der sie behauptet, wir seien einer Verwechslung der
Sozialdemokratie mit den bürgerlichen Parteien zum
Opfer gefallen, deren Raubzüge sich aber nicht auf
den Stadtkreis Berlin beschränkten. Die sozialdemo-
kratische Fraktion will Gesetzgeber spielen und kennt
noch nicht einmal den wichtigsten Satz der Reichs-
verfassung, sonst müßte sie doch wissen, daß unser
Blatt es nicht notwendig hat, eine Berichtigung auf-
zunehmen, da unser verantwortlicher Redakteur im-
mun ist und überhaupt über den Gesetzen steht. Aus
demselben Grunde sehen wir auch der angedrohten
Beleidigungsklage mit Fassung entgegen. Wir sind
nur Gott und unserem Gewissen verantwortlich.
Das größere Deutschland . . . Die englische
Regierung will uns lächerlicherweise unsere wohlbe-
gründeten Rechte auf Schottland streitig machen.
Wir werden in der nächsten Nummer die geheimen
Aktenstücke veröffentlichen, die den sonnenklaren
428
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Beweis für unsere Rechte führen werden. Außerdem
marschieren binnen zwei Tagen, wenn es sein muß,
zwei Millionen Soldaten, stechen 500 Panzerschiffe
erster Ordnung in die See und fliegt eine Zeppelin-
brigade in die Luft. Die Times möchten wir also
dringend ermahnen, eine ruhigere Sprache zu führen.
•
In eigener Sache... Unsere gestrige Nummer,
welche die geheimen Aktenstücke veröffentlichte, ist
nicht in die Hände unserer Leser gelangt, weil die
Staatsanwaltschaft die ganze Auflage angeblich wegen
Verrats von Staatsgeheimnissen hat konfiszieren lassen.
Der schuldige Staatsanwalt wurde sofort verhaftet.
• •
•
Aus dem Briefkasten. Nörgler. Sie haben sich
erdreistet, unser Blatt abzubestellen, weil Sie solchen
Quatsch nicht länger lesen mögen; wenn Sie nicht
sofort auf ein Jahrzehnt weiter abonnieren, so hängen
wir Ihnen eine Klage wegen Majestätsbeleidigung an.
— Inserent. Sie haben ganz recht, auch uns ist schon
wiederholt aufgefallen, daß unsere geschätzten In-
serenten bald Kommerzienräte wurden. — Amtsrichter
in Bomst. Wie können Sie Beförderung erwarten, wenn
Sie nicht einmal unser Blatt abonnieren.
•
Krieg in Sicht . . . Neuseeland hat, wie uns
soeben gekabelt wird, den Fünf stundentag eingeführt.
Da wir nicht gesonnen sind zu dulden, daß irgendwo
in der Welt sich der Zukunftsstaat einnistet, haben
wir Neuseeland ein Ultimatum gestellt. Auch unser
Verhältnis zu Belgien nimmt eine bedrohliche Wen-
dung an, da die belgische Regierung sich hartnäckig
weigert, die Karl-Marx-Straße in Brüssel in einer den
zivilisierten Anforderungen entsprechenden Weise um-
429
zu benennen; die Berufung auf die völkerrechtlich
gewährleistete Neutralität können wir bei solchen
Verletzungen des Völkerrechts nicht anerkennen. Lei-
der sind auch unsere Beziehungen zu unserem öster-
reichischen Bruderstaat getrübt, da Kaiser Franz Josef
sich geweigert hat, vorgeblich aus Gesundheitsrück-
sichten anläßlich seines hundertsten Geburtstages un-
sern Chefredakteur an der Spitze sämtlicher deutscher
Bundesfürsten zu empfangen und ihm ein Interview
zu gewähren. So ballen sich Wolken ringsum zusam-
men, und um so wichtiger ist es, unser Blatt zu abon-
nieren, das allein in der Lage sein wird, sämtliche
Kriegspläne vorher zu veröffentlichen.
•
Kunst und Wissenschaft . . . Unser Chef-
redakteur hat soeben mit Hermann Sudermann eine
monatfüllende Oper vollendet, zu der er auch das
eigens zu erbauende Festspielhaus, die Dekoration,,
die Instrumente und die Kritik entworfen hat. Die
Titelrolle wird der Verfasser selbst kreieren. — Gegen-
über den vielfach geübten Angriffen auf die Marmor-
statuen der Siegesallee und am Brandenburger Tor
haben wir nunmehr festgestellt, daß sie sämtlich von
Leonardo da Vinci stammen. Welche Blamage für
gewisse Rinnsteinverehrer ! . . .
• •
•
An den Chefredakteur Wilhelm... Lieber
Freund! Hierdurch muß ich Dir leider zum ersten Ok-
tober kündigen. Kein Mensch will das Blatt lesen.
So viele Millionen besitze auch ich nicht, wie so eine
Zeitung frißt. Du bist nicht schuld, sondern das
stupide deutsche Publikum. Komm mal bald zur
Jagd, das ist billiger. In alter Treue
Dein Freund Egon.
• •
430
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An unsere Leser... Der erfreuliche Aufschwung
unseres Blattes legt uns die Pflicht ob, unseren Lesern
immer neue Verbesserungen zu bieten. Zu diesem
Zwecke wird vom i. Oktober ab unser Blatt mit dem
rühmlichst bekannten Lokalanzeiger des Herrn August
Scherl verschmolzen werden, und bitten wir unsere
geschätzten Abonnenten, ihr Wohlwollen auch dem
verschmolzenen Unternehmen zu erhalten.
[August 1910.]
43i
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Die Steuerlampe.
Plan einer Zeitschrift.
Höchst vertraulich!
Ort und Datum des Poststempels.
Euer Hochwohlgeborert
beehren wir uns ganz ergebenst die Aufmerksamkeit
auf unser neues Unternehmen zu lenken, das schon im
bevorstehenden Wahlkampf der Sache der Ordnung
wertvolle Dienste leisten wird.
Die peinliche Feststellung, daß eine der hervor-
ragendsten Persönlichkeiten des Landes, in dem Über-
maß seiner gemeinnützigen Tätigkeit, vergaß, einige
kleine Steuerirrungen richtigzustellen, hat den roten
Hetzern den willkommenen Anlaß geboten, nun alle
führenden Heroen der Nation in ihrem Patriotismus
zu verdächtigen und das tiefste Mißtrauen gegen alles
zu erregen, was Rang, Stand, Besitz, Bildung und
vornehme Gesinnung in unserem Vaterlande hat.
Diese subversiven Elemente sagen, und man glaubt
ihnen jetzt, wenn sie den giftigen Samen aussäen : Uns
wirft man vor, daß wir den Privatbesitz zugunsten des
Staates der Allgemeinheit enteignen wollen, ihr aber
enteignet den Staat zugunsten des Privatbesitzes.
Es ist nicht zu leugnen, daß diese allgemeine Ver-
dächtigung aller Besitzenden seit jener bedauerlichen
Steuerirrung einen gewissen Schein von Recht erhalten
hat. Wenn also die gegenwärtige Ordnung noch vor
dem immer ungestümer andrängenden Umsturz sich
behaupten will, so müssen die oberen Stände der Ge-
sellschaft Sorge tragen, sich gegen die Verdächtigung
und Verleumdung zu verteidigen.
433
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Unsere Zeitschrift Die Steuerlampe soll diesem er-
habenen, ja eminent nützlichen Zweck dienen. Wäh-
rend aus dem Mißtrauen und dem Haß des Pöbels
jene schmutzige Revolverpresse aufgewuchert ist, die
durch ihre schamlosen Angriffe gegen alle bevorzugten
Persönlichkeiten des Landes gemeinen erpresserischen
Verdienst zu raffen versucht, wird Die Steuerlampe
das Vertrauen und die Verehrung für die gute und
beste Gesellschaft, für den Adel der Geburt und des
Besitzes fördern. Wir wollen den Optimismus gegen-
über dem beklemmenden Mißtrauen und die nationale
Lebensfreude wieder stärken. Die Steuerlampe ist
lediglich zu dem Zweck gegründet, um den Verdienst
und die Verdienste der leitenden Gesellschaftskreise
nicht nur ins Licht zu rücken, sondern auch unwider-
leglich zu beweisen.
Durch die Steuerlampe erhält jeder zu den höheren
Einkommensstufen emporgestiegene Mitbürger das
Mittel, um offen vor aller Welt zu beweisen, daß er
nicht nur entsprechend seinem Einkommen und Ver-
mögen dem Staate Steuern entrichtet, sondern daß er
aus lauterer Vaterlandsliebe auch über das Maß seiner
Verhältnisse hinaus dem Staate zu opfern bereit ist.
In dieser Absicht wird Die Steuerlampe alljährlich
die genauen Steuerdeklarationen aller wohlhabenden
Personen veröffentlichen. Und zwar soll das in folgen-
der Weise geschehen:
In wöchentlichem Erscheinen beginnen wir nach
dem Alphabet mit dem Buchstaben A, um mit dem
Schluß des Jahrganges bei Z zu endigen. Im folgen-
den Jahre wiederholt sich, auf Grund der neuen Er-
gebnisse, das Verfahren.
Die Steuerdeklarationen beruhen auf den direkten
Erkundigungen bei den Steuerzahlern. Aber wir wer-
den zugleich das Beweismaterial für die Richtigkeit
dieser Deklarationen veröffentlichen. Der Inseraten-
teil wird für die Veröffentlichung der Privatwirtschaft -
48 Eisner, Gesammelte Schriften. I.
433
liehen Bilanzen zur Verfügung stehen. Im redaktio-
nellen Teil erfolgt dann die Besprechung dieser Bi-
lanzen.
Die Steuerlampe wird sich nicht damit begnügen,
nur die Einkommen- und Besitzverhältnisse im ein-
zelnen nachzuweisen und sie mit den Steuerzahlungen
zu vergleichen, sondern alle finanziellen Beziehungen
sollen ausführlich dargestellt werden. Die Steuerlampe
wird die Einkünfte aus Tantiemen, Dividenden, Pro-
visionen beleuchten. Sie wird bis ins kleinste zeigen,
was für Aktienbesitz der einzelne hat, damit die be-
törte Öffentlichkeit einsieht, in welch hochherziger
Weise unsere begüterten Volkskreise die Industrie
fördern, zu welchen Unternehmungen sie Beziehungen
unterhalten. Damit erhalten zugleich die in der Öffent-
lichkeit wirkenden Politiker, Staatsmänner, Parlamen-
tarier, Parteiführer (einschließlich der deutschen Mon-
archen) die Möglichkeit, nicht nur zu zeigen, daß
sie steuerehrlich sind, sondern auch, daß sie ihre öffent-
liche und beamtete Tätigkeit niemals zu ihrem per-
sönlichen Vorteil ausüben.
Die Steuerlampe begnügt sich aber nicht nur mit
dem Nachweis der Einnahmen, sondern sie wird auch
der Darlegung der Ausgaben gewidmet sein. Dadurch
wird sie das aufrührerische Gerede zum Schweigen
bringen, daß nur die Armen indirekte Steuern zahlen.
Und indem Die Steuerlampe selbst in die intimen und
intimsten Ausgaben eindringt, wird endlich einmal
festgestellt werden, welches ungeheure Maß von Le-
benskraft, Schönheitssinn und Opfermut in der Klasse
deutscher Herrenmenschen und Damenmenschen noch
pulst. Um jede Ungenauigkeit auszuschalten, werden
diese Ausgaben mit genauer Mitteilung der Namen,
Datum und Adressen spezifiziert.
Wir sagten schon, daß alle Informationen auf den
direkten Angaben der Betroffenen beruhen werden.
Wir haben das felsenfeste Vertrauen zu unseren führen-
434
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den Gesellschaftskreisen, daß sie unser Bemühen, ihre
Steuerreinheit nachzuweisen, nicht durch falsche Mit-
teilungen durchkreuzen.
Gleichwohl aber übernehmen wir natürlich vor dem
Publikum die Pflicht, auch unsererseits durch selbst-
ständige und unabhängige Nachprüfung die Mittei-
lungen der Interessenten zu verifizieren. Zu diesem
Zweck steht uns ein über ganz Deutschland verzweigter
Stab von wohlunterrichteten Mitarbeitern und Ver-
trauensleuten zur Verfügung. Dieser Dienst ist so
eingerichtet, daß niemand sich mehr dem Licht Der
Steuerlampe zu entziehen vermag.
Ebenso selbstverständlich ist es, daß wir, wenn doch
gelegentlich eine Differenz zwischen den Informatio-
nen der Beteiligten und unseren eigenen Erkundigun-
gen sich herausstellen sollte, wir — vor der Veröffent-
lichung — zunächst den betreffenden Steuerzahlern
Gelegenheit geben werden, sich zu äußern.
Die Steuerlampe will nur die Wahrheit ans Licht
bringen.
Da unser Unternehmen nur gemeinnützige Zwecke
verfolgt und da wir unter keinen Umständen daran
verdienen wollen — wir haben das nicht nötig — , so
wird Die Steuerlampe gratis verteilt. Nur für Lieb-
haber einzelner Nummern stellen wir eine Bibliophilen-
Ausgabe her (kaiserliches Japanpapier, eigens geschnit-
tene Kunsttype, mit der Hand gesetzt, gedruckt, ge-
falzt und gebunden!), deren Preis besonderer Verein-
barung vorbehalten bleibt. Wegen des Insertions-
preises erhalten Interessenten den Tarif auf Verlangen
zugesandt.
Unser Lohn liegt allein in der Förderung des öffent-
lichen Wohles und in der moralischen Rechtfertigung
der besitzenden Klassen der Nation. Sollten infolge
unserer Veröffentlichung dann doch gelegentlich einige
Steuerirrungen hervorgezogen werden, so erwarten
wir allerdings, daß die Finanzminister uns einen kleinen
435
Anteil an den durch unsere Bemühungen gewonnenen
Mehreinnahmen zukommen lassen.
Indem wir Euer Hochwohlgeboren, in Ihrem und
Ihrer Standesgenossen eigenem Interesse, ersuchen,
Die Steuerlampe auf alle Weise zu fördern,
zeichnen wir hochachtungsvoll ergebenst
Verlag, Expedition und Redaktion der Steuerlampe.
(Gemeinnützige Zeitschrift.)
[August 191 1.]
436
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Meinungsbetrieb.
Glücklich der Mann, der noch imstande ist, gegen
seine Überzeugung zu schreiben! Er würde beweisen,
daß er im tiefsten Innern eine eigene Uberzeugung
verborgen hält, während er vor der Welt seiner Auf-
traggeber erzählt, was sie zu hören wünschen. Er hat
eine Moral, wenn er sie auch nicht ausübt. Er wahrt
die Distance zwischen seinem Selbst und den Bedürf-
nissen seiner Existenz.
Ein tapferer Gentleman, der sich für seine Artikel
von den Gebrüdern Mannesmann in bar bezahlen
läßt!* Es ist ein glattes und verantwortliches Geschäft;
denn kommt es heraus, so ist er geliefert ; er wird der
öffentlichen, höchst öff entlichen Sittlichkeit geopfert.
Ein Kerl, der gegen seine Überzeugung schreibt, ist
ein Lump. Also ist jedermann von dem überzeugt,
was er schreibt.
Ein Kerl, der gegen Bezahlung schreibt, ist abermals
ein Lump, also schreibt er gratis, was man von ihm
wünscht, aus nationalem oder sonstigem Idealismus,
sogar mit Herzblut und Uberzeugung. In Deutschland
hat nur der Verleger das Recht, reich zu werden, nicht
der Journalist. Im Falle des Journalisten wäre solch
wirtschaftlicher Aufschwung unanständig, sogar ehrlos.
Ich ziehe den Mann vor, der gegen seine Über-
zeugung schreibt und schätze den Ritter vom Geist,
dessen Geist direkt und lohnend bestechlich ist. Die
Uneigennützigen, die alles kostenlos tun — gegen ein
ärmliches Verlegerfixum — schänden den Stand. Dar-
um spielt der deutsche Journalist eine so untergeord-
nete Rolle, weil er kostenlos leistet, was man von ihm
verlangt. Würde er auf feste, aber hohe Preise halten,
437
käme er in der bürgerlichen Gesllschaft schnell zu An-
sehen, wie alles, was hoch bezahlt wird. Es wäre eine
dankbare Aufgabe einer betriebsamen Standesorgani-
sation, das Bestechungshonorar zur Pflicht zu machen.
•
Die deutsche Presse ist gegenwärtig in einem
„Reichsverband" beruflich vereinigt. Er tagte neulich
in Eisenach, und in einer Begrüßungsrede fand der
Vorsitzende die feierlichen Töne eines intellektuellen
Kriegervereins: „Der Reichsverband tritt in erster
Linie ein und muß immer eintreten für die Ehre und
Würde des Standes. Diese Arbeit ist die erste. Wir
haben dafür zu sorgen, daß der blanke Ehrenschild der
deutschen Presse rein gehalten und hoch gehalten
wird . . . Die Hauptsache für uns ist die sittliche
Grundlage der deutschen Presse . . . Dieses, die Rein-
heit, Ehrlichkeit und Lauterkeit der deutschen Presse
festzuhalten, wird und muß die erste Aufgabe der
deutschen Presse sein."
Das war der ethische Heldentrotz der Leute, die
sich gegen die Bestrebungen empören, die niemand
ihnen zumutet; die unkäuflich sind, weil keine Käufer
da sind. Es ist allgemein bekannt, daß der deutsche
Journalist nichts nimmt, daß er entschlossen ist, aus-
schließlich von seinem Verleger zu leben. (Kleine Vor-
fälle im Handelsteil und im Polizeibereich ausge-
nommen!) Die Kapitalisten und ihre regierenden
Agenten treiben einen abscheulichen Mißbrauch mit
dieser Billigkeit im öffentlichen Meinungsbetrieb.
Man sollte anfangen, sich höher einzuschätzen und seine
wertvollen Überzeugungen nur an den Höchstbieten-
den loszuschlagen.
Was man jetzt den blanken Ehrenschild nennt, ist
nicht nur eine wirtschaftliche Schädigung der Journa-
listen, sondern auch eine schwere Kulturgefahr. Durch
solche sträfliche Verbilligung der öffentlichen Meinung
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sind alle Hemmungen ausgeschaltet. Jeder nationale
Sturm ist sofort lieferbar! Ich würde keinen Artikel
für Herrn Kiderlen unter tausend Mark, und keinen
für die Herren Mannesmann unter 5000 Mark schreiben.
Und ich würde ausdrücklich mir dabei den Vorbehalt
ausbedingen, daß die Artikel gegen meine Überzeu-
gung verfertigt sind.
*
Friedlich spann die deutsche Presse Ferienträume,
keine Sorge bedrängte das Herz des Patrioten. Höch-
stens hielt man den blanken Ehrenschild über Herrn
Jatho. Der Reichstag war mit seinen Schlußprämien
nach Hause gegangen, ohne am internationalen Hori-
zont das bescheidenste Wölkchen geahnt zu haben.
Kaum aber war die Kunde von Agadir in den Re-
daktionen, und schon explodierten gewaltig die all die
Jahre mühsam aber erfolgreich gebändigten Überzeu-
gungen. Die blanken Ehrenschilde stürmten in klir-
rendem Wettlauf zur Wilhelmstraße, und nachdem
sie ein Weilchen im Vorzimmer den alten Sauhatz-
gobelin begafft, drang einer nach dem andern zu dem
Geheimrat der deutschen öffentlichen Meinung vor
und nötigte ihm die Überzeugung der unbestechlichen
Presse auf; kostenlos.
Weil die Deutschen im Sustal von möglichen Ge-
fahren bedroht waren, haben wir den Panther nach
Agadir geschickt, — die Auskunft genügte. Was sind
das für Deutsche, wie heißen sie? Was treiben sie?
Was besitzen sie? Seit wann besteht die deutsche
Herrlichkeit im Sustal? Und was sind da^s für Ge-
fahren ?
Die neue Überzeugung von der Notwendigkeit,
Agadir zu besetzen, hinderte nicht die Beibehaltung
der altbewährten Unwissenheit über dieses ersehnte
Bewährungsgebiet deutscher Expansionskraft. Nie-
mand kennt das verschlossene Gebiet. Man spricht
439
von märchenhaften Kupfer- und Eisenschätzen. Kein
Geologe hat sie jemals erforscht. Der letzte deutsche
Reisende, der in Südmarokko gewesen, hat vor mehr
als 25 Jahren seine höchst eilfertigen Beobachtungen
drucken lassen. Er war froh, wie er aus dem Sustal
herauskam, ohne als Zielscheibe für die erregten ber-
berischen Kunstschützen erprobt worden zu sein. Aber
diese fliehende Wissenschaft ist seitdem immer wieder
ausgeschrieben worden. Sie bot auch jetzt das einzige
Material für die Ehrenschildpresse. Hier entstammte
— durch Verkürzung des Zitats — die Sage vom
idealen Hafen Agadir. Das andere holte man aus der
bewährten Schatzkammer marokkanischer Wissenschaft,
aus Tanger, dem nordafrikanischen Bernau.
Ein leidenschaftlicher Marokkaner, der jüngst in
die ewigen Jagdgründe eingegangene alldeutsche Geo-
. graphieprofessor Theobald Fischer, urteilte anders
über Agadir und sein Hinterland. Er, der wohl als
erster die Erwerbung Marokkos durch Deutschland
gefordert hat, war zwar auf Grund seiner dreißig-
jährigen Beschäftigung und seiner (nicht sonderlich
tief eindringenden) drei Reisen in dem Land schließ-
lich zu der Uberzeugung gelangt, daß derjenige Staat,
dem es gelingt, sich dieses Land ganz zu eigen zu
machen, daraus einen so gewaltigen Machtzuwachs
erlangen wird, „daß dies alle anderen Staaten, vor
allem England, Spanien und das Deutsche Reich als
einen unerträglichen Druck empfinden werde". Aber
er fügte der 1908 ausgesprochenen Bemerkung hinzu:
niemals habe in der Geschichte ein marokkanischer
Hafen südlich von Mogador Bedeutung gehabt, und
die Franzosen haben soeben nachgewiesen, daß auch
Agadir n'Iri, das Seetor des Sus, keineswegs irgend-
welchen Schutz bietet.
Die lautere Presse ließ es bei der einzigen erschöp-
fenden Information bewenden, daß das deutsche Volk
seine nationalen Interessen gegen Frankreich und Eng-
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land zu verteidigen wissen werde, und wäre es durch
einen Krieg, den der zum Hüter der deutschen In-
teressen berufene Schwabe aus Bukarest nicht fürchte,
gleichwohl zu vermeiden streben werde. Mit weiteren
informatorischen Einzelheiten wurde das beneidens-
werte deutsche Volk verschont. Die Verhandlungen
verlaufen glücklich, sie stocken, sie sind abgebrochen,
die Lage ist ernst, drohend, gewitterschwül, hoffnungs-
voll, glänzend. Das deutsche Volk ist entschlossen,
seine Würde und sein Recht zu wahren. Was es will,
wird ihm schon im gegebenen Augenblick gesagt
werden, Kiderlen ist stumm und Wilhelm II. hält
keine Reden mehr.
•
Übrigens hat man auch im Sommer 1870 erst etwas
erfahren, als man schon marschierte. Ein oder zwei
Tage, bevor Bismarck in die friedliche Emser Depesche
den Krieg hineinredigierte, reisten der König von
Sachsen und sein leitender Minister geruhig ins Bad,
weil alle deutsch-französischen Wirrnisse aufs schönste
erledigt schienen. Das deutsche Volk ist Objekt der
deutschen Politik geblieben.
Jetzt aber wollte man durch das Parlament den
Kaiser wie einen Jagowschen Schutzmann ermuntern :
bei Strafe gleich zu schießen. Bei dieser Gelegenheit
gab es dann eine hübsche staatsrechtliche Offenbarung.
Der Geheimrat in der Wilhelmstraße wurde witzig.
In Kolonialdingen, soweit es nicht Geldsorgen seien,
habe kein Reichstag, kein Bundesrat dem Kaiser drein-
zureden: Er kann alle Kolonien verschenken, wenn er
will, er ist unumschränkter Herr über sie. Man hat
bisher keine Zeit in der deutschen Politik gefunden,
um diese kleine Sonderbarkeit auszumerzen.
Nun teilten sich die Uberzeugungen der Presse. Die
alldeutschen Absolutisten wurden parlamentarisch,
441
Liberale und fortschrittliche Geister absolutistisch.
Dieser in afrikanischem Fieber geborene Reichstag wäre
in der Tat fähig, marokkanisch zu enden.
•
An allen Dingen der Welt läßt sich verdienen, außer
an Lyrik, Philosophie und Streichquartetten. Auch in
Marokko gibt es zu verdienen, recht viel sogar, und ein
Krieg vollends ist für die, welche verkaufen statt Krieg
zu führen, ein ganz außerordentliches Geschäft. Wenn
die Gebrüder Mannesmann mit Aufbietung der deut-
schen Weltmacht, es durchsetzen würden, daß ihnen
in Marokko Eisenerzgruben erschlossen werden, für
sie ist das ganz gewiß ein unermeßlicher Gewinn, sie
können dann billig produzieren. Aber welches In-
teresse hat der deutsche Journalist an den Bezugs-
interessen einer Firma ? Für die deutsche Gesamtwirt-
schaft ist die ganze Kolonialpolitik günstigenfalls kein
Gewinn. Wir haben seit 1901 für unsere Kolonien
über eine halbe Milliarde mehr ausgegeben, als aus
ihnen eingenommen. Diese halbe Milliarde ist die
aus der Besteuerung der deutschen Lebensführung
geschürfte Subvention für die kolonialkapitalistischen
Interessen einzelner Firmen. Im Welthandel bildet
der Kolonialhandel ein verschwindendes Nichts. Auch
wenn wir den Kongo und Marokko erwürben, würde
sich das Verhältnis nicht ändern. Aber verdient wird
auch am kolonialen Bankerott. Wenn wir im Jahre
1910 für 21 200 Mark Bier in Fässern und für 644 Mark
Bier in Flaschen nach Südwestafrika ausführten, so
haben einige Personen beträchtlichen Gewinn aus
diesem Handel gezogen, aber bezahlt wurde er aus
den deutschen Lohnpfennigen.
* •
Im Marokkohandel hat sich die Presse als eine Welt-
gefahr erwiesen. Die Heilung kann nur kommen, wenn
442
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man aufhört, die kapitalistischen Begierden durch
journalistische Selbstlosigkeit zu verwöhnen. Ich sehe
kein rascheres und wirksameres Mittel, als daß die
Presse endlich aufhört, ihre Überzeugung zu ver-
schenken, und daß sie sich recht schnell organisiert,
sich so hoch wie möglich zu verkaufen. Wenn dann
noch in die deutsche Verfassung der Artikel aufgenom-
men wird, daß mit dem Augenblick der Mobilmachung
eine ausreichende Kriegssteuer auf Einkommen, Ver-
mögen und Erbe des Besitzenden in Kraft tritt, so
sind die Weltfriedenskongresse überflüssig geworden,
und den Haager Schiedsgerichtshof darf man in eine
Spielbank, ein Kino oder einen Eispalast umbauen.
[August 191 1.]
443
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Preßprobleme.
Die folgende Kritik an der sozialdemokra-
tischen Presse wurde unmittelbar vor Ausbruch
des Krieges veröffentlicht. Wesen und Wirk-
samkeit der Arbeiterpresse ist und bleibt eine
allererste politische und kulturelle Angelegen-
heit. Sie bedeutet für die Presseverhältnisse
im allgemeinen, was die Freien Volksbühnen
für das Theater. Deshalb seien jene Erörte-
rungen — gekürzt — hier aufgenommen.
Die Kriegserfahrungen haben mich gelehrt,
daß Parteien, um ihrer Aktionsfähigkeit wil-
len, sich nicht unmittelbar mit geschäftlichen
Unternehmungen belasten dürfen. Diese und
andere Gründe lassen ein neues wichtiges und
dringendes Preßproblem erscheinen ; ob es nicht
ratsam ist, daß künftig die sozialdemokratische
Presse als freie, aber der Partei verantwortliche,
von kapitalistischen Rücksichten und Privat-
interessen gesicherte unabhängige Privat-
unternehmung entwickelt werde.
I.
Das bürgerliche Preßgeschäft.
Die sozialdemokratische Presse ist das einzige Mittel,
das dauernd die große Erziehungsarbeit des Prole-
tariats zu bewältigen vermag; das einzige auch, was
die Kraft hat, die Arbeiterbewegung nicht nur vor
Rückschlägen zu bewahren, sondern sie auch sicher
zur endlichen Herrschaft zu fördern. Unsere Presse
hat innerlich und äußerlich einen großen Aufschwung
genommen. Aber die Zahl unserer Blätter und die
Ziffer unserer Abonnenten verschwindet immer noch
444
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in der unübersehbaren Menge der bürgerlichen Preß-
papiere. Daher kommt es, daß die Parteipresse gerade
in entscheidend schweren Zeiten immer noch
von dem zahllosen Chor der bürgerlichen Presse über-
schrien wird, und gerade dann nicht die Macht über
die öffentliche Meinung zu erringen vermag, die
„öffentliche Meinung", die, so unbestimmt und bei-
nahe mystisch unheimlich sie ist, dennoch eine uner-
meßliche Kraft in der weltgeschichtlichen Entwick-
lung ist.
Das aber ist unsere Aufgabe : die sozialdemokratische
Presse muß, dem Umfange ihrer Verbreitung wie dem
inneren Gehalt nach, die unbedingte Führung in der
deutschen Presse erhalten. Das ist das Ziel, das erreich-
bare Ziel. Was kann und muß geschehen, um dieses
Ziel zu gewinnen ? Wie muß unsere Presse überall
werden, damit sie zu herrschen vermag ?
Unsere inneren Unterhaltungen über die Parteipresse
erschöpften sich in den letzten Jahren meist in Klagen
über wachsende Uniformität. Man sah die Uniformi-
tät aber gerade da nicht, wo sie wirklich bisweilen
steckt. Es scheint mir sehr gleichgültig, ob ein guter,
lebendiger, sachkundiger und persönlicher Artikel in
einem oder in drei Dutzend Blättern zugleich ver-
öffentlicht wird. Durch die Zahl der Abdrücke wird
ein individuelles geistiges Erzeugnis nicht uniform,
ebensowenig, wie ein hervorragendes wissenschaftliches
Werk durch die Zahl der Auflagen. Es ist nicht einzu-
sehen, warum ein Artikel in einem einzigen Blatt,
das über 150000 Exemplare verbreitet, wo ein jedes
denselben Artikel enthält, nicht uniform ist, wohl aber,
wenn er in zehn Blättern von je 15000 Auflage er-
scheint. Die Uniformität hängt nicht an dem Umfang
des Verbreitungsgebiets. Wohl aber kann ein Blatt
außerordentlich uniform sein, das bis auf die letzte
Zeile lauter Originalbeiträge bringt, nur für sich allein,
sogar sämtlich im Hause gearbeitet — sofern nämlich
445
die Verfasser der Beiträge selbst Uniformseelen,
Klischeegehirne sind. Ich glaube sogar, daß wir in
der Zentralisierung — da wir mit den vorhandenen
menschlichen Kräften uns einrichten müssen — sogar
noch weitergehen werden müssen, wenn wir das Ziel
erreichen wollen: Die bürgerliche Presse auch technisch-
journalistisch zu schlagen. Betrachtungen über all-
gemeine Politik — beim politischen Nachrichtendienst
ist das ja selbstverständlich — werden am besten in
den Zentralen dieser Politik verfaßt, wo die unmittel-
bare politische Anschauung möglich ist; wie viel
Journalisten sich in diese Arbeit teilen, das hängt ganz
von der Zahl fähiger Parteigenossen ab, die zur Ver-
fügung stehen. Dasselbe gilt von dem allgemeinen
Teil des Feuilletons. Die Besonderheit des einzelnen
Blattes muß sich in der allseitigen Spiegelung und
führenden Durchdringung des Lebens im engeren
Verbreitungsgebiet entfalten. Nicht nötig zu sagen,
daß auch die Diskussion innerer Parteifragen nicht
zentralisiert werden kann.
Das Grundproblem, das zu erörtern ist, wird von
den Uniformdebatten nicht einmal gestreift: welche
Aufgabe, welches Ziel stellen wir überhaupt unserer
Presse ? Was wollen wir mit ihr ? Dieses Problem löst
sich in die Entscheidung auf: Was soll werden, Pro-
pagandaorgane (mit Vereinscharakter) oder Zeitun-
gen ? Unsere Presse ist durchweg aus vereinsmäßigen
Propagandaorganen hervorgegangen. Heute ist sie das
nicht mehr, aber das Wesen haftet ihr noch an. Wir
haben uns noch nicht ganz entschlossen, Zeitungen
zu schaffen, die allein durch sich selbst wirken. Bruno
Schönlank hat diese Notwendigkeiten zuerst erkannt,
er hat auch sofort die Möglichkeit sozialdemokratischer
Zeitungen gegen alle Zweifel durch die Tat be-
wiesen; die Kraft dieses genialen Pressereformers ist
zu früh gebrochen worden.
Gerade die Entwicklung der deutschen Presse zeigt,
446
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wie lose, ja fast wie gegensätzlich die Beziehungen
zwischen Presseverbreitung, Parteistärke und Partei-
einfluß sind. Wir haben besonders hervorragende bür-
gerliche Blätter, die sich die Weltstellung erworben
haben, obwohl die Partei, der sie dienen, zu einem
Häuflein letzter und allerletzter Mohikaner ent-
schwindet. Umgekehrt verfügt die herrschende Partei
Deutschlands, die konservative, fast nur über wenig
verbreitete und journalistisch wertlose Organe. Nicht
viel besser steht es mit der Zentrumspresse, von der
nur ein paar Blätter durch sich selbst Bedeutung
haben. In Bayern, wo das Zentrum parlamentarisch
wie organisatorisch gebietet, verfügt diese Partei zwar
über eine Anzahl kleiner Blätter, aber über kein ein-
ziges, das größere Verbreitung und Einfluß auf die
öffentliche Meinung hätte.
Die Bedeutung der Presse hängt sonach lediglich von
ihren journalistischen Qualitäten ab. Sie wird genau
soviel gelesen, als sie gelesen zu werden verdient. Auf
Erfüllung einer Parteipflicht allein kann man keine
Zeitung gründen.
Aber in dieser selbständigen Entwicklung der bür-
gerlichen Presse, abseits des Parteiwesens und im Ge-
gensatz zu ihm, verbirgt sich zugleich jene gemein-
gefährliche Abhängigkeit gerade ihrer verbreitetsten
Organe — von anonymen Gewalten. Sie machen die
Politik von offiziellen und privaten Presse bureaus.
Die Wilhelmstraße in Berlin dirigiert die ganze aus-
wärtige Politik der bürgerlichen deutschen Presse und
teilt ihre Herrschaft nur gelegentlich mit dem Presse-
bureau Krupps und sonstiger Rüstungsindustrieller,
die mit Hilfe gewisser Journalistenkonzerne in den
Agadirzeiten — entgegen den Bemühungen der Re-
gierung — das Feuer eines Weltkrieges schürten. Der
„ideologische Überbau" dieser Presse heißt liberal
oder national oder parteilos, die solide Basis ist die
Börse, die Großreederei, das Getreidegeschäft, die
447
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Aktiengesellschaft, der Unternehmerverband, der In-
serent, die Brauerei, der Schnapsbrenner. Am harm-
losesten ist fast noch die Presse, die nur den Profit-
rücksichten des Verlegers dient ; aber in der Regel wird
auch sie die eine große Abhängigkeit mit zahlreichen
kleineren Abhängigkeiten von allerlei wirtschaftlichen
Interessenten teilen. Die bürgerliche Presse dient
jeder Sache, nur nicht der, für die sie zu wirken
vorgibt.
Die unwürdige Stellung des bürgerlichen Journa-
listen in Deutschland verschärft die innere Unwahrheit
der bürgerlichen Presse. Niemand hat so wenig Ein-
fluß auf die Zeitung, wie die Leute, die sie schreiben
und redigieren. Diese Redakteure sind Privatange-
stellte geschäftlicher Unternehmungen, nichts anderes,
wie Bankbeamte, Warenhaus Verkäufer oder Fabrik-
chemiker. Sie sind nicht Vorkämpfer einer Sache, der
sie leidenschaftlich ergeben sind, sondern unlustige
müde Techniker für die Erzeugung des geistigen Teils
der Zeitungen, deren beste Vertreter höchstens ein
gewisser literarischer Ehrgeiz beseelt. Sie dürfen keine
Charaktere sein, das wäre störend; man fordert nur
fachliche Routine von ihnen. Sie sind allenfalls ge-
duldete, nun einmal notwendige Werkzeuge für die
Ausstattung des Zeitungsgeschäfts. In Deutschland
ist nicht die Vorbedingung der Laufbahn von Parla-
mentariern und Staatsmännern, wie in Frankreich,
Italien, England, Amerika, daß sie als Publizisten sich
zuvor bewährt haben. In den letzten Jahren haben
wir wiederholt gesehen, wie große Zeitungsunterneh-
mungen mitsamt allen Redakteuren und Mitarbeitern
verkauft wurden, genau so wie in den Zeiten der Erb-
untertänigkeit die Güter mit totem und lebendem In-
ventar verkauft wurden, wobei dann unter dem leben-
den Inventar neben der Zahl des Viehes auch die der
zugehörigen Bauern angegeben wurde.
Und diese innerlich entwürdigte Presse beherrscht
448
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dennoch den Markt der öffentlichen Meinung, weil
es — Zeitungen sind, vor denen die Lehre Karl Marx'
von der Überlegenheit des Großbetriebs am aller-
wenigsten halt macht.
Welche Entwicklungsmöglichkeiten stecken da erst
in der sozialdemokratischen Presse, die allein in tapferer
Freiheit und unabhängiger Wahrheit, um der Sache
willen, nicht des Geschäfts und dunkler Hintermänner
wegen, geschrieben, gedruckt, verbreitet wird — ,
welche Möglichkeiten, wenn wir uns nur entschließen
wollen, journalistische Großbetriebe zu schaffen.
II.
Die Grundlegung der Größe der Parteipresse.
Die sozialdemokratische Presse ist die freieste der
Welt. Unsere Zeitungen sind keine Geschäftsuntfer-
nehmungen zur Erzeugung direkter oder — durch
Beeinflussung der Öffentlichen Meinung — indirekter
Profite, sondern sie sind Organe politischer und wirt-
schaftlicher Aufklärung. Demgemäß ist die Stellung
des sozialdemokratischen Journalisten durchaus ver-
schieden von der bürgerlicher Redakteure und Schrift-
steller. Er wirkt als Vertrauensmann der proletari-
schen Organisation, die ihn berief; er ist kein Verlags-
angestellter, sondern ein politischer Führer. Weil
unsere Presse kein Werkzeug für Profitinteressen ist,
darum ist sie ein um so reineres Werkzeug idealer Be-
strebungen. Nur der sozialdemokratische Journalist
kann jene Lebensluft geistigen Schaffens atmen: die
Betätigung freier Gesinnung innerhalb der frei ge-
wählten Parteiüberzeugung. In den vielen Jahren
meiner sozialdemokratischen Redakteurtätigkeit habe
ich wohl manchen, und nicht ganz angenehmen Kon-
flikt zu bestehen gehabt, aber niemals haben die Partei-
genossen, deren Vertrauen ich genoß, auch nur den
leisesten Versuch gemacht, meine Überzeugungen zu
J9 Eitoer, Getamindte Schriften. I. 449
beeinflussen. Das ist notwendig, öffentlich zu erklären,
weil die Gegner häufig, aus gänzlich mißverstandenen
Fällen, einen Gesinnungsterrorismus sozialdemokra-
tischer Arbeitgeber behaupten. Hier und da mögen
vielleicht bureaukratische Neigungen ein wenig be-
engend wirken. Aber auch das ist nicht gar so schlimm
und wirkt nur deshalb bisweilen verdrießlich, weil
nichts so wenig bureaukratischen Zwang irgendeiner
Art verträgt, wie die Presse. Die Weltgeschichte,
deren Spiegel und Webstuhl die Presse ist, kennt keine
Bureaustunden. Gerade die Preßkommissionen schei-
nen mir eine durchaus notwendige und nützliche Ein-
richtung, sofern sie sich auf ihren natürlichen Beruf
beschränken und ihn erfüllen, Mittler zwischen der
Redaktion und den Lesern zu sein. Sie sollten auch
ihre eigentliche und wesentliche Aufgabe nicht sowohl
darin sehen, eine zumeist überflüssige „Aufsicht" zu
üben oder „Beschwerden" vorzubringen, die in
99 Fällen von 100 bedeutungslos sind, als vielmehr
Propagandaorgane zu sein, die an die Redaktion die
Bedürfnisse der Leser vermitteln und andererseits nach
außen hin auf die Verbreitung und geschäftliche Unter-
stützung des Blattes hinwirken. Vielleicht werden wir
einmal dazu kommen, daß die Parteigenossen zum
Vorsitzenden der Preßkommission eine redaktionell
und kaufmännisch zugleich geschulte Kraft wählen,
der sein Amt, gegen angemessene Bezahlung, ausschließ-
lich dieser doppelten Propaganda widmet und es nicht
nur nebenbei versieht.
Im großen und ganzen ist die Organisation der so-
zialdemokratischen Presse vorbildlich, und gerade in
ihr liegen die Vorbedingungen für die Erweiterung
unserer Presse zur beherrschenden Macht der öffent-
lichen Meinung. Man hat letzthin des öfteren dis-
kutiert, ob eine Chefredaktion oder eine kollegiale Re*
daktion vorzuziehen sei. Auch dies scheint mir eine
nebensächliche Frage. Hat eine Redaktion einen wirk-
450
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lieh leitenden Kopf, so ist es ganz gleichgültig, ob er
Chefredakteur oder sonstwie genannt wird. Jeder ver-
ständige Kollege wird, bei aller Selbständigkeit, sich
von selbst dem Einfluß seiner größeren Erfahrung,
reicheren Wissens und höherer Begabung freiwillig
unterwerfen. Eines sollte allerdings geändert werden;
man sollte diesem leitenden Kopf einen entscheidenden
Einfluß auf die Zusammensetzung der Redaktion
geben. Redaktionen müssen, wenn sie schaffensfreudig
bleiben sollen, eine harmonische Arbeitsgemeinschaft
bilden, die durchaus nicht in einer Gleichförmigkeit
der Ansichten und Richtungen zu bestehen braucht,
wohl aber in einer Verträglichkeit der Charaktere und
Intelligenzen.
In dieser idealen Unabhängigkeit, in dieser nur von
der sachlichen Überzeugung geleiteten Freiheit der
sozialdemokratischen Presse liegt ihre reichste Ent-
wicklungsmöglichkeit. Die sozialdemokratische Presse
wird von selbst, über die eigentlichen proletarischen
Organisationen hinaus, zum natürlichen Organ für
alle, die unter der kapitalistischen Gewaltherrschaft
leiden, für alle Unterdrückten, Vergewaltigten und
nicht zuletzt für alle — Idealisten. Nichts wäre so
töricht, als unsere Presse zu engen Vereinsorganen zu
machen; und die Redaktionen sollten keiner Beein-
flussung so entschieden Widerstand leisten, als den
immer einseitigen Wünschen einzelner in den ver-
schiedenen proletarischen Körperschaften tätigen Per-
sönlichkeiten. Unsere Blätter sind nicht für Reichs-
tags- und Landtagsabgeordnete, auch nicht für Ge-
meindevertreter, Vereinsvorsitzende, Gewerkschafts-
führer, Agitatoren da, sondern sie müssen alle Interes-
sen der breiten Massen berücksichtigen, das Weltleben
einfangen und immer von dem Bewußtsein sich erfüllen
lassen, daß sie eine geschichtliche Mission haben. Je
weiter der Kreis der Aufgaben gespannt ist, um so
größer ist auch der Kreis der Interessenten, denen das
451
Blatt zur Lebensnotwendigkeit wird. Die unbestech-
liche Kritik aller öffentlichen Erscheinungen, zu der
nur die sozialdemokratische Presse fähig ist, gewinnt
dadurch noch eine ganz besondere schöpferische Be-
deutung, daß diese Kritik eben sozialistisch ist. Diese
sozialistische „Parteilichkeit" wirkt an sich nicht ab-
schreckend und verengend, sondern im Gegenteil: sie
erhöht die geistige Bedeutung der Presse über alles
hinaus, was das bestredigierte bürgerliche Blatt zu
leisten vermöchte. Denn wie auch immer die Gegner
den Sozialismus bekämpfen mögen, eines müssen sie
alle zugeben: der sozialistische und der demokratische
Gedanke sind die einzigen konstruktiven Ideen, die es
in der heutigen Welt gibt. Auch der bornierteste
Klopffechter der herrschenden Klassen muß, wenn er
irgend etwas Fruchtbares, Emporführendes leisten will,
auf irgendeine Art in irgendeiner Verdünnung aus
dem Quell der sozialistischen und demokratischen Welt-
richtungsgedanken schöpfen.
So sind in der sozialdemokratischen Presse alle Vor-
bedingungen gegeben, sie zu den schlechthin leitenden
Organen der öffentlichen Meinungen auszugestalten.
Wie aber wird diese Möglichkeit, ja diese innere Not-
wendigkeit eine Wirklichkeit? Wir müssen einfach
wagen, uns das Ziel einer in jeder Hinsicht der bür-
gerlichen Presse technisch ebenbürtigen, ja überlegenen
Presse zu stellen. Das kann selbstverständlich nicht
auf einmal erreicht werden, und nicht von allen Blät-
tern zugleich. Aber wir müssen unermüdlich auf
dieses Ziel hinarbeiten und keinen Tag verstreichen
lassen, ohne uns ihm zu nähern.
Die Vollendung der Zeitungstechnik beginnt mit
dem Bau, in dem der Zeitungsbetrieb untergebracht
ist. Wir müssen die leistungsfähigsten Maschinen auf-
stellen, jeden Fortschritt der Technik einführen. So
sind zum Beispiel auf dem Gebiete der Stereotypie
Neuerungen vorhanden, deren Einführung die bür-
452
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gerliche Presse zu außerordentlich beschleunigter Her-
stellung des Blattes und damit zu größerer Aktualität
befähigt. Wir bedürfen geschäftlicher Leiter, die sich
nicht damit begnügen, ein ordentlich und mit genü-
gendem Erfolg arbeitendes Geschäft so eben nur zu
verwalten, sondern die unermüdlich in organisatori-
schen Maßnahmen sind um das Unternehmen zu ver-
größern. Hierher gehört auch die zweckmäßige Or-
ganisation eines Filialbetriebes und der raschen Zu-
stellung des Blattes. Vor allem aber muß die Inseraten-
propaganda durchaus über das Zufällige hinaus syste-
matisch ausgestaltet werden.
Im Inseratenteil liegen die finanziellen Möglich-
keiten, journalistische Großbetriebe zu schaffen. Die
Höhe des Abonnementspreises hat ihre natürlichen,
durch die proletarische Leistungsfähigkeit gesetzten
Grenzen. Aber es kommt, nach den deutschen Ver-
hältnissen, auch gar nicht auf die Höhe des Abonne-
mentspreises an. Es gibt große, über die höchsten
Auflageziffern sozialdemokratischer Blätter weit hinaus
verbreitete bürgerliche Blätter, die billiger sind als
unsere Parteipresse, in anderen Fällen vielleicht um
zehn oder zwanzig Pfennige mehr kosten, dabei zwei-
mal täglich erscheinen und technisch-journalistisch
erheblich mehr leisten. Der Inseratenteil ist durchaus
nicht bloß ein lästiges Zubehör des redaktionellen
Stoffes. Im Gegenteil, die Inseratenseiten dienen dem
Austausch verkehr und dem Publikationsbedürfnis der
großen Masse. Die Inserate bilden insofern eine Er-
gänzung und Bereicherung des redaktionellen Stoffes.
Man wird natürlich sofort den Einwand erheben,
daß dem unbegrenzten Ausbau des Inseratenteils sich
der unüberwindliche Widerstand entgegensetzt, daß
sozialdemokratische Blätter eben in erster Linie Or-
gane für das Proletariat sind, daß wir also von vorn-
herein auf die Inserate verzichten müssen, die nur
auf die besitzenden Klassen berechnet sind. Das ist
453
ein verhängnisvoller Irrtum. Es wäre eine sehr nütz-
liche Aufgabe der Geschäftsleitungen unserer Presse,
statistisch zu ermitteln, welcher Prozentsatz der An-
zeigen in den örtlichen Inseratenblättern entweder
von Proletariern ausgehen oder für Proletarier berech-
net sind. Man wird das überraschende Ergebnis fin-
den, daß auch diese bürgerlichen Inseratenplantagen
zum größten Teil von Proletariern bestellt werden,
zum mindesten von kleinen Leuten. Die Millionen-
Masse der Besitzlosen verfügt ;n der Tat über jene
entscheidende Kaufkraft, die den Inseratenteil be-
stimmt. Man versuche durch systematische Organisa-
tion — durch besondere Propagandastellen — die
proletarischen und halbproletarischen Inserenten für
unsere Parteipresse zu gewinnen, man gewöhne die
kapitalistischen Inserenten daran, wenn sie proletari-
sche Kauf- oder Arbeitskraft suchen, sich unserer
Presse zu bedienen (weil sie nämlich in der bürger-
lichen Presse keine proletarischen Leser mehr finden)
und die finanziellen Grundlagen für eine sozialistische
Groß presse sind gegeben.
Sind alle diese technisch geschäftlichen Maßnahmen
getroffen, dann gilt es, die inhaltliche Ausgestaltung
des Blattes zu vollenden und damit die unbezwing-
liche Anziehungskraft der sozialistischen Presse zu
entfalten. Ich meine durchaus nicht, daß wir die
Verbreitung unserer Presse auf Kosten ihres geistigen
Ernstes fördern sollen. Wir sollen nicht nur keine
Zugeständnisse an den niedrigen und widrigen Typ
der bürgerlichen Massenpresse machen, sondern um-
gekehrt: Durch die technisch-journalistische Bereiche-
rung, Vergrößerung und Verbreiterung unserer Presse
die Möglichkeit gewinnen, die geistigen Anforderun-
gen unserer Presse noch erheblich anzuspannen und
zu vertiefen.
454
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III.
Die notwendigen Reformen.
Ein Parteiblatt erzählte kürzlich von den Erfahrun-
gen der „Roten Woche4', wieviele Frauen der Arbeiter-
klasse noch von spießbürgerlichen Anschauungen er-
füllt seien und die merkwürdigsten Einwendungen
gegen das sozialdemokratische Blatt geltend gemacht
haben. Einer Frau waren zu wenig Wohnungsanzeigen
im Parteiblatt, einer anderen zu wenig Traueranzeigen,
einer dritten zu wenig Käufe und Verkäufe. Anstatt
auf diese Einwendungen sorgfältig zu hören, nennt
man sie spießbürgerlich, rückständig. Aber jeder Blick
in ein bürgerliches Inseratenblatt beweist doch gerade
durch die Unzahl proletarischer Inserate der Art, daß
dies Bedürfnis vorhanden ist. Und da die Befriedigung
dieses Bedürfnisses obendrein die finanzielle Leistungs-
fähigkeit des Blattes erhöht und damit die redaktionelle
Ausgestaltung ermöglicht, ist es wirklich bei einigem
Nachdenken unerfindlich, warum man auf das Be-
dürfnis schilt, anstatt es zu befriedigen. Auch das
schärfst entwickelte Klassenbewußtsein hindert nicht,
daß ein Proletarier gelegentlich ein altes Kanapee zu
kaufen oder zu verkaufen wünscht; und jenes Partei-
blatt hat sich den Beweis der Philisterhaftigkeit der
inseratenbegehrlichen Frauen sehr leicht gemacht,
wenn es behauptete, gerade die befragten Frauen
hätten kein persönliches Bedürfnis nach solchen In-
seraten gehabt. Dieses kleine Bild aus dem proletari-
schen Familienleben von Nichtabonnenten der Partei-
presse unterstützt meine Ausführungen, daß auch der
Inseratenteil zum textlichen Inhalt des Blattes gehört.
Genau so wie es mir sehr nützlich scheint, die In-
seratenseiten der bürgerlichen Presse auf ihren prole-
tarischen Inhalt zu studieren, genau so wäre es die
Aufgabe der in irgendeiner Form jedem Blatte not-
wendigen Propagandakommission, auch den redak-
455
tionellen Teil der weitverbreiteten billigen bürger-
lichen Presse ständig daraufhin durchzusehen, welche
Stoffgebiete sie pflegt, um den Forderungen ihrer Leser
zu genügen. Solche tatsächlichen Bedürfinsse aber
werden dadurch nicht aus der Welt geschafft, daß man
sie als kleinlich und unwürdig bespöttelt. Es kann für
diese Gebiete der kleinen alltäglichen, persönlichen
Publizität Raum geschaffen werden, wenn wir eben
mehr Papier zur Verfügung stellen.
Im Gegensatz zu meiner Auffassung, daß unsere
Blätter räumlich noch zu klein sind, hört man in
Kollegenkreisen nicht selten die umgekehrte Mei-
nung, daß unsere Presse viel zu umfangreich ist, daß
niemand mehr sich durch sie hindurchzufinden ver-
mag. Diese Ansicht verkennt völlig die Aufgabe eines
Zeitungsblattes, das nicht dazu da ist, von Anfang bis
zu Ende durchbuchstabiert zu werden, sondern das je-
dem Interesse irgend etwas bieten soll. Der Redak-
teur darf das Blatt nicht nach seinem Interesse zu-
sammenstellen, freilich auch nicht — was öfter als
man denkt geschieht — gerade über das nicht be-
richten, was ihn selber zwar lebhaft interessiert, was er
aber nicht ernst und großartig genug findet, um nun
auch vor den Lesern erörtert zu werden.
Die Mannigfaltigkeit der Zusammensetzung der
Lesermasse bedingt schon die Mannigfaltigkeit des
Inhalts Die Schwierigkeit der Parteipresse Hegt nicht
darin, daß sie zu hohe Ansprüche an die Aufnahme-
fähigkeit ihrer Leser stellt, daß ihre Ideen nicht leicht
faßlich genug, ihre Sprache zu wenig volkstümlich, zu
beladen mit Fremdwörtern ist. Die Empfänglichkeit
gerade für abstrakte schwere Gedanken, für dialektische
Untersuchungen, für wissenschaftliche Theorien, welt-
geschichtliche Perspektiven, ist durchaus menschliches
Allgemeingut, das — wenn anders der Verfasser solcher
Betrachtungen überhaupt zu seinem Amt berufen ist
— jedem natürlichen Verstände zugänglich ist. Die
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„Schwerfaßlichkeit" liegt durchaus nur in der Fülle
des Rohstoffes, in der unübersehbaren Menge
der als bekannt vorauszusetzenden Tat-
sachen, Namen, Ereignisse, Gesetze, die zu begreifen
(und nur was man begreift, interessiert) eine regel-
mäßige, langjährige, ununterbrochene Zeitungslektüre
erfordert. Nur diese Unmenge als bekannt notwendig
vorauszusetzender stofflicher Einzeltatsachen, die der
Leser nicht beherrscht, lassen namentlich das Poli-
tische als langweilig erscheinen. Die Parteipresse in
ihrer heutigen Entwicklung kommt nicht mehr mit ein
paar großen feurigen und befeuernden Formeln der
Aufklärung aus. Sie muß eindringen in die Unermeß-
lichkeit der Erscheinungen unseres Lebens.
Jede Woche aber bringt junge Leute in den Kreis
unserer Leser, die nichts oder wenig von den Tat-
sachen der Gegenwart wissen. Vom Lande strömen
in die Industriezentren Massen von Proletariern, die
ebenfalls nur sehr dunkle Vorstellungen von den stoff-
lichen Einzelheiten des öffentlichen Lebens haben.
Eine Zeitung kann aber nicht jeden Tag von vorn
beginnen, und so muß ein großer Teil des Stoffes
den Neulingen anfangs fremd und tot bleiben. Auf
diese Tatsache baute die unpolitische Presse ihre Be-
rechnung und ihren Erfolg. Sie fütterte die Leser
mit den ewigen Alltäglichkeiten, die durch sich selbst
verständlich sind und nichts voraussetzen. Auf der
andern Seite hat die Parteipresse Leser, die die höch-
sten geistigen Ansprüche stellen, die weiter gebildet
werden wollen, die den Stoff des politisch-sozialen
Lebens beherrschen, die durstig nach neuer Erkenntnis,
nach lebendiger Anregung sind, und die auch durch
die Form der Zeitung ästhetisch befriedigt zu werden
wünschen. Für diese Leser schmeckt das Zeug schal,
an dem die andern ihre Freude haben. Es gibt für
diese Gegensätze innerhalb des Leserpublikums nur
eine Lösung: umfassende Erweiterung des Stoffes.
457
In jedem Zeitungsblatt sollte sich das Nebeneinander
der Entwicklungsphasen der Leser spiegeln. Aber
keine Zeile sollte in der Zeitung stehen, die nicht fähig
wäre, den Leser jeder Entwicklungsstufe über sich
selbst hinauszuheben.
Erweiterung des Stofflichen ist das erste, was not
tut. Das zweite wäre die Vervollkommnung des Nach-
richtendienstes. Auf diesem Gebiet müssen wir in
der Schnelligkeit und der Allseitigkeit des Dienstes
mit der großen bürgerlichen Presse konkurrieren
können. Und wir werden sie durch die Gunst unserer
unabhängigen Stellung an Zuverlässigkeit und Bedeu-
tung des Nachrichtendienstes überflügeln können.
Um diese unerläßliche Aufgabe zu erfüllen, müssen
wir freilich loskommen von der Zufälligkeit der in-
und ausländischen telegraphischen, telephonischen und
brieflichen Korrespondenz. Eine zweckmäßige Organi-
sation würde ohne unerschwinglichen Aufwand an
Kosten und Personen diese Aufgabe für die Gesamt-
heit unserer Parteipresse leisten.
Eine Entwicklung dieses internationalen Nachrich-
tendienstes wäre nicht nur zeitungstechnisch ein ge-
waltiger Fortschritt, sondern erhielte auch eine inter-
nationale politische Bedeutung, die gar nicht groß
genug zu werten ist. Gerade die auswärtige Politik
ist in der deutschen bürgerlichen Presse jämmerliches
Reptilienelend. Nirgends eine unabhängige Meinung,
und was sich als offiziöse Information aufspielt, ist in
Wirklichkeit nur ein Kniff, die Wahrheit zu verhehlen.
Wer sich über die deutsche auswärtige Politik unter-
richten will, muß sich seine Kenntnisse aus der großen
ausländischen Presse holen. Durch rasche Information,
durch sachverständige Urteile in der internationalen
Politik könnte die sozialdemokratische Presse Deutsch-
lands zu einer unüberwindlichen politischen Macht
werden.
Allerdings dürfte sich weder der sozialdemokratische
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Redakteur noch der sozialdemokratische Korrespon-
dent und Mitarbeiter von dem Leben der Allgemein-
heit absperren und sich in seine engeren Aufgaben ein-
spinnen. Er muß Beziehungen zu allen Institutionen
des öffentlichen Lebens unterhalten, und die Lauter-
keit seiner Gesinnung und die Fähigkeit seiner jour-
nalistischen Auffassung werden ihm die Autorität ver-
schaffen, daß er gar nicht Beziehungen zu suchen
braucht, daß man sie vielmehr mit ihm sucht. Zei-
tungsblätter sollten nicht am Schreibtisch entstehen,
sondern mitten heraus aus dem flutenden Leben ge-
staltet werden.
Wie wir die journalistisch-technischen Vorzüge der
bürgerlichen Presse uns aneignen müssen, so sollten wir
uns bewußt und schroff von ihrem geistigen Typ ab-
heben. Hier und da scheint bei uns aber gerade die
Neigung zu bestehen, nachzuahmen, was vom Übel
ist. Die bürgerliche Geschäftspresse strebt immer mehr
zum reinen, kurzgehackten Nachrichtenblatt. Der
Sensation vom Tage wird möglichst viel Raum ge-
währt; man reckt und dehnt, um ja nur die Kon-
kurrenz zu schlagen. (Am ekelhaftesten ist dieses
Strecksystem in der Wiener Presse entwickelt.) Aller
andere Stoff aber wird möglichst kurz und flach zu-
sammengedrängt. Man hat da ganz bestimmte, zeilen-
mäßig begrenzte Tarife. Das Feuilleton darf immer
nur höchstens 150 Zeilen haben, ob darin nun die
schwierigsten Weltfragen erörtert werden oder über
irgendeine Nichtigkeit geschwatzt wird. Die Theater-
kritik über Novitäten wird streng auf 80 Zeilen ab-
gezirkelt, die der Rezensent erreichen muß, wenn er
über die ödeste Geschäftsware berichtet, die er nicht
überschreiten darf, wenn er ein ewiges Meisterwerk
würdigen soll. Die sozialdemokratische Presse sollte
sich dieser blöden Mechanisierung verschließen und
den Raum nach der Bedeutung des Stoffes, nach seiner
Schwierigkeit und Wichtigkeit, ohne Schablone und
459
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Zeilenmaß zur Verfügung stellen. Das Publikum
der sozialdemokratischen Presse soll mit Recht den
Anspruch erheben, die Zeit, die es der Zeitungs-
lektüre widmet, zu seiner geistigen Bereicherung aus-
zunutzen. Die Zeiten sind ja wohl vorüber, als Engels
mit seinem Anti-Dühring eine Zeitung monatelang
füllen durfte; aber es ist durchaus nicht verwerflich,
wenn der Leser der sozialdemokratischen Presse ge-
legentlich eine Woche sich mit demselben Problem
beschäftigt.
Der Unterhaltungteil unserer Presse wird von bür-
gerlichen Sozialethikern wegen seines Ernstes, seines
künstlerischen und wissenschaftlichen Ehrgeizes ge-
rühmt. Wer zu Proletariern redet, hat in der Tat die
Pflicht, nur den Ertrag gewissenhafter Arbeit und
erlesener geistiger Kraft zu produzieren. Die leicht-
herzige und darmflüssige Art, am Abend wieder zu
lehren, was man am Morgen hastig gelernt hat, darf
in unserer Presse keine Stätte finden. Schmock mag
nach allen Richtungen schreiben, für die Sozialdemo-
kratie ist er ungeeignet. Unser Feuilleton (im wei-
testen Sinne) aber sollte noch mehr wie bisher von
dem Zufall der Stofflese befreit werden und auch
mehr durchweg von der sozialistischen Weltan-
schauung durchdrungen sein. Von der Erziehung
durch eine sozialistische, künstlerisch und wissen-
schaftlich vollendete Unterhaltungsbeilage dringt der
Neuling am ehesten zum politischen Teil vor. Hierfür
brauchen wir besonders auch darstellungsbegabte par-
teigenössische Fachschriftsteller. Wir sollten auch in
der Akzentuierung der Interessen uns von dem bür-
gerlichen Vorbild befreien. Ich finde, daß man dem
Theater eine allzu große Bedeutung beimißt, — die
kapitalistischen Blätter bevorzugen das Theater, weil
eben die Theater provozierend kapitalistische Unter-
nehmungen sind — , während wir der wissenschaftlichen
und künstlerischen Buchliteratur, in der die Kultur
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unserer Zeit weit mehr lebt als in der Bühnenfabrika-
tion, viel zu wenig Aufmerksamkeit widmen. Auch
die mit lebendiger Anschaulichkeit und gründlicher
Sachkenntnis geschriebene soziale Zustandsschilderung
mangelt uns noch. Hierfür müßten wir junge, begabte,
drängend unruhige Schriftsteller gewinnen, die wan-
dern und reisen, die mit hellen Augen Leben sehen und
mit knappem Wort es festzuhalten verstehen.
Die Befreiung der Zeitung von allem aktenhaften
Rohstoff ist eine weitere wesentliche Aufgabe. Wir
haben eine gründlich verkehrte Rangordnung in der
Wertung der Kräfte, die an einer Zeitung mitarbeiten.
Voran marschiert feierlich der politische Redakteur,
und dann kommen nach und nach die Bearbeiter der
anderen Ressorts, Den Redakteuren schließen sich die
Mitarbeiter an, und ganz zuletzt folgt bescheiden der
Berichterstatter. Ich halte umgekehrt den technisch
leistungsfähigen, gebildeten, künstlerisch begabten
Berichterstatter für die Seele der Zeitung. Er ist be-
rufen, die Fülle des Lebens in der Zeitung auferstehen
zu lassen. Wie wenig wird bis jetzt noch das Gericht
ausgenutzt. Die Vorgänge in den Gerichtssälen der
kleineren Orte stehen fast nirgends unter Kontrolle,
und selbst bei Sensationsprozessen in den Großstädten
vernehmen wir höchstens das Gestammel der Worte,
anstatt daß wir den sozialen und juristischen Gehalt
der kriminellen Vorgänge unmittelbar erfahren. Auch
die parlamentarische Berichterstattung, die heute un-
seren Raum verschlingt, scheint mir sehr wenig glück-
lich, wie es auch barbarisch ist, Versammlungsvorträge
in ein paar Fetzen in die Zeitung zu schleifen. Ich
glaube, daß wir dahin kommen müßten, Stimmungs-
bild und stenographischen Bericht insofern zu verbin-
den, als wir im allgemeinen die Rede nur frei nach-
zeichnen, wichtige Stellen und Zwischenfälle dann
aber auch mit aller stenographischen und photographi-
schen Genauigkeit wiedergeben. Nur so wird die
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lebendige Rede nicht ausgedörrt, sondern lebendig
wiedergegeben.
Noch ein, allerdings fast unbegreiflicher Mangel der
sozialdemokratischen Presse sei kurz erwähnt: daß sie
zwar den Kapitalismus bekämpft in seinen Formeln,
Tendenzen, sozialen Wirkungen, daß sie ihn aber nicht
verfolgt in seinem realen inneren- Getriebe. Unsere
Parteipresse hat nur bescheidene Spuren eines Handels-
teils. Und doch wäre gerade die unabhängige sozia-
listische Kritik der Erscheinungen des kapitalistischen
Lebens der ungeheuerste Zuwachs an Einfluß und
Ansehen unserer Zeitung. Und hier wäre Dezentrali-
sation am Platze. Es sollte kein Parteiblatt geben, das
nicht einen Redakteur oder Mitarbeiter hat, der alle
finanziellen, industriellen, kaufmännischen, landwirt-
schaftlichen Unternehmungen des Verbreitungsbezir-
kes seiner sachkundigen Beobachtung unterstellt. Die-
ser Mitarbeiter des Blattes wäre dann auch zugleich
der berufene Berater der Gewerkschaften in ihren
Kämpfen gegen das Unternehmertum.
Ich habe keine Phantasien vorgetragen, sondern
ganz nüchtern Möglichkeiten und Notwendigkeiten
aufgezeigt, die verwirklicht werden müssen, wenn an-
ders wir die Schranken in der bisherigen Entwicklung
unserer Presse überschreiten wollen.
[April 19 14.]
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Dynastische Geschichtsauffassung
Soll nicht irgend einmal in grauer Vorzeit ein deut-
scher Kaiser seinem Kanzler in die Hand geschworen
haben, nicht mehr zu telegraphieren ? Der römische
Flüchtling des deutschen Kanzleramts hat dergleichen
einmal behauptet. Aber es muß wohl nicht wahr sein.
Denn es wird weiter telegraphiert, und von all den
kaiserlichen Telegrammen, die unablässig fließen,
scheint uns keines so irrig wie jenes, das er am 27. März
191 1 nach Rom schickte:
Die Kaiserin und ich sind glücklich, Dir vom
gastlichen Boden Deines schönen Landes unsere
aufrichtigsten und herzlichsten Wünsche auszu-
drücken, die wir mit ganz Deutschland für Dich
und für die befreundete Nation zu der heutigen
Feier des 50. Jahrestages hegen. Wir nehmen den
lebhaftesten Anteil an der Erinnerungsfeier, die dem
Werke Deines erlauchten Großvaters, des Schöpfers
des Königreichs und der Einheit Italiens, gilt. Wir
bitten Gott, daß er all seinen Segen auf Dich, Dein
Haus und Deine Regierung ausbreite und daß er
stets seine mächtige Hilfe leihe zum wachsenden Ge-
deihen und zum Ruhme Italiens. Unsere herzlichen
Grüße der Königin.
Das Telegramm wird nicht gerade die Dreibundsliebe
Italiens stärken; denn es macht aus der wirklichen
italienischen Volksgeschichte eine preußische Familien-
historie, wie sie die unglücklichen deutschen Schüler
auswendig lernen müssen. Zugegeben, daß das Tele-
gramm schwierig war, da man an das Auskunftsmittel
offenbar nicht gedacht hat, gleichzeitig ein Trost-
463
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telegramm an den Leidtragenden des 27. März in den
Vatikan zu senden. (Man hat doch einst sowohl den
russischen Hochverräter und den japanischen Sieger
gleichermaßen schwarz beadlert!) Indessen, die Stil-
schwierigkeit des Glückwunsches war noch kein Grund,
das italienische Volk durch das Telegramm seiner ur-
eigenen Nationalfeier für verlustig zu erklären und
zugleich den beglückwünschten König um seinen
höchsten Stolz zu bringen, daß er ein echter König der
Revolution ist.
Aus welchen Quellen beziehen preußische Könige
ihre geschichtlichen Kenntnisse ? Der erlauchte Groß-
vater Wilhelms II. hat vor fünfzig Jahren) keineswegs
dem erlauchten Großvater Humberts II. gehuldigt ; und
Preußen entschloß sich durchaus nicht so bald, das
neue Königreich Italien anzuerkennen. Der alte Wil-
helm wünschte als Prinzregent in der Krisis von 1859
die Herrschaft Österreichs in Italien durchaus unver-
sehrt zu erhalten, das Vorgehen Viktor Emanuels war
für ihn die leibhaftige Revolution, und er dachte im
Grunde über die Art der italienischen Einigung so,
wie der zentrümliche Verfasser eines unlängst in Mün-
chen erschienenen weltgeschichtlichen Bilderbuches:
„Früher als Deutschland errang Italien seine Einheit,
weil hier von jeher der allgemeine Drang stärker als
die Stimme des Einzelrechts war, die Scheu des Ge-
wissens geringer als die Stärke des Willens." (Der
Mann sieht übrigens als die wichtigste Wirkung dieser
gewissenlosen nationalen Einigung die dräuende Er-
scheinung an, daß es heute außer in Rußland nirgends
so viele Anarchisten gebe wie in Italien!) Wenn
schließlich Preußen doch die italienische Revolution
gelten ließ und sie indirekt sogar förderte, so geschah
es aus dem Interesse der hohenzollerischen Macht -
Vergrößerung. Auch solche Begünstigungen des Um-
sturzes — im Ausland — gehören ja seit jeher zu den
Gepflogenheiten preußischer Politik. Ein anderer
464
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erlauchter Ahn Wilhelms II. hat sogar einst mit den
Jakobinern seinen Frieden geschlossen, ihnen das linke
Rheinufer überlassen und die gemeinsame Sache der
europäischen Legitimität verraten, um Polen schlucken
zu können. Aber wegen dieser preußischen Begünsti-
gung der Revolution bleibt die italienische Einigung
doch das Werk der Revolution, die Schöpfung eines
umstürzenden Volkes, dessen Gesinnungsgenossen in
Deutschland, die Märzgefallenen, noch heute, auf Be-
fehl des Königs, kein Portal vor ihrer Ruhestätte
haben dürfen.
Ein preußischer Geschichtsschreiber, der nach Bis-
marcks Äußerung zu den Geschichtstrübern gehörte
und dem der alte Zyniker deshalb eine für die Trübung
der geschichtlichen Vorgänge besonders geeignete Aus-
wahl der geheimen preußischen Staatsakten unter die
Nase schieben ließ, durfte — ohne dem allgemeinen
Hohn zu verfallen — seine vielbändige Klitterung be-
titeln: Die Begründung des Deutschen Reiches durch
Wilhelm I., so nach dem Beispiel: Die Erschaffung der
Welt durch den lieben Gott. Kein italienischer Ge-
lehrter würde sich erniedrigen, eine Geschichte zu
schreiben: Die Begründung des Königreichs Italien
durch Viktor Emanuel, obwohl dieser Mann, im Gegen-
satz zu Wilhelm I., der die deutsche Einigung nur
gestört und verkümmert hat, wirkliche Verdienste um
das nationale Werk erworben hat. Am wenigsten aber
ist der Enkel Viktor Emanuels selbst, der unmittelbar
vor der Nationalfeier einen Sozialisten zum Eintritt
in sein Ministerium zu bewegen suchte, geneigt, die
Einigung Italiens als seine Familienleistung aufzufassen.
Es hätte dies doch Wilhelm II. stutzig machen
sollen, ob seine telegraphische Geschichtsauffassung
richtig sei, daß nicht der Tag, da Viktor Emanuel zum
König Italiens gewählt wurde, gefeiert wird, sondern
der andere, da Rom in einem revolutionären, ein Jahr-
tausend der Weltgeschichte aufhebenden Akt als
30 Eisner, Gesammelte Schriften. I.
465
Hauptstadt des neuen Nationalstaats beschlossen
wurde. So hat denn auch der Empfänger des kaiser-
lichen Telegramms in seiner rein und feierlich klingen-
den Ansprache auf dem Kapitol mit keiner Silbe die
Einigung Italiens als das Verdienst seines Hauses in
Anspruch genommen, wie er denn an keiner Stelle
den Namen Gottes im Munde führte, sondern nur
eines alten heidnischen Kaisers gedachte. Vielmehr
hat Humbert II. in Ehrfurcht sich vor dem revolu-
tionären Volk gebeugt, vor der „titanischen Anstren-
gung der Nationalseele", die sich fähig zeigte, „das
Los des erniedrigten Pöbels in das eines
freien, auf seine Rechte eifersüchtigen Vol-
kes umzuwandeln/*
Wie von einem fremden Erdteil und aus einer
fernen Vergangenheit dringen in diese Worte die
Wünsche und Meinungen Wilhelms II. Die Worte
Humberts sprechen die Sprache der demokratischen
Zivilisation des westlichen Europa, das Telegramm
Wilhelms II. wählt den Stil des östlichen Zarismus.
In der Geschichte der Auflösung des Dreibunds wird
einmal der kaiserliche Glückwunsch eine gewisse Be-
deutung finden. Die europäische Demokratie schließt
sich zusammen. Das herrschende Deutschland sucht
sich dieser Entwicklung zu entziehen. Die Geschichts-
auffassung Wilhelms II. ist ein Ausdruck dieser Strö-
mung. Sie macht den deutschen Kaiser aber deshalb
auch vielleicht geeignet, Leo X. Trost und Ermunte-
rung zu telegraphieren, aber höchst ungeeignet, die
Gefühle eines republikanischen Königs und eines die
siegreiche Revolution feiernden Volkes zu verstehen
und zu — gewinnen.
[März 191 1.]
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♦
Aus der Panther- Zeit.
I.
Sus — die deutsche Existenzfrage.
Ein sich als Marokkokenner aufspielender Schrift-
steller, Herr Albrecht Wirth, stellt den dem-
nächstigen Untergang der deutschen Industrie in
sichere Aussicht, falls Deutschland nicht Marokko er-
würbe. Das „ganze Krämchen" — nämlich die deut-
sche Industrie — sei futsch, und Millionen Arbeiter
lägen auf der Straße, wenn Deutschland keine Eisen-
erze mehr hätte. Die Vorräte an Eisenerzen sollen
aber nur noch für dreißig Jahre reichen. Da können
nur die ungeheuren Eisenschätze Marokkos retten, die
nicht nur 6b— ioo Millionen Mark, wie bisher an-
genommen/sondern eine volle Milliarde betrügen.
Die Schätzung der marokkanischen Eisenvorräte ist
zwar nicht aus den dortigen Eisenerzen selbst, sondern
aus den Fingern des Schätzers geschürft. Aber wir
wollen die Milliarde glauben. Was hülfe sie, um das
ganze Krämchen und die Millionen deutscher Arbeiter
vor dem Untergange zu bewahren!
Wenn dieser Weltwirtschaftspolitiker sich in die
Statistik des deutschen Eisenverbrauches statt in die
Geheimnisse von Marokko versenkt hätte, so würde er
bemerkt haben, daß Deutschland schon heute nur die
kleinere Hälfte des Eisenbedarfs im Inlande ge-
winnt, dagegen für 125 und mehr Millionen
Mark alljährlich aus dem Auslande einführt.
Die Rechnung ist demnach klar, die ebenso impo-
nierende wie aus der Phantasie bezogene marokkanische
Eisenmilliarde wäre weniger als nichts. Selbst unter
30*
der Annahme, daß der ganze Vorrat vorhanden wäre,
daß er gefördert werden könnte und bis auf den letzten
Rest, dank der Erwerbung Marokkos, nach Deutsch-
land käme, so würde ja auch dieser marokkanische Zu-
schuß in weniger als eineni Jahrzehnt, und
unter der Voraussetzung, daß die deutschen Eisen-
vorräte erschöpft wären, in weniger als einem Jahr-
fünft verbraucht sein.
Der Bankerott des ICrämcheüs würde mithin durch
Marokko im günstigsten und märchenhaftesten Falle,
wenn man nämlich alle Behauptungen der Marokko-
wippchen für bare Münze nähme, nur um ein paar
Jahre hinausgeschoben werden.
Es scheint uns unter diesen Umständen denn doch
das Risiko eines Weltkrieges in keinem Verhältnis zu
der möglicherweise zu erzielenden winzigen Frist-
verlängerung für die deutsche Industrie zu
stehen. Dann leben wir lieber im Frieden, und wenn
nach dreißig Jahren das Krämchen der deutschen In-
dustrie aus Mangel an Eisenerzen zu Ende sein sollte,
dann wird Herr Albrecht Wirth auf alle Fälle bereit
sein, aus seinen Fingern den weiter notwendigen Be-
darf an Eisenerzen zur Verfügung zu stellen, sogar in
Deutschland, wenn er sich nur einige Mühe gibt.
[30.; Juli 191 1.]
IL
Innere und äußere Kolonisation.
In einer kleinen politischen Satire nahm ich kürzlich
die „diplomatische Verständigung" in der Marokko-
frage vorweg; ich empfahl die Formel: „wirtschaft-
liche Aufteilung Marokkos", Südmarokko als deut-
sches Interessengebiet. Das sei, meinte ich, das gün-
stigste diplomatische Kompromiß, weil es der Quell
unendlicher neuer gefährlicher Verwickelungen wer-
den müßte.
468
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Fast scheint es* als ob die Satire Wahrheit werden
wollte. Aus Furcht vor der goldströmenden Agitation
der Gebrüder Mannesmann besteht Deutschland auf
der Überweisung des „souverän4* bleibenden Südens
Marokkos als eines wirtschaftlichen Ausbeutungsgebiets
für deutsche Kapitalisten. Für die Anerkennung der
wirtschaftlichen Gleichberechtigung Deutschlands in
Marokko tritt selbstverständlich auch die Sozialdemo-
kratie ein. Ebenso könnte an sich Frankreich, wenn es
Bosheitspolitik treiben wollte, nichts lieber sein, als
wenn es Deutschland versuchen ließe, den marokkani-
schen Alpenvölkern, diesem „unzähmbarsten Volk"
der Erde, die vermuteten (niemals bewiesenen) Erz-
schätze zu rauben; es wäre ein furchtbares Verbluten
deutscher Kraft. Wenn gleichwohl Frankreich und
England dieser deutschen Forderung Widerstand
leisten, so nur deshalb, weil eine solche wirtschaftliche
Aufteilung nur ein lächerliches Vorspiel einer wirk-
lichen Eroberung des Landes wäre. Wenn heute irgend-
ein Agent eines beutelustigen deutschen Kapitalisten
im Sustal lungert und dabei zu Schaden kommt, weil
die Eingeborenen den Eindringling zu ihrem Glück
nicht für notwendig halten, so hat Deutschland heute
gerade auf Grund der internationalen Verträge nicht
nur keine Pflicht, sondern gar kein Recht, für das
Opfer seiner Spekulation einzutreten. Das Sus-Gebiet
ist vertragsmäßig für Fremde gesperrtes Land, und
wenn diese trotzdem sich hineinwagen, so müssen sie
das auf ihre eigene Rechnung und Gefahr tun, und
die deutsche Großmacht wäre ebensowenig genötigt,
sich hinter einen solchen Abenteurer zu stellen, wie
sie „aus nationaler Ehre" verpflichtet wäre, ihre Flotte
nach dem Nordpol gegen die Eisbären zu senden, die
einen deutschen Reisenden gefressen.
Anders aber liegt die Sache, wenn sich Deutschland
mit Frankreich vertragsmäßig verständigt, daß der
Süden Marokkos deutscher Ausbeutung vorbehalten
469
bleibt. Wenn auf Grund dieser Abmachung dann
deutsche Freibeuter in das Sustal eindringen, dann
trifft in kurzer Zeit der Fall tatsächlich ein, den
Deutschland bei der Pantherfahrt nur plump vor-
getäuscht hat: Diese Deutschen riefen nach Schutz
gegen die aufrührerische Bevölkerung. Sicher werden
bald ein paar Deutsche von den berberischen Kunst-
schützen niedergeknallt, die keinerlei Verständnis für
die Aufgaben der kapitalistischen Sendboten Europas
haben. Und der Rachezug ist fertig. Ein Kriegs-
geschwader schwimmt nach Agadir oder auch Mogador.
Deutsche Soldaten werden gelandet. Das Gebiet wird
von und für Deutschland militärisch besetzt. Damit
ist nicht nur ein trotz ungeheurer Opfer aussichtsloses
Unternehmen auf das deutsche Volk geladen, sondern
die Gefahr eines kriegerisch-weltpolitischen Zusam-
menstoßes mit den europäischen West mächten in un-
mittelbare Nähe gerückt.
Darum müssen auch die deutschen Sozialdemokraten
sich gegen die wirtschaftliche Aufteilung wenden, die
nur ein vorläufiger Humbug ist, und allein für die im
Vertrag von Algeciras zugesicherte wirtschaftliche
Gleichberechtigung eintreten. Darum aber müssen
auch die europäischen Mächte, die den Marokko-
Konflikt lösen, nicht verschärfen wollen, diesen deut-
schen Vorschlag ablehnen, der kein Ausgleich, son-
dern eine Täuschung, keine Erledigung alter, sondern
ein Anfang neuer Händel ist.
Das deutsche Volk hat nicht das mindeste Interesse,
sich mit den Bezugs- und Profitsorgen von ein paar
deutschen Kapitalisten solidarisch zu erklären. Zudem
ist es mehr als fraglich, ob auch nur diese Spekulanten
auf ihre Rechnung kommen würden, wenn selbst das
ganze Volk für sie zu bluten bereit wäre.
Freilich sagt man uns nicht, wir sollen unsere Söhne
auf dem goldenen Altar der Gebrüder Mannesmann
opfern, sondern man malt uns ungeheure Kultur-
470
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aufgaben vor, die geradenwegs aus dem windigen Ge-
hirn des seligen Barons Münchhausen stammen. In
einer alldeutschen Broschüre wurde es für die dring-
lichste Aufgabe des deutschen Volkes erklärt, die Sus-
Wüste zu bewässern; denn wenn auch der Sus zumeist
unterirdisch flösse, so sei doch nichts leichter, als das
Wasser emporzupumpen. Ein anderer Alldeutscher,
der kürzlich Sachsen unsicher gemacht hat, empfahl
in einem von ihm verfaßten hirnverbrannten Wisch aus
einem anderen Grunde die Besiedelung Marokkos:
weil dort die Menschen sich wie die Blattläuse ver-
mehren. Der hochselige Massinissa habe es in Nord-
afrika fertig gebracht, mit 94 Jahren noch einen echten
Sohn zu zeugen; Mulay Ismail, habe 1200 Kinder
gehabt. Die Geschichte vom Greisensäugling des
Massinissa ist zwar 2100 Jahre und mehr alt; immerhin,
wes Lebensideal ist, noch mit 94 Jahren einen echten
Sohn zu zeugen, der mag ruhig ins Sustal pilgern,
aber einen Krieg brauchen wir doch wegen dieser
Lendensehnsucht nicht gerade zu führen; eine fröh-
liche Berberin wird schon aus Neugier bereit sein, in
friedlicher Verständigung sich für ein solch alldeut-
sches Experiment herzugeben. Die 1200 Kinder des
Mulay Ismail würden uns erst dann imponieren, wenn
behauptet würde, daß sie von Einer Mutter stam-
men; denn daß ein Vater so fruchtbar sein kann, das
lehrt uns nicht erst Marokko, so etwas ist auch auf
sächsischen Thronen schon vorgekommen.
Bis zu solchen Narrenspossen sinken unsere Koloni-
sationswüteriche. Je weniger es wirklich zu koloni-
sieren gibt, um so toller delirieren die bezahlten und
unzurechnungsfähigen Agenten kapitalistischer Erz-
sucher, die — auf Kosten des deutschen Volkes —
Erz billiger holen wollen, als sie es aus Deutschland,
Schweden oder Spanien bisher beziehen. (Übrigens
verlangt man doch auch nicht die Eroberung Schwe-
dens und Spaniens, obwohl die deutsche Eisenindustrie
47t
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auf deren Erzgruben angewiesen ist!) In Südmarokko
aber ist überhaupt nichts zu holen, außer etwa
berberische Flintenschüsse. Eines der am gierigsten
nach Südmarokko lechzenden Blätter, das Organ
der bayerischen Regierung, die „Augsburger Abend-
zeitung", mußte sich kürzlich dazu verstehen, sich von
einem Sachkenner über das „Märchen vom Sus" be-
lehren zu lassen. Der Gelehrte höhnte über den Schrei
nach Marokko, der von den „Bramarbassen und Braten-
barden" täglich ausgestoßen werde. Es sei schleierhaft,
wo in den Wüsten Marokkos das Heidengeld stecken
solle. Die Kaufkraft der Eingeborenen sei lächerlich
gering; unsere Kaufleute müßten allenfalls für ihre
Waren Wüstensand in Zahlung nehmen. Der Erz-
reichtum sei ganz und gar problematisch. Bisher be-
ziehe man in Südmarokko das nötige Erz — aus dem
Auslande :
„Aber selbst den Erzreichtum des Hinterlandes von
Agadir als Tatsache angenommen, vermöchte dies uns
besonders zu locken ? Wohl kaum !
Die Franzosen haben für ihren Blumenkohl, den
sie in Zukunft in Nordmarokko bauen werden, natür-
lich nur wenig die räuberischen Gelüste der Berber
zu fürchten; Blumenkohl ist nun einmal kein Tausch-
objekt für Halbwilde. Mit Erzen ist dies aber eine
andere Sache. Jeder Kenner Marokkos versichert, daß
Erztransporte im Sustale alle dreihunderttausend Ber-
berkrieger zum „heiligen Krieg" gegen die Eindring-
linge anlocken würden. Am besten wissen dies natür-
lich aber die Herren Mannesmann, denen es recht ge-
legen käme, wenn sie unter der Obhut des Reiches
ihre jetzt sehr problematischen Schürfrechte ausüben
dürften. Doch für das Reich wäre dies ein teurer
Spaß; denn durch eine ständige „Schutzwache" von
mindestens 20000 Mann würden sich die fanatischen
Atlasstämme wohl kaum dauernd zurückhalten lassen."
Diese Darlegungen in dem sonst marokkofanatischen
472
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bayerischen Regierungsblatt genügen allein, um die
ganze Gefahr der „wirtschaftlichen" Aufteilung er-
kennen zu lassen. Es gibt nur eine für das deutsche
Volk gedeihliche Losung: Weg vom Sus!
Alle Kolonialpolitik ist günstigstenfalls ein Berciche-
rungswerkzeug für einige Kapitalisten und Aben-
teurer. Die bisherigen deutschen Kolonien haben uns
im letzten Jahrzehnt 500 Millionen mehr gekostet als
eingebracht. Damit einige Kolonialspekulanten ver-
dienen, wurde der Hunger der Massen furchtbar be-
steuert, wurde die innere Kolonisation in Deutsch-
land gelähmt.
Man rät uns, ferne Wüsten aus unterirdischen
Flüssen zu bewässern und um dieses Zieles willen einen
Weltkrieg zu wagen. Derweilen gehört Deutschland
selbst noch zu den dürftig kolonisierten Ländern.
Jeder Wolkenbruch schafft ungeheure Verheerungen,
weil unser Wasserverteilungssystem noch in den An-
fängen steht. Jeder regenlose Sommermonat verbrennt
die Felder, weil die Bewässerung noch nicht durch-
geführt ist. Wir könnten für ungezählte Menschen
fruchtbaren Ackerboden dem Wattenmeere abgewin-
nen ; dazu haben wir kein Geld ! Wir haben in Deutsch-
land 500 Quadratmeilen Moor, deren Kultur erst
zum kleinen Teile durchgeführt ist. Wie traurig und
armselig steht es um die deutsche Obstbaumzucht!
Welche gewaltigen Flächen liegen brach und öde!
Deutschland hat bei einer Bodenfläche von 54 Millionen
Hektar 6,2 Millionen Brache und Ödland; Frankreich
bei der gleichen landwirtschaftlichen Fläche nur
3,8 Millionen. Die weltpolitischen Milliarden für
Deutschland selbst aufgewandt, und unser Vaterland
könnte ein blühender Garten werden.
So sind unsere Alldeutschen in Wahrheit nicht die
Mehrer, sondern die Zerstörer deutschen Volkstums.
Damit einige Kolonialräuber die Welt für ihre schmut-
zigen Privatinteressen abgrasen können, wird deutsche
473
Arbeit sinnlos vergeudet. Indem die internationale
Sozialdemokratie aber diese „Weltpolitik" bekämpft,
treibt sie echte Heimatpolitik.
[4. September 191 1.]
III.
Frankreichs Friedensbürgschaft.
Am Ausgang der Marokkokrisis veröffentlicht Ca-
mille Pelletan im Matin Betrachtungen, die in
Deutschland gehört und beherzigt zu werden ver-
dienen. Um so mehr, als die deutsche Presse ihr skan-
dalöses Sommertreiben eben damit beschließt, daß sie
nach der Franzosenhetze jetzt Frankreich gegen Eng-
land auszuspielen sucht, und die übereinstimmenden,
der Auslassung Pelletans durchaus verwandten Urteile
der englischen Zeitungen und Revuen als boshafte
und gehässige, lediglich englische Verleumdungen
denunziert.
Lange Zeit hindurch, schreibt Pelletan, hatte der
deutsche Kaiser die Gewohnheit geübt, in recht nahen
Zwischenräumen irgendein Drohwort auszusprechen,
dessen Explosion die Welt alarmierte. Man hörte hin;
unterrichtete sich; die Journale der ganzen Welt
waren voll von Erläuterungen über die Redewendung,
oder von mehr oder minder richtigen Informationen
über ihre möglichen Folgen. Dann legten sich die
Beängstigungen des ersten Augenblicks, und Europa
wurde wieder ruhig.
Auch in Deutschland war man über diese lärmenden
Überraschungen wenig erfreut, und die öffentliche
Meinung wünschte, daß der Kaiser auf solche Kund-
gebungen verzichte. Jetzt sei es nicht mehr der Kaiser,
sondern sein Kanzler, der durch solche heftige Tam-
tam-Schläge die Welt störe. „Diesmal war der Lärm
ernster, länger; er scheint jetzt fast vorüber; aber er
hat lange genug gedauert, und was noch ärgerlicher,
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er droht zukünftig sich zu erneuern." Beunruhigt
fragt Pelletan, wie lange die jetzige Verständigung
dauern werde. Man verspricht uns, fährt Pelletan
fort (der übrigens ein Gegner der Expansionspolitik
ist), die Vorherrschaft in Marokko. Ich fürchte ein
wenig dies gefährliche Geschenk, wenn wir's haben
werden, wird unsere Grenze nicht weniger offen sein;
das kaiserliche Militärreich, das unser furchtbarer
Nachbar ist, wird nicht weniger bewaffnet sein; und
seine Regierung wird wahrscheinlich nicht auf die
Tamtam-Schläge verzichtet haben. Nach Erwerbung
eines Teiles des Kongo wird man nur um so mehr
Lust haben, wieder anzufangen. In den wirtschaft-
lichen Zugeständnissen in Marokko, d. h. in den Kon-
zessionen an einflußreiche Kapitalisten, wird Deutsch-
land so viel Vorwände zur Klage und zum Konflikt
finden, wie es wünscht.
Pelletan ist nichts weniger ab ein Chauvinist. Aber
er stellt doch fest, daß Frankreich in den letzten ge-
fährlichen Monaten durchaus kaltes Blut bewahrt hat.
Es ließ sich weder nationalistisch erhitzen, noch durch
die Schrecken und Verwüstungen eines möglichen
Krieges in Angst jagen. Selbst die Geschäftswelt blieb
völlig ruhig. Das Kapital, das furchtsamste Ding der
Welt, hat nicht das leiseste Symptom einer Panik ge-
zeigt. Aber in Deutschland wurden Sparkassen ge-
stürmt, aus den Banken die Gelder zurückgezogen,
eine wirtschaftliche Deroute hervorgerufen. Und
Pelletan weist sehr zutreffend auf die Ursachen dieses
Unterschiedes hin:
„Es scheint mir schwer, unseren republikanischen
Einrichtungen ihr Verdienst an dieser verschiedenen
Lage zu verweigern. Frankreich weiß sich Herr
über sein Geschick; es braucht nicht zu
fürchten, daß eine Regierung, die es in sei-
ner Hand hält, es in das Ungefähr eines
Krieges stürzen könnte, gegen seinen Willen.
475
Frankreich wäre wahrscheinlich weniger ruhig ge-
wesen, wenn es noch einen Kaiser gehabt hätte, wie
den, der unsere Heere nach Sedan geführt hat. Und
man begreift, daß Deutschland nicht eben so
viel Vertrauen gehabt hat, weil es nicht die-
selben verfassungsmäßigen Garantien hat.
Auf jeden Fall bezahlt Deutschland heute auf dem
finanziellen und wirtschaftlichen Gebiete die Kosten
der Krisis, die seine Regierung geschaffen hat. Ein
solches Ergebnis ist ohne Zweifel nicht geeignet,
Deutschland die Politik der Tamtam- Schläge lieben
zu lassen."
[5. Oktober 191 1.]
IV.
Was nun?
Bis in die Reihen der Nationalliberalen hinein ist
jetzt zugegeben worden, daß die Entsendung des
„Panthers" nach Agadir ein Fehler gewesen ist. Das
ist ein gefährlich verspätetes Zugeständnis, das erst
unter dem Gefühle sich hervorwagte, daß die lärmende
Aktion zu Anfang in keinem Verhältnis zu dem dürf-
tigen Ertrag am Ausgange stehe. Aber erinnern wir
uns: In jenen ersten Julitagen, da Europa bewußtlos
am Abgrund des furchtbarsten aller Weltkriege tau-
melte, jauchzte die gesamte bürgerliche Presse, ohne
Ausnahme, nur in verschiedenen Abtönungen, über
die befreiende Tat des Herrn v. Kiderlen. Für eine
befreiende Tat konnte das Geschehnis doch nur des-
halb angesehen werden, weil man von ihr den Anfang
weltpolitischer Besitzergreifungen erwartete. In jenen
Tagen hatte alles tripolitanische Stimmungen, und alles
Preßgesinde erklärte heldenmütig, daß das deutsche
Volk zu den äußersten Konsequenzen entschlossen sei.
Die Sozialdemokratie war in jenen Sommertagen mit
ihren Protesten, ihren Warnungen, ihren Hinweisen
auf die drohenden Katastrophen völlig einsam.
476
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All die deutschen „geheimen" Aufklärungen haben
bisher keine Aufklärung über Grund und Absicht des
Unternehmens gegeben. Herr v. Kiderlen hat immer,
wieder behauptet, niemals sei an eine Besitzergreifung
in Marokko gedacht worden. Er hat jene unerhörte
Aktion nur als so etwas wie einen ein wenig energi-
scheren offiziösen Zeitungsartikel erklären wollen. Das
ist natürlich eine so kindische Begründung, daß sie
kein ernsthafter Mensch glaubt. Dennoch hat Herr
v. Kiderlen wirklich vielleicht nicht mehr gewollt als
eine schöne Geste. Die einzige Erklärung ist immer
noch, daß sich die Berliner Regierung durch die fal-
schen Berichte des unfähigen deutschen Botschafters
in London, Wolff-Metternich, hat in den Wahn locken
lassen, England sei unzufrieden mit der französischen
Marokkopolitik und würde ein hemmendes Eingreifen
Deutschlands nicht ungern sehen.
Indessen, es hat keinen Zweck mehr, über die fatalen
Ursachen beispielloser Fehler zu grübeln. Das Unheil
ist geschehen, es kann durch gar nichts mehr in seinen
Wirkungen abgeschwächt werden.
Mag man jetzt Verträge schließen, Friedensreden
halten und sich in Beteuerungen internationaler Loyali-
tät überbieten, der „Panthersprung" wird niemals mehr
vergessen und er wird überall in der Welt als ein erster,
mißglückter Versuch aufgefaßt, die deutsche Welt-
herrschaft zu beginnen.
Wir debattieren nicht über das Recht, daß auch
Deutschland sich eine Weltherrschaft gründe. Recht
oder Unrecht — so viel ist sicher, daß unter den heu-
tigen geschichtlichen Bedingungen eine solche Politik
nicht durchgesetzt werden kann, ohne daß die Völker
Europas in einen Krieg gestürzt werden, der einen
Weltuntergang bedeutet. Deshalb ist jede imperia-
listische Politik für die Sozialdemokratie undiskutabel.
Das internationale Proletariat aber hat Eile, einen
entscheidenden Einfluß auf das Schicksal der Völker
477
geltend zu machen. Die Katastrophe lauert an der
Schwelle. Die Gefahr ist größer denn je. Die Sozial-
. demokratie allein ist der Friede.
Der neue Reichstag wird sich bald nach seinem Zu-
sammentritt mit einer neuen Flottenvorlage zu
beschäftigen haben. Eine Flottenvorlage aber be-
deutet mehr als eine neue schwere Belastung der
Volksmassen. Eine neue deutsche Flottenvorlage wirkt
als ein neuer, stärkerer Panthersprung, als eine aber-
malige Bekräftigung der internationalen Uberzeugung,
daß Deutschland sich heute noch nicht stark genug
f ülüt, den Kampf um die Weltherrschaft mit England zu
beginnen, daß es aber morgen, übermorgen losschlagen
wird. Diese allgemeine, und immer wieder durch die
deutsche Politik genährte Überzeugung ist die furcht-
bare Gefahr, unter der wir leben. Denn dadurch
muß bei den anderen Mächten der politische Gedanke
die unheimliche Gewalt einer nie rastenden Zwangs-
vorstellung gewinnen, ob man so lange warten soll, bis
die deutsche Rüstung vollendet ist, ob man nicht
zuvorkommen kann.
Über diese Gefahr dürfen wir uns keinen Augenblick
täuschen und beruhigen.
Ein französischer Offizier und Militärschriftsteller,
Pierre Felix, veröffentlicht soeben in Paris eine Schrift,
die für jene verruchten, aber nun einmal vorhandenen
Stimmungen eine aufklärende Urkunde ist. Unter dem
Titel: „Et maintenant ?" — „Und nun ?** — veröffent-
licht er Betrachtungen über die durch den französisch-
deutschen Vertrag geschaffene Lage und er setzt bereits
auf das Titelblatt die drohende Losung und Lösung:
„Le Desarmement ou la guerre" — Abrüstung oder
Krieg.
Es hilft nicht, daß man den Verfasser als einen
Nationalisten (klerikaler Färbung) abtut (der Sozialis*
mus wird von ihm wie eine einfältige Utopie behan-
delt) — die Gedanken, die er entwickelt, haben ihre
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Logik, und was er schreibt, ist trotzdem herrschende
Meinung.
Pierre Felix geht von der Vorstellung aus, daß
Deutschland dieWeltherrschaft erstrebt : „Was Deutsch-
land noch zügelt, ist die englische Flotte . . ., aber in
zehn Jahren wird sich die deutsche mit der englischen
Flotte messen können." Dann ist Deutschland eine
schlechthin unüberwindliche Macht. Also darf man
nicht warten, also muß man heute handeln. Es gibt
nur noch zwei Möglichkeiten: die gleichzeitige, all-
gemeine und vollständige Abrüstung oder den Welt-
krieg mit all seinen unermeßlichen und unausdenkbaren
Folgen. Man muß Deutschland zur Abrüstung zwin-
gen, mit allen Mitteln politischen, wirtschaftlichen,
militärischen Zwanges. Die Abrüstung aller Mächte
muß vollständig sein. Zur Aufrechterhaltung der euro-
päischen Sicherheit gegen plötzliche Störungen soll
nur noch eine Art internationaler Gendarmerie
gestattet sein: höchstens iooooo Berufssoldaten und
vier Kreuzer, Macht genug, um Friedensstörungen
abzuwehren, nicht stark genug, um zu erobern. Wei-
gert sich Deutschland, sich dieser Abrüstung anzu-
schließen, so muß sofort die Entscheidung durch einen
Krieg herbeigeführt werden, in dem Deutschland
unterliegen muß, da es England, Frankreich und Ruß-
land gegen sich, nur Österreich für sich haben würde.
England soll alsbald diese Entscheidung herbeiführen:
Abrüstung oder Krieg! . . .
Weltfricdlich-blutrünstige Hirngespinste ! Gewiß 1
Wenn sie nur nicht zugleich bis zum Ende durch-
dachte tatsächliche Erscheinungen wären ! Zum Glück
hat die Beweisführung dieser (im doppelten Sinne!)
Gewaltabrüstung doch eine Lücke; und der Verfasser
fühlt sie. Darum schaltet er das Proletariat, die
Sozialdemokratie, aus seiner Berechnung aus, wenn
er auch Bebels Jenaer Kriegsschilderung ausdrück-
lich bekräftigt. Er will die proletarische Weltmacht
479
nicht sehen, weil seinem reaktionären Kopf vor ihr
graut.
Zum Heil der Welt ist diese Macht dennoch vorhan-
den. Pierre Felix hätte recht, wenn das Proletariat
nicht vorhanden wäre. Gewinnt bei den nächsten
Wahlen die deutsche Sozialdemokratie entscheiden-
den Einfluß auf die deutsche Politik, so wird sie ebenso
sehr für die Entfaltung aller nationalen Kulturkraft im
friedlichen Wettbewerb sorgen, wie sie — durch ihre
unbezweifelbare Friedensentschlossenheit — das Welt-
mißtrauen gegen die finsteren Pläne des deutschen
Imperialismus beseitigen wird, nicht zum wenigsten
dadurch, daß sie durch Sicherung der Volksrechte und
durch ein Budget von Besitzsteuern den Friedenswillen
des Proletariats betätigen, den Rüstungswahn der Herr-
schenden beugen wird.
Anmerkung 191 8. Das ward am 28. November 191 1
veröffendicht. Die „nächsten Wahlen" ließ man noch zu;
es kamen 110 Sozialdemokraten. Auf 200 Sozialdemokraten
aber wollte man nicht mehr warten. Man wußte noch nicht,
daß man auch mit 200 Sozialdemokraten im Reichsparlament
ohne innere Schwierigkeiten einen Weltkrieg führen könnte.
480
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Die hohen Stühle.
Wenn das aussterbende Geschlecht der Kunstreiter,
die unter freiem Himmel ihre Wunder spielen lassen,
einem hohen Adel und verehrlichen Publikum ihr
Naturtheater hinstellen, dann pflegen sie wohl die
bedeutsamen Rang- und Preisunterschiede ihres Pu-
blikums dadurch zu kennzeichnen, daß sie über die
hölzernen Wirtshausstühle der ersten Reihen bunte
Zeugfetzen breiten, also daß jedermann die adelige
Besessenheit dieser Sitzwerkzeuge auf den ersten Blick
zu erkennen vermag.
Dieses Klassenverständnis der Freilichtzirkus-Direk-
toren bildet auch das Prinzip eines deutschen Parla-
ments. In einem intimen Ballräumchen der Pranner-
straße zu München veranstalten sie von Zeit zu Zeit
— nicht allzu oft — Festspiele der Gesetzgebung,
deren dekorative Stimmung durch die sorgsame Ab-
tönung der Sitzgelegenheiten bewirkt wird. Es geht
ein altes naturwissenschaftliches Gerücht, daß die
Vornehmheit der Lebewesen an der Farbe jener
Körperteile zu erkennen ist, die zur Erzeugnis der not-
wendigsten Beihilfen für die Landwirtschaft Tür und
Tor öffnen. In der Tat, wer jemals den Südpol eines
Pavians nachdenklich betrachtet hat, der wird geneigt
sein, am farbigen Glanz der gescheitelten Unterwangen
den Grad edler Abstammung zu ermessen.
Aber die vornehmen Figuren in dem Parlamentlein
der Prannerstraße sind viel zu bescheiden, als daß sie
diese fleischlich- farbigen Urkunden ihrer gesetzgeberi-
schen Vollmacht vor der gemeinen Welt zur Schau
stellen. Vielmehr haben der Schreiner und der Tape-
zierer den unsichtbaren Adel des Gesäßes in das Ge-
ji Bitner, Gesammelte Schriften. I.
stühl hineingedichtet, auf dem die natürlichen Zeug-
nisse erhabener Würde zu ruhen pflegen.
Der Zuschauer, den der Verein zur Hebung des
Fremdenverkehrs in die besagten Festspiele gelockt
hat, sieht von seiner engen Galerie auf eine sinnver-
wirrende Ausstellung von Stühlen herab. Da sind
breite, dunkelblaue Samtlehnstühle mit hellroten
Lederkissen, weißlackiertem Holzwerk und goldenen
Krönchen über der Lehne. Eine Ansiedelung dunkel-
roter Polstersessel in reichgeschnitzten Goldrahmen
deutet vielleicht auf noch vornehmere Hintergründe
des bayerischen Verfassungslebens. Die bordeauxroten
Samtlehnstühie mit braunem Holzwerk weisen offenbar
schon auf zweifelhafte Färbung ihrer Inhaber, und die
schmalen, harten, blaubezogenen Stühle ohne Seiten-
lehne endlich veranschaulichen die unzweifelhaft min-
dere Güte ihrer hier eben nur geduldeten Besitzer;
diese letzteren Stühle sind in der Tat nur als Stehplätze
für das gemeine Volk gedacht; da die einzelnen Mit-
glieder des gemeinen Volks (der Minister nämlich) das
lange Stehen nicht vertragen können, schob man ihnen
huldvoll das kümmerliche Holz unter das Fleisch ihrer
unedlen Abstammung.
Jetzt ahnt der Leser, daß wir uns im bayerischen
Reichsrat befinden, in dem die Stühle schon die Klas-
senunterschiede der Mitglieder verdeutlichen.
Das ist das hohe Haus, in das man nicht durch den
Wahlzettel, sondern durch die — Hebeamme hinein-
gerät. Hier ist man nicht, weil man durch das Ver-
trauen des Volks geschickt wurde, sondern in der großen
Mehrzahl lediglich deshalb, weil man sich auch nach
Beaumarchais noch immer die Mühe gegeben und das
Verdienst erworben, geboren worden zu sein. Nun
sind zwar die Menschen in der Regel geboren, aber
deshalb sind sie doch nicht sämtlich Reichsräte der
Krone Bayerns. Vielmehr muß man auf besondere Art
geboren sein. Die Ahnen dieser Herren sind nicht, wie
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unsere Vorfahren (nach Darwins Behauptung) auf ge-
wöhnlichen Bäumen herumgeklettert, sondern sie
haben auf merkwürdigen Stammbäumen genistet. Da-
her sitzen sie jetzt im bayerischen Reichsrat. Daß sie
aus edlem Blut geboren sind, ist der Befähigungsnach-
web für ihre gesetzgeberische Wirksamkeit. Nun ist
es eine gewisse, auf populäre Vorurteile allzu ängstlich
Rücksicht nehmende Inkonsequenz, daß man durch-
aus auf lebendiger Geburt besteht. Warum ? Wenn es
einmal auf das alte edle Geschlecht, auf Ahnen, Blut,
Rasse ankommt, warum muß dieser Gesetzgeber durch-
aus erst nach neun oder mindestens nach sieben Mo-
naten atmend zur Welt gekommen sein ? Ist sein
Recht nicht das gleiche, auch wenn er ungeduldig
schon nach fünf Monaten ins Licht gefallen ist ? Wie,
wenn nun aus diesem Grunde eine uralte Familie ihre
Reichsratsfähigkeit verliert ? Weil der einzige Sproß
nach den plumpen Vorurteilen der Masse vorzeitig
und tot geboren ist! Es ist nicht einzusehen, warum
man das edle Geschöpf nicht in einer feingeschliffenen
Kristallvase in köstlichem tausendjährigem Weinspiri-
tus verwahrt und so jedesmal durch das Familien-
automobil auf den erbeigentümlichen Reichsratssessel
bringt. Auch dieser Embryo stammt ja ab und ist da-
mit zur bayerischen Gesetzgebung legitimiert. Könnte
sonst nicht die Gefahr sich ereignen, daß unsere er-
habenste parlamentarische Schöpfung ausstirbt ?
Man sage nicht, daß der Reichsrat Standesdünkel
zeigt. Er verlangt zwar „Abstammung", aber er
duldet auch Produkte niederen Schoßes, sogar Mi-
nister in seiner Mitte, natürlich nach Art und Stuhl
geschieden.
Wer sitzt im Reichsrat ?
Zunächst 18 Wittelsbacher, Prinzen und Herzöge.
Man präge sich die Namen ein: Ludwig, Rupprecht,
Karl, Franz, Leopold, Georg, Konrad, Heinrich, Lud-
wig Ferdinand, Ferdinand Maria, Adalbert, Alfons,
483
Karl, Ludwig Wilhelm, Franz Joseph, Siegfried,
Christoph und abermals Ludwig.
Dann kommen 51 erbliche Reichsräte, denen drei
Vertreter der katholischen und einer der protestanti-
schen Kirche hinzugesellt sind. Um diese 55 Edlen
vom Stuhl aber mit Namen und Stand aufzurufen, be-
darf man nach einer genauen Zahlung sechshundert-
neunzig — und was für — Worte. Man erkennt also
schon am bloßen Namensaufruf, um wieviel bedeu-
tender diese hohen Herrn sind als die Gewählten der
zweiten Kammer, die nur „Joseph Filser, Ökonom"
heißen. Hier aber nennt man sie: „Seine Durchlaucht
Fürst Albrecht zu Oettingen-Oettingen und Oettingen-
Spielberg, k. Kronobersthofmeister". Oder: „Seine
Durchlaucht Fürst Bertram von Quadt zu Wykradt
und Isny, Standesherr, Oberst & 1. s. der Armee".
Oder: „Seine Durchlaucht Fürst Karl zu Oettingen-
Oettingen und Oettingen Wallerstein, Graf zu Oettin-
gen-Baldern und Herr von Sötern, Standesherr".
Die „Erblichen" selbst zerfallen in verschiedene
Gruppen: die „Kronbeamten des Reichs", die Häupter
der ehemals regierenden Familien — die französische
Revolution und Napoleon haben diesen Regierungen
ein Ende bereitet! — und die Herrschaften, die vor-
mals in Bayern keine reichsständischen Besitzungen
gehabt haben.
Den „Pöbel" der erlauchten Versammlung bilden
neben dem Gesinde in den Ministerien etliche Per-
sonen, die nicht geboren, sondern nur berufen sind.
Es gibt 17 solcher zu lebenslänglichem Reichsrat Ver-
urteilten, und es befindet sich kein Spenglermeister
darunter, wie neuerdings im preußischen Herrenhaus,
sondern diese Lebenslänglichen sind vielmehr Groß-
grundbesitzer, Generäle, ehemalige Minister, hoch-
beamtete Juristen, Kommerzienräte, und sogar zwei
Professoren und ein Künstler. Man sieht, unter den
Geborenen kommt Kunst und Wissenschaft noch
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weniger zur Geltung als in irgendeinem „Pöbelparla-
ment": unter 88 drei Vertreter von Kunst und Wis-
senschaft !
•
Welches Recht aber hat diese ewigen und erblichen
Gesetzgeber gezeugt? Eigenes Verdienst kann man
allenfalls, wenn man sehr gutmütig und vertrauensvoll
ist, bei den 17 Lebenslänglichen voraussetzen. Aber
die anderen, die erdrückende Mehrheit ? Es ist nicht
ganz leicht, verständlich zu machen, warum diese Ge-
borenen — kraft einer verwesten Vergangenheit —
so viel gesetzgeberische Macht haben, wie das ganze
lebendige Volk der Gegenwart in den Männern seines
Vertrauens.
Es ist einmal das alte, vornehme, bayerische Blut.
Sodann liegt ihre Berechtigung in dem ererbten Besitz
und den Verdiensten der ungezählten Ahnen.
Alle Menschen haben ungefähr gleich viel Ahnen.
Nur kennen wir gewöhnlichen Sterblichen glücklicher-
weise unsere Ahnen nicht; glücklicherweise, denn je
weniger man von seinen Vorfahren weiß, desto we-
niger braucht man sich erblich belastet zu fühlen. Die
besondere märchenhafte Vornehmheit des Blutes be-
steht also darin, daß man möglichst viele Ahnen kennt
oder zu kennen — glaubt. Wenn man ganz vornehm
ist, kann man den Stammbaum lückenlos bis zur Sint-
flut nachweisen. In dieser Lage sind aber keine baye-
rischen Reichsräte und wohl nur die französischen
Montmorency, in deren Stamm- Kirche ein Gemälde
zeigt, wie auf die Arche Noah ein Lakai in der Livree
dieser Familie zuschwimmt, aus dessen Mund ein
Zettel heraushängt mit den Worten: Monsieur Noa,
vous etes pri£ de sauver les papiers de la tres nobel
famille de Montmorency! (Herr Noah, Sie werden
ersucht, die Papiere der sehr vornehmen Familie
von Montmorency zu retten!) Der bayerische Adel
485
muß sich begnügen, daß bestenfalls seine ältesten
Ahnen in den Kreuzzügen Ungläubigen die Schädel
gespalten und die Taschen geleert haben. Aber wer
mag sich verbürgen, daß der Wein immer aus der
Lage stammt, den die Etikette zeigt! Graf Berchem,
der Minister des Kurfürsten Maximilian III. von
Bayern, der es doch wissen mußte, liebte die Äuße-
rung: „Die Mutter weiß man gewiß, aber mit dem
Herrn Vater hat es bisweilen Hitze, denn man findet
traurige Exempla, daß oft Haiducken und andere in
die Ahnenbäume gepfuscht haben." Wozu nur zu
ergänzen wäre, daß auch die Mutter gelegentlich — im
Interesse der Erhaltung der Art — nur vorgeschützt
ist. Aber sieht man selbst von dieser schreckhaften
Möglichkeit ab, daß wir der geheimen Wirksamkeit
von Haiducken den bayerischen Reichsrat verdanken,
so genügt auch das, was geschichtlich bekannt und
anerkannt ist, um zu wissen: man kann auch ohne
uraltes Ahnenblut geborener Gesetzgeber sein. Wie
deutsche Könige, so sind auch bayerische Reichsräte
erst von Napoleons Gnaden. Die Familie Seiner
Durchlaucht des Fürsten Karl Philipp von Wrede,
k. Kämmerer, wußte z. B. noch am Ende des 18. Jahr-
hunderts nichts von Ahnen, ja nicht einmal etwas von
einem Vaterland; wenigstens kämpfte ein Wrede in
den verschiedensten Kriegslagern, er befehdete heute
die Kameraden von gestern. Daß Seine Erlaucht Graf
Karl Ernst Fugger von Glött auf einen einfachen Leinen-
weber, der im Graben auf dem Lechfeld rackerte, als
Urahn zurückblickt, ist allbekannt; und diese einst
reichste Familie der Welt hat nicht einmal das Geld
zusammenhalten können, sonst hätte ein jüngerer
Ahn, der Graf Fidel Fugger, im 19. Jahrhundert nicht
nötig gehabt, mit der von seinen „Untertanen" ge-
speisten Sparkasse übel zu spekulieren. Auch der Graf
Otto von und zu Lerchenfeld auf Köfering und Schön-
berg, k. Kämmerer, geht aus dem Leinenhandel her-
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vor, den der Straubinger Bürger Haimeran Lerchen-
felder betrieb. Säßen die bayerischen Freiherren von
Eichthal im Reichsrat, so könnten sie sich gewiß noch
an jenen Armeelieferanten Aaron Scligmann erinnern,
von dem sie abstammen. Auch hochgradige Unehelich-
keit hindert nicht die erbliche Gesetzgeberei. Weil
irgendein Hoffräulein die Ehre hatte (wie es in einer
alten Schrift heißt), dem bayerischen Kurprinzen Karl
Albrecht die ersten Gefühle der Liebe einzuflößen,
wurde im Jahre 1723 ein Bube geboren und sitzt jetzt
ein Graf Ludwig von Holnstein im Reichsrat. Jenes
Hoffräulein teilte hernach mit Unzähligen ihres Ge-
schlechts die Ehre, Karl Albrecht weitere Gefühle der
Liebe einzuflößen. Auf diese Weise wurde viel Ahnen-
blut erzeugt, wenn auch bloß ein „Kammermensch"
Gegenstand der höchst unehelichen Neigungen ge-
wesen sein mochte. Übrigens blieben die Holnsteins
dem Bürgerlichen und dem Unehelichen noch weiter-
hin treu : der Sohn des frisch gepfropften Stammvaters
heiratete nämlich die uneheliche Tochter des Kur-
fürsten Karl Theodor, die er der Mannheimer Schau-
spielerin Josephine Seyffert einzuflößen geruht hatte.
Bürgerliches Bastardblut verwässert auch die fürst-
liche Familie Löwenstein, die zu den vornehmsten
der vornehmen gehört.
Ist es somit weder das alte, noch das adelige, noch
auch das legitime Blut, das Bedingung und Voraus-
setzung reichsrätlicher Fähigkeiten ist, so braucht es
auch durchaus kein bayerisches Blut zu sein. Ein er-
heblicher Teil der bayerischen Reichsräte stammt aus
allen möglichen Winkeln Deutschlands sowie des Aus-
landes: „wälsches" Blut ist ebenso häufig wie das
Haiduckenblut.
Aber lassen wir die geheimnisvollen Pfade des Bluts
und der zärtlichen Gefühle, untersuchen wir die Rechts-
titel des Besitzes und der Verdienste. Hier haben wir
festeren Boden unter uns, aber auch einen mit Gewalt-
487
tat und Verbrechen blutig gedüngten Boden. Wollen
diese von Geburt regierenden Familien die Verdienste
ihrer Vorfahren für ihr heutiges Vorrecht geltend
machen, so müssen sie es sich schon gefallen lassen,
daß man ihnen auch die unermeßlichen Frevel ihrer
Ahnen noch heute anrechnet.
Jeder große Besitz ist durch die Arbeit — der an-
deren erzeugt, die man ausplündert. Vor allem aber
kleben an allem Großgrundbesitz die tausendfältigen
Flüche armer Bauern, die beraubt, geschunden, ge-
mordet worden sind. Besitz und Verdienst adeliger
Geschlechter beruht nicht am wenigsten darauf, daß
sie sich hervorragend an der Niederwerfung der
Bauern beteiligt haben. Wollte man erzählen, wie sich
manche Reichsratsfamilien in den vergangenen Jahr-
hunderten ihren Besitz gerafft und erhalten, wie sie
sich dem Vaterland und Volk verdient gemacht haben,
man müßte ein Buch schreiben, das so dick wäre, wie
sämtliche Protokolle des Reichsrats seit Anbeginn zu-
sammengenommen, und jedes Blatt tröffe von Blut
und Grauen.
Begnügen wir uns mit ein paar Stichproben. Der
berühmteste Sproß der Familie Pappenheim — sie
gehört zu dem Reichsratsadel, aber gegenwärtig scheint
kein Mitglied gesetzgeberisch vertreten zu sein — ist
ein Ungeheuer des Dreißigjährigen Krieges, der nicht
nur in erster Linie für die Verbrennung Magdeburgs
verantwortlich ist, sondern vor allem die grausame
Hinschlachtung der aufrührerischen Ober-Ens-Bauern
besorgt hat. Den Erfolg von Magdeburg kennzeich-
nete Pappenheim in einem Brief: „Ich halt* dafür, es
sind ob 20000 Seelen darauf gegangen; all' unsere
Soldaten sind reich geworden." Von den Bauern des
Ober-Ens-Tals kamen gar 40000 um; den Über-
lebenden, die sich ergaben, verpfändete Pappenheim
das Ehrenwort, daß ihnen verziehen werden sollte;
darauf wurden sie furchtbar gefoltert und hingerichtet.
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Unter den Vorfahren der Preysings trieb es ein Herr
Kristof so arg als Bauernschinder, daß ihn die allzu
Geduldigen 15 12 vor der Kirchentür erschlugen. Ein
Max v. Preysing war 1807 bis 181 3 Landrichter zu
Miesbach. Von ihm berichtet der Ritter von Lang:
„Dreißigtausend Gulden Amts- und Vormundschafts-
gelder waren bereits durchgebracht, davon die Schuld
auf sich zu laden Sr. Gnaden natürlich nicht zuzu-
muten war. Die gemeine Seele eines sterbenden
Schreibers schien dazu vollkommen hinlänglich. Der
treue Landgerichtsdiener stürzt also eines Abends
plötzlich in die Amtsstube, versetzt dem armen Ober-
schreiber mehrere Dolchstiche und läßt ihn blutend
und als tot auf der Erde liegen; er eilt nun, einige
Gerichtspersonen herbeizuholen, die über den Selbst-
mord des Schreibers ein Protokoll aufnehmen und
unter diesen aufgeregten, verdächtigen Umständen die
Kasse aufschließen sollen, nachdem Seine Gnaden der
Herr Landrichter alle Ursachen hätte, zu fürchten,
daß es damit nicht richtig sei. Als aber die Kom-
mission eintrat, hatte der vermeintliche Kadaver sich
schon wieder erhoben und besaß noch so viel Kraft,
ins nächste Haus zu gehen, wo er der Hilfe eines
Arztes übergeben wurde." Der edle Max floh darauf
nach München und wurde nebst seinem Gerichts-
diener — Patriot. Er stellte sich nämlich zum allge-
meinen Aufgebot und ward Major, der Gerichtsdiener
Hauptmann. Vergebens suchte der arme Schreiber
sein Recht. Als aber nach dem Frieden dessen Klagen
allzu laut wurden, stellte man endlich den Herrn
v. Preysing vor Gericht, das ihn auch verurteilte. Aber
das Urteil wurde nicht bestätigt — und dem Schreiber
durch Schenkung eines Brauhauses in Tölz der Mund
gestopft.
Einen wackeren Raufbold darf der Reichsrat Graf Karl
Theodor von und zu Sandizell, k. Kämmerer und Ritt-
meister der Reserve des 1. Schweren Reiterregiments,
489
als Ahnherrn verehren; dessen ruhmreichste Leistung
mag in diesen frommen Zeitlauften zu allgemeiner
Erbauung erzählt werden. Dieser Wilhelm von Sandi-
zell nahm nach mancherlei blutigen Familienhändeln
an der Spitze deutscher Landsknechte 1 527 am Sturm
auf Rom teil, um den Papst Klemens VII. wegzujagen.
Das gelang denn auch und der Papst ist, wie die alten
Quellen berichten, „so schnell gelaufen, daß ihm der
Schweiß ausging, als ob man ihn mit Wasser begossen
hätt'". In den Straßen Roms dauerte das Morden
acht Tage. Zu Tausenden lagen die Leichen auf der
Straße, unbeerdigt, so daß die Pest ausbrach. Die
Kaiserlichen und Herr von Sandizell aber plünderten
Rom aus. „Die Landsknecht haben die Cardinals-HüY
aufgesetzt, die roten langen Röck' angetan und sind
auf Eseln in der Stadt umgeritten, haben also ihr
Kurzweil und Affenspiel gehalten. Wilhelm von San-
dizell ist oftermals mit seiner Rott', als römischer
Papst gekleidet, mit den drei Kronen (der Tiara) vor
die Engelsburg gezogen, da haben die Knecht in den
Kardinals-Röcken ihrem Papst Reverenz getan, ihre
langen Rock* vornen mit den Händen aufgehebt, den
hinteren Schweif aber auf der Erd' lassen nachschleifen ;
sie haben sich mit Haupt und Schultern vor ihrem
Papst tief gebogen, niedergeknieet und ihm Händ'
und Fuß* geküßt. Alsdann hat der v. Sandizell mit
einem Glas voll Wein den Segen geben und dem
rechten Papst Clementi (welcher zu einem Fenster
der Engelsburg herabblickte) einen Trinkspruch zu-
gebracht." Und dann haben sie den Luther zum
Papst ausgerufen. (Ein Nachkomme dieses Trefflichen
ist heute vom Zentrum im Wahlkreise Aichach als
Reichstagskandidat aufgestellt.)
Oder sollen wir die Chronik der Törrings aufblättern,
die mit dem Unhold des Raubritters von Stein an-
hebt, dessen Missetaten sich zu der Blaubartsage vom
Heinz von Stein verdichteten? Oder sollen wir von
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den wilden Kämpfen zwischen Kaspar v. Törring und
dem Wittelsbacher Herzog erzählen, die wider ein-
ander das Gericht der Feme anriefen, bis schließlich
der verurteilte Wittelsbacher den freigesprochenen
Törring beseitigte: das wäre wieder nicht zur Freude
der Wittelsbacher Reichsratsstühle . . .
•
Das sind die Rechtstitel des Ahnenparlaments, die
aus dem Dreibund von Blut, Besitz und Verdienst
geworben. Heute haben die Herren es bequemer,
Besitz und Verdienst zu erwerben. Sie brauchen keine
so rohen Gewaltmittel mehr anzuwenden. Dafür
geben sie heute Gesetze — als „Parlament" — wie
sie ihnen gefallen. Sie treiben unverhüllte Familien-
politik, und, keinem Wahlrecht verantwortlich, nutzen
sie die Gesetzgebung zu ihren allerhöchsten Zwecken.
Das ist auch eine Art Ahnentreue.
Das Zentrum aber, die Vorkämpferin einer Kirche,
die auf ihre Demokratie stolz ist und deren Führer
selber keine Ahnen sein dürfen, hat niemals etwas gegen
dieses Gespensterhaus unternommen; sondern es ist
im Gegenteil insgeheim mit ihm verbündet und mutet
heute den Wählern zu, die Macht des Adels noch da-
durch zu stärken, daß sie diese Herren auch noch als
„Volksvertreter" ins Reichsparlament entsenden. Er-
laubt doch der Reichsrat der Mehrheit der zweiten
Kammer, gelegentlich „volksfreundliche" Beschlüsse
zu fassen, im Vertrauen darauf, daß die erste Kammer
sie dann doch streichen würde und die zweite dann
«
„schweren Herzens" gezwungen sein würde, die eige-
nen Beschlüsse zu opfern. In Bayern kann die Re-
gierung keinen Gesetzentwurf machen, ohne sich vor-
her mit den Geborenen zu verständigen.
Gerade in der letzten Tagung erwiesen sich die
Herren ihrer Ahnen würdig. Wie wüteten sie gegen
49 t
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die 5 Proz. Einkommensteuer! Beinahe hätten sie
deshalb die ganze Steuerreform demoliert. Wie be-
kämpften sie dazu alle Steuererleichterungen für die
Besitzlosen ! Auch beseitigten sie den von der zweiten
Kammer beschlossenen Achtstundentag für die Berg-
arbeiter! In dieser erlauchten Körperschaft ist dann
schließlich auch das Wort des Bischofs von Regens-
burg gefallen: „Knecht muß Knecht bleiben!"
Die „Knechte" vergelten nicht Gleiches mit Glei-
chem. Sie verlangen durchaus nicht, daß Herr Herr
bleiben müsse. Im Gegenteil, sie wollen so rasch wie
möglich die Geborenen von der Last befreien, gesetz-
geberisch zu arbeiten.
Vor fast einem halben Jahrhundert schrieb der ur-
wüchsige Otto Titan von Hefner, der fleißige und
ehrliche Chronist des bayerischen Adels: Er habe das
gute Vertrauen, „daß das letzte Überbleibsel unserer
adeligen Privilegien in Bayern — die erste oder so-
genannte Adelskammer — eine nahe und begrenzte
Ewigkeit habe, so daß sie, als ein unnützes und des-
halb schädliches Bollwerk, als ein Hemmschuh der
staatlichen Entwicklung über kurz oder lang seligen
Todes verbleichen werde". Es widerspricht dem
Wesen unserer Zeit, „daß man den Willen und die
Tatkraft der übergroßen Mehrzahl eines Volkes von
der Einsicht oder dem guten Willen einer verhältnis-
mäßig unbedeutenden Anzahl größerer Grundbesitzer
und Ober-Staatshämorrhoidalisten abhängig macht
und dadurch oft die bestgemeinten Bestrebungen der
Abgeordneten der steuerzahlenden Masse durch die
egoistischen, größtenteils antiquierten Ansichten einiger
weniger wirkungslos macht".
Über dieser Hoffnung ist der wackere Herr v. Hefner
längst dahingestorben und sein Vertrauen ist immer
noch nicht erfüllt, daß die Herren mit Würde vom
Schauplatz ihrer Tätigkeit abtreten würden, wenn die
Zeit ernstlich an die hohen Stühle klopfte. Vielmehr
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regieren sie immer noch mit ihrer nach den Ahnen
abgestuften Würde.
Indessen, schon hört man die Zeit pochen — drin-
gend und drängend . . .
Aber, so meint vielleicht dieser oder jener, wäre es
am Ende nicht doch schade, wenn wir diese Rarität
verlieren müßten, wenn die hohen Stühle in die
Rumpelkammer wanderten ? Wer sagt denn, daß wir
den Reichsrat ganz verlieren sollen ? Wozu haben wir
ein Oktoberfest in München! Der ewigen Sa-
moaner sind wir ohnehin längst überdrüssig. Wozu
sollen wir die wilden Völkerschaften aus der Ferne
holen ? Wenn alljährlich der selige Reichsrat auf-
ersteht und vor dem staunenden Publikum ein paar
Tage lang auf der Theresienwiese Regierungs-Vor-
stellungen gibt, zu zeigen, wie es in der guten alten
Zeit gewesen, dann hat endlich das ruhelose Ahnenblut
eine nützliche Verwendung gefunden und wir können
uns auch fürderhin an den hohen Stühlen weiden
ohne ihre Inhaber ernst nehmen zu müssen.
[1911.]
493
Hertling.
I.
Die Ernennung des Philosophieprofessors v. Hert-
ling zum Ministerpräsidenten Bayerns hatte für die
Zunft der Lehrstuhlphilosophen ein ganz besonderes
Interesse. Auch bisher nannte man schon Minister
bisweilen Philosophen, aber nur, um mit diesem Bei-
namen zu bezeichnen, daß sie sich auf ihr Regierungs-
amt nicht sonderlich verstünden; oder vielleicht auch
deshalb, um das Erstaunen zu bekunden, daß in
Deutschland Minister den Nachweis erbringen, sie
vermöchten sogar Titel von Kantischen Schriften leid-
lich korrekt anzugeben und drei bis vier Königsberger
Zitate, allerdings minder zuverlässig, zu bewältigen.
Jetzt aber ward ein gelernter Philosoph berufen.
Seit Piatos Zeiten hört man nie auf, sich vorzuspiegeln,
daß Philosophieren im letzten Grunde Regieren be-
deute; denn warum sollte man über die tiefsten Ge-
danken des Menschenhirns mühselig grübeln, wenn
nicht zu dem Zwecke, mit den Ergebnissen des Den-
kens und Forschens die Gesellschaft zu erfüllen, sie
geistig zu stimmen, d. h. eben sie zu regieren! Also
sind Philosophen die geborenen Minister, und Minister
die geborenen Philosophen. Der ewige Traum wurde
in Bayern endlich erfüllt: Philosoph und Minister
war eines geworden.
Die Zunft aber fragte sich nun — aus rein philoso-
phischem Interesse natürlich, nicht etwa, um sich
selbst für ähnliche Laufbahn einzurichten — welche
Philosophie ein Professor in Deutschland haben und
lehren müsse, um bei uns leitender Staatsmann zu
494
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werden. (In den nüchternen, ruinenlosen Vereinigten
Staaten glaubt man ebensowenig an die esoterische
Professorengeweihtheit, wie an die Begnadung eines
mystischen Herrscherwillens, allein das rechte Werk-
zeug finden zu können; deshalb wählte dort der Plebs,
als ob gar nichts Besonderes dabei wäre, durch die
rohe Zahl einen tüchtigen Gelehrten zum Präsidenten !)
Was Herr v. Hertling als Ministerpräsident geleistet,
das mögen meinetwegen die Blätter der Geschichte
verzeichnen; ich will mich heut in deren Buchführung
nicht einmischen. Aber ich nehme an, daß der Philo-
sophieprofessor v. Hertling, als er sein Amt übernahm,
sein philosophisches Löwenfell nicht ebenso aus-
gezogen hat, wie — der eigenen Versicherung nach —
die parteipolitische Haut. Denn ein rechter Philosoph^
der Minister wird, kann solche Last sich doch nur in
der Absicht aufbürden, endlich die Gelegenheit zur
Verwirklichung seiner Gedanken zu gewinnen. Philo-
sophie ist nie Privatsache, ist es wenigstens nur not-
gedrungen; sie lauert nur auf die Möglichkeit, Staats-
sache zu werden. Philosophie ist gedachtes Leben,
das wirkliches Leben werden will. Mithin, wenn ein
Philosoph zur Regierung kommt, muß die Regierung
zur Philosophie kommen, zu seiner Philosophie.
Alles, was seit bald einem Jahre in Bayern geschehen,
muß demnach als angewandte Philosophie sich er-
klären. Und das bisher ununtersuchte Zentralproblem
der Ära Hertling bleibt: welche Philosophie gegen-
wärtig Tat zu werden ringt, als welcher Philosophie
begnadete Opfer wir erwarten dürfen, regiert zu
werden.
Im allgemeinen läßt sich die Frage a priori beant-
worten : es dürfe wohl eine Mischung des alten Heiden
Aristoteles und des neueren Christen Lehmkuhl (S. J.)
sein, angewandt auf das zweite Jahrzehnt des 20. Jahr-
hunderts bayrischer Zeitrechnung und angepaßt an
die Daseinsgewohnheiten der Reichsräte der Krone
495
Bayerns. Wir erfuhren eben erst, wie mühselig die
Hertlingsche Philosophie noch vor ein paar Jahren
auf Erden schlich. Sie herrschte nicht, wie ehedem,
offen über die Welt und scheuchte ihre Widersacher
mit Feuer und Schwert. Der arme Hertling war schon
froh, wenn es ihm gelang, durch einen bescheidenen
geheimen, ganz geheimen Vertrag zwischen dem Papst
und dem hochmodernen deutschen Kanzler Bülow
wenigstens einen Lehrstuhl deutscher Universitäten
für alle Zeiten den Anhängern seiner Philosophie zu
sichern. Der eine der Vertragsgegner, Herr v. Bülow,
kam bald darauf an der also zu Kräften gelangten
Philosophie Hertlings (Abteilung für Ethik) um. Seit-
dem wuchsen dieser Philosophie die Schwingen. Und
jetzt gelang es gar, einen Lehrstuhl für scholastische
Experimentalphilosophie über einem ganzen Lande
zu errichten, die Weltanschauung des Professors an
einigen Millionen Menschen zu vollstrecken. Die allge-
meine Richtung dieser philosophischen Vollstreckungs-
urteile fühlen wir bereits.
Indessen, die persönlichen Einzelheiten des Systems
erst können unser genaueres politisch-philosophisches
Schicksal ins Bewußtsein rücken. Wir müssen uns
folglich in die Urkunden dieses Geistes, Professors und
Ministerpräsidenten vertiefen.
Auch die weltlichen Philosophiekompendien un-
serer Zeit verschweigen uns den Namen Hertling nicht.
Ich finde da z. B., daß Georg v. Hertling über die Be-
ziehungen Descartes zur Scholastik in den Sitzungs-
berichten der bayrischen Akademie 1897 und 1899
sich verbreitet hat. Auch hat er, verläßlichen Quellen
zufolge, gezeigt, daß Lockes Polemik sich hauptsäch-
lich gegen die Cartesianische Schule richtet; ebenso
hat er wahrscheinlich gemacht, daß Lockes Voraus-
setzung einer festen Ordnung der Beziehungen zwi-
schen den Ideen aus einer Einwirkung der Cambridger
Schule stamme. Das ist gewiß alles sehr lehrreich, wie
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ich es durchaus als eines meiner Lebensziele betrachte,
einmal die Muße zu finden, um Hertlings Werk (aus
der Zeit des Versailler Friedens) über „Materie und
Form und die Definition der Seele bei Aristoteles"
lesen zu können. Dem seligen Eduard Zeller scheint
schon das gleiche Ziel vorgeschwebt zu haben und
dennoch die Lektüre unerreichbar geblieben zu sein.
Aber alle diese Kenntnisse erklären mir nicht die
heutige politische Lage Bayerns. Ich finde keinen Weg
von der Seele des Aristoteles zu Materie und Form
des Dr. Pichler.
Hingegen fallen sofort alle Schleier, wenn wir in die
von keinem Philosophiehistoriker erwähnten Frank-
furter zeitgemäßen Broschüren blicken. Da
philosophiert Hertling im Kreise seiner Lieben und
Getreuen, die sich gegenseitig und damit auch uns
erhellen. In der Neuen Folge erstem Bande (1880)
steuert Dr. G. Freiherr von Hertling einen Beitrag
bei: „Der Darwinismus — eine geistige Epidemie".
Vorher handelt in dem Sammelbande ein Herr Dr.
Paul Haffner über „Goethes Faust als Wahrzeichen
moderner Kultur". Hertlings Gedankenkamerad nennt
Goethe zwar den „begabtesten der deutschen Dichter",
leider aber fehle es Fausten durchaus an sittlicher
Umkehr und an Streben nach Gott : „Wenn Faust im
Schlafe von den Elfen gereinigt wird, wenn er dann
später im Tode von den Engeln emporgetragen wird,
so ist das eine sehr bequeme religiöse Anschauung,
eine Anschauung, welche ganz der modernen Humani-
tät entspricht; aber sittlich ernst ist sie nicht und
darum auch nicht tragisch, sondern komisch; eine
Variation des Lieds, so sagt Eichendorff, des bekann-
ten Lieds: „Lustig gelebt und selig gestorben!"
Hinter Hertling aber philosophiert Herr Fr. Ibach
über den Sozialismus im Zeitalter der Reformation.
Hier erfahren wir: „Was Wunder, wenn bei diesem
brutalen Umsturz aller Ordnung in der Kirche der
33 Eisner, Vor d«r Revolution.
497
Umsturz auch auf das soziale und politische Ge-
biet übertragen wurde und man sich dabei mit ganz
gleichem Recht auf dieselbe Heilige Schrift stützte,
auf die Luther mit seiner religiösen Revolution sich
gestützt hat. Wie leicht es gewesen, auch für den
tollsten Umsturz und himmelschreiende Gewalttat das
Zeugnis der Heiligen Schrift und der Religion für sich
zu bekommen, haben die Greuel des Bauernkrieges nur
zu sehr gezeigt. Der Unterschied zwischen dieser in
dem Zeitalter der Reformation sich vollziehenden
Revolution und dem Unglauben des heutigen Sozialis-
mus ist nur ein gradueller . . . Auch sie (die Sozia-
listen) verstehen so gut wie die Reformatoren den
Sturz der geistlichen Autorität mit der weltlichen und
sozialen Revolution in Verbindung zu bringen."
Hier atmet man schon die zeitgemäß philosophische
Regierungsluft des gegenwärtigen Bayern. Lassen wir
nun gar Hertling selbst philosophieren. Der Darwi-
nismus, sagt er, ist eine geistige Epidemie wie das
Tischrücken. Er wurde zu einer neuen Waffe des Ma-
terialismus: „Natürlich, der Materialismus darf nicht
dulden, daß bei dem Ursprünge des Menschen das
Eingreifen einer höheren Macht anerkannt bliebe.
Nicht Gott also hat ihn geschaffen, geschaffen nach
seinem Bilde, er ist vielmehr die letzte Stufe, bis zu
welcher der Prozeß natürlicher Züchtung hingeführt
hat, der glückliche Emporkömmling aus einem Ge-
schlechte affenähnlicher Vorfahren."
Herr v. Hertling lehnt es für seine Person entschie-
den ab, als ein Emporkömmling aus einem Geschlechte
affenähnlicher Vorfahren zu gelten, vermutlich, weil
sein Adel bereits älter ist als jene tierischen Vorfahren
darwinistisch gesinnter Menschen. Diese grundsätz-
liche Ablehnung führt unmittelbar in die bayrische
Gegenwart: immer ist es ein schöpferischer Herrscher-
willen, der die Kreaturen eingreifend erfindet. Hert-
ling erfuhr es selbst. Denn war es nicht der 91jährige
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Herrscherwillen des Prinzregenten Luitpold, der ihn
— als leitenden Staatsmann — hervorbrachte ? Hert-
ling ist mithin in der Tat kein Emporkömmling aus
eigener Kraft, sondern geschaffen durch einen Eingriff.
Selbst wenn es bewiesen wäre, fährt Heuling fort,
daß aus dem bloßen Zusammentreffen von Kohlen-
stoff und Wasserstoff und anderen Elementen das erste
Leben entstand, wenn es ebenso bewiesen wäre, daß
in eben jener Art, wie die Hypothese Darwin es ver-
neint, aus so dürftigen unscheinbaren Anfängen durch
Variabilität und erbliche Übertragung und natürliche
Züchtung der ganze Reichtum organischer Gebilde
entstand, der heute unsere Erde schmückt, — wie kam
es denn, daß jenes erste Leben zu einer bestimmten
Zeit auf der Erde auftrat, da es zuvor nicht vorhan-
den war? Fragt Georg v. Hcrtling, Philosoph.
Wir nähern uns immer mehr der bayrischen Regie-
rungsphilosophie: zu fragen, wo keine, weil jede
Antwort möglich ist; und nicht zu fragen, wo mög-
liche Lösungen Leben bilden.
Hcrtling beantwortet die Frage, die ihn quält, mit
der ewigen Wahrheit: Dann stände eben dort am
Anfange dieses Prozesses die schöpferische Tat Gottes,
der den Prozeß so einrichtete. „Das ist ein notwen-
diges Ergebnis, zu welchem das logische Denken
führt.** Ein verstorbener Kollege Heulings, Herr
Professor Kant, hat über den Wert solchen logischen
Denkens einiges gesagt, was ihn freilich auf den Index
gebracht hat und Hertling also nicht kümmern darf.
Noch tiefer gräbt Hertling. Woher denn die furcht-
bare Erscheinung, daß dieser von ihm selbst klipp und
klar widerlegte Darwinismus dennoch so viele An-
hänger gefunden hat?! Wir hören die Antwort: der
Darwinismus „ist das krankhafte Ringen der vor Gott
fliehenden Vernunft, mit Hilfe der modernen Natur-
wissenschaft die Spuren zu verwischen, welche der all-
weise und allmächtige Schöpfer unauslöschlich seinem
499
Gebilde eingeprägt hat. Aus dem Glänze, der die
moderne Naturwissenschaft umgibt, schöpft er die
Hoffnung des Gelingens, und in dieser Hoffnung
— es ist furchtbar zu sagen — liegt seine ansteckende
Gewalt."
Wir sehen : Hertling ist nicht nur durch den Buch-
binder mit den anderen Frankfurter Zeitgemäßen
vereinigt worden. Es sind wahrhafte Mitphilosophen:
Goethes Faust — „das krankhafte Ringen der vor Gott
fliehenden Vernunft". Die Reformation — „das
krankhafte Ringen der vor Gott fliehenden Vernunft".
Der Sozialismus — „das krankhafte Ringen der vor
Gott fliehenden Vernunft". Und immer — es ist
furchtbar zu sagen, — hat dieses krankhafte Ringen
ansteckende Gewalt. Nach so fragender und so ant-
wortender Philosophie wird nun wahrhaftig in Bayern
regiert. Alles was dem Professor v. Hertling zuwider,
sind Epidemien krankhaft ringender gottflüchtiger
Vernunft: Liberalismus und Sozialismus, Demokratie,
Republik, Gleichberechtigung, Koalitionsrecht, mo-
derne Kunst, Wissenschaft, Literatur — alles Epide-
mie, alles krankhaftes Ringen, alles Vernunft auf der
Flucht vor Gott.
Gegen die staatssozialistischen Gedanken seines Par-
teigenossen Hitze hat Hertling einmal jede derartige
Ausdehnung der staatlichen Kompetenz für unzu-
lässig und aufs höchste gefährlich erklärt. Und er
sprach also vom Wesen des Staats: „Aus dem Zwecke
des Menschen, wie ihn der vom Christentum vertiefte
und verklarte Theismus kennen lehrt, und aus der
erfahrungsmäßigen Natur des Menschengeschlechtes
ergibt sich der Begriff und die Aufgabe des Staates.
Der Staat ist kein direkt naturwüchsiges Gebilde. Das
Kriterium seines Wesens und der Ursprung seiner
Würde ist seine Beziehung zum Recht. Es ist ein
Grundzug der göttlichen Weltordnung, daß der von
Ewigkeit her im göttlichen Geiste beschlossene Welt-
500
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plan durch die eigene Betätigung der Geschöpfe in
der Zeit verwirklicht wird. Die Norm für diese Be-
tätigung ist in jenem Plane enthalten, und darum eben
ist der Weltplan zugleich ewiges Weltgesetz (lex
aeterna) . . . Nur darf die Fähigkeit des Geschöpfes,
das Gesetz nicht zu erfüllen, die Realisierung des
Weltplans nicht vereiteln und die Weltordnung nicht
dauernd stören." Genau unser heutiger bayrischer
Zustand! Die nicht klerikalen Parteien haben ja leider
von der Vorsehung auch die Fähigkeit des Geschöpfes
erhalten, das Hertlingsche Gesetz nicht zu erfüllen,
aber auch sie dürfen die Realisierung des Weltplans
nicht vereiteln und die Weltordnung nicht dauernd
stören (vergleiche Programmreden Hertlings und Seid-
leins in der bayrischen Abgeordnetenkammer, Session
191 2). Nur ist der Unterschied: wenn Hertling den
Weltplan realisiert, so handelt er als Vollstrecker der
lex aeterna. Wenn wir aber auf unsere Art den Welt-
plan zu erfüllen suchen, so sind wir geistige Epidemie
und müssen, weil wir die Weltordnung dauernd stören,
unschädlich gemacht, zum mindesten am weiteren An-
stecken gehindert werden.
Wir wissen nun, welche Philosophie man haben
muß, damit ein Professor Miniserpräsident werde. Man
muß behaupten, den Weltplan aller besseren Ge-
walten realisieren zu wollen, vom Reichsrat aufwärts
über Bischöfe und Monarchen bis zum lieben Herr-
gott zur Vollstreckung der lex aeterna autorisiert
zu sein.
Da können wir weltplanlose Leute freilich nicht mit,
die wir schon froh sind, sofern wir nur als ein bißchen
glückliche Emporkömmlinge über ein Geschlecht affen-
ähnlicher Vorfahren uns emporzurappeln vermögen.
Eines aber möchten wir doch noch wissen, ein
Problem für die Bayrische Staatszeitung:
In welchem Verhältnis stand der Jesuitenerlaß zum
ewigen Weltplan ? Und mahnt hier nicht offenbar ein
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trauriges Beispiel für die Ohnmacht des gesunden
Ringens der zu Gott geflohenen Vernunft, die — es
ist furchtbar zu sagen — niemanden und nichts anzu-
stecken vermag?
[Januar 191 3.]
II.
Der Jubilar (zum 70. Geburtstag).
Wenn einer an seinem siebzigsten Geburtstag immer
noch darauf wartet, daß seine Zeit komme, so zeugt
das von einem nicht gewöhnlichen Vertrauen in die
eigene Leistungsfähigkeit und Unentbehrlichkeit. Der
Zufall, daß Georg von Hertling katholisch geboren
wurde, hinderte ihn, nationalliberal zu werden, und
der weitere Zufall, daß das katholische Bayern dem
preußisch gewordenen Hessen in München eine pro-
fessorale Zuflucht gewährte, ließ ihn den vom Um-
sturz geängsteten Reichsräten und Prinzessinnen der
Krone Bayerns als den ministeriellen Retter in der
Not erscheinen, als das vom Zentrum entwurzelte
Ministerium Podewils durch den Schrecken des liberal-
sozialdemokratischen Wahlbündnisses vollends um-
geblasen wurde. So wurde Hertling ein Führer der
schwarzen Internationale, obwohl er seiner innersten
Gemütsart nach nationalliberal ist, und so wurde er
vorübergehend der Leiter der bayrischen Staats-
geschäfte, obwohl er preußisch gesinnt und ihm das
besondere Wesen der bayrischen Politik zeitlebens
fremd geblieben ist, am fremdesten, als er sie leitete.
Ist Hertling klerikal? Gewiß, er beherrscht als Phi-
losophieprofessor auch den Sprachgebrauch der Hier-
archie. Er spricht von ewigen Wahrheiten, unantast-
baren Autoritäten, er erkennt alle Ansprüche der
Kirche an, beschäftigt sich mit der römischen Frage,
und zwingt sich sogar einen kleinen Zornanfall ab,
wenn er von den Säkularisationen des allzu aufgeklär-
502
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ten Ministeriums Montgelas redet. Auch ist das Haupt
der Görresgesellschaft gelegentlich durchaus bereit,
über die nachaugustinischen Richtungen der Wissen-
schaft und der Weltanschauung in volkstümlich be-
mühten Schriften derbere Sprüche zu prägen — dem
Darwinismus war er besonders unhold — , aber alle
diese Arbeit an der Erhöhung der klerikalen Macht
diente doch nur der Kräftigung der Gesellschaft, die
ihn selbst um so höher zu tragen vermochte, je kräf-
tiger sie war. Dieser kleine Herr mit dem kahlen
Schädel und dem vorgestülpten Munde eines schmol-
lenden Knaben, der sicher mit seiner eigentlichen und
edleren Haut, dem peinlich zugeknöpften schwarzen
Gehrock, zu Bette geht, ist kein Fanatiker, und man
kann ihm schon glauben, wenn er einmal im Reichsrat
versicherte, er würde als Ministerpräsident zum Schutz
der katholischen Sache durchaus nicht die immerhin
ein wenig strengen Mittel der Gegenreformation an-
wenden. Hertling begnügt sich in der Tat mit Ge-
heimanweisungen und Verwaltungsmaßnahmen, um
seine Pläne zu fördern. Dagegen ist immer noch kein
Scheiterhaufen von ihm angezündet worden.
Als Hertling das bayrische Ministerpräsidium auf
.eine nicht mehr ganz geheimnisvolle Weise erwarb,
glaubten seine Gegner es mit einem tüchtigen, ge-
schickten Politiker zu tun zu haben. Dagegen miß-
trauten ihm von Anbeginn seine engeren Parteifreunde.
In wenigen Monaten enttäuschte Hertling von Grund
aus die Gegner und rechtfertigte die Gefühle seiner
zärtlichen Freunde. Er hatte die Mission von Berlin
mitgenommen, das Abgleiten der bayrischen Politik
nach links zu verhindern und alle Bürgerlichen gegen
die Sozialdemokratie zu sammeln. Man setzte große
Hoffnungen auf ihn. Im Reichstag galt dieser Vor-
sitzende der Zentrumsfraktion als ebenso verschlagener
wie geschliffener Staatsmann. Er trat in Berlin nur
selten hervor. Wenn er es aber tat, war seine wohl-
503
vorbereitete, sorgsam abgezirkelte und gefällig, beinahe
anmutig vorgetragene Beredsamkeit, nie ohne Wir-
kung. Er sprach über die auswärtige Politik in einem
Parlament, das dieses Gebiet ehrfürchtig der Weisheit
der Diplomaten überläßt. Auch Hertling redete als
ein Salonrhetor national-klerikaler Weltpolitik gemein-
hin nur jeweils Komplimente für den leitenden Staats-
mann. Es kam ihm auf die auffälligsten Ungenauig-
keiten nicht an, wenn es ihm galt, — in der Zeit,
da das Zentrum im Reiche regierte — auch die schwer-
sten Niederlagen des Kanzlers zu rechtfertigen. So
war Hertling der einzige Verteidiger der Marokko-
politik Bülows. Als dann freilich das Zentrum in Un-
gnade gestürzt war, da benutzte derselbe Mann die-
selbe Marokkopolitik, denselben Kanzler zu vergiften.
Er tat das nach allen Regeln klerikaler Kunst. Und an
jenem Tage, da Hertling im Reichstag, in der from-
men Maske eines mild verteidigenden Kritikers des
Grafen Bülow marokkanische Irrungen mit lauter
kleinen aber um so zahlreicheren Messerstichen zer-
schlitzte, galt Hertling als ein Staatsmann von unfehl-
barer Sicherheit; und als es ihm dann schließlich ge-
lang, den verhaßten Kanzler zu beseitigen, schien er
berufen, sein Nachfolger zu werden. Aber im bay-
rischen Landtag, wo er nun nicht nur als deus ex
machina auftreten durfte, war in wenigen Wochen
Ruf und Ruhm zerronnen. Seine parlamentarische
Geschicklichkeit erwies sich als das Kunsterzeugnis
gewissenhaften Memorierens. Er vermochte nicht den
geringsten unerwarteten Widerstand mit einer schlag-
fertigen Improvisation zu überwinden. Er geriet viel-
mehr bei solchen Gelegenheiten sofort aus den Fugen,
und die Ungeschicklichkeiten seines Auftretens sam-
melten schnell alles nicht sowohl gegen die Sozial-
demokratie als vielmehr gegen Zentrum und Regie-
rung. Bald stöhnte der Reichsrat, dessen Geschäfts-
empfehlung Hertling seine Ministerschaft verdankte:
504
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Er ist doch nur ein Professor! In der Tat ist niemals
so weltfremd regiert worden, wie unter dem Mini-
sterium Hertling.
Die herrschende Partei Bayerns hatte zum ersten-
mal seit dem Vormärz ein Ministerium ihres Schlags.
Aber Herr von Hertling war diesen bayrischen Zen-
trumsleuten im Innersten mehr zuwider, als irgend-
ein Liberaler oder Sozialdemokrat. Der Mann hatte
so gar nichts von Oberbayern, Niederbayern oder
Oberpfalz an sich. Er hatte den doppelten Hochmut
des Preußen und des Professors. Er war unnahbar.
Konnte man sich etwa Hertlings Gehrock und Zylin-
der im Franziskaner bei Märzenbier und Weißwürst
vorstellen ? Und welcher Sterbliche hätte ihn jemals
in der Schwemme des Hofbräu gesehen? Nein, der
Mann gehörte nicht nach Bayern. Natürlich, nichts
wäre verfehlter, als anzunehmen, daß wegen dieser
Abneigung des Zentrums gegen den vornehmen Herrn
man weniger mit ihm durch dick und dünn gehen
würde, wo Zentrumsinteressen auf dem Spiele stehen.
Aber wo man es ohne Gefahr konnte, tat man ihm doch
gern jeden Schabernack an. Das mußte der Prinz-
regent von Bayern bei der Königssache erfahren. Es
war der Meisterstreich eines führenden Zentrums-
abgeordneten, daß er zugleich die bayrische Regierung
beruhigte, seine Partei würde der Proklamation eines
Königs aus eigenem Recht sich nicht widersetzen,
und dann das Zentrum selbst gegen diesen Plan auf-
regte. So war Hertling in Sicherheit gewiegt, und
rührte keine Hand, um die Plebs für seinen Plan zu
gewinnen, und war völlig überrumpelt, als die herr-
schende Partei seine Absicht durchkreuzte.
Durch die Mißerfolge der bayrischen Politik wurde
Hertlings staatsmännisches Ansehen so gründlich er-
schöpft, daß nun auch das Ziel seines Ehrgeizes sich
für immer zu entfernen drohte. Hertling hatte die
bayrische Ministerschaft immer nur als Übergang zum
505
Reichskanzlertum betrachtet. Jetzt hielt ihn niemand
mehr für geeignet, in schwierigen Lagen der Reichs-
politik den rechten Weg zu finden.*) Er hatte sich
durch seinen bayrischen Zwischenposten um das höhere
Amt politisiert. Aber je mehr ihm das Ziel seiner ehr-
geizigen Träume entwich, um so hartnäckiger warb
er um das Unmögliche. Bald klagte man in den bay-
rischen Ministerien, daß der Vorsitzende im Minister-
rat sich um gar nichts mehr kümmere; es ginge alles
drunter und drüber. In der Tat, Herr v. Hertling
zeigte kein Interesse mehr für innere bayrische Ge-
schäfte, von denen er ohnehin niemals viel verstanden
hatte. Sein Geist weilte in weiteren Gefilden. Er
mischte seine Hände in Reichsangelegenheiten und
preußische Politik. Er suchte sich die Gunst seines
Herrn, der nicht ohne Sorgen den Niedergang seiner
Volkstümlichkeit unter den Leistungen des Mini-
steriums Hertling beobachtete, dadurch wieder zu ge-
winnen, daß er ihm gewisse Vergünstigungen des höfi-
schen Zeremoniells in Berlin erwarb. Besonders suchte
er jedoch seine staatsmännische Autorität dadurch
wieder herzustellen, daß er in der Militärfrage das
Zentrum für die Reichspolitik einfing. Es gelang ihm
wirklich, seine Partei umzustimmen. Und wenn er
unlängst aus Berlin ein Dankschreiben erhielt, weil
es seinen Bemühungen zu verdanken war, daß das
Zentrum schließlich sogar die gestrichenen Kavallerie-
regimenter bewilligte, so mag ihm solche Anerkennung
die Zuversicht stärken, daß er dennoch als Siebziger
noch zu höheren Dingen bestimmt sei.
Indessen, wenn Hertling die Zeichen der Zeit recht
zu schätzen vermöchte, so müßte er seinem Selbst-
bewußtsein doch die Einsicht abringen, daß er berufen
•) 1918: Der Krieg ließ alles vergessen. Nach ein paar
Wochen Kanzlerschaft des Herrn Michaelis wirkte Hertling
wieder fast wie ein staatsmännisches Genie. Bald ging es
freilich mit seinem Ruf in Berlin geradeso wie in München.
509
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sei, den Rest seiner Tage nicht als Kanzler, sondern
als Professor zu schließen. Schon die Höflichkeit gegen
eine Freunde und Schüler fordert es, daß er so rasch
wie möglich die Muße findet, um all die tiefsinnigen
Beiträge zu studieren, die man ihm in den ihm gewid-
meten Festschriften auf den Geburtstagstisch legt.
Diese Festschriften lassen den Professar freilich als
Bürger einer recht vergangenen Welt erscheinen.
Aber gerade deshalb eignet sich Hertling viel mehr
dazu, sich in die Probleme des pseudo-hermetischen
Buches der 24 Meister zu vertiefen, oder das Licht in
der Naturphilosophie des Robert Großeteste auf sich
wirken zu lassen, oder chronologische Untersuchungen
zu den philosophischen Kommentaren Alberts des
Großen anzustellen, als der intellectus agens der bay-
rischen Politik zu sein, der, wenn er auch noch so sehr
auf den Lehren der ältesten Franziskanertheologen
beruht, doch nicht ausreicht, um die bescheidensten
Ansprüche des bayrischen Volkes von 191 3 zu befrie-
digen. Schon einmal hat ein Professor Bayern regiert,
und obwohl jener sich liberal nannte, hat Hertling
mit ihm mehr Wesensverwandtschaft als mit dem
klerikalen Vorgänger, dem Lolaminister Abel. Hert-
ling treibt die Politik des Professors und Miniserpräsi-
denten Freiherrn v. d. Pfordten; und er mag sich vor-
sehen, daß gegen ihn sich nicht dereinst ein ähnlicher
Wahlaufruf des Zentrums richtet, wie ihn die bay-
rischen Klerikalpatrioten 1869 gegen die preußische
Politik des Ministeriums v. d. Pfordten schleuderten.
Da hieß es: „Auf dem faulen Fundament, auf dem
dieser moderne Staat (Preußen) sich mit satanischen
Mitteln aufgebaut hat, ist eine Dauer in die Länge
unmöglich. Nach den ewigen Gesetzen göttlicher
Gerechtigkeit und sittlicher Ordnung wird er sich
selbst sein Grab graben . . . Nach dem Zusammen-
sturz dieses unnatürlichen, unter Lug und Trug auf-
gerichteten, mit Blut zusammengekitteten Raubstaates
507
wird erst die Zeit kommen, wo man an eine Aufer-
stehung und Einigung des ganzen Deutschlands als
eines friedlich brüderlichen Föderativstaates denken
kann . . . Unser Wahlspruch sei : die Freiheit Bayerns
im mutigen Kampfe für Gott, König und Vaterland
gegen Lug, Trug und Ungerechtigkeit."
So spricht das Zentrum freilich heute nicht mehr.
Es geht willig mit dem Raubstaat Arm in Arm nach
Kehlheim. Gleichwohl — die deutschen Professoren
haben kein Glück als Minister. Gegen v. d. Pfordten,
den Preußenfreund, erhob sich sogar der Zorn der
schwarzen Poeten und schrie ihn an:
Mit deines leeren Wortschwalls eitlem Tande
Stehst du vor uns als Gleißner ohnegleichen,
Und traurig sich der Blick zum Throne hebt:
Wie lange soll ein Wolf im Schafsgewande,
O Bayerland! in deinen Gauen schleichen,
Derweil dein Todfeind dich zu packen strebt!
[August 191 3.]
508
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Die Kabinettsorder von 1820.
Ein deutsches Sittenbild aus dem 20. Jahrhundert.
I.
Im Innern der Staaten selbst, wo die Men-
schen zur Gleichheit unter dem Gesetze ver-
einigt zu sein scheinen, ist es großenteils noch
immer Gewalt und List, was unter dem ehr-
würdigen Namen des Gesetzes herrscht; hier
wird der Krieg um so schändlicher geführt,
weil er sich nicht ab Krieg ankündigt, und dem
Befehdeten sogar den Vorsatz raubt, sich gegen
ungerechte Gewalt zu verteidigen . . .
Die Befreiung des ersten Volks, das da wahr-
haftig frei wird, erfolgt notwendig aus dem
stets wachsenden Drucke der herrschenden
Stände auf die beherrschten, so lange, bis er
unleidlich wird; — ein Fortschritt, welchen
man den Leidenschaften und der Verblendung
jener Stände, auch wenn sie gewarnt werden,
sehr ruhig überlassen kann.
J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen.
1800.
Der deutsche Bürger hegt seit jeher eine verhäng-
nisvolle Bewunderung für die Charakterfestigkeit der
— andern. Je unterwürfiger er selbst ist, um so
mehr bestaunt er die Rücksichtslosigkeit der Eisen-
kerle. Das ist das Glück der Junker gewesen und der
von ihren Klasseninteressen geformten preußischen
Soldateska. Der deutsche Bürger verfällt gar nicht
auf den Gedanken, daß gerade dann, wenn sich die
ihm feindselige politische Macht männlich ehrenhaft
509
schlägt, er dann um so unerbittlicher sein eigenes
Recht durchsetzen müßte: Mann gegen Mann! Es
ist das Geheimnis des Erfolgs des feudalen Militaris-
mus, der so gespenstisch in die aufgehellte Erde von
heute hineingrinst, daß er jede schimpfliche Handlung
mit schmetternden Fanfaren zu verwegenem Angriff
führt; daß er, ertappt, sich nicht ergibt, sondern
seine Ankläger angreifend zu Paaren treibt.
So wird jetzt dem bürgerlichen Liberalismus sogar
der kernige Oberst v. Reutter zum Helden, der zwar
nicht einmal in der eigenen Truppe Zucht zu halten
vermochte — trotz strengen Verbots durfte der ihm
untergebene Leutnant die Bevölkerung beschimpfen
und Soldaten durch Belohnungen zur Tötung von
Zivilisten aufreizen — der aber, in strammer Bewußt-
losigkeit der rechtlichen Grundlagen des Staats die
bürgerliche Ordnung über den Haufen zu werfen
und kaltblütig Maschinengewehre gegen neckende Kin-
der bereit zu stellen wagte. Ein ehrlicher Haudegen
■ — sicher; meinetwegen auch ein sympathischer Fana-
tiker aus militaristischer Inzucht. Aber dürfen die
Verteidiger der bürgerlichen Freiheit deshalb ihm
mildernde Umstände bewilligen ? Müßten sie nun
nicht erst recht selber Kerle sein und die wider-
spenstige Gewalttätigkeit zur Fügigkeit zwingen?
Nein, reizend so ein kerniger Schlagododro, so ein
schneidiger Draufgänger ohne alberne juristische
Hemmungen! Und wenn die Zivilverwaltung so
schlapp versagt — nämlich die Ehre provozierender
Jünglinge im Leutnantsrock nicht dadurch schützt,
daß sie die Straßen mit Bürgerblut färbt — so konnte
der prachtvolle alte Herr doch gar nicht anders han-
deln, als einfach selbst in das Bürgerpack hineinzu-
fahren. Denn schließlich, der liberale Bürger ist doch
selbst Leutnant der Reserve, und sein Sohn vielleicht
gar schon Fahnenjunker!
In seinem ehrfürchtigen Staunen vor dem bewaff-
5io
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neten Charakter erkennt er nur noch wie durch Nebel-
schleier, daß bei diesem Vorfall der ganze bürgerliche
Rechtsstaat in die Luft gesprengt wurde. Und in An-
dacht versunken vor den ragenden Beinen eines herr-
lichen Verächters des zivilen Paragraphenplunders ge-
winnt er selbst nicht das Bewußtsein, daß dieses Jahr
1914 mit einer der wichtigsten Entdeckungen
begonnen hat, mit der Entdeckung des Ge-
heimnisses des letzten Jahrhunderts preu-
ßisch-deutscher Geschichte, mit dem Verrat
der geheimen Kabinettsorder vom 17. Oktober
1820.
In der Tat, jetzt endlich kennen wir das Ergebnis
eines hundertjährigen Kampfes um die staatsbürger-
liche Freiheit und Rechtssicherheit. Das öffentliche
Recht ist in Preußen-Deutschland ein wüster Trüm-
merhaufen unfertiger Gesetze. Die Elementarrechte
des Deutschen sind lediglich interressante Streitfragen
für die Professoren des Staatsrechts. Die Lebensbedin-
gungen unseres staatlichen Daseins sind durch un-
bestimmte, widerspruchsvolle, jeder Deutung fähige
oder jedem ernsten Gebrauch sich entziehende Bruch-
stücke rechtlicher Normen geregelt. Aber hinter die-
ser Mannigfaltigkeit des Dunklen und Schweifenden
ahnten wir längst das eine einheitliche herrschende
Gesetz, das sich aber bisher vor unseren tastenden
Händen und spähenden Augen verbarg: Die Kabinetts-
order von 1820. Sie ist — ganz ohne übertreibende
Ironie gesprochen! — die wirkliche preußische
und mithin die wahre deutsche Verfassung.
Dieses staatliche Grundgesetz aber des preußischen
Wesens war schon zur Zeit seiner Emanation geheim,
zur Kenntnis nur bestimmt für die herrschenden Ge-
walten, nicht für die ihm unterworfenen Untertanen.
Selbst im Jahre 1820, in der Zeit der tiefsten Erniedri-
gung Deutschlands, wagte man jene hohenzollernsche
Kabinettsorder nicht in die „Gesetzessammlung für
5"
die preußischen Staaten" aufzunehmen, die doch
wahrlich damals vor der Kundgabe blutiger Gewalt-
verordnungen nicht zurückschreckte, sondern in jenen
Jahren vollgepfropft ist mit den Exzessen reaktionären
Wahnsinns. Das wagte man selbst damals nicht der
Öffentlichkeit zu bieten. Es wußte nur darum, wer
berufen war, im Ernstfall danach zu handeln. Diese
geheime Kabinettsorder aber ist die „Rechtsgrund-
lage", mit der jede preußische Gewalttat in Deutsch-
land sich seitdem begründen kann; wenn man sich
erst nach fast 100 Jahren auf sie beruft, so nur des-
halb, weil man sich trotz allem nicht mehr stark genug
fühlt, ohne jede rechtsartige Begründung Gewalt zu
üben.
Selbstverständlich, diese Kabinettsorder hat keine
Rechts geltung mehr, hat sie überhaupt niemals ge-
habt, da sie geheim geblieben ist. Und wenn sie je-
mals den Schein eines Rechts besessen haben sollte,
so ist sie durch die preußische Verfassung vom 31. Ja-
nuar 1850 aufgehoben, deren Bestimmungen über die
Eingriffe der bewaffneten Macht in das bürgerliche
Leben durch das preußische Gesetz über den Be-
lagerungszustand vom 4. Juni 1851 im einzelnen näher
umgrenzt und so in das deutsche Reichsrecht über-
gegangen sind, da wir es in den mehr als vier Jahr-
zehnten gesetzgeberischer Arbeit im Reichstag immer
noch nicht zu dem angekündigten neuen Gesetz ge-
bracht haben. Mit diesen Vorschriften der Verfassung
von 1850 und des Gesetzes von 185 1 steht die Kabi-
nettsorder von 1820 in unvereinbarem Widerspruch,
und kein preußisches Staats rechtswerk, auch das aus-
führlichste und maßgebende von Rönne nicht, hat
bisher von jener Kabinettsorder etwas gewußt, die
zwar keinerlei Rechtskraft, aber eine um so ent-
schiedenere Macht geltung hat. Wir haben ja auch
inzwischen erfahren, daß wieder als geheime Instruk-
tion, obzwar unter ministerieller Gegenzeichnung —
512
die alte Kabinettsorder am 23. März 1899 vom gegen-
wärtigen König von Preußen den militärischen Kom-
mandostellen aufs neue eingeschärft worden ist.
Es ist ein Irrtum militärischer Schriftsteller, wenn
sie jetzt behaupten, diese königliche Aufforderung zur
militärischen Aufhebung der bürgerlichen Verfassung
sei in der Armee unbekannt. Die Kabinettsorder ist
in der Tat Dienstbefehl der obersten Kommando-
gewalt und durchaus nicht nur auf die preußischen
Truppenteile beschränkt.
„Findet der Militär-Befehlshaber, bei Beobachtung
des Auftritts nach Pflicht und Gewissen, daß die Zivil-
Behörde mit der Requisition um Militärbeistand zu
lange zögert, indem ihre Kräfte nicht mehr zu-
reichen, die Ruhe herzustellen, so ist er befugt und
verpflichtet, auch ohne Requisition der Zivilbehörde
einzugreifen, und den Befehl, dem diese sich zu fügen
hat, zu übernehmen." Diese Verfügung der alten
Kabinettsorder, die jedem militärischen Befehlshaber
gestattet, auch ohne Verhängung des Belagerungs-
zustandes die Zivilverwaltung durch das militärische
Standrecht außer Kraft zu setzen, ist in der Tat bis
zur Stunde die allgemeine militärische Instruktion.
Die Wendung der 1899 aufgefrischten Kabinettsorder
kehrt z. B., fast wörtlich wieder in dem Handbuch des
bayerischen Kriegsgerichtsrats Endres: „Der mili-
tärische Waffengebrauch". Da heißt es kurz und
bündig: „Ohne Requisition einer Zivilbehörde
sind die Militärbefehlshaber behufs Erhaltung der
öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit zum Ein-
schreiten mittels Waffengewalt zur Unterdrückung
innerer Unruhen und zur Ausführung von Gesetzen
selbständig befugt: a) wenn der Militärbefehls-
haber nach Pflicht und Gewissen findet,
daß die Zivilbehörde zu lange zögert.
Der tapfere Held von Zabern wußte also ganz genau,
daß ihm gar nichts geschehen könnte; er brauchte nur
33 Eisner, Vor der Revolution.
nach Pflicht und Gewissen zu finden, daß die Zivil-
behörde zu lange zögere. Diesen Nachweis aber konnte
er auch jederzeit — dank uralter militärischer Rechts-
belehrung — führen. Denn ein anderes preußisches
„Gesetz" erklärt hinlänglich, warum der Zaberner
Oberst im voraus wissen konnte, daß das Militärgericht
alle unbequemen Aussagen von Zivilisten „gesetzlich"
mißachten durfte. In Übernahme gewisser Bestim-
mungen des Allgemeinen Preußischen Landrechts (aus
dem 18. Jahrhundert!) über die unterschiedliche
Wertung von Zeugenaussagen, verfügte nämlich das
preußische Gesetz über den Waffengebrauch vom
20. März 1837: „Daß beim Gebrauch der Waffen das
Militär innerhalb der Schranken seiner Befugnisse
gehandelt habe, wird vermutet bis das Gegenteil
erwiesen ist. Die Angaben derjenigen Per-
sonen, welche irgendeiner Teilnahme an dem, was
das Einschreiten der Militärgewalt herbeigeführt hat,
schuldig oder verdächtig (!!!) sind, geben für sich
allein keinen zur Anwendung einer Strafe hinreichen-
den Beweis für den Mißbrauch der Waffengewalt."
Dem braven Oberst konnte wirklich nichts passieren.
Er war völlig gedeckt (wenn auch nicht durch das
Recht). Er brauchte nur nach Pflicht und Gewissen
zu finden, daß die Zivilbehörde zu lange zögere, und
das Gegenteil pflichtmäßigen und gewissenhaften
Handelns konnte ihm niemals nachgewiesen werden,
da ja alle bürgerlichen Zeugen als der Teilnahme
schuldig oder verdächtig „gesetzlich" unglaubwürdig
waren ! Der Oberst hatte nicht mehr Entschlossenheit
aufzuwenden, als Rekruten, die blindlings irgendeiner
zwar ungesetzlichen aber durch den Befehl des Vor-
gesetzten eben gedeckten Weisung eines Unteroffiziers
folgen.
Bei dieser Sachlage erblaßt nun doch der Strahlen-
kranz des Heldentums so sehr, daß selbst die liberalen
zivilen Charaktere von der Erhabenheit des militäri-
5M
Digitized by Google
sehen Charakters sich nicht mehr begeistern zu lassen
brauchen. Der sonst bewußtlose Oberst war sich ja
darüber klar bewußt, daß er nicht stürzen würde, es
müßte denn zuvor das ganze preußische System stür-
zen, das seit jeher nichts ist wie eine geheime feudal-
militaristische Verschwörung gegen bürgerliche Frei-
heit und Sicherheit.
Nun aber wissen wir auch, was in Wahrheit der
Januschauer damals meinte, als er den Reichstag mit
dem Leutnant und den zehn Mann bedrohte. Er
dachte an die Kabinettsorder von 1820 . . .
II.
Die Ausgrabung der unter der Erde höchst lebendig
gebliebenen Kabinettsorder ist der witzigste und wür-
digste Abschluß des Jahres der Feier der Freiheits-
kriege. Dem schlichten und ach! so kernigen Obersten
von Zabern war es vorbehalten, uns mit einer klirren-
den Tat zu zeigen, was in Wahrheit die Regierenden
mit der Jahrhundertfeier beabsichtigten. Sie dachten
nicht daran, den Volksaufstand von 181 3, die Befreiung
von Napoleon, zu verherrlichen; ihre Inbrunst galt
den heiligen Errungenschaften, die nach den Kriegen
für das preußische System gewonnen wurden.
Der frechste Spötter würde nicht die phantastische
Erfindung gewagt haben, daß am Ende des Jubel-
jahres eine Verordnung als die Rechtsgrundlage des
deutschen Reiches produziert werden würde, die man
sogar im Jahre 1820 nicht zu veröffentlichen wagte.
Man muß sich nur einmal anschaulich vorstellen,
was es heißt, auch nur zu behaupten, daß ein ab-
solutistisches Erzeugnis aus dem Preußen von 1820 im
zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Rechtskraft
haben könnte.
Die Kabinettsorder ist eine der Maßnahmen, und
zwar die tollste, die bestimmt war, die Durchführung
der Karlsbader Beschlüsse zu sichern. Man traut den
5i5
Bürgern nicht mehr, nachdem sie mit ihrem Blut den
Fürsten die Freiheit erobert. Der deutsche Bund
ist begründet zu dem Zwecke, daß sich seine Mit-
glieder gegenseitig im Kampfe gegen widersetzliche
Untertanen Soldaten und Waffen leihen. Jede politische
Bewegung gilt als „gefährliche Verbindung", die mit
Zuchthaus, Schafott, Waffengewalt zu unterdrücken
ist. Jede geistige Regung, Wissenschaft und Kunst
wird unter Polizeiaufsicht gestellt. Es ist die Zeit,
da eine Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. von
Preußen bestimmt: „Da seit einiger Zeit auf mehreren
Universitäten Spuren von Verbindungen und anderen
Umtrieben unter den Studierenden sich abermals ge-
zeigt haben, die Untersuchung derselben aber darüber
die juristischen Beweise nicht immer zu ermitteln
vermag; so will ich, daß von nun an die bei meinen
Universitäten angestellten außerordentlichen Regie-
rungsbevollmächtigten gehalten und befugt sein sollen,
diejenigen Studenten, welche nach ihrer Überzeugung
verdächtig sind, auf der Universität förmliche oder
formlose Verbindungen zu stiften, einzuleiten oder zu
befördern, oder welche in solchen Verbindungen auf
anderen Universitäten stehen, sowie diejenigen, welche
Verbindungen zwischen den verschiedenen Universi-
täten unterhalten oder irgendeiner Gattung von dar-
auf gerichteten oder anderen Umtrieben sich schuldig
machen, ohne weitere gerichtliche Untersu-
chung und ohne Mitwirkung des Universi-
tätsrichters oder des akademischen Senats
sofort von der Universität zu entfernen. '*
(Man erkennt die Ähnlichkeit mit der Kabinettsorder
über die militärische Diktatur.) Es ist die Zeit, da
der tote Fichte als der verfluchte Urheber des Um-
sturzes gilt, und die Mainzer Zentral-Untersuchungs-
kommission die Demagogenjagd organisiert — gegen
alle, die den Geist der eben beendigten Feldzüge als
Freiheitskriege mißverstanden hatten.
516
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Nicht nur Studenten und Professoren werden ver-
folgt und zu Tode gehetzt. Die ersten Führer der
nationalen Erhebung sind jetzt verdächtig. Selbst
Freiherr vom Stein wird von der Bundeskommission
als einer von den Männern genannt, welche „die de-
magogischen Umtriebe besonders angeregt" hätten,
ein Urteil, das der Kanzler des preußischen Königs,
Hardenberg — sogar gegen Bedenken Metternichs —
verteidigte. Ein konservativer Militär wie Gneisenau
— damals Gouverneur von Berlin — , der sich nicht
genug tun konnte, über das „jakobinische Gesindel"
und über die damals radikalen Theologen und Priester
von der Art de Wettes zu schimpfen, „die mit ihrer
verpesteten Moral ganze Geschlechter vergiften, und
Bibelstellen zum Beweis ihrer verbrecherischen Mei-
nungen zusammenlesen", wird als Organisator der
jetzt verfolgten Landwehr von 1813 geheimer Um-
triebe bezichtigt. In dem Jahre der Kabinettsorder
fand man bei der Verhaftung des mittelalterlich teutsch
schwärmenden Görres in Koblenz folgenden Zettel:
„Ich muß schon Verräter am Vaterlande werden, in-
dem ich bekenne, daß man heute einen Uberfall gegen
Sie projektiert. Coblenz, den 9. Mai 1 816. Ihr Carl
Gröben." Das war die scherzhafte Ankündigung, daß
Görres, der nur einen kleinen Haushalt führte, von
einer Anzahl unerwarteter Gäste zum Abendessen
„überfallen" werden würde. Jetzt nach vier Jahren
— Graf Gröben war Chef des Generalstabes in
Breslau — wurde dieser Zettel für das Anzeichen
eines hochverräterischen Unternehmens gehalten, und
sogar der alte Offizier in Untersuchung gezogen.
In diesem Jahre 1820 schreibt Jahn, der Turn-
vater, seine Klagebriefe aus Kolberg, wo ihm ein
Zwangswohnsitz unter steter Polizeiaufsicht ange-
wiesen ist, nachdem er aus langer willkürlicher Unter-
suchungshaft entlassen war. Am 16. Oktober 1820,
also gleichzeitig mit der Kabinettsorder, schmuggelt
517
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er an Reimer in Berlin einen Brief durch, in den er
seinen Zorn ausströmt: „Freiwillig bin ich nicht in
diesen Bannort gegangen. Gleich bei der ersten An-
kündigung habe ich mir diese Gnade von Scheinfreiheit
verbeten . . . Mein Schicksal kümmert mich gar nicht,
nur will ich mich nicht selbst eigenhändig geißeln.
Mögen meine Feinde immerhin ihr Jagdnetz noch
enger spannen. Je ungerechter, je besser. Schlimmer
ist nichts als der vorgespiegelte Gnadenschein von
Menschlichkeit, unter dessen Blendlicht jede Willkür
verübt wird. Das macht unbefestigte Gemüter wan-
delbar und verwirrt die öffentliche Meinung . . . Wer
sich bei ungerechtem Anfall zufrieden gibt, wird
Selbstmörder seiner eigenen gerechten Sache. Das
kann das verhagelte und verhegelte Gesindel nicht
begreifen. Von den Heuchellippen tönen in einem fort :
Demut, Geduld, Ergebung und innerer Frieden.
Diese hohlen Klänge sollen denn Kriechfertigkeit,
Faulheit, Feilheit und Feigheit beschönigen. Das ist
jenes aberwitzige Gezücht, für das Dante in seiner
Hölle selbst nur Gräber hat.*'
Im Sommer 1818 war Ernst Moritz Arndts
„Geist der Zeit, Vierter Teil" erschienen. Da
hatte der leidenschaftlichste und beredteste Propa-
gandist der Freiheitskriege in der Schaffung einer
Volkswehr, oder wie er sagte, einer deutschen Wehr-
mannschaft, die einzige Sicherung nationaler Freiheit
erkannt und gefordert:
„Die französische Umwälzung hat die verlorene Idee
des wahren Krieges wieder in die Welt gebracht, sie
hat gezeigt, wie fürchterlich und unüberwindlich
Heere sein können, die von einer Idee oder nur von
einem dunkeln, gemeinsamen Triebe beseelt werden,
selbst wenn dieser Trieb einer der untersten und
schlechtesten wäre. Alle Mächte, alle Heere, die
durch Rüstigkeit und Fertigkeit und Übung und Glanz
auf den Paradeplätzen für die ersten Heere Europas
5i8
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gehalten wurden, haben der Gewalt nicht widerstehen
können, welche eine Volksgewalt war."
„Was soll man hieraus lernen ? Und was haben die
Völker daraus gelernt ? Daß ein stehendes Heer, wenn
es auch aus lauter Eingeborenen besteht, weder die
leibliche noch geistige Kraft hat, ein Land allein zu
beschirmen, sobald die Zeiten irgend gefährlich wer-
den. Denn jedes stehende Heer, auch das beste, wird
leicht etwas vom Volke Abgesondertes, Insichgeschlos-
senes, Sichvornehmer- und Besserdünkendes und ent-
behrt also nur zu bald aller gewaltigsten und größten
Belebung der wahren Liebe und des wahren Mutes . . ."
„Jedes stehende Heer wird im Frieden gar leicht
etwas Abgestandenes und Totes, etwas Geistloses,
Eingebildetes, woran sich Tand und Eitelkeit genug
hängt. Die stehenden Heere sind seit hundertfünfzig
Jahren die Plage und Not der Völker Europas gewesen,
für ihre fortgehende Vermehrung und Unterhaltung
haben alle Kräfte der Länder über das Maß gespannt
und angestrengt werden müssen, für sie müssen die
meisten Völker noch seufzen."
„Mit den leeren Bildern des Kriegs soll im Frieden am
wenigsten gespielt werden, die sind so voll Gaukeleien,
des Tandes und Wahnes, daß die besten Männer
darüber eitel und leer werden können, und das zu-
letzt in einzelnen Tritten und Schwenkungen zu
haben meinen, wozu ein ganz anderes Streben und ein
ganz anderes Schwingen und Schwenken gehört, wenn
es einmal Sieg und Ruhm anlocken soll. Die zu viele
Quälerei und Ziererei der Paradeplätze und der blanke
und leere Prunk, welcher Eitelkeit und Aufgeblasenheit
gebiert, macht ungeschickter für den erhabenen Ernst
des Schlachtfeldes, als derjenige ist, der vielleicht nur
sechs Wochen Rechts! Links! gehört hat."
Solche Worte trafen das preußische System ins Herz.
„Hochverrat!" war die Antwort der gegeißelten Sol-
dateska. Und der stürmische Patriot, der die Freiheits-
519
kriege mit der Macht seines Wortes an erster Stelle
rüsten half, wurde seiner Bonner Professur entsetzt
und durch endlose Kriminaluntersuchungen gequält,
hinreichend verdächtig, „der Teilnahme an revolu-
tionären Umtrieben und der Mitwirkung zur Er-
regung der Unzufriedenheit mit den Regierungen und
der Unruhen im Volke im allgemeinen und in speziell
gewaltsamen Revolutionen".
Aus solcher Zeit quoll als ärgstes Erzeugnis, licht-
scheu in seiner Schamlosigkeit, die geheime Kabinetts-
order vom 17. Oktober 1820 hervor, wie eine direkte
königliche Erwiderung auf jene Volkswehrschwär-
mereien der Patrioten der Freiheitskriege: jeder Offi-
zier des stehenden Heeres erhielt nun das Recht, die
Schwärmer für deutsche Freiheit, Einheit und Ver-
fassung niederzukartätschen, wenn er fand, daß die
Zivilverwaltung zu lange zögere.
Während das Volk niemals von diesem obersten Ge-
setz, das über ihm waltete, erfuhr, blieb es als letzte
entscheidende Triebkraft gewalttätigen Willens leben-
dig in den Schädeln der Herrschenden, die kein Bür-
gertrotz hemmte. Das ewige geheime, immer dunkel
gefühlte, aber niemals in reiner aktenmäßigen Formu-
lierung gekannte Recht des deutschen Volkes ist seine
— militärische Zerstörung.
Die Nationalen und Liberalen von heute, die sich
mit den Namen der Stein, Fichte, Gneisenau, Arndt,
Jahn die Blässe entarteter Feigheit zu überschminken
gewohnt sind, knien vor den unveränderten Nach-
kommen der Schergen von 1820 und ihrem herrlich
männlichen Charakter!
[Januar 1914.]
520
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Der Geßlerhut
Taktvolle Bühnenbearbeitung für das liberale Theater.
(Wiese. Der Hut auf einer Stange.)
Frießhardt. Wir passen auf umsonst. Es will sich
niemand
Heraus begeben und dem Hut sein* Reverenz
Erzeigen. Schlecht Gesindel ist das Volk.
Leuthold. Was rechte Leute sind, die machen lieber
Den langen Umweg um den halben Flecken,
Nur um zu beugen sich vor diesem Hut.
Frießhardt. Doch Galgenvögel gibt's, die weigern
frech
Den Gruß der Ehrfurcht dem erhabnen Kaiser.
Leuthold. Für diese Rotte ist der Hut ein Pranger,
Vor dem wir stehn; dieweil die Reverenz
Uns Patrioten Hochgefühle weckt.
Mechthild. Da hängt der Landvogt — habt Re-
spekt, ihr Buben.
(Teil kommt mit seinem Sohn.)
Teil. Das Land ist schön und gütig wie der Himmel,
Doch, die's bebauen, sie genießen nicht
Den Segen, den sie pflanzen.
Walter. Pfui Vater,
Du redest ja wie'n Sozi. Recht ist's doch:
Das Feld gehört dem Bischof und dem König.
Teil. Weh, Junge, daß du Wehrkraftbube wurdest!
Walter. O, Vater, Heil dem Hut dort auf der
Stange !
Teil. Was kümmert uns der Hut! Komm, laß uns
gehen.
(Frießhardt mit der Pike ihm entgegen.)
521
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Teil. Was wollt Ihr ? Warum haltet Ihr mich auf?
Frießhardt. Ihr habt's Mandat verletzt, Ihr müßt
uns folgen.
Leu t hold. Ihr habt dem Hut nicht Reverenz be-
wiesen.
Teil. Freund, laß mich gehen.
Frießhardt. Fort, fort ins Gefängnis!
Walter. Den Vater ins Gefängnis! Sagt' es gleich,
Warum hat er verstockt die Huldigung
Dem leeren Hut der Majestät verweigert!
(Das Volk strömt herbei.)
Sigrist. Was gibt's?
Rösselmann. Was legst du Hand an diesen Mann ?
Frießhardt. Er ist ein Feind des Kaisers, ein
Verräter !
Rösselmann. Entsetzlich! Deß erfrecht sich unser
Teil ?
Walther Fürst. Um Gottes willen, Teil, was ist
geschehen ?
Frießhardt. Des Landvogts oberherrliche Gewalt
Verachtet er und will sie nicht erkennen.
Stauf f acher. Das hätt' der Teil getan?
Melchthal. Der brave Teil?
Leuthold. Er hat dem Hut nicht Reverenz be-
wiesen.
Walther Fürst. (Erblassend, dann voll Zorn).
O Teil, hast du denn allen Takt vergessen?
Wir ehren uns, wenn wir das Zeichen grüßen,
Das kraft Verfassung und Gesetz uns beugt.
Wie lächerlich, so gegen die Person
Zu demonstrieren, die Gefühle zu
Verletzen, die monarchisch heiß uns glühen.
Teil (trotzig). Man ächtet uns, verhöhnt die Frei-
heit und
Entrechtet uns. Ich bin kein Sklave, der
Den Fuß in Demut küßt, der mich getreten.
Ich huldige, wo mich Gesinnung treibt.
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Walther Fürst. Verblendeter, was sträubst du
dich der Form
Der Höflichkeit? Auch ich bin frei gesinnt,
Doch weiß ich, was der Schicklichkeit gebührt,
Und was die Klugheit fordert.
Teil. Seid ihr Männer?
Rösselmann und Melchthal (Duett). Das sind
wir, Gott sei Dank, doch wissen wir,
Was wir dem Kaiser schulden, den wir ehren,
Mag kommen, was da mag, auf unsre Rücken.
Du aber, Teil, bist reif für'n Staatsanwalt.
Wir haben fürder nichts gemein mit dir,
Denn du kompromittierst die gute Sache.
Teil (bitter). Die gute Sache!
Walt her Fürst (beschwört). Ja die beste Sache.
Weißt du, was du getan, taktlos frevelnd?
Ich mach's dir ganz bewußt, das Maß der Torheit.
Du hast, o grenzenlose Missetat,
O ungeheurer Unsinn, nur das Wasser
Getrieben auf die Mühlen — —
Das Volk (durcheinander schreiend). Welche
Mühlen ?
Was für ein Wasser?
Walt her Fürst (mit bebender Stimme). — weh,
der — Reaktion!!
Teil (wie von Blitz getroffen). Ich Unglücksel'ger,
wahrlich, schwere Schuld
Hab ich gehäuft. Nun wächst Zwinguri uns
Zehn Stockwerk höher in den freien Himmel.
Jetzt seh ich ein, was ich im Unverstand
Taktlos geirrt, rhetorisch blöd gefaselt:
Der Starke ist am schwächlichsten allein!
(Mit schnellem Entschluß.)
Doch nicht zu spät ist Umkehr. Sieh, o Volk,
O Volk der freien Schweizer — so sühnt Teil.
(Er wirft sich vor dem Hut auf die Erde und bleibt
zehn Minuten in dieser Stellung. Das Volk kniet
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nieder. Man hört tausendstimmige Rufe: Es lebe der
Hut, es lebe der Kaiser. Das Echo der Berge wieder-
holt die Rufe. Geßler erscheint.)
Geßler. Ein braves Volk! Ihr wißt die Ehre wohl
Zu schätzen, die der Hut euch gönnt. Ich will
Von nun an hunderttausend Hüte auf
Den Feldern euch, den Almen, vor den Hütten
Errichten, daß die Rücken schneller beugen
Und öfter sich in treuer Fron für mich
Den Herrn . . .
Das Volk (jubelnd). Heil, Geßler, heil!
Walther Fürst. Heil, edler Herr!
Teil (immer noch kniend).
Und ich hinfort will wallen durch das Land,
Und immer werdet Ihr mich finden vor
Der hunderttausend Hüte einem kniend.
Denn grade weil mir in dem freien Busen
Republikanisch glüht die stolze Seele
Hab ich gelernt: Die Tapferkeit ist Takt!
(Der Vorhang fällt, da sich nunmehr die weitere
Handlung erübrigt.)
[Juni 1914.]
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Inhalt
Erster Teil: Wir Toten auf Urlaub
Sritf
1. Wir Toten auf Urlaub 5
2. Letzter Marsch 7
3. Krieg. Drei Szenen 9
4. Jaurcs 15
Nachtrag 191 8 19
5. Völkerrecht. Einige Anmerkungen 21
I. Rechtmäßige Völkerrechts Verletzungen 23
II. Volkswehr im Völkerrecht 37
6. Theorien und Phantasien vom ewigen Frieden . . 52
7. Die Theorie des großen Krieges 59
8. Die Neunte, das Werk der Zeit 69
9. Krottingen. Eine Erinnerung 75
10. Das Kursbuch der Weltgeschichte 81
11. Bismarck über Kriegführung und Kriegsziele. . . 88
12. Preußen — Italien — Österreich. Zur Natur-
geschichte diplomatischer Verhandlungen und Ver-
träge 96
13. Die Presse im Kriege 106
14. Die Wiener Kongreß-Akte . 116
15. Hus 123
16. Die Angst der Toten 131
17. Hat es ein Sozialistengesetz gegeben? 159
18. Zusammenbruch! Ein Jahrwendgespräch . . . .145
19. Die Lebenswinde 155
20. Mensch-Ersatt- Würfel 159
21. Die vier Könige. Die Urform einer evangelischen
Erzählung 164
22. Das Abreiß-Gehirn : . 169
-23. Die Austrocknung des heiligen Geistes 176
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Seite
24. Aus Tagheften. 1914— 1918 182
Humor und Idylle. — Internationales Gespräch.
— Diplomatische Abhärtung. — Zuchthaus
für Stimmungsbilder. — Laute Gedanken. —
Die Kriegssprache. — Die Schwierigkeiten des
Komparativs. — Die neue Erfindung. —
Französische Gedankengänge. — Verdurstung
als Kriegsmittel. — Und sie schrieben Briefe.
— Märzstürme 191 8. — Ein Opfer. — Die
Sorge um Soissons. — Redeoffensive.
25. Kleine Kriegsmärchen 204
Das Merkmal der Rassenzüchtung. — Arith-
metischer Landesverrat. — Die völkerrechts-
widrige leichte Verwundung. — Grenzsiche-
rungen. — Das Leichcr.gemüt. — Die Oppo-
sition. — Der Ur.!:c-!b-r.\ — Führer an die
Front! — Ich habe es rieht gewollt. — Kultur
mit Wasserspülung. — Die Schule des Fliegens.
— Das Kriegsziel. — Verlustliste. — Der
Lebenshaß.
26. Marx-Feier 221
Zweiter Teil: Die Heerstraße zum Abgrund.
1. Das gelbe Zeichen 243
2. Wir haben genug! 257
3. Der goldne Magnetberg 264
4. Sozialdemokratie und Staatsform. Eine öffentliche
Diskussion zwischen Kurt Eisner und Karl
Kautsky 285
5. Der Sultan des Weltkrieges 326
I. Auswärtige Politik in der deutschen Sozial-
demokratie. Persönliche Erfahrungen ... 326
II. Vorwort 331
III. Ergebnis 333
6. Die Tragikomödie des deutschen Liberalismus . . 342
7. Anekdoten vom Tage 406
Der Schwindler. — Der Mord. — Das freie
Opfer. — Ein Leutnant und zehn Mann.
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Seite
8. Luise. Eine Heiligengeschichte ans dem 19. Jahr-
hundert 411
9. Die Meineidslinde von Essen 421
10. Chefredakteur Wilhelm 425
11. Die Steuerlampe. Plan einer Zeitschrift .... 432
12. Meinungsbetrieb 437
13. Preß-Probleme 444
I. Das bürgerliche Preßgeschäft 444
1 1. Die Grundlegung der Größe der Parteipresse 449
III. Die notwendigen Reformen 455
14. Dynastische Geschichtsauffassung 463
1 5. Aus der Panther-Zeit 467
Sus — die deutsche Existenzfrage. — Innere und
äußere Kolonisation. — Frankreichs Friedens-
bürgschaft. — Und nun?
16. Die hohen Stühle 481
17. Herging 494
Professor und Ministerpräsident. — Der Jubilar
18. Die Kabinettsorder von 1820 509
19. Der Geßler-Hut 521
527
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GESAMMELTE
SCHRIFTEN
VON
KURT EISNER
ZWEITER BAND
VERLEGT BEI PAUL C ASSIRER IN BERLIN
19 19
Alle Rechte,
insbesondere das der Übersetzung vorbehalten
Copyright 1919 by Paul Cassirer, Berlin
Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig
Befreiung
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Das ewige Friedensmanifest.
Kraft der Allmacht des Kalenders wird wieder unter
den 500 Millionen Menschen, die sich — ein Drittel der
Gesamtmenschheit — Christen nennen, das Friedens-
manifest des himmlischen Gebieters verkündet, das
den „Frieden auf Erden" in weithallenden Akkorden
spendet. Die Botschaft ist fällig.
Wirre Weihnachten! Mehr ein Spottlied auf den
Sinn der Feier als ein heiliger Festchoral.
Das Fest des Friedens beschließt das Jahr, in dessen
Mitte die vom russischen Zaren veranlaßte Diplomaten-
posse, unter dem lieblichen Harfengetön der Ab-
rüstung, die Idee des Völkerfriedens höhnend geißelte.
Über dem Christbaum lastet der blutige Nebel eines
verbrecherischen Raubkrieges, auf dem Weihnachts-
tische der Welt ächzen zerstückelte Leiber und modert
verrucht gemordetes Leben, glanzlos brechende Augen
starren aus dem grünen Geäst, das mit Granatsplittern
und Hautfetzen, als war* es Buntpapier und Flittergold,
übersät ist.
Und wo nicht in Wirklichkeit der Krieg wütet, da
sind doch die Gemüter erfüllt von den Vorstellungen
der Vernichtung. Der Menschenwitz erschöpft sich
in neuen Mitteln, um das Dasein der Kreatur zu zer-
stören. Die Parlamente vergeuden die Mittel der
Völker für den Bau von Kasernen und Panzerschiffen.
Die Lehre von dem Recht des Stärkeren ist zur Pflicht
des Stärkeren gesteigert, die da gebietet zu herrschen
und zu knechten. Das Evangelium des Hammers
kündet am Vorabend des Weihnachtsfestes der Minister
des christgermanischen Reiches. Und selbst den Kin-
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dem schenkt man zur Weltfeier des Friedens Säbel,
Flinten und Helme.
Das himmlische Friedensmanifest, das seit fast zwei
Jahrtausenden alljährlich in die Erinnerung gerufen
wird, ist noch wirkungsloser ab das des irdischen Herr-
schers über ein Volk von Sklaven — ein leerer Klang,
ein toter Schall. Es hat keinen anderen Erfolg, als daß
es von Jahr zu Jahr in leidenschaftlicherer Form den
Krieg in der Wirtschaft entfacht. Weihnachten ist ein
Jahrmarkt, auf dem sich der Umsatz der Waren fieber-
haft steigert. Der Konkurrenzkampf der großen und
kleinen Händler wird in diesen Tagen zum grausamen
Gemetzel, und die letzten Hoffnungen der Kleinen
brechen verzweifelnd zusammen. Ein Heer von Han-
delsangestellten, Frauen und Männern, wird vom
dämmernden Morgen bis in die Nacht hinein gehetzt,
um die zahllosen Hände der Käufer zu füllen; sie
peitschen die Nerven, um aufrecht zu bleiben, und,
wenn die Friedensbotschaft über die Lande fliegt,
haben sie nur das Gefühl teilnahmsloser Erschöpfung.
Auch nicht für einen Augenblick schweigt das Keu-
chen der Arbeitssklaven, verstummt das Wimmern der
Zertretenen und Versinkenden. Hinein in die stille
heilige Nacht tobt die wilde Jagd, und das Friedens-
manifest ist nur eine flache Hürde, die niemanden
hemmt, nicht Jäger, nicht Wild.
Aber was tut's. Sie sind einmal Christen und darum
schuldig, das alte Mirakel wie eine ernste Wirklichkeit
zu verehren. Tags zuvor brüllen sie nach dem starken
Mann, der das Freiheit suchende Volk der Bedrückten
würgen möchte, und 24 Stunden später haben sie an
allen Menschen ein Wohlgefallen. Sie weiden sich
unablässig an der Wollust des Verfolgens, und plötzlich
bekennen sie sich zu der aufrichtenden Wahrheit des
Evangelisten: Selig sind, die Verfolgung leiden! Sie
scharren Schätze, plündern wuchernd die Arbeit der
Armen, um in üppigem Überfluß zu genießen, und
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kehren nun andächtig ein in den Stall, da die Not
den Heiland gebar. Jedes Wort, das in diesen Tagen
die Christen sprechen, ist ein Pfeil wider sie selbst.
Es ist eine der seltsamsten Wandlungen der Ge-
schichte, wie das Christentum, das im Ursprung eine
Erlösungsreligion der Ärmsten war, zu dem eitlen
Schaustück und gefährlichen Machtmittel der Herr-
schenden ward. Das Demütigende und Entsagende,
das die Lehre in sich barg, die nur den Heldenmut des
Leidens kannte, ermöglichte diese Umkehrung des
Sinnes des Christentums. Von Haus aus ein seelisches
Befreiungsmittel der Unterdrückten, ward es, wegen
seiner passiven Tendenz, zu einer Waffe der Herr-
schenden im Klassenkampf, zu einem Instrument der
Zähmung und Bändigung der Massen. Die Geschichte
des wahren Christentums ging schon in den ersten
Jahrhunderten zu Ende — was hernach kam, war nur
die Erhaltung des Namens, dessen Inhalt von allem
Christlichen gereinigt war.
In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung,
in den Zeiten des Urchristentums, wafd es als ein
Widerspruch empfunden, daß ein Christ zu den Edlen
und Mächtigen gehörte. Tertullian, der um die Wende
des zweiten und dritten Jahrhunderts die reine Lehre
Christi erläuterte und verbreitete, erklärte, daß alle
Gewalten und Würden dieser Welt nicht nur Gott
fremd, sondern feindlich sind. Die Verwalter der
höchsten Staatsämter durften während ihrer Amts-
dauer keine christliche Kirche betreten — es galt als
eine Entweihung des christlichen Grottesdienstes, wenn
staatliche Würdenträger an ihm teilnahmen. Heute ist
von dieser Sitte des reinen Christentums nichts mehr
übrig; im Gegenteil, der Gottesdienst wird geadelt
durch die Gegenwart der hohen Würdenträger, die
ihrerseits aus ihrer Christlichkeit ein Mittel gestalten,
auf der Stufenleiter der Gott feindlichen Herrschafts-
ämter empor zu klimmen.
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In unserem scheinchristlichen Zeitalter wird selbst
der Krieg verchristlicht, und es wird gesagt, daß ein
guter Soldat ein guter Christ sein müsse. Jener Lehrer
des Urchristentums aber schrieb, daß ein Christ über-
haupt nicht Soldat werden dürfe: „Glauben wir etwa,
daß es erlaubt sei, einen menschlichen Fahneneid auf
den göttlichen zu setzen, von einem anderen Herrn
nach Christus uns den Eid abnehmen zu lassen und
sich von Vater und Mutter und jedem Verwandten
loszusagen, die das Gesetz denn doch zu ehren und
nächst Gott zu lieben vorschreibt, und welche auch
das Evangelium, sie bloß nicht höher stellend als
Christum, so geehrt hat ? . . . Wird der Sohn des Frie-
dens wohl in der Schlacht mitwirken, er, für den sich
nicht einmal das Prozessieren geziemt ? Wird er Ge-
fangennehmungen, Kerker, Foltern und Todesstrafen
anordnen, er, der nicht einmal die ihm selber zugefüg-
ten Beleidigungen rächt ? . . . Dann wird er die, welche
er am Tage durch Exorzismen vertreibt, bei Nacht
beschützen, gestützt oder ruhend auf der Lanze, womit
die Seite Christi durchbohrt wurde."
Wer Krieg führt, der wird dem Christentum fahnen-
flüchtig, so schreibt der Bekenner des Urchristentums.
Seitdem ward die Lehre ins Gegenteil gewendet, und
das „Frieden auf Erden" ward darum zur leeren For-
mel, die alljährlich einmal in den Rauschstunden eines
lärmenden Festes verhallt.
Und dennoch ist der Gedanke des wahren Christen-
tums nicht ganz erstorben, nur hat er sich von den
Christen zu denen geflüchtet, die als die Bekenner
des Antichrist verleumdet und verfolgt werden, und
die aus der duldenden, mystisch schwärmenden Ge-
fühlsseligkeit ein zielklares Programm vernünftigen
Handelns gestaltet haben. Ihnen ist „der Frieden auf
Erden" keine im Widerhall sich selbst verspottende
Phrase, sondern das Streben ernster Kulturarbeit.
Das Proletariat ist der redliche Träger und Kämpfer
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für jenes Weihnachtsfest der Zukunft, in dem das
ewige Friedensmanifest nicht mehr vonnöten ist, um
den Kultus der brutalen Gewalt heuchlerisch zu um-
flittern, sondern wo es eine Erinnerungsfeier sein wird
an jene Zeit, da der Friedensschluß unter den Völkern
beschlossen ward. Es wird das Weihnachtsfest sein,
von dem Ada Negri singt:
Es fließt kein Blut mehr, das in roten Fluten
Die Erde oft so schmerzensreich getränkt,
Die Kriegsgöttin dämpft des Streites Gluten
U. d hat die Waffen friedlich jetzt gesenkt.
Es schweigt der Mitrailleusen tolles Knallen,
Kein Donner von Kanonen mehr erkracht,
Und Kriegslieder hört man nicht mehr schallen
Durch das Getümmel und den Lärm der Schlacht.
Die Welt ist jetzt ein Vaterland, die Seelen
Von heiliger Begeisterung durchbebt,
Und sanft ein Friedenssang aus tausend Kehlen
Von einem Ufer an das andre schwebt.
[Weihnachten 1899].
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Ein Friedhof der Lebenden.
Wer die Straße, an der der schmucklose, fast dörf-
liche Saal des Essener Parteitages lag, weiter verfolgte,
der kam nach kurzem Spaziergang zu einer idyllischen
Ansiedelung, die unwillkürlich zum Verweilen einlud.
Bunte, zierliche Giebelhäuschen, einfach und anmutig,
mit freundlichen Erkern, mitten in kleinen Gärten
-
versteckt, die voll glühender Herbstblumen prangten;
fast wuchsen die üppigen Blüten über die Giebel der
Häuser empor. Jede dieser traulichen Heimstätten
ist ein kleines Reich für sich. An einer Stelle breiten
sich zu beiden Seiten eines grünen Platzes auch zier-
lich gegliederte Reihenhäuser.
Es ist feierlich still in der ganzen Ansiedelung. Man
sieht keine spielenden und lärmenden Kinder. Zwei
Kirchlein, eine protestantische und eine katholische,
erheben sich in ihrer gefälligne Holzarchitektur nicht
allzu stolz über die Wohnhäuser; auch der liebe Gott
haust, so scheint es, in diesem Gefild schlicht und be-
scheiden, nur ein wenig die Menschen überragend.
Ein größeres Gebäude trägt den Vermerk, daß der
Eintritt verboten sei; im Hofraum liegen hohe Haufen
von Weidenruten aufgeschlichtet, es ist wohl eine
Werkstatt, in der Körbe geflochten werden. Im Vor-
garten eines Hauses sieht man die Kirchen und die
Häuser der Kolonie sauber in kleinen Holzmodellen
nachgeschnitzt ; der Inhaber zeigte sie eben nicht ohne
Selbstbewußtsein einer Dame, die vielleicht als Spiel-
zeug eines oder das andere kaufen will. Am Ende der
Kolonie treffen wir einige größere Gebäude, Kranken-
häuser, Erholungsheime, Altersasyle. Alles atmet be-
schaulichen Frieden, künstlerisch verfeinertes Behagen,
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eine Insel der Ruhe. Selbst die Essener Luft, die im-
mer mit Kohlenstaub und Schmieröl gesättigt ist,
scheint diese Oase zu verschonen; würzige, natürliche
Luft läßt endlich wieder einmal die Lungen freier
atmen. Eine Hölle ist dieser westfälische Industrie-
bezirk. Es ist ein unerträglicher Gedanke, daß hier
Hunderttausende, Millionen Menschen leben müssen,
in einer Welt, wo die dürftigen Grashalme und die
Kohlblätter der Eisenbahnböschungen schon land-
schaftliche Schönheit darstellen. Wie kam das Para-
dies plötzlich mitten in das Reich gigantischer Un-
holde, die sich vom Blut des Lebens nähren und alle
Schönheit verschlingen?
Wenn man in Essen sich erkundigt, was irgendein
Gebäude, eine Ansiedelung, ein Werk sei, so hört man
fast immer das Zauberwort: Krupp. Keine absolute
Monarchie hat jemals in allen ihren Teilen so uniform
den Stempel des Herrschers getragen, als Essen die
Marke Krupps. Es ist eine Stadt, die um einen In-
dustriethron herum gebaut ist. Auch dieses Eiland
gehört Krupp, ist eine Kruppsche Schöpfung. Mitten
in der Kolonie gewahrt man jetzt auch ein Denkmal
— einen Granitblock, in dem das Medaillon des jun-
gen Krupp eingefügt ist, und eine Inschrift belehrt
uns, daß dankbare Arbeiter aus ihren Groschen den
Stein ihrem teuren Wohltäter errichtet haben.
Es ist Altenhof, der soziale Stolz Essens, der Triumph
der großindustriellen Wohlfahrt, die Altersstätte der
Kruppschen Invaliden, wo sie geruhig den Rest ihrer
Tage zubringen können, ohne Arbeit, sofern sie nicht
etwa noch fähig sind, sich mit Flechtarbeit einen
letzten Nebenverdienst zu schaffen. Dieser Rest der
Tage muß nicht eben groß sein, sonst müßte die
Kolonie viel umfangreicher sein. Die alten Ehepaare,
die hier hausen, beeilen sich offenbar, das Paradies zu
verlassen. Stirbt einer der Gatten und kann sich der
Überlebende allein nicht mehr helfen, so verläßt er
das Einzelhaus und wird in das Massenquartier, das
Altersheim, gebracht, bis er von dem Friedhof der
Lebenden in den Friedhof der Toten übersiedelt, auf
dem es keine Kindergräber gibt.
Altenhof — müssen hier nicht endlich die Lästerer
des Kapitalismus verstummen und die zornigsten An-
kläger des Unternehmertums schamvoll die giftige
Zunge hemmen ? Wie herrlich ist doch die Entwicke-
lung! Nichts mehr davon, daß sich die Alten, Invali-
den, Siechen mit der wimmernden Drehorgel an die
Landstraße setzen müssen. Sorglos wohnen sie im
eigenen Heim. Und diese Häuser haben auch nichts
mehr von der grauenhaften Öde der Arbeiterhäuser,
dieser geschwärzten Backsteingräber ohne Farbe, ohne
Form, wie sie die Kruppsche Wohlfahrt der älteren
Periode noch massenhaft als Zeugnisse der barbari-
schen kapitalistischen Vorzeit hingestellt hat. Hier
vermählte sich die Kunst mit der Arbeit und dem
weisen sozialen Herzen eines Wohltäters . . .
Aber wo ist die glückselige Bevölkerung dieses so-
zialen Paradieses? Es scheint wie ausgestorben. vOder
sollten etwa diese bleichen greisen Gestalten, die er-
loschenen Blickes, müde und interesselos die sauberen
Straßen entlang schleichen, die Einwohner sein ? Wozu
dann der bunte Tand, der dann doch nicht mehr wäre,
als ein bunter Sarg? Aber jetzt sehe ich diese Ge-
stalten auch in den Erkern, an den Fenstern, zwischen
dem lustigen Blumengestrüpp der Gärten. Haben sie
alle die Sprache verloren, daß sie nicht plaudern, scher-
zen, lachen ? Wie Gespenster wandeln sie und stehen
sie. Verlorene, versonnene Seelen, fast wie man sie in
jenen unheimlichen Totenhainen der Irrenhäuser sieht,
wo die melancholisch Irren stumm beieinander stehen,
nur nach Einem unverwandt schauend, dem Tode.
An einem Gartenzaun sehe ich ein altes Ehepaar,
das freundlich blickt und in deren bleichen Gesichtern
doch noch einiges Leben sich regt. Ich bitte um die
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Erlaubnis, die Wohnung besichtigen zu dürfen. Bereit-
willig, fast mit etwas eitler Genugtuung, führen mich
die freundlichen Alten. Wie ich in die Türe trete,
nehme ich den Hut ab. Der Alte, dem ein Arm fehlt,
wehrt energisch ab. Ich soll den Hut aufbehalten, er
sei nur ein einfacher Arbeitsmann. Er wird böse, als
ich dennoch barhäuptig bleibe. Und ich muß mit dem
Hut auf dem Kopf das kleine Anwesen besichtigen,
zwei Zimmer, und oben unter dem Dach, wie er sagt,
noch eine Kammer. Alles ist sauber und hell, aber
innen ist nichts mehr von der künstlerischen Kultur
des Äußeren. Der Essener Spaziergänger, der Wohl-
fahrtsbummler, geht ja nur vorbei. Da genügt die
Fassade. Die innere Ausstattung haben die Invaliden
selbst zu besorgen. Also sind die billigsten, geschmack-
losesten Tapeten angeklebt. Der Hausrat ist armselige
ßazarware. Das lohnt sich für den Wohltäter nicht,
sich auch darum zu sorgen, was niemand sieht. Künst-
lerischer Hausrat — das geht über die Kraft und die
— Lust. Aber nein, man soll nicht ungerecht sein.
Es ist zu gestehen, daß Krupp auch für die Kunst im
Leben der Invaliden sorgt. Die Wände und Schränke
sind behangen und bestellt mit Kruppbildern in Stein-
druck und Photographie und Gips. Dutzendfach ist
der alte und der junge Herr zu sehen, sehr geschmack-
los und sehr billig. Aber der Hausbewohner weist auf
sie mit nicht geringerer Andacht hin, als der russische
Bauer seine Heiligenbilder verehrt.
Nichts anderes kennt der alte Mann. Seine ganze
Seele ist ausgefüllt mit dem Bilde seines Herrn. Das
hat der Kapitalismus aus dem freien Menschen, dem
Ebenbild Gottes, gemacht: Unterwürfige, demütige
Geschöpfe, die noch dankbar sind, daß sie für ihren
Herrn Millionen erarbeiten durften, die in Rührung
vergehen, weil sie in Frieden wohnen können, nach-
dem ihnen die Arbeit das Mark des Lebens bis zum
letzten Atom ausgeschürft hat.
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Denn kaum einer kommt in dieses Paradies, der noch
wahrhaft lebt. Es ist das Ruheland der Abgeschiede-
nen. Altenhof ist ein Totenhof von Menschen, die
sich noch bewegen. Aber das Lebensfeuer ist aus-
geglüht. Wer zwanzig Jahre Feuerarbeiter gewesen,
der ist kein Mensch mehr, der seines Daseins sich be-
wußt ist. Keinen Tag früher läßt ihn die Arbeit los,
ehe denn alle Kraft bis zum Letzten versiecht ist.
Hat er aber aufgehört, zu denken, zu fühlen, zu
wollen, zu genießen, versagen Muskeln und Nerven
völlig, nun dann geht er ein in diese geschminkten
Gräber als tottraurige Staffage für die stolze Augen-
weide kapitalistischer Wohlfahrt.
So weit bringt es das christliche Unternehmertum
in seiner unermeßlichen Liebe also doch — bis zum
heiteren, bunten, leuchtenden Friedhof von Leben-
den, die zwischen ihren eigenen Gräbern wandeln
und die lustigen Blumen auf ihnen selber begießen . . .
[September 1907.]
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Kommunismus des Geistes
Die ältere Generation der deutschen Sozialdemo-
kratie hat das geistige Lesen an zwei Männern gelernt,
die Inbegriff und Steigerung aller überkommenen Bil-
dung waren : An Lassalle und Karl Marx. Es war eine
wenigstens in der deutschen Geschichte durchaus neue
Erscheinung, daß die tiefste Wissenschaft selbst sich
unmittelbar an die ungelehrten Massen wandte. Alle
deutschen Denker vor ihnen sprachen immer zu einer
Gemeinde von Auserwählten, und sie waren ängstlich
bemüht nachzuweisen, daß sie nicht daran dächten,
dem gemeinen Volke zu predigen. Sie lehrten die
Menschheit in ihrem Begriff, nicht in ihrer Materie.
Der Stil der deutschen Philosophie ist freilich wesent-
lich bestimmt durch die Zwangsweisungen des Allge-
meinen Landrechts, das die Nation in ihrer Gesamt-
heit von der Bildung ausschloß und den Versuch der
Unberufenen, unmittelbar dem Volke gefährliche Ge-
heimnisse zu entschleiern, als Hochverrat ahndete.
Immerhin, die Scheidung einer gelehrten Minderheit
und einer unwissenden Menge wurzelte tief in dem
Bewußtsein der klassischen Denker. Fichte entwarf
nach Pestalozzis Vorbild seine kommunistischen Bil-
dungsinseln, auf denen in strenger Abgeschlossenheit
von der lebendigen Verwesung einer entarteten Kul-
tur erst einmal die Gesamtheit der Jugend erzogen
werden sollte, damit sie dann fähig würden, Bürger
eines geschlossenen Handelsstaates zu sein; seine Re-
den an die deutsche Nation waren nichts wie eine
Propädeutik für ein kommunistisches Gemeinwesen,
dessen literarische Ausführung den Philosophen die
letzten Lebensjahre beschäftigte, ohne daß dieses
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bisher nur in Bruchstücken bekannt gewordene sozia-
listische System der letzten Periode bisher vollständig
veröffentlicht wäre. Die Meinung war also besten-
falls, daß das Volk, das gemeine Volk, erst durch eine
allgemeine Bildungsschule hindurchgehen müßte, ehe
es tätiges und gleichberechtigtes Bürgertum werden
könnte. Der Unterschied zwischen Esoterikern und
Exoterikern war doch noch genau so stark auf welt-
lichem Gebiet, wie der zwischen Klerikern und Laien
im Kirchenstaat. Mit dem Aufwuchs der proletari-
schen Bewegung nun schwand dieser Unterschied,
der Tendenz nach. Die höchste Bildung sollte Ge-
meingut gerade der tiefsten Masse werden; das Ver-
trauen zur schaffenden Gleichheit aller menschlichen
Vernunft war so groß, daß man überzeugt war, die
bloße Zwischenkunft der großen Erzieherin, der
menschlichen Not, genüge, um die Geister fähig zu
machen, den Ertrag tausendjähriger Gedankenarbeit
zu erfassen, und zwar nicht nur im Inhalt des Wis-
sens, sondern auch in der Methode der Forschung.
Dieses kühnste Experiment und dieser, wie es
scheint, ausschweifendste Anspruch hatte den un-
geheuersten Erfolg, bloße geistige Forderung be-
stimmte von vornherein die überlegene Würde und
den selbstbewußten Stolz der proletarischen Bewe-
gung. In dem weltgeschichtlichen Klassenkampf des
Bürgertums mit der Feudalität war die politisch unter-
drückte Klasse nicht nur wirtschaftlich herrschend
gewesen, sondern sie war auch im Vollbesitz aller
Bildung, in Wissen und geistiger Schulung dem Adel
weit überlegen. In der proletarischen Bewegung
setzte sich das unvergleichlich gewaltigere Unter-
nehmen durch, begehrte sich durchzusetzen, daß
eine Klasse, die vom Besitz und der Bildung aus-
gesperrt war, die an technischem Wissen und in-
tellektueller Schulung tief unter der beherrschenden
Klasse stand, sofort, anscheinend durch die Auf-
16
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«
Stellung der idealen Forderung allein, sich weit über
die mit allen Hilfsmitteln ausgerüstete Klasse in der
Moralität der geistigen Verfassung erheben sollte.
Das hohe Ziel zeugte durch sich selbst erhöhte Wirk-
lichkeit. Die proletarische Bewegung hatte in der
Tat seit ihren Anfängen diese Überlegenheit bei-
behalten, zu der sie ihre ersten Meister aufriefen;
wenn nicht in allen Einzelleistungen, so durchaus in
ihrer Gesamtstimmung. Die Grundanschauung von
dem möglichen Gemeinbesitz der Bildung ist durch
die Entwicklung der sozialdemokratischen Kultur-
arbeit über jeden Zweifel gestellt worden. So sehr
immer auch die Verwirklichung hinter der Forderung
zurückbleiben möchte, die ideale Richtung des sozial-
demokratisch erzogenen Proletariats weist zu jenen
Höhen, die ihm am Ausgang gezeigt waren. Die
proletarische Presse hat sich bisher all den aufdring-
lichen Verführungen entzogen, so volkstümlich ordinär
wie die Lokal- und Generalanzeiger zu werden. Wo
sich das Proletariat als Kunstgemeinde organisiert
hat, wie in den freien Volksbühnen einiger Groß-
städte, da begehrt es ausschließlich die höchsten
Schöpfungen der Weltkünstler. Die Arbeiter sind das
beste Publikum für ernste Kunst geworden. Wirk-
liches politisches Interesse findet man außerhalb ganz
enger bürgerlicher Zirkel nur im Proletariat; insbe-
sondere ist der gebildete und der ungebildete Mittel-
stand politisch tot. Umfangreiche wissenschaftliche
Werke schwierigen Inhalts werden außer von Pro-
fessoren nur noch von Arbeitern gekauft und gelesen.
Eine politische und soziale Aufklärungsliteratur stren-
geren Stils ist in Riesenauflagen im Proletariat ver-
breitet worden. Wenn einmal ein Wahlrecht nach
der politischen Bildung abgestuft werden sollte, das
Proletariat brauchte um das Bestehen des Examens
nicht besorgt zu sein, wie denn klar ist, daß wirk-
liches politisches Leben überhaupt nur in der Ar-
-« Eitn^r, Gesammelt« Sehr Htra. II. iy
beiterschaft herrscht. Diese durch schwere Tages-
arbeit abgerackerten Proletarier setzen sich abends in
ihre Stube und lesen von Anfang bis zum Ende ihre
oft schwerflüssige Zeitung, sie gehen in politische Ver-
sammlungen und beschäftigen sich in wissenschaft-
lichen Vorträgen und Diskussionsabenden mit den
dunklen Problemen der menschlichen Gesellschaft.
Von der Partei und Gewerkschaft ist in der Tat so
etwas geschaffen worden, wie eine pädagogische Pro-
vinz, in der das Proletariat für seine geschichtliche
Mission erzogen wird.
Indessen, in demselben Maße, in dem sich der
Kommunismus der Bildung aus eigener Kraft der
Masse, der Tendenz nach, siegreich durchringt, um
so größer werden doch die Schwierigkeiten des Aus-
gleichs zwischen den idealen Möglichkeiten und den
harten Realitäten. Jeder, dem das Glück beschieden
ist, im Proletariat zu wirken, wird Stunden haben,
in denen ihn der Zwiespalt niederbeugt. Und um die
Depression zu überwinden, muß er immer dann ein
wenig in die Öde studentischer und gut bürgerlicher
Kreise hinabtauchen, um den ganzen Unterschied
proletarischer Regsamkeit und bürgerlicher Stumpf-
heit tröstlich zu verspüren. Aber gerade weil in der
Arbeiterschaft die Möglichkeit zur vollkommenen
Kulturentfaltung gegeben ist, darum quält die Ein-
sicht in die scheinbar unüberwindlichen Schwierig-
keiten, die ihr Schranken setzen.
Die alte Generation der Arbeiterführer gewann die
Formen ihrer Weltanschauung, indem sie die großen
Ideen und die kühn aufstrebende Logik jener Meister
des Sozialismus buchstabierte. Das Material der
aktuellen Politik und der Einzelwissenschaften blieb
zunächst außerhalb ihres Gesichtsfeldes. Sie gewan-
nen erst den festen Grundriß ihres Geistes, dann
wuchsen sie allmählich in der öffentlichen Betätigung
selbst in die Wirklichkeit der lebendigen Dinge hin-
18
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ein. Sie füllten die allgemeinen Formen, die sie be-
herrschten, stofflich aus. Die Entwicklung der ein-
zelnen hielt gleichen Schritt mit dem Aufstieg der
allgemeinen Bewegung aus kleinsten einfachsten An-
fängen. Ganz anders heute! Indem die heutige Ar-
beitergeneration in das öffentliche Leben eintritt,
flutet über sie eine unübersehbare Menge von Einzel-
erscheinungen, die schon ab bekannt vorausgesetzt
werden. Jede Zeitungsnummer redet in Namen, Be-
griffen, Tatsachen zunächst eine völlig fremde Sprache.
Das ganze Leben in seiner unermeßlichen Mannig-
faltigkeit richtet sich vor ihrem Geiste auf einmal auf
und heischt, von ihr bewältigt zu werden. In karg
bemessenen ermüdeten Stunden, mit den primitivsten
Hilfsmitteln, ohne vorher irgendwie ausgerüstet zu
sein, soll der junge Arbeiter das ganze Chaos der
Probleme im ordnenden Bewußtsein einheitlich be-
wältigen. Die Gefahr liegt nahe, daß er bei allem
hingebenden Eifer dem Anprall erliegt und statt der
geistigen Durchdringung sich auf eine äußerliche buch-
stabenmäßige, unsicher tastende und flüchtig glei-
tende Aneignung beschränkt. Heutige Zeitungen, Ver-
sammlungsreden, auch Broschüren und Bücher, selbst
Bildungsvorträge einfachster Art setzen doch immer
schon ein Maß von Kenntnissen voraus, die der junge
Arbeiter nicht besitzt. Oft macht ein einziges Fremd-
wort, das er wegen Mangels an sprachlicher Vor-
bildung nicht genau erfassen kann, ihm unendliche
Schwierigkeiten, und das halbe ahnende Verständnis
gewöhnt ihn daran, in Worten und Vokabeln, statt in
Sachbegriffen, frei nachschaffend, zu argumentieren.
Die Volksschule versagt völlig. Sie gibt ihm schlech-
terdings nichts für das Leben mit. Ich habe oft in
meinen Bildungsvorträgen, die ich auch in entlegenen
kleinen Orten halte, Gelegenheit, erschreckt zu be-
obachten, wie wehrlos die Volksschule die Jugend
macht, anstatt sie zu rüsten für die künftigen Auf-
«• 19
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gaben eines Staatsbürgers. Die Anfüllung der Ge-
hirne mit kirchlichen und geschichtlichen Legenden
ist ein Verbrechen an der Schule und den Menschen,
die ihr anvertraut sind. Die wenigen Jahre, die die
Proletarierkinder in einiger Freiheit ihrer Ausbildung
widmen könnten, werden vergeudet. Es kann gar
nicht anders sein; eine Schule, die beabsichtigt, die
Heiligkeit des Vergangenen den Seelen einzuprägen,
muß künftige Krüppel erziehen. Jede fruchtbare Bil-
dung kann immer nur von einem großen Zukunftsziel
ausgehen. Die Volksschule will bewußt von der Kul-
tur absperren, weil sie von einem Staate unterhalten
wird, dessen herrschende Klassen fürchten, daß eine
zu geistiger Begehrlichkeit erzogene Jugend und ein
für die Aufnahme aller Bildung gerüstetes Proletariat
nicht mehr geneigt ist, sich den kapitalistisch-feudalen
Arbeitsbedingungen zu unterwerfen, unter die die
große Masse der heutigen Menschheit gebeugt ist.
So wird die spätere Selbsterziehung des Proletariats
nicht durch die Schule vorbereitet und ermöglicht,
sondern im Gegenteil: die Bildungsarbeit muß erst
mit der Forträumung des Schulgestrüpps beginnen.
Die Volksschule liefert die Kinder an das Leben aus,
ohne wissenschaftliche, künstlerische, politisch-soziale
Disposition. Das Lehrziel der heutigen Massenschule ist
erreicht, wenn der reifende Mensch in Dunkelheit und
Unkenntnis über sich gedrillt ist. Die proletarische
Bewegung braucht aber Köpfe, die dem Bürgertum
nicht nur gewachsen, sondern überlegen sind.
Wie können die Arbeiterorganisationen mit ihren
bescheidenen Mitteln diese Aufgabe lösen ? Ein ganzes
Heer von Wissenschafts- und Kunstbeamten wird
besoldet, nur um ein paar tausend Söhne der besitzen-
den Klassen für die Regierung und Verwaltung, für
den Rechts- und Medizinbetrieb, für die Forschung
und die Kunst zu erziehen. Der Staat verfügt über
eine zahllose Menge von besoldeten Sachverständigen,
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deren ganze Lebensaufgabe darin besteht, irgendein
Teilproblem, eine einzelne Frage des politischen und
sozialen Lebens zu bearbeiten. Was die gesamte
Staatsmacht für eine winzige Minderheit, nicht einmal
allzu reichlich, leistet, sollen die Millionen der Besitz-
losen aus eigener Kraft sich selber geben. Ist diese
Aufgabe einer wissenschaftlichen, künstlerischen, sitt-
lichen und auch körperlichen Gesamterziehung durch
sich selbst überhaupt denkbar, geschweige zu lösen?
Ohne die stärksten Erzieher, das harte Leben selbst
und den aufs höchste gespannten Willen, wäre die
Aufgabe freilich eine leere Utopie. So aber hat sie
die moderne Arbeiterschaft in der Tat übernommen,
und sie ist rüstig an das Werk gegangen, ohne vor den
Hindernissen zurückzuschrecken. Sie weiß, daß sie
helle Köpfe braucht. Seit dem Mannheimer Parteitag
stehen die Bildungsbestrebungen im Vordergrund des
Interesses, und wenn vielleicht die Bewegung selbst
äußerlich in den letzten Jahren stiller geworden
scheint und weniger in die Ohren wirkend, so ist es
eben die geräuschlose und tiefe Arbeit scheinbaren
Rastens, die unabhängig von allen lauten Erfolgen des
politischen Marktes vorwärtsdringt und Zukunft säet.
Unbeachtet blieb dieses stille Erziehungswerk nicht.
Mit dem Kriminalblick des Jahrhunderte hindurch
geübten Polizei meisters hat die preußische Staats-
gewalt die Massenbildung seit jeher nicht aus den
Augen verloren und stetig beobachtet. In dem mit
Hilfe eines entarteten Liberalismus geschaffenen
Reichsvereinsgesetzes erkennt man deutlich die Spuren
der Befürchtungen. Der Ausschluß der jugendlichen
Arbeiter unter 18 Jahren von politischen Versamm-
lungen ist gegen die neuen Jugendbildungsbestre-
bungen der deutschen Arbeiterschaft gerichtet. Längst
sind die maßgebenden Kreise auf die Lücke aufmerk-
sam geworden, die zwischen der wahrhaft preußischen
Volksschule und dem Eintritt in den nicht minder
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wahrhaft preußischen Militärdienst klafft. In dieser
Zeit vom 14. bis 18. Lebensjahr rafft sich die stür-
misch aufdrängende Kraft die Elemente der künftigen
Weltanschauung, die später nicht mehr überwunden
wird, wenigstens nicht bei den bereits ins Erwerbs-
leben gestellten drei Millionen Arbeiter und Arbei-
terinnen unter 18 Jahren. Es läßt sich voraussehen,
daß die negative Jugendklausel im Reichsvereinsgesetz
eine positive Ausfüllung durch irgendeine Form staat-
lichen obligatorischen Jugendunterrichts finden wird.
Daß man zunächst alle möglichen gutgesinnten Ju-
gendvereinigungen gründen wird, um jene Lücke aus-
zufüllen, ist ebenfalls selbstverständlich.
Außerhalb solcher besonderen staatlichen Schwierig-
keiten aber ist die ganze deutsche Entwicklung ein
schweres Hemmnis für die Durchdringung der ge-
samten Nation mit dem Kulturbewußtsein, das die
geistige und materielle Arbeit der Jahrtausende er-
obert hat. Kein zivilisierter Staat ist so sehr vom
Kommunismus der Bildung, dieser Voraussetzung
jeder wirklichen Nation, entfernt, als gerade Deutsch-
land. Die Spannung zwischen der Welt der bürger-
lichen Bildung und dem Reich der handarbeitenden
Masse hat nicht nachgelassen, sondern zugenommen.
In Preußen gibt es nur ganz selten einen Aufstieg aus
den Massen zu den Stellen höherer Ausbildung. Der
eine Student der Juristerei proletarischer Herkunft,
der bestenfalls im Durchschnitt jedes Jahr auf preußi-
schen Universitäten angetroffen wird, ist typisch für
die antidemokratische Richtung der deutschen Ge-
sellschaft. Niemals hat die deutsche Literatur Männer
hervorgebracht, die so in das unmittelbare staatlich -
gesellschaftliche Leben und in alle Breiten und Tiefen
des Volkes gewirkt haben, wie die Heroen in anderen
Kulturen. Wie eingesperrt in enge Zirkel ist schließ-
lich ein Lessing oder ein Schiller (die übrigens durch
den Zwang der Rechtsordnung apolitisch sein mußten)
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gegen die weltbewegenden Voltaire oder Rousseau.
Wo haben wir heute in Deutschland einen Zola oder
Anatole France, einen Edmondo de Amicis oder Björn-
son, einen Tolstoi oder Gorki, einen Ruskin oder
Crane! Wo ist bei uns die University extension, die
in den angelsächsischen Kulturen blüht, wo die Stu-
denten, die ihr höheres Wissen dermaßen in den Dienst
des allgemeinen Unterrichts stellen ? Steigt einmal
ein Professor zu den Massen bei uns herab, so will er
bekehren. Daher das tiefe Mißtrauen gegen alle
Volksbeglückerbestrebungen von oben, das in der
deutschen Arbeiterschaft häufig herrscht.
Diese nationale Zerreißung wirkt zunächst un-
günstig auf die Intellektuellen selbst. Wissenschaft
und Kunst werden exklusiv, verschwenden ihre Kraft
in den geistig minder begehrlichen privilegierten Klas-
sen und werden schließlich in ihrem innersten Wesen
deformiert, indem sie sich einerseits den Weisungen
der Staatsgewalt und dem Geschmack des kaufkräfti-
gen Publikums anpassen, sodann aber, ihre innere Un-
fruchtbarkeit für eine wahrhaft nationale Bildung
empfindend, sich in spezialistischen Dünkel verlieren.
Losgelöst von dem Mutterboden des Volkstums wer-
den ihre Träger ein Erzeugnis der Familieninzucht
und erreichen so auch an persönlicher Fähigkeit bei
weitem nicht das mögliche Maß.
In der Rückwirkung auf die Masse der geistig Ent-
behrenden und Begehrlichen äußert sich diese bekla-
genswerte Trennung der Intellektuellen von der auf-
steigenden Klasse darin, daß es nun auch im deut-
schen Proletariat an erziehenden Kräften mangelt.
Es schwillt zwar das geistige Proletariat an, aber diese
Kraft liegt brach, verkümmert und wird nicht nutz-
bar gemacht für die Kulturbewegung des Proletariats.
In den großen Industriezentren kann für die geistigen
Bedürfnisse der Arbeiterschaft noch allenfalls gesorgt
werden. Sowie man aber von der Heerstraße abbiegt,
23
trifft man überall in Deutschland jene Arbeiter-
organisationen, die sich mit unsäglich rührendem
Eifer wissenschaftlich und künstlerisch zu bilden
suchen und die doch aus der Wirrnis nicht heraus-
kommen, weil es ihnen an jeder Anregung durch eine
berufsmäßig geschulte Kraft fehlt. Die große Ge-
meinde der Freien Volksbühne in Berlin hat wohl die
Mittel, die Arbeiterschaft zum Genüsse der neunten
Symphonie zu sammeln. In Berlin ist eine Arbeiter-
bildungsschule möglich, gedeihen gewerkschaftliche
Fortbildungskurse, ist sogar eine Arbeiterakademie ge-
gründet worden. Ähnliche Bestrebungen sind noch
in einigen anderen großen Städten erfolgreich. Aber
wer in die Provinz hinausgeht, der hat etwa Gelegen-
heit einer Märzfeier beizuwohnen, zu der die strebende
Arbeiterschaft des Ortes mit großen Opfern — schon
die Ersetzung der Kosten der Eisenbahnfahrt ver-
schlingt die mühseligen Beiträge von Monaten —
zwar einen bekannteren Festredner aus der Ferne sich
hat kommen lassen, wo dann aber eine elende Dorf-
kapelle zu Ehren der Märzgefallenen den Walzer au&
der Lustigen Witwe kratzt und ein erbarmungswürdiger
Gesangschor in dem Mindestmaße von Zeit das
Höchstmaß von falschen und unreinen Tönen erzielt >
Diese Erscheinung verdient keinen Spott, sondern sie
enthält die tiefe Tragik der besten Elemente der Na-
tion, die nicht nur ausgeschlossen sind von den ma-
teriellen Gütern des Lebens, sondern deren heißer
Drang nach geistigem Brot nur mit Steinen befriedigt
werden kann. Hier entblößt sich aber auch die schwerste
Schuld der deutschen Intellektuellen. In allen Zentren
lungern müßig und verdrossen junge Gelehrte, Künst-
ler, Dichter, Maler und Musiker, die ihr Los beklagen,
weil sie ins Leere arbeiten. Sie darben materiell und
seelisch, da sie im Grunde keine Mission haben. Die
Arbeiterschaft aber wendet verhältnismäßig hohe Be-
träge von ihren niedrigen Löhnen an, um sich die
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Möglichkeit wissenschaftlicher und künstlerischer Er-
ziehung zu leisten. Die Nachfrage nach Kräften ist
groß, das Angebot gering und oft von minderem Wert.
Ist ein Ausgleich möglich, wird irgendwo ein Weg sicht-
bar, der in Deutschland die Intellektuellen der großen
nationalen Bildungsaufgabe dienstbar machen könnte t
Es ist wenig Hoffnung. Jene jungen Leute besserer
wissenschaftlicher Ausbildung und künstlerischen Ta-
lents müßten vor allem sich daran gewöhnen, ohne
all die Eitelkeit und den Plunder eines höheren Men-
schentums als schlichte Arbeiter unter die Arbeiter
zu gehen, ohne irgendeinen anderen Ehrgeiz, als von
ihren Kräften aus reinem Willen der Allgemeinheit
zu leisten, was sie vermögen. Dennoch scheint es mir
nicht ganz ausgeschlossen, daß sich allmählich in den
wissenschaftlichen und künstlerischen Bezirken Produ-
zentenorganisationen bilden, für die die Arbeiter
dann die Konsumgenossenschaften bilden. Insbeson-
dere ließe sich auf künstlerischem Gebiete eine derar-
tige Organisation schaffen. Eine Gruppe von jungen
ehrlich strebenden und leistungsfähigen Künstlern
aller Art, die der Arbeiterschaft für all ihre festlichen
Veranstaltungen zur Verfügung stände, könnte auch
wirtschaftlich ihr Fortkommen als Berater und Mit-
wirkende der Arbeiterbestrebungen finden. Auf dem
künstlerischen Felde wäre das Mißtrauen leichter zu
überwinden, als auf dem wissenschaftlicher Aufklä-
rung. Aber auch hier ist eine Annäherung zwischen
den Lagern, ein ehrliches Verhältnis gegenseitigen
Vertrauens und gegenseitiger Bildung, ein immer
dringender werdendes Bedürfnis.
Der Kommunismus der Bildung ist nicht zum
wenigsten eine Lebensbedingung der berufsmäßigen
Bildner. Das Wesen der Bildung selbst steigt mit ihrer
Verallgemeinerung. Sie wird Natur, indem sie Kultur
der Gesamtheit durchführt; und vor allem würde die
Sozialisicrung der Bildung jenen geschichtlichen Fluch
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von der deutschen Kultur nehmen, der die geistige
Trainierung in Gegensatz zur Erziehung des Willens
geleitet hat. Alle Bildung ist letzten Endes
Strategie des Willens. Das Elend der deutschen
Politik, die Ausschaltung der Nation von der Leitung
seines eigenen Schicksals, die politische Farblosigkeit
und Unreife der deutschen Nation, die kleinbürgerliche
Unentschlossenheit und Charakterschwäche eines Vol-
kes, das sich niemals die demokratische Selbstbestim-
mung erobert hat, beruht in der Wurzel auf der Zer-
klüftung der allgemeinen Bildung, die nicht nur die
Menschen auseinandergerissen hat, sondern auch den
Intellekt und den Willen, die Idee von der Tat. Erst
der Kommunismus der Bildung wird aus der bloßen,
sich selbst genügenden Literatur eine Kultur des
Handelns gestalten.
[Mai 1908.]
Anmerkung 1918. Hier wurden vor einem Jahrzehnt
Entwickelungen angedeutet, die sich heute unter dem Mode-
wort vom tätigen Geist — in aristokratistelnder Benommen-
heit — literarisch aufdrängen. Die organisierte Bildungs-
arbeit im deutschen Proletariat wuchs immer mehr in die
Breite; auf dem Nürnberger Parteitag 191 8 erregte ich als
ihr ketzerischer Kritiker den übereinstimmenden Unmut der
Delegierten. Ich schlug neue Wege vor, die aber auch —
dort wo sie versucht wurden — nicht zum Ziele führten.
Das Grundübel steckte in der verdorrten Seele der Organi-
sation. In den letzten Jahren vor dem Kriege entstand — in
merkwürdiger Ubereinstimmung mit den stürmischen Emanzi-
pationsregungen der bürgerlichen Jugend — auch in der
proletarischen Jugend eine neue Geistigkeit, die auf indi-
viduelle Willensbildung gerichtet war; das war die ver-
heißungsvolle Bewegung der „Achtzehnjährigen", die aber
von den alten Routiniers der Partei und Gewerkschaften mit
wachsendem Mißtrauen beobachtet und in ihrer Freiheit
mehr und mehr von den Aufsichtsinstanzen beengt wurden.
Der Krieg hat diese jungen Arbeiter fortgeschleppt und die
gleichgesinnten Mädchen Granaten drehen lassen.
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Religion des Sozialismus
Eines Sonntags im Herbst 1908 sollte ich in
einer Volksversammlung zu Abenberg spre-
chen, einem abseits gelegenen fränkischen Städt-
chen, zu den sieben Orten gehörig, die sich um
den Ruhm streiten, die allein echte Stammburg
der Hohenzollern zu bergen. Es ist eine katho-
lische Enklave; die fleißigen und still versonne-
nen Frauen mühen sich in der überlieferten
Heimkunst der Silberspitzenklöppelei. Es
war die erste sozialdemokratische Versamm-
lung im Ort. Ich durfte also nichts voraus-
setzen und mußte unmittelbar den Zugang zu
den unverbildet empfänglichen Gemütern fin-
den. Ich hatte angekündigt, daß ich über „Reli-
gion des Sozialismus" sprechen wollte. Aber
schon die Überschrift hatte man nicht ver-
standen und geglaubt, ich würde über „Reli-
gion und Sozialismus" reden, über die berühmte
Privatsache und dergleichen. Ich hatte mir zu-
vor vergebens überlegt, wie ich das gewählte
Thema ausführen könnte. Noch als ich im Ver-
sammlungssaal stand, und der Vorsitzende sich
anschickte, mir das Wort zu geben, hatte ich
keinen Plan, nicht einmal den Anfang. Mich
bedrückte die Fremdheit dieser Hörer. Da, im
letzten Augenblick, als ich die andächtig sitzen-
den Menschen vor mir sah, flogen mir die Ge-
danken und Worte zu, und ich improvisierte
die Ausführungen, die ich hier in einer Jahre
später durch den Druck verbreiteten Skizze
wiedergebe.
Der Vortrag hatte Folgen. Der Pfarrer des
Ortes, der zur Versammlung eingeladen, aber
nicht erschienen war, predigte vorher und nach-
27
her fanatisch in der Kirche gegen mich. Da er
nicht wußte, was ich gesagt, und auch meinte,
ich hätte über die Stellung der Sozialdemokratie
zu Religion und Kirche gesprochen, holte er
gegen mich vor, was er in den München-Glad-
bacher Agitationsheften gefunden haben mochte.
Seine Gemeinde, soweit sie mich gehört hatte,
wurde durch die fortgesetzten Angriffe des
Geistlichen gegen mich, aufgebracht, weil man
erkannte, daß er gegen eine von mir gar nicht
gehaltene Rede schimpfend loszog. Und als der
Pfarrer schließlich sogar bei einem Begräbnis
(eines meiner Hörer) gegen mich predigte, um
angesichts des Todes und der ewigen Verdamm-
nis vor dem Verführer zu warnen, kam es zur
offenen Empörung der Gläubigen gegen ihren
Hirten, die, wenn ich mich recht entsinne, da-
mit endigte, daß man es für geraten hielt, den
Heißsporn an einen anderen Ort zu versetzen.
Es gibt Hunderte von Religionen auf der Erde, ver-
schieden in ihren Vorstellungen und Lehren, in ihren
Organisationsformen und ihrem Verhältnis zu den
staatlichen und gesellschaftlichen Verfassungen. Aber
eines ist allen Religionen gemeinsam: ihre letzten
Ursprünge verlieren sich im Dunkel der Vorzeit, und
auch die Formen, in denen sie sich heute noch be-
tätigen, sind vor vielen Jahrhunderten gebildet wor-
den. Die jüngste unter den großen Weltreligionen,
der Islam, ist fast dreizehn Jahrhunderte alt. Seitdem
sind wohl neuere Sekten entstanden, auch konfessionelle
Abspaltungen, aber eine wirkliche neue, machtübende
Religion ist nicht mehr erwachsen. Es scheint mithin,
als ob die Menschen und Völker der neuen Zeit die
Kraft verloren hätten, aus ihren eigenen gegenwärtigen
Lebensbedingungen heraus eine Religion zu gestalten,
gleichwie die Baumeister der Gegenwart nicht mehr
vermögen, jene Wunderwerke religiöser Kulte zu
schaffen, die im Mittelalter errichtet worden sind.
28
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Wie seltsam, daß die heutige Menschheit ihre reli-
giösen Bedürfnisse in geistigen Gebilden befriedigt,
die in anderen Ländern, anderen Völkern, anderen
Sprachen und von Grund aus anderen politischen,
sozialen und kulturellen Verhältnissen sich entfaltet
haben! Die Religion verheißt uns, die schwersten
Fragen unseres Daseins zu beantworten, unsere tiefsten
Sehnsüchte zu befriedigen; die Fragen und die Sehn-
süchte wurzeln in unserm heutigen Leben, drängen
aus den Zuständen, Gärungen, Nöten unserer heutigen
Zeit, aber die Antworten suchen wir in der Weisheit
fremder verschollener Jahrtausende, und wir stillen
unsern Durst in den Zisternen, die in der Morgen-
dämmerung der Geschichte befruchtender Regen ge-
füllt hat.
Liegt hier nicht ein unlösliches Geheimnis verborgen ?
Heißt es nicht in Wahrheit, daß unsere religiösen
Triebkräfte erloschen sind, wenn wir uns begnügen
mit der Überlieferung von Religionen, die die Völker
überwundener Kulturen sich gebildet haben, anstatt
daß wir selbst, gleich unseren Vorfahren, die Fähigkeit
betätigen, unser Leben von heute in religiöser Einheit
zu beseelen ?
Dieser Widerspruch wird um so schroffer, wenn wir
das Wesen aller alten Religionen uns vergegenwärtigen.
In allen alten Religionen, die heute noch herrschen,
spiegeln sich deutlich die sozialen und politischen Ver-
hältnisse, die natürlichen und geistigen Lebensbedin-
gungen ihrer Entstehungszeit. Sehen wir von allen
einzelnen Religionen ab, so erkennen wir insgemein,
daß sämtliche alten Religionen aus dreifacher
Wurzel erwachsen sind: aus der Ohnmacht
des Menschen vor der Natur, aus der Wehr-
losigkeit des einzelnen gegen die gesell-
schaftliche Ordnung, in die er hineingeboren
worden ist, aus der Furcht der Sterblichen
vor dem Tode.
29
In seiner Religion setzt sich der Mensch der Ver-
gangenheit zunächst mit den ihn bestimmenden Na-
turgewalten auseinander. Die Menschen jener Ver-
gangenheit haben keinerlei Naturerkenntnis. Alles ist
ihnen wunderbar, rätselhaft, schrecklich. Weil sie die
Natur nicht kennen, beherrschen sie sie nicht, und weil
sie die Naturkräfte nicht beherrschen, fürchten sie sich
vor ihnen. Dem Gewohnten lernen sie schließlich ver-
trauen, aber jede Unregelmäßigkeit muß ihnen un-
heimlich, grauenverkündend erscheinen. Religions-
forscher haben darauf hingewiesen, wie sehr die Gottes-
vorstellung des Judentums, aus dem das Christentum
entstanden ist, noch durch die ursprüngliche Heimat
der Israeliten bestimmt sind, am Fuße eines Vulkans,
der in friedlichen Zeiten die Weinberge und Saaten
fröhlich gedeihen läßt, aber im Zorn alles Leben
ringsum in Glut und Asche zerstört. Der Mensch
jener Zeiten freut sich der lebenspendenden Sonne, die
vom blauen Himmel herunterstrahlt. Plötzlich ballen
sich schwarze Wolken zusammen, ein wirbelnder Sturm
bricht wie aus einem unbekannten Lande heulend her-
vor, ein furchtbares Krachen dröhnt aus dem eben
noch so stillen Himmel, und feurige Schlangen laufen
zischend über die aufgeregte Welt. Und plötzlich
schnellt eine dieser Schlangen herab. Die Hütte, die
eben noch gegen die strömenden Himmelsfluten Ob-
dach gewährte, geht in Flammen auf, und Menschen
und Tiere, die atmenden, sind auf einmal aus dem
Leben geschleudert — Leichname. Wie soll sich
dieser Mensch das schreckliche Schauspiel deuten, er
weiß nicht, was ein Gewitter ist. Aber sein Denken
sucht nach einem Grund der Zerstörung, und so ent-
steht die Vorstellung von dem strafenden Gott, der
ihm ob seiner Sünden zürnt. Zerknirscht betet er und
opfert er, um den Zorn des Gewaltigen zu beschwich-
tigen. Und siehe da, der Himmel heitert sich auf und
über dem ganzen Gewölbe spannt sich ein wunderherr-
30
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liches Farbenspiel, wie ein Zeichen der Erhörung,
eine Brücke der Versöhnung. Die Menschheit von
heute weiß, was ein Gewitter ist, sie weiß, wie ein
Regenbogen entsteht. In jedem naturwissenschaft-
lichen Laboratorium lassen sich ähnliche Erscheinun-
gen wie Gewitter und Regenbogen künstlich her-
stellen. Noch mehr, auch die himmlischen Gewitter
können wir Menschen zähmen, wie ein Haustier, und
wenn noch so sehr der große Geist im Himmel uns
zürnen mag, er hat keine Macht mehr über uns, wir
bändigen seine Blitze, daß sie keinen Schaden anzu-
richten vermögen. Wir brauchen bloß auf das Dach
einen kupfernen Stab mit einer vergoldeten Spitze zu
setzen und kein Gewitter kann uns etwas anhaben.
Der Blitzableiter ist stärker als alles Zürnen der Natur.
In den Dörfern läutet man wohl auch heute noch die
Glocken, wenn ein Gewitter heranzieht, aber die
Kirche selbst vertraut man doch nicht dem Schutz des
Glockenläutens an, sondern ganz oben findet sich auf
dem Turm, vorsichtshalber, ein Blitzableiter.
Wenn den Menschen der Vergangenheit nächtlich
unter den vertrauten Sternbildern plötzlich ein blut-
roter, langgeschwänzter Fremdling erschien, so war
für sie das Vertrauen in die gewohnte Ordnung der
Natur auf einmal erschüttert. Woher die düstere Er-
scheinung? Ein Vorzeichen, eine Zuchtrute, die An-
kündigung furchtbarer Strafen für die sündige Mensch-
heit. Heute überrascht uns kein Komet. Der Astro-
nom hat seine Schleichwege aufgespürt, und er be-
rechnet seinen Lauf. Und er prophezeit : dieser Komet
wird im Jahre 2786 am 12. Juli 1 Uhr 38 Minuten
22^8 Sekunde nachmittags wieder zum Vorschein
kommen, und er ist sicher, daß der Gast sich pünkt-
lich einstellen wird. Jeder Zeitungsleser weiß heute
schon Monate voraus, wann ein Komet erscheinen wird.
Es gibt keine Überraschung, also auch kein Erschrecken.
Wir ängstigen uns auch nicht, wenn die Sonne sich'
3i
plötzlich beschattet; wir glauben nicht, daß dann ein
böser Geist die Sonne verschlingt, denn jeder Schul*
hübe weiß, welch harmlose Erscheinung eine Sonnen-
finsternis ist. Meer und Hochgebirgsind keine Schrecken
mehr für uns ; denn wir beherrschen mit unsern Schiffen
<lie furchtbarsten Stürme und unsere Eisenbahnen
klettern zu den höchsten Gipfeln empor. Dieselbe
Kraft, die das Gewitter unsern Vorfahren so schreck-
lich machte, heute in den Dienst menschlicher Arbeit
gestellt, ermöglicht uns, über Hunderte von Meilen
hinweg zu schreiben, zu sprechen, zu hören, Wasserfälle,
Ströme zu verwandeln in Licht und Kraft, die unsere
Nächte taghell machen und unsere Maschinen treiben,
daß wir heute in einem Tage mehr Güter zu erzeugen
vermögen als die frühere Menschheit in einem Jahr-
hundert. Selbst Ausbrüche von Vulkanen, die auch
heute noch Tausende und Hunderttausende von Op-
fern in wenigen Sekunden zu mähen vermögen, be-
trachten wir nicht mehr als Strafen für menschliche
Versündigung. Wir kennen die natürlichen Ursachen
<ier Erdbeben, und die heutige Menschheit antwortet
auf solche furchtbaren Katastrophen nicht mit brün-
stiger Verzweiflung, sondern sie ruft die Solidarität
der Menschheit an, um Hilfe zu spenden, und sie stellt
•dem Ingenieur die Aufgabe, erdbebensichere Häuser
zu konstruieren, damit die stürzenden Trümmer nicht
Leben erschlagen.
So hat sich unser Verhältnis zu den Naturgewalten
von Grund aus umgeändert. Keine Spur mehr der
Anschauung ist uns geblieben, die in jenen alten Re-
ligionen die Vorstellungen der Angst und Verzweiflung
geformt hat. Wir fürchten die Natur nicht mehr, wir
durchdringen ihre Wunder, ihre Kräfte sind der
Grundquell all unserer heutigen Kultur. Wir lieben
die Natur, wo sie groß und erhaben ist, das stürmische
Meer, der einsame Gletscher erfüllt uns mit Andacht
und stolzer Verehrung, seit sie wegsam für uns ge-
32
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worden. Wir glauben an die Natur, weil wir sie
kennen, wir preisen ihre Kräfte, und wir wissen keine
höhere Aufgabe, als ihre Geheimnisse immer tiefer zu
ergründen, und die unbeirrbaren Gesetze ihres Wesens
der menschlichen Freiheit dienstbar zu machen. Die-
ses triumphierende Gefühl ist die Religion der heutigen
Menschheit, und so erkennen wir, daß sich in Wirk-
lichkeit doch über allen alten Religionen eine neue
mächtige Religion gestaltet, die unser heutiges Leben
auf der ganzen Erde beherrscht: die Religion des So-
zialismus, der aus der Entfaltung der Naturkräfte seine
neue herrlich aufsteigende Zuversicht gewinnt.
Wie der Mensch der Vergangenheit das Verhältnis
seiner Ohnmacht zur Natur in düsteren religiösen
Schreckvorstellurigen umdeutet, so gibt ihm seine Re-
ligion auch die Auskunft über die furchtbaren Ängste
seines politisch-gesellschaftlichen Daseins. Diese Re-
ligionen sind entstanden und entfaltet in einer Zeit,
da die große Masse der Menschheit aus Sklaven be-
stand, das heißt aus Rechtlosen, aus Sachen, mit denen
ihre Herren und Peiniger treiben durften was sie
wollten. Dieses Dasein war für die große Masse in der
Tat ein Jammertal, aus dem es kein Entrinnen gab.
Man hätte ohne die Religion schließlich am Leben
verzweifeln müssen. Warum sind wir arm und jener
reich? Warum müssen wir alle Unbill dulden und
jene dürfen uns quälen, ausbeuten, töten, ganz nach
Willkür ? Dieser Wahnsinn der menschlichen Ver-
hältnisse läßt sich nicht lösen. Vielleicht erheben sich
einmal die Sklaven in auflodernder Wut gegen ihre
Herren. Aber die Gewalt schlägt sie nieder und es
wird schlimmer denn zuvor. Die große Masse der
Menschen ist ohnmächtig gegen die Gesellschaftsord-
nung, in der zu leben sie schuldlos verurteilt worden
sind. Aber die menschliche Vernunft empört sich
gegen dies unerträgliche Schicksal; und weil die Körper
sich nicht zu wehren vermögen, so suchen die Seelen
Bitoer. G«aramelte Schrille«. II.
33
eine Zuflucht. Das kann doch unmöglich der Zweck
des menschlichen Daseins sein, so jammervoll dahin-
zugehen, die Herzen voll von Sehnsucht nach Glück
und Freude und immer nur gemarterte, mißhandelte
hungernde und frierende Lasttiere der Arbeit! Aus
diesem Zwiespalt vernünftigen Denkens und sinnlos
grausamer gesellschaftlicher Zustände entsteht der
Flucht- und Zufluchtsgedanke des Jenseits: wenn
dann in diesem Leben es keine Erlösung gibt, so muß
nach dem Tode dennoch das wahre Leben der Ge-
rechtigkeit und Freiheit beginnen! Das war der not-
wendige Trostgedanke, der die Menschen vor dem
Zusammenbruch rettete, und das war die große nie-
mals verächtlich zu wertende Leistung des Christen-
tums, daß es die Sklaven lehrte, das Leben zu ertragen.
Wir wissen wohl, wie schmählich später die weltlich -
politische Organ'sation der Kirche diesen frommen,
heiligen und heilenden Trostgedanken mißbraucht
hat, indem sie ihn umkehrte und zu einem Werkzeug
der Unterdrückung fälschte. Der Skave erträumte
den Himmel, weil er im Diesseits ohnmächtig war,
sein furchtbares Dasein zu erlösen. Daraus fälschte
man die Lehre, weil der Sklave des Himmels gewiß
sein muß, soll er sich hienieden in alle Gewalt s-iner
Peiniger geduldig fügen. Dennoch, jener Gedanke der
Erlösung war in seinem Ursprung selbst Erlösung.
Man begreift nun auch, wie die alten Religionen die
Jahrhunderte überdauern konnten, denn die soziale
Ohnmacht der beherrschten Klassen wie des einzelnen
gegenüber der bestehenden Rechtsordnung dauerte
bis in die neueste Zeit unverändert, ungemildert. Der
leibeigene Bauer, der bis an die Schwelle der Gegen-
wart die Masse des unterdrückten Volkes darstellte,
ist in Deutschland erst im neunzehnten Jahrhundert,
in Bayern erst durch die Revolution von 1848 befreit
worden. Das Industrieproletariat aber, das seitdem
entstanden ist, hat trotz aller seiner sozialen Unter-
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drückung und Ausraubung doch als Erbteil der großen
Menschheitskampfe wenigstens das Recht der freien
Geburt, der Selbstbestimmung erhalten. Der geburts^
freie Proletarier weiß, daß er nicht das wehrlose Opfer
einer durch alle Ewigkeit dauernden unentrinnbaren
Gesellschaftsordnung ist, sondern er hat erkannt, daß
alle menschlichen Ordnungen Menschenwerk und des-
halb vergänglich sind. Diese Einsicht gewann er, weil
er ja selbst mitwirkte an der Gestaltung der Rechts-
verhältnisse.
Nur ein paar Jahrzehnte zurück und es gibt keine
politische Betätigung der Masse : kein Wahlrecht, kein
Parlament, keine freie Presse, kein Vereinsrecht. Was
heute dem Proletariat das mächtigste Werkzeug der
Notwehr gegen den Kapitalismus geworden ist, das
Koalitionsrecht, war noch in einer nahen Vergangen-
heit Verbrechen der Meuterei, des Aufruhrs, des
Hochverrats; wer sich mit seinen Arbeitsgefährten zur
gemeinsamen Selbsthilfe zusammenfand oder gar durch
Arbeitseinstellung bessere Lebensbedingungen zu er-
zwingen versuchte, hatte die schwersten Strafen ver-
wirkt, Peitsche, Folter, Zuchthaus, Schafott.
Jetzt aber ist die Menschheit mündig geworden. Sie
hat die Ohnmacht in der Erduldung überkommener
politischer und sozialer Verhältnisse überwunden. Wie
immer noch unsere Rechte und Freiheiten verküm-
mert sind, wie immer noch die rohe Gewalt des Staates
wie einzelner bevorrechteter Personen die freie Selbst-
bestimmung der Masse zu lähmen bemüht ist, und aus
aufrechten, ihrer Würde und ihrer Aufgaben bewußten
Menschen zitternde Untertanen zu demütigen ver-
sucht, — wir wissen heute dennoch, daß wir stark
genug geworden sind, den Anteil an den Gütern dca
Lebens, die Rechte und Freiheiten zu besitzen, die
wir entschlossen sind uns zu erringen. Wir sind nicht
mehr ohnmächtig, wir haben im Gegenteil alle Macht,
wenn wir nur wollen, wenn wir durch gemeinschaft-
3
35
liches entschlossenes, ehern zusammenhaltendes Han-
deln die politischen und sozialen Zustände herbeizu-
führen bereit sind, die unsere Menschenvernunft uns
klar und hell zeigt: Brot, Freiheit, Glück für alle, ohne
Unterschied auf dieser Erde, in diesem Leben!
Haben wir so Macht über unser eigenes Schicksal
gewonnen, so beflügelt unseren Willen der junge
Glaube zur Tat, daß die Menschheit zu erreichen ver-
mag, was uns als Ziel ihres Strebens vorschwebt. Die-
ser Glaube an die Zukunft ist unsere Religion, die
hell, tapfer, freudig dem Leben zugewandt ist und
das Leben aller zur reichsten Blüte zu entwickeln
strebt. Die Religion des Sozialismus in ihrem Kraft-
gefühl und ihrer Daseinsbejahung hat die Verzweif-
lung des Jammertals, die Hoffnungslosigkeit des irdi-
schen Geschicks für immer überwunden.
Aber wenn auch, wie jeder uns zugeben wird, in
der Tat diese Religion des Sozialismus für die Ratsei
unseres heutigen Daseins die rechte lösende Antwort
findet, haben wir dann, so wird man fragen, wirklich
den ganzen Sinn des Lebens erfaßt, für vernünftige
Menschenzwecke wertvoll gedeutet ? Bleibt nicht
gerade dann, wenn es uns gelingt, das Dasein der
ganzen Menschheit zu all seiner möglichen und denk-
baren Herrlichkeit zu entfalten, mit verschärfter Bit-
ternis die quälende Tatsache bestehen, daß dennoch
all diese Herrlichkeit für die Menschen endigen muß
— im Tode. Der natürliche Lebenstrieb jeder
Kreatur hat sich in lähmende Todesangst verwandelt.
Nicht immer haben die Völker den Tod gefürchtet.
Aber besonders seit dem Mittelalter ist es wie eine
Geisteskrankheit über die Menschheit gekommen, daß
sie sich in schrecklichen Zuckungen vor nichts mehr
fürchteten als vor dem Ende. Und keine schwerere
Schuld hat kirchliche Machtbegierde auf sich geladen
als die Ausbeutung der Todesangst, die Marterung der
Gewissen. Dadurch erst sind die Menschen auch see-
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lisch zu Sklaven geworden. Wir haben es nie be-
griffen, wie einzelne Menschen von Fleisch und Blut,
wie wir alle, es vor ihrem Gewissen verantworten
konnten, arme gequälte Kreaturen, die schon auf
Erden die Hölle hatten, nun noch mit der gesteigerten
Hölle nach dem Tode zu ängstigen.
Was wollen wir Menschen denn im tiefsten Grunde ?
Wollen wir ewig leben? Ewig leben können, heißt
soviel wie ewig leben müssen. Das aber wäre der
Tod, die wahre Hölle alles Lebens. Wenn wir Men-
schen gezwungen wären, niemals wieder, wie wir ins
Leben kamen, so auch aus dem Leben gehen zu können,
der Lebens zwang wäre das Unerträgliche, das unser
Dasein vom ersten Tage an vergiften müßte. Nein,
es ist gnädig von der Natur eingerichtet, daß das Leben
des einzelnen, wenn es ein Weilchen sich geregt hat,
auch wieder in stillem Frieden zu erlöschen vermag.
Verhängnisvoll ist diese Geisteskrankheit für die
Entwicklung der Menschheit geworden. Denn indem
wir entsetzt und verängstet auf den natürlichen
Tod starrten, vergaßen wir den Kampf gegen den
künstlichen Tod, der vor der Zeit die Menschen
zerstört, diesen Tod, der der Fluch der Menschen-
geschichte geworden ist, und den wir, wenn nicht
fürchten, so doch hassen und bis zur Ausrottung ver-
folgen müssen. Herrlich ist es, nach getaner Lebens-
arbeit, nach Erschöpfung der Glücksspenden des Da-
seins, wieder davonzugehen. Aber es gibt keine ent-
setzlichere Vorstellung, als denken zu müssen, daß in
Wahrheit nur wenige Menschen ihr Leben leben
können. Unübersehbar die Opfer der Schlachtfelder,
auf denen in den Jahrhunderten die Jugend verfaulen
mußte. Unübersehbar die Zahl der Opfer, denen
durch Hunger, Uberarbeit, gesundheitsgefährliche Ar-
beitsverhältnisse das Leben künstlich verkürzt, ver-
kümmert, verkrüppelt worden ist. Und gibt es einen
gräßlicheren Gedanken als diese Massenerscheinung,
37
daß Millionen von armen kleinen Menschenkindern,
wenn sie kaum das Licht der Sonne erblickt und damit
das Recht gewonnen und die Sehnsucht dunkel emp-
funden haben, daß auch sie nun teilhaben werden an
den Strahlen des Lebens, sofort wieder nach wenigen
Tagen und Monaten, düsteren Vorwurf in den er-
löschenden Augen, sterben müssen, nur weil die Mütter
unter der Ungunst ihrer Daseinsverhältnisse nicht ge-
nügend an gesunder Nahrung für sie besaßen, weil sie
in den engen Wohnhöhlen tödliches Gift einatmen.
Diesem künstlichen Tod gilt der Kampf der Sozia-
listen, und unser religiöser Glaube ist es, daß wir einst
eine Menschenordnung erreichen werden, in der jeder,
der geboren ist, keine Stunde vor dem natürlichen
Ende, vor der erlösenden Ruhe vernichtet wird.
In diesem tätigen Glauben wird das Bedürfnis nach
Unsterblichkeit in all seiner sehnsüchtigen Tiefe ganz
erfüllt. Der einzelne Mensch stirbt, aber die Mensch-
heit lebt. Und daß das Leben dieser Menschheit sich
immer reicher und größer gestalte, das ist der Inbegriff
unseres Ringens und Kämpfens. In der Gemeinschaft,
der Solidarität der Menschheit wird der Unsterblich-
keitsglaube Wahrheit und Wirklichkeit. Was jeder
Gutes tut im Dienste der Menschheit, und sei es die
bescheidenste Leistung des namenlosen, ärmsten Man-
nes im fernsten einsamsten Dorfe, das kann niemals
untergehen, darin verbürgt sich seine persönliche Un-
sterblichkeit, das ist die Aussaat seiner unsterblichen
Seele in alle Ewigkeit. Zu diesem schöpferischen Un-
sterblichkeitsglauben steigt die Religion des Sozialis-
mus gipfelan.
Sieben Briefe. An eine Freundin.
I.
Natur und Kultur.
. . . Wie ich von Dir Abschied nahm, war es das
letzte Mal, daß ich einem Menschen die Hand drückte,
in dem. Begehren, sie fest zu halten. Nun bin ich alt
geworden, und es ist vergeblich, noch Krieg gegen das
Alter zu führen. Ich schließe meinen Frieden mit
dem ergrauenden Haar. Es ist das sicherste Zeichen,
daß mein Leben zum Abend hinabrinnt, daß ich auf-
gehört habe, mich nach irgendeinem bestimmten
Menschen zu sehnen. Nur nach der Menschheit drängt
sich mein Sinn, nur in ihrer Idee erfüllt sie mein Ge-
müt mit Wärme und Licht. Wenn man leiblich ab-
stirbt, erwacht ganz, mit allmächtigem und ausschlie-
ßendem Zwang die große Sache und heischt Hingabe
bis zum letzten Blutstropfen; wenn man nicht einen
Menschen mehr zu lieben vermag, beginnt man die
Milliarden des ganzen Menschengeschlechts zu lieben,
die vor uns waren, mit uns wandeln und nach uns zur
Sonne schauen werden.
Und dennoch ! Ist es ein Rest noch von unüberwind-
licher Jugend? In dem Augenblick, wo ich wußte,
daß ich von allem Persönlichen mich für immer
trennte, erwachte in mir die drängende Lust, geistig
mit Dir zu wandern, die ich niemals wiedersehen werde;
tief aus dem Herzen mit Dir zu reden, deren Stimme
ich nicht mehr hören werde; endlich Dich mir zu
erringen, die Du ein Weilchen mein zu sein schienest,
und mir doch nie gehört hast. Jetzt, wo alles Sterb-
liche zwischen uns zerronnen ist, will ich zu Dir
39
reden, wie in eine weit verlorene Ferne, die ich zu mir
locken will. Ich will Dich zu mir bekehren, jetzt, da
es zu spät ist, ein rechter altmodischer Schwärmer, der
die Heimat seines Gefühlslebens in einer längst ver-
schollenen Zeit hat, während er äußerlich hart und
nüchtern und klügelnd auf dieser Erde kämpft, die
das Fühlen verlernt hat. Ich baue Dir meine Welt
auf, Dir ganz allein, wie einem einsamen verstoßenen
Kinde zu Weihnacht, die ein Wunder ihm bescherte.
Ich muß endlich einmal reden wie ein Mensch, der
sich selbst zu bekennen wagt, mit all seiner Wärme,
seiner Begeisterung, seiner Empfindsamkeit und der
ganzen Trauer seiner unbefriedigten, friedlosen Un-
geduld.
Gelingt es, einen guten Menschen für eine Sache
zu bekehren, dann ist der Sieg dieser Sache gewiß.
So laß uns also gemeinsam wandern. Sei willig dem
alten Schulmeister mit dem spottenden Verstand und
dem törichten Herzen, das nicht zu entsagen lernt . . .
Ist es nicht seltsam, daß ich in all den Jahren, da wir
beieinander lebten, im Grunde niemals mit Dir von
den Dingen gesprochen habe, die mich bewegten?
Ich gab Dir wohl einmal ein Buch mit einer scheuen,
fast stummen Widmung. Ich lockte Dich wohl auch
ein paarmal in eine Versammlung, in der ich sprach.
Du lasest die Bücher und sprachst nicht darüber. Du
hörtest die Reden und schwiegst bewegt. Ich wußte
nie recht, wie tief das alles in Deine Seele drang. Aber
vielleicht ist es immer so, daß man gerade zu dem
Nächsten nichts von alledem spricht, was uns am
nächsten ist.
Nun aber haben wir doch einmal davon gesprochen.
Und das war, als wir für immer uns voneinander
wandten.
Wir stiegen aus den Bergen hinunter. Das Leben
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auf einer Einöde, in die wir eingekehrt waren, hatte
uns sonderbar berührt. Da spielte sich nun weitab von
allem Menschengewimmel ein Lebensschicksal ab im
steten Kampf mit den Launen der Natur, und nur
aus unendlicher Ferne drang das Brausen des großen
Daseins herüber. Nur die Marktpreise des Viehs ver-
knüpften die kleine Familie, die dort oben hauste, mit
dem Getriebe der Welt. Und wenn nicht etliche Ma-
schinen in den Schuppen gestanden hätten, so hätte
man glauben können, daß dort drei Jahrhunderte
spurlos vorübergegangen wären, seitdem der Urahne
auf felsigem Grunde dort oben das wohlbefestigte Ge-
mäuer aufgeführt. Nichts hatte sich scheinbar ge-
ändert. Die Zeit stand still, während die Arbeit gleich-
mäßig und rastlos die Tage verband und die einfachen
und großen Freuden und Schmerzen des Menschen-
geschlechts wechselten: Geburt und Tod, Liebe und
Scheiden. Ein freies Menschenhäuflein, in sich ab-
geschlossen, unabhängig von dem Volke der Tiefe, mit
harten rissigen Händen, dem Sturm und dem Wetter
die Frucht des Bodens abtrotzend, die Fruchtbarkeit
der Tiere sorgsam fördernd und überwachend.
Nachdenklich gingen wir den Weg zu dem Eisen-
bahnzug, der uns wieder in die große Stadt führen
sollte. Das Gefühl überkam uns, das wir Großstädter
empfinden, wenn wir in einsame Menschensiedlungen
verschlagen werden, wenn wir nächstens im Eisenbahn-
zug an hundert stillen Dörfern vorüberhuschen, in
denen ein paar Lichtlein aufblinken. Wie sonderbar,
daß überall Menschen die Möglichkeit des Lebens
finden, daß sich in solcher Enge und Losgelöstheit
überhaupt Leben abzuspielen vermag.
Wir gingen schweigend. Der späte Herbst, den die
Abendröte noch tiefer erglühen ließ, hielt in sehnender
Angst noch die letzten blutenden Blätter fest, daß sie
ihm nicht entweichen möchten. Schon stieg im Tal
dichter, kältender Nebel herauf. Die Einsamkeit über-
41
mannte uns. Die Natur war auf einmal verlassen, und
entseelt. Mich drängte es nach Menschen, nach dem
lärmenden Treiben der Stadt, nach dem gehäuften,
getriebenen, erhitzten Dasein; nach den rauchenden
Schloten, den surrenden, dröhnenden Maschinen» nach
Bogenlampen und Straßenbahnen, nach der ganzen
chaotischen Wildheit, mit der der Menschenwitz die
Natur überlistet und übersteigert hat.
Und ich begann zu reden von der ganzen Welt der
Industrie, von der Erhabenheit der Technik und von
der neuen gewaltigen Bindung und Bildung der Men-
schen, die der Kampf des Proletariats und die Erlöser-
kraft der sozialistischen Idee dereinst gewißlich er-
ringen würde. Wie klein und arm dieses Dasein des
Dorfes, gar der Einöde! Nur wo die Menschen in
ihrer Fülle schaffen und wirken, begehren und
opfern, ringen und rütteln; wo die Konflikte eines
unübersehbar verästelten Daseins erbarmungslos an-
einander prallen; wo das Leben in tausendfältiger
Qual, in ungeheurem Chor des Schreckens aufschreit;
wo niemand den andern kennt, und wo dock gerade
deshalb erst das Bewußtsein der Menschen erwacht —
nur dort ist das Leben wert, gelebt zu werden!
Da beugtest Du Dich zur Erde und, als ob Du
endlich nach vieljährigem Nachdenken den Entschluß
einer letzten unveränderlichen Antwort gefunden hät-
test, sagtest Du leise, ein wenig zitternd: Ich fühle
nichts von dem, was Du fühlst. Ich begreif's nicht
einmal im Grunde. Deine Ideale bewegen mich nicht,
und das, was Du Leben nennst, ist mir Widerwille
und Qual. Ich hasse die zusammengedrängten Men-
schen, die sind niedrig, voll schmutziger Begierden
und entarteter Instinkte — in tausend Abhängigkeiten
eingeschnürt — , und die stete Gefahr, die sie zu ver-
nichten droht, schärft ihre unedelsten Triebe, Keiner
spricht, was er denkt. Niemand vermag m$hr ein
kindliches, echtes, ungebrochenes Gefühl aufzubrin-
42
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gen. Ich glaube nicht daran, daß diese Menschen er-
löst sein wollen und daß sie sich erlösen können. Ihre
Seelen sind vergiftet, wie die Luft, die sie mit ihrer
Arbeit verpesten. Sie sind feig, unterwürfig und bos-
haft. Wenn ich unter ihnen gehe, so ist mir, als ob
tausend Blicke tückisch mich hetzen und beschimpfen.
Ich hasse Deine Kultur, für die Du lebst. Sie hat dem
Menschen das Glück genommen und noch mehr die
Güte. Ich will nicht mit Dir in die Stadt gehen. Laß
mich zurückkehren zu der Einöd und dort bleiben.
Dort kann ich frei und unabhängig sein. Wenn ich
den Hühnern ihr Futter streue, wenn ich die Saat
sprießen, die Rosen blühen sehe und das Hausgetier
friedsam die paar Begriffe seines Daseins austönen höre
— dann wird mir warm, und ich fürchte mich nicht
mehr vor dem Leben, das mich ängstigt.
So sprachst Du, und da kam über mich die Er-
kenntnis, daß wir nie miteinander gelebt haben . . .
II.
Die große Unruhe.
. . . Du lehnst Dich im Grunde Deines Herzens
gegen diese ganze Welt von Erscheinungen auf, die
die gemeinschaftliche Arbeit der Menschheit in Jahr-
tausenden geschaffen, überliefert, gesichtet, verworfen,
geordnet und vermehrt hat. Du empörst Dich gegen
das, was wir Kultur nennen, ohne die Du doch am
wenigsten leben kannst. Dich schmerzt, was Dir un-
entbehrlich ist, Du willst nicht, wohin Du drängst.
Aber es ist nicht die Kultur der Dinge, die Du leug-
nest, vor der Du fliehen möchtest, sondern umgekehrt,
die mangelnde Kultur, die von den großen Dingen
noch nicht in die Menschen übergeflossen ist. Die
Dinge, die der Mensch geschaffen, leben im 20. Jahr-
hundert. Der Mensch, der sie schuf, verwest noch
in einem dunklen Mittelalter. Der Mensch hat sich
-
43
eine Welt gestaltet, in die er selbst nicht mehr hinein-
paßt. Er hat sein Werk über sich hinausgetrieben,
nun findet er sich nicht mehr zurecht in seinem eigenen
Reich, unruhig, boshaft und heimatslos. Der Mensch
hat die Erde nach seinem Bild gestaltet, das nur in
seiner Idee existiert. Er hat, so scheint es, vergessen,
sich nun wieder nach seinem Bilde zu wandeln. Du
sehnst Dich nach Natur, und Du empfindest die Kul-
tur als ihren Widerspruch, als den Feind und den Ver-
nichter des Natürlich-Menschlichen. Aber alle Qual
unserer Gesellschaft wurzelt nur darin, daß die Kultur
ein Fremdland geblieben ist, daß sie nicht Natur ge-
worden ist. Denn der Mensch hat nur eine Natur —
das, was er sich erkämpft und erschaffen hat — seine
Natur ist sein Werk.
Erinnerst Du Dich, wie wir ins Dorf hinunterstiegen
und für eine letzte Stunde in dem alten Wirtshaus
landeten, auf diesen Bänken, wo schon die Leute
sich von den Greueln des Dreißigjährigen Krieges er-
zählt haben ? Alles war uralte Einfachheit. Und wie
die Wirtin uns das Essen zubereitete, so hat man wohl
schon dort gekocht, als man in der Gemeinde kämpfte,
ob man sich der neuen Lehre Luthers zuwenden solle.
Aber über dem alten Tisch hing an einem künstlich
geflochtenen Faden ein beweglicher Schirm, der eine
gläserne Seele barg. Eine Seele, in der ein dünnes
Schlänglein zitterte. Es war finster geworden, da kam
die freundliche Wirtin zu uns, legte ihren Finger an
eine kleine Scheibe in der Nähe der Tür, und plötzlich
leuchtete das Schlänglein hell auf, und ich konnte,
ohne daß ein Mensch oder ein Gott das Wunder der
Lichtwerdung bewirkt zu haben schien, beim Leuch-
ten dieses jeden Tag neu erzeugten Gestirns, dieses
immer aufs neue aus dem Nichts hervorgezauberten
Flammenquells Dir in die Augen schauen, die Abschied
nahmen und Entsagung weinten. Du freutest Dich,
daß auch in diese verschollene Einsamkeit, mitten in
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die Unveränderlichkeit eines nicht über die alten Wur-
zeln emporgewachsenen Daseins, dieser Zauber höch-
sten Menschengeistes aufflammte. Fühltest Du nicht,
wie diese kleinen elektrischen Birnen nicht nur unser
stilles letztes Fest belichteten, sondern daß ihr Schein
in die ganze weite Welt hinausstrahlte, uns beide in
dem engen Wirtshaus des alten Dorfes verband mit
dem ganzen wilden Dasein gesteigerter Kultur, vor
dessen Härte und Wirrsal Du erliegst ? Die Flamme
war nicht denkbar ohne die ganze brausende Welt-
industrie, ohne die tausendfältig erzeugte Leistung der
Zivilisation, ohne die Massen der Arbeiter, die den
Eingebungen des Genius Leib und Glieder, Leben
und Wirklichkeit hämmern. Natur, so wie Du sie
meinst, hätte uns im Dunkel gelassen, sobald die Sonne
sinken mochte. Nicht einmal den Holzspan gibt sie
von selbst her, der rauchend und mühsam flackernd
nur Licht bringt, um zu zeigen, wie finster es ist.
Und nicht nur die Nacht wäre unentrinnbar für
uns gewesen, auch an den Ort wären wir gefesselt. Wie
immer wir voneinander strebten, wir hätten bleiben
müssen. Ein paar Meilen vielleicht in der Runde wäre
uns Freiheit gelassen, uns zu bewegen, nicht viel mehr
als der Hof eines Gefängnisses. Der Mensch starb, wo
er geboren war und erkannte von dieser ganzen Erde
nichts, wie diesen Kerker. Jedes Dorf und alle Men-
schen in ihm war ein unentrinnbar starres Schiqksal;
ein ganzes Menschenleben hätte nicht ausgereicht,
um von der Stätte der Geburt aus die Erde zu durch-
messen.
Wir beiden Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts
aber, das Dir ein Fluch erscheint, stiegen in die Eisen-
bahn, und ehe ein Stunde sich vollendete, waren wir
wie auf einen anderen Stern verschlagen, mitten in
das ewig veränderliche Getriebe der lärmenden Groß-
stadt. Möchtest Du wirklich die Eisenbahn missen?
Brauchst Du sie aber, so läßt sich wieder aus dem
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Riesenräderwerk des heutigen Daseins kein Teilchen
entfernen.
Erst die technische Entfaltung der Naturkräfte, erst
die moderne Wirtschaft hat uns der Erde gewonnen,
uns wahre Freizügigkeit erobert. Deine Natur war
technische Leibeigenschaft; sie ist überwunden, nur
die soziale Leibeigenschaft ist noch nicht gesprengt.
All die Unruhe der industriellen Wirtschaft ist nur
das Reibungsgeräusch unserer endlichen Freiheit, un-
serer Loslösung von Schwere und Schollenhaft. Noch
fühlen wir nur die laute Pein der Hemmung und
Reibung. Die menschliche Gesellschaft hat es noch
nicht verstanden, die Glieder ihrer Ordnung so inein-
ander zu fügen, daß gerade in der sausenden, schwin-
genden Kraft die tiefe Ruhe freier Bewegung sich
entfaltet.
Deine Einöde ist nicht still, sondern stumm, nicht
friedlich, sondern verschlafen; nicht beharrlich, son-
dern erstarrt. Die große Unruhe aber des heutigen
Daseins ist die Wiege unserer Erlösung. Und nicht
nur die Unruhe der Dampf pfeifen und Schnellwagen,
des Massengesurrs und des Rädergerassels — nicht
minder ist die gewaltige Unruhe unserer Hirne und
Herzen der Ursprung und die Vorbedingung für einen
neuen Menschheitsfrieden der organisierten Kraft und
der vernunftgeleiteten Tat.
Die ungeheure Steigerung in der natürlichen Kraft-
umsetzung und Kraft Verwertung steht in unlöslicher
Wechselwirkung mit der Rastlosigkeit in der Neu-
schöpfung unseres Bewußtseins, mit den Veränderun-
gen unseres inneren und äußeren Schicksals. In jedem
Augenblick erlebt der soziale Mensch von heute ge-
waltigere Umstürze, als jemals der berühmte Um-
sturz der Revolution am Ende aller Dinge — Du
weißt, wie wir beide als Kinder uns vor diesem letzten
Gericht der Nie-mehr-Auferstehung geängstigt haben
wird zuwege bringen können. Das „natürliche"
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Dasein, von dem Du schwärmst, ist die Unveränder-
lichkeit von ein paar Seelenformeln und Daseins-
möglichkeiten. Dieses Dasein hat einen Sprachschatz
von einem Dutzend Worten und ein Erlebnisgehalt
von einem halben Dutzend Handlungen — eine
ungeheure Sparsamkeit am Leben, ein furchtbarer
Lebensgeiz, der immer nur seine wenigen Pfennige
wieder durchzählt — gleich durch Generationen
und Jahrhunderte. Der einzelne Mensch der großen
Gegenwart lebt von Entwurzelungen und Erwür-
gungen. Er stirbt tausendmal den seelischen Tod.
Dem Bauer schafft noch heute die Geburt den Boden
seines ganzen Lebens. Der Kapitalismus hat die
Menschen wie ins Nichts gestellt. Nicht einmal
die Geburt sichert ihm eine umfriedete Wiege. Mit
der Geburt war einst das ganze Dasein bis zu
seinem Ablauf sozial bestimmt. Heute endigt erst
der Tod die Möglichkeiten der endlosen Wand-
lung.
Die Großstadtkultur hat bis jetzt keine Gesellschaft
hervorgebracht, die den einzelnen sicher trägt. Der
in die Stadt fremd Verschlagene ist mehr gefährdet,
mehr dem Zufall preisgegebei:, als irgendein Robin-
son, der einsam an einer unwirtlichen Insel gestrandet.
Das Dorf bildet noch heute eine Gemeinschaft, die
den einzelnen Gliedern eine gewisse Gewähr der
Existenzbehauptung gibt. Die moderne Stadt hat
kein Ohr für den, der nach Hilfe schreit. In der Ein-
samkeit des Landes wird der Notschrei der Bedrängten
vernommen, im Lärm der Massenstadt wird der Ruf
verschlungen. Und es ist kein Arm unter den Millio-
nen von Armen, der sich Dir entgegenstrecken wird,
wenn Du ihn brauchst.
So wäre diese Kultur wirklich der Abgrund und die
Vernichtung, die grausame Laune und der unberechen-
barste Zufall ? Und so hättest Du recht mit Deiner
Lebensangst ?
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Du siehst nicht, daß eine neue sichere Gemeinschaft
sich bildet, gerade in dem, was Dich ängstigt, in der
Masse selbst.
III.
Der verlorene Einzelne.
. . . Du, meine arme Freundin, suchst Schutz vor
der sozialen Lebensangst, die Dich treibt und hetzt,
in der Starrheit des festgewurzelten Daseins des Dor-
fes mit seiner überlieferten Arbeit an der mütterlichen
Natur und seinen einfach gewobenen, durchsichtigen
und sicheren Familienbeziehungen.
Erinnerst Du Dich, wie wir beide einmal ganz allein
in eine Tropfsteinhöhle krochen, die halb verfallen
war und von den Sehenswürdigkeitssuchern nicht mehr
berücksichtigt wurde ? Wir hatten nur zwei triefende
Stearinlichte bei uns und ein paar Streichhölzchen,
deren Vorrat rasch zu Ende ging. Nach wenigen
Schritten bereits verlöschten die Kerzen in dem eisig
flackernden Dunkel und es gelang uns nicht mehr,
sie zu entzünden. Wir faßten uns an den Händen
und tappten uns durch niedrige Gänge, mit den Köpfen
fast auf dem Gestein, mutig weiter. Wir fürchteten
uns beide und wollten es uns nicht gestehen. Das
Ungewisse lauerte auf uns. Man hatte uns gesagt, daß
in der Höhle sich ein See befände, und wie uns das
tropfende Wasser das Haar befeuchtete, wähnten wir
jeden Augenblick, in den See zu stürzen. Obwohl wir
beide nicht allzu fest an diesem Leben hingen, so
grauste es uns doch, so verloren in der Nacht eines
undurchdringlichen Nichts unser zaghaftes blinkendes
Lebensfünkchen ungehört und ungefühlt von den an-
dern, fernab der Menschen, verzischen zu lassen.
Unser Bangen wuchs, und ohne daß wir uns unsere
Angst eingestanden, kehrten wir fast fliehend um.
Als wieder der blaue Himmel wie ein strahlender
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Stern am Ausgang uns leuchtete, und die milde Luft
der Erdenwelt über Tage unser wie begrabenes Leben
aufweckte, da empfanden wir die Stunde als das neue
Genesungsglück nach schwerer Todesgefahr . . . Ein
paar Tage später besuchten wir wieder eine Höhle,
diesmal in Gesellschaft lustiger Leute mit Führern
und unverlöschlichen Fackeln. Nichts mehr von
Grauen und Feigheit. Wir wanderten durch die kalte
Unterwelt, der die Fackeln die warme Farbe des Le-
bens einzuhauchen schienen — voll Eifer für die Er-
kenntnis der natürlichen Bildungskraft, voll Bewunde-
rung für die künstlerischen Triebe dieser toten Natur,
die doch wie ein genialer Schöpfer persönlich gestaltet.
Wir wuchsen im Wandern, und indem wir uns näher
denn je den Urgewalten der Erde fühlten, rauschte
durch uns das starke Gefühl, daß es dem Menschen
vergönnt ist, all das Große zu empfinden und zu be-
seelen, dessen Glied er selber ist. Beide Male waren
wir in einer Tropfsteinhöhle. Woher der unvereinbare
Unterschied unserer Empfindung, woher die feige
Angst das eine-, die stolze Freude des Genießens das
anderemal? Die Tropfsteinhöhle hatte sich nicht
geändert? Es waren die gleichen Schlünde und Ab-
gründe, dieselben ahnungsschweren schwarzen Gänge,
und irgendwo lockte immer ein Geheimnis und eine
Gefahr, ein rätselhaftes Wasser und ein begehrlich
schlingendes Licht. Es war nicht die Welt, die sich
verschieden gestaltete, es waren nur die Menschen,
die diese Welt auf verschiedene Art meisterten. Zu-
erst zwei verlorene Einzelne, die im Dunkel und im
Ungefähr den Pfad fürchteten, den sie nicht sahen.
Dann eine fröhliche Gemeinschaft, die ausgerüstet
war gegen das Dunkel und in sich Halt und Ziel fand.
Der Mensch, der in die moderne Stadt verschlagen
wird, ist in Wahrheit als einzelner verloren. Trotz
aller blendenden Fülle des elektrischen Lichtes und
der Glühkörper ist die soziale Gesellschaft für ihn nur
4 Eisaer, Gesammelte Schriften. II
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das Höhlendunkel, in dem jeder Schritt ihm Ver-
derben droht. Es ist ein unbekanntes Land, dessen
fremde Gesetze und unerklärliche Eingebungen er
nicht meistert. Welche Gewähr seiner Existenz gibt
ihm diese Gesellschaft? Die menschliche Phantasie
ist erfinderischer in der Ausmalung der Hölle, deren
Schrecken zu steigern und zu verwickeln es für sie
schlechterdings keine Grenzen gibt, als in der
Schmückung des Himmels, dessen Wonnen immer nur
ein blasses Einerlei sind. Die soziale Ordnung scheint
dieser Eigenart des Menschen zu entstammen. Auch
sie kennt ungezählte Formen der Vernichtung und
nur ein paar enge Auswege ins Freie und Helle. Wer
bürgt dafür, daß Du überhaupt Deine Arbeit und Dein
Brot findest? Wo ist der sichere Führer, der Dich,
wenn Du fremd verschlagen in dem Getriebe auf-
tauchst, Dich sicher geleitet zu der Stelle, wo Arbeit
und Brot Deiner harrt? Niemand bürgt Dir Dein
Leben, niemand führt Dich zu Deinem Platz in der
sozialen Gliederung. Hat Dich aber endlich ein Zu-
fall statt in die Tiefe auf die Wege des sozialen Daseins
geschwemmt, wer leistet Dir Gewähr, daß Du Dich
auf Deinem Platz behauptest ? Jeder Tag kann Dich
wieder fortspülen, Deine Sicherheit ist nur die Frage
einer Kündigungsfrist von ein paar Wochen. So lange
Du Arbeit findest, so lange wirst Du mißhandelt, und
wenn die Mißhandlung aufhört, liegst Du ratlos und
• verlassen am Wege. Diese soziale Ordnung ist nur die
Mietswohnung, aus der Dich jeden Augenblick der
Hausherr hinauswerfen darf. Wie fremd bleiben sich
all diese Tausende von Menschen! Sie kennen sich
nicht, selbst wenn sie auf dem gleichen Gange wohnen,
in einem Zimmer miteinander schlafen. Die Männer
und die Frauen finden sich zusammen nach der blin-
den Spielregel des Ersten Besten; sie gesellen sich in
dem Taumel einer Nacht, ohne daß sie von ihren
Seelen wissen; selbst die Art ihres Leibes ist ihnen
SO
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unbekannt. Lauert nicht hinter jeder Umarmung
Ekel und Krankheit ? Selbst wenn sie sich fürs Leben
verbinden, so lernen sie sich erst kennen, wenn ihr
Schicksal geschmiedet ist.
Überdenke unsere sozialen Beziehungen in ihrer
ganzen unheimlichen Zufälligkeit. Sind die Menschen,
die aus uns geboren werden, etwas anderes als die
kranken Rauschkinder einer sinnlosen sozialen Trun-
kenheit, die ihre Geschöpfe erzeugt, nachdem sie ihre
Vernunft vergiftet hat ?
So verstehe ich Deine Leber.sangst und begreife
Deine Sehnsucht nach der friedlichen Dorfgemein-
schaft, wo Acker und Haus sich durch Generationen
vererben, wo die toten Steine des Kirchhofes mit ihren
verwitterten Inschriften als traulich erinnernde Schwel-
len verwandt werden, über die schreitet, wer ins Haus
geht; wo die Leichenbretter, auf denen einst die Vor-
fahren gelegen haben, zwischen das Holzwerk unter
dem Giebel eingefügt werden; wo alle Glieder der Ge-
meinde sich von Kindheit an kennen, wo die Burschen
und Mädchen frei sich zusammenfinden, wenn ihr
Frülding kommt, und wo sie sich heiraten, wenn die
Früchte quellen . . .
Ist es nicht das, warum Du Dich hinaussehnst aus der
großen Stadt, in die Dich ein Ungefähr geworfen hat ?
Ist es nicht darum, daß Du das Glück der Einöde so
tief empfindest ?
Dieses Glück ! Ich habe mich nach den Insassen des
kleinen Paradieses erkundigt. Nur das Gehöft ist alt,
der Bauer haust aber erst seit einiger Zeit dort oben.
Er ist zugewandert, er hat das Gut übernommen, von
dem der verschuldete Bauer vertrieben ward. Auch
er zittert vor jedem Zinstermin, ist völlig stumpf und
rennt, wann er immer Zeit gewinnen kann, hinunter
in das größere Dorf, spielt und besäuft sich. Taumelt
er heim, so prügelt er sein Weib, ängstigt seine Kinder.
Man sagt, daß er sich nicht lange mehr halten wird.
4'
51
Er schimpft unflatig auf die Knechte, die Arbeiter, die
gar nicht mehr zu bekommen sind und die für hohe
Lohne faulenzen. Sorge, nichts als Sorge I Sie lesen
keine Zeitung, sie kennen kein Kunstwerk, sie wissen
nichts von den großen Kämpfen der Menschheit und
all den gewaltigen Bewegungen ihrer Zeit. Und eine
verreckende Kuh ist ihnen Schicksal.
Willst Du hinauf zu ihm? Oder willst Du nicht
am Ende doch helfen, die Fackeln anzünden, die aus
dem Schrecken des Dunkels eine lebendig wärmende
Fülle gestalten? Nicht die unübersehbare Menge,
nicht die Industrie ist es, welche uns das Leben ver-
ödet, uns d«ese Angst vor einem Dasein der schranken-
losen Willkür einflößt. Wir müssen nur in Gemein-
schaft wandern und die Fackeln anzünden. Fester,
furchtbarer, reicher als alle alten Dorfgemeinschaften
ist die neue Ordnung einer Massengliederung. Wir
suchen eine Heimat und finden sie in der — Soli-
darität aller Menschen.
IV.
Solidarität
Der menschenscheuen Frau biete ich, um ihr in
der bangen Verlassenheit eine Heimat zu geben, nichts
wie ein dürres Wort. Ein Fremdwort dazu: Soli-
darität. Alle diese Begriffe, mit denen wir unsere
neue Welt bauen wollen, sind öde, künstliche Bil-
dungen aus fremden Sprachen zusammengeflickt. Sie
haben alle keinen Duft. Man kann Leitartikel mit
ihnen schreiben, aber das bescheidenste Lied würde
an ihnen sterben. Solidarität, ein technisches Erzeug-
nis, wie Sozialdemokratie, wie Organisation, Agitation,
Politik, Parlament, Koalition, Streik — alles tote
Fremdworte !
Wenn einst die Menschen von dem Sinn und der
Seele ihres Zusammenlebens sprachen, dann hatten
5«
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sie Heimatslaute: Liebe, Mitleid. So redete die alte
Religion und die schlichte Volkssittlichkeit. Liebe
deinen Nächsten, denn er ist wie du — war das nicht
das traulichste und einfachste Gesetz aller gesell-
schaftlichen Bildung ? Sei mitleidig gegen die Armen
und Schwachen, gegen die Wehrlosen und Siechen
— war das nicht der Quell aller Hilfe und lebenerhal-
tenden Gemeinschaft? Selbst in der französischen
Revolution, die so lustig zu singen und so ausgelassen
zu tanzen wußte, fand man noch mütterliche Laute
für das, was der Verstand dachte, das Herz ersehnte.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Ein ganzes Ge-
bäude der gesellschaftlichen Sittlichkeit, der wirt-
schaftlichen Ordnung und der politischen Verfassung
in drei Worten. Selbst in dem stummen Deustchland
wurde die Sprache der Revolution zuliebe schöpfe-
risch. Man hatte kein Wort für das, was die Franzosen
Fraternite nannten. Da war es der alte wackere
Campe, dessen Kinder-Robinson wir einst beide ver-
schlungen haben, der erwärmt von der Beobachtung
des friedlichen, freundlichen und liebreichen Betra-
gens der neuen Republikaner die deutsche Neubildung
„Brüderlichkeit" wagte.
Wie kommt es wohl, daß wir für die sittlichen Be-
griffe, die die Handlungen der proletarischen Politik
bestimmen, keine Herzenslaute mehr finden? Ist die
alte Sprache nicht mehr schmiegsam genug, um neuem
Wesen ein Gewand zu leihen ? Oder ist der Willens-
inhalt dieser Begriffe nicht ernst und tief und heiß
genug, um sich ein natürliches Lautgebild aus seinem
eigenen Atem zu weben? Oder sind endlich die
Sachen, die wir wollen, die Handlungen, die wir
begehen, die Gefühle, die uns treiben, noch zu fremd
in unserer Welt, zu neu und unfertig, als daß ihnen
die Sprache das Heimatrecht zu verleihen sich schon
getraute ?
Solidarität — es scheint in Wahrheit undenkbar,
53
daß dies Wort Gefühle auslöse, innere Kräfte befreie
und Wärme erzeuge. Du möchtest lieber von der
alten Liebe sprechen, und ein bißchen mitleidige
Empfindung ist da mehr als ein ganzes Programm und
ein dickes Buch von solchen sozialen Fremdworten.
Wie Du das Dorf preisest vor der Stadt, den Acker
vor dem Hochofen, so möchtest Du auch zurück zu
den einfachen Begriffen, den treuherzigen Worten,
den einfältigen Gefühlen einer natürlichen Mensch-
heit. Du magst Deine Worte und Begriffe nicht aus
gelehrten Manifesten schöpfen, sondern aus der Un-
mittelbarkeit des noch fest an die Erde geschmiegten
Daseins. Es soll zwischen den Menschen wie ein
Volkslied tönen, nicht wie aus einem dicken Lehrbuch
doziert werden, mit vielen Anmerkungen und weit-
läufigen Abschweifungen.
Du sielist nicht den neuen Reichtum, der in diesen
Begriffen sich verbirgt, die für Dich nicht tönen
wollen. Es liegt eine tiefe Zweckmäßigkeit darin, daß
wir mit fremden kunstreichen Worten die große Sache
unserer Zeit und unserer Zukunft bezeichnen. Nicht
nur, daß wir so uns über die ganze Erde verständlich
machen. Denn es sind Fremd worte in allen Sprachen
und sie bilden so eine einheitliche weit verständliche
Internationale — auch ein Lehnbegriff — von gleich-
lautenden Begriffen inmitten des babylonischen Sprach-
gewirrs der Menschheit. Wir trennen uns auch — und
das ist das Wesentliche dieser sprachlichen Eigen-
art — mit den ausländisch gekleideten Begriffen von
allen volksmäßigen Dämmerzuständen der Vergangen-
heit. Indem wir unsere politischen und sozialen Be-
griffe von der überkommenen Sprache absondern,
scheiden wir uns auch von dem dunklen, triebhaften
Handeln der unbewußten Massen der Vorzeit, und
verraten auch äußerlich, daß die Regeln unseres neuen
Handelns aus einem anderen Reich stammen, wie aus
der trächtigen Nacht des dumpfen Getriebenwerdens
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durch ungcbändigte Leidenschaften und wehrlose Un-
terwerfung unter heroische Zwangsgebote. Homun-
culus, der chemische Mensch aus der vom Menschen-
witz verzauberten Retorte, mag nicht das warme
Blut der nach der alten Art gezeugten Müller und
Meier haben, aber er ist doch eben kein gewöhnliches
warmblütiges Wesen, sondern ein Geist, mit eigenen,
sonderbaren, magischen Kräften ausgestattet. So
treiben auch die Homunculi unserer politischen
Sprache ihr mächtiges Wesen unter uns, gerade
weil sie nur in der Brautnacht toter Materie, in
den Umarmungen locker begehrlicher Elementarstoffe
entstanden sind.
Solidarität ist mehr wie das erniedrigende Mitleid,
auch mehr wie die erhöhende Liebe. Der Begriff ist
Baumeister einer ganzen erhabenen Weltordnung.
Die vor uns lebenden Geschlechter haben viel von
Liebe gesungen und Mitleid gewinselt. Ihre Herzen
waren von Kindheit an überheizt mit dieser Seelen -
wärmung. Man schwärmte von Menschenliebe —
aber in Wirklichkeit gab es Liebe nur in den Be-
ziehungen von ein paar Menschen, die untereinander
sich gegen die übrige Welt abschlössen, bei Mann und
Frau, bei Mutter und Kinder, in einigen behaglichen
Familiennestern, zwischen Freunden am ernstesten.
In den Gesetzen aber, die die Gesellschaft zusammen-
band und gliederte, hatte die Liebe keine Stätte. Die
christliche Religion und die schulmäßige Anstands-
lehre verkündeten gleichermaßen, daß der Nächste
geliebt werden müsse, weil er so wie Du sei. Die Ein-
richtungen des Staates aber, die auf grausamen, un-
entrinnbaren und unumstößlichen Gesetzen beruhten,
wußten von so viel privater Liebesseligkeit gar nichts.
Sie lehrten den Haß, sie rechtfertigten die Unter-
drückung, sie bewaffneten den Übermut der Starken
gegen die Schwachen. Wir waren erfüllt von zer-
knirschtem Mitleid, rtnd schwollen über von Erbarmen
55
für den Gekreuzigten. Unser Mitleid weinte über den
Kreuzestod eines Märtyrers, es trieb die eklen Men-
schenwracks sozialer Zerstörung und körperlicher Ent-
artung von den öffentlichen Straßen in die abgesperr-
ten Spitäler, es kleidete den Nackten, tränkte den
Durstigen und zupfte Scharpie für die Wunden der
Krieger. Aber kein Mitleid sorgte, daß Elend und
Verkümmerung gar nicht entstünde; daß Verkünder
neuer Lehren nicht erst gekreuzigt wurden; daß die
weichen Verbandsflocken entbehrlich wären, weil
Kriege nicht mehr geführt würden.
All die Gefühlstugenden waren für den Privat-
gebrauch. Das öffentliche Recht hatte mit ihnen
nichts gemein. Die erhabenen Empfindungen der
Nächstenliebe und des Mitleids waren Betäubungs-
mittel, die Roheit, Gewalt und Grausamkeit benutz-
ten, um die Ohnmacht zu schänden und auszurauben.
Nein, nichts mehr von Liebe, Mitleid und Barm-
herzigkeit. Das kalte, stahlharte Wort Solidarität aber
ist in dem Ofen wissenschaftlichen Denkens geglüht.
Sie wendet sich nicht an schwimmende, gleitende, rosig
leuchtende, untergehende Empfindungen, sie schult
die Köpfe, hämmert die Charaktere und gibt der gan-
zen Gesellschaft die granitene Grundlage einer Um-
gestaltung und Erneuerung aller menschlichen Be-
ziehungen in ihrer ganzen Breite.
Die Solidarität hat ihre Wiege im Kopfe der Mensch-
heit, nicht im Gefühl. Wissenschaft hat sie gesäugt,
und in der großen Stadt, zwischen Schloten und
Straßenbahnen ist sie zur Schule gegangen. Noch hat
sie ihre Lehrzeit nicht abgeschlossen. Ist sie aber reif
geworden und allmächtig, dann wirst Du erkennen,
wie in diesem harten Begriff das heiße Herz einer
Welt von neuen Gefühlen und das Gefühl einer neuen
Welt leidenschaftlich klopft.
56
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V.
Eine Weltfahrt in 50 Kilometern.
Solidarität aller Menschen ist keine Liebesseligkeit
für den inneren Menschen, sie ist der Gesetzgeber
allen Rechts auf allen Feldern unserer Betätigung.
Sie ist Tat, gestaltende Kraft.
Und wenn Du fünfzig Kilometer vom Dorf in die
Stadt fährst, dann entdeckst Du dieses junge Reich
der schöpferischen, tragenden, steigernden Solidarität.
Durch sie wird die Welt Dir zur großen, freien, be-
wegten und belebten Heimat, die nichts mehr gemein
hat mit der Schollenhaft der alten engen Heimat.
Aber diese Entdeckung wächst Dir nicht entgegen,
Du mußt sie Dir erarbeiten wie alles in der Welt, was
Wert hat ; und schließlich wirst Du nach vieler Mühsal
und bitterem Leid nur Spuren finden, entgleitende
Spuren, und vielleicht wirst Du als ganzen Ertrag
Deines Ringens nur eine Hoffnung, einen Glauben,
eine Zuversicht, eine zitternde Überzeugung des Zu-
künftigen gewinnen. Gleichwohl, die Entdeckungs-
fahrt, zu der ich Dich einlade, als mutige Gefährtin
teilzunehmen, birgt so viel des Großen und des Glücks
in sich, daß Du später gar nicht mehr fragen wirst,
ob denn all der Aufwand an Denken und Wollen durch
die Sache gerechtfertigt und bezahlt würde.
Ehe Du indessen Dich in das neue Land hineinfin-
dest, mußt Du Deine Augen üben für die Erkenntnis
des alten Reiches. Tu keinen Schritt, ohne das, was
Du siehst, an Deiner Vernunft zu messen. Nimm keine
Handlung, kein Geschehnis hin, ohne nach Grund und
Ursache, nach Zweck und Ziel zu fragen. Fast ist es
schwieriger für den Menschen, Probleme zu sehen,
als sie zu lösen. Alle Dinge dieser Weh müssen Dich
anreden, müssen Dich fragen. Du weißt gar nicht,
wie neugierig alle diese Dinge sind. Sie wollen von
Dir Auskunft über sich selbst. Sie wollen sich von Dir
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belehren und verändern lassen. Nur das ist Dein,
dessen Geist, dessen Seele Dein Werk ist.
Und alle Dinge, wenn Du nur verstehst, sie ge-
sprächig zu machen, erzählen Dir von der großen
Sehnsucht nach Solidarität. Du brauchst nicht die
Welt zu durchfahren, nicht alle Erdteile abzugrasen,
um die Welt Dir zu erschließen. Der Weise, der einst
über den Marktplatz des kleinen Städtchens an der
russischen Grenze nie hinausgekommen, maß doch in
seinem Geist das ganze Universum aus, den Himmel
und die Erde, den Sirius und das menschliche Be-
wußtsein, die Zeiten und die Länder, den Gang der
Gestirne und das Kreisen des menschlichen Willens.
Eine Fahrt von ein paar Meilen, und alle Gegensätze
der heutigen Kultur, die Triebkräfte unserer Wirt-
schaft und die Zuckungen des Zukünftigen offenbaren
sich vor Dir.
Wie wir zwischen Wald und Eisenbahnböschung
wandern, fährt durch die Nacht ein hellerleuchteter
goldbrauner Zug. Selbst die Schrift, die Speise- und
Schlafwagen kenntlich machte, leuchtet zierlich. Durch
die hellen, großen Fenster sehen wir im Flug geschäf-
tige Diener eilen mit weißen Handschuhen, ohne des
Kohlenstaubs zu achten, der überall eindringt. Auf
breitem Polster erhascht unser Bück ein junges, um-
schlungenes Paar, das müde sich anschickt, für die
Nacht sich vorzubereiten. Während sie Hunderte von
Meilen durchmessen, sind sie warm geborgen, wie in
einer weichen Kammer. Aus der Unendlichkeit der
Nacht draußen reichen Millionen von Schicksalen un-
sichtbar ihre geheimnisvollen Arme in dieses eilende
Lichtnest hinein. Einsame Gehöfte, in sanft anstei-
genden Tälern gebettete Dörfer, rauchende Städte, die
aus glühenden Hochöfen den Himmel zu verbrennen
scheinen — all dies bunt und mannigfach treibende
Leben öffnet dem Zug wie für einen Augenblick nach-
schauend und aufmerkend seine Augen, um sie gleich
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wieder zu schließen. So verlieren sich Zeit und Raum.
Die Sonne geht auf. Im Frührot lugt ein kleines
Hirtenmädchen, an die Schranke der Dorfstraße ge-
lehnt, nach dem vorüberstampfenden Zug. Es wird
immer nur an die Schranke gebannt, die Ferne, die
es nie erleben wird, im enteilenden Zug zu ahnen ver-
mögen. Vielleicht hat es von seinem alten Schulmeister
schon gehört, daß weit draußen Meere brausen, Schnee-
gipfel in den Himmel wachsen, daß der reiche Mann,
der im Norden friert, einen Tag später schon zwischen
märchenhaft duftenden Frühlingsblumen zu wandern
vermag, daß er schneller in wunderlichen fremden
Völkerschaften unterzutauchen ermöglicht, als das
dumme Dirnlein deren Schilderungen in Indianer-
geschichten buchstabierend zu bewältigen vermöchte.
Die Weltfahrt in dem goldbraunen Zug unterbricht
nicht einmal das Behagen des Hauses. Der Mensch
selbst erhält etwas von der Bewegungskraft der im
Wechselgcsang der Sphären den ewigen Reigen des
Unendlichen tanzenden Sterne. Alle Menschen aber
sind gleich in diesem Zug. Kein Raum ist anders aus-
gestattet. Die Gleichheit auf den Gipfeln des Reich-
tums! Alles was die Verkehrstechnik an Bequemlich-
keiten und sinnreicher Erleichterung zu ersinnen ver-
mag, ist in diesem Zug angewandt. Wer in ihm fährt,
braucht nicht das Gefühl zu haben, daß das Reisen
eine Sünde sei, die bestraft werden muß durch die
Marter des Reisens selbst. In den Kursbüchern setzt
man ein L vor die Zugnummer — Luxus/.üge für die
reichen Leute, die immer irgendwo zwischen Ostende
und Konstantinopel, zwischen Paris und Petersburg
oder gar zwischen Nizza und Peking leben. Und daß
diese Glücklichen offenbar gar nicht die Schande der
öden Gleichmacherei empfinden, von der man uns
doch sagt, daß sie das edelste des Menschentums zer-
fresse! Sie hausen alle in derselben VVagenklasse, die
man die erste nennt.
59
Wir beide müssen noch ein Weilchen warten, dann
steigen auch wir von unserem kleinen Dorfe aus in den
Zug. Wie anders ist der gestaltet. Er ist zusammen-
gestoppelt wie aus Fahrzeugen aller Epochen des
Eisenbahnzeitalters: enge, dürftige Kästen, holperig
und schlecht beleuchtet, auf rauhen Federn stoßend.
Unser Zug stolpert langsam wie ein ermüdeter Klepper
und auf unseren Holzbänken, in denen der Menschen-
schweiß von Generationen sich eingenistet zu haben
scheint, finden wir keinen Raum und keine Fläche, um
unserem Körper Behagen zu schaffen. Wir sind ein-
gezwängt wie in die eiserne Jungfrau, hocken dicht
zusammen mit wildfremden Menschen, die mit Kör-
ben und Kästen den Raum füllen, schwatzen oder
gähnen, im Halbschlaf hindämmern, schnarchen oder
rauchen. Nach wenigen Minuten fühlen wir uns schon
krank und matt. Wenn wir nur erst zu Hause wären !
Freilich unser Zug besteht nicht nur aus diesen Holz-
kerkern, man hat auch grün und rot gepolsterte Zellen,
die zweite und die erste Klasse. Und wenn wir über
die südliche Grenze gen Norden fahren würden,
hätten wir auch noch das Schauspiel der wimmelnden
Tiefe, die vierte Klasse, in der man es schon als eine
soziale Wohltat einer erleuchteten Regierung be-
trachtet, daß sie auf den christlichen Einfall geraten
ist, wenigstens für einen Teil der hier zusammen-
geklumpten Menschheit ein paar Sitzhölzer zur Ver-
fügung zu stellen.
Hörtest Du, wie der Luxuszug Dich befragte, und
wie dieser nicht einmal beschleunigte Personenzug mit
seinen drei Klassen Dich mit seiner Neugier bestürmte ?
Du hast eine Weltfahrt durch unser soziales Dasein
für die paar Pfennige erlebt, die uns in der dritten
Klasse, hinter dem Luxuszug her, vom Lande in die
Industriestadt gebracht hat.
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VI.
Wagenklassen.
. . . Nichts könnte mich hindern, auch diese Weih-
nacht wie sonsten zu Dir zu kommen und Dir ein
Bäumchen anzuzünden. Sind wir auch an hundert
Meilen auseinander, nicht viel mehr als eine Nacht-
fahrt, und ich bin bei Dir. Aber wir werden beide
allein sein und Du wirst nur einen Boten, diesen klei-
nen Brief, von mir erhalten. Wäre es Dir Ernst mit
Deiner Leugnung der modernen Kultur, so müßtest
Du dem Briefe die Annahme verweigern; denn indem
er Dich über Nacht zu erreichen vermag, fliegt mit ihm
die technische und organisatorische Kulturarbeit von
Jahrtausenden, die Du verachtest, hassest und fliehen
möchtest.
Oder stelle Dir vor, wie es zu erreichen wäre, wenn
es keine Eisenbahn gäbe und keine kunstvolle unend-
lich verschlungene und doch einheitlich klare zweck-
einfache Organisation des Postwesens, um ein paar
Zeilen über hundert Meilen zu befördern. Nur
Könige könnten sich solches leisten, fast nur sieg-
reiche Könige, die das Land beherrschen. Karawanen
müßten ausgesandt werden, um meinen einzigen Brief
zu befördern, auf unwegsamen, gefährd eten Gebieten,
über Flüsse, die keine Brücken haben und kaum ge-
brechliche Nachen. Wochen würd' es dauern und
Monate, ehe die teure Botschaft an Dich gelangte,
sofern die Erde noch wäre wie Du sie träumst, ganz
Natur und nur Natur.
Heute kostet der Spaß ein paar Pfennige, im Nu
sind die hundert Meilen durchmessen und der Brief
erreicht Dich mit einer Sicherheit, als würde er durch
ein unverbrüchliches Naturgesetz selbst befördert, als
wäre er ein Sonnenstrahl. Opfere ich gar ein kleines
bescheidenes Silberstück, so kann ich Dir auch den
Weihnachtsgruß über die hundert Meilen hinweg ins
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Ohr rufen. So lange die Welt besteht, ist niemals Kraft
verloren gegangen. Nur verschwand sie leicht ins
Unauffindbare wie eine Quelle, die plötzlich in der
Erde versickert, nachdem sie eben erst hervorgesprudelt.
Das ist das neue, das unermeßliche Glück unserer
Zeit, daß all die Millionen Quellen, die seit Anbeginn
auf Erden unsichtbar vorhanden sind, plötzlich wieder
im Tage erscheinen und alle ihre Zauberkräfte sicht-
bar zeigen. Wir brauchen uns heute nicht mehr mit
dem Gefühl zu trösten, daß die Quellen vorhanden
sind, nur daß sie sich eben verkrochen habe. Unsere
zivilisierten Kräfte der Natur, die bleiben immer vor
aller Augen, ihre Verwandlungen vollziehen sich auf
offener Bühne, sie kleiden sich ohne Scheu vor jeder
Neugier um, und kein Dunkel der Erde, kein mysti-
scher Nebel verhüllt ihr Wandeln und unterbricht ihr
Werden. Das Wort, das ich hundert Meilen der
Freundin hinüberrufe, verschwindet nicht ins Leere,
versickert nicht in den unergründlichen Wirbeln ätheri-
scher Bewegung, wo nur ein Gott es zu entdecken ver-
möchte, sondern es marschiert geradenwegs, nur ein
wenig ermattet und von der langen Reise verstaubt,
ins Ohr und ins Bewußtsein der Frau, der es galt.
Ist nicht unsere künstl:chc Zivilisation, die uns
dem natürlichen Menschentum zu entfremden
scheint, recht eigentlich erst die Entdeckung der ver-
schütteten Natur? Nur vermögen wir die Quellen,
die so lustig in unendlicher Fülle aus der Tiefe der Jahr-
millionen hervordrängt, nicht schön zu fassen, sie
nicht rein zu halten, sie nicht ins Fruchtbare zu leiten.
Wir stampfen sinnlos in ihnen wie die Barbaren, wir
zertreten in wüstem Gerauf die Durstigen, die sich
erquicken wollen, und wir beschmutzen und verderben
die reine Kraft.
Wir genießen nicht nur den Ertrag von Jahrtausen-
den, wir erleben in jeder Stunde, an jedem Tage un-
mittelbar Jahrtausende. Das Reporterwort von der
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Völkerwanderung, das sich regelmäßig einsteilt, wenn
von der Bewegung großer Menschenmassen die Rede
sein soll, ist ein ganz kümmerlicher Vergleich. Er soll
eine gigantische Übertreibung sein und ist nur eine
armselige Verkleinerung. Was ist denn jene alte Völ-
kerwanderung, wenn wir ihre ganze Bewegungsleistung
summieren, verglichen mit jener Wanderung, die vor
dem Weihnachtsfest innerhalb eines einzigen Landes
vollbracht wird: Ein kleinstädtischer Sonntags-Spazier-
gang gegen die Bewegung einer Millionenstadt. Die
dicken Geschichtswerke über die Völkerwanderung
würden, wenn sie mit dem Schrittmesser nachrechnen
würden, nicht entfernt die Wanderleistung eines De-
zembertages vor Weihnachten ermitteln: Millionen
Briefe und Pakete, Frachten und Menschen, alles auf
einmal durcheinander gewirrt, in den reißenden Strudel
geworfen, hinausgeschleudert und umhergehetzt, sich
kreuzend und überstürzend und doch ohne Verwechse-
lung und ohne Umweg ihr vorgesetztes Ziel erreichend.
Jeder Mensch scheint in diesen Tagen irgendwo eine
Heimat zu haben, zwischen dem äußersten Osten und
fernen Westen fluten Soldaten, dicht gedrängt in die
hölzernen Käfige, hin und her. Ein paar Tage Urlaub
ermöglicht ihnen ferne Freundschaft und Liebe auf-
zusuchen. Ubernächtig erreichen sie das Ziel. Zer-
martert von der harten Fahrt in der dumpfen vergif-
teten Luft, die von fauligem Atem zersetzt und in
der all der Schweiß zusammengepferchter Menschen
aufgelöst ist. Warum wird diese Fahrt zur Marter?
Warum fahren sie nicht alle bequem und lustig, ohne
bei trübem Licht die Zeit müßig zu verbringen, ohne
auf naturwidrigem Sitz sich zuschanden räkeln zu
müssen ? Wir listen zwar der Natur ihre Geheimnisse
ab und schirren sie wie geduldige Zugtiere ein, aber
das edelste Geschöpf der Natur, der Mensch, verstand
sich selber noch nicht zu zähmen. LTnd während wir mit
der Zeit um die Wette uns vorwärts bewegen, bleiben
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wir weit hinter uns selbst zurück. Wir könnten alle
fliegen und die meisten müssen doch kriechen. Die
Technik kennt kaum noch eine Marter, und wir er-
halten künstlich alle Qualen und basteln selbst neu
die überlebten Erzeugnisse der Vergangenheit. Wir
schaffen mühselig die Pein und wenden unsäglichen
Fleiß darauf, Unvollkommenes hervorzubringen, wäh-
rend wir die Vollkommenheit zu erreichen vermöchten.
Wir würden alle mehr als 200 Kilometer in der Stunde
vorwärts stürmen und wir vergeuden die Zeit, indem
wir uns noch mit dreißig begnügen. Wir könnten in
lichten behaglichen Räumen die Erde durchmessen und
wir verurteilen uns selbst, in Staub und vergifteter
Luft uns auf ungefüger Folterbank zu zerquälen. Wir
fahren in drei und vier Wagenklassen, in den Fahr-
zeugen aller technischen Zeitalter. Wir schleppen jede
Stümperei von ehedem noch mit und wir verwandeln
das lebendig flutende Dasein in ein dunkles Museum
vorzeitlicher Seltsamkeiten oder in ein Leichenschau-
haus, wo wir die Selbstmordfälle der entwickelten
Technik grausam öffentlich zeigen — gegen Eintritts-
geld sogar.
Das Ziel all unserer ringenden Kultur scheint in
Wahrheit die Sonderung in Wagenklassen zu sein, oder
auch in der Züchtung künstlicher Krüppel ... Ich
werde mich in der heiligen Nacht einsam in eine letzte
Wagenklasse setzen und irgendwohin, weit in das
Dunkle, hinausfahren. Vielleicht werde ich der einzige
Gast sein, da alle ihre Heimat schon gefunden, und
werde heimatslos immer weiter fahren bis in das Land,
wo es keine Wagenklassen mehr gibt und keine —
Klassen . . .
VII.
Fremde Seelen.
Du bist ein armer Teufel gewesen. Du bist in Enge
aufgewachsen. Im Elternhause kanntest Du nie an-
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deres ah den niedrigen Hader und die gemeine Not-
durft. Das Wochengeld war das Schicksal dieses Da-
seins. Niemals wußtet ihr, wovon morgen leben.
Wenn der Tag dos Mietzinses kam, befiel es alle wie
Todesangst. Zerrissen die Stiefel, so war der Schuster,
der bezahlt sein wollte, für euch der schwarze Mann.
Ihr schrakt zusammen, sobald vom Hausflur das
Glockenzeichen tönte; dort standen immer Leute, die
Geld haben wollten, niemals welche, die Geld brach-
ten. Jeder Brief flößte euch Entsetzen ein; gewiß
brachte er euch eine grobe Mahnung. Und den Staat
sähet ihr nur als den Steuererheber und Gerichtsvoll-
zieher. Ihr kanntet keine Freude, keine Hoffnung.
Euer ewiger Gedanke dr~ Schreckens war: So würde
das Leben abrinnen, in Grau und Gram! Deine Ju-
gend zeigte sich nur in der feinhäutigen Empfindlich-
keit gegen die harte Grobheit der Alten, die fluchten
und schimpften und längst das Gefühl verloren hatten
für die Abscheulichkeit eines Menschenverkehrs, der
auf der Brutalität der ungehemmten Launen beruht.
Du hast mir oft erzählt, wie Du am Abend zu Bett
gingst mit dem stumm schluchzenden Gebet: Nur
nicht mehr aufwachen, nur ein Ende, nur einmal Ruhr!
Und warst doch jung, und Dein Leben blühte wider
Deinen Willen, mitten durch das zerfleischende Ge-
strüpp hindurch.
In Deiner Well waren geistige Bedürfnisse ein frevel-
hafter Luxus. Man riß Dir die Bücher fort. Sie
setzen Dir nur dummes Zeug in den Kopf, machen
Dich übet spannt, und halten Dich von der Aibeit ab.
Du dachtest verzweifelt: Jedes Leben, das über meines
emporsteigst, ist also überspannt. So zu leben, wie ich
lebe, so trostlos, so niedrig, das ist normal, vernünftig,
praktisch.
Dann kamen Deine Mädchenträume. Der Mann
wuchs in Deiner Phantasie auf. Du schwärmtest von
Hingabc bis zum Tode, von Opfern ohne Zaudern
5 Eisner. Gesammelte Schriften. 11.
und Zagen, von zarter seelischer Gemeinschaft, von tief-
innerer geistiger Kameradschaft. Sahst wohl im ersten
besten Burschen die Erfüllung Deiner Sehnsucht. Und
dann wieder, monatelang, blutete Deine gefesselte Liebe
für einen Gelehrten, der fast schon Greis, den Adel
seines Denkens in einem gelähmten Körper trug.
Nun wolltest Du Deine Kindlichkeit opfern, als de-
mütig dienende, entsagende Gefährtin. So suchte Dein
Drang nach dem Großen und Guten wirre Auswege.
Das war nun alles wieder überspannt. Schlag Dir die
Dummheiten aus dem Kopfe, hieß es. Geh lieber an
Deine Arbeit, keifte es. Man muß Dir die Mucken aus
dem Leibe prügeln, drohte man, als Dein Blut einmal
ernstlich rebellierte. Gelegentlich wurde man auch sen-
timental: Du bringst Deine Eltern frühzeitig ins Grab,
nichts als Sorge bereitest Du uns. Die freilich hatten
längst vergessen, daß auch sie jung und leidenschaftlich
gewesen, vielleicht waren sie es auch nie. Dummheit
und Überspanntheit, oder auch Sünde, Schmutz und
Laster, in dieser Belastung, Verzerrung und Besudelung
erschien Dir die erhabenste Kraft der Menschheit, so
trüb quoll Dir der lautere Quell allen Lebens.
Bald verkrochst Du Dich schweigend in Dein Elend.
Aber wenigstens arbeiten wolltest Du, nur arbeiten,
um zu vergessen, nichts mehr zu wünschen ; um dieses
Dasein nicht zu „überspannen"!
Arbeiten wirst Du wohl noch dürfen!
Da enthüllte Dir diese grausame Welt ihr unheim-
lichstes Rätsel: Es gab nicht einmal die Arbeit für
Dich. Auf geistige Arbeit hattest Du längst verzichtet.
Niemals warst Du so toll, Deine kleinen künstlerischen
Talente ausbilden zu wollen. Musik, Theater, Malerei
— nein, das war nichts für Dich. Solcher Träumereien
hattest Du Dich entwöhnt. Nein, Du wolltest ganz ge-
wöhnlich arbeiten, mit Hand und Augen, mit Nerven
und Sehnen, tagelöhnern, gleichviel was, im endlosen
Einerlei, wenn es sein mußte, gegen kärgliche Entloh-
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nung; nur so viel begehrtest Du, um Deinen Hunger zu
fristen und Dir ein Stübchen zu mieten, zu arbeiten bis
zur Erschöpfung und auszuruhen für neue Erschöpfung.
Du wolltest arbeiten und diese überstürzend ge-
schäftige Gesellschaft fand keine Arbeit für Dich. Alle
Galeeren waren besetzt, sie hatten nicht einmal Raum,
Dich an die Kette zu legen. Freilich Arbeit hättest
Du ^chon finden können, aber nicht nur Arbeit, wie
Du wolltest. Man begehrte noch mehr von Dir als
die Arbeit, als die Muskeln und das treibende Gehirn.
Auch Deine Seele wollte man haben, diese scheue
Seele, die nackt, schutzlos, einsam von Schmerzen ge-
quält wurde, wenn eine plumpe Faust sie berührte,
schon wenn ein unreiner Hauch sie anwehte. Du soll-
test in Gemeinschaft, in Abhängigkeit arbeiten; das
ertrugst Du nicht. Du liefst aus dem Warenhaus fort,
in dem Dich die eitle Oberflächlichkeit der Gefährtin-
nen anwiderte, das schroffe Herrenbewußtsein der
Vorgesetzten empörte, die schamlose Anmaßung des
Publikums aufreizte. Du flüchtetest aus der Fabrik,
in der Du jeden Tag den Ekel der faden Gerüche, den
Schmerz der schrillen Geräusche mühsam überwinden
mußtest, w»il Du den Ton der andern nicht ertrugst,
Du hattest nichts Gemeinsames mit ihnen, Du fühltest
Dich unablässig betastet, ausgekleidet, ausgefragt, und
wolltest doch nichts anderes wie still für Dich arbeiten,
fremd und verlassen. Und endlich schlössest Du Dich
in Dein Zimmer ein, Heimarbeiterin, für Almosen
Tag und Nacht Dich mühend, aber wenn Du die
Waren abliefern solltest, so befiel Dich ein Grauen,
wenn Du an die Späße Deiner Peiniger und die Nörge-
leien der Gestrengen dachtest. Gab es denn in dieser
Welt nicht wenigstens ein Recht auf Abgeschlossenheit,
auf ein Für-sich-Sein, einen Schutz des freien Emp-
findens? War ein armer Mensch, und zumal eine
Frau, wehrlos ausgeliefert jedem Angriff und jedem
Eindringen? Gab es keine Möglichkeit, zu arbeiten
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ohne von Menschen gequält zu werden ? Konnte man
nicht arbeiten und dennoch frei sein?
In diesem Zustand fand ich Dich zuerst. Niemals
habe ich einen so verzagten und verkümmerten Men-
schen getroffen, der aus gepeinigter Seele so inbrünstig
nach Ruhe und — Güte schrie. Und am ersten Abend
gestandest Du mir: „Ich ertrag es nicht länger. Ich
gehe in ein Bordell." Dabei sahst Du mich aus großen
trauenden Kinderaugen unschuldig an. Das schien
Dir das letzte, die unentrinnbare Ruhe unrettbarer
Verkommenheit.
Ich warnte Dich, man werde Dich für lasterhaft,
für verrucht halten. Du lächeltest müde: Schlimmer
könnte es doch nicht werden, Du hättest nichts zu
verlieren, es sei Dein ernster Entschluß . . .
Darüber sind viele Jahre ins Land gegangen. Wir
beide leben noch. Eine Laune des Schicksals hat Dich
aus dem Tiefsten gerettet. Aber Du bist immer noch
ein Menschenflüchtling, der sich verkriecht — eine
fremde Seele in dieser wimmelnden Menschenherde.
Zu jener Zeit aber empfand ich es als meinen Beruf,
Dich für dieses tätige Dasein zu erziehen, Dich abzu-
härten, Deine Empfindlichkeit zum Idealismus der
großen Sache und der heiligen Handlung zu läutern.
Aber schon in den ersten Tagen gewahrte ich den
Zwiespalt, der sich nicht lösen wollte. Dein Empfin-
den war in der Ode Deiner kleinbürgerlichen Herkunft
gebildet. Du fühltest Dich noch als etwas sozial
Höheres und Feineres, obwohl Du ganz unten in der
Tiefe verschmachtetest. Und damals ging es in mir
auf, wie die soziale Zerklüftung unserer Gesellschaft
nicht nur Reiche und Arme, Herrscher und Unter-
drückte, Ausbeuter und Ausgebeutete erzeugt, sondern
wie sie in den Klassen gesonderte Rassen hervorbringt,
die sich nicht verstehen, die anders reden, denken*
empfinden, als ob sie auf verschiedenen Sternen lebten.
Ich lud Dich zu einer kleinen Wanderung ein, zu einer
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kurzen Eisenbahnfahrt — dort oben im Norden, wo
es noch eine vierte Wagenklasse gibt. Du warst ge-
wöhnt, die paarmal, wo Du reisen konntest, die bürger-
liche dritte Klasse zu benutzen. Ich versuchte, Dich
in die vierte zu locken — mitten unter die Proletarier
der Stadt und die Marktfrauen vom Dorf. Du sträub-
test Dich. Ein physischer Abscheu befiel Dich. Und
Du, die bettelarm war und so jämmerlich elend,
fürchtetest trotz aller Deiner Not, noch unter Deine
Klasse herabzusinken. Diese proletarische Welt war
Dir ein Unbekanntes und ein Grauen — wie eine un-
heimliche wilde Völkerschaft, deren Gedanken, Emp-
findungen, Absichten man nicht kennt und denen man
deshalb mißtraut. Sie hatten fremde, dunkle Seelen,
und Du fürchtetest Dich vor der Berührung mit
dieser — vierten Wagenklasse, Bürgerin der dritten! . . .
Damals grollte ich Dir wegen Deines verstockten
Eigensinns. Ich grollte Dir, denn ich glaubte Dich
noch ändern zu können. Jetzt, da das Jahr zu Ende
ging, das uns trennte, weiß ich, daß ich nicht, daß
niemand die Macht hat, Dich in die — vierte Wagen-
klasse zu locken. Auch meine Briefe wandelten nicht
Deine Seele. Du bist mir fremd geworden, indem ich
die Ohnmacht meines Schreibens fühlte. Und fast will
es mir scheinen, als ob es auf der ganzen Welt keinen
Menschen gibt, den ich so wenig kenne wie Dich —
die einzige Freundin vieler, vieler Jahre.
Ich werde Dir niemals mehr schreiben. Aber in dem
Augenblick, da ich Dir und mir das Gelöbnis des völ-
ligen Vergessens gebe, ist es mir, als ob eine neue Ju-
gend in mir aufwacht. Ich suche wieder nur den ein-
zelnen Menschen und ich weiß: morgen wird das
Geschöpf der verjüngten Welt auf der Schwelle meiner
Türe stehen und von dem vergrämten Einsiedler be-
gehren, daß sie ihm Schülerin se», Gehilfin, Wander-
gefährtin, Geliebte — bis in den Tod . . .
[Herbst 1908.]
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Die ewigen Arbeiter.
(Aus einem Reich 24itündiger Arbeitzeit.)
Eine soziale Wanderung.
I.
Die Tragödie der großen Masse, dsr namenlos
Vorübergehenden, Vorübergewehten, lebt und voll-
endet sich in der toten Ware, die allen Glanz dieses
Daseins ermöglicht. Die blutige Runenschrift der
Waren entziffern, heißt die Bedingungen unseres ge-
sellschaftlichen Daseins erkennen. Geronnene Tränen,
geschliffene Seufzer, verwebte Lungen, zerhämmertes
Hirn, das sind die gesellschaftlichen Urelemente, die
sich unsichtbar mit den natürlichen Stoffen und der
kunstfertigen menschlichen Weisheit verbinden. Und
je heller die Ware schimmert, desto dunkler ist die
Höhle, in der sie geboren ward. Gäbe es ein Gesetz,
das den Käufer verpflichtet, jeder Ware einen Ur-
sprungszettel beizugeben, in der die soziale Zeugungs-
geschichte des Gegenstandes wahrheitsgetreu ver-
zeichnet ist, die verhärtete Menschheit würde diese
Urkunde nicht ertragen.
Der grausamste Spiegel aber menschlicher Not, die
zur Ware wird, ist der Spiegel. Wenn er sich selbst
bespiegeln könnte, wenn er wiedergäbe, nicht was vor
ihm steht und das Echo seiner Eitelkeit zu hören be-
gehrt, sondern wenn in ihm das Bild, die Bilder seiner
Entstehung sichtbar würden, das hellste Kristallglas
würde in grauenhaften Blutflecken erblinden. Eine
Leidensstation des Spiegels hat vor Jahren Bruno
Schönlank der entsetzten Öffentlichkeit geschildert:
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die menschenfressenden Quecksilberbeleg-Anstalten in
Fürth. Aber das ist nur eine Station. Von Anbeginn
bis zum Ende, von der Herstellung des ersten Rohpro-
dukts bis zur letzten Veredelung wandert der Spiegel
in wirren Kreuz- und Querzügen von Not zu Not.
Alle Sinnlosigkeit und alle Qual der kapitalistischen Ver-
fassung häufen sich in diesem schimmernden Glas, das
dann den Selbstgenuß der Schönheit zeugt. Von
Feuer zum Wasser und vom Wasser zum Feuer wan-
dert das Produkt, und indem in ihm die Spuren der
Unzulänglichkeit des Stoffes bis zum letzten Rest ge-
tilgt werden, schleppt es rastlos häufend mit sich die
Male gemarterten und zerbrochenen Menschentums.
In der Oberpfalz am bayerischen Wald, fernab von den
großen Heerstraßen, beginnt das Leben des Spiegels.
In der Höllenglut der Glashütten opfern Menschen
ihre Lungen, um das rohe Spiegelglas zu blasen. Zwar
liest man wohl im Konversationslexikon, daß die schön
1688 erfundene Glasgießerei das Blasen der Spiegel-
scheiben vollständig verdrängt habe, aber die Lungen
von Menschen sind immer noch die billigsten Maschi-
nen und so wird in der Oberpfalz das Spiegelglas eben
immer noch geblasen. Die glühende Masse, die der
Glasmacher durch die Pfeife hin- und herschwingend
mit dem Munde aufbläst, wiegt bis zu 80 Pfund und
die Fertigkeit, die er anwenden muß, um den Hals
der Riesenflasche abzusprengen, die so entstehende
Röhre zu spalten und sie dann in Flammen flach zu
walzen, ist für den Zuschauer unfaßbar. Dann wan-
dert das rohe Glas in die Schleif- und Polieranstalten,
die die Flußtäler des bayerischen Waldes besiedeln.
Das Elendskind des rauhen Waldes kommt in die rau-
chige Stickluft von Fürth. Auch hier wandert das
Glas noch durch manche Hände, bis die Veredelung
vollendet ist. Unablässig rinnt das Wasser über die
Hände des Arbeiters, der in den Polier- und Facettier-
anstalten die Kanten anschleift, die Hände schwellen
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auf wie Leichenhände, aber der Arbeiter achtet des
nicht ; mit gespanntem Körper und starrem Blick, uner-
müdlich zwingt er dem spröden Glas die Facetten
ab. Drüben, ein paar Straßen weiter, hat wieder das
Feuer die Herrschaft, hier erhält der Spiegel seine
Seele, den Metallbelag. Seit Schönlanks Schrift sind
die Fabriken, die Quecksilber benutzen, bis auf zwei
ausgestorben. Das Gewissen hat sich seitdem beruhigt.
Aber es ist trotzdem kaum viel besser geworden, denn
nun müssen Arbeiterinnen in lähmender dumpfer Hitze,
in Sommer und Winter überwärmten Räumen, die
Luft voll ätzender Dämpf;, 12 Stunden lang die Silber-
lösung auf das Glas bringen. Kein Luftzug ist zu-
lässig, denn er würde schwarze Flecken in den Glanz
wehen. Mädchen von 16 Jahren verlieren in dieser
Temperatur von 35 Grad und mehr schnell ihre Ju-
gend, und Greisinnen mit 60 Jahren, den verrunzelten
Körper notdürftig bekleidet, mühen sich gleichmütig,
stumpf und längst hoffnungslos geworden über der-
selben Arbeit, in der sich schon ihr Tod spiegelt.
Ich war in einer der besteingerichteten dieser Fürther
Spiegelanstalten; die kurze Zeit meines Aufenthaltes
genügte, um mich für ein paar Tage meiner Stimm-
mittel zu berauben . . . Nun aber folgt auf die Tra-
gödie das freche Satirspiel. In der Veredelung des
Glases gehen all die fleißigen Arbeiter zugrunde. Wenn
aber der Spiegel fertig ist, wenn gar nichts mehr an
ihm gearbeitet wird, dann veredeln sich plötzlich die
Menschen, die mit ihm zu tun haben. Der Spiegel,
der mit dem Hunger genährt wurde, solange an ihm
gearbeitet wurde, beginnt auf einmal Gold zu hecken,
nachdem die Arbeit abgeschlossen ist. Die Menschen
werden Millionäre, Kommerzienräte, geheime Kom-
merzienräte, sogar Wohltäter der Menschheit, stiften
patriotische Denkmäler und fühlen sich als Herren
der Welt.
In der Tat: der Spiegel ist die Ansammlung aller
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denkbaren kapitalistischen Monstrositäten. Die läng-
sten Arbeitszeiten kuppeln sich mit den niedrigsten
Löhnen. Der Raubbau der Akkordarbeit wuchert auf
allen Leidensstationen seiner Herstellung. Die Ar-
beitsteilung, die den Menschen zur Maschine macht,
ist bis in. die feinsten Verästelungen durchgeführt. Ein
vielfaches, kompliziertes tückisches Zwischenmeister-
system, das einzelne Leute bereichert, drückt schwer
auf die Löhne der Arbeit. Die Arbeit selbst wird hin
und her geworfen zwischen toller Uberarbeit und un-
freiwilligem Feiern: wenn die Bäche zu viel oder zu
wenig Wasser haben oder wenn auf dem Markt Krise
herrscht. Auf dem ganzen Wege wird nirgends unter
gesunden, nicht einmal unter erträglichen Verhältnissen
gearbeitet. Übergroße Hitze wechselt mit verheeren-
der Kälte und Nässe. Beizender Staub, quälende
Dämpfe, verfaulte Luft verbreiten Krankheiten. Nir-
gends Schutz gegen gefährliche Unfälle. Schon die
früheste Jugend wird in diesem Maelstrom verwüsten-
der Arbeit hineingerissen, die Frauen werden noch
schlimmer und schneller zerstört als die Männer, und
selbst die verbotene Kinderarbeit blüht insgeheim und
unausrottbar noch fort. Der aber, der endlich diese
ungeheure Ernte des Todes in Geld ummünzt, leistet
nicht einmal die organisatorische Arbeit des Unter-
nehmertums. Es ist der Exporteur, der Händler, der
die Saat mäht. Er leistet nicht nur gar nichts zur
Herstellung des Produkts, er ist sogar befreit von aller
kapitalistischen Verantwortung und jedem finanziellen
Risiko. Diese Unternehmcrintelligenz besteht darin,
daß sie ohne jede eigene Leistung den höchsten Ge-
winn erzielt. Während die Arbeiter durch eine feind-
selige gemeinsame Haftpflicht aneinandergekettet sind,
während sie — und zum Teil auch die kleinen Zwischen-
meister oder Zwischenfabrikanten — die ganze Ver-
antwortung auch für die möglichst große Produktivität
der Arbeit auf sich nehmen, während einer den an-
73
deren in seiner Arbeit kontrolliert, weil nicht nur
mißratene Ware von dem Arbeiter ersetzt -werden muß,
sondern weil auch jede Pfuscherei eines Gliedes in der
Kette alle in der Teilarbeit folgenden Glieder in ihrer
Leistungs- und Verdienstfähigkeit vermindert — be-
darf der Kaufmann, der am Schluß erntet, was die
anderen gesät haben, nur eines Hauptbuches und eines
Geldschranks. Gerade in diesem System, wo nicht der
Arbeiter und auch nicht der Fabrikant, sondern der
Exporteur der Ausbeuter ist, entblößt sich sinnfällig
und unentschuldbar der Aberwitz einer Gesellschafts-
ordnung, in der zugrunde geht, wer die Güter der Ge-
sellschaft mit seinem ganzen Leben verantwortet, wo
gebietet und emporsteigt, wer verantwortungslos nur
die Arbeit der anderen rafft.
Von einer Station nun des Spiegelmartyriums möchte
ich einiges erzählen, von Zuständen, wie man sie in
Deutschland nicht für möglich halten sollte, und die
radikal zu ändern eine unaufschiebbare Aufgabe der
Gesetzgebung ist. Ich will von den „ewigen Arbeitern"
in den Schleif- und Polierwerken des bayerischen Wal-
des reden, den „ewigen Arbeitern", wie sie sprichwört-
lich genannt werden, weil sie in Wahrheit niemals zur
Ruhe kommen, solange sie arbeitsfähig sind, das heißt
zumeist: bis sie das Grab umfängt.
II.
Die Schleif- und Polierwerke, die das halb veredelte
Spiegelglas zur Fertigstellung nach Fürth liefern, sind
überall in der Oberpfalz verstreut; sie folgen den Fluß-
läufen, deren Wasser ihnen die mechanische Kraft
gibt. Ich sah die entlegensten dieser Werke. Bei
einer Wanderung im Murntal, schon nahe der böhmi-
schen Grenze. Diese Hütten des Murntals gelten als
die verhältnismäßig erträglichsten in diesem Gebiet,
und ich besuchte sie an einem heiteren warmen Herbst-
tage, nicht im Winter, wo sie verschneit liegen. Ich
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besuchte sie am Tage und nicht in der Nacht. Und
ich sah sie endlich gerade an dem Tage, da vier-
wöchentliche unfreiwillige Ferien zu Ende gegangen
waren und der Betrieb wieder aufgenommen wurde;
da herrschte noch etwas wie Feiertagsstimmung, wie
Ausgeruhtheit und Behaglichkeit. Die Hetzjagd war
noch nicht im Gange. Wenn trotz dieser günstigen
Umstände sich die Verhältnisse mehr wie Ausgeburten
eines toll gewordenen Menschenquälers, wie kapita-
listische grausame Fieberträume, denn wie Wirklich-
keit darstellten, so mag man einen Begriff davon er-
halten, welche Eindrücke ein Wanderer mit sich neh-
men würde, der in eisiger Winternacht die schlimmsten
dieser Arbeitsstätten besuchen würde.
Über Schwandorf- Boden wÖhr zweigt das Bähnchcn
von der Hauptlinie ab, das nach Neunburg vorm
Wald führt, in dieses lustige alte Städtchen, dessen
helle Häuser bergwärts zum Schloß und zur Kirche
klettern, in dessen Hauptstraße nur Gasthäuser zu-
gelassen zu sein scheinen, wo ehemalige Klöster und
Schlösser zu Bierbrauereien umgewandelt sind, die
das billigste Bier der Erde hervorbringen ; denn in der
Oberpfalz kostet der Liter nur 20 Pf. In einer kleinen
Wanderung erreicht man von hier den Wald, noch
eine anmutige Ortschaft, und dann geht es hinauf in
die unendliche Einsamkeit des ernsten Tales. Bald
springt am Bach die erste Ansiedelung schroff und
plump hervor. Trotz ihres Alters haben sich die un-
gefügen Gebäude nicht in die Waldeinsamkeit hincin-
gewöhnt. Sie sind der Natur fremd geblieben in ihrer
nackten geschäftlichen Öde. Sie sollen Gewinn ab-
werfen, Produktionskosten sparen, nicht menschen-
freundliche Hausung gewähren. Um die langgestreckte
Scheune, die das Werk birgt, ein paar armselige Hüt-
ten, in denen die Menschen wohnen. Diese Hütten
sind der Stolz der Murntalwerke, denn anderswo
haben die Arbeiter überhaupt keine Wohnung, son-
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dem sie hausen unter dem Dach des Werks oder in
der Werkstatt selbst. Alles ist schmutzig, verfallen, wie
unfertig. Und die Öde der Ansiedelung wird noch
gesteigert durch die Blutfarbe, die Häuser, Boden,
Gegenstände und vor allem die Menschen beschmutzt.
Alles ist von diesem abscheulichen Rot befleckt, das
die Leute dort Pottic nennen: Es ist das Polierrot
(Eisenoxyd), das zum Polieren des Glases verwendet
wird. Der Farbstaub dringt überall ein, malt die Ge-
sichter und die Hände, die Haare, die Kleider, die
Wäsche, die Betten. Die Zeitung, die sie lesen, ist
rot gefärbt, der Lohnzettel, ebenso wie der Brief, den
sie schreiben. Ein Brief von einem Glaspolierer verrät
auch uneröffnet und ohne Poststempel den Ursprungs-
ort — durch die roten Flecken. Der Farbstoff macht
die Generationen, die hier das im Familienbetrieb
überlieferte Gewerbe ausüben, zu einer Rasse von Rot-
häuten. Die Wiege, die der ewigen Arbeit neue Opfer
nährt, ist ebenso rot betupft wie das Leichenhemd,
das das Opfer erledigt. Dieses entsetzliche, schmutzige
alldurchdringende Rot wird nur beschattet von dem
tiefen Schwarz der politischen Färbung. Denn in der
Oberpfalz herrscht das Zentrum, und christ-katholische
Geistliche lehren in schöner Toleranz allsonntäglich
die braven Arbeiter, daß sie geduldig für alle Zeiten
die ,, Spiegeljuden" von Fürth zu füttern hätten. Im
Murntal freilich hat die sozialdemokratische Aufklä-
rung schon die Köpfe erhellt. Und dieser kernige
tüchtige Menschensclüag gewinnt durch den neuen
Glauben die Kraft, der kapitalistischen Zerstörung
ihres Daseins in tätiger Hoffnung Widerstand zu
leisten.
In drei Abteilungen, die auch räumlich getrennt
sind, vollzieht sich das Schleifen und Polieren des
Rohglases. Die Technik der Kraftzuführung hat sich
den modernen Möglichkeiten nicht angepaßt. Das
große Wasserrad leitet in direkter Umsetzung die
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Kraft zu. Daher die unfreiwilligen Pausen der Arbeit
bei Trockenheit oder Überschwemmung. In diesen
Pausen erhält der Arbeiter nichts. Nur wenn wirt-
schaftliche Ursachen Arbeitseinstellung veranlassen,
wird neuerdings eine Entschädigung bezahlt, 6 Mark
die Woche für den Mann, 3 Mark für die Frau. Aber
selbst wenn bei nicht allzu niedrigem Wasserstand der
Betrieb noch nicht eingestellt zu werden braucht, so
wirkt die verminderte Kraft auf die Arbeitsleistung
ein und senkt den elenden Akkordverdienst noch mehr.
Binnen einem Jahre mußten die Murntalleute 7 Wochen
(Oktober 1908 4 Wochen, Februar 1909 3 Wochen)
wegen elementarer Ursachen ohne jede Entschädigung,
4 Wochen (August-September 1909) wegen angeblich
schlechten Geschäftsgangs feiern. Aus der ewigen
Arbeit werden die Menschen in die Untätigkeit und
in den Hunger gestürzt und die Muße belebt deshalb
nicht ihre verbrauchte Energie, sondern sie zermürbt
sie vollends, so daß sie gebrochen schließlich nur noch
von einem Wunsch getrieben werden: nur Arbeit
haben, gleichgültig unter welchen Bedingungen. Diese
„Ferien" sind höchst wirksame Antreiber für die
Unternehmer . . .
Das Rohglas wird zunächst poliert. Auf großen
Eisenscheiben, 4 Meter im Durchmesser, werden die
Gläser in zwei Qusdr.itcn aufgegipst. Auf zwei vier-
eckigen Marmorblöcken von derselben Größe werden
ebenfalls Gläser aufgegipst. Der Schleifer hat dann
diese Marmorplatte, die mit den Gläsern etwa 5 bis
6 Zentner wiegt, äußeret behutsam auf die Unterlage
zu fügen. Jeder Bruch einer Scheibe ist — wie in dem
ganzen Produktionsprozeß überhaupt jede Beschädi-
gung oder Unvollkommenheit — von dem Arbeiter
zu zahlen. So ruht Glas auf Glas. Und indem die
untere Scheibe wie die darauf liegende Platte in gegen-
läufig rotierende pfeilschnelle Bewegung gesetzt wer-
den, schleifen sich die Gläser aneinander. Nun be-
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ginnt die höchst verantwortungsvolle Leistung des
Schleifers. Fließendes Wasser bespült ständig die
Scheiben; der Arbeiter aber hat in regelmäßigen Ab-
ständen Sand hinaufzuwerfen, erst den gröbsten, dann
immer feineren, sieben Sorten nacheinander, darauf
noch drei Sorten Schmirgel. Wenn neuer Sand ge-
streut wird, so zischt es auf wie Meeresbrandung, ist
doch auch das Meer die große Schleifmühle der
Kiesel. Aber die schrillen, spitzen Obertöne scheiden
diese künstliche Brandung peinigend von der erha-
benen ruhigen Sturmgewalt der Natur, die im stärksten
Brausen noch die Schönheit des Orgelklangs bewahrt.
Alle Geräusche der Industrie quälen. Das allmähliche
Verebben des schreienden Zischens zeigt dem Schleifer,
daß er wieder Sand auf die Scheiben zu werfen hat.
In 8 bis 9 Stunden sind die Scheiben auf einer
Seite geschliffen und werden gewendet. Die Arbeit
wiederholt sich, so daß das Schleifen der Scheiben auf
beiden Seiten den ganzen hier üblichen iöstündigen
Normalarbeitstag erfüllt.
Aber nicht nur die Scheiben, sondern auch die
Menschen werden aneinander gerieben und schmerz-
haft geschliffen. Hat der Sandsortierer seine Arbeit
nicht sorgsam geleistet, so mißraten dem Schleifer die
Gläser. Ist der Schleifer aber unachtsam gewesen, so
vermehrt er die Arbeit und mindert den Lohn der
Douciererin, die in der Regel seine Frau oder
Tochter ist. Aus der Schleiferei nämlich wandert
die Scheibe in den Doucierraum, wo Frauenarbeit
herrscht. Hier wird mit der Hand die Feinschleiferei
vollendet. Mit Hilfe einer Glasscheibe und feinstem
Schmirgel fährt die Arbeiterin unablässig über die zu
schleifende Spiegelscheibe hin und her. Hat der
Schleifer gut gearbeitet, so ist wenig auszubessern,
sind starke Mängel, so beansprucht die Veredelung
viel Zeit und die gelohnte Stückzahl vermindert sich.
Der Doucierraum ist zugleich Wohn- und Schlaf-
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räum, Küche und Kinderstube der Arbeiter. In
dieser menschenleeren Gegend wird mit dem Raum
gespart wie in der Hauptstraße einer Weltstadt.
Schon die unendliche Arbeitszeit, die notwendig ist,
um ein paar Mark zu verdienen, fesselt ja den Ar-
beiter unablässig an die Arbeitsstätte. Warum soll er
dort nicht gleich ganz wohnen! Das haben sich in
vielen Werken die Besitzer zunutze gemacht, und nicht
nur die Douciererin, sondern alle Arbeiter wohnen
in, neben und über dem Werkraum. Emil Girbig
schilderte kürzlich im „ Fachgenossen dem Organ
der freien Gewerkschaft der Glasarbeiter, solche Woh-
nungsverhältnisse: „Die Wohnungen befinden sich
fast ohne Ausnahme auf dem Boden der Polierwerk-
stätte. Die Räume sind aber nicht abgeteilt. Ein
großer Bodenraum gilt als Aufenthalt für 6 bis 8 Fa-
milien. Es steht das Bett, in dem die Eltern schlafen,
dicht neben dem Bett der Kinder; dazwischen steht
der Doucierblock und das Faß mit Wasser zum Ab-
spülen der doucierten Gläser. Dann folgen die Betten
der Nachbarn und Mitarbeiter. Es gibt keine Scheide-
wand. Jahraus, jahrein hausen die Familien neben-
einander. Die Kinder werden in den Räumen ge-
boren, und wenn der Tod an den Arbeiter herantritt,
dann stirbt er unter dem Dach und bleibt auch in
diesem gemeinsamen Raum drei Tage bis zur Beerdi-
gung liegen.4* Die Geschlechter sind nicht getrennt,
und eine bayerische Verordnung, die die Trennung
verfügte, wird kaum gehalten, wie denn für dieses
ganze Arbeitsgebiet alle Schutzmaßregeln versagen.
Aus den Händen der Douciererin kommen die
Scheiben in den Polierraum. Wieder werden die
Gläser auf große Bänke aufgegipst und darüber fährt
dann, von einem Gestänge geführt, ein schwerer mit
Filz bekleideter Block. Eng aneinander, oft zu hun-
gerten, stehen die Blöcke nebeneinander, so eng, daß
ein ungeübter Mann nur mit äußerster Gefahr durch
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<3as Getriebe hindurch zu gleiten vermag. Der Po-
lierer aber, der eine die einzelne Arbeitskraft weit
übersteigende Anzahl von Blöcken zu bedienen hat,
wenn er leben will, drückt sich zwischen den Blöcken
hindurch und richtet sie, damit der Filz allmählich
alle Teile der Scheibe gleich glättet. Eine dieser Po-
licrerfarr 1 cn, die ich besuchte, hatte nicht weniger
als 72 Blöcke zu versehen. Alles Ächzen der leiderden
Kveaturen in de: ganzen Welt, alles Heulen der
Schmer/cn auf K den scheint fich in diesen Räumen
vereinigt /.1 haben. Von hier beginnt das Polierrot
seine W«-:drrung in alle Poren des Betriebs und der
Gegend. In diesem Geächz und Geheul verbringt der
Polierer r':n ganzes Leben. Er wird schwerhörig und
man m : 3 h' t zu ihm sprechen, wenn man sich
draußen ?uch in der Waldslille mit ihm \crsländlich
machen w;.!. Sein ganzes Leben — buchstäblich!
D.-rm l'i ■ wandelt sich die i6slünd?gc Arbeitszeit
in die 2*p Lündige Endlosigkeit! Tag und Nacht
fahren c*:e Polierblöckc gespenstisch hin und her und
sie. bedürfen unablässig von Zeit zu Zeit der Wartung,
sei e-, daß die Lage verändert werden muß oder
Polietvo: k:- zuzufügen ist. Die Arbeiter hausen Tag
und Nacht in diesem Grauen. Am Montag in aller
Frühe beginnt das Rackern und endigt erst, wenn die
Kirchengloclen des nächsten Orts Sonntag? zum
Christendienst rufen; denn die erforderliche Reli-
gionsübung läßt sich eben doch nicht im Polierraum
vornehmen. Während der ganzen Woche kommt der
Arbeiter nicht aus den Kleidern. Wohl kann er,
wenn die Blöcke richtig laufen, eine Weile sich auf
einer Bank niederstrecken, aber er ist die ganzen
24 Stunden des Tages zur Arbcilsbereitschaft
verpflichtet! Will er ein paar Nachtstunden un-
gestörter Ruhe haben, so muß er sich entweder von
Familienmitgliedern vertreten lassen, oder auf seine
Kosten einen Hilfsarbeiter stellen. Auch seine Ar-
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beitsleistung hängt in ihrem Ertrag wesentlich ab von
dem Zustand, in dem ihm die Douciererin die Schei-
ben überliefert.
Der Polierer weiß nichts von der Welt. Sein ganzes
Dasein ist erfüllt von dem Lärm der Polierblöcke,
dem roten Polierstaub und dem Kampf mit dein,
gemeinen Hunger.
III.
Denn der ewige Arbeiter muß ewig hungern! Der
Schleifer verdient mit seiner i6stündigen Arbeitszeit
15 M. die Woche. Der Sandsortierer 11 M., die Dou-
ciererin (bisher bei 12 stündiger Arbeitszeit) wöchent-
lich 5 M. Der Hilfsarbeiter erhält 7 M. (mit Kost),
13 — 14 M. (ohne Kost). Er muß Tag und Nacht zur
Verfügung stehen; vertritt er den Polierer zur Nacht,
so bezieht er von ihm für 6 Stunden Nachtarbeit
40 Pf., nämlich für alle 6 Stunden insgesamt. Der
Polierer ist der König in diesem Reich. Er schwingt
sich bei 24stündiger Arbeitszeit mit 48 Blöcken zu
17 — 18 M. die Woche empor. So beläuft sich der
Familienjahres verdienst insgesamt auf 600 — 700 M.
Dafür müssen Mann und Frau, die erwachsenen
Töchter und Söhne, aber auch — trotz des Verbots —
die kleinen Kinder arbeiten. Diese Löhne haben erst
nach den letzten Tariferhöhungen von 1907 den
Stand von 1885 wieder erreicht. Die Arbeitszeit ist
nicht kürzer geworden, aber die Lage hat sich insofern
verschlechtert, als die ganze Lebensmittelteuerung
mit voller Wucht auf diesen Unglücklichen lastet.
Und sie segnen heute nicht gerade mehr den Bauern-
doktor Heim, der sie im Reichstag vertritt. Die Ar-
beiter müssen alle Lebensmittel kaufen, sie besitzen
nicht das kleinste Äckerchen, kein Nutztier. Die
Preise sind auch in diesem entlegenen Winkel nicht
billig; Kuhfleisch 60 Pf., Ochsenfleisch 80 Pf. Schweine-
fleisch 80 Pf., Kalbfleisch 60 Pf. Das sind freilich für
6 Eltaer, Gesammelt« Schriften. II. 8t
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die Glasarbeiter nur theoretische Preise. Sie ver-
fallen nicht auf den Gedanken, Fleisch zu essen. Die
trockene Kartoffel ist ihr Nahrungsmittel. Die paar
Stunden Rast in der Woche müssen sie noch zur Ar-
beit nutzen. Sie wandern in den Wald, um Holz zu
•freveln ; Polizeistrafen für solche Eingriffe in das Wald-
eigentum bilden regelmäßige Abzüge ihres Lohnes.
Der furchtbare Lohndruck ist wesentlich bedingt
durch das raffinierte Zwischenmeistersystem. Diese
Werke gehören Besitzern, die in München oder sonst
fern in einer Stadt wohnen und für die Exporteure
diesen Teil der Veredlung besorgen. Die Besitzer der
Schleifwerke setzen nun Werkmeister ein, die den
Betrieb beaufsichtigen. Gelegentlich ist dieser Zwi-
schenmeister zugleich auch der Besitzer, aber es ist
nicht die Regel. Der Meister stellt die Betriebs-
materialien. Er liefert von dem Geld, das ihm der
Besitzer zur Verfügung stellt, Filz, Gips, die rote
Farbe, Sand und Schmirgel. Er hat also das Interesse,
. daß mit diesem Material sparsam umgegangen wird.
Die Rechnung stellt sich nun so: Der Meister erhält
von dem Besitzer iooo M. in 14 Tagen. Die Summe
fällt zur Hälfte ihm zu, zur anderen dem Arbeiter.
In die 500 M.« teilen sich — ich führe ein konkretes
Beispiel an — 7 Schleifer, 4 Poliergesellen, 11 Dou-
ciererinnen. Je ein Drittel der 500 M. entfällt etwa
auf die drei Kategorien. Von den 500 M. bezahlt der
Meister Hilfsarbeiter und die Materialien. Ihm blei-
ben als dem einzigen, der nicht arbeitet, 150 M. für
14 Tage übrig. Durch dieses System wird auch der
letzte Rest von Verantwortung von den Unterneh-
mern abgewälzt. Aber es ist klar, daß der parasitäre
Zwischenmeistergewinn ein Raub am Arbeitslohn ist.
In ähnlichen Verhältnissen leben 2300 bayerische
Arbeiter und Arbeiterinnen. Aber gibt es denn keine
Gewerbe- Inspektoren, nimmt sich kein Gewerbearzt
dieses Elends an? O, dieses Reich ist den beamteten
82
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Hütern der sozialen Wohlfahrt durchaus nicht un-
bekannt. Jahr für Jahr tönen aus den Gewerbe-
berichten dieselben Klagen, die, so gedämpft sie auf
leisen Sohlen schleichen, die Wahrheit ahnen lassen.
Der Streik der Glasschleifer von 1905 lenkte die Ge-
werbe-Inspektoren auf die ungeheuerlichen Miß-
stände. Damals verkauften sogar noch die Zwischen-
meister die Materialien an die Arbeiter zu Wucher-
preisen und zogen sie vom Akkordlohn ab. Das we-
nigstens wurde beseitigt. Die Wohnungsverhältnisse
werden immer wieder in grotesker Sanftmut als „nicht
gute" bezeichnet. 1906 wurden 88 Wohnungen be-
anstandet, weil sie zugleich Wohn- und Arbeitsräume
waren. Sie waren „feucht, zu stark belegt, schmutzig,
Böden, Wände und Decken schadhaft, Fenster, Fen-
sterrahmen und Türen schadhaft oder nicht schlie-
ßend". Es wird von Kindern unter 12 und 13 Jahren
berichtet, die arbeitend betroffen wurden. Es wird
geklagt, daß die Bestimmungen über ärztliche Zeug-
nisse nicht beachtet werden. Es wird das Gutachten
eines Arztes mitgeteilt: „Tagtäglich kann die Be-
obachtung gemacht werden, daß die Arbeiter in den
Glasschleifereien und -Polierereien meist blasse, anä-
mische, krankhaft aussehende Leute sind, welche fast
sämtlich an chronischen Bronchialkatarrhen und tuber-
kulösen Erkrankungen der Lungen leiden." Ein an-
derer Arzt schreibt: „Bei den Arbeitern in den Glas-
schleifereien und Glaspolierereien handelt es sich um
die Einatmung eines äußerst scharfen, die Respirations-
organe im hohen Grade angreifenden, meist quarz-
haltigen Staubes. Äußerst schädlich auf die AtmUngs-
organe wirkt auch die rauchige Atmosphäre, welche die
schlechten öllichter verbreiten, womit die Arbeits-
räume beleuchtet werden." Auch Nachtarbeit von
kleinen Kindern wird konstatiert. Aber die Ge-
Werbeberichte entschuldigen diese unerhörten Zu-
stände immer schließlich mit den unvermeidlichen
6»
83
Bedingungen des schlecht gehenden Gewerbes, das
man nicht zerstören dürfe, und keinem fällt es ein,
zu erklären, daß eine Industrie wert ist, so schnell wie
möglich zugrunde zu gehen, wenn sie nicht bei men-
schenwürdigen Bedingungen existieren kann. Aber
die Verhältnisse könnten gebessert werden. Es ist
die Brutalität einer verantwortungslosen Ausbeutung,
die dieses verruchte System erzeugt hat.
So leben diese Arbeiter. Wie sterben sie ? Auch im
Tode finden sie keine Ruhe. Vor mir liegt ein Akten-
heft, das den Kampf um die Rente für einen getöteten
Arbeiter erzählt. Auch diese Papiere sind rot be-
stäubt» Eines Morgens findet man einen Polierer tot
mit zerschmettertem Kopf unten im Radraum. Neben
ihm liegt ein Handbeil und die geliebte Schmalzler- -
dose, die ihm beim Niedersinken offenbar aus dem
Schurz gefallen ist. Niemand war bei dem Unfall
zugegen, aber jeder Arbeiter weiß, wie er sich zu-
getragen hat. Am Wasserrad war irgend etwas nicht
in Ordnung. Der Mann nahm ein Beil und kroch in
der nächtlichen Benommenheit der Überarbeit hin-
unter, um die Maschine zu richten und in der Akkord-
arbeit nicht beeinträchtigt zu werden. Dabei traf ihn
eine Kurbel. Der Fall war klar. Nur nicht für die
Berufsgenossenschaft in Fürth, deren Phantasie eine
tolle und schamlose Räubergeschichte ersinnt, um die
Witwe ihrer Rente zu berauben. Der Rentenanspruch
wird abgelehnt mit der Begründung, daß der Ehemann
sich der Gefahr selbst ausgesetzt habe, weil er verbots-
widrig, während das Werk im Gange war, in den
Radraum kroch. Dann heißt es: „Wenngleich nicht
festgestellt werden konnte, zu welchem Zweck Ihr
Ehemann in die Radstube gegangen ist, so muß doch
aus der Sachlage der Schluß gezogen werden, daß Ihr
Ehemann nicht einer mit der üblichen Betriebsarbeit
an sich verbundenen Gefahr erlegen ist." Der Ver-
trauensmann der freien Gewerkschaft nimmt sich der
84
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Witwe an und legt Berufung gegen diesen Entscheid
ein. Die Berufsgenossenschaft beantragt die Verwer-
fung der Berufung und begründet ihr Begehren wie
folgt: „Es sei nicht anzunehmen, daß der Getötete
in der Radstube einen Keil hätte antreiben wollen.
Neben der Leiche ist auch die Tabaksdose gefunden
worden, so daß in den staatsanwaltschaftlichen Akten • . .
auch der Ansicht Ausdruck gegeben wird, die Tabaks-
dose sei durch eines der Löcher im Boden des Polier-
raumes .. . in die Radstube gefallen, Schmidt
(der Getötete) habe sie holen wollen und ßei dabei
verunglückt. Das Handbeil könnte dabei sehr wohl
zum Hervorlangen gedient haben." In der Tat
ein höchst geeignetes Instrument für diesen Zweck!-
Das Schiedsgericht erkannte auf die Zubilligung einer
Rente. Darob geriet der Vorsitzende der Berufs-
genossenschaft, ein königlicher Kommerzienrat, in eine
wilde Aufwallung tief verletzten Rechtsbewußtseins.
Und er legte beim Reichsversicherungsamt Rekurs ein,
indem er das Schiedsgericht wie folgt anblies: „Das
Schiedsgericht hat auf bloße Vermutung und ohne
jede positive beweiskräftige Unterlage hin als fest-'
stehend angesehen, daß Schmidt zum Zwecke irgend-
einer Betriebsarbeit das Werk betreten habe. Das;
ist kein Recht, sondern Willkür, gegen die
wir uns wehren." Aber auch das Reichsversiche-
rungsamt war der Meinung, daß ein Glasarbeiter nicht
für seine Tabaksdose sein Leben opfert und daß ein
Handbeil keine Stange ist. Es verwarf den Rekurs.
Seitdem ist der königliche Kommerzienrat der
Fürther Aristokratie überzeugt, daß es auf der Welt
kein Recht mehr gibt . . .
[1909]
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Unter der Sonne.
Nie geschaute Frühlingsbilder hat dieses starre
Preußen uns heuer gezeichnet: Aus den bewegten
Linien dunkler Kleider, die sich zu Tausenden drän-
gen, recken sich weiß leuchtende Hände zum Himmel
empor. Es sind harte Hände der Arbeit und der
Drangsal, verwitterte Hände der Sorge und des
Schmerzes, gefurchte, verstümmelte Hände; aber alle
diese Risse des Alltags sind unsichtbar geworden, auf-
gelöst in dem schimmernden Weiß, so wie sie sich
jetzt aus dem düsteren Gewirr strecken, sind es alles
dieselben schwörenden Hände des großen Willens und
des furchtbaren Zornes, weit und hoch entfaltete
Hände, die sich nicht in demütigen Gebeten ver-
schränken, sondern die frei und stolz rufenden Finger
dem Lichte zukehren, das an ihnen mild und reich
herabrinnt, als wollte es die Sonne selbst in die Her-
zen leiten. Wie Blüten sind diese Hände, die plötzlich
der Frühling auf steinigem Brachland erweckte. Eine
neue Schönheit hat der bedeutsame Augenblick ge-
boren : Über dem finsteren Millionenelend betrogener,
geplünderter Menschen, der farblosen Masse, die im-
mer nur anderen Farbe gewinnt, hat sich die unend-
lich gegliederte, in zahllosen Wandlungen doch ein-
heitliche Riesenblüte schaffender Hände strahlend
ausgebreitet, und diese öde Welt der Fron hat auf
einmal die Form und Farbe des Frohen gewonnen.
Eine neue Sonnenfeier ist wie über Nacht geworden.
Die Machthaber wußten wohl, was sie taten, als sie
sich weigerten, die Menschheitsbewegung unserer Zeit
in ungehemmtem Sonnenlicht sich ausbreiten zu lassen.
Mochten die Rebellen immer sich in öden, qualmigen
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Sälen einsperren, sich als Höhlenmenschen vor dem
natürlichen Licht verkriechen, da sah man sie nicht,
da sahen sie sich selber nicht, nur ihre Lungen wurden
zerdrückt und verstaubt und ihre Augen verlernten
im Licht zu schauen. Es war eine Aussperrung aus der
Natur, und die fahle Dämmerung ließ alle Schrunden
und Wunden in einem Grau sich verstecken. Nur
unter der Sonne reift die unzerstörbare Kraft, nur wer
in ihrem Licht, das jede Lüge entkleidet, zu bestehen
vermag, bezeugt sein großes, gesundes, ungebrochenes
Menschentum. Indem die Masse unter dem Himmel
sich ausbreitet, zählt sie sich nicht nur, fühlt sie sich
nicht nur, wächst in ihr nicht nur die sehnsüchtige Da-
seinsfreude und die tätige Entschlossenheit, sie gewahrt
auch die Zerstörungen, die ihr Leben an ihnen verübt
hat : die Sonne bringt es an den Tag, daß in der heu-
tigen gesellschaftlichen Verfassung, dieser ewig wäh-
renden Schlacht, die große Mehrzahl der Menschen
entstellende Wunden der Not und der Fesselung mit
sich schleppt, die sie schamvoll verhüllen möchte. Die
Sonne heischt die ungebrochene Schönheit des Men-
schen, und sie selbst wird zur Anklägerin wider die
Verbrecher an menschlicher Kraft, Größe und Rein-
heit. Unter der Sonne wird alles Unechte entlarvt,
aller hüllende Plunder und alles erheuchelte Gefühl
zerzaust : Nur die ganz starke Wahrheit kann sich in
ihrem richtenden Glanz bewähren. Nur in ihr können
frohe, ehrliche, brausende Feste des Lebens ent-
stehen!
Es lag von Anbeginn in der Maifeier des Proletariats,
daß die Wiedergeburt der Natur sich mit dem Früh-
lingswillen menschlichen Strebens innig verbände —
ein Sonnenfest erwachter Völker, ein Menschheitsfest,
das zum erstenmal wieder in farbiger Freude und
lachender Schönheit die ganze Erde einigen sollte.
Aber fast schien es, als ob die Kraft, Feste zu feiern,
versiegt sei. Das Maifest bildete sich keine eigenen
»7
Formen seines tiefen und heiligen Wesens. Es schleppte
den Geruch und den Druck des Werktags mit sich.
Wir nahmen an Veranstaltungen teil, nicht aber
an einem Fest, in dem sich der erhöhte Sinn des
Lebens offenbarte. Nur in unlustigen Sälen gab es
etliche Vergnüglichkeit und flüchtige Erbauung.
Von unseren Festen, diesen Ausströmungen mensch-
licher Freude in den Formen der Kunst, der zu un-
mittelbarem Leben gewordenen Kunst, gilt, was
William Morris von der Kunst selber sagt: „Verkauft
ist sie worden und billig fürwahr, achtlos vernichtet
durch die Gier und Unfähigkeit von Narren, die nicht
wissen, was Leben und Freude bedeuten, und sie
weder selbst besitzen, noch anderen gewähren wollen,
zum Opfer gebracht jenem Ungeheuer, das alle Schön-
heit zerstört hat, und dessen Name ist — Handels-
gewinn." In Wahrheit: sind nicht auch unsere Feste
zur Ware geworden, Spekulationsobjekte für Saal-
besitzer und Bierbrauereien ? Nicht nur unsere Ar-
beit wird ausgeschrotet, sondern auch unsere Freude,
und wenn wir in den kargen Minuten losgebundener
Knechtschaft mit ermüdeten Sinnen und kaum sich
selbst wagender und bejahender Sehnsucht uns dem
Schein einer Freiheit hingeben, so wird auch sie auf
dem Markt lärmend ausgeboten und feilschend ver-
wüstet. Unsere Feste von heute sollen eine Vor-
ahnung der Wirtschaftsordnung von morgen sein.
Diese Ordnung, die aus dem rohen Chaos der mensch-
lich-staatlichen Gesellschaft selbst ein Kunstwerk ge-
staltet, wäre nicht wert des Kampfes und der Opfer
gewesen, wenn sie nur (wieder mag William Morris
reden!) „die Bürde der Arbeit erleichtert hätte, ohne
ihr wiederum jene Elemente sinnlichen Vergnügens
beizumischen, das den Kern aller wahren Kunst aus-
macht." Der englische Künstler-Sozialist weiß, was
die Proletarier wollen, „und was sie aus den tiefsten
Tiefen ihrer Barbarei zu erretten vermöchte: Arbeit,
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die ihr Selbstgefühl nähren, ihnen die Anerkennung
und Teilnahme ihrer Genossen eintragen könnte, ein
Heim, das sie mit Freuden aufsuchen, eine Umgebung,,
die sie besänftigen und erheben würde; vernünftige-
Arbeit, vernünftige Rast. Aber nur eine Macht in-
der Welt kann ihnen das schenken, die Kunst." Keine
Kunst der Wenigen, sondern „eine Kunst, geschaffen
durch das Volk, als ein Glück für den Schöpfer, wie
für den Genießer." Die belebende Seele dieser neuen
Ordnung wird die Kunst sein und sie wird eine Ge-
sellschaft entwickeln, in der „die künstlerische Verede-
lung des Tagewerkes, an Stelle von Furcht und Not,
Hoffnung und Freude als diejenigen Kräfte einsetzen
wird, welche die Menschen zur Arbeit antreiben und
so die Welt in Gang erhalten."
Dieser großen Zukunft Gleichnis und körperlich im
voraus gestaltetes Abbild ist das Maifest, sollte es
sein! Darum muß auch seine belebende Seele die
Kunst sein. Wenn in der Völkerfeier des Mai die
Schreie des Zornes und die Weckrufe zukunftsträchti-
ger Zuversicht in Massenchören über die Erde hallen,,
so bedarf der politische und soziale Gehalt des kämp-
fenden Festes der reinen, farbigen Formen, um auf
die Seelen zu wirken, ihnen für immer ein Erlebnis zu
bleiben, sie als ewig treibende, gläubige Trösterei
durch alle die dumpfen und stumpfen Tage zu ge- .
leiten. Die Maifeier kann niemals zugrunde gehen ^
wenn es gelingt, ihren erhabenen Sinn in dem künst-
lerischen Ausdruck ihrer Verkörperung heranzuholen»
Nur wenn sie in einer eilig gepfuschten Routine er- .
starrt, wenn sie Jahr für Jahr in barbarischem Ge-
mengsei lediglich Antriebe und Vorwände für Lust-
barkeitssteuern darbietet, dann hat sie ihre Seele, ihr
Daseinsrecht verloren, auch wenn man sie mit pein-
licher Gewissenhaftigkeit zum fälligen Termin auf die
Tagesordnung immer wieder setzen mag.
Die früheren Zeiten kannten den bunten, ein wenig
8»
rohen, doch lustigen Kirmeslärm der Volksfeste, die
die Massen in einem Drang vereinigte und die echt
und lebensstrotzend waren, wenn sie auch zumeist
das listig verführende und beschwichtigende Geschenk
der Mächtigen waren. Die Volksfeste sind gestorben,
und was sich noch so nennt, sind, da ihnen alle innere
Volksgemeinschaft fehlt, leere entartete Nachahmun-
gen und Fälschungen. Wir aber streben heute von
den alten Volksfesten, die sich durch viele Tage des
Jahres häuften, zu einem Völkerfest: Ein Fest nur,
doch alle Völker! Das ist das Neue, Unerhörte, Ge-
waltige des Maifestes. Kein tollendes Betäuben über
den Jammer des Alltags, den man wehrlos wie eine
ewige Sckickung trug, kein bocksmäßiges Heraus-
springen aus sonst versperrtem Stall, wie in den Volks-
festen von ehedem, sondern ein Bergen und Ernten
zukünftigen Reichtums in der symbolischen Versinn-
lichung ernster Freudenfeier — das ist das Maifest
und das muß es zu formen imstande sein.
Wir brauchen die Farben der schlichten, echten,
feierlichen Freude. Die Masse selbst, die von einem
Ideal bewegt wird, gewährt uns den gewaltigsten Ur-
stoff, ein würdiges Fest zu gliedern, den die Mensch-
heitsgeschichte bisher dargeboten hat. Erfinden wir
ihm die Linie und die Farbe seiner stolzen Weihe,
rufen .wir die Künstler, die mit uns fühlen, uns zu
helfen. Nicht daß wir uns mit glitzerndem Plunder
und täuschendem Flitter behängen wollen, grelle Pa-
pierbluraen aufpflanzen und die Textilindustrie der
Anilinfarben über die Natur breiten, nein, wir rufen
nach der großen Einfachheit des Ausdrucks freier
Freude, die sich innig schmiegt in die umgebende
Natur und sichtbar auswirkt, was uns in Herz und Hirn
gärt und zur Sonne hervor drängt. Lichte Kleider der
Frauen und Mädchen, Frühlingsblüten in dem ge-
lösten Haar der Kinder, helle Gesänge der unfertigen
Jugend und die markigen Lieder der Reifen, und die
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große Kunst der klassischen Musik, der in Tönen eine
neue Menschheit kündenden Meister — und alles
unter der Sonne, furchtlos sich darbietend ihrer un-
bestechlichen, unbeirrbaren Prüfung. Und dann wird
am Ende einst der Tag kommen, wo wir nicht nur
geordnet, wie preußische Soldaten, durch die Straßen
ziehen und in den Parks uns regelrecht säuberlich
sammeln, wunderbar angepaßt der streng äugenden
Polizei, die im Lineal das Szepter Gottes anbetet,
sondern die farbig erglühende Masse tanzt durch die
Straßen und schlingt unter den Bäumen der jetzt nur
fürs Anschauen behüteten Stadtgärten den Reihen —
und alle Straßenbahnen, Automobile, Droschken hal-
ten vor solchem Mirakel still, und die ältesten Schutz-
mannsgäule wiehern vor erstauntem Vergnügen und
hüpfen, daß ihre Reiter herunterfallen und — mit-
tanzen . . .
[i. Mai 1910.]
9i
Festlicher Kampf.
Krieg und Kampf — das sind die beiden Gegen-
sätze der menschlichen Gesellschaft, das ist der Weg
von der Barbarei zur Kultur. Krieg ist das Raufen
um Vernichtung, Kampf das Ringen um
Vollendung. Die herrschenden Klassen führen Krieg,
die unterdrückten, aufwärtsstrebenden kämpfen. In
der kapitalistischen Welt herrscht unablässig verwü-
stender Krieg, durch den für wenige ein satter Friede
erkauft werden soll. Die sozialistische Welt will keinen
Krieg, um einen trägen Schlaraffenfrieden zu ernten;
sie will vielmehr den Frieden, um kämpfen zu können.
Nichts Größeres ist den Menschen gegönnt als der
Kampf; er ist der heiligste Inhalt des Lebens. Daß
dieses Dasein zum heiligen, zum festlichen Kampf
werde, ist höchstes Ziel menschlicher Kulturarbeit.
Und darum ist das Weltfest des Proletariats, der Mai-
tag, die tiefsinnigste Idee, die jemals verwirklicht
war, dieser Gedanke eines Feiertages, der zugleich
Fest und Kampf ist. In solcher Vereinigung ist un-
sere Maifeier, wie mühselig, in echt proletarischem
Schicksal sie sich immer vor dem Wirrsal der andrän-
genden Hemmungen behaupten und durchsetzen mag,
dennoch ein Vorklang jenes zukünftigen Lebens, das
festlicher Kampf sein wird.
Dieses Festgefühl sollten wir in unseren zähen,
oft klein und kleinlich scheinenden, bisweilen hoff-
nungsarm ermattenden Werktagskämpfen niemals ver-
gessen. Wo und wie sich das Proletariat betätigt, ob
in der Enge des Dorfes oder der Unrast der Weltstadt ;
ob auf dem Acker oder in der Fabrik, ob es seinen
Stimmzettel in die Urne wirft, in Versammlungen de-
92
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monstriert, Flugblätter austrägt, in einer Werkstatt-
beratung noch so winzige Verbesserungen seiner Ar-
beitsverhältnisse erörtert; ob es genossenschaftlich die
Beschaffung von Nahrung und Hausung organisiert,
ob es sich in das freie Wort seiner Presse versenkt, mit
hingebendem Fleiß um wissenschaftliche Erkenntnisse
sich bemüht oder sein Gefühl in künstlerischen Offen-
barungen erfüllt — stets umwittert den Proletarier
die Größe seiner weltgeschichtlichen Auf-
gabe und, indem er um das Nächste und Beschei-
denste kämpft, erhebt er sich zum ahnungsvollen Bür-
ger einer erhabenen Zukunft, die er selbst rüsten hilft
Das helle Mailicht begleitet den aufrechten Proletarier
durch alle Tage des Jahres, und in keinem Tun ver-
gißt er die festliche Begeisterung, die er seinem Werk
schuldet.
Ludwig Feuerbach hat in einem schönen und
kühnen Gleichnis die Erhabenheit des Alltäg-
lichen gezeichnet: „Essen und Trinken ist das My-
sterium des Abendmahls — Essen und Trinken ist in
der Tat an und für sich selbst ein religiöser Akt; soll
es wenigstens sein. Denke daher bei jedem Bissen
Brot, der dich von der Qual des Hungers erlöst, bei
jedem Schluck Wein, der dein Herz erfreut an den
Gott, der dir diese wohltätigen Gaben gespendet —
an den Menschen! Aber vergiß nicht über der
Dankbarkeit gegen den Menschen die Dankbarkeit
gegen die Natur! Vergiß nicht, daß der Wein das
Blut der Pflanze und das Mehl das Fleisch der Pflanze
ist, welches dem Wohle deiner Existenz geopfert wird !
Vergiß nicht, daß die Pflanze dir das Wesen der Natur
versinnbildlicht, die sie selbstlos dir zum Genüsse hin-
gibt ! . . . Hunger und Durst zerstören nicht nur die
physische, sondern auch die geistige und moralische
Kraft des Menschen, sie berauben ihn der Menschheit,
des Verstandes, des Bewußtseins. O, wenn du je
solchen Mangel, solches Unglück erlebtest, wie wür-
93
dest du segnen und preisen die natürliche Qualität
des Brotes und Weines, die dir wieder deine Mensch-
heit, deinen Verstand gegeben! So braucht man nur
den gewöhnlichen gemeinen Lauf der Dinge zu unter-
brechen, um dem Gemeinen ungemeine Bedeutung,
dem Leben als solchem überhaupt religiöse Bedeu-
tung abzugewinnen."
Unser Maitag ist solche Unterbrechung des ge-
meinen Laufs der Dinge, um dem Gemeinen un-
gemeine Bedeutung zu geben. Er lehrt uns die Alltäg-
lichkeit unseres Kampfes in seiner Größe erkennen,
das Glück des Kämpfens selbst im Innersten empfin-
den, er bestärkt und befeuert uns in der erhabenen
Überzeugung, daß der Klassenkampf des Proletariats
die schaffende Vernichtung des Klassenkrieges ist, den
die Herrschenden unbarmherzig und sinnlos zu führen
verurteilt sind.
Man sollte unsern Kampf nicht mit dem Kriege
jener vergleichen. Es ist nichts Gemeinsames zwischen
diesen beiden Betätigungen. Kämpfen ist Schaffen,
Kriegen isj Zerstören. Es ist nicht das Ringen mora-
lisch Ebenbürtiger, das zwischen den beiden Lagern
brandet. Das sind die Kämpfer des Daseins, die das
festliche Schöpferglück noch in dem Augenblick be-
gnadet, da sie im Übermaß der Kraftanspannung zu-
sammenbrechen. Der Denker ist Kämpfer, der die
quellende Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in klaren
einfachen Gedanken zu bändigen sich quält. Der
Künstler ist Kämpfer, der das Schicksal der Mensch-
heit in großen Gesichten zu gestalten ringt — bis zur
verzehrenden Aufopferung seines Selbst. Wer auf
schwankem Fahrzeug hoch über der Erde im weiten
Luftmeer, den tödlichen Sturz vor Augen, uner-
schrocken steuert, wer in die Eisgefilde fernster Ein-
samkeit vordringt, wer den verderbenden Krankheits-
erregern im menschlichen Körper, die grauenhaften
Geheimnisse ihres Wirkens nachspürt — der weiß,
94
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was Kämpfen heißt. Wer mit schwerem Schritte die
Scholle bearbeitet, wer glühendes Metall zu zweck-
mäßig sinnvoller Form unterwirft — sie alle gehören
zu dem Maiheere der Kämpfer.
Die Herrschenden aber kämpfen nicht, sie füh-
ren Krieg, sie zerstören. Sie rasen in allen Ländern
und Ströme von Blut fließen. Bald führen sie Rachezüge
gegen wildwüchsige Naturvölker und rotten sie im
Namen der Zivilisation aus, bald treiben sie zivili-
sierte Nationen mit Kanonen, Maschinengewehren,
Panzerschiffen gegeneinander. Jetzt entfesseln sie un-
blutige, aber kaum minder grausame Völkerkriege
durch Zölle und Sperren, dann toben sie in inneren
Fehden: Die Straßen röten sich vom Blut wehrloser
Bürger, frecher Übermut sperrt Tausenden Raum
und Werkzeuge der Arbeit, Rechte und Freiheiten
werden zertreten. Gerichtssäle und Gefängnisse, Ar-
beitshäuser und Prügelheime, Kasernen, in denen die
Leiber entseelt, und Kirchen, in denen die Geister
entkörpert werden, das sind ihre Kriegsschauplätze.
Blickt in die Fratzen dieser Krieger, wo gewahrt ihr
Größe, Begeisterung, oder auch nur ein gutes Ge-
wissen? Sie säen Tod und ernten Verwesung. In all
ihrem Glanz, in all ihrer Macht, in all ihrem Reich-
tum irren sie doch scheu, wie von der Weltacht Ge-
bannte und Verfluchte, unstet durch ihre Zeit, die
für sie zum ewigen Grabe wird. Sie haben nichts,
wofür sie kämpfen dürfen. Sie kennen ja nur
Unterdrückung und Erniedrigung. Sie wissen nichts
von der Unsterblichkeit des Kämpferglücks, das des
endlichen Sieges gewiß ist. Ihr zittert vor euren eige-
nen Geschossen und Sprengstoffen, vor euren eigenen
Klassengenossen und noch mehr vor denen, die ihr
beraubt. Wir aber reichen, mit unbewehrten Händen,
unbekümmert um alle Schrecken stählerner Waffen
und blutiger Gesetze die brüderlichen Hände über alle
Grenzen und rufen, ob man uns tausendfach als Hoch-
95
-Verräter schmähen und verfolgen mag, alle zu Hilfe,
die mit uns bereit sind, in festlichem Kampf ein neues
Leben aufzubauen ; und fast sind wir weichmütig, euch
übermächtige, uns bedrohende Feinde zu bedauern,
daß ihr nichts verspüren könnt von der Fülle unserer
Sehnsucht, Tapferkeit und Zuversicht.
Der erste Mai ist unser Fest aus eigenem
Recht. Keine Kirche lockert dem Pöbel die Zügel
für kurze Rauschstunden, kein König läßt seinen Un-
tertanen aus Marktbrunnen roten Wein fließen und
den Hungernden zu stumpfer Völlerei Ochsen braten.
Die Masse, die unser ernstes, verfolgtes und gefährdetes
Fest feiert, ist nicht mehr euer geduldiges, armseliges,
feiges Volk, dem ihr die Glieder und Gedanken nach
Willkür verstümmelt, und das ihr mit huldvollen Ver-
gnüglichkeiten begnadet, nachdem es euch sein Men-
schentum geopfert hat. Wir wollen kein Recht, das
wir nicht selber erobert, keine Freiheit, die
wir nicht selber gefügt, keine Freude, die
wir nicht selber gespendet, und auch kein
Fest, das wir nicht selber uns gewonnen.
Dazu erziehen wir dies neue Volk, daß jeder sich
selber zu erziehen wisse, daß jeder verstünde, seinem
Dasein Wert und Würde zu verleihen, sein Schicksal
klug und tapfer zu lenken: jeder einzelne, in sich ge-
reift und gehämmert, ein Kämpfer für sich und doch
-ein frei sich fügendes Glied in der Gesamtheit —
festlichen Kampf!
[i. Mai 1911.]
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Die Kindesmörderin.
Durch die Weltgeschichte des Frauenelends schleicht
das blutige Gespenst der Kindesmörderin. Unzählige
sind in Schande und Marter zugrunde gegangen, und
die Frau allein trug das Martyrium. Der Mann er-
scheint an ihrer Seite nur als Richter, Folterknecht
und Henker; aber der mitschuldige Mann, der das
Kind zeugte, ist niemals dort zu finden, wo die Frau
geopfert wird, er zieht leichten Herzens ungestraft
seines Weges, den lustigen Geschmack genossener
Buhlschaft auf den Lippen, nach neuem Zeitvertreib
auslugend.
Bis in das Ende des 18. Jahrhunderts lastet die ganze
Grausamkeit mittelalterlicher Justiz auf der armen
Dirne, die unehelich empfing, um ein bißchen Liebe
zu genießen. Die uneheliche Mutter war nicht nur
gesellschaftlich geächtet, sondern sie verfiel durch die
„Unzucht" auch der kriminellen Ahndung. Und
doch stießen die vielen Eheverbote und Eheerschwe-
rungen ständischer, konfessioneller und materieller Art
die Frau fast gewaltsam in das ungeweihte Bett der
Liebe. Die Geburt eines Kindes bedeutete ihre Aus-
stoßung aus der Gesellschaft, entledigte sie sich aber
der verfluchten Bürde, die in Angst und Qual ihren
Schoß unentrinnbar schwellen ließ, so ward sie von
rohen Knechten mit glühenden Zangen zum Ge-
ständnis gebracht, an den Galgen geknüpft, gepfählt,
im Sack ertränkt oder lebendig begraben — unter
pfäf fischen Gebeten.
Die revolutionäre Weltstimmung am Ende des
l8. Jahrhunderts, das die Menschlichkeit wieder ent-
deckte, linderte auch das Los des Kindesmörderin.
7 Blsner , Getammelte Schriften. II.
97
Pestalozzi, der große Erzieher, der die ganze Tragik
eines einsamen, allzu feurigen Idealismus in seinem
Dasein auskosten mußte, hatte aus dem Studium der
Gerichtsakten die Erkenntnis gewonnen, daß häufig
die uneheliche Mutter im Augenblick der Geburt im
kranken Zustande geistigen Wahns unfrei und be-
wußtlos das Verbrechen mechanisch verübte, und
predigte leidenschaftlich Milde für die Unglücklichen.
Eine Preisaufgabe wurde gestellt: „Welches sind die
besten ausführbaren Mittel, dem Kindesmorde abzu-
helfen, ohne die Unzucht zu begünstigen." Die drei
preisgekrönten Arbeiten wurden 1784 in Mannheim
veröffentlicht. Die Dichtung nahm sich der Kindes-
mörderin an: H. L. Wagner, Bürger, Schiller weihten
die Märtyrerin, und in der Gretchen-Tragödie des
Faust schuf Goethe erbarmend und begreifend aus der
gefolterten Kreatur der Henkersknechte eine weltliche
mater dolorosa.
Heute hat das Recht die Strafe für Kindesmord ge-
mildert, aber nur unter gewissen Voraussetzungen gilt
diese Tötung nicht als Mord. Das deutsche Straf-
gesetzbuch versteht unter Kindesmord nur die Tötung
eines unehelichen Kindes in oder gleich nach der Ge-
burt durch die Mutter. Das französische Strafgesetz
begreift darunter die Tötung jedes Neugeborenen
durch irgendeine Person. Im Vorentwurf zum schwei-
zerischen Strafgesetzbuch ist Kindesmord die vorsätz-
liche Tötung eines Kindes durch die Gebärende unter
dem Einfluß des Gebäraktes.
Die Rechtswissenschaft streitet über die Gründe,
welche solche Milderung der Strafe vor dem gewöhn-
lichen Mord rechtfertigen. Die Auffassung Pestalozzis
von der Bewußtseinstrübung im Vorgang des Gebärens
kämpft mit der anderen, die mit der Furcht vor
Schande die Herabsetzung der Strafe rechtfertigt. Die
psychologischen Einwirkungen des Geburtsaktes auf
die Zurechnungsfähigkeit werden von einzelnen Kri-
98
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minalisten gänzlich geleugnet, die nur den „Ehrennot-
stand" gelten lassen, die Furcht vor Schande.
Von dieser Streitfrage ausgehend, sich aber weit
über ihre Enge erhebend, untersucht Margarete Meier
auf Grund von Material des Züricher Universitäts-
instituts für gerichtliche Medizin die Psychologie des
Kindesmordes. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung
veröffentlicht sie in einer ganz hervorragenden Arbeit
im „Archiv für Kriminal-Anthropologie" (1910, Heft
3/4). Dieser auf persönlicher Beobachtung von Kindes-
mörderinnen und Aktenstudium beruhende „Beitrag
zur Psychologie des Kindesmordes" müßte unmittelbar
eine fundamentale Änderung der Gesetzgebung ver-
anlassen, wenn sie durch Vernunft und Humanität,
statt durch Klasseninteressen bestimmt würde.
Jene Streitfrage beantwortet Margarete Meier da-
hin, daß eine durch den Geburtsvorgang verursachte
Verminderung der Zurechnungsfähigkeit in keinem
Falle nachzuweisen sei. Wenn aber auch keine Be-
wußtseinstrübung vorhanden ist, so befindet sich die
Frau dennoch durch die Geburt „in einer so neuen,
ungewohnten Situation, sie steht unter dem Zwange
einer solchen Menge drückender Tatsachen, an einem
solchen Wendepunkt ihres Lebens, daß ihr Zustand
nicht normal genannt werden kann". Gerechtfertigt
sei, den Geburtsvorgang als strafmildernd zu berück-
sichtigen, nicht berechtigt aber, daß er „das Strafmil-
dernde überhaupt sei". In der Tat sind die anderen
Motive des Verbrechens ungleich wichtiger. In den
von Margarete Meier untersuchten Fällen wirkten als
Motive der Tat, sich mehr oder weniger miteinander
verflechtend :
Verlassenheit (im engeren Sinne) durch den Kindes-
vater achtmal;
Verlassenheit im weiteren Sinne (weil die Frau keinen
Halt an ihrer Umgebung hatte) elf mal;
Ehrennotstand sechsmal;
v
99
Finanzielle Not achtmal;
Abneigung gegen Kind und Vater dreimal;
Abneigung gegen das Kind einmal.
Gemeinsam ist allen Fällen:
1. daß die schwersten Verantwortlichkeiten nicht in
den Täterinnen selbst liegen,
2. daß die Täterinnen Gelegenheitsverbrecherin-
nen sind,
3. daß die Verhältnisse überall der Entwicklung des
mütterlichen Gefühls entgegenwirken.
Zur Erläuterung bemerkt die Verfasserin: „Bei den
Verbrechen der Frau und namentlich bei ihren sexuel-
len Verbrechen, wie Kindesmord usw., den Mann zu
suchen, der selbstverständlich dahinter steckt, das
wäre so naheliegend und natürlich." Aber den Mann
zu suchen würde nichts nützen; „denn das Gesetz
kann ihm nichts tun, weil er entweder . . . nichts
juristisch Wägbares getan hat oder weil er wie die un-
ehelichen Väter durch ein besonderes Gesetz geschützt
ist". „Er kann durch das Gesetz nur höchstens zur
Linderung der finanziellen Not herangezogen werden ;
dafür, daß er die uneheliche Mutter der Schande und
der Verzweiflung des Verlassenseins preisgibt, dafür
kann kein Gesetz ihm etwas anhaben. Viel mehr als
die finanzielle Not drängen aber die letzteren Mo-
mente die Unglücklichen zu ihren Verzweiflungs-
taten." „Jedenfalls existiert meines Wissens zur Zeit
kein Gesetz, daß man dem Manne für die unehelichen
Kinder die gleiche Verantwortung auferlegt, wie für
die ehelichen. Bei diesem Rechtszustand sollte es für
jedes Gesetz und für jedes Gericht Ehrensache sein,
die Tötung eines unehelichen Kindes durch dlt Mut-
ter oder einen anderen Anverwandten, auf den die
Last fallen würde, so gelinde als irgend möglich zu
bestrafen, denn dieser Rechtszustand ist an allen diesen
Verbrechen mitschuldig. Die scharfsinnigen Erwä-
zoo
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gungen über Ehrennotstand und Einfluß der Geburt
sollten eigentlich für diese Fälle überflüssig sein."
Ist so der heutige Rechtszustand mitschuldig, so
nennt Margarete Meier die Tötung des Kindes mir
Fug eine Art mütterlichen Selbstmordes. Fast alle
die Kindesmörderinnen stammen aus kleinbäuerlichen,
durch Geisteskrankheit und Alkoholismus entarteten
Familien. Es sind kranke Sprößlinge, deren Beseitigung
für die Gesellschaft, wie Margarete Meier mit einer
gewissen Härte meint, keine Schädigung bedeutet.
Fast könnte man glauben, daß die Natur den Kindes-
mord bisweilen als Kunstgriff wählt, um die Gesell-
schaft nicht mit menschlichen Krüppeln zu belasten.
Ein Teil der Täterinnen ist geisteskrank, fast alle in
verschieden hohem Grade geistig oder moralisch oder
geistig und moralisch minderwertig. Endlich ist der
Entschluß zur Tat in den seltenen Fällen vorgefaßt
und wird meistens „den Täterinnen durch den Wunsch
erdrückender Tatsachen und Verhältnisse erst im Mo-
ment der Tat aufgezwungen".
Es sind armselige Geschöpfe, deren Schicksal uns
Margarete Meier zeichnet. Aber keine, auch die nicht,
welche für Lebenszeit ins Zuchthaus gesteckt wurden,
ist so verworfen, wie — Goethes Gretchen, deren
Missetaten die Verfasserin aus der Sprache des Dichter-
herzens in die heutige Gerichtssprache übersetzt; ein
besonders leichtsinniges, verbrecherisches Mädchen,
das sich einem hergelaufenen Manne ergibt, von dem
es nichts weiß, der ihm nicht einmal die Ehe ver-
spricht, das die Mutter vergiftet, das Kind ertrankt.
Der Dichter macht die Seele reden, den „dunklen
Drang" mit dem „das Gericht bis jetzt nichts anzu-
fangen weiß".
Die Fälle, die Margarete Meier darstellt, lassen in
Abgründe unserer Kultur blicken. Da tötet eine arme
Großmutter das Enkelkind, weil sie schon so viel Plage
mit den unehelichen Kindern ihrer Töchter gehabt
iox
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hat. Eine furchtbare Tragödie zerschmettert eine gut-
erzogene, aus günstigen Familienverhältnissen stam-
mende Frau. Zwei Schwestern, die in Bureaus tätig
sind. Sie leben zusammen, schlafen in einem Zimmer,
prüde, ein Jahrzehnt lang scheinbar ohne sexuelles
Leben. Aber die eine Schwester hat ihren heimlichen
Roman mit einem verheirateten Manne. Sie wird
schwanger. Sie wird von Wehen befallen, und ohne
daß die Schwester etwas ahnt, gebiert sie nachts ein
Kind und vernichtet es. Kein Arzt. Sie schleppt sich
aufrecht und wird schwer krank. Das verrät die heim-
liche Geburt. In einem Spital erhängt sie sich an
einem Bettlaken. „Das gleiche, wofür ihrem Ge-
liebten weder von der Welt noch von den Gesetzen
ein Haar gekrümmt wird, muß sie mit einem Ver-
brechen und mit dem Leben bezahlen." Ein Dienst-
mädchen tötet aus Angst vor Schande und Not ihr
Kind, das ein Witwer ihr gezeugt hat. Wie sie wieder
freikommt, verkriecht sie sich vor allen Menschen;
„sie würden mit den Fingern auf mich zeigen," schreibt
sie der Verfasserin. Eine in einem Hotel beschäftigte
Bauerntochter wird von einem Reisenden trunken ge-
macht und verführt. Der prahlt am anderen Tage,
„die habe er erwischt". Das Mädchen hat niemals
einen Menschen gehabt, zu dem sie Vertrauen gehabt
hat; nie jemand geliebt. Sie verlobt sich während
der Schwangerschaft mit einem Handwerker, dem sie
ihren Zustand verbirgt. Dann tötet sie das Kind, das
zwei Monate zu früh in die Welt will. Im Zuchthaus
findet das verängstete und verstoßene Wesen Frieden.
Ein anderes Mädchen wird durch ein Ehever-
sprechen gefügig gemacht. Sie lebt mit dem Ge-
liebten zusammen — vor der Welt Mann und Frau.
Vor der Hochzeit und der Geburt verschwindet der
Liebhaber. Sie kommt sich vor „wie die unglücklichste
und verlassenste Kreatur der ganzen Welt". Nun
wird die Welt erfahren, daß sie nicht verheiratet
102
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waren. Sie ist ganz arm, muß zehn Franken stehlen.
Und sie läßt das Kind bei der Geburt verbluten.
Diese Frau ist wis die meisten andern ganz unwissend.
Sie wird gefragt, wer die Jungfrau Maria gewesen sei.
Sie antwortet: Die Mutter Jesus. Auf den Einwand:
wie konnte sie denn Jungfrau sein, ist sie ganz ver-
dutzt und sagt: Dann war sie wohl die Schwester
Jesus.
Wie sich der Mann verhält, zeigt der Fall eines
erblich schwer belasteten Mädchens, das ihr Kind
vergiftet. Als der Geliebte für das — noch lebende —
Kind nicht mehr zahlen wollte, schrieb er ihr die
zärtlichsten Briefe, sie sollte nur alles zahlen, er würde
ihr's später zurückgeben. Als er aber die Tat erfuhr
und in der Zeitung las, daß das Mädchen leugnete,
schrieb er an das „hohe Schwurgericht", es wäre ganz
verfehlt, eine „solche überwiesene leichtfertige Per-
son4* gelinde zu strafen; „der Jammer des lieben Kindes
soll gesühnt werden in seiner ganzen Schwere". Und
in einem Postskript bittet er — um Rückzahlung der
Beträge, die er anfangs für das Kind geleistet hatte.
Unter diesen Kindesmörderinnen findet sich auch
ein Glied jener Trinker- und Vagantenfamilie Zero,
die Dr. Jörger beschrieben hat. Lina Zero, ein Typus
völliger Entartung, zweifellos geisteskrank und doch
nicht ohne menschliche Züge, die sich in alles schickte,
weil sie niemals ein vernünftiges Leben fand, sondern
nur eine Welt von Elend, Verwüstung und Erbar-
mungslosigkeit kannte. Ein Kind, das sie leben ließ,
war ein taubstummer Idiot. Lina Zero strengte stolz
niemals Vaterschaftsklagen an; 'mochten die Männer
gehen, wenn sie nicht freiwillig gaben. Sie tötete ein
Kind aus finanziellen Gründen. „Sie haßte die Kin-
der nicht, aber so lange sie da waren, mußte sie ihren
ganzen Verdienst hergeben."
Margarete Meier verlangt in ihrer Schlußbetrach-
tung Hinzuziehung von Frauen zu den Gerichten,
103
Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kin-
dern, strafrechtliche Verantwortung des Mannes,
wenn er durch seine Schuld das Motiv der Tat mit
verantwortet hat . . .
Brouardel hat in seinem Buch über den „Kindes-
mord" den Satz ausgesprochen, daß nur die anstän-
digeren verführten Mädchen ihr Kind töten; die
schamloseren bringen es zur Engelmacherin, bezahlen
einige Monate lang, dann verschwinden die Mütter
und kümmern sich um die Kinder nie mehr. Dieser
indirekte Kindesmord ist für die Gesellschaft unend-
lich wichtiger als das direkte Verbrechen, weil er um
so häufiger ist. Aber das gesellschaftliche Elend und
der soziale Unverstand ist auf diesem Gebiete so
riesengroß, daß moralische Entrüstung überhaupt
nicht an das Problem heranreicht. Ist doch die ver-
heerende Säuglingssterblichkeit nichts wie Kindes-
mord, den die Gesellschaft unablässig verschuldet
und verübt.
[1911.]
104
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Vom unheiligen Wortgeist.
Eine Pfingstlegendc
Sokrates, der weiseste aller Menschen, fühlte, daß
der Schierlingstrank in seinem Leibe seinem Erfolge
nahe war; seine Glieder waren starr und schwer.
Da überflog er sein Leben. Er hatte die Kunst
geübt, aus den Menschen die Vernunft herauszu-
locken. Er stellte so listig allerlei Fragen an sie, daß
alle schließlich den Weg zur eigenen Menschenver-
nunft fanden; alle Griechen kamen zu sich selbst.
Niemand hatte sich dieser Macht entzogen. Alles
dachte mit dem Verstände des Meisters. Nur sein
Eheweib nicht. Aber das kam nur daher, weil ihn
seine Frau gar nicht erst zum Fragen kommen ließ.
Um so besser hatten die griechischen Bürger seine
Kunst begriffen; und die Gefahr seiner Kunst. Wie,
wenn er auch begann-, die Sklaven die sokratische
Vernunft zu lehren, indem sie an sich die einfache
Frage richteten: Warum bin ich Sklave? Das war
offenbar gegen die Ordnung der Götter. Also wurde
Sokrates wegen Götterlosigkeit zum Tode verurteilt.
Und heiteren Gemütes trank er den Giftbecher.
Wie aber nun seine Freunde sahen, daß ihr Meister
alsbald von hinnen gehen würde, weinten sie. Da
lächelte Sokrates und sprach:
„Weinet nicht, o meine Freunde. Denn jetzt werde
ich in den Olymp meiner Seele eingehen. Meine
rastlos fragende Seele wird fortan nicht gehemmt und
beschwert durch die Häßlichkeit und Gebrechlichkeit
des Leibes, und meine Seele wird künftig die Men-
schen beiragend zu reiner Antwort läutern. Kein
Schierlingsbecher vermag den ewigen Flug meiner
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Seele zu senken. Niemand vermag mich mehr zu ver-
folgen, und, glaubet mir, des Sokrates Geist wird nun
in allen Menschen leben und in ihnen die Wahrheit
erfragen. Dann werden selbst die Böotier menschlich
weiser werden als die Gebildeten des Volks von Athen.
Mein unsterblicher Gsist wird in allen Köpfen fragen,
und die unreinen Schlammbäche wilder Triebe wer-
den klar und leuchtend über die geglätteten, geschlif-
fenen hellen Kiesel vernünftiger Begriffe tanzen.
Lachet darum, o meine Freunde, daß mich der Schier-
ling sinnlos einfältiger Verfolgung nun ganz befreite.
Jetzt beginnt mein unsterbliches Leben."
Mit diesen Worten auf den bläulich geschwollenen
Lippen starb Sokrates. Seine Freunde aber gingen
hinaus und verbreiteten die frohe Botschaft: Des So-
krates heiliger Geist ist, aus der Gebundenheit des Lei-
bes befreit, zur Erde niedergefahren, und sein Heim
und Herd ist fürderhin in aller Menschen Denken
und Wollen! Befraget nur ernstlich eure Seelen,
lauschet in eure Herzen, und Sokrates wird aus eüch
zu euch antworten!
So kündeten die Freunde. Und wahrhaftig, es be-
gann ein mächtiges Fragen und Reden unter den Men-
schen. Sie stellten die Worte so künstlich wie Vogel -
fallen, daß sich auch der stumpfeste Geist in ihnen
verfing und nicht mehr vermochte herauszufinden.
Alles ward vernünftig. Man tat nichts, was nicht auf
einem gesetzlichen Grunde beruhte und auf einer
Einheit des Denkens ; und alles, was die Menschen ver-
richteten, leiteten sie von obersten Sätzen ab, die
man ewige Wahrheiten nannte.
Aber ein finsterer Dämon schien sein Spiel mit
den Worten zu treiben. Denn die Vernunft recht-
fertigte den grauenvollen Wahnsinn, das Denken er-
dachte gaukelnden Aberglauben, und aus all den sinn-
reich gereihten Worten entsprang schließlich scham-
los schmutzige Lüge.
106
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Immer finsterer wurde die Welt und gequälter die
Menschheit, der dann die Herrschenden die weise
Notwendigkeit so zwingend sokratisch bewiesen, daß
die Unseligen es selber glaubten und sich gar brüsteten
mit solcher Wissenschaft.
Die echten Jünger des Sokrates aber begannen dem
Meister zu fluchen, der alle betrogen hatte. Da er-
schien eines Nachts der Geist des Sokrates leibhaftig
vor ihnen und verteidigte sich, unter Tränen: „O
meine armen Freunde! Das Volk von Athen hat
nicht nur meinen Leib vergiftet. Der verfluchte
Schierlingssaft ist auch in meine Seele ge-
drungen! Und dieser Schwindelgeist ist seitdem in
alle Hirne geflossen. Die Worte, die Diener und
Werkzeuge vernünftiger Dinge sein sollten, sind
selbstherrlich geworden und taumeln toll und trunken
durch die Gassen, losgelöst von der inneren Zucht des
Gedankens, und doch sich spreizend in den befleckten
Lumpen der Vernunft. Ihr aber, meine Freunde,
sollt mich erlösen, mich und die ganze Menschheit.
Wohlan, treibt den Schierlingsgeist aus den Seelen !"
Da gelobten sich die Freunde, den Meister zu er-
lösen, und die ganze Menschheit.
Jedoch das Schierlingsgift rann unzerstörbar in den
Adern der Jahrhunderte, ließ sie taumeln und wollte
sich nicht erschöpfen.
Verbrecher raubten den Menschen ihr Land und
nannten sich die Edlen, daß alle vor ihnen knieten in
Ehrfurcht. Damit sie aber Hehler und Helfer ihrer
Verbrechen hätten, erfanden sie die Treue und
nannten sie die höchste Tugend. Sie trieben die Völ-
ker widereinander, daß sie sich mordeten, und hei-
ligten die Untat als Tapferkeit und Kampf für
das Vaterland. Verwilderte Herrschsucht legte die
Hirne in Fesseln und sie sprachen von Gott, Reli-
gion, Liebe, Demut, Glauben, Frömmigkeit.
Der Aberwitz ward Gesetz und hieß sich Autorität.
107
Die Freuden des Daseins wurden verleumdet: Sin-
ne nlu st ward ein Brandmal. Wehe denen, die sich
auflehnten gegen die Finsternis ! Das Wort erhob sich
gegen sie: Ketzer! und war tödlich. Oder ein an-
deres Wort klirrte: Aufrührer! und erwürgte. Wehe
dem Weibe, das einen Feind hatte: Viele Zehntau-
sende starben unter Martern an dem einen Worte:
Hexe! Immer aber ward alles bewiesen, nach rechten
Regeln des Verstandes. Man unterdrückte und nannte
es Recht, man vergewaltigte und sprach von Ord-
nung. Man sog den Armen ihre Arbeit aus den Lei-
bern und verschlang sie ruchlos, sagte aber: Ich gebe
dir Brot! . . .
Fast begannen die Jünger des Sokrates am Kampfe
zu verzagen. Dennoch blieben sie aufrecht und ran-
gen um die Reinigung der Vernunft. Und siehe da!
Auf einmal fingen die Worte an, sich zu den Dingen
zurückzufinden, und wurden zu Waffen wider den
Erbfeind des Menschengeschlechts. Man sprach aus,
was ist. Fortan aber wandelte sich das Spiel der
Irrgeister. Alles Elend und jede Gemeinheit er-
trugen sie gelassen; keine Wirklichkeit, und mochte
sie noch so schimpflich sein, störte ihr Behagen. Nannte
man aber das Ding beim Namen, so fielen sie rasend
über die Worte her und über die Menschen, die sie
aussprachen. Was sie im Leben sahen, nahmen sie
still und feig hin, so es aber in den Abbildern des
Wortes oder der Linie vor ihnen erschien, trieb es
sie zur Wut. Solches Tun aber nannte man Ent-
rüstung.
Und eines Tages geschah es, daß ein Fürst einem
Stamm gedrohet hatte, ihn in Scherben zu schlagen
und die Scherben ins Preußenland zu verhandeln.
In einem großen Hause, darinnen man viel Worte
verlor, erhob sich aber ein Schüler des Sokrates und
holte behaglich, getreu der Kunst seines Meisters,
aus der Drohung des Fürsten alles das heraus, was in
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ihr eingewickelt verborgen war. Niemals hat der Erd-
kreis solche Entrüstung erlebt, wie sie damals ausbrach !
Und unzählige Fäuste erhoben sich gegen den Misse-
täter: „Bube, du hast Preußen beschimpft!
Pfui!!"
In diesem Augenblick aber erscholl aus den Lüften
ein ungeheures Lachen.
Der Geist des Sokrates war erlöst und lachte, be-
freit endlich von aller Qual.
Mit jenem Riesenkonsum von Entrüstung war das
alte Schierlingsgift auf einmal — aufgebraucht! . . .
[Mai 191 2.]
109
Der Zuhälter.
Eine Erinnerung.
Ein Zuhälter hat zu mir einmal ein Wort gesagt,
das mich aus dem Dünkel meines geistigen und mora-
lischen Selbstbewußtseins stürzte. Das ist nun schon
viele Jahre her. Aber wenn ich alle Äußerungen von
Menschen und in Büchern überdenke, die Einfluß
auf mich gewonnen, es will mir scheinen, daß keine
andere in mir so lebendig geblieben ist, und jedesmal
mich wieder so sicher auf den Weg menschlich be-
greifender Duldsamkeit zurückführt, wenn es mich
lockt, an dem Gesellschaftsspiel der sittlichen Ent-
rüstung teilzunehmen.
Die Geschichte sollte übrigens richtiger überschrie-
ben sein: Wie ich die Menschenkenntnis ver-
lor. Ich wollte sie aber meinem Helden widmen, und
der Held war eben nicht ich, sondern der andere, der
Zuhälter.
Es war in jenem Großbetrieb industrieller Waren-
erzeugung und Menschenvernichtung (unter dem
Vorwand des Strafvollzugs), den man Plötzensee
nennt. Die Hausordnung gehört zu den ewigen
Wahrheiten, die in alle Ewigkeit währen: in jeder Mi-
nute des Tages geschieht, bis der letzte Mauerstein
zerfallen, immer das Nämliche. Doch hat selbst in
diese Stätte des ewig Stetigen die Revolution ihren
Einzug gehalten. Man sagt mir wenigstens, daß sich
heute die Schicksalsgenossen in der Freistunde mit-
einander nicht mehr unterhalten dürfen. Damals
durften wir noch plaudern. Ich habe gleichwohl keine
Gelegenheit gehabt, Rotwälsch zu lernen. Dagegen
mußte ich Einen auf sein dringendes Verlangen be-
«-
HO
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lehren, was Spektralanalyse wäre. Und ein anderer,
der gehört hatte, daß ich im Besitze eines Reichs-
kursbuches sei, bat mich mit tränenden Augen, ich
möchte ihm doch sagen, ob er auf einer in sein Heimats-
dorf führenden Nebenbahn wirklich Anschluß hätte,
wenn er den Berliner Tageszug benutzte, oder ob es
besser wäre, nachts zu fahren; ich ermittelte für ihn
die beglückende Feststellung, daß er in einer Tages-
fahrt ans Ziel gelangen könne, wenn auch mit ein-
stündigem Aufenthalt an der Übergangsstation. Das
erheiterte meinen Gefährten sichtlich. Ich wünschte
ihm glückliche Reise. „Wann fahren Sie?" „In drei
Jahren und 117 Tagen." Er mochte mein Erstaunen
bemerken, denn er fügte zuversichtlich hinzu: „Ich
muß mich doch darauf einrichten, und der Fahrplan
wird sich bis dahin nicht ändern."
Ich berichte diese Dinge, die gar nicht zur Sache
gehören, um die Liebhaber von Kaschemmengeschich-
ten vor einer Enttäuschung zu bewahren. Denn auch
mein Zuhälter sprach ein ganz gewöhnliches Deutsch,
das man verstehen kann, ohne daß ich genötigt wäre,
hinter jeden sprachlichen Farbenfleck unterirdischer
Heimatkunst eine Nummer und eine verdeutschende
Fußnote zu setzen.
Mein Freund war ein zierlicher junger Bursche mit
einem wohlgestalteten Knabenkopf, dunkelgelocktem
Haar und träumerischen schwarzen Augen. Er war
bürgerlicher Herkunft. Die Familie hatte sich end-
lich seiner entledigt, nachdem die Zahl der Wert-
gegenstände, die nach einem Mittagessen bei einem
Onkel oder einer Tante verschwunden waren, allzu
empfindlich gewachsen war. Deswegen brachte man
ihn zwar noch nicht ins Gefängnis, aber man entzog
dem krankhaft Willensschwachen den letzten Halt
und so versank er in die Tiefe. Seine Spezialität war
die Vergnügungsreise zu Dreien gewesen: er, sein
Schätzchen und der Liebhaber, irgendein angegrauter
HI
Baron mit erheblichen Geldmitteln. So landeten sie
eines Tages in Kopenhagen. Und da dem Mädchen
der alte Gönner allmählich recht verdrießlich gewor-
den war, benutzte das Paar einen festen Nachmittags-
schlaf des ermüdeten Herrn, um ihm die Brusttasche
auszuräumen und das Weite zu suchen. Die paar
Tausendmarkscheine, die den Glücklichen dabei in
die Hände fielen, hätten den vertrottelten Teilhaber
der Liebesfahrt nicht veranlaßt, die Polizei zur Hilfe
zu rufen. Da sich aber in dem Portefeuille auch eine
Anzahl mit seiner Namensunterschrift versehene
Blankowechsel befand, drohte das Abenteuer kost-
spielig und verhängnisvoll zu werden. Darum ließ er
das Paar festnehmen, und beide verschwanden wegen
Diebstahls für Jahre im Gefängnis.
Jetzt mußte der Zuhälter Strümpfe nähen, Tag für
Tag, ungezählte. Eis gehörte zu seinem Wesen, daß
<r im Gefängnis ein schwer zu behandelndes Rechts-
gefühl durchzusetzen bestrebt war. Er geriet des
öfteren mit den Beamten darüber in Streit, ob er sein
Pensum in der vorgeschriebenen Vollendung erledigt
hätte. War er der Meinung, daß er seine Pflicht
getan, so schreckte er vor keiner Zurechtweisung des
Gefängnispersonals zurück. Er hatte schon wieder-
holt wegen solcher Zwistigkeiten die Tortur des
Dunkelarrests auf sich nehmen müssen. Als er einmal
auf drei Wochen im verdunkelten Raum auf der
Pritsche — es war Winter und die Dunkelzelle kalt —
in seinem dünnen blauen Anzug gefroren und gehun-
gert hatte, erkannte ich ihn bei seiner Wiederkehr
nicht. Er sah wie ein Nachtgerippe aus. Als man ihn
einst wieder zur gleichen Strafe verurteilen wollte,
diesmal, weil er sich der Rechte eines Kollegen un-
gebührlich angenommen, sagte er zum Oberinspektor:
„Sie können mich meinetwegen gleich ein ganzes Jahr
einsperren. Wer einmal Dunkel gehabt hat, dem ist alles
gleich !" Da ließ man es mit einem Verweis bewenden.
112
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Schlimmer aber noch als Dunkelarrest und Strümpfe-
nahen waren für ihn die Sonntage: wenn der In-
dustriebetrieb nicht mehr klapperte, alles still war und
die Stunden klebten. Wenn dann der Frühling kam
und draußen an dem Rande der Jungfernheide die
neuesten Gassenhauermelodien der Ausflügler herüber-
hallten, wenn immer dieselben Melodien sich wieder-
holten, die sich uns einprägten, während wir vergeb-
lich uns quälten zu ahnen, was es für ein neuer Text
sein möchte, der zu der Melodie gehörte, dann verfiel
der kleine Louis in Trübsinn. Der Aufseher unserer
Station, ein ganz anständiger Mensch, machte mich
einmal darauf aufmerksam, wie heidenmäßig sich der
sonst, wenn er nicht gerade Rechtskämpfe durch-
führte, sehr vergnügte Jüngling an den Sonntagen
grämte: so kamen wir zusammen. Manchmal weinte
er ohne Unterlaß. An einem Sonntag aber war er
fast ausgelassen fröhlich. Er zeigte mir insgeheim die
Photographie einer jungen anmutigen Dame und
eines vielleicht dreijährigen hübschen Kindleins.
„Das ist meine Braut," sagte er stolz, „und mein
Kind, und wenn ich herauskomme, heirate ich sie und
werde ordentlich und schufte, bis mir das Blut unter
den Nägeln hervorspritzt."
Ich war etwas verlegen. Denn seine Geschichte
könnt? nicht stimmen. Ich mochte ihn aber doch
nicht mit meinen Zweifeln kränken. Endlich fragte ich
zögernd: „Ihr Fräulein Braut? Wirklich sehr hübsch,
aber sagen Sie, ist die nicht mehr — dort . . . drüben,
ich weiß nicht, es ist ja wohl in der Barnimstraße?"
„Wo denken Sie hin! Das ist meine richtige Braut.
Das war doch die andere, die sitzt noch, Gottlob.
Meine Braut ist ein anständiges Mädchen, Schneiderin,
wissen Sie, sonst könnte ich sie doch nicht heiraten."
Und dann erzählte er mir, wie glücklich er doch sei,
daß er so viele Jahre gekriegt hätte. Denn wenn er
nun herauskäme, dann wäre ja alles mit der anderen
$ r i<nrr , Ge^immdte Schriften. II.
113
verjährt und sie könnte ihn nicht mehr anzeigen.
Könnte sie das noch tun, dann würde er wegen Zu-
hälterei gestraft, und es gäbe keine Möglichkeit mehr,
emporzukommen. Wer die Zuhälternote habe, würde
von den Richtern ohne Gnade und Barmherzigkeit
verdonnert, auch wenn er gar nicht so schlimm wäre.
Es waren die Jahre, wo nach dem Heinze-Prozeß von
oben herab die Ausrottung der Zuhälter gewünscht
worden war. Die seitdem befolgte Praxis traf dann
neben den schwersten Roheitsverbrechern gleichmäßig
auch die Schwachen, Sentimentalen, Hemmungslosen.
An dem Ernst der Vorsätze meines Begleiters in
der Freistunde war nicht zu 7.\veifeln. Er sah ordentlich
feierlich aus, und es schien ihm fast wie die Gunst
einer gütigen Vorsehung, daß die lange Gefängnishaft
ihn davor bewahrte, das Delikt der Zuhälterei fort-
zusetzen, das in der Freiheit ja gerade hätte deshalb
fortgesetzt werden müssen, weil sonst die Denun-
ziation der Rache ihn betroffen hätte. Nun aber war
er von Bann und Zwang befreit; die andere konnte
ihm nichts mehr anhaben, auch wenn er jetzt heiratete.
Ich fühlte wirkliche Teilnahme für den jungen Men-
schen und versuchte, ihn, vielleicht etwas lehrhaft,
aber aus warmem Empfinden, in seinem Vorsatz zu
bestärken, ein rechtschaffener Mensch zu werden.
Die Woche darauf zerfloß er wieder in Tränen,
schlimmer denn je zuvor. „Nun ist alles aus,"
schluchzte er.
Ich versuchte, ihn vorsichtig zu erforschen: „Was
ist denn inzwischen geschehen? Hat Ihnen Ihre
Braut abgesagt ?"
„Das wäre noch das beste," wimmerte er, „aber
nein, sie ist mir treu. Hier lesen Sie ihren Brief."
Er steckte mir heimlich ein Blatt Papier zu, und wie
ich nachher in der Zelle es las, war ich von dem guten,
einfachen und zärtlichen Ton des Mädchens gerührt.
Jetzt fragte ich ihn: „Ja, warum ist da alles aus?"
114
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„Weil ich doch gleich wieder ins Gefängnis komme;
es hilft mir alles nichts. Die andere "
„Sie sagten doch vorigen Sonntag," bemerkte ich,
„daß durch die Haft Verjährung eingetreten sei und
daß sie Ihnen nun nichts mehr anhaben könne."
Er wurde eifrig und seine Worte wehten heiß: „Ach,
vorigen Sonntag! Das war leichtsinnig geredet. Heut
hab' ich den ganzen Vormittag nachgedacht. Es hilft
alles nichts. Das ist doch gerade das Unglück, daß ich
wieder herauskomme, denn dann" — er suchte nach
einem schonenden Ausdruck — „dann wird doch die
Verjährung — unterbrochen. 44
Ich verstand ihn erst nicht. Als ich aber in seine
tiefglühenden, erregten Augen sah, begriff ich zwar,
was er meinte, doch ganz und gar nicht, warum denn
dies Ereignis, das die Verjährung unterbrechen würde
und ihn wieder von neuem in die Hände der anderen
gab, gleich einem Verhängnis eintreten müßte:
„Sie erzählten mir, wie gern Sie Ihre Braut haben.'4
^Furchtbar gern,44 sagte er.
»Nun, da müssen Sie doch nicht . . . die Verjäh-
rung mit der anderen unterbrechen.44
Da sah mich der Zuhälter mit großen Augen an.
Jetzt begriff er mich nicht. Dann aber fühlte er
sich, in mich hineinsehend, auf einmal über mich
emporgewachsen. Und er sprach ganz ernst und aus
tiefer innerer Überzeugung, als ob er fast mitleidig an
mir verzweifele: „Sie kennen die Menschen
nicht! . . .44
Seitdem mied ich das Gespräch mit ihm. Weil ich
mich schämte. Wie hatte ich in meiner Unkenntnis
der Menschen dem armen Burschen so viel sittliche
Grausamkeit zutrauen können, daß er die andere,
wenn sie endlich nach Jahren sich wiedersähen, von
sich stoßen könne, bloß um nicht die Verjährung
zu unterbrechen.
[März 191 3.]
*• 115
Die neue Lehre von Bethlehem.
1.
Im Deutschen Reich treiben alljährlich rund neun-
tausend Arbeiter die von Professor Ludwig Bernhard
(„Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik'4;
Julius Springer, Berlin) schriftstellerisch ausgebeutete
Rentenhysterie so weit, daß sie sich nicht schämen,
sich für tot zu halten; merkwürdigerweise fördern die
Standesämter diesen Wahn und auch die Familien-
angehörigen bilden sich ein, daß diese neuntausend
Rentenhysteriker wirklich tot seien. Bisweilen tritt
diese ausschweifendste Form der Rentenhysterie sogar
epidemisch auf; man pflegt dann von einer Gruben-
katastrophe zu sprechen, und verblendete Menschen-
feinde, die für das Gedeihen der deutschen Industrie
kein Herz haben, unterstützen wohl gar diese un-
erwünschten Folgen der deutschen Sozialpolitik, in-
dem sie durch öffentliche Sammlungen dieser bis zum
Jüngsten Gericht vorsätzlich und beharrlich aus bloßer
Rentensucht fortgesetzten Arbeitsentziehung Vor-
schub leisten.
Des weiteren greift der Wahn verhängnisvoll um
sich, als ob der Mensch all die vielen Glieder und
Organe notwendig habe, mit denen ihn die gewissen-
los verschwenderische Natur ausgestattet hat. Der
Freund Friedrichs II. von Preußen, La Mettrie, gilt
heute noch bei allen Edelgesinnten als ein moralisches
Ungeheuer, weil er materialistisch das seelenvolle Ge-
schöpf Gottes zur gemeinen Menschmaschine erniedrigt
habe. Unser heutiges Industrie-Christentum hat sich
inzwischen überzeugt, daß La Mettrie den Menschen
viel zu hoch eingeschätzt hat. wenn er ihn für eine
1 16
immerhin vollkommene Maschine hielt. Heute weiß
jeder industrielle Professor der Volkswirtschaft, daß
die Menschen vielmehr von Haus aus jenen älteren
Uhren gleichen, die man aus der Reparaturwerkstatt
des Uhrmachers in zwei Paketen zurückerhielt: das
eine barg die nun richtig gehende Uhr, das andere
die als überflüssig entfernten Räder. Diese Aufgabe
des fürsorglichen Uhrmachers leistet für den Men-
schen von heute die Industrie und die Landwirt-
schaft; sie befreit ihn von allem, was nicht unbedingt
zur Arbeit notwendig ist. Solche Gunst erweist sie
aber ungerecht erweise gemeinhin nur den proletari-
schen Menschen. Wieder ein Beweis, wie einseitig
man heute sich um die lohnarbeitende Klasse sorgt.
Ihr schneidet die auslesende Industrie die überflüssi-
gen Glieder ab oder zerquetscht sie; nur bei Prole-
tariern nimmt sie sich die Mühe, unnötige Organe
durch Vergiftung und Zersetzung zu beseitigen. Das
System, das der amerikanische Ingenieur Taylor für
die Vereinfachung der Handgriffe bei der mechani-
schen Arbeit scharfsinnig ersonnen hat, wirkt auto-
matisch durch die Bedingungen der heutigen Lohn-
arbeit auch auf die Vereinfachung der menschlichen
Körper selbst. Denn außer den Rentenhysterikern,
die sich getötet glauben, werden Jahr für Jahr noch
120- bis 130000 Menschen im Deutschen Reiche ver-
letzt und verstümmelt, das heißt von einem Teil ihrer
überflüssigen Glieder, Organe, Funktionen befreit.
Ist es nicht wirklich unerhört, daß diese derart ver-
einfachten Menschen nun auch noch dafür bezahlt
werden, als Rentner leben dürfen!
Ich weiß, daß in guten bürgerlichen Kreisen vor
der Geburt eines Kindes keine größere Sorge zu herr-
schen pflegt als die, ob denn auch der erwartete
Sprößling im Vollbesitz gesunder Glieder sein möchte,
ob Herz und Hirn in Ordnung, Rückenmark und
Nerven gesund seien. Ein Proletarier ist auch von
117
dieser Sorge befreit; denn er weiß, daß es für ihn
ziemlich gleichgültig ist, ob er wohlgeboren auf die
Welt kommt oder nicht. Denn die Industrie wird
doch bald eine verständig: Auswahl aus seiner Körper-
lichkeit treffen. Man glaubt gar nicht, was der prole-
tarische Mensch alles entbehren kann, ohne in seiner
Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt zu werden. Nur darf
man ihm eben nicht einreden, daß ein vereinfachter
Zustand eine Verkümmerung wäre, die eine Ent-
schädigung aus öffentlichen Mitteln rechtfertigte.
Dann wird der proletarische Mensch faul und zieht
es vor, von seinen Renten zu leben.
Das ungefähr ist die Philosophie, die Herr Ludwig
Bernhard — er lebt von den erwünschten Folgen
seiner Professur in Berlin — auf einhundertsechzehn
Seiten entwickelt. Ein preußischer Herrenhäusler,
Herr von Burgsdorff, hat allerdings vor ein paar
Jahren die Bernhardschen Gedanken noch erheblich
kürzer formuliert, als er äußerte, der Arbeiter von
heute freue sich, wenn er einen Knacks bekäme, oder
als er eine Arbeitslosenversicherung direkt für un-
moralisch erklärte, weil das eine Förderung der an-
geborenen menschlichen Faulheit sei und es außer-
dem der Bibel widerspräche, jedem Arbeiter ein
Abonnement auf die große Staatskrippe bereits in die
Wiege zu legen; denn es stünde geschrieben: „Im
Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen."
Herr Bernhard demoliert in drei Teilen die ganze
Sozialpolitik und überhaupt so ziemlich jede öffentliche
Einmischung in private Unternehmungen. Er findet
zunächst, daß das staatliche Reglementieren bei der
Genehmigung und Kontrolle privater Betriebe eine
Schwerfälligkeit und schikanöse Umständlichkeit er-
reicht hat, die für die Konkurrenzkraft der deutschen
Industrie gefährlich werde. Insoweit er für die kon-
zessionspflichtigen Betriebe eine Beschleunigung des
Verwaltungsverfahrens fordert, wird ihm niemand
118
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widersprechen. Wenn er aber behauptet, daß die
deutschen Unternehmer durch die Kontrolle der
sozialpolitischen Vorschriften unerträglich bedrängt
werden, so läuft diese Anklage auf die Beseitigung
jeder staatlichen Sozialpolitik hinaus und auf die
Rückkehr zum schrankenlosen Manchestertum. Denn
ohne staatliche Kontrolle ist natürlich die ganze
Schutzgesetzgebung sinnlos. Und daß in Deutschland
die Kontrolle nicht zu streng, sondern zu lässig be-
trieben wird, weiß jeder Kenner der Verhältnisse und
offenbart jede gründliche Untersuchung der tatsäch-
lichen Zustände. Die kinderleichte Ausfüllung des
einfachsten Kontrollformulars erscheint diesem Pro-
fessor als eine unerhörte Zumutung an die Leistungs-
fähigkeit industrieller Verwaltung. Über jeden Pfen-
nig wird genau und unter Aufwand umständlicher
Sicherungsmittel Buch geführt, an Leben und Ge-
sundheit der arbeitenden Menschen ein Blatt Papier
aufzuwenden, empfindet Herr Bernhard als einen
ruinösen Eingriff in die Freiheit des Unternehmer-
tums. Im Jahre 191 1 wurde von den revisionspflich-
tigen Gewerbebetrieben überhaupt nur etwas mehr
als die Hälfte kontrolliert. Von den rund 190000 revi-
dierten Betrieben wurden nur 31000 mehr als einmal
revidiert. Die Kontrolle erstreckte sich zumeist auf
die Großbetriebe. Es ist sehr interessant und sehr
unerwünscht, daß der Prozentsatz der von der Kon-
trolle erfaßten Arbeiter in demselben Maße sinkt, als
die Schutzbedürftigkeit wächst. Von den männlichen
erwachsenen Arbeitern wurden 84,7 Prozent, von den
erwachsenen Arbeiterinnen 81,8 Prozent, von den
Jugendlichen über vierzehn Jahre 80,6, von den Kin-
dern unter vierzehn Jahren nur 78,6 Prozent revidiert.
Es wurden fast 23000 Fälle von Vergehen gegen den
Jugendschutz festgestellt und über 14000 Vergehen
gegen den Arbeiterinnenschutz. Wenn in 1660 Be-
trieben Vergehen gegen den Jugendschutz ermittelt,
HO
aber nur 1782 Personen bestraft wurden, mit drei bis
zehn Mark, und wenn es auf dem Gebiete des Frauen-
schutzes ebenso war, so beweisen diese Ergebnisse
nicht nur, wie notwendig eine verschärfte Kontrolle,
sondern auch eine gesteigerte Strenge der Gerichte
ist. Herr Bernhard hegt ungefähr die sozialpolitischen
Auffassungen der rheinisch-westfälischen Hütten- und
Walzwerksberufsgenossenschaft, die in einem Bericht
die grauenhafte Zunahme der Unfälle so erklärt: „Der
Hauptanteil an der Zunahme der Unfälle ist zweifel-
los dem Verhalten der Versicherten selbst zuzuschrei-
ben. Schon oben wurde auf die sehr häufig festzu-
stellende Gleichgültigkeit und Unvorsichtigkeit der
Arbeiter gegenüber den Betriebsgefahren hingewiesen.
Diese bedauerliche Erscheinung mag zum Teil psy-
chologisch auf das Bestehen der gesetzlichen
Unfallversicherung zurückzuführen sein, die dem
Verletzten auch bei grob fahrlässiger Veranlassung des
Unfalls volle Entschädigung zugesteht; hier dürfte
auch die weit entgegenkommende Rechtsprechung der
entscheidenden Behörden nicht ohne Schuld sein.4'
In den vom Deutschen Metallarbeiterverband 191 2
veröffentlichten Erhebungen über die Zustände in
der Schwereisenindustrie — ein Werk von einer wissen-
schaftlichen Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit,
daß es den Professor Bernhard erröten lehren könnte
— wird eine Fülle von Tatsachen angeführt, warum
die Arbeiter in die Unfallgefahren getrieben werden.
Um zur Arbeitsstelle zu gelangen, müssen die Arbeiter
zum Beispiel in den Eisenbahngeleisen geben und sie
überschreiten. Es ist zwar auf dem Duisburger
Phönix verboten, die Eisenbahngeleise zu überschrei-
ten, solange sie durch Fahrzeuge gesperrt sind, aber
die Arbeiter können nicht so lange warten, bis die
Geleise frei sind; sie würden zu spät zur Arbeit kom-
men und bestraft werden. Darum klettern viele Ar-
beiter über die Wagen oder kriechen unter ihnen weg;
120
Digitized by Google
dabei ereignen sich dann zahlreiche Unfälle, und keine
Behörde rührt einen Finger, um das Werk zu zwingen,
gefahrlose Zugänge zur Arbeitsstätte zu schaffen.
Bernhard rühmt besonders, um die Uberflüssigkeit
staatlicher Aufsicht zu beweisen, die musterhaft um-
sichtigen Leitungen der privaten Kohlenbergwerke.
Ein Fachmann, der frühere Oberbergkommissar in
Graz, Busson, hat unlängst in Brauns Annalen für
Soziale Politik darauf hingewiesen, daß die grauen-
haften Massenopfer, welche die Bergkatastrophen in
Preußen fordern, seit langen Jahren in Österreich un-
bekannt sind; und er führt diesen Unterschied zurück
auf die ungenügende theoretische Ausbildung der
Bergbeamten und vor allem auch auf die mangelhafte
Aufsicht durch die Bergbehörden in Preußen: „Wäh-
rend in Preußen der Revierbeamte allein den Be-
triebsplan durchsieht und sich eventuell bei einer ab-
zuhaltenden Tagsatzung entscheidet, ob derselbe zu
genehmigen ist oder nicht, werden in Österreich die
Betriebspläne kommissionell überprüft, das heißt, es
findet vor Genehmigung des Betriebsplanes eine ein-
gehende Lokalerhebung auf der betreffenden Grube
statt, bei welcher alle für den zukünftigen Betrieb ein-
schlägigen Verhältnisse genauestens erhoben werden.
Es mag sein, daß diese Art der Genehmigung von
Betriebsplänen dem Werkbesitzer nicht unbedeutende
Lasten auferlegt, die Zeit seiner Beamten stark in
Anspruch nimmt, und ihm auch Kosten verursacht,
allein für die Sicherheit des Betriebes ist diese Art
der Durchführung der Überprüfung der Betriebs-
pläne zweifellos sehr gut, weil hier — und dies ist die
Hauptsache des bergpolizeilichen Wirkens — vorbeu-
gend gearbeitet wird." Busson weist dann des näheren
nach, um wieviel eingehender und gründlicher die
behördlichen Inspektionen in Österreich seien als in
Preußen. Der Berliner Gelehrte der Volkswirtschaft
aber stöhnt das Leid der Schwerindustriellen über die
121
belästigenden Eingriffe des Staats in ihre Unternehmer-
freiheit. Und wenn unablässig Tausende von Berg-
leuten getötet, verkrüppelt, verstümmelt werden —
nun, so ist daran nicht die Oberflächlichkeit der Kon-
trolle und die Leichtfertigkeit der Betriebsleitung
schuld, sondern — die Unfallrente. Die Arbeiter
wollen es nicht anders.
Das ist das zweite Plagiat des Professors Ludwig
Bernhard an der Philosophie der von der schweren
Industrie bezahlten Sekretäre. Es ist bisher in der
Geschichte der deutschen Universitäten ein un-
erhörter Fall, daß ein deutscher Professor der Volks-
wirtschaft in dieser maßlos leichten Art niedrigstes
und niederträchtigstes Gesudel von Interessenten als
Wissenschaft nachschreibt. Bisher überließ man eine
derartige Betriebsamkeit den von den Interessenten
besoldeten Kreaturen. Man kennt die Weise, die nun
zum erstenmal auch von einem Berliner Lehrstuhl aus
erschallt. Die furchtbare Unfallhäufigkeit ist zum
großen Teil auf die Sozialversicherung zurückzuführen,
auf die Rentensucht ; wegen der in Aussicht stehenden
Rente spielt der Arbeiter mit den Betriebsgefahren.
Noch schlimmer: wenn er den Burgsdorffschen Knacks
weg hat, kultiviert er sorgsam sein kleines Leiden,
er wird, wenn nicht Simulant, so doch Neuropath,
der nicht geheilt werden will, weil ihm dann die
Rente entzogen oder verkümmert wird. Es gibt Leute,
die, um zu der bequemen, sicheren und ergiebigen
Rente einer Universitätsprofessur zu kommen, kein
Mittel scheuen. Das ist gewiß eine schwere Anklage
gegen die Moral in gewissen Kreisen unserer In-
telligenz. Wenn es aber wahr sein sollte, daß Arbeiter,
um die paar Bettelpfennige einer Hungerrente zu
erlangen, sich ihre gesunden Glieder verstümmeln
lassen oder im Kampf um die Rente in schwere
Nervenkrankheiten verfallen, gibt es eine furcht-
barere Anklage gegen unsere sozialen Zustände und
122
Digitized by Google
gegen die Unzulänglichkeit unserer sozialen Ge-
setzgebung ?
Aller Arbeiterschutz hat die Aufgabe, die Arbeits-
fähigkeit der Menschen vorbeugend zu erhalten, und
alle Arbeiterversicherung kann nur der einen einfachen
Aufgabe dienen, im Falle jeder Verminderung und
Vernichtung der Arbeitskraft aus öffentlichen Mit-
teln wenigstens einen bescheidenen Ersatz durch Ge-
währung ausreichender Unterstützungen zu schaffen.
Unsere Arbeiterversicherung leidet an der Unzuläng-
lichkeit der Leistungen und an der verwirrenden
sinnlosen Vielgestaltigkeit der Organisation. Es ist
schlechterdings unverständlich, daß die Versicherung
gegen Beeinträchtigung der Arbeitskraft nach den Ur-
sachen ihrer Zerrüttung gesondert wird. Für die zu
leistende soziale Aufgabe ist es bedeutungslos, ob der
in die Lunge eindringende Steinstaub den Arbeiter
zerstört, oder ein Sturz vom Gerüst, erschöpfte Ner-
ven, Alter. Ob die Störung der Arbeitsmöglichkeit
durch Krankheit, Unfall, Invalidität, Alter oder Ar-
beitslosigkeit herbeigeführt wird, ist für den Ver-
sicherungszweck, die Geschädigten und die Gesell-
schaft unerheblich. Die einheitliche Versicherung und
Sicherung gegen alle Schädigungen der Arbeitskraft,
ohne den zerrüttenden Kampf um Entschädigung und
Ersatz, müßte der erste Grundsatz jeder sozialen Ge-
setzgebung sein, sie würde sich dann auch mit einigen
wenigen Paragraphen begnügen können.
Der Professor, der typische allezeit gesicherte
Rentenempfänger (in einem Beruf ohne gesundheit-
liche Schädigungen und ohne körperliche Gefahren),
sollte gerade für die soziale Kultur der Rente Ver-
ständnis haben. Aber Herr Bernhard gleitet in die
feudale Weltansicht der zweierlei Menschenrassen
zurück. Auf die Besserbezahlten und angenehme Ar-
beit Leistenden wirkt die Existenzsicherung befeuernd
und schöpferisch. Die Millionen aber, die in un-
123 i
Digitized by Google
gesichertem trostlosen Dasein harter eintöniger Ar-
beit, unter steten Gefahren des Hungers, des Siech-
tums, der Verkrüppelung, der Tötung keuchen, bei
denen wirkt auch der bescheidenste Schadenersatz für
die von ihnen gebrachten Opfer demoralisierend; die
goldene feste Rente adelt die Besten, die kupferne,
jeden Tag bedrohte Rente ist eine nationale Gefahr,
sie zeugt Faulenzer, Simulanten, Hysteriker, Prozeß
hänse.
Dieser Nutznießer einer hohen Staatsrente stützt
seine Beweisführung ausschließlich auf die peinliche,
weitläufige Diskussion, die von den Ärzten über Un-
fallneurose und Unfallgesetzhysterie seit Jahren ge-
führt wird. Die ganze reiche Literatur der Fachleute
der Versicherungsgesetzgebung ist ihm unbekannt.
Das in den Jahresberichten der Arbeitersekretariate
aufgespeicherte Material existiert für ihn nicht. Da-
gegen nimmt das bloße Titelverzeichnis der ärztlichen
Streitschriften einen erheblichen Teil des Raumes der
Broschüre ein; sie sind beinah in der Vollständigkeit
angeführt, wie die üppigen Quellenverzeichnisse der
Doktorschriften, die sich vererben, ohne daß jemand
die im Titel verschlossenen Schätze wirklich geöffnet
hätte. Während Bernhard die für kargen Gehalt un-
ermüdlich dem gemeinen Wohl dienenden ernsten und
ruhigen Arbeitersekretäre, die ohne Rücksicht auf Po-
pularität in der Zurückweisung zweifelhafter Renten-
ansprüche eher rücksichtslos als lässig zu sein pflegen,
als eine Art Winkelkonsulenten beschimpft, führt er
als strahlende Autorität einen Medizinmann an, —
Dr. Biß — , der es einmal durchgesetzt hat, daß eine
Rente von 100 Prozent zeitweilig auf 66% Prozent
herabgesetzt wurde, weil er gutachtlich bezeugt hatte,
daß ein durch einen Unfall an schwerem Rücken-
marksleiden erkrankter Arbeiter in Wahrheit an hoch-
gradig gesteigerten Begehrlichkeitsvorstellungen leide,
die er sich auf der Jagd nach unberechtigten Ver-
124
Digitized by Google
mögensvorteüen zugezogen habe. Die gesteigerten
Begehrlichkeitsvorstellungen (nicht des Dr. Biß) führ-
ten bald zum Abschluß aller menschlichen Begehr-
lichkeit.
Die Stellung des Arztes in der heutigen Gesellschaft
ist so lange unwürdig, als er gezwungen ist, seinen
Beruf als Privatgewerbe auszuüben. Es gehört zu den
tröstenden Wundern der Unzerstörbarkeit mensch-
licher Güte, daß trotz solcher erniedrigenden äußeren
Umstände gerade Arzte Vorbilder sozialen Pflicht-
bewußtseins sind. Aber es gibt auch trübe Erschei-
nungen: von den Beziehungen zwischen Ärzten und
Bädern, chemischen Fabriken, Kurpfuschern bis zur
förmlichen Organisation von Schlepperdiensten, durch
die begüterte Patienten gewissen Spezialitäten ans
Messer geliefert werden. Vor allem sollte dem Arzt
nicht gestattet sein, was in keinem andern Berufe ge-
duldet wird. Ein Professor der Medizin darf von pri-
vaten Erwerbsgesellschaften Geldgewinne beziehen,
den Staatsbeamten ist das sonst verboten. Es ist deshalb
nicht einmal merkwürdig, daß wir in dieser ärztlichen
Literatur, die Herrn Bernhard so erquicklich scheint,
wieder Gestalten begegnen von den Eigenschaften
jenes Arztes, der in den wilden Anfangszeiten des eng-
lischen Kapitalismus gutachtlich äußerte, er vermöchte
in seiner Wissenschaft keinen Grund zu entdecken,
warum die Arbeitszeit eines Kindes früher endigen
sollte als der Kalendertag.
Die ganze Unfalliteratur der Ärzte hat schon des-
halb für den Volkswirtschaftler keine zwingende Be-
deutung, weil die Lehrmeinungen dieser Sachverstän-
digen von der Auffassung, daß schlechthin alles Unfall-
rentenneurose sei, bis zu der Meinung, ein echter Fall
dieser Art käme fast niemals vor, alle Abstufungen
durchlaufen. Außerdem würde immer nur bewiesen
sein, daß die Unsicherheit der Rente, um die ewig aufs
neue gekämpft werden muß. nervöse die Heilung er-
125
Digitized by Google
schwereude und die Simulation begünstigende Wir-
kungen erzeuge, nicht aber die Rente selbst. Die
Rentenfeinde, die um die Finanzen der in den Berufs-
genossenschaften vereinigten Unternehmer besorgt
sind, erzählen Wunderdinge von der Kraft der Men-
schen, sich an den Verlust wesentlicher Teile ihres
Körpers zu gewöhnen und anzupassen. Die unablässige
Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse aber in-
folge der Rentengesetzgebung wirft ohnehin tief unter
einem erträglichen Existenzminimum lebende Men-
schen jeden Augenblick wieder aus den Einkommen
an die sie sich eben mühselig gewöhnt und angepaßt
haben; ein unerhört grausames Spiel, das auch die
zähesten Nerven heillos zerrütten muß. Es ist ein
vollkommener Widerspruch, die Fähigkeit, sich an
körperliche Schädigungen zu gewöhnen, über die
Maßen hoch zu werten; dann aber noch eine erstaun-
lichere Fähigkeit anzunehmen, sich unablässig und
willkürlich immer aufs neue aus dem eben Gewöhnten
wieder reißen zu lassen, ohne gesundheitliche Störung
die ewige Gefahr ertragen zu können, daß in wirrer
Unruhe elende Daseinsbedingungen noch elender wer-
den könnten.
Bernhard führt wohlweislich aus den ärztlichen Dis-
kussionen nur die abgeleiteten theoretischen An-
schauungen über die Unfallneurosen und die Renten-
hysterie an. Aber er schildert keinen einzigen Fall
aus dem wirklichen Leben, der die Zusammenhänge
erst veranschaulicht; er fällt formale Urteile ohne die
Aufnahme des Tatbestandes. Und doch würde eine
Sammlung gewisser ärztlicher Gutachten, auf die
Herabsetzungen und Verweigerungen der Rente be-
gründet wurden, einen wahren modernen Hexenhara-
mer darstellen. Nur zwei Beispiele aus der Praxis!
Im Jahre 1888 erlitt eine Taglöhnerin in München
einen Unfall dadurch, daß ihr drei Backsteine auf die
rechte Hand fielen. Es trat völlige Versteifung der
126
Digitized by Google
Hand ein. Seit 1894 bezog sie 40 Prozent der Voll-
rente, monatlich 12,45 Mark. Schon das erste ärzt-
liche Gutachten äußerte, daß es sich um einen Dauer-
zustand handle. Gleichwohl wurden fortwährend
weitere ärztliche Untersuchungen veranlaßt. In je-
dem Jahr wurden die Untersuchungen wiederholt,
immer mit dem gleichen Ergebnis einer vierzigpro-
zentigen Rente. Endlich, 19 10, geriet die inzwischen
zweiundachtzig Jahre alt gewordene Frau in die Hände
eines zuverlässigen Vertrauensarztes der Berufsgenos-
senschaften. Der stellte Gewöhnung und Anpassung
an den Zustand fest, außerdem sämtliche Zeichen des
senilen Marasmus und erklärte eine dreißigprozentige
Rente für ausreichend. Daraufhin beantragte die Be-
rufsgenossenschaft Minderung der Rente entsprechend
dem Gutachten des Arztes. Das Schiedsgericht lehnte
den Antrag natürlich ab. In dem Urteil heißt es:
„Abgesehen davon, daß schon mit Rücksicht auf das
hohe Alter eine Steigerung der Erwerbsfähigkeit aus-
geschlossen erscheinen muß, hat Dr. Pettenkofer zu
. Anfang seines Gutachtens ausgeführt, daß die Ver-
letzte sämtliche Zeichen des senilen Marasmus auf-
weise. Die Gewöhnung kann aber bei einem aus an-
deren Gründen gänzlich erwerbsunfähigen Renten-
empfänger nicht als Moment für die anderweite Fest-
setzung der Renten in Betracht kommen." Eine
siebzigjährige Arbeiterin beantragte 191 2 die Ge-
währung der Invalidenrente bei der schlesischen Lan-
desversicherungsanstalt. Das begründete ärztliche Gut-
achten stellte Altersschwäche fest, Krampfadern, chro-
nischen Magenkatarrh, schweren Rheumatismus, Ver-
krümmung und Versteifung der meisten Finger, Platt-
füße; völlige Erwerbsunfähigkeit. Ein zweites Gut-
achten erwähnte noch allgemeine Hinfälligkeit und
leichte wässerige Stauungen in den Knöchelgelenken.
Bei der Verhandlung vor der unteren Verwaltungs-
behörde erklärte auch der Vertrauensarzt die Frau für
127
invalide. Nun ging der Vorstand der schlesischen Lan-
desversicherungsanstalt vor die rechte Schmiede. Sie
fand einen Arzt, der bezeugte: „Die ... sei eine für
ihr Alter ziemlich kräftige Frau, die außer mäßigen
Alterserscheinungen nur an durch das Alter bedingten
Gelenkveränderungen des rechten Schultergelenks, ver-
schiedener Fingergelenke und der Kniegelenke leide.
Die Gelenkveränderungen an den Fingern, welche am
schwersten ins Gewicht fallen, beständen aber schon
seit zwölf Jahren, der Faustschluß sei beiderseits gut
möglich. Die Schultergelenke werden in ihren Bewe-
gungen fast gar nicht beeinträchtigt, und die Knie-
gelenke nur in mäßigem Grade. Da ferner Bücken
ganz gut vor sich gehe, die Hüftgelenke also auch nicht
schwer von Rheumatismus befallen seien, sei die Klä
gerin zu leichten landwirtschaftlichen Arbeiten mit
Ruhepausen noch fähig." Darauf wies die Landes-
versicherungsanstalt den Antrag zurück: keine Inva-
lidität. Berufung an des Oberversicherungsamt. Der
Vertrauensarzt bestätigte gleichfalls die Arbeitsfähig-
keit der Frau. Die oberste Instanz ermittelte genau
die Fähigkeit der Frau, täglich noch 33*/8 Pfennige zu
verdienen; der unmoralische Anspruch der siebzig-
jährigen Frau, sich von der doch auch durch ihre
eigenen Beiträge erkauften Invalidenrente zu mästen,
wurde also abgewiesen.
Diese Fälle des Lebens, die sich zu dicken Bänden
häufen ließen — die Rententragödien drängen sich
jedem auf, der überhaupt irgendwelche Kenntnisse
von Arbeiterverhältnissen hat — interessieren die
Wissenschaft des Herrn Bernhard nicht. Sie beweisen
freilich auch eine andere Unbedenklichkeit des Ge-
lehrten. Herr Bernhard grämt sich nämlich auch über
die Prozeßsucht der Arbeiter. Aber abgesehen davon,
daß die Zahl der Rekurse durch allerlei künstliche Mittel
erhöht ist, vergißt er zu erwähnen, daß der Prozent-
satz der Rekurse der Arbeiter seit 1890 beständig
128
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zurückgeht, dagegen die Rekurse der Berufsgenossen-
schaften sich in diesem Zeitraum prozentual verdrei-
facht haben. Die Prozeßsucht der Versicherten nimmt
also ab; begreiflich, da ihre Aussichten auf Erfolg
immer ungünstiger werden. Die Rekurse der Ver-
sicherungsträger dagegen schwellen an; begreiflich, da
sie immer vorteilhaftere Urteile erzielen. Im Jahre
191 1 hatte nur noch ein Sechstel der Arbeiterrekurse
Erfolg. Dagegen wurde von den Rekursen der Unter-
nehmer mehr als die Hälfte zu deren Gunsten ent-
schieden. Ich selbst wohnte einer Sitzung des Reichs-
versicherungsamts bei, zu der ein Vertreter der kaiser-
lichen Werftverwaltung in Kiel eigens nach Berlin
gereist war, um die Herabsetzung einer Unfallrente
um ein paar Prozent persönlich zu begründen; die
Reisekosten und Diäten des Vertreters haben gewiß
mehr betragen als die kapitalisierte Rentenersparnis,
die bestenfalls erzielt werden konnte. Solche Tat-
sachen muß Herr Bernhard verschweigen; denn sonst
würde selbst er sieht nicht getrauen, die Forderung zu
erheben, daß zur Einschränkung der Prozeßsucht das
kostenpflichtige Verfahren eingeführt würde. Damit
wären die Versicherten auf Gnade und Ungnade jedem
falschen Urteil ausgeliefert und die Berufsgenossen-
schaften könnten allein den Rechtsweg beschreiten,
um die allgemeine Rentendemoralisation mit Erfolg zu
verhindern.
Ein paar eilige Seiten widmet Herr Bernhard schließ-
lich noch dem parteipolitischen Mißbrauch sozialpoliti-
scher Einrichtungen. Darunter versteht er jene küm-
merlichen Selbstverwaltungsrechte, die in der deut-
schen Sozialgesetzgebung den Arbeitern eingeräumt
sind : im Gegensatz zur englischen Sozialgesetzgebung,
in der die Selbstverwaltung der Arbeiter als selbstver-
ständlich durchgeführt ist. Parteipolitischen Mißbrauch
nennt Herr Bernhard es, wenn die Arbeiterpartei sich
an den Verwaltungswahlen beteiligt. Da das Partei -
9 B isner. Gesammelte Schriften Ii
I2Q
programm sozialpolitische Forderungen immer mehr
voranstellt, ist natürlich auch die Verwaltung der
sozialpolitischen Einrichtungen „parteipolitisch" be-
deutsam. Aber Herr Bernhard betrachtet es über-
haupt als Mißbrauch, daß die Arbeiter die Männer
ihres Vertrauens bei den Wahlen bevorzugen. In
Deutschland bestimmt der Wille eines Mannes die
leitenden Beamten des Staates. Die Adelskaste be-
herrscht noch immer die bestbezahlten Posten der
Armee, der Diplomatie und der Verwaltung. Die
höhere Bureaukratie und immer mehr auch die Uni-
versitätswissenschaft rekrutiert sich aus Nepoten. Über
die große Industrie und die Hochfinanz endlich herr-
schen, nach dem unverdächtigen Zeugnis eines Spröß-
lings des Elektrokonzerns, allmächtig und ausschließend
ein paar hundert Familien. Überall ist der freie Wett-
bewerb fast ausgeschaltet ; die zünftlerische Absperrung
verhindert nahezu jeden Aufstieg aus der Tiefe und
aus der Masse. Wenn aber die Millionen des Prole-
tariats Männer ihres Vertrauens in ein paar bescheidene
Ämter auf dem eigensten Gebiete ihrer Interessen be-
fördern, so wird über Mißbrauch geschrieben, obwohl
die Arbeiter in einer nicht genug zu bewundernden
Selbstzucht und Selbstlosigkeit bei der Auswahl der
Personen in der Regel mit einer fast ängstlichen Sach-
lichkeit verfahren. Mag Herr Bernhard, der im freien
Wettbewerb wissenschaftlicher Würdigkeit Geschei-
terte, auch jede Selbstverwaltung in der Arbeiter-
versicherung als Beeinträchtigung der Kommando-
gewalt des Staates und des Unternehmertums bekla-
gen, nur soll die Heuchelei nicht so weit getrieben wer-
den, daß in einem Lande engherzigster gegenseitiger
Kastenversorgung über die Verwahrlosung jener Be-
völkerungsklasse spektakelt werde, in der die gesunde
Schätzung und Auslese der Menschen nach Fähigkeit
und Charakter, trotz des bösen Beispiels der anderen,
immer noch die Regel zu sein pflegt.
130
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Bernhards geistig und moralisch krüppelhafte Ge-
legenheitsschrift ist die Wahlparole der schweren In-
dustrie, die die Nationalökonomie seit Jahrzehnten
belehrt, daß die Wissenschaft endlich umkehren müsse :
zum reinen Manchestertum. Keine staatliche Ein-
mischung, keinerlei Sozialpolitik, Einsperrung des
Proletariats in wehrlos zu duldende unentrinnbare
Lohnarbeit ohne jede Möglichkeit, unmittelbar oder
mittelbar auf die Arbeitsbedingungen einzuwirken,
das- sind die von Herrn Bernhard und seinen Gönnern
erwünschten Folgen seiner Propaganda. Die Renten
der Arbeitsunfähigen stören die Rentenpfründner der
Arbeit.
Gelingt das Werk dieser neuesten Nationalökonomie,
so wären auch die Voraussetzungen erfüllt für die
Renaissance jener anderen Manchesterlehre von der
Harmonie der Interessen, die in gefällig auffälliger
Schutzverpackung aus Amerika kommt. Denn nur
wenn man entschlossen ist, jede soziale Verantwortun-
für die Wirkungen der schrankenlosen Ausbeutung
abzulenken, kann jenes Taylorsystem zur Aus-
führung gelangen, das jetzt auch bei uns um Anerken-
nung wirbt. Erst wenn jede Zerstörung der Arbeits-
kraft und der Gesundheit als Rentenneurose erledigt
wird, kann das Taylorn fröhlich beginnen.
IL
Im Taylorsystem vereinigt sich die fruchtbare Wis-
senschaft von der höchsten Produktivität der Hand-
arbeit mit der gaukelnden Lehre von der Technik
höchster Ausbeutung. Demgemäß gesellen sich in der
Person Taylors die Seele des spürenden und regelnden
Ingenieurs mit der kalten Leidenschaft eines Pro-
pheten des Kapitalismus. Taylor läßt sich also nicht
so einfach abtun wie der leichte Berliner Professor der
schweren Industrie. Es stecken Probleme in ihm.
Man muß den Ingenieur von dem Kapitalisten ab-
spalten. Übrigens mag seine Schrift*) auch den
Sprachpsychologen Vergnügen gewähren; denn wir
finden uns hier an der Quelle klingender Wort- und
Begriffsbildungen, die nur den einen Zweck verfolgen,
das wirkliche Interesse und die tatsächliche Absicht
zu verbergen. Taylor ist auch ein findiger Techniker
der Terminologie des idealistischen Menschenfreundes,
der nach dem Worte des Shawschen Herrn Sartorius
handelt : Wenn etwas moralisch ist und außerdem noch
ein gutes Geschäft, warum soll man es nicht tun?
Die Technik hat sich seither nur um die Vervoll-
kommnung der Maschine gesorgt. Die Bemühungen
Taylors sind seit einem Menschenalter darauf gerichtet,
die Technik der menschlichen Hand-, Muskel- und
auch Hirnarbeit zu höchster maschineller Leistungs-
fähigkeit zu entwickeln.
Der Arbeiter führt gemeinhin selbständig die ihm
übertragene Leistung aus, nach dem Herkommen,
nach „Faustregeln", nach eigenen Erfahrungen und
Erfindungen. Taylor belehrt ihn, wie er arbeiten soll
und wie er arbeiten muß. In jeder Teilarbeit steckt
eine Wissenschaft. Es gibt eine Wissenschaft des
Lastentragens, des Schaufeins, des Mauerns, auch der
Prüfung von Fahrradkugeln. In jeder Hantierung ist
das Gesetz der höchsten Leistung bei geringstem Kraft -
verbrauch zu entdecken. Es erfordert jahrelang hin-
durch betriebene, oft mit großen Geldmitteln unter-
stützte Beobachtungen, Versuche, Rechnungen, um
die Technik jeder einzelnen Arbeit zu ermitteln und
die individuelle Ausbildung des Arbeiters zu vollziehen.
Wie schwer muß das einzelne Eisenstück sein, wie muß
es getragen werden, in welchem Tempo, wann müssen
Ruhepausen eingelegt werden und wie lange — damit
*) Die Grundsätze wissenschaftlicher Bctriebsfühmng von
F. W. Taylor. Deutsche autorisierte Ausgabe von Rudolf
Roesler. München und Berlin (R. Oldcnbourg) 191 3.
132
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der größte Nutzeffekt herauskommt? Es ist sehr
wesentlich, wie die Schaufel in einen Kohlenhaufen
gestoßen, welche Durchschnittslast am zweckmäßigsten
auf die Schaufel genommen wird. Aus diesen Be-
obachtungen, die auch die Methoden der Experimen-
talpsychologie wie die Leistungen der höheren Mathe-
matik zur Verarbeitung heranziehen, ergeben sich Kon-
struktionen der tauglichsten, vielspältig anpassungs-
fähigen Werkzeuge. Keine Bewegung darf überflüssig
sein. So gelang es beim Mauern die Handgriffe und
Bewegungen, die zur Legung eines Ziegels notwendig
sind, von achtzehn auf fünf und sogar auf zwei zu ver-
mindern. Einfache Apparate ermöglichten es dem
Arbeiter, ohne jede Körperbewegung stetig einen Stein
nach dem andern zu legen.
Das ist Scientific Management, aber es ist leider
nicht nur das. Handelte es sich nur um solche Fest-
stellungen, wie die Produktivität der Handarbeit bei
geringster Kraftaufwendung zum höchsten Grad ge-
steigert werden könnte, so wäre Taylor ein sozialer
Erlöser; denn sein System würde uns dem Ziel nähern,
die gesellschaftlich notwendige mechanische Arbeit
auf ein Mindestmaß herabzusetzen, das für jeden
erträglich ist, aber auch jedem Arbeitsfähigen zu-
gemutet werden müßte, ohne Unterschied.
Aber die technische Vervollkommnung ist nur die
leuchtende Schutzhülle des Systems. Der wirkliche
Zweck ist, aus jedem Arbeiter die denkbar höchste
Leistung herauszupressen, die überhaupt möglich ist.
Und damit wird das System zur Kulturgefahr. Der
Ingenieur wird Sachwalter des Kapitals und obendrein
Politiker, der sich vermißt, die Interessenharmonie
zwischen Unternehmern, Arbeitern und Verbrauchern
herzustellen.
Taylor verspricht den Unternehmern höhere Pro-
fite, gesteigerte Arbeitswilligkeit, Befreiung von den
unbequemen Organisationen des proletarischen Klas-
*33
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senkampfes. Er spendet den Arbeitern höhere Löhne
und bisweilen kürzere Arbeitszeit, zudem Arbeits-
freude und fröhliche Gesundheit ohne Ermüdung und
Erschöpfung. Er führt endlich für die Konsumenten
Verbilligung der Waren herbei. Die Harmonie aller
ist vollkommen und unwiderstehlich. Jeder muß in
die Harmonie hinein. Und alles dies lediglich durch
sein System. Man braucht es nur anzunehmen und
der ganze ungeheuere Segen quillt automatisch und
unerschöpflich. Einmal über das System belehrt,
müssen es alle Teile annehmen, ob sie wollen oder
nicht. Scientific Management — das sind die neuen
Sirenen, deren Gesang niemand trotzen kann. Oder
auch: Die feindlichen Vertragsgegner im kapitalisti-
schen Lohnbetrieb werden zu Partnern des Schiebe-
tanzes, in dem jede Bewegung des einen unrettbar die
harmonische des andern»erzwingt.
Und Scientific Management ward zuerst erprobt
auf dem Stahlwerk, das sich Bethlehem nennt. Schon
dieser Name heiligt die Sache und verpflichtet, allen
Menschen Frieden und Wohlgefallen, wenn nicht zu
bringen, so doch zu verkünden. Es ist der neue Ruf
der Erlösung von der Qual der Arbeit und der Himmel-
fahrt zur erhöhten Inbrunst der Profite.
Gemeinhin gilt als die schärfste Methode der Aus-
beutung die Akkordarbeit. Taylor verwirft das Lock-
system des Stücklohns durchaus. Das ist lediglich
organisierte Faulheit. Der Arbeiter entzieht dem
Unternehmer vorsätzlich seine Arbeitskraft, weil jede
Steigerung seiner Produktion unweigerlich Herab-
setzung des Akkordlohns veranlassen würde. Also
verabreden sich die Arbeiter, im künstlichen Schweiße
ihres Angesichts so wenig wie möglich zu arbeiten.
Taylor ersetzt das Akkordsystem durch das Pensum.
Freilich keine neue Erfindung, denn das Pensum ist
der Schrecken der Strafanstalten und Zuchthäuser.
Aber das Pensum der Sträflinge ist noch eine beschei-
«34
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dene Anspannung im Vergleich zu dem Taylorpensum.
Denn dieses Pensum wird wissenschaftlich ermittelt.
Jede Arbeit und jedes Pensum taugt nicht für alle.
Folglich bedarf das Taylorsystem zu seiner Vollen-
dung auch der wissenschaftlichen Ausbildung jedes
einzelnen Arbeiters zum höchsten Grade der in ihm
verborgenen Anlagen. Wie hat man doch die kapi-
talistische Lohnarbeit bisher verleumdet, als eine
Räuberin aller freudig schaffenden Fähigkeiten, die
alles Menschentum erstickt! Erlöser Taylor lehrt den
M enschen sich selbst erkennen, seine tiefsten Fähig-
keiten bis zur letzten Meisterschaft entwickeln. In-
dividuelle Ausbildung — der Staat der Kultur aller
ist im Bethlehem Taylors erreicht! Man hat vordem
nur nicht gewußt, wie viel individuelle Anlagen es
gibt. Nicht nur für Musik und Malerei, für Philo-
sophie und Mathematik, für Schauspiel und Lyrik, in
jedem Menschen steckt eine ganz besondere Tüchtig-
keit, die entwicklungs-, das heißt ausbeutungsfähig ist.
Man braucht sich auch nicht mehr zu quälen und zu
bangen, ob das Genie auch sich durchsetze. Die Be-
triebsleitung ist die Vorsehung für alle, die unfehlbar
jedes Genie herausholt. Es gibt zum Beispiel Genies
des Tragens von Erzbarren. Sie haben keinen andern
Drang und keinen andern Lebenszweck, als soviel
Tonnen wie möglich täglich aus einem Haufen auf
einen Eisenbahnwagen zu laden. Der Ingenieur mustert
die Arbeiter. Mit Adlerblick (er ist auch bereits ge-
taylort!) erkennt er das Erzladegenie — an den schwel-
lenden Muskeln und an dem stupiden Ausdruck. Die-
ses Genie, Schmidt mit Namen, wird nun beiseite gc
nommen. Es wird ihm eine Steigerung des Lohnes
um die Hälfte versprochen, wenn er sich bereit er-
klärt, genau nach den Weisungen seines Lehrmeisters
zu arbeiten: zu gehen, wenn es ihm befohlen wird,
zu heben, wenn es ihm befohlen wird, zu verschnaufen,
wenn es ihm befohlen wird. Er darf keine Bewegung
'35
mehr nach eigenem Kopfe verrichten. Und er muß
sich verpflichten, alle in ihm vorrätige Kraft restlos
herzugeben. Denn wird er ertappt, daß er künstlich
seine Arbeitskraft einschränkt, so wird er unweigerlich
entlassen. Jetzt kann das Experiment beginnen.
Schmidt hebt und trägt, geht und rastet. Und es
gelingt ihm, statt bisher 1 21/« Tonnen 471/9 Tonnen
täglich zu verladen, und statt i Dollar 15 1 Dollar 85
zu verdienen. Damit ist das Pensum des Lastengenies
festgestellt. Das hat nun jeder Arbeiter dieses Fachs
täglich zu leisten. Es wird niemand angestellt, der das
Pensum nicht zu erledigen vermag, und jeder entlassen,
- der es nicht bis zu dieser Stufe individueller Entwick-
lung bringt. Aber das Wichtigste ist nicht zu ver-
gessen, das Menschenfreundliche: Es darf keinerlei Er-
schöpfung und Ermüdung mit dieser Arbeit verbun-
den sein! Selbstverständlich, sonst könnte ja das Pen-
sum nicht erfüllt werden. So kann es in Bethlehem
trotz solcher ungeheuren Steigerung der Arbeits-
leistung keine erschöpften Arbeiter geben; sie sind alle
jenseits von Bethlehem, irgendwo, außerhalb der
wissenschaftlichen Trainierung. Es ist klar, daß damit
jede Einwirkung der Arbeiter oder gar der Arbeiter-
organisationen auf die Arbeitsbedingungen aufhört.
Das Pensum wird wie der angemessene Lohn objektiv
wissenschaftlich von den Unternehmern und deren
Organen festgestellt. Wer das Pensum bewältigen kann
und will, darf arbeiten; andere werden nicht geduldet.
Unser Genie der muskulösen Stupidität, Schmidt,
trägt also an jedem zehnstündigen Arbeitstag 47500
Kilogramm Erz vom Stapel zum Waggon, legt täglich
13 Kilometer in 252 Minuten mit und 13 Kilometer
ohne Last zurück. Die Verladung jedes etwa einen
halben Zentner wiegenden Barren beträgt 0,22 Mi-
nuten. Dabei bleibt Schmidt so frisch, daß er vor der
Arbeit an seinem durch die Lohnsteigerung ermög-
lichten Häuschen baut und nach der Arbeit den Bau
136
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fortsetzt. Welch ein ausgerechnetes Leben! Unsere
bessere Gesellschaft, die sich am Sechstagerennen er-
götzt, sollte sich dem nützlichem Sport des getaylorten
Schmidt zuwenden und täglich 47 500 Kilogramm Erz
verladen.
In gleicher Weise wird für jede Hantierung das Nor-
malpensum ermittelt. Bei den Maurern wird durch
solche Verbindung von Wissenschaft und individueller
Genieentwicklung die Stundenleistung von 120 auf
350 Ziegel erhöht.
Wie sind die wirtschaftlichen Ergebnisse? Obwohl
das Taylorsystem einen gewaltigen Aufwand von Auf-
sichtspersonen verlangt, werden große Ersparnisse
erzielt. Zur Leistung der Schaufelarbeiten wurden
auf den Bethlehemwerken nach dem alten System 400
bis 600 Arbeiter gebraucht. Unter der Pensumarbeit
waren nur noch 140 notwendig. Die Durchschnitts-
leistung eines Mannes stieg von 16 auf 59 Tonnen,
der Durchschnittslohn von 4,81 Mark auf 7,80 Mark,
und die Durchschnittskosten sanken pro Tonne von
0,291 auf 0,138 Mark. Nach der Einführung des
Taylorsystems wurden trotz der erhöhten Löhne, trotz
der Steigerung der Bureau- und Werkzeugspesen, der
Gehälter für Meister, Beamte, Bureauangestellte, Zeit-
studienleute, nur am Schaufeln mehr als 300000 Mark
erspart.
Aus der angeführten Rechnung erkennt man, daß
die Arbeitsleistung fast vervierfacht ist, der Lohn aber
nur um die Hälfte erhöht ist. Damit ist von dem
Erfinder selbst, und das ist ja auch der Reiz für den
Unternehmer, nachgewiesen, daß dies System eine
unerhörte, ungelohnte Steigerung der Aus-
beutung der Arbeitskraft bedeutet. Mit einem
in seiner Art großartigen Humor entzieht sich Taylor
der peinlichen Frage, warum denn der Lohn nicht
wenigstens in gleicher W^ise gesteigert wird wie die
Arbeitsleistung. Auch hier gibt die rettende Wissen-
137
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schaft die gewünschte Antwort. Es hat sich nämlich
wissenschaftlich ergeben, daß größere Lohnsteigerun-
gen die Arbeitskraft und die Moral des Arbeiters ge-
fährden. Und Mr. Taylor zieht aus solchen wissen-
schaftlichen Feststellungen den moralischen Lehrsatz,
es sei nicht gut, wenn man zu schnell reich würde.
Das bezieht sich aber nur auf die Psyche des Prole-
tariers; denn dem Unternehmer, dem Aktionär, wird
umgekehrt das System dadurch empfohlen, daß er
noch schneller reich werden kann wie zuvor, wie denn
schließlich auch das ganze Volk das Taylorsystem ge-
bieterisch fordern muß, die Interessen der All
gemeinheit gehen über die der Arbeiter und der
Unternehmer! — weil dadurch die Waren verbilligt
werden. Von Organisationen und Spekulationen der
Kapitalisten zur künstlichen Preissteigerung hat Taylor
offenbar noch nie ein Wort gehört. Wie sollte
man auch in Amerika!
Dem begeisterten deutschen Übersetzer der ge-
nannten Schrift ist bei den Taylorbilanzen nicht ganz
wohl. Er fühlt dunkel, daß die Marxisten geradezu
als Paradigma zur Veranschaulichung kapitalistischer
Ausbeutung jene Taylorsche Rechnung verwenden
könnten, aus der so klar das Mißverhältnis zwischen
Profit- und Lohnsteigerung bei erhöhter Arbeits
leistung hervorgeht. Der Übersetzer hat -nicht den
gleichmütigen Witz des Originals. Er wagt nicht, das
Mißverhältnis dadurch zu rechtfertigen, daß er die
wissenschaftliche Entdeckung vorführt, eine mehr als
fünfzigprozentige Lohnerhöhung sei für den Arbeiter
nicht bekömmlich. Und er ersinnt darum das andere
Argument, daß natürlich der Lohn deshalb nicht wie
die Leistung gleich steigen könnte, weil die jetzt ge-
zahlten Löhne zu hoch im Verhältnis zur Leistung
wären; man dürfe also die jetzigen Sätze nicht zu-
grunde legen. Es ist selten Gelegenheit, so hübsch zu
demonstrieren, wie das Interesse die Logik umnebelt.
138
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Denn die Rechtfertigung der stärkeren Ausbeutung
durch den Hinweis auf die Überzahlung der heutigen
Arbeitsleistung würde, auf die erwähnte Taylorsche
Bilanz angewendet, sich so auflösen: Steigerung der
Arbeitsleistung 400 Prozent, Erhöhung der Löhne
50 Prozent, Überzahlung der Arbeit vor der Einfüh-
rung des Taylorsystems 350 Prozent. Der Arbeiter
hätte also, ehe Taylor alles wissenschaftlich richtig
machte, das Dreieinhalbfache seines Lohns an den
Unternehmer herauszahlen müssen; so viel hätte er
mehr erhalten, als seine Arbeit verdient hätte . . .
Würde sich das Taylorsystem durchsetzen, so wären
alle bisherigen Bemühungen des Proletariats, durch
solidarisches Handeln Einfluß auf die Arbeitsbedin-
gungen zu gewinnen und ein das Menschentum des
Arbeiters nicht völlig aussaugendes Normalmaß der
Arbeit herbeizuführen, mit einem Schlage vereitelt.
Die Arbeiter würden völlig atomisiert und jeder
müßte sich willen- und wehrlos den durch die wissen-
schaftlichen Helfer der Kapitalisten festgesetzten Be-
dingungen fügen. Wir erfahren wohl, daß Schmidt
frisch und munter ist, solange er seine 47500 Kilo-
gramm Erz schleppt. Wir erfahren aber nicht, wie-
viel Jahre er diese Art von Munterkeit aushält.
Der zur Maschine erstarrte Mensch wird eben auch
nach den normalen Abnutzungsquoten der stählernen
Maschinen rasch — amortisiert. Und ist er amorti-
siert, so wird eine neue Menschmaschine eingestellt,
ohne daß sich jemand darum kümmert, was aus den
amortisierten Menschen wird. Und dann wird Herr
Bernhard, der Berliner Professor, die Aufhebung aller
sozialpolitischen Schutz- und Versichcrungsmaßnah-
men verlangen, weil man doch nicht die Hysterie der
Menschen fördern darf, die sich — amortisiert fühlen.
Lehrte uns nicht einmal die Religion von Bethlehem,
daß alle Menschen Brüder seien? und gab es nicht
auch irgend einmal einen Philosophen, der als den
i3Q
Inbegriff aller menschlichen Sittlichkeit den Satz auf-
stellte, daß kein Mensch nur als das Werkzeug eines
andern gebraucht werden dürfe ? Verlorene Träumer,
entschwebende Wolkenwanderer! Mr. Taylor nennt
auch seine Lehre von Bethlehem mit starkem Nach-
druck Philosophie. Er könnte sie auch Religion
nennen. Philosophie, Religion und — Wirklichkeit.
[März 191 3.]
140
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Kopenhagen.
Vor dem lebenslustigen, farbenleuchtenden Ziegel-
bau des neuen Kopenhagener Rathauses steht eine
mächtige Bronze- Vase, deren rotflammender Geranien -
schmuck über den weiten Platz glüht, wie ein mitten
in der Stadt aufgeprägtes Siegel der Internationale.
Sieht man sich das Kunstwerk näher an, so gewahrt
man ringsum Reliefs, die offenbar die Berufe versinn-
bildlichen: Die verschiedenen Bauhandwerke, Ma
schinenindustrie, Schneiderei. Ist das ein altes Wahr-
zeichen der Zünfte? Unmöglich; denn unter den
Gewerben finden sich auch die modernen Verkehrs-
betriebe der Eisenbahn und der Post veranschaulicht.
Und man erfährt : Diese Bronze ist ein Geschenk der
sozialdemokratischen Gewerkschaften an die Stadt.
Wo in der Welt haben die Arbeitervereinigungen einer
Weltstadt solche Stärke und so viel Selbstbewußtsein
erlangt, daß sie stolz und freigebig ihrer Stadt, deren
Bürger sie sind und die sie verwalten, ein solches Ge-
schenk stiften! Wenn einstens die Bronze edel ver-
wittert sein wird und ehrwürdig in der Reife der Zeit
schimmert, dann wird man sie als ein Denkmal preisen,
das eine neue Zeit kündete, die Demokratie der Arbeit.
Dänemark ist das Vorland der proletarischen Bürger-
freiheit geworden, und das ist eine Schutzwehr der
Verteidigung, die fester und unüberwindlicher ist als
die Hafenbefestigungen, als die künstliche Insel, die
man in das Meer baute, um die Stadt gegen die frem-
den Panzerkolosse zu gürten.
Bismarck wollte einst der Sozialdemokratie eine
Provinz übergeben, damit sie zeigen könnte, was sie
alles nicht vermöchte. Nun, in Kopenhagen hat sich
141
das sozialistische Proletariat ein Reich in zäher Arbeit
und tapferem Kampfe erobert, und dieses Reich blüht
hell und fröhlich, und des rüstigen Schaffens ist kein
Ende.
Hier herrscht Freude und Freiheit. Der Fremde,
der aus Deutschland oder gar aus Preußen kommt,
atmet sofort andere Luft. Er sieht auf Schritt und
Tritt Unerhörtes. Er fährt in der Straßenbahn. Vom
Schaffner empfängt er ein winziges Stückchen Papier,
das er aus einer Kapsel losreißt. Dann bemerkt er er-
schreckt, daß der Fahrgast den Wertzettel nicht nur
wie achtlos, sondern mit einer gewissen demonstrativen
Geste wegwirft. Was wird es geben, wenn der Kon-
trolleur kommt! Aber auch die anderen Kopen-
hagener machen es so, und kein Kontrolleur naht,
Schrecken verbreitend. Man erkundigt sich nach der
unbegreiflichen Erscheinung und man vernimmt : Ein-
mal wollte die Straßenbahngesellschaft, die noch in
privaten Händen ist, Kontrolleure einführen. Über
dieses Polizeimißtrauen ergrimmte die Bürgerschaft.
Man verschwor sich, die Scheine als Protest fortzu-
werfen. Es geschah so. Die Kontrolleure fanden nichts
zu kontrollieren. Die kapitalistische Menschenverach-
tung mußte kapitulieren. Seitdem hat man das Weg-
werfen der Papierschnitzcl als symbolische Handlung
beibehalten. Was sind wir deutschen Europäer doch
beinahe unsere eigenen Polizeihunde! So tief ist uns
der Gendarmengeist ins Blut eingedrungen, daß wir
es fast in den ersten Tagen als ein wenig Unordnung
empfanden, wenn man bei den Kongreß- Veranstal-
tungen die Massen frei gewähren ließ und ohne stramme
Reglementierung alles der Selbstzucht, Ruhe und Ge-
duld überließ. Freilich sind auch die dänischen Schutz-
leute reine Zivilpersonen, Mitglieder einer Gewerk-
schaft, gleich den Post- und Eisenbahnbeamten. Und
wenn du von den freundlichen, fast durchweg organi-
sierten Kellnern unbillige Eile verlangst, sei sicher, daß
142
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du eher verhungerst, als daß man sich deiner Tyrannei
demütig fügt. Selbst der Soldat ist in diesem Lande
der Blumen und Butter ein Mensch wie alle anderen,
und feiert die Sozialdemokratie ein Fest, so kauft er
sich ein Abzeichen, schmückt seine Brust mit ihm,
statt der metallenen Ehrenzeichen des Mordes, be-
gleitet den Zug und mischt sich unter die Massen, die
den Rednern lauschen.
• *
Im Viertel des Königsschlosses, das ein Sozialdemo-
krat im Reichstag vertritt, erhebt sich an einer vor-
nehmen Straße ein schöner Barockbau. Hierher
schweifte einst die Sehnsucht unserer deutschen Klas-
siker, die von der geistigen und materiellen Not der
zweihundert deutschen Vaterländer zu Boden gerissen
wurden. Von dem Kopenhagener Grafen Schimmel-
mann, dem dieser durch einen Vorhof von dem Ge-
wühl der Straße aristokratisch getrennte Palast ge-
hörte, erwarteten die deutschen Denker und Dichter
Erlösung, er vermittelte Schiller eine Pension, für die
er durch seine revolutionär gedachten, dann vorsichtig
ideologisch entfärbten Briefe über die ästhetische Er-
ziehung des Menschengeschlechts dankte.
Jetzt ist der Palast mit roten Fahnen und dem
Motiv des blauen Abzeichens des Kopenhagener Kon-
gresses (aus der königlichen Porzellanmanufaktur) we-
niger geschmückt als etikettiert. Und die proletari-
schen Erben der deutschen klassischen Philosophie
und Kunst sind eine Woche lang der emsigen Arbeit
für die politische und soziale Erziehung des Menschen-
geschlechts hingegeben, der Taterziehung durch die
Massen selbst, die jetzt verwirklichen, was bei den
Großen jener Zeit nur ein sehnsüchtiger Schall blieb.
Hier singen fünfhundert Arbeiter im Verein mit
Künstlern des Hoftheaters ein Lied der Menschheit,
ein Volkerkantatc, in denen die Freiheitslieder der
M3
Nationen sich zueinander finden. Hier braust der
Chor der Internationale vom großen letzten Kampf
um die ganze Freiheit, um die Erlösung von aller Not
und allem Druck.
Fast glaubt man, daß in den Reden und Beschlüssen
die Geister Schillerscher Humanität, deren Kund-
gebungen einst in diesem Palast enthusiastisch emp-
fangen sein müssen, auferstanden sind, aber gar nicht
mehr verträumt, gar nicht mehr weltflüchtig-hoff-
nungslos, sondern wirklich und wesenhaft, tatenlustig
und voll unbeugsamer Tapferkeit, sich zu bekennen,
und voll glühender Leidenschaft, sich zu verwirklichen.
Hier ballt Jaures aus Worten und Sätzen, die wie
Gebirge in vulkanischer Gärung unmittelbar zu wer-
den und zu wachsen scheinen, sichtbar die neue Welt,
die in seinem großen Herzen und hellen Verstand
bereits Form und Gestalt gewonnen hat, und die nur
noch darauf wartet, hinauszutreten unter die Men-
schen und zu werden, zu sein. Hier entfaltet sich die
starke Lebenspraxis, die freundlich durchwärmte, zu-
gleich hartnäckige und klug besonnene Daseinskraft
und Volkstapferkeit der skandinavischen Sozialdemo-
kratie, die diesmal dem Kongreß das Gepräge verlieh;
in dieser einfachen, ruhig zuversichtlichen, Vertrauen
und Sicherheit gewährenden Politik singt etwas wie
die Melodie ihrer Volksweisen. Das skandinavische
Proletariat scheint niemals ganz vom mütterlichen
Boden entwurzelt zu sein. Man möchte glauben, daß
sie ihr ganzes Parteiprogramm in dem Rhythmus ihres
fruchtfrischen Sozialistenmarsches singen könnten.
Nirgends können sich die bedrückten und gehetzten
Völker, die zertretenen Klassen so geborgen fühlen,
wie in der Freiheit und Sicherheit dieses kleinen
Staates, der zuerst auf diesen Inseln ein Reich prole-
tarischer Kultur zu schaffen verheißt.
*
144
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Blumengeschmückt ziehen die Arbeiter Kopenha-
gens vom reich bewegten Fremdenviertel durch die
langen Zeilen der einförmigen Proletarierquartiere in
den städtischen Park. Was auf der Bronze vor dem
Rathaus sich in Sinnbildern gestaltet, ist im Zuge
Mensch geworden. Alles was in Kopenhagen arbeitet,
marschiert im Zuge. Der Bürgermeister Jensen geht
an der Spitze, über ihm wehen die Banner der Inter-
nationale. Stattlich leuchten die Postbeamten in ihren
roten Uniformen, grüne Zweige des Friedens und der
Freude wie die anderen tragend. Wie die Sonne sich
schon senkt, strömt die Menschenflut zwischen die
alten Buchen und Eichen dieses mächtigen Waldes;
im Augenblick scheint sie fest zu gerinnen. Kopf an
Kopf, unbeweglich. Mitten darin ungezählte Kinder-
wagen, deren blonde Insassen zwar noch nicht sprechen
können, aber doch schon neugierig der Kantate lauschen,
die auf der größten der vier Tribünen ertönt ; und wenn
sie die Worte auch noch nicht begreifen, die von den
Rednern der Internationale zum Menschenwald ge-
sprochen werden, einst werden sie wachsend sie er-
leben. Die politische Demonstration der Völker ver-
wandelt sich in ein nationales Volksfest. Bunte Lam-
pen schwingen sich von Baum zu Baum. Eine Buden-
stadt hat sich angesiedelt. Aber wer den Lärm nicht
liebt, kann in ein paar Schritten das Dunkel und die
Stille des unberührten Waldes erreichen und nach den
gedämpft herüberwehenden Tanzweisen der Musik-
kapellen mit seiner Liebsten tanzen. Und man tanzt
überall, bis tief hinein in die linde feuchte Nacht. Für
den Fremden wird der Park zum Irrgarten; er findet
keinen Ausweg. Aber ihn verdrießen die vergeblichen
Kreuz- und Querfahrten nicht, die er unternimmt,
um hinauszufinden ; denn er verirrt sich nur in einem
unendlichen Lachen des Lebens.
to Bitner, Gesammelte Schritten. II. 145
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Die Kopenhagener sind unermüdlich in der Betäti-
gung ihrer Gastfreundschaft. Sie führte uns in den
Wald, sie lädt uns auch auf Schiffe. In kurzer Küsten-
fahrt wandert der Kongreß in das liebliche Seebad
Skodsborg, und jeder Teilnehmer erhält sogar ein
kleines Zehrgeld gespendet, damit er nach der Sund-
fahrt nicht verhungert.
Wir fahren bei dem Schiff der Zarin- Witwe vorbei,
das im Hafen liegt. Die Matrosen der russischen Yacht
schwenken die weißen Mützen, und von unserem
Schiff ruft es im Massenchor hinüber: Das russische
Proletariat, Hurra, hurra, hurra. Und die schimmern-
den Gestalten auf dem schwarz-goldenen Schiff, in
dessen Nähe ein russischer Panzerkreuzer wie ein un-
heimliches graues Gefängnis lauert, schwenken noch
eifriger die Mützen.
Dann verschwindet die Sonne fast unverständlich
rasch. Es regnet, wie es nur in Kopenhagen regnen
kann. Aber je nasser wir Ungeschützten auf Deck wer-
den, desto fröhlicher ist uns zumut. Wir ziehen uns
alle einen Leinwandplan über die Köpfe und unter
diesem improvisierten Zeltdach suchen wir mit So-
zialistenmarsch und Internationale den Regen singend
zu bezwingen.
Die Stimmen der Völker wollen auch auf der nächt-
lichen Rückfahrt nicht ruhen. Die Scheinwerfer, die
das Wasser nach feindseligen Eindringlingen ängstlich
und emsig absuchen, lassen die dunkel wogende Masse
auf unseren Fahrzeugen als unverdächtig passieren.
Wir spenden ja freigebig die Parole, die alle Pforten
öffnet: deutsche, französische, russische, dänische,
schwedische, norwegische, holländische Freiheitslieder.
Ich weiß nicht, ob man auch die schöne Weise: „O
Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine
Blätter" in dieser Sundnacht gesungen hat. Jedenfalls
wäre auch die Melodie im Reigen der Freiheitslieder
nicht unziemlich gewesen, denn der Engländer äußert
146
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sich auf die Weise musikalisch, wenn er sein revolu-
tionäres Herz ausströmen will . . . Bei den Schluß-
chören des Kongresses hatten die Engländer wirklich
„O Tannenbaum" stürmisch gesungen, just zwischen
dem dänischen Sozialistenmarsch und der Internatio-
nale.
•
In dem erschlaffend heißen Kongreßsaal folgten sich
bis in den späten Abend die Reden und die Abstimmun-
gen. Die Arbeit muß erledigt werden. Endlich ist auch
die letzte Resolution beschlossen worden. Wir werden
über drei Jahre nach Wien eingeladen. Ein Zwischen-
ruf träumt schon von Moskau als einstigem Kongreß-
ort. Nach New York winkt der Schlußredner der
Vereinigten Staaten. Vielleicht wird in wenigen
Jahren Tokio, Peking, Neuseeland uns zu Gaste laden.
Und wenn wir in allen Hauptstädten der Welt getagt
haben, wenn uns der Kaiser von China und der Schah
von Persien seine Grüße entboten haben wird, dann,
ja dann wird die Entwicklung so weit gediehen sein,
daß wir auch — nach Preußen gehen dürfen, nach
Berlin, und Jaures wird in der Hauptstadt des Deut-
schen Reiches französisch reden dürfen. Und dann
ist das Jahr i der sozialen Republik . . .
Im Rathaus zu Kopenhagen aber genießen wir ein
Vorspiel der sozialen Republik. Beim Weinfest zu
Stuttgart haben wir feierlich vor drei Jahren den Be-
ginn des Zukunftsstaates proklamiert. In Kopenhagen
konnten wir uns der raschen Fortschritte des Zu*
kunftsstaates freuen. Unter der Devise „Hummer für
das Volk" begann das Fest und es endigte in rauschen-
den Ansprachen und übermütigen Tänzen — unter
der sorglichen, unermüdlichen Obhut zweier Stadt-
häupter. Durch diese herrlichen Räume sind die
Monarchen der Welt gelegentlich geschritten, die
goldenen Stühle, auf denen sie gesessen, standen für
M7
die Internationale bereit, sie waren sogar die einzige
Sitzgelegenheit, die man uns bot. Und unter dem
majestätischen Baldachin verzehrte der Schreiber dieser
Zeilen eine Pastete, die ein Mundkoch des Königs
gedichtet ...
Auf dem alten Rathaus Kopenhagens steht der
Spruch, mit dem das jütische Gesetzbuch des drei-
zehnten Jahrhunderts beginnt: „Med Lov skal man
Land bygge", „Mit dem Gesetze baut man Land".
Die Internationale, die, fast sieben Jahrhunderte
später, im neuen Rathaus Kopenhagens versammelt
war, ist bei dem Werke, den alten Spruch des Dänen-
spiegels zum Leben zu erwecken: Mit dem Gesetze
der Vernunft und Menschlichkeit bauen wir Land,
alle Sterblichen für alle.
[September 1910.]
•
Nachschrift. Auf diesem Kopenhagener Rathausfest
war et, daß deutsche Arbeitervertreter plötzlich J au res vom
Boden emporhoben und den massigen Mann auf ihren Armen
zum Rednerpult trugen, damit er zu uns spräche, tjnd er
sprach! Er feierte die Schönheit des Raumes und die Herr-
lichkeit des Festes. Dann entflammte sein mächtiges Haupt
visionär. Er sah vor sich ein ungeheures Blutmeer und in
seinen dunklen entsetzten Worten brandeten die purpurnen
Wogen, die aus den geöffneten Adern des Menschenleibes
strömten. Es schien gewitterhaft schwer und schwarz um uns
geworden. Aber er beschwor das apokalyptische Bild und
verhieß in gläubiger Inbrunst und in leuchtendem Wort-
gestalten, wenn wir durch solch Entsetzen hindurchgegangen,
daß dann der Tag unseres Sieges anbreche, der Morgen der
Erlösung . . .
Drei Jahre zuvor, nach dem Stuttgarter Kongreß,
hatte Jaures mit Albert Thomas mich in Nürnberg besucht.
Zwei Tage führte ich ihn durch die Wunder der Stadt. Er
schwelgte. Alles, was er sah, ward ihm sofort zum sinnvoll
deutenden Erlebniss. Im Germanischen Museum wanderte
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er wie in Verzückung, vom Grabmal des heiligen Sebald
mochte er nicht eher sich trennen, ab bis er für jedes der
lastig irdischen Bronze-Bübchen einen Spruch gefunden.
Dann lief er in alle Läden, stopfte sich die Taschen mit An-
denken und ließ, was er nicht gleich mitschleppen konnte,
ins Hotel bringen. Endlich saßen wir im Goldnen Posthorn,
wo einst Dürer gezecht, und jetzt die schöne Wirtin, die in
früheren Jahren auf dem Montmartre gewirkt hatte, in be-
glücktem Stolz dem Gaste huldigte.
In Wien hätten wir uns 1914 wiedersehen sollen. Ich
hatte es übernommen, für die Wiener Arbeiterzeitung die
Kongreß-Skizzen zu schreiben. Als ich im Juli 1914 die
Wiener Kollegen brieflich über Einzelheiten des Dienstes be-
fragte, bekam ich die dunkel seltsame kurze Antwort, ich
möchte acht Tage warten. Ich wartete acht Tage und es
kam — die Kriegserklärung an Serbien, und der Blutstrom
der Kopenhagener Vision stürzte zuerst aus dem heißen
Herzen von Jean Jaures . . .
[September 191 8.]
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Revolutionäre Humanität.
Zum Gedächtnis Herders.
In den ersten Tagen des 20. Jahrhunderts drängen
sich die Gedenktage, da vor einem Jahrhundert die
großen Männer des klassischen deutschen Zeitalters
starben, die aus der gewaltigen Zeugungskraft des
revolutionären Jahrhunderts der Aufklärung Ge-
borenen. Jetzt plätschern durch die Feuilleton-
spalten der bürgerlichen Presse die pflichtgemäßen
Gedenkartikel auf Herder, der in Berlin noch nicht
zu den Marmorehren eines Otto des Faulen gelangt
ist. Im Februar 1904 folgt der hundertjährige Todes-
tag Kants, den man immerhin schon unter dem
Schweife eines friederizianischen Pferdes und als
Nebenfigur Friedrich Wilhelms IL, des Wasser- und
Wundersüchtigen, verewigt hat. Im Mai 1905 wird
man gar in einer pomphaften Schillerfeier jubilieren,
und Herr Lauff wird sicher zu den Orden- und Titel-
verleihungen jenes Nationalfestes ein Bühnenweihe-
spiel dichten.
Dieser Aufputz der heutigen Bourgeois-Barbarei
mit den toten Göttern aus der Frühzeit des deutschen
Bürgertums ist nichts wie ein leerer, heuchlerischer
und verlogener Ahnenkult. Die Herder, Kant und
Schiller sind nicht nur vor einem Jahrhundert ge-
storb-n, sie sind auch ein totes Element in der Bil-
dung der Klasse, deren Kulturberuf sie zu schaffen
und zu sichern trachteten. Kein Hauch des klassischen
deutschen Geistes lebt in der heutigen bürgerlichen
Gesellschaft. Man ladet die Herren noch als dekora-
tive Tafelgäste zu den öden Schmausereien, man stellt
sie zu ewigem Nichtgebrauch in die Bibliotheken, aber
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man kennt sie nicht und man versteht ihre Sprache
nicht mehr. Wie ein Schwärm von Kranichen seien
die deutschen Denker und Dichter über das deutsche
Bürgertum gezogen, hat Lassalle gesagt. Inzwischen
ist man dazu übergegangen, die Kraniche einzulangen,
ihnen die Flügel zu stutzen und sie als gezähmte
Wundertiere stolz vorzuweisen. Das ist das schlimmste
Geschick der Klassiker in dem Zeitalter der kapitalisti-
schen Bourgeoisie. Weil sie immer noch unbequeme
Mahner einer uneingelösten Kulturschuld und trotzige
Rebellen gegen die heutige Herrschaft sind, so ver-
stümmelt mar sie, raubt ihnen ihre reinste Kraft und
betrügt sie um ihre Mission, damit sie nicht allzu-
deutlich ihre innerliche Zusammengehörigkeit mit der
Weltanschauung ihrer Erben durch Wahlverwandt-
schaft, des sozialdemokratischen Proletariats, ver-
raten. Indem die Bourgeoisie ihre Klassiker feiert,
übt si„* Verrat an ihnen, sie bricht ihnen das Rückgrat
ihres Wollens und entseelt ihr heiligstes Streben. So
werden sie zu schönredn -Tischen Spießgesellen der
heutigen Bourgeoisie erniedrigt, gut genug, um eine
Sache scheinbar schmückend zu verteidigen, die zu
bekämpfen doch ihre Lebensaufgabe gewesen ist. Das
Feiern der deutschen Klassiker durch das offizielle
Deutschland ist Leichenschändung, und es muß dar-
um auch hier die Aufgabe der Sozialdemokratie sein,
die geistigen Helden des humanen Liberalismus gegen
seine entarteten Renommisten zu verteidigen.
Ganz besonders leicht ist es, Herder, das Opfer
der Zeitungsartikel dieser Tage, den reaktionären Be-
dürfnissen der vom Junkertum und dem Klerikalis-
mus regierten Welt anzupassen. Der leidenschaft-
liche Prophet des revolutionären Humanitätsideals
wird dergestalt fähig, als gepriesener Ahn einer Zeit
mißbraucht zu werden, deren Ideal der profitable
Abscheu vor der Humanitätsduselei ist. Jedes Wort
Herders trifft den Geist der herrschenden Klassen der
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Gegenwart ins Herz, dennoch schmücken sie sich mit
Herder-Zitaten. Auch Herder lebte und wirkte in
dem erhabenen glückseligen Rausch des achtzehnten
Jahrhunderts, der den Himmel auf Erden nahen sah:
auch Herder war ein Verkünder und Gläubiger der
großen brüderlichen Menschheitsrepublik der Freien
und Gleichen. Aber Graf Bülow wird ihn schwerlich
fragen: „Wie denken Sie sich, Herr Pfarrer, Ihren
paradiesischen Zukunftsstaat", und er wird nicht
spotten: „Jetzt kommt endlich der große Moment,
jetzt wird das verschleierte Bild von Sais enthüllt.
Ja, Kuchen! Wir haben von Herrn Herder gar nichts
gehört als dieselbe bandwurmartige Kritik, und im
übrigen über den Zukunftstaat blauen Dunst." Nein,
der deutsche Kanzler wird höchst gebildet für Herders
hohe Gedanken schwärmen, obwohl dessen tausend-
jähriges Reich doch im reinen Äther der Idee sich
gründete, während der Sozialismus mit allen Wurzeln
im Erdreich des Wirklichen und Gegenwärtigen
klammert, wie immer er nach der Sonne wächst.
Solcher Mißbrauch wird dadurch begünstigt, daß
Herder schon selbst seine politisch-revolutionären An-
schauungen aus Rücksicht auf seine Stellung und die
literarische Polizei dicht verhüllen mußte. Er ver-
dunkelte künstlich seinen Stil, schränkte seine Mei-
nungen durch Einwürfe ein, entfernte die unmittel-
baren Anspielungen auf seine Zeit. Deshalb sind die
Schriften politischer Art, so wie er sie herausgab,
blasser, orakelhafter, unbestimmter als sie ursprüng-
lich geplant waren. Das Materielle der Zeit ist aus
ihnen getilgt, die Tendenz verflüchtigt. Den ganzen
Herder kennen wir erst aus der großen historisch-
kritischen Ausgabe, die Suphan in den achtziger
und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts her-
ausgab und der das Schicksal beschieden war, spurlos
vorüberzugehen. In dieser Ausgabe findet sich der
ungedruckte Nachlaß, der in die innere Werkstatt
155
Herders blicken läßt, wir lernen die ursprünglichen
Entwürfe kennen, die dann umgearbeitet und teils
verkleidet, teils zerstückt wurden. In den unver-
öffentlichten Niederschriften sind Sprache und Ge-
danken weit revolutionärer, kräftiger, auf die Zeit
losgehend. Das gilt in erster Linie von der Schrift, in
der Herder ein Denkmal der französischen Revo-
lution zu setzen gedachte, von den „Briefen zur
Beförderung der Humanität". Aber auch das
wichtigste politische Kapitel seines Hauptwerkes
„Ideen zur Philosophie der Geschichte der
Menschheit", das vierte Kapitel des neunten
Buches, das von den Regierungsformen handelt, ist
wiederholt umgearbeitet worden, ehe es genugsam
entsäuert war. Herder selbst schreibt, wie er das
Kapitel zu Goethe, „zum Ministerialzensor", ge-
bracht habe, der es „mit der tröstlichen Nachricht"
zurückgegeben hätte, „daß füglich kein Wort davon
stehen bleiben könnte".
Herder gehört zu den Deutschen, die — wie Kant,
Bürger, Klopstock, Fichte — von der französischen
Revolution die Erfüllung der eigenen Hoffnungen,
die Befreiung aus der kümmerlichen Enge ihres Da-
seins erwarteten. Wenn er mit liebevoller Andacht
und feiner Anpassungskunst als Erster die Poesien der
Völker, auch der „wilden" sammelte, so leitete ihn
bei diesen Bemühungen nicht bloß und auch nicht
zunächst literarische Neigung. Ihm war die Über-
mittelung der Volksliteraturen ein Beweis für die
innerliche Einheit des Menschengeschlechts und für
die enthusiastische Möglichkeit ihres Aufstiegs zu dem
Völkerbunde der Humanität. Wie Rousseau ver-
herrlichte er die Naturvölker und fluchte dem ver-
heerenden Einfluß der kolonisierenden Europäer. Er
führt breit den Gedanken aus, daß „der unmensch-
lichste Eroberungs-, Bekehrungs-, Mord-, Betrugs- und
Raubgeist der Europäer ausging, die ganze Welt zu
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unterjochen und zu plündern". In diesem Bekenntnis
zur Natur und zum Naturrecht grollt der revolutionäre
Geist des Jahrhunderts. Schon in den älteren Nieder-
schriften zu den „Ideen" wird das Recht auf Freiheit
in schärfster Form gefordert: „daß Ein freier Mensch
über den andern, ein Mutterkind über das andere,
aus Naturgesetzen Recht und Gewalt habe: dies kann
man nicht anders als durch die Faust des einen oder
die gutherzige Dummheit des andern erklären, wenn
aus ursprünglichen Naturgesetzen Rechenschaft ge-
geben werden soll". Hier proklamiert er die Freiheit
vom Herrscher, vom Staat. Europas Staaten seien
von der Kette der Tradition am feinsten und festesten
umspannt, so daß sie „beinahe keine freie Ansicht er-
lauben". Die Staaten sind ihm tote Maschinen, „in
denen, wie im Trojanischen Pferde, die Helden der
Welt stecken und dafür kämpfen, sich einander gegen-
seitig stützen und wiewohl sie leblos sind, einander
dennoch unsterbliche Dauer erhalten sollen . . . Aber
auch gegen diese Maschinen-Ewigkeit ist die alte
Mutter, Zeit, mit ihren Blättern der Vorwelt ein
starker Zeuge. Sie werden sich auflösen, wie alles sich
aufgelöst hat und tragen die Ursachen ihres Verfalles
schon jetzt in ihrem Innern. Glücklich, daß Mensch-
heit und Staat nicht einerlei ist ; vielmehr muß jene alle
ihre möglichen Formen durchgehen, so daß nach un-
widerruflichen Gesetzen der Natur wie auf den er-
müdenden Tag die Nacht folgt, sie sich auch nach
dem Druck wieder erholet". Und Herder ruft den
Menschen an, „in welchem Staat und Stande er sich
auch befindet": „unterscheidet den Menschen vom
Untertan, vom Staatsmann, vom Despoten. Nur der
Grundsatz eines Sklaven ist's, daß der Mensch ein
Tier sei, der einen Herrn nötig habe: Alle Entschlüsse
seiner Seele, jede edle Tätigkeit seines Willens ist sein;
und sie ist nicht mehr sein, sobald er eines Herrn be-
dürfte". Je mehr das Volk zur Vernunft komme,
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„desto mehr muß sich die Regierung mildern oder zu-
letzt verschwinden". Mit wildem Hohn schreibt er:
„Alle christlichen Regenten nennen sich von Gottes
Gnaden .... Wir haben uns also mit ihnen auf
Gnade und Ungnade dem Schicksal in die Arme ge-
worfen, das durch sie züchtigt und durch sie lohnet.
Dies hohe Schicksal gehet seinen Gang fort, und da
es die heilsamsten Veränderungen der Welt selten von
Thronen herab bewirket; so lasset uns die Arme des-
selben sein und ausführen, was jene versäumten,
nämlich Erzieher der Menschen zu sein und der fort-
gehenden Kette der Tradition nichts als Edles und
Gutes einzuknüpfen. Dies allein ist der Menschheit
wert und unsterblich." Er fürchtet, daß er vielen ein
Rätsel schreibe; allein die Menschheit in ihren Rechten
und Pflichten bleibt ewig jung, sie erneuert sich in
ihren Gliedern, sträubt alte Vorurteile ab und lernt,
wenn auch wider Willen, Vernunft und Wahrheit."
Schon 1780 hatte Herder in einem Gespräche mit
seinem Schweizer Freunde Georg Müller, dem Bruder
des Historikers, über den Druck geklagt, unter dem
die Menschheit seufze, über Despotismus, Knecht-
schaft der Gewissen und Geister; „und wie so allent-
halben ohne Widerspruch die heiligsten Rechte der
Menschen für nichts geachtet und zertreten werden".
„Auch in dem aufgeklärten Preußen herrscht die
größte Sklaverei. Die Menschheit seufzt vergeblich,
bis ihr Erretter kommt." „Er ist dem Adel schreck-
lich feind," berichtet G. Müller, „weil er der Men-
schengleichheit und allen Grundsätzen des Christen-
tums entgegen und ein Monument der menschlichen
Dummheit ist." 1785 hatte Herder in einem Brief
über seine Unfreiheit zornige Klage erhoben. „Die
Rücksichten auf die Regierungen placken mich — (bei
der Ausarbeitung seiner , Ideen4) — auf unerhörte
Weise. Lügen will und kann ich nicht, darum wende
und drehe ich mich ; und ihr Faden durch die ganze
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Geschichte bleibt doch, was er ist, für die beeinträch-
tigte Menschheit."
Bei solchen „Ideen" ist es verständlich, daß Herder
in dem Ausbruch der französischen Revolution den
Anfang der Verwirklichung des Weltreiches der Hu-
manität sah. Mit Goethe, der die Revolution mit er-
staunten Philisteraugen ansah, kam es damals zum
Bruch. Die revolutionären „Familiengesinnungen"
des Ehepaares Herder scheinen auf dieses Zerwürfnis
nicht ohne Einfluß gewesen zu sein. Den „Vier-
zehnten Julius", das Nationalfest auf dem Marsfeld
1790, feiert Herder enthusiastisch:
Rings um den hohen Altar siehst du die Franken zu
Brüdern
Und zu Menschen sich weih'n, göttliches, heiliges
Fest!
Der Regen, der damals herabströmte, ist ihm die Weihe
„zum neuen Geschlecht mit der Taufe der Mensch-
heit". Später freilich, als Ludwig XVI. hingerichtet
wurde, verlor auch Herder den Kopf. Er glaubte die
Humanität von den Franzosen verraten und droht den
„Neufranken" mit der Rache des „Königs der Kö-
nige".
Im Begeisterungssturm der Revolution aber ent-
wirft Herder seine „Briefe zur Beförderung der Hu-
manität". Der erste Entwurf (1792), der am lebendig-
sten in die soziale und politische Gegenwart vorge-
drungen zu sein scheint, ist bis auf wenige Reste ver-
loren gegangen. Zwischen diesem Manuskripte und
den schließlich veröffentlichten, stark abgedämpften
Briefen liegen die unveröffentlichten Skizzen, die den
Geist des revolutionären Humanitätsideals scharf prä-
gen. Der Zwang der Zensur nötigte ihn zu immer er-
neuten Milderungen und Verhüllungen. Trotzdem
wurden auch die schließlich veröffentlichten Huma-
nitätsbriefe in Wien verboten: „Ich werde aber des-
i59
halb keine Briefe zur Beförderung der Bestialität
schreiben", erklärte Herder.
In den Humanitätsbriefen entwickelt Herder seine
Religion der Humanität. Er nennt sich selbst einen
„uralten apostolischen Christ", der „glaube bis zum
Aberglauben, eine Gemeine (Gemeinde) der Heiligen
auf Erden, d. i. eine Versammlung von Gemütern, die
im Innern sowohl als in tätiger Wirkung für und mit-
einander Eins sind".
Humanität, das Fremdwort, nicht Menschlichkeit,
der deutsche Ausdruck, ist das allumfassende Ideal
Herders. Er selbst lehnt das Wort „Menschlichkeit"
ab, um nicht das Mißverständnis weichlich christlicher
Barmherzigkeit zu erwecken, die auch Kant als eine
entwürdigende Zumutung für den Menschen be-
zeichnet hat. „Wir gehören" — schreibt Herder in
dem 27. seiner Briefe zur Beförderung der Humanität
1794 — >>zur Menschheit. Leider aber hat man in
unsrer Sprache dem Wort Mensch und noch mehr dem
barmherzigen Wort Menschlichkeit so oft eine
Nebenbedeutung von Niedrigkeit, Schwäche und fal-
schem Mitleid angehängt .... Kein Vernünftiger
billigt es, daß man den Charakter des Geschlechts, zu
dem wir gehören, so barbarisch hinabgesetzt hat."
Auch von „Menschenliebe" will Herder nichts wissen:
„Das schöne Wort Menschenliebe ist so trivial ge-
worden, daß man meistens die Menschen liebt, um
keinen unter den Menschen wirksam zu lieben."
Mit dem Ideal der Humanität aber verpflichtet sich
der Weltbürger zum Kampf, zur Auflehnung, zur
Niederwerfung aller Mächte der Barbarei. „Humani-
tät ist der Charakter unsres Geschlechts; er ist uns
aber nur in Anlagen angeboren und nicht uns eigent-
lich angebildet worden. Wir bringen ihn nicht fertig
auf die Welt mit ; auf der Welt aber soll er als das Ziel
unsres Bestrebens, die Summe unsrer Übungen, unser
sein; denn eine Angelität im Menschen kennen wir
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nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert, kein
humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der
Menschen. Das Göttliche in unserem Geschlecht ist
also Bildung zur Humanität; alle großen und
guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philosophen,
Dichter, Künstler, jeder edle Mensch in seinem Stande,
bei der Erziehung seiner Kinder, bei der Beobachtung
seiner Pflichten, durch Beispiel, Werk, Institut und
Lehre hat dazu mitgeholfen. Humanität ist der Schatz
und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen,
gleichsam die Kunst unsres Geschlechtes. Die Bil-
dung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt
werden muß; oder wir sinken, höhere und niedere
Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück."
(Brief zur Beförderung der Humanität Nr. 27.)
Der Humanität widerspricht jene zerknirschte An-
schauung eines falschen Christentums von dem irdi-
schen Jammertal: „Nur dunkle barbarische Zeiten
haben den großen Lehnsherren des Bösen, dessen an-
gebornes Werk wir sein, von dem uns Gebräuche,
Büßungen und Geschenke zwar nicht wirklich, aber
Gewandsweise befreien könnten, der Stupidität
und Brutalität antichristlich wiedergegeben . . . Über
der Erde sehen wir von dieser massiven Vorhölle nichts.
Wo Böses ist, ist die Ursache des Bösen Unart unsres
Geschlechts, nicht seine Natur und Art . . . Offenbar
sehen wir, daß wir dazu da sind, dieses Reich der Nacht
zu zerstören, in dem niemand es für uns tun kann und
soll. . . . Es ist Zweck unsres Geschlechts, der End-
punkt unsrer Bestimmung, uns dieser Unart zu ent-
laden. Das ganze Universum treibt, wenn uns die
Früchte des Werks nicht locken, nur Nesseln und
Dornen. — Was soll alle Verzweiflung aber unter
einem nie abzuwerfenden Joch? Wozu der Traum
einer von der Wurzel aus unwiederbringlichen Mensch-
heit ? Keine Hypothese kann uns wert sein, die unser
Geschlecht aus seinem Standort rückt, die es bald an
11 Ei su er, Gesammelte Schriften. II
die Stelle der gefallenen Engel stellt, bald unter ihre
Vormundschaft und Oberherrschaft erniedrigt. Die
gefallenen Engel kennen wir nicht, aber uns kennen
wir, und wissen, wann und warum wir gefallen sind?
fallen und fallen werden ? — Das Dasein jedes Men-
schen ist mit seinem ganzen Geschlecht verwebet.
Sind unsre Begriffe über unsre Bestimmung nicht rein ;
was soll diese und jene kleine Verbesserung ? Sehet ihr
nicht, daß dieser Kranke in verpesteter Luft liegt ?
Rettet ihn aus derselben und er wird von selbst, ge-
nesen. Beim Radikalübel greift die Wurzeln an; sie
tragen den Baum mit Gipfeln und Zweigen. Das
Werk ist groß, es soll aber auch so lange fortgesetzt
werden, als die Menschheit dauert; es ist das eigenste
und einzige, das belohnendste und fröhlichste Ge-
schäft unsres Geschlechts." So verkündet Herder im
123. seiner Briefe zur Beorderung der Humanität
(1797) gegenüber dem listigen und perfiden Fatalis-
mus der theologischen Erbsünde die revolutionäre
Humanität der Menschheit, die ihr Schicksal mutig
in die Hand nimmt und die Knechtschaft über
kommener Übel mit der Wurzel ausreißt.
Indessen das sind doch immer nui revolutionäre
Andeutungen und Anspielungen, die in die zensur-
fähige Schrift hinübergerettet sind. In den unver-
öffentlichten Niederschriften aber greift er mit un-
gestümer Leidenschaft unmittelbar die Feinde der
Humanität an. Er ruft dem absoluten Herrscher
zu: „Ist's denn in aller Welt Ehre, seinen Namen ewig
gemißbraucht und kompromittiert zu sehen? Da ja
kein absoluter Landesherr wissen kann, was in seinem
Namen geschieht, ja nicht immer, was er selbst unter-
zeichnet. Welcher ehrliche Mann gibt nun seinen
Namen einem Dummkopf oder Bösewicht her, daß
er damit schalte? Und deckt nicht der Name des
Landesherrn in absoluten Staaten das ganze Labyrinth
Seelenloser oder verdorbener Gänge und Unordnung ?"
162
4
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Keine privilegierten Klassen! „Nur in werk-
tätiger, gegenseitiger Gemeinschaft lebt und gedeihet
das Menschengeschlecht. Alle abgesonderten Glieder
sind tote Glieder; wen Geburt oder Stand über die
Sphäre der Menschen heben, hat kein Menschenblut
mehr ... in seinen Adern."
Herder höhnt das Erbrecht des Verdienstes : „Wann,
auch nach dem seltensten Verdienst, das große In-
dividuum fortan sich einbildete, daß es auf ewige
Zeiten hinab in seiner ganzen Abkunft, samt Dienern,
Rossen und Hunden, dieses ehemalige Verdienst
repräsentiere, darstelle und in sich vereine, so wäre
dies eine seltsame Einbildung. Wir müssen es dem
Geist der Zeit danken, daß er diese kranken und
kränkelnden Einbildungen mehr und mehr zerstöret,
dergestalt zerstöret, daß, solange es in Europa ver-
ständige und herzhafte Männer gibt, solche in alter
Art und Kunst nie wieder aufkommen werden."
Ja, Herder droht auch mit der deutschen Revo-
lution: „Ans Volk, meine Freunde, wollen wir eher
mit Bedauern und Wehmut als mit Stolz und Zu-
versicht denken. Lange Jahrhunderte ist's unerzogen
geblieben, getäuscht, gedrückt und vernachlässigt
worden; es schläft im Todesschlafe, oder wenn's im
Fieber erwachte, wer müßte seine Fieberwut nicht
schreckhaft fürchten?"
Er geißelt die Torheit der Kriege: „Schuld-
lose, fleißige Völker werden für die Pflicht und Ehre
danken, andre Schuldlose, ruhige, fleißige Völker zu
würgen, weil der Regent oder sein Minister verlockt
ist, einen neuen Titel, ein Stück Landes zu denen
Ländern, die er schon nicht regieren kann, mehr zu
erhalten. Es wird Europa abscheulich vorkommen, für
einige Familien, die das Regierungsgeschäft der Länder
als einen genealogischen Pachtbesitz ansehen, sich zu
verbluten oder in Hospitälern oder Kasernen elend
zu verwelken."
«• 163
Und während Herder sich gegen die Intervention
Deutschlands zugunsten der gestürzten französischen
Herrschaft wendet, — „Meines Wissens ist kein
Deutscher ein geborner Franzose, der Verpflichtung
und Beruf hätte, für die alte Ehre des Königs der
Franzosen auch nur einen Atem zu verlieren" —
heischt er die Aufmerksamkeit für die Taten der
französischen Revolution: der Adel, so spottet Herder
folgte ja sonst der französischen Mode in Begriffen,
Ausdruck, Einrichtung und Kleidern; „warum wollte
er jetzt diese aufgeklärteste, geschmackvollste Nation,
in der wichtigsten Sache, die sie je unternommen, denn
nicht wenigstens anhören und prüfen? Die Kon-
stitution, an der die Nationalversammlung arbeitet,
ist ein unaufgelöstes, ein noch nicht vorgekommenes
Problem; mögen die, die es auflösen wollen, ihrem
Geschäft unterliegen, oder mögen sie es besiegen,
der Kampf, der Sieg, selbst die Niederlage
unter dem verwickeltsten, schwersten Problem der
Menschheit, ist für alles, was nicht Tier sein will, doch
wohl der Aufmerksamkeit wert?"
Auch gegen den Mißbrauch der Religion eifert er:
„Eine Religion, die dem Staate dienen soll, wie es
ihm gefällt, wird eine kuppelnde Heuchlerin."
Es ist ein weiter Weg vorwärts von der edlen, zur
revolutionären Tat bereiten Schwärmerei Herders für
das Reich der Humanität bis zu der reifen Kraft der
sozialdemokratischen Bewegung des Proletariats. Aber
noch weiter ist der Weg rückwärts, den die herr-
schenden Klassen Deutschlands hinter die Gedanken-
welt Herderscher Humanität zurückgegangen sind.
Die Rebarbarisierung Deutschlands, von der ein letzter
Epigone des klassischen Liberalismus, Mommsen, ge-
sprochen hat, ist vollendet.
[Dezember 1903.]
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Kant.
Dieser Aufsatz erschien Februar 1904 zum
hundertsten Todestag Kants im Vorwärts. Es
war ein Versuch, die Synthese Marx-Hegel in
die Verbindung Marx-Kant aufzulösen. Denn
sachlich gehört Marx zu Kant, in die Reihe der
großen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, wie tief
und entscheidend er immer — viel stärker als
man gemeinhin annimmt — nicht nur in der
Methode des Denkens, sondern auch in dem
ganzen Stil seiner Geistigkeit von Hegel beein-
flußt ist.
I.
Der ge'waltige Lebensstrom der Aufklärung, der,
den Aufstieg des Bürgertums begleitend, in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts von England über Frank-
reich nach Deutschland braust, flutet in der franzö-
sischen Revolution von der Philosophie zur Tat und
findet, zum Ozean sich weitend, in dem Kantischen
System seine wissenschaftliche Vertiefung und Voll-
endung. Die freie Vernunft, die in Deutschland vor
Kant zum spießbürgerlichen Geschwätz einer nutz-
losen Verständigkeit verflachte, wird zur Schöpferin
einer in alle Fernen und Tiefen greifenden Welt-
anschauung. Die platte Schulweisheit unter sich
lassend, meisterte sie auch die Dinge zwischen Himmel
und Erde, nachdem sie den Himmel und die Erde in
universaler Forschung das gesamte zugängliche Einzel-
wissen erfassend und im Denken zusammenfügend aus
dem Chaos irrenden Phantasierens und ideenlosen
Nichtsehens der Probleme in das Licht der strengen,
einheitlichen und gesetzmäßigen Wissenschaft ge-
hoben hatte.
165
Kant ging in der Naturwissenschaft von Newton,
der dem Weltall seine Gesetze fand, in der Wissen-
schaft der Menschheit und ihrer Bestimmung in der
Gesellschaft von Rousseau, dem Propheten der fran-
zösischen Revolution, aus. Natur und Menschheit
band er in einem System, das die Kausalität der starr
mechanischen Notwendigkeit in der Natur mit der
ehernen Notwendigkeit einer Kulturfreiheit ver-
einigte. Und wenn er nicht alle wissenschaftliche
Wahrheit erschöpfte und erschöpfen wollte — Kant
zeigte gerade den Aberwitz solchen Beginnens — ,
so wies er doch den einzig möglichen Weg zur Wissen-
schaft, die, selbst in ewigem Flusse, niemals vollendet,
immer zur Vollendung strebend, in der stolzen Arbeit
der Menschengeschlechter aufwärts steigt.
Kants Werk selbst aber wurde in tragischem Ge-
schick nach kurzem Weltwirken — ohne daß die Zeit-
genossen es ganz auszuschöpfen vermochten — tief
verschüttet. Die im 19. Jahrhundert aufrückende
Reaktion begrub ihn. Nicht nur, daß er nicht zum
Führer der revolutionären Tat ward — ausgenommen
die schwachen Spuren in der sogenannten preußischen
Wiedergeburt nach Jena — auch sein Gedankenwerk
wurde vergessen oder verstümmelt. Die Reaktion
konnte ihn nicht ertragen; so entstellte sie ihn. Und
da dieser Denker — nicht ohne die eigne Schuld der
Konzessionen an die Unfreiheit seiner Zeit — die herr-
schenden Wahngedanken durch Umdeutung zu be-
seitigen liebte, so konnte die Umdeutung zur Quelle
von Mißdeutungen werden, die sich bis zum heutigen
Tage durch die vulgären Lehrbücher schleppen und
ihrerseits die Schriftsteller verführen, die aus solchen
abgeleiteten Quellen schöpfen.
Kant hat seine wissenschaftliche Methode, die er
die „transzendentale" nannte — die vom Denken zur
Naturwelt der Erfahrung „hinausgehende" — in das
schlichte Epigramm negativ zusammengefaßt: „Ge-
166
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danken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Be-
griffe sind blind." Mit diesem Schlagsatz wies er ein-
mal die Kopfspinnen ab, die aus dem Hirne nach der
formalen Logik äußerlich zusammenstimmende Sy-
steme wirrten, leere Phantasien gaukelten, mit dem
Vorteil, daß sie die unsägliche Mühe der im Laufe der
Jahrtausende gewonnenen wissenschaftlichen Ergeb-
nisse der millionenfältigen Experimente und der ge-
duldigen, vorsichtigen und bescheidenen Beobachtung
ersparten. Andererseits verwarf er mit seinem Worte
die in dem Chaos zufälliger „Erfahrungen" ohne Lei-
tung taumelnden und willkürlich Fetzen raffenden
Vertreter der „reinen Empirie", jenen faulen und
flachen Opportunismus des Denkens, der sich von den
Dingen treiben läßt, ohne sie systematisch zu be-
herrschen.
Was nach Kant kam, war ein wildes Spiel solcher
Leeren und Blinden : Eine in Nebeln fiebernde Natur-
und eine mit „Ideen" prunkende Geschichtsphilo-
sophie; daneben die Verächter der Theorie, die Prak-
tiker, die Regenwürmer gruben und mit diesem Tun
sich brüsteten. Es entstand jener konservative Histo-
rismus, der die Vergangenheit nur zu dem Zweck auf-
leben ließ, um zu beweisen, daß man gerade unter
diesen oder jenen Königen und Ministern den Höchst-
grad menschlicher Vollendung erreicht: Eine epide-
mische Geistesschwäche, die noch heute von den Ver-
fechtern der herrschenden Ordnung gegen den revo-
lutionären „Rationalismus" ausgespielt wird. So
feiert z. B. ein viel gerühmter königlich sächsischer
Philosoph unserer Tage gegenüber einer „abstrakten
Nützlichkeitstheorie" den „organisch gewordenen, in
den Lebensanschauungen und Sitten einer Volks-
gemeinschaft wurzelnden Staat, der nicht die geringste
Bürgschaft für das dort vergeblich erstrebte Wohl der
Gesamtheit in der Stetigkeit und Sicherheit seiner
Entwicklung erblicken darf". Und diese „organische"
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Entwicklung, deren Hauptsache die Langsamkeit ist —
gipfelt dann in der weisen Vorsehung des angestammten
Herrscherhauses, „dessen Träger, durch seine Geburt
schon über allem Streit der Parteien und Sonder-
interessen erhoben, in seiner Person symbolisch die
Gesamtpersönlichkeit des Staates zum Ausdruck bringt
und in seinem Streben und Wollen tatsächlich die
Zwecke der Gemeinschaft zu seinem eignen Lebens-
zweck gemacht hat**.
Es ist das weltgeschichtliche Verdienst des wissen-
schaftlichen Sozialismus, es ist das Werk von Karl
Marx, daß er gegenüber der leeren Ideologie seiner
Zeit und der blinden Empirie wieder in die Bahn der
großen klassischen Tradition einlenkt, die allein zur
Wissenschaft führt. Wenn Kant seine „Kritiken**
eigentlich nur als methodischen Rahmen gedacht hat,
in den alle Einzelwissenschaften einzuarbeiten seien,
so füllt Marx diesen Rahmen auf dem Gebiete der
Geschichte und Ökonomie, Kants geringe Andeutungen
dieser Art zugleich weit überholend. Er bannte die
ungeheure Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Er-
fahrung in dem Granitbau eines einheitlichen Systems,
das nicht „Ideen** zusammenflicht und auch nicht
bloße „Tatsachen** aneinander reiht, sondern die im
Innersten revolutionäre Gesetzmäßigkeit des wirk-
lichen Geschehens erkennt, deutet und gestaltet. Und
glücklicher als der in dem engen Deutschland des
18. Jahrhunderts eingepferchte Denker wurde der
Theoretiker der Geschichte und Wirtschaft unmittel-
bar zum praktischen Schöpfer einer geschichtlichen
Bewegung von einer revolutionären Kraft und welt-
umspannenden Bedeutung, die ihresgleichen in der
Vergangenheit nicht hat. Neben Kant tritt Marx, und
der eherne Gleichklang der beiden Namen mag diesem
Zusammenhang ein Symbol sein.
168
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Kants zugleich nüchternes und erhabenes Geschäft
ist es, die Kriterien, Bedingungen, Schöpfungsmittel,
Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis zu finden.
Was ist Wissenschaft ? Wie ist Wissenschaft möglich f
Die Frage beantwortet er, indem er das ganze Gerüst
des menschlichen Denkens aufbaut, so wie es sich
in der Geschichte der Wissenschaft andeutet. Er
schlichtet den Streit zwischen Denken und Erfahrung,
zwischen Geist und Materie, Theorie und Praxis, Ver-
nunft und Sinnlichkeit. An dem Modell der Wissen-
schaften, die absolute Gewißheit gewähren, prüft er
die Leistungsfähigkeit der Vernunft, scheidet er die
Gebiete ihrer Betätigung, weist er die Wege, die zur
Wahrheit führen. Er taucht in die Urelemente der
Erkenntnis und erobert von hier aus die Natur in ihrer
Einheit.
Die erkenntniskritische Weisheit Kants war für die
Entwicklung der Wissenschaften von unermeßlicher
Bedeutung, und ihre Geltung wird erst erschöpft sein,
wenn sie als selbstverständlicher Besitz alle Disziplinen
durchdrungen hat. Das Erwachen von den Träume-
reien der spekulativen Naturmystik im 19. Jahrhundert
wird durch die Besinnung auf Kant ermöglicht. Kein
Mathematiker, der zu den letzten Fragen seiner
Wissenschaft vordringt, der Kant nicht zu befragen
hätte. Die Mechanik, die gerade jetzt wieder ihrer
schweren Probleme bewußt wird, debattiert unaus-
gesetzt mit Kant. Ein Naturforscher wie Helmholtz
mühte sich um das Verständnis der „Kritik der reinen
Vernunft".
Aber nicht nur im Felde der Mathematik und mathe-
matischen Naturwissenschaft wirkt Kant in solcher
Lebendigkeit fort, daß es scheint, als ob er erst am Be-
ginn seiner Mission in der Wissenschaft stünde, sondern
auch für den Fortschritt der beschreibenden Natur-
forschung ist Kant von bisher unerschöpfter Bedeu-
tung. Die moderne Geographie empfängt von ihm
169
entscheidende Anregungen. Der „Vater" der neueren
Physiologie, Johannes Müller, forscht im Geiste Kants.
Der Begründer wissenschaftlicher Botanik, Schleiden,
der mit Schramm zusammen die Zellentheorie ent-
deckte, ist unmittelbarer Schüler Kants. Schleiden
veröffentlichte 1842 seine „Grundzüge der wissen-
schaftlichen Botanik" und diesem grundlegenden Werk
schickt er auf zweihundert Seiten eine noch heute sehr
lesenswerte methodische Einleitung voraus, die durch-
aus auf Kants Erkenntniskritik fußt. Mit ihr scheucht
er den „Nebel phantastischer Kinderträume" (Send-
ling) und die Spekulanten, die „in arroganter Ver-
messenheit zum Gott aufschwellen wie die Anhänger
Hegels". Er verlangt mit Kant die streng kausale
mechanisch-chemische Naturerklärung, die durch keine
mystische „Lebenskraft" unterbrochen werden darf.
Und gegenüber gewissen Rückfällen, die heute wieder
gefährlich drohen, sind die Sätze noch recht beachtens-
wert, die Schleiden damals schrieb: „Seit Aristoteles
bis auf die neueste Zeit wagte kein Mann von Wissen-
schaft, die unbedingte Gültigkeit der . . . zuletzt
durch Kant ausgebildeten Logik als Kathartikon (Rei-
nigungsmittel) der Wahrheit in Abrede zu stellen,
selbst die Männer nicht, welche aus Mangel an lo-
gischer Ausbildung die schmählichste Verwirrung in
der Philosophie anrichteten. Erst in neuerer Zeit hat
uns Hegel seine Spielerei mit immer kauderwelschen
und geschmacklosen, meist auch sinnlosen Formeln
für eine neue, höhere Weisheit in diesem Felde ver-
kaufen wollen. In Schule und Kolleg hört man nun
zwar, daß es eine solche Gesetzmäßigkeit unsres Geistes
gibt, daß die tiefsten Köpfe ihr Leben daran gesetzt,
diese Gesetze zu entwickeln und zu begründen, daß
es ohne diese Gesetzmäßigkeit keine echte wissen-
schaftliche Tätigkeit gäbe; aber sowie man an einen
andern speziellen Zweig des Wissens kommt, hat man
alles wieder vergessen, von Anwendung des Gelernten
170
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ist keine Rede. Ja, man hört wohl gar: wozu die
trockene Logik, die hat jeder gesunde Kopf von selbst .
Kindische Eitelkeit, die sich einbildet, das so vorweg
zu haben, an dessen immer weiterer Ausbildung und
Begründung seit Jahrtausenden zu arbeiten, die
scharfsinnigsten Köpfe, die ausgezeichnetsten Denker
nicht verschmäht haben. Hier finde ich gerade den
großen Grundfehler in der Bearbeitung unserer Wissen-
schaft, der alle unsre Bestrebungen so haltungslos und
unsicher macht, daß die Systeme kommen und gehen
wie Ephemeren (Eintagsfliegen), daß, was heute auf-
gestellt und bewundert die ganze Wissenschaft ergreift
und beherrscht, morgen durch eine einzige tüchtige
Beobachtung über den Haufen geworfen wird."
Ganz besonders merkwürdig sind Kants biologische
Anregungen. Lange vor Darwin bekennt er sich zur
Entwicklungsgeschichte der Natur, die von dem nie-
dersten Wesen zum Menschen sich fortbildet, und
klarer, wie Darwin und die Darwinisten, spiegelt er
nicht eine angebliche kausal-mechanische Erklärung
vor — die er prinzipiell und ohne Grenzen fordert — ,
wo eine der mechanischen Kausalität fremde Zweck-
setzung sich einschleicht. Daher denn auch der neueste
Geschichtschreiber des Deszendenzgedankens in einem
erst vor kurzem erschienenen Buch der Darstellung der
kantischen Formulierung des Entwicklungsgedankens
die Bemerkung anfügt, daß „hier ein Standpunkt ver-
treten ist, der in absehbarer Zeit wieder zahlreiche
Vertreter finden dürfte und durch den die Grenzen
des Naturerkennens ein für allemal bestimmt um-
schrieben sind".
Die Erkenntniskritik als Mittel aller wissenschaft-
lichen Methodik ist das eine unvergängliche Verdienst
Kants. Indem er aber die Grundlagen des Denkens in
der Erfahrungswissenschaft fand, reinigte er zugleich
das Gebiet der Naturerkenntnis von aller übersinn-
lichen Metaphysik und die Metaphysik von allem An-
171
spruch auf naturwissenschaftlichen Geltungswert. Er
zerrieb die religiöse Mythologie zwischen der Natur-
wissenschaft, aus der sie exiliert wurde, und einer
menschlichen Ethik, in der jene keinen Platz hat.
Kant ist der Überwinder der metaphysisch-mytho-
logischen Weltanschauung. Das ist seine zweite un-
sterbliche Tat.
IL
Mit gelinder Überspannung läßt sich sagen, daß
Kant die gigantische Gedankenarbeit seiner Kritik
aller wissenschaftlichen Erkenntnis — in elf langen
mühseligen Jahren vollkommenen literarischen Ver-
stummens durchdacht, dann, als jäh die Sorge sich er-
hob, der Tod könnte den Ertrag vor der Geburt ins
Grab nehmen, an der Schwelle des Greisenalters ha-
stend in wenigen Monaten niedergeschrieben — daß
Kant die Kritik der reinen Vernunft entwarf, nicht
sowohl um die Gewißheit und die Bedingungen der
Mathematik und der mathematischen Naturwissen-
schaft zu erklären, sondern um die Waffe zu schmieden,
mittels derer die theologische Metaphysik für alle
Zeiten aus dem Reich der Wissenschaft verjagt werden
möchte. Bis Kant war es das Hauptstück der Philo-
sophen, die Überlieferungen der jüdisch-christlichen
Mythe und Mystik mit den äußeren Mitteln leer for-
maler Wissenschaftlichkeit zu erhärten. Indem Kant
nun bewies, daß es in Zeit und Raum keinerlei wissen-
schaftliche Erkenntnis außerhalb der Erfahrung geben
könne, vertrieb er die theologische Metaphysik aus
Zeit und Raum, er entkleidete die ersonnenen über-
irdischen Mächte somit aller Möglichkeit in der Natur
der Kausalität durch Eingriffe, in der Menschheit
durch Offenbarungen zu wirken, und wandelte sie in
bloße Ideen — dafür setzte er auch das so schlimm miß-
verstandene „Ding an sich" — , über die sich nichts
beweisen lasse.
172
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Aber damit nicht genug. Von der sittlichen Seite
angreifend, zerstörte er auch den Geltungswert der
theologischen Ideen als Pfadweiserinnen im Bezirk
der Vernunft. Er nahm ihnen nicht nur ihren natur-
wissenschaftlichen, sondern auch ihren moralischen
Kredit. Die „Heteronomie" der Sittlichkeit, d. h. die
von einer übermenschlichen Macht offenbarten und
diktierten Gebote durchaus ablehnend, verkündete er
die Autonomie der Moral, in der die Menschheit, die
freie Menschheit aus eigner Vernunft und eignem
Recht sich die Gesetze ihres Handelns erfindet und
über sich stellt.
So wurden die metaphysischen Gespinste ihrem
ganzen Inhalt nach in Nichts aufgelöst. Aber Kant
ließ, zum Schaden der klaren Einheit seines Systems,
hier und da die leeren Hülsen liegen, mit denen dann
bis in unsere Zeit ein nachhaltiger Unfug getrieben
worden ist. Dennoch kann über die wirkliche Meinung
und Absicht Kants kein Zweifel sein. Nur muß man
seine Sprache zu lesen verstehen. Jede unfreie Zeit
schafft sich ihren eigentümlichen Stil, in der die lautere
Wahrhaftigkeit der Überzeugung mit der durch die
Zwangsgebote einer unüberwindlichen Gewalt auf-
erlegten Vorsicht ehrlichen Ausgleich sucht. Kant
schrieb unter der Zensur! Wenn er überhaupt zum
Worte kommen wollte, mußte er, unbeschadet aller
Aufrichtigkeit, gewisse stilistische Kautelen gebrau-
chen, die in der Folge dann zur Erstickung seiner
eigentlichen Meinung gern benutzt wurden. Kant
hat zu den größten schöpferischen Ketzern gehört,
der vor keiner Konsequenz seines vorwärts stürmenden
Denkens zurückbebte. Im vertrauten Kreise pflegte
er über Welt und Dinge mit äußerster Rückhaltlosig-
keit zu sprechen. Sein Tischfreund Hippel, der Bürger-
meister von Königsberg und Verfasser genialischer Ein-
fälle in humoristischer Romanform, hat diese Ge-
spräche Kants ohne dessen Wissen aufgezeichnet. Als
173
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aber Hippel starb und seine Erben diese Blätter ent-
deckten, erschraken sie so sehr über die vermessene
gottlose Kühnheit dieses Revolutionärs — der trotz
seines zurückgezogenen Lebens auch ein geistreicher
Weltmann, wie nur irgendein Pariser Enzyklopädist
war — , daß sie die Papiere verbrannten, damit wohl
die wichtigste Quelle zar Erkenntnis kantischen We-
sens zerstörend.
Dennoch hat er auch in seinen Schriften die theo-
logische Metaphysik mit einer Rücksichtslosigkeit be-
kämpft, die noch heute, wo kein Staatsmann als ein
WöUner und kein Fürst als ein Friedrich Wilhelm II.
gelten möchte, dem Autor leicht Unannehmlichkeiten
zuziehen könnte. Was Kant mit gellendem Witz und
mit dem ergreifenden tiefen Pathos seiner reinen wis-
senschaftlichen und sittlichen Weltanschauung über
den gleichen Unwert aller Kirchen, vom Fetischismus
und Schamanendienst bis zum Papstkult, was er über
die Dogmen, „Statuten und Observanzen" der offen-
barten Pfaffenreligionen, über Gebet und Wunder
geschrieben, macht ihn nicht nur zum bedeutendsten
geistigen Überwinder, sondern auch zum wirksamsten
Agitator gegen allen Klerikalismus, in welcher Form
er sich immer zeigt.
Hundert Jahre nach seinem Tode aber herrscht der
Klerikalismus in seinem Vaterland mächtiger denn je
zuvor. Seine Bücher sind von der alleinseligmachen-
den Kirche noch immer verboten. Und Kant wäre ein
Herrscher ohne Land, wenn nicht in der proleta-
rischen Bewegung auch der geistige Befreiungskampf
sich zum Siege durchringen würde.
•
Die Ethik, durch die Kant der theologischen Meta-
physik ihre letzte Zuflucht nahm, ist die dritte Tat
seiner Weltwirksamkeit. Noch ist über sie Streit, und
*74
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cs ist hier nicht möglich, die Fragen irgendwie tiefer
zu erörtern.
Die Ethik erhebt den Anspruch, nach „Art von
Naturgesetzen" einen obersten Grundsatz sittlichen
Handelns von unverbrüchlicher Geltung aufzustellen.
Er konnte sie deshalb nicht begründen in dem Chaos
menschlicher Psychologie, auch nicht in der schweben-
den Unsicherheit individueller Glückseligkeit, sondern
nur in der festen Form eines letzten Zweckes, eines
Endzieles. Kants Sittengesetz der Freiheit ist eine
Richtung gebende Aufgabe der Menschheit, es
wurzelt in der Humanitätsidee und es hat in nichts
seinen Beweis wie in seiner Möglichkeit und Fruchtbar-
keit, zum Menschheitsideal zu weisen. Es ist ein Miß-
verständnis, wenn man Kant gegenüber der Ewigkeit
seines Sittengesetzes auf die ewig in Zeiten und Län-
dern wandelnden Sitten aufmerksam macht. Das
wußte Kant auch, und in seinem Lieblingsstudium,
der Geographie, wies er scharfsinnig auf die Zusammen-
hänge der Sitten und der physischen Bedingungen hin,
unter denen die Völker leben. Die Sittenlehre aber,
die in ihrer kausalen Abhängigkeit zu durchforschen
ist, nannte er Anthropologie, nicht Ethik. Die Ethik
tritt als Gesetzgeber auf. Wie die Menschheit Natur-
gesetze entdeckt, um die Natur zu bändigen und zu
gestalten, so gibt sich die Menschheit für ihr gesell-
schaftliches Zusammenwirken aus eigner Schöpfer-
kraft eine letzte, oberste Norm. Die Ethik erzeugt das
Wert- und Entwicklungsgesetz der Gesellschaft nicht
aus blauen Wolkenhöhen und auch nicht aus der sinn-
lichen Erfahrung, sondern aus der Vernunft, welche
die Tiere zu Menschen macht, indem sie ihnen die
Fähigkeit verleiht, sich selbst Kulturzwecke zu setzen.
Das Sittengesetz Kants lautet in seiner fruchtbar-
sten Formulierung: „Handle so, daß du die Mensch-
heit, sowohl in deiner Person als in der Person eines
jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals
175
bloß als Mittel brauchst." Dieses Gesetz übersteigt
jenen einfachen Moralsatz der Reziprozität, den schon
die chinesische Weisheit des Konfutse als goldene
Moralregel aufstellte: Handle so, wie du willst, daß
man an dir handle. Das ist Moral zum individuellen
Privatgebrauch. Kants Satz dagegen legt die Mensch-
heitsidee zum Grunde, er will der Kulturentwicklung
der Menschheit die Richtung weisen.
Die Ethik Kants ist nur Gesetz, nur „Form" mensch-
lichen Handelns. Lediglich in dieser Beschränkung
liegt die Geltung, das Recht und die Fruchtbarkeit des
sittlichen Prinzips. Der lebendige Inhalt, der
die Form erfüllt, steht durchaus im Fluß der Ge-
schichte. Und hier weitet sich das Reich der kausalen
Erklärung, hier waltet der Mechanismus der Wirt-
schaft, hier erweist die geschichtsmaterialistische Me-
thode ihre unabweisliche Kraft. Die Ethik der Form
besagt nichts weiter: Wenn denn die Menschheit eine
Kultur will, wenn sie ein Wertmaß der gesellschaft-
lichen Organisation braucht, so kann das richtende
und sichere Prinzip nur jener Moralgrundsatz sein.
Er verbürgt den Aufstieg der Menschheit. Diese Ethik
ist also kein Fremdenführer, der moralische Sehens-
würdigkeiten erläutert, sie ist auch kein Pfaffe, der
ewige Gebote inhaltlich und materiell bestimmt, un-
wandelbar im Namen Gottes befiehlt; sie ist ein Bau-
meister, der gleichsam die technischen Vorbedin-
gungen, die Mathematik der Gesellschaft lehrt — das
Bauen selbst unterliegt der Kausalität der Geschichte,
der Arbeit der Menschheit. Und wäre dies Prinzip,
weil sie nur Form ist, auch leer? Man prüfe jenen
Satz an den wirtschaftlich bedingten Klassenkämpfen
der Geschichte. Hat nicht stets jede revolutionäre
Klasse in irgendeiner Formel jenes sittliche Programm
als Recht und Ziel ihrer Empörung auf ihre Fahne ge-
schrieben ?
Begrenzt und versteht man den systematischen Wert
176
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von Kants Ethik so, dann ist sofort der Irrtum jener
Kantianer offenbar, die den Philosophen wegen seiner
Ethik zum Begründer des Sozialismus machen wollen.
Als ewiger Grundsatz aller Sittlichkeit gedacht, kann
er logischerweise gar nicht sich in einer bestimmten,
zeitlich bedingten Gesellschaftsordnung manifestieren
und erschöpfen. Diese Ethik steht über allen konkreten
Gesellschaftsordnungen und sie bedingt an sich keine
bestimmte Ordnung. Nur muß sich jedes Gemein-
schaftswesen, wenn anders es sein Kulturrecht er-
. weisen will, an jenem sittlichen Ideal messen. Und so
wahr es ist, daß auf der heutigen Stufe der wirtschaft-
lich-politischen Entwicklung Kants Ethik nur im
Sozialismus sich zu verwirklichen vermag, so fest steht
es, daß Kant keine sozialistischen, sondern liberale
Folgerungen aus seiner Ethik zog. Er lebte durchaus
in der Weltanschauung der französischen Revolution,
welche die Weltanschauung des Liberalismus, des
freien Spiels der Kräfte war, dessen das Bürgertum
bedurfte, um die Fesseln des Feudalismus zu sprengen.
III.
Die Auffassung, daß Kant in seiner politisch- wirt-
schaftlichen Theorie nicht über den Liberalismus der
französischen Revolution hinausgekommen, scheint
mit der Tatsache nicht übereinzustimmen, daß er als
Erster an einer bedeutungsvollen Stelle der „Kritik
der reinen Vernunft" mit ernster und ehrfürchtiger
Begeisterung den als groteske Phantasie verlachten
sozialistischen Staat Piatos verteidigte. Indessen
diese Verherrlichung, die er in einer seiner letzten
Schriften wiederholte, gilt offenbar nur dem Ge
danken der Möglichkeit eines Idealstaates an sich,
ohne daß Kant damit die besondere sozialistische Or
ganisationsform tiefer erfaßt oder anerkannt hätte.
Kant münzte seine Ethik in die Forderungen des
Liberalismus, den er in die letzten Konsequenzen
n F. isner. Gesammelte Schriften. II. 177
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verfolgt, dessen Grenzen und Widersprüche sich be^
reits ihm leise andeuten, ohne daß er sie schon zu über-
winden vermag.
Zunächst verlangt Kant unbedingte Freiheit der
Meinungsäußerung, was die Beseitigung der Zensur
einschließt. Aber er macht eine eigentümliche Ein-
schränkung. Im öffentlichen Gebrauch der Ver-
nunft soll schrankenlose Freiheit herrschen, im Privat -
gebrauch dagegen sind Vorbehalte notwendig. Unter
dem Privatgebrauch der Vernunft versteht er den-
jenigen, „den er in einem gewissen ihm anvertrauten
bürgerlichen Posten oder Amte . . . machen darf",
und er erläutert diesen Unterschied an einem gegen-
wärtig recht aktuellen Beispiel: „So würde es sehr ver-
derblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinem
Oberen etwas unbefohlen wird, im Dienste über die
Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut
vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm
aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Ge-
lehrter über die Fehler im Kriegsdienste Anmerkungen
zu machen und diese seinem Publikum zur Beurteilung
vorzulegen." (Was ist Aufklärung?)
Wie die französischen Revolutionäre erkennt Kant
das Eigentum an. Die Gleichheit der Staatsbürger,
die er verlangt, „besteht aber ganz wohl mit der
größten Ungleichheit, der Menge und den Graden
ihres Besitztumes nach, es sei an körperlicher oder
Geistesüberlegenheit über andre, oder an Glücks-
gütern außer ihnen, und den Rechten überhaupt".
Aber auf dem Gebiete, wo sich ihm — nach dem da-
maligen Stand der Wirtschaft — die Ungleichheit des
Besitzes als Hemmnis seiner sittlichen Ideale unmittel-
bar aufdrängt, gegenüber dem Feudalismus, da wirft er
doch sofort, wenn auch nur scheinbar beiläufig, die
Brandfackel der Frage hinein : „wie es doch mit Recht
zugegangen sein mag, daß jemand mehr Land zu
eigen bekommen hat, als er mit seinen Händen selbst
178
Digitiz
benutzen konnte, . . . und wie es zuging, daß viele Men-
schen, die sonst insgesamt einen beständigen Besitz-
stand hätten erwerben können, dadurch dahin ge-
bracht sind, jenem bloß zu dienen, um leben zu
können ?"
Staatsrechtlich fordert Kant die konstitutionelle
Republik: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem
vereinigten Willen des Volkes zukommen." Jedes
Glied der gesetzgebenden Gemeinschaft, jeder Staats-
bürger hat die „gesetzliche Freiheit, keinem andern
Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Zu-
stimmung gegeben hat". Er hat ferner das Attribut
der „bürgerlichen Gleichheit" und drittens die
„bürgerliche Selbständigkeit, seine Existenz und
Erhaltung nicht der Willkür eines andern im Volke,
sondern seinen eignen Rechten und Kräften als Glied
des gemeinen Wesens verdanken zu können". Stimm-
recht sollen nur die „selbständigen" Staatsbürger
haben. Kant versucht den Begriff der Selbständigkeit
an Beispielen zu veranschaulichen. Unselbständige, „pas-
sive Bürger" sind „der Geselle bei einem Kaufmann
oder bei einem Handwerker; der Dienstbote, der Un-
mündige, alles Frauenzimmer, und überhaupt jeder-
mann, der nicht nach eignem Betriebe, sondern nach
der Verfügung andrer (außer der des Staats) genötigt
ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten,
entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit". Indem
er jedoch sich weiter in diese Begriffsbestimmung ver-
tieft, empfindet er den Widerspruch mit der Forde-
rung der Gleichberechtigung aller Staatsbürger und
gesteht, es sei „etwas schwer, das Erfordernis zu be-
stimmen, um auf den Stand eines Menschen, der sein
eigner Herr ist, Anspruch machen zu können".
Aber auch die „passiven" Staatsbürger haben das
gleiche Recht auf freie Entwicklung. Es darf nicht
verhindert werden, „daß diese, wenn ihr Talent, ihr
Fleiß und ihr Glück es ihnen möglich macht, sich nicht
»2»
179
zu gleichen Umständen zu erheben befugt wären".
Kein Vorrecht der Geburt, keine Hörigkeit. Kein
Mensch kann durch „rechtliche Tat (weder seine
eigne, noch die eines andern) aufhören, Eigner seiner
selbst zu sein, und in die Klasse des Hausviehes ein-
treten, das man zu allen Diensten braucht, wie man
will, und es auch dann ohne seine Einwilligkeit er-
hält".
Wie Kant im Gebiete der Religion die christliche
Barmherzigkeit, die Charitas, als beleidigend für die
Würde der Menschheit bezeichnet, so bekämpft er
auch allen Patriarchalismus: „Eine Regierung, die aui
dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines
Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, das ist eine
väterliche Regierung, wo also die Untertanen als un-
mündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was
ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß
passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glück-
lich sein sollen, bloß von dem Vorteile des Staats-
oberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß von
seiner Gültigkeit zu erwarten, ist der größte denkbare
Despotismus".
Das Prinzip der Freiheit weitet sich zum Kosmo-
polismus, der alle Völker im Bunde der Kultur um-
fängt. So entwirft er seinen Traktat vom ewigen Frie-
den, indem er übrigens durchaus realistisch sowohl die
Bedingungen des Friedenszustandes, wie die zeitlichen
Notwendigkeiten von Kriegen untersucht.
Kant blieb im Bann des Liberalismus. Seine Ethik
suchte ihre Verwirklichung nur in dem Sprengen von
Fesseln. Aber seine Schüler zogen alsbald weitere Fol-
gerungen. 1792 veröffentlichte Hippel seine Schrift
„über die bürgerliche Verbesserung der Weiber", in
der zum erstenmal die völlige bürgerliche Gleich-
berechtigung der Frauen bis in die letzten
Konsequenzen proklamiert wurde; zugleich zog er die
französische Revolution vor Gericht, weil sie zwar der
180
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Welt die Freiheit votiert, aber der größeren Hälfte
der Menschen diese Freiheit ausdrücklich versagt
habe. Im Weiterdenken der Kantschen Lehre wurde
Fichte dann zum utopischen Sozialisten.
Kein Deutscher der Zeit hat die Bedeutung der
französischen Revolution, deren echter Philosoph er
war» tiefer erfaßt als Kant. Er fiel von seiner Begeiste-
rung auch nicht ab, als die Ereignisse sich abspielten,
die man als „Greuel" zu bezeichnen pflegt. Auch
nachdem die Guillotine die Hinrichtung der alten
Gesellschaftsordnung vollzogen, wagte Kant öffent-
lich die Revolution zu preisen als die „Begebenheit
unserer Zeit, welche die moralische Tendenz des Men-
schengeschlechts beweist". Durch die umstürzenden
Befreiungstaten der Revolution stärkte sich sein Glau-
ben an die Möglichkeit und Wirklichkeit einer Men-
schengemeinschaft der Freien und Gerechten.
Kants Philosophie drang denn auch in das aufge-
wühlte Frankreich. Im Januar 1796 schreibt Karl
Theremin, Bureauchef im Wohlfahrtsausschuß, aus
Paris an seinen Bruder in Deutschland, er möchte ver-
suchen, ein „Professorat über Kantische Philosophie"
in Frankreich zustande zu bringen; er weist dabei auf
Sieyes Interesse an der Philosophie Kants hin. Im
November 1795 hatte schon Kants Vertrauter, Kiese-
wetter, der ihn namentlich ständig von den Vorgängen
an dem Berliner Hofe unterrichtete, nach Königsberg
im Hinblick auf die Schrift über den ewigen Frieden
geschrieben: „Leid tut es mir, daß diese Schrift nur
den Deutschen bekannt werden sollte, es finden sich
unter uns noch manche Hindernisse, ich will nicht
sagen, die Wahrheit zu erkennen, aber doch sie aus-
zuüben; gewiß würde diese Schrift bei jener großen
Nation, die so manche Riesenschritte auf dem Wege
der politischen Aufklärung gemacht hat, viel Gutes
stiften." Die Schrift wurde darauf tatsächlich über-
setzt. Humboldt hielt Vorträge im Pariser National-
r8»
Institut über die Weltanschauung Kants, allerdings
wegen ihres Verständnismangels nicht zur Zufrieden-
heit des Philosophen.
Bei solchem Enthusiasmus ist es nun ein seltsamer
Widerspruch, daß Kant in seinen staatsrechtlichen
Schriften scheinbar mit höchstem Nachdruck das
Recht auf Revolution verwarf. Wenn man hier zitieren
wollte, so würde man die muffige und ängstliche Luft
der damaligen Amtsstuben zu verspüren meinen; alles
scheint auf die demütige Forderung hinauszulaufen:
„Sei Untertan der Obrigkeit." Und dennoch, wenn
man genauer liest, wenn man die Sprache Kants be-
herrscht, so mildert sich der Widerspruch, wenn er
auch nicht ganz verschwindet. Einmal besteht Kant
auf der Gesetzlichkeit, nachdem er die Möglichkeit
gesetzlicher Entwicklung durch die freie Republik
vorausgesetzt hat. Dann aber bestreitet Kant das
Recht der Revolution, in letzter Absicht offenbar
deshalb, um auch das Recht der Gegenrevolution
verneinen und die Gesetzlichkeit der revolutionären
Wi rkung behaupten zu können. Denn nachdem er
die Revolution aus Prinzip augenscheinlich sehr derb
befehdet, fährt er gemütlich fort: „Übrigens, wenn
eine Revolution einmal gelungen und eine neue Ver-
fassung gegründet ist, so kann der Unrechtmäßigkeit
des Beginnens und der Vollführung derselben den
Untertanen von der Verbindlichkeit, der neuen Ord-
nung der Dinge sich als gute Staatsbürger zu fügen,
nicht befreien, und sie können sich nicht weigern, der-
jenigen Obrigkeit ehrlich zu gehorchen, die jetzt Ge-
walt hat." Damit ist das Prinzip der Legitimität und
der angestammten Monarchie von Grund aus preis-
gegeben, das in der Folge in der Reaktionszeit der hei-
ligen Allianz die ideologische Losung der Knecht-
schaft ward. Kant gibt auch indirekt dem „ent-
thronten Monarchen" den Rat, in den Stand eines
Staatsbürgers zurückzutreten, seine und des Staates
182
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Ruhe dem Wagstücke vorzuziehen, als Prätendent
das Abenteuer der Wiedererlangung der Krone zu
wagen. Ebenso, ohne es wieder deutlich auszuspre-
chen, leugnet er das Recht andrer Mächte, sich
diesem „verunglückten Oberhaupt zum Besten in ein
Staatsbündnis zu vereinigen, bloß um jenes vom Volke
begangene Verbrechen nicht ungeahndet noch als
Skandal für alle Staaten bestehen zu lassen, mithin in
jedem andern Staate durch Revolution zustande ge-
kommene Verfassung in ihre alte mit Gewalt zurück-
zubringen".
Fichte führte dann alle diese beklommenen und ver-
hüllten Andeutungen des Meisters mit rücksichtsloser
Kühnheit aus. Aber auch bei Kant schimmert die
Herzensmeinung deutlich genug durch.
Auf seine Zeitgenossen wirkte Kant vornehmlich
durch seine Ethik und durch seine Ästhetik, die hier
übergangen werden muß. Im Geiste Kants entwirft
Schiller den Plan seiner Universalgeschichte, seiner
ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts.
Durch das Medium Schiller wieder wird Kants
chiliastische Weltanschauung Musik in Beethoven
und stürmt zum Himmel in dem Schlußchor der
neunten Symphonie: Freude, schöner Götterfunken!
Wie tief Kant die Gemüter erschüttert, das zeigen
Briefe Fichtes. Er lernt Kants Schriften ganz zufällig
kennen. Halb verhungert, in den schlimmsten Nöten
seines Daseins, muß er sie lesen, um Unterrichts-
stunden geben zu können. Der Zufall wird ihm zum
Schicksal: „Ich hatte mich" — schreibt er an seine
Braut 1790 — „durch eine Veranlassung, die ein bloßes
Ungefähr schien, ganz dem Studium der kantischen
Philosophie hingegeben, einer Philosophie, welche die
Einbildungskraft, die bei mir immer sehr mächtig
war, zähmt, dem Verstände das Übergewicht und dem
ganzen Geist eine unbegreifliche Erhebung über alle
irdischen Dinge gibt. Ich habe eine andere Moral
183
angenommen, und anstatt mich mit Dingen außer
mir zu beschäftigen, mich mehr mit mir selbst be-
schäftigt. Dies hat mir eine Ruhe gegeben, die ich
noch nie empfunden; ich habe bei meiner schwan-
kenden äußeren Lage meine seligsten Tage verlebt."
Und an seinen Bruder berichtet er : „Von einem Tage
zum andern verlegen um Brot, war ich dennoch da-
mals vielleicht einer der glücklichsten Men-
schen auf dem weiten Rund der Erde." —
Zur selben Zeit: „Es ist unbegreiflich, welche Ach-
tung für die Menschheit, welche Kraft uns dies
System gibt."
Kant wird auch in privaten Wirren Ratgeber und
Beichtvater aller Welt. Als ihn das Religionsedikt
trifft — das ihn, wie Kant melancholisch spöttelt —
in „Staats- und Religionsmaterien" einer „gewissen
Handelssperre" unterwarf, forderte ihn der Braun-
schweiger Schulrat Campe, heute noch bekannt durch
seine Robinson-Bearbeitung, auf, zu ihm zu kommen:
„Sehen Sie . . . sich als den Besitzer alles dessen an,
was ich mein nennen darf." Zwar sei auch er, so heißt
es in dem Briefe Campes, nicht begütert, aber er sei
bedürfnislos, und so habe er „immer noch mehr übrig,
als zur Verpflegung eines Weisen nötig ist".
• *
Der klassische Denker des Liberalismus hat mit dem
heutigen Bürgertum nichts mehr gemein. Für das,
was sich heute Liberalismus nennt, ist Kant nur ein
Medusenschild. Will man die ganze Erniedrigung des
bürgerlichen Geistes an einem, freilich unflätigen Bei-
spiel ermessen, so mag man erwähnen, daß der heu t ige
Inhaber des Lehrstuhls Kants in Königs-
bergein Mann ist, der zwar nicht einmal in die Vor-
halle philosophischer Erkenntnis eingedrungen ist,
der aber die Barbarei der heutigen herrschenden Klas-
sen hübsch in Paragraphen zu bringen versteht. Kants
Humanitätsidee ist ihm tollster Unsinn, und indem
184
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er — der Name des Philosophen sei schamhaft ver-
schwiegen — das klassische Humanitätsideal für eine
teilbare Materie, wie eine Wurst oder einen Käse
hält, widerlegt er es durch die Bemerkung, daß die
Menschheitsliebe „praktisch unmöglich" sei, „weil
auf die einzelnen Individuen dann nur ein verschwin-
dender Bruchteil von Liebe entfallen würde". Aber
die allgemeine Idee der Menschheit sei auch nicht be-
rechtigt und habe als solche gar keinen Wert. Es sei
„gar keine moralische Aufgabe, sich . . . über den Zu-
fall der Geburt einfach hinwegzusetzen". Und Kants
Nachfolger kann sich des edlen Gedankens „nicht er-
wehren, daß, wie viele von denen, die am lautesten
die Humanität gegen die Verbrecher predigen, dabei
insgeheim von dem Gedanken geleitet werden, daß
auch sie möglicherweise von dieser Humanität pro-
fitieren könnten, so auch viele von den Aposteln der
allgemeinen Menschenliebe und Brüderlichkeit ein
wohlverstandenes Interesse daran haben, die kräftige
Geltendmachung nationaler Gesinnung zu bekämpfen,
— daher denn auch die Sozialdemokratie, der An-
archismus und das internationale Manchestertum
ihre eifrigsten Anwalte sind"*).
Das ist der Weg der hundert Jahre des herrschenden
Geistes, von Kants Weltbürgertum bis zu dieser
nationalen Gesinnung seines Nachfolgers. Alle lauten
Kant-Feiern und alle Versuche, den größten Denker
auf den Stand der heute regierenden Verwahrlosung
fälschend zu senken, ändern nichts an der Erscheinung,
daß der Philosoph des Liberalismus sein Asyl und
seine Wirkung nur noch im sozialistischen Proletariat
*) Anmerkung 191 8. Der Mann ist inzwischen ge-
storben, dessen Teilungsargument übrigens die Konsequenz
hätte, daß der Patriotismus um so größerer Unsinn wird,
je größer die Bevölkerung des Staates ist, die weil dann
der auf den einzelnen entfallende Anteil an Vaterlands-
liebe immer mehr verdünnt wird.
185
hat. Die Geschlossenheit einer, den ganzen Menschen
und die ganze Menschheit umfassenden, nach Einheit
und Gewißheit ringenden Weltanschauung, die un-
lösliche Verkettung wissenschaftlicher Erkenntnis mit
allem politischen Handeln, die prinzipielle Auffassung
der Dinge, die Überzeugung von der Erreichung des
Zieles eines Vernunftstaates, die Ethik der Freiheit
und Gleichheit, die bei allem idealistischen Schwung,
dennoch fest und besonnen, ohne säuselnde Senti-
mentalität und wehleidige Gefühlsschwelgerei auf dem
Erdboden erwiesener Tatsachen, kritisch prüfend,
steht, das unbeirrbare Weltbürgertum*), das alles
spottet des seichten, opportunistischen, an niedrig-
sten Einzelinteressen haftenden, ziel- wie ideallosen
und zugleich leer romantisch aufgeputzten Geistes
der bürgerlichen Gesellschaft, das alles sind aber auch
die tiefsten Wesenszüge der internationalen Sozial-
demokratie.
*) Anmerkung 1918. „Unbeirrbares Weltbürger-
tum" 1 — das klingt wie ein Märchen aus verwehten Zeiten;
denn seitdem ist die deutsche Sozialdemokratie in ihrer
bureaukratischen Hierarchie den Weg des deutschen Libera-
lismus gegangen.
186
Der Philosoph des sozialen Enthusiasmus.
Zu Fichtes 150. Geburtstag.
Alles auf der Erde ist unbeschreiblich klein;
das weiß ich: Aber Glück ist's auch nicht, was
ich suche; ich weiß, ich werde es nie finden.
Ich habe nur eine Leidenschaft, nur ein
Bedürfnis, nur ein volles Gefühl meiner selbst;
das: außer mir zu wirken. Je mehr ich handle,
desto glücklicher scheine ich mir." Fichte.
*
Nie ist der Unterschied englischen und deutschen
Philosophierens verkannt worden. Die englische Philo-
sophie hat etwas von der Leichtigkeit und Zuverlässig-
keit des Reiseführers, der in der Unmittelbarkeit des
politisch-sozialen Daseins sich zurechtfinden lehrt;
sie ist klar, verständlich, anleitend, auch weltmännisch,
aber ohne Sinn für die letzten Tiefen. Der deutschen
Philosophie hingegen fehlt die höhere Behendigkeit
weiser und witziger Menschenkennerschaft, sie gräbt
schwer und ächzend unter das Leben nach letzten
Geheimnissen, sie pflügt tief im dunklen SchoO des
eigenen Geistes, sie wird im Enträtsein selbst zum
Rätsel. Der englische Staatsmann, der kein Philosoph
wäre, gälte als ein ungebildeter Stümper. Wenn man
den deutschen Minister recht zu verspotten begehrt,
nennt man ihn einen Philosophen. Englische Philo-
sophie ist Lebensklugheit, deutsche Philosophie ist
ein Leben für sich, abseits des Lebens.
Ist das ein Hirnunterschied der Rassen ? Es ist nur
der Gegensatz der Stellung des Geistigen im Staat,
der den Unterschied des Philosophierens entwickelt hat.
Nebstdem haben auch die Polizeiverhältnisse den Stil
i«7
gebildet. In einem Staat, in dem es zwar zeitweilig
erlaubt war, alle heiligen Güter der Religion und der
Philosophie zu leugnen und zu zerstören, in dem der
Schriftsteller aber gestäupt wurde, wenn er es sich ein-
fallen ließ, eine politische Maßnahme seiner Obrig-
keit bescheiden in aller Ehrfurcht zu kritisieren, ent-
leert der Philosoph sein Denken von aller anschau-
lichen Materie des Gegenwärtigen und streift in die
ewigen Jagdgründe des Denkens, in denen es ihm doch
verboten ist, ein Wild zu erlegen. Und sein Stil wird
zum Umweg gezwungen, der sich nicht selten in dem
Gestrüpp verliert, hinter dem er sich verstecken muß.
Der dunkle Tiefsinn der deutschen Philosophie ist ein
Notbehelf.
Dieser deutsche Vertiefungsprozeß, der doch zu-
gleich ein Verkümmerungsprozeß ist, läßt sich am
schärfsten bei dem Denker verfolgen, der wie kein
anderer aus innerster Natur nichts sein wollte als ein
Missionär der Tat. Es war Fichte, der am Schluß
seines Lebens (in der sogenannten Staatslehre von
1813) schrieb:
„Alle Wissenschaft ist tatbegründend; eine leere,
in gar keiner Beziehung zur Praxis stehende gibt es
nicht. ... So kann der Spruch: Dies mag in der Theorie
wahr sein, gilt aber nicht in der Praxis nur heißen:
für jetzt nicht; aber es soll gelten mit der Zeit. Wer
es anders meint, hat gar keine Aussicht auf den Fort-
gang, hält das Zufällige, durch die Zeit Bedingte für
ewig und notwendig: er ist ... Pöbel."
Dieser Philosoph aber, der die Tat in die Mitte
seines Systems stellt, dem der Enthusiasmus für das
politische Handeln, für die revolutionäre Umgestal-
tung der Menschheit die Seele seines Denkens war,
übte niemals eine Wirkung. Zu Lebzeiten nicht
und auch nachher nicht. Wohl gewann ihm die Ge-
walt seiner Beredsamkeit Zulauf. In Jena strömten
die Studenten; in Berlin war es in der bessern Gesell -
188
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schaft zeitweilig Mode, die Vorträge des Mannes zu
hören. Aber er ritzte nicht die Haut seiner Hörer.
Freilich, an Gefühl für sein Wollen fehlte es nicht.
Deshalb wurde er zeitlebens verfolgt, und nach seinem
Tod noch stand der Unverstandene auf der Liste der
Bösewichte. In der finstersten Zeit Deutschlands
empfand man Fichte sogar als den Quell alles Bösen.
Aber vielleicht nur einmal wurde die Philosophie der
Tat Tat: Das war 100 Jahre nach seiner Geburt, als
Ferdinand Lassalle in Fichte den Geist der Arbeiter-
bewegung entdeckte.
Mit seiner im deutschen Schrifttum nicht wieder
erreichten volkstümlichen Urkraft, durch Vernunft-
gründe zu überwältigen, die Widersprüche und Rat-
losigkeiten der herrschenden Phraseologie, als der
Hirnlohndienerin der herrschenden Politik, in ihre
letzten Schlupfwinkel zu verfolgen, mit seiner Gabe,
das Verwirrte im Tiefen zu vereinfachen, das Unehr-
liche zu entlarven und das Unsinnige spottend un-
schädlich zu machen; endlich mit dem rhetorischen
Ungestüm eines dennoch künstlerisch gebändigten
Vortrags wäre er in England wohl ein großer Staats-
mann geworden. Im politisch luftleeren Deutsch-
land mußte sich seine ungenutzte Tatkraft in mysti-
schen Überschwang vergraben, in die Seligkeit sich
selbst in der Schau des Weltgeistcs zu erleben, weil
er sich nicht entäußern konnte. Der lebensfrischeste
deutsche Philosoph, zugleich der kühnste Revolu-
tionär, wurde so aus dem rücksichtslosen Kritiker aller
Offenbarung ein Schwärmer, der in den Zungen der
Offenbarung Johannis redete. Fichte kam nicht in
seiner Bildung wie Kant von der strengen mathema-
tischen Naturwissenschaft, in der man sich frei be-
wegen und unabhängig von äußeren Gewalten zur
harten, scharfen, methodischen Arbeit erziehen konnte.
Fichte ging von dem geistig wie staatsbürgerlich ge
fährlichen Gebiet der sozialen Sittlichkeit aus, er war
189
von Haus aus und seiner innersten Neigung nach pon>
tischer Publizist und Agitator: auf diesem Feld fand
er keine Freiheit der Betätigung, nicht einmal die
Freiheit der Aussprache. Das war die Ursache' seiner
mystischen Vergrabung und Absperrung. Aber die
Mystik ist doch nur Gewölk, das den hellen Himmel
überflutet. Der klare Geist redet nur im Geisterstil.
Wie denn auch bloß der Stil seines Denkens, nicht das
Denken selbst sich verändert hat. Der junge Revo-
lutionär hat sich nie in einen preußischen Staats-
diener, der Kosmopolit der Freiheit nie in einen deut-
schen Nationalisten, der sozialistische Demokrat nie
in einen Reformer Hardenbergischer Art verwandelt:
Die Nachlaßschriften seiner letzten Zeit stießen noch
radikaler gegen alles Bestehende an als seine anonymen
Jugendpamphlete. Nur die Ausdrucksweise hat sich
geändert. Er sprach immer mehr nur noch zu sich
selbst. Er hatte keine Mission. Er schrieb auch in den
letzten Jahren keine Bücher mehr; das Lesen war ja
doch nichts als eine nutzlos verschlingende Gefräßig-
keit. An die Macht des lebendig gesprochenen Wortes
glaubte er noch ein wenig, und seine Reden und Vor-
träge ließ er drucken. Aber in dem Entwurf zu einer
politischen Schrift, in der er Friedrich Wilhelms III.
Aufruf An mein Volk beantworten wollte, bekennt
er in kämpfender Verzweiflung, daß es ihm nicht um
irgendeinen unmittelbaren Erfolg in der wirklichen
Welt zu tun sei; er will seine Gedanken aussprechen,
„damit sie nicht untergehen in der Welt".
•
Fichte ist der Sohn eines Bandwebers aus Ram-
menau in der Oberlausitz. Es ist das Elend der Erb-
untertänigkeit, in dem seine Kinderjahre dahingehen.
Nach der Ordnung dieser Zeit war es ihm gesetzlich
verboten, aus seinem Stand jemals herauszugehen.
Er hütet die Gänse, er hilft den zahlreichen Geschwi-
190
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stern die Erzeugnisse seines Vaters im Hausierhandel
zu vertreiben. Eine bigotte und zänkische Mutter
läßt ihn früh über Familienerziehung nachdenken.
Auch eine andere Erfahrung begleitet ihn durchs Da-
sein von Anbeginn und zeugt in ihm die Grund-
anschauung seiner Philosophie: daß die menschliche
Gesellschaft aus einem Spiel der Zufälligkeiten zu
einer Ordnung aus Vernunft erschaffen werden solle.
Der Zufall entscheidet immer wieder sein Schicksal.
Weil eines Tages ein Junker erst nach der Predigt in
die Kirche kommt, und der kleine Gänsehirt den
gnädigen Herrn mit seinem Talent vergnügt, die ent-
behrte Predigt aus dem Gedächtnis zu repetieren,
nimmt sich der Herr des Proletarierjungen an und
schickt ihn auf die Gelehrtenschule; er soll Pfarrer
werden. Unter dem harten Willkürregiment der
Schulpforta erglüht sein Freiheitsgefühl. Rousseau
wird auch Fichtes Erwecker, und Defoc sein Phan-
tasiebildner. Der gequälte Schüler flieht und will
sich irgendeine Robinsoninsel schaffen. Er wird in
den Kerker zurückgebracht, aber in seinem Geist wirkt
das Jugenderlebnis nach: Die Utopie seines Ge-
schlossenen Handelsstaates wie die pädago-
gische Provinz in seinen Reden an die deutsche
Nation sind echte Robinsonaden. Auch seine my-
stischen Predigten vom seligen Leben sind Flucht-
versuche auf geistige Robinsoninseln.
Fichte wird Student. Die Familie seines inzwischen
verstorbenen Gönners läßt ihn wirtschaftlich ins Leere
sinken. Er unterrichtet ums Brot. Die Theologie gibt
er auf. Er studiert unruhig und unregelmäßig. Er
bringt es niemals zu einem Examen. Er nimmt den
Jammer des Hauslehrertums auf sich, an das sich die
meisten Intellektuellen des klassischen Zeitalters klam-
mern müssen. Schulden würgen ihn. Keine Hoffnung
mehr. Er faßt den Entschluß, seinen 26. Geburtstag
nicht mehr zu erleben. Am Vorabend des 19. Mai 1788
191
will er ein Ende machen. Ein Zufall erhalt ihn am
Leben: Im letzten Augenblick erreicht ihn der Ruf,
eine Hauslehrerstelle in Zürich anzunehmen. Er
wandert in die Schweiz. Hier findet er zum erstenmal
Ruhe. Auch seine künftige Frau findet er in Zürich,
Johanna Rahn, eine Nichte Klopstocks; sie war
4 Jahre älter, nicht schön) aber verständig, klug und
hingebend. 2 Jahre später kehrt er nach Deutschland
zurück, nach Leipzig. Ein neuer Zufall entscheidet
über sein geistiges Leben. Irgend jemand will von
ihm Unterricht in Kantischer Philosophie. Er muß
also Kant lesen, und aufjauchzend entdeckt er seinen
Erlöser. Kant zähmt, wie Fichte in diesen Tagen
schreibt, seine übermächtige Einbildungskraft, sie
gibt dem Verstand das Ubergewicht und dem ganzen
Geist eine unbegreifliche Erhebung über alle irdischen
Dinge: „Mein ungestümer Ausbreitungsgeist schwieg:
Das waren die glücklichsten Tage, die ich je verlebt
habe. Von einem Tage zum andern verlegen um
Brot, war ich dennoch damals vielleicht einer der
glücklichsten Menschen auf dem weiten Rund der
Erde."
Not und Unruhe treiben ihn weiter. In seinen Be-
ziehungen zu seiner Braut fehlt die sinnliche Leiden-
schaft. Einen schwankenden Augenblick denkt er
daran das Band zu lösen. Er pilgert nach Warschau,
wo sich ihm eine Hauslehrerstelle darbietet. Als er
sieht, daß er von der gräflichen Familie zum Gesinde
gerechnet wird, wirft er sofort wieder den Bettel hin.
Jetzt wallfahrtet er zum Ort seiner Sehnsucht: nach
Königsberg. Kant ist spröde. Aber es gelingt Fichte,
den Alten zu gewinnen, der vornehm und klug die
dringende Bitte um finanzielle Unterstützung dadurch
erfüllt, daß er ihm für den eben entstandenen Ver-
such einer Kritik aller Offenbarung einen
Verleger verschafft. Die ohne Namen veröffentlichte
Erstlingsschrift wird für ein Werk Kants gehalten und
192
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deshalb mit Posaunentönen verherrlicht. Dieser Irr-
tum begründet den literarischen Namen Fichtes, der
fortan zu den deutschen Berühmtheiten gehört.
Fichte geht wieder nach Zürich, heiratet und
schleudert (anonym) seine brausenden Revolutions-
schriften hinaus, in denen er die Denkfreiheit von den
Fürsten zurückfordert und die Anschauungen des
Publikums über die französische Revolution berichtigt.
Für Jena sucht man eine Zugkraft. Man verfällt auf
Fichte. Daß er ein unzweideutiger Jakobiner war,
stört die Gewaltigen von Sachsen- Weimar nicht. Schon
in dieser Frühzeit erlebt Fichte das später immer sich
wiederholende Schauspiel, daß man sein Wesentliches,
wenn man es überhaupt versteht, nicht ernst nimmt.
Ein Brief des Geheimen Rats Voigt an den Professor
Hufeland zeigt, in welchem Sinn . man den Revo-
lutionär zum Jenaer Professor bändigen wollte:
„Ist wohl Fichte, selbst allenfalls mit Raischarakter,
zu haben? Er privatisiert in Zürich. Ist er klug genug,
seine demokratische Phantasie oder Phantasterei zu
mäßigen ?"
So wenig kannte man Fichte, daß man ihm, als ob
es nur wie eine kleine selbstverständliche Höflichkeit
von ihm gefordert würde, zutraute, er könnte den
Herzschlag seiner Weltanschauung mäßigen.
Seine Jenenser Professoren jähre waren ebenso er-
folgreich (auch finanziell) wie von endlosen Kämpfen
zerrieben. Unter der Anklage des Atheismus bricht
seine Existenz zusammen. Er muß Jena verlassen, und
alle deutschen Staaten wetteifern, Fichtes Schrift-
etellerei zu verpönen. Nur Preußen folgte der An-
regung Kursachsens nicht (Jena wurde mit dem Boykott
bedroht, wenn die Universität nicht Fichte fortjagte),
und dieser Umstand veranlaßte ihn, nach Berlin zu
gehen. Er wußte nicht, warum Friedrich Wilhelm III.
nichts von einem Verbot des Fichteschen Journals
wissen wollte. Wir aber kennen heute den Grund;
13 Ki»ncr, G«arnm*?lte Schriften II.
193
er war in der Kabinettsorder vom 25. Mai 1799 aus-
gesprochen. Die preußische Majestät mißbilligt es
zwar auch, daß der Verfasser sich bemüht habe, „das
Dasein Gottes als eines selbständigen Wesens weg-
zuräsonnieren", und sie bedauert die „Halbphilosophen,
die ihre Vernunft in dem Grade verlieren". Aber in
Preußen sei das Journal in keinem Buchladcn an-
getroffen worden, und Fichte würde keine Anhänger
seiner traurigen Lehre finden, wofern die Schriften,
„die der Aufmerksamkeit der Regierung ganz un-
würdig sind, nicht durch öffentliche Schritte aus der
Dunkelheit hervorgezogen werden, in der sie bisher
gar nicht bemerkt wurden4*.
In Berlin hielt Fichte öffentliche Vorträge. Als
nach dem Untergang Preußens in Berlin die Uni-
versität gegründet wurde, erhielt er eine Professur, zur
Belohnung dafür, daß man seine Art von Patriotismus
nicht verstand. Aber er war und blieb verdächtig.
Nur das gedemütigte Preußentum duldete ihn, obwohl
es ihm keinen Tag Schikanen ersparte. Er starb, bevor
der Sturz Napoleons vollendet war, und das siegreiche
Preußentum wieder die Herrschaft ergriff. Fichtes
Frau hatte sich bei der Krankenpflege im Lazarett
im Januar 18 Ii. infiziert, und das Fieber übertrug sie
auf ihren Mann. Am 29. Januar starb Fichte. Es blieb
ihm erspart, ins Zuchthaus gesperrt oder in die Ver-
bannung getrieben zu werden oder gar der geistig-
moralischen Fäulnis zu erliegen, wie andere, wie etwa
Josef Görres, der in der Jugend in Wollen und Art
viel Gemeinsames mit Fichte hatte und sich in der
Zeit der heiligen Allianz bis in den letzten Aberwitz
verzückt frömmelnder Mystik verlor.
* *
«
Johann Gottlieb Fichte gehört zu den ganz ver-
einzelten Gestalten unserer klassischen Zeit, die trotzig
und aufrecht, ohne Beugungen und Zugeständnisse,
194
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ihren einsamen Weg gehen. Nur einmal, einen Augen-
blick, schien er zu löblicher Unterwerfung bereit. Das
war in den letzten Zuckungen des Jenenser Atheismus-
streits. Da bot er den Rückzug an, aber ein gnädiges
Schicksal verhütete, daß man sein Angebot annahm.
Der Minister Goethe hatte bereits durch eine höchst
formlose Überrumpelung (ein Privatbrief wurde als
ein Entlassungsgesuch aufgefaßt, und das also kon-
struierte Gesuch schleunig genehmigt) die Entfernung
des lästigen Mannes erwirkt. Im bürgerlichen Deutsch-
land fehlte das Verständnis für jene taktlosen Cha-
raktere, die so unbesonnen sind, ihre Weltanschauung
in ihrer persönlichen Lebensführung durchsetzen zu
wollen, ohne des Anstoßes zu achten.
So halfen die Weimarer Ästheten Fichte vertreiben.
In dieser entnervenden Hofluft galten politische
Kampfer halb als ärgerliche Narren, halb als gefähr-
liche Katilinarier, und konnte man nicht ihre Plattheit
aristokratisch schelten, so hielt man sich umgekehrt
im Namen des sonst verachteten gesunden Menschen-
verstands über ihre Verstiegenheit auf. Welch jäm-
merliche Philister die Weimaraner in allen Fragen des
politischen Charakters waren, erkennt man aus dem
lustig empörten mehr die Feinde Ficht es als diesen
selbst ironisierenden Brief, den Caroline Herder da-
mals über die Verteidigungsschrift Fichtes und Niet-
hammers (des Mitherausgebers des Fichteschen Jour-
nals) an Knebel sandte:
„Wirklich, es war keine kleine Arbeit, sie zu lesen.
Indessen ist es interessant zu sehen, mit welchem Stolz
und welcher Eingebildetheit sie ihre Sache führen,
wie sie sagen, was sie erwarten, daß die durchlauchtig-
sten Erhalter tun werden. Sie schreiben zwar nicht
vor, aber Fichte droht mit sehr deutlichen Worten,
wenn er keinen Schutz gegen die Kabale findet, dahin
zu gehen, wo Gewalt gilt, weil man da doch auch die
Hoffnung hat, einen Teil dieser Gewalt an sich zu
i95
reißen. Was sagen Sic zu diesem letzten ? Die Herren
Protekteurs sind nun etwas stark beleidigt (wir hören
eben im Vertrauen, daß ihm der Rat des Wanderns
gegeben werden soll, von hier aus). Sie werden hier
mit dieser hervorstörenden, kecken Nase dieser kleinen
Person schon noch zu tun bekommen."
Eine drollige Anmaßung in der Tat, daß eine kleine
Person, die dem Weltgeist die Geheimnisse ablauscht,
sich herauszunehmen erdreistet, mit seiner hervor-
störenden, kecken Nase sogar durchlauchtigste Er-
halter, einen lebendigen deutschen Herzog, durch die
Verteidigung des Rechts zu beleidigen. Die submisse
Dienstwilligkeit des Weimarer Ästhetenklubs steigerte
das Mißtrauen Fichtes in die Mission der Kunst. Die
Kunst ist in seinem Gedankenbau beinahe vergessen.
Gegen Schillers Flucht ins Reich des Schönen richtet
sich das derbe, das ganze klassische Zeitalter verurtei-
lende Wort:
„Die Idee, durch ästhetische Erziehung die Men-
schen zur Würdigkeit der Freiheit und mit ihr zur
Freiheit selbst zu erheben, führt uns in einem Kreis
herum, wenn wir nicht vorher ein Mittel finden, in
einzelnen von der großen Menge den Mut zu erwecken,
niemandes Herren und niemandes Knechte zu sein."
Und an anderer Stelle:
„So ist der ästhetische Trieb im Menschen aller
dings dem Trieb nach Wahrheit und dem höchsten
aller Triebe, dem nach sittlicher Güte, unterzuordnen."
Die hervorstörende, kecke Nase wurde in Berlin nicht
weniger peinlich empfunden. Selbst als er im vollen
Bewußtsein der Lebensgefahr in der von den Fran-
zosen besetzten preußischen Hauptstadt dem Feind
die Reden an die deutsche Nation ins Angesicht
schleuderte, ließen ihn die Franzosen zwar gewähren,
aber die preußische Obrigkeit mißhandelte den Staats
gefährlichen Patrioten. Das Manuskript einer Rede
ließ die Zensur verloren gehen, das heißt, man unter
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schlug es, wie das preußische Übung war und blieb.
(Im Berliner Geheimarchiv sind solche verloren
gegangene Handschriften heute noch aufbewahrt.)
In die anderen Reden pfuschte man hinein. Die Zen-
sur half sogar durch Fichte selbst die Fichtelegende
von dem Individualisten zu fördern, der doch ein
sozialistischer Demokrat war. In die 14. Rede mußte
Fichte auf Weisung der preußischen Zensur den klar
auf eine Massenbefreiung zielenden Satz: „Ob aber
gerade es uns wieder wohl gehen soll, dies hängt ganz
allein von uns ab, und es wird sicherlich nicht wieder
irgendein Wohlsein an uns kommen, wenn wir nicht
selbst es uns verschaffen" durch den Zusatz in die
ebenso ungefährliche wie beliebte, weil nicht befolgte
Predigt persönlicher Charakterbildung auflösen und
verdunkeln: „und insbesondere, wenn nicht jeder
einzelne unter uns in seiner Weise tut und wirket, als
ob er allein sei, und als ob lediglich auf ihm das Heil
der künftigen Geschlechter beruhte".
Fichte wurde zwar an die neue Universität Berlin
berufen, aber seinem großen Wollen wurde kein Ein-
fluß verstattet. Sein Rektorat nahm nach aufreibenden
Konflikten ein rasches Ende. Ihn meint der Kultus-
minister Schuckmann, wenn er dem König rät, sein
Wort zu brechen und die Verleihung der Domänen,
die der Universität wirtschaftliche Unabhängigkeit
sichern sollten, nicht auszuführen:
„Wie aber auch die Köpfe (der Professoren) exaltiert
sein mögen, so behalten doch die Mägen immer ihre
Rechte gegen sie, die einzigen, die in diesem Zustand
geschont werden. Wem die Herrschaft über letztere
bleibt, der wird immer auch mit ersteren fertig, und
wer die Befriedigung der letzteren an seine Wahl
bindet, hat die beste Sicherheit, daß die ersteren dafür
arbeiten."
Fichte hat sich nach seiner Entlassung aus dem Rekto-
rat in den Senatssitzungen nicht mehr blicken lassen.
197
Ais der unbequeme Mann endlich tot war, und
Friedrich Wilhelm III., nach Erledigung Bonapartes,
wieder höchst lebendig, da wurde Fichtes Geist als
der große Verderber gehetzt. Die Karlsbader Be-
schlüsse genügten den Preußen nicht. Es galt die
Morallehre Fichtes und alle, die sich zu ihr bekannten,
auszurotten. In dem Promemoria, in dem 1821 die
Beckedorff, Eylert, Snethlage und Schultz den König
zum Vernichtungskampf gegen den Umsturz aufriefen,
wurden Fichtes verderbliche Wirkungen lebhaft ge-
schildert :
„Da nämlich nach jenem neuern Moralsystem nur
diejenige Handlung recht und sittlich genannt werden
kann, welche mit der innersten Überzeugung des Men-
schen übereinstimmt, jede Handlung nach Bestim-
mung äußerer Autorität aber unsittlich und des reinen
Menschen unwürdig ist; so ist es danach auch unsittlich
und seiner unwürdig, sich Gesetzen zu unterwerfen,
von deren Güte er nicht überzeugt ist, und zu denen
er, laut oder schweigend, seine Einwilligung nicht ge-
geben hat. Du sollst Gott mehr gehorchen als den
Menschen wird nach dieser neuen Moral so gedeutet,
daß, da Gott im Menschen selbst oder nichts anderes
als des Menschen tiefstes Wesen, seine innerste Uber-
zeugung, sei, dieser Überzeugung mehr als allen Ge-
setzen zu gehorchen ist. Gehorsam gegen die Gesetze
findet also hiernach nur aus Klugheit zur Vermeidung
äußern Zwanges und mit der Mentalreservation statt,
sie zu befolgen, insofern sie mit der Überzeugung des
Individui übereinstimmen, sonst aber ihnen aus sitt-
licher Verpflichtung auf alle Weise, heimlich oder
öffentlich entgegenzuwirken. Da^er entspringt denn
also auch für die Bekenner dieser Moral die absolute
Notwendigkeit, jedem einzelnen seinen Anteil an der
Gesetzgebung zu vindizieren, mithin die Notwendig
keit einer gesetzgebenden Volksrepräsentation; so wie
sich für selbige andrerseits aus dem Grundsatz der
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Nichtigkeit aller Autorität, selbst der göttlichen Ge-
setze der Offenbarung, und aus dem Grundsatz des
absoluten gleichen Wertes der Menschen als Inhaber
des höchsten göttlichen Wesens die notwendige For-
derung der Souveränität des Volkes ergibt."
Nach dieser gar nicht üblen Darstellung Fichte-
scher Anschauungen wird solche Lehre nicht (wie der
Urheber selbst behauptet) als „Fingerzeig Gottes*' •
anerkannt; hier sei vielmehr „deutlich die Hand des
Verderbers zu erkennen, der die schwachen Menschen
durch solche Vorspiegelungen zum ewigen Unheil zu
verführen sucht, indem er das Zauberbild einer über-
menschlichen Vollkommenheit ihren betörten Augen
vorgaukelt". Wo aber das Christentum verloren ge-
gangen und an seine Stelle die törichte Einbildung
philosophischer Erkenntnis der göttlichen Natur des
Menschen eingetreten ist, da können weder Kirche
noch Staat länger bestehen. Da versinkt alles Heil der
Gegenwart und Zukunft in einen bodenlosen Abgrund.
Am Rande dieses Abgrunds steht unser Vaterland.
Dann wurde in kerniger Schlichtheit die amtlich
preußische Biographie Fichtes entworfen:
„Dieser Professor Fichte, dessen öffentliche Lehren
die wirksamste Grundlage der Entwickelung dieses
gefährlichen Systems gewesen sind, war schon im
Jahre 1798, als damaliger Lehrer der Philosophie an
der Universität zu Jena, auf den Antrag des Dresdener
Hofes wegen atheistischer Lehren in Anspruch ge-
nommen worden. Er verteidigte sich dagegen in ge-
druckten Schriften auf eine Weise, welche den Grund
dieser Anklage gegen ihn nur zu sehr bestätigte und
das Gift seiner Lehre um desto allgemeiner verbreitete.
Nachdem er demzufolge von dem Lehramt zu Jena
entlassen war, wurde er zu unserm großen Unglück,
gleichsam als Entschädigung für ihm dort widerfahrene
Kränkung, nach Erlangen berufen; ja, er erhielt sogar
die Aufforderung, anstatt zu Erlangen, hier zu Berlin
190
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vor einem gemischten Publikum, also in populärer
Sprache, seine Lehren vorzutragen. Von diesen popu-
lären Vorlesungen, welche Professor Fichte hier bis
zum Jahre 1808 mit steigendem Beifall gehalten hat,
schreibt sich die gänzliche Zerstörung der christlich-
religiösen und moralischen Gesinnung her, welche
weiterhin unter einem großen Teil der hiesigen Staats-
beamten, Gelehrten und Jugendlehrer zur Erschei-
nung gekommen ist, indem der feste Glaube an philo-
sophische Allmacht und Allwissenheit des Menschen
an deren Stelle trat."
Die Reden an die deutsche Nation werden
in erster Linie verantwortlich gemacht. In diesem
Plan deutscher Nationalerziehung sei dargelegt, „daß
alle echte Bildung in Deutschland vom Volk aus-
gegangen, von den Fürsten und dem Adel aber ge-
hindert worden sei, und daß die deutsche Nation vor
allen anderen europäischen Nationen ihre Reife zur
republikanischen Verfassung geschichtlich dargetan
habe, . . . daß die bisherige Tendenz der öffentlichen
Lehranstalten, die Erziehung zur Seligkeit im Himmel
und der Unterricht um des Christentums willen,
durchaus verwerflich sei: für die Seligkeit im Himmel
bedürfe es keiner Bildung . . .; daß die National-
erziehung auf Stand, Geburt und äußere Bestimmung
keine Rücksicht zu nehmen habe". Es wird endlich
(nach der unsterblichen politischen Technik, geistige
Lehren für Verbrechen verantwortlich zu machen)
dargetan, daß Sand, der Mörder Kotzebues, ganz im
Sinn jenes „philosophischen Weltreformators" auf
dem Wartburgfest gesprochen, um zu dem Schluß zu
gelangen: es seien Vorkehrungen zu treffen, „daß
durch Spekulation und Kritik nicht ferner wie bisher
die Grundfesten der Kirche und des Staates angegriffen
und erschüttert werden", natürlich, „ohne daß die
Freiheit wissenschaftlicher Forschung dadurch be-
schränkt wird".
200
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Die Wirkungen, die von Fichte ausgingen, sind mit
berechnender Absicht in dieser Urkunde preußischer
Achtung vor Philosophie und Wissenschaft maßlos
übertrieben. Die gleiche Rolle spielt Fichtes Geist in
den Demagogenakten der Mainzer Untersuchungs-
kommission, und aus derselben Übertreibung wurden
1824 die Reden an die deutsche Nation als ein
„verführerisches, leere Phantome nährendes Buch"
verboten. Immerhin bewiesen damals die Herrschen-
den Preußens ihre Dankbarkeit dem Mann, der einst
für ihre Befreiung unter Gefahr des Todes gewirkt, da-
durch, daß sie für die revolutionäre Bedeutung des
Genius das Verständnis auszubreiten suchten. Die
Folgezeit ließ Fichte nicht einmal mehr seine Seele.
Das Äußerste der Ächtung wird erst ein Jahrhundert
nach seinem Tod erlebt werden: Dann werden die
unveränderten Verfolger und Bedränger seiner Lehre
ihm ein Denkmal setzen.
Fichte hat die deutsche Aufklärung zu ihrem letzten
Gipfel geführt: zur Demokratie, die sozialistisch sich
vollendet. Die nach innersten Gesetzen tätige Men-
schenvernunft wird zum schaffenden Prinzip der Welt
erhoben. Alle Erkenntnis wird in bewegt bewegende
Handlung aufgelöst. Das sittliche Handeln hat den
Vorrang vor aller wissenschaftlichen Naturerkenntnis.
An diesem Gipfel des Aufstiegs beginnt der Absturz
in die Romantik, in die visionäre Gefühlsrabulistik und
Ideenspinnerei der Naturphilosophen und Geschichts-
dialektiker. Die Philosophie wird reaktionär, wie die
Revolution Restauration wird. Fichtes absolutes Ich
der tätigen Freiheit, das doch selbst den romantischen
Absturz vorbereitet hat, schreitet nun, geläutert an
der Spitze der Demagogen, die unter der Herrschaft
der Naturphilosophen verfolgt wurden. Fichtes Ge-
schichtsphilosophie läßt die Menschen aus eigener
Kraft der Vernunft die Welt gestalten, Hegels Mensch-
heitsgeschichte ist ein bösartiger Witz Gottes: Die sich
20 1
selbst überlassene Menschheit taumelt in trübem
Aberwitz dahin; aber in der Synthese allen Unsinns
wirkt sich schließlich die göttliche Vorsehung zum
höchsten Sinn aus. Das ist die Hegeische „List" der
Vernunft:
„Gott läßt die Menschen mit ihren besonderen
Leidenschaften und Interessen gewähren, und was
dadurch zustande kommt, das ist die Vollführung seiner
Absichten, welche ein anderes sind als dasjenige, um was
es denjenigen, deren er sich dabei bedient, zunächst
zu tun war."
Wobei denn klärlich, um die rechte Summe in dem
listigen Rechenexempel herauszubekommen, nichts
Wirkliches fehlen darf, und da das „Wirkliche",
d. h. das gesetzmäßig Notwendige vernünftig ist,
Friedrich Wilhelm III. und die Demagogenhatz als
unentbehrliche Glieder in der listigen Entwickelung
zur Erfüllung der Gottesidee unantastbar werden: bei
Todes- und Zuchthausstrafe.
Fichtes Welt-, Gott- und Geschichtsauffassung er-
niedrigt den Menschen nicht zum Spielball einer
niederträchtigen List. Die göttliche Vorsehung ist die
menschliche Vernunft, die zur Gemeinschaft der
freien und gleichen Menschen emporstrebt. Weil
Fichte das Ich für die letzte Instanz erklärt, wird er
von der Kompendienweisheit der Richtungs- und
Wortregistratoren unter die Individualisten oder Sub-
jektivisten eingereiht. Die Müller, Schulze und
Schuckmann wären danach, jeder auf seine Art, be-
sondere Weltschöpfer. „Die nächste sich darbietende
Erscheinung bei einem epochemachenden System sind
die Mißverständnisse", schrieb Hegel 1801 über das
Schicksal der Lehre Fichtes. Die Mißverständnisse
sind aber nicht nur die nächste, sondern, gerade weil
sie aus platter Gedankenlosigkeit erwachsen, die blei-
bende Erscheinung. Philosophenjubiläen sind ge-
meinhin tausendste Wiederholungen der erfolgreichen
202
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Posse der Irrungen, Benefizvorstcllungcn nicht für den
Philosophen, sondern für die verschollenen Leute, die
sich zuerst die Mühe gaben, ihn entscheidend mitt-
zuverstehen.
Was ist dieses lehr
Die Anklage des Atheismus, die ihn von Jena fort-
trieb, ist durchaus begründet, wenn man die An-
schauung aller Mythologien von göttlichem Wesen
zugrunde legt. Für die Mythologen muß Fichte in
der Tat der radikalste aller Atheisten sein. Denn das
Dasein solchen Gottes ist für Fichte nicht nur, wie
bei Kant, nicht beweisbar, sondern sein Nichtdasein
ist schlechthin notwendig. Umgekehrt ist für Fichte
alle anthropomorphe Vergottung schändlichster Atheis-
mus, roheste Blasphemie. Fichte aber ist nicht nur
gottgläubig, sondern gotterfüllt, Enthusiast. Er glaubt
an den Gott in sich, seine in Flammen glühende Re-
ligion ist: diesen Gott zu entäußern. Fichtes Gott ist
die sittliche Weltordnung. Schärfer und reiner noch
kann man Fichtes Gottesbegriff als das sittliche
Weltordnen bezeichnen. Damit ist der in ihm lie-
gende Begriff höchster menschlicher Aktivität aus-
gesprochen. Sittliche Weltordnung, reines Ich, ab-
solute Realität, Gott, letzte Objektivität, Freiheit:
das sind alles nur verschiedene Wendungen, um den
Grundgedanken Fichtes zu bezeichnen. Das Fichte-
sche Ich ist so wenig ein Individuum oder ein Sub-
jekt, daß es vielmehr die letzte, allgemeinste, un-
umstößliche Gewißheit der Menschheit, des Men-
schengeistes, des Kulturbewußtseins, oder auch Gottes
und des Weltgeistcs ist: die Gesellschaftsordnung sitt-
licher Freiheit auf Erden zu schaffen. Der Mensch
müßte sich selbst aufgeben, wenn er nicht an diese
Idee der Freiheit, an diese schöpferische Aufgabe des
reinen Ichs glaubte und zugleich entschlossen wäre,
diese höchste Realität zu realisieren, in der Erschei-
nungswelt des Staates zu verwirklichen. Die Neigung
203
Fichtes, diesen seinen elementaren Lebensgedanken in
biblisch glühenden Bildern zu malen und in mystisch
schwärmenden Tiefsinn zu versenken, die leidenschaft-
liche Inbrunst, mit dieser Philosophie tätiger Freiheit
die Gemüter zu erfüllen, auch wohl der Zwang der
Preßunfreiheit und der Zensur, können den, der den
innern Stil seines Gedankenbaus nicht erfaßt hat, in
die Irre führen.
Das ist das absolute Ich: die Wahrheit und Gewiß-
heit an sich. Die Menschheit verliert sich selbst,
wenn sie an diesem Gesetz zweifelte, ihm nicht folgte.
Freilich ist damit nicht gesagt, daß sich die Mensch-
heit nicht aufgeben kann. Es ist sogar die Meinung
Fichtes, daß sich die Menschheit aufgegeben hat. An
dieser Stelle erfüllt sich Fichtes absolutes Ich mit
Pestalozzis Erziehungslehre. Die neue Generation soll,
losgelöst von aller verlorenen Menschheit, dazu er-
zogen werden, die höchste Realität wiederzufinden, zu
realisieren. So will er den Freiheitskrieg als einen
Aufschwung zum Wiederfinden deuten, er klammert
sich an die Idee des Freiheitskriegs, weil er an der
Zufälligkeit des tatsächlichen Freiheitskriegs von An-
fang an verzweifelt. Und er spricht im letzten Jahr
seines Lebens den Fluch aus über das deutsche Volk,
das die Gelegenheit des idealen Freiheitskriegs nicht
ergreife und in alte Knechtschaft sich zurückführen
ließe. Das wäre die Selbstaufgebung der Menschheit.
Der Grundgedanke Fichtes läßt sich nunmehr ganz
einfach aussprechen: Sein ablosutes Ich, sein Gott, ist
gar nichts anderes als Demokratie und Sozialismus, als
tätiges Zielprinzip, gesichert durch den Enthusiasmus
handelnden Glaubens an diese Aufgabe. Mir scheint,
als ob letzten Endes diese Philosophie des sozialen En-
thusiasmus so wenig Mystisches an sich hat, daß sie viel-
mehr die Lebensbedingung aller revolutionären Kämpfer
ist: der absolute Glaube an den endlichen Sieg der
Freiheit, an ihre Erfüllung im irdischen Jenseits.
204
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Fichte hat von Anfang an in seiner Verteidigung
der französischen Revolution und des Rechts der Re-
volution überhaupt die Demokratie mit sozialistischer
Kritik des Eigentums gefärbt. Der Gedanke eines
national abgesperrten sozialistischen Staates, der 1800
im Geschlossenen Handelsstaat ausgeführt wird, ist
aus den jahrzehntelangen Handelskriegen zwischen
England und Frankreich erwachsen; es schien keine
andere Möglichkeit gegeben, um nicht ewig in diesen
Strudel der Weltkämpfe hineingezogen zu werden, als
die völlige wirtschaftliche Isolierung. Das System
einer sozialistischen Republik beschäftigt erneut seine
letzten Jahre. Es ist keineswegs bloß* eine Art von
Erziehungssozialismus. Die Reden an die deutsche
Nation sind nur ein die Erziehungsfrage in Pestalozzis
Sinn behandelndes vorläufiges Kapitel eines umfassen-
den politischen Systems der sozialistischen Demokratie.
Und ganz und gar nicht denkt Fichte etwa an eine
Beglückung und Begnadung mit Sozialismus von oben
herab. Die Befreiung kann nur das Werk der Massen-
erhebung von unten auf sein. In der Staatslehre
von 181 3 streift er den Gedanken des Klassenkampfs:
Die Menschheit zerfällt in zwei Grundstämme, die
Eigentümer und die Nichteigentümer. Die Staats-
gewalt war bisher der Diener der Eigentümer, die aber
in Wahrheit nicht der Staat sind. Das sind schon Ideen
einer durchaus praktisch-tätigen Politik. Fichte hat
auch, wie die Sozialdemokraten, jeden Weg versucht,
um seine Ideale zu verwirklichen, und keine Teilarbeit,
keinen Teilerfolg verschmäht. Wie er Freimaurer
wurde, um diesen Orden zur Propaganda zu gewinnen
(mit jämmerlichem Mißerfolg übrigens), so trieb er
zu den Freiheitskriegen vornehmlich deshalb an, weil
er in der Schaffung einer waffenfähigen Volks wehr
das revolutionäre Element erkannte. Als Demokrat
und Sozialist blieb Fichte kosmopolitisch. Sein Na-
tionalismus hat nichts mit dem gemein, was man heute
205
darunter versteht. Er haßte Napoleon und die Fran-
zosen als die Verräter an der Revolution. Gerade weil
im deutschen Volk aller staatlicher Verband vernichtet,
und damit die organisierte Macht der Unfreiheit
scheinbar aufgelöst war, hielt er das deutsche Volk für
berufen, die Revolution zu vollenden. Das war sein
nationaler Enthusiasmus, der über alle Grenzen und
alle Zeiten hinausstrebte.
In einem' Dasein von Enttäuschungen hat Fichte
den Glauben an die Zukunft niemals verloren. In
einem Sonett hat er selbst diese Stimmung gemalt :
„Was meinem Auge diese Kraft gegeben,
Daß alle Mißgestalt ihm ist zerronnen,
Daß ihm die Nächte werden heitre Sonnen,
Unordnung, Ordnung und Verwesung Leben?
Was durch der Zeit, des Raums verworrnes Weben
Mich sicher leitet hin zum ew'gen Bronnen
Des Schönen, Wahren, Guten und der Wonnen,
Und drin vernichtend eintaucht all mein Streben ?
Das ist's: Seit in Uranias Aug', die tiefe
Sich selber klare, blaue, stille, reine
Lichtflamm', ich, selber still, hineingesehen:
Seitdem ruht dieses Aug' mir in der Tiefe,
Und ist in meinem Sein, das ewig Eine,
Lebt mir ein Leben, sieht in meinem Sehen."
[1912].
Anhang:
Zu Fichtes Charakterbild.
Fichtes Nationalismus (1912). Eine landläufige
Scheidung zwischen den Wesenscigenhsiten des 18.
und 19. Jahrhunderts läßt jenes kosmopolitisch, vater-
landslos, ungeschichtlich rationalistisch, revolutionär
206
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sein, dieses hingegen national, organisch, historisch,
reformerisch. Das 18. Jahrhundert ist umstürzend,
das 19. anknüpfend, entwickelnd. Das 18. Jahrhundert
sprengte alle Grenzen und Schranken außer die Ver-
nunft, das 19. sprengt die Vernunft und erkennt da-
für alle Grenzen und Schranken an. Nach solcher
Auffassung scheint es, als ob das Sinnloseste, wenn es
einmal geschichtlich geworden, auf einmal den Ruh-
mestitel des Organischen erworben habe, und nur eine
menschliche Erscheinung des organischen Wesens ent-
behre: die Schöpferquelle alles Menschlichen — die
Vernunft.
Mit dieser Unterscheidung der beiden Jahrhunderte
wird das Charakterbild J. G. Fichtes zerrissen. Mit
der Vorliebe der deutschen Bildungsphilister, aus dem
wilden Most revolutionärer Jugend Verwirrungen auf
jeden Fall den wässerigen Landwein berechtigt liberaler
Spießbürgerei sich entwickeln zu lassen, hat man auch
dieses ungebärdige Kind des 18. Jahrhunderts in einen
braven Bürger des 19. Jahrhunderts gewandelt. Aber
alle diese gelehrten und dilettantischen Bemühungen
haben nur die Entfernung erweitert, die zwischen der
unwandelbar revolutionären Größe Fichtes und dem
deutschen Bürgertum klafft.
Das bürgerliche Bild Fichtes ist in jedem Zuge
falsch; so falsch, wie jene Kennzeichnungen der Jahr-
hunderte, auf deren Brücke Fichte steht. Das 18. Jahr-
hundert ist so wenig antinational, daß in ihm vielmehr
zuerst der Vaterlandsbegriff entstanden ist. Indem
die französische Revolution der Welt den Patriotismus
der Freiheit verkündete, entdeckte sie nicht nur die
Menschheit, sondern auch die Nation. Umgekehrt hat
das 19. Jahrhundert den nationalen Geist wieder ver-
stümmelt. Die heilige Allianz errichtete für 50 Jahre
den unterschiedslosen Kosmopolitismus der Monar-
chien, der Feudalität, der Polizei, der Kirche; sie
restaurierte alles, was nicht Volk, nicht Nation ist.
207
Der Feudalstaat des 18. Jahrhunderts war das künst-
lichste, willkürlichste Gebilde. Erst die französische
Revolution begann die Völker organisch zu entwickeln,
bis die Reaktion des 19. Jahrhunderts den Prozeß
hemmte und umkehrte.
Das 18. Jahrhundert kannte vor der Revolution eine
Art von feudalem Patriotismus, aber keinen nationalen
Patriotismus. Man trieb preußischen, sächsischen,
bayerischen Patriotismus. Der Kult entstand, um im
Interesse der Herrschenden die Bildung der aufgeteilten
zersprengten deutschen Untertanen zur Nation zu
vereiteln. Es war der Patriotismus des Gutsbezirks,
der Treue des Untertans für seinen Herrn, die na-
tionale Gesinnung des Großgrundbesitzers, der Bau-
ern legt. Diese Gattung von Patriotismus ist auf das
Deutsche Reich übergegangen und behauptet sich bis
zum heutigen Tage.
Fichte soll sich vom vaterlandslosen Internationalis-
mus zum Nationalpatriotismus bekehrt haben. Unter
dem Druck des preußischen Zusammenbruchs soll er
national geworden sein wie ein Reserveleutnant von
191 2. In Wahrheit ist Fichtes Verherrlichung der
Revolution keine Jugendsünde, die er später, auf gut
deutsche Art „vernünftig" geworden, gesühnt hat,
sondern jene Gedanken beherrschen ihn bis zum Ende
seines Lebens. Die revolutionäre Schrift über die
große französische Umwälzung ist genau aus der glei-
chen Anschauung geboren, wie die Reden an die deut-
sche Nation. Ja, seine umstürzlerische Gesinnung
steigert sich gerade am Ende seines Daseins, das mit
dem Beginn des Krieges gegen Napoleon zusammen-
fällt; steigert sich in den „Politischen Fragmenten"
und der Staatslehre von 181 3 bis zur Verkündung des
demokratischen Sozialismus, der b c reit s" 3, hnungsvoll
das Werkzeug des Klassenkampfes tastet. Der Freiheits-
krieg ist für Fichte Volksaufstand. Er haßt in Napoleon
weniger den Unterdrücker Deutschlands als den Ver
208
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derber Frankreichs. In seiner gewaltigen Charak-
teristik Napoleons,' die Fichte 1813 in seinen Vorle-
sungen entwarf, hat er die Schuld des Weltherrschers
und in ihr seine eigene revolutionäre Nationalgesinnung
gekennzeichnet :
„Die ihm das Schlimmste nachsagen wollen, deuten
nur immer hin auf des Prinzen Enghien blutigen Leich-
nam, als ob dies der höchste Gipfel wäre seiner Taten.
Ich aber meine eine andere, gegen welche Enghiens
Ermordung beinahe in Nichts verschwindet und, nach
meinem Sinne, nicht wert ist, herausgehoben zu wer-
den, weil sie durch die einmal angehobene Bahn mit
Notwendigkeit gefordert wurde.
Die französische Nation war im Ringen nach dem
Reiche der Freiheit und des Rechts begriffen und
hatte in diesem Kampfe schon ihr edelstes Blut ver-
spritzt. — Aber diese Nation war der Freiheit unfähig'4,
sagt man — und ich gebe dies nicht nur zu, sondern
ich glaube, es sogar beweisen zu können. Aus folgenden
Gründen: 1. Weil, da Einstimmigkeit über das Recht
nicht möglich war, bei diesem Nationalcharakter jede
besondere Meinung ihre Partei finden, und so, ohne
eine schützende Gewalt, die Parteien im inneren
Kampfe sich selbst aufreiben mußten, wie sie auch
eine Zeitlang taten; 2. weil es in der ganzen Nation
an der Bedingung einer freien Verfassung fehlte, der
Ausbildung der freien Persönlichkeit, unabhängig von
der Nationalität.
So darum stand es freilich. Indem nun diese Selbst-
erkenntnis anfing aufzudämmern, fiel — ich will da-
von schweigen, durch welches Mittel — diesem Manne
die höchste Leitung der Angelegenheiten zu. Bilder
der Freiheit waren in manchen begeisterten Schil-
derungen an ihn gekommen; ganz unbekannt war
ihm darum nicht der Begriff, und daß er gedacht würde.
Wäre nur irgendeine Verwandtschaft dieses Begriffes
zu seiner Denkweise, irgend ein Funke des Verstand-
14 Ei«ner, Grtammelle Schriften. II.
nisses dafür in ihm vorhanden gewesen, so hätte er
den Zweck nicht aufgegeben, wonl aber das Mittel
gesucht. Es hätte sich ihm nicht verborgen, daß dieses
sei eine vielleicht mehrere Menschenalter dauernde,
regelmäßige Erziehung der französischen Nation zur
Freiheit. Es hätte dem Manne, der sich eine Kaiser-
krone und eine benachbarte Königskrone aufzusetzen,
und sich der Erbfolge zu versichern vermochte, nicht
fehlen können, sich an die Spitze dieser National-
erziehung zu setzen und dieselbe Stelle einem Nach-
folger, den er für den würdigsten dazu gehalten hätte,
zuzusichern. Dies hätte er getan, wenn ein Fünklein
echter Gesinnung in ihm gewesen wäre. Was er da-
gegen getan, wie er listig und lauernd die Nation um
ihre Freiheit betrogen, braucht hier nicht ausgeführt
zu werden; jenes Fünklein ist darum nicht in ihm
gewesen. Und so wäre denn meine Schilderung von
ihm zur Demonstration erhoben, insoweit dies bei
einem historischen Gegenstande möglich ist."
Fichte und Tolstoi [191 4].
Die Tragödie Ficht es, des wahren Christen, hat
sich in unserer Zeit wiederholt, nur daß den deutschen
Philosophen ein früher Tod auf der umwetterten Höhe
des Mannesalters dem Zusammenbruch rettungsloser,
vor sich selbst fliehender Verzweiflung entzog, die
den greisen russischen Dichter in nächtiger Angst
würgte: Tolstoi. Das ist die tiefste Tragik des Men-
schenschicksals, das furchtbare Problem der Lebens-
panik: Wie erträgt ein Mensch, der im Innersten
erfüllt und bewegt ist von der tätigen Zukunftsgesin-
nung erlöster Menschheit, ein Dasein, in dem all sein
Wollen und Sehnen zerbricht an den stumpfen Wider-
ständen einer blinden Welt.
Unsere Zeit wurde von der Schlußszene der Tolstoi-
Tragödie einen Augenblick erschüttert : Der sterbende
Greis, der vor seinem Ende endlich, che es zu spät
210
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ist, ein wahrer Christ sein will, der Heim und Fa-
milie verläßt, irgendwohin in die Einsamkeit zu sei-
nem eigentlichen ungebrochenen, mit sich selbst eige-
nen Selbst suchend flüchtet und den Tod findet. Der
Nachlaß Tolstois hat das wilde Grausen dieses Daseins
enthüllt. In dem dramatischen Fragment : „Das Licht,
das im Dunkel leuchtet", treibt Nikolaj Iwanowitsch,
der Narr, der wie ein Urchrist leben will, alles, was
er berührt, ins Unglück. Da stöhnt er, qualvoll zer-
rissen: „Sollte ich wirklich auf Irrwegen wandeln?
Sollte es ein Irrtum sein, daß ich an dich glaube,
mein Vater? Nein, nein — hilf mir, o mein Gott!"
Und als er von der Mutter eines durch seine Lehre
in die Nacht des Kerkers und der Irrenzelle getriebenen
Jünglings erstochen wird, da sieht er sterbend noch die
Duchoborzen, in deren Bewegung er den Anfang des
Heils erkennt, und in Freuden geht er dahin, daß sein
Leben doch noch einen Sinn bekommen.
Fichte ist aus härterem Stoff geschaffen als Tolstoi.
In der großen Schule der wissenschaftlichen Philo-
sophie gebildet, hat sein Bewußtsein jenes feste Gerüst
höchster und reinster Gedanken, das ihn stützt und
hält, ist er geistiger Künder und Schöpfer der Voll-
endung der Menschheit in der radikalsten Form staat-
licher Organisation, während der slawische Weltdichter
unserer Zeit mitten in der sinnlichen Fülle bunter
und wirrer Gestalten taumelt, mit ganz einfachen Ge-
fühlen und Vorstellungen dieses ungeheure und un-
ermeßliche Dasein zu bewältigen sich müht und um
eine Welt jenseits aller Kultur ringend ein Leben
sucht, das halb wie ein wildmelancholisches Zigeuner-
lied, halb wie die Gottinbrunst einer lirchristlichen
Legende verklingt und emporrauscht.
Aber beiden gemeinsam ist dieses Grundgefühl ihres
Daseins: Wie läßt es sich leben, wenn man die Wahr-
heit der erlösten Welt leibhaftig schaut, wenn alle
Triebkräfte in dieser einen Sehnsucht nach Befreiung
21 I
verschmelzen und verrinnen, da doch die Dinge und
die Menschen hartsinnig unbeirrt ihren fremden feind-
lichen Weg nehmen! Beide suchten die gleiche Lö-
sung: Einmal im äußeren tätigen Dasein die un-
bewehrte Brust unablässig dem Feinde herausfordernd
darbieten, handeln und schaffen, als ob morgen schon
die Erfüllung aller Ideale möglich wäre: dann aber
bergen sie ihr inneres Wesen in die leuchtende Sicher
heit einer christlichen Mystik, die freilich bei Tolstoi
sich in der schlichten Weisheit und Einfalt der Berg-
predigt befriedigt, während Fichte in die luftdünnen
Jenseitshöhen neuplatonischer Gottideen emporsteigt
Und endlich: Fichte und Tolstoi fliehen vor uns aus
ihrer Zeit, für deren Umgestaltung sie doch selbst ihr
Leben herzugeben bereit sind.
Als Fichte in der dumpfen Zeit unmittelbar vor der
preußischen Katastrophe, als deren hellsichtiger Pro-
phet er vorher in Berliner Vorträgen die „Grundzüge
des gegenwärtigen Zeitalters" entwarf, an allem ver-
zweifelte, entwickelte er vor seiner Gemeinde seine
Reügionslehre : die „Anweisung zum seligen Leben".
Als soziales Mitglied des damaligen preußischen Staa-
tes verzeichnete er sich auf dem Titelblatt der ge-
druckten Vorlesung als „der Philosophie Doktor,
königl. Preuß. ordentlichen Professor der Spekulation
an der Friedrich-Alexanders-Universität zu Erlangen,
der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften
Mitglied". Was aber an Fichte geistig und wesentlich
war, das lebte, unversehrbar in dem Gottesreich der
Idee, ein Weltbürger im ewigen Licht. Nur auf Wunsch
seiner Freunde hatte er seine lebendigen Worte in
Druck gebracht. „Denn ich," so schreibt er, wie
gänzlich erdentrückt, „für meine Person bin durch
den Anblick der unendlichen Verwirrungen, welche
jede kräftigere Anregung nach sich zieht, auch des
Dankes, der jedem, der das Recht will, unausbleiblich
zuteil wird, an dem größeren Publikum also irre ge-
212
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worden, daß ich mir in Dingen dieser Art nicht selber
zu raten vermag und nicht mehr weiß, wie man mit
diesem Publikum reden soll, noch ob es überhaupt
der Mühe wert sei, daß man durch die Druckpresse
mit ihm rede."
Nur zwei Jahrzehnte umfaßt das öffentliche Wirken
Fichtes. Im letzten Jahrzehnt schrieb er keine Bücher
mehr, die doch ins Leere hinausgingen, nur mit der
Macht seiner Beredsamkeit rang er noch, der Welt
der Zukunft einige Baumeister zu gewinnen. Er war
der erste politisch -philosophische Agitator Deutsch-
lands, in einer Zeit, die keine Parlamente, keine poli-
tische Presse, keine Parteien hatte, deren einzige organi-
sierte Wirkungsbezirke die Universitäten, Akademien
und ihre Umgebungen umfaßten, deren einziges Publi-
kum ein loser Haufen von Professoren, Gelehrten,
Studenten, Schriftstellern war. Seine mächtige Pro-
phetenstimme rief ins Nichts. Sein Wirken fiel in die
Zeit gewaltiger, von außen über die deutschen Gren-
zen flutender Bewegung: zwischen der großen Revo-
lution und den Freiheitskriegen. Immer schien das
kreisende Chaos eine neue Welt zu gebären; und
jedesmal scheiterte die tatrüstende Hoffnung. Fichte
stürzte sich in jede Bewegung und wurde immer von
ihr ausgestoßen. Niemand hat in Deutschland so kühn
und feurig das Recht der französischen Revolution
verkündet. Dem verwegenen Jakobiner bietet sich in
Jena eine Stätte der Propaganda. Er unterliegt in
einem elend gehässigen Religionsstreit und wird ver-
zagt. Er schaut noch die deutsche Revolution, als die
er den Freiheitskrieg wider Napoleon auffaßt, für den
er deshalb begeistert. Er stirbt in der verzweifelten
Überzeugung, daß abermals Volk und Menschheit um
den Ertrag ihrer Blutopfer betrogen werden würden.
Dennoch ergreift er auch jeden Schein von neuem
Leben. Die Tat ist alles. Wer handelt, kann nie in
Verzweiflung versinken. Scheinen die Mächte der
Finsternis unüberwindlich, so muß eben ganz von
neuem abseits und fern das Heil gewonnen werden.
Außerhalb der Zeit schaffen, wenn die Zeit selbst nicht
zu retten ist — das ist die praktische revolutionär
utopische Philosophie Fichtes. So entwirft er, als die
verwüstenden Handelskriege zwischen England und
Frankreich keine Ruhe friedlicher Arbeit in Europa
ermöglichen, jenes sozialistische Zukunftsbild eines
„geschlossenen Handelsstaats**, in dem Deutschland
aufgefordert wird, sich von aller Welt abzuschließen
und nur durch Verwendung eigener Naturerzeugnisse
jedem Bürger ohne Unterschied die Notdurft des Le-
bens zu sichern — fern den grausamen Raubhändeln
der Weltmächte, unberührt und unabhängig von ihnen.
So will er, nach dem Untergang des alten Reichs und
Preußens, die junge, von der Pest verdorbenen Wesens
unberührte Generation in abgesonderten Erziehungs-
provinzen für den Weltberuf des staatlos gewordenen
Deutschtums vorbereiten und befähigen.
Was aber gibt dem handelnden Denker letzten Endes
die Kraft, im Scheitern aller Pläne, im Zusammenbruch
der Hoffnungen, in der quälenden Bitternis widriger
Lebensumstände unerschrocken und unbewegt den
noch für die Zukunft zu werben, dennoch in Not und
Verfolgung selig zu leben ? Dies Prophetengeheimnis
unverwundbarer Messiaskraft hat Fichte in jener Re-
ligionslehre vom seligen Leben entdeckt, die in der
mystischen Glut einer an der Offenbarung Johannis
entzündeten Bildersprache die Liebe des begeisterten,
zukunftsgewissen Schaffens verkündet als den unver-
sieglichen Urquell menschlicher Befreiung. Diese selt-
samen Vorlesungen, die lange verschollen waren, sind
neuerdings in die Hände ratloser Theologen gefallen,
die den Tiefsinn dieser Religion der Erlösung auf
Erden durch Vermengungen und Vergleichen mit dem
landläufigen Christentum verwirrten.
Das selige Leben, in dem Fichte die Ruhe, Kraft
214
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und Begeisterung seines Wirkens in einem Zeitalter
der „Verwesung" findet, ist das erhabene Weltgefühl
des Ewigen, der Rauschzustand der Zukunftsschöpfung
und Zukunftsgewißheit, geschaut und gefühlt im
Gegenwärtigen, aber nicht eigentlich von diesem ein-
zelnen zufälligen Ich, sondern — nach Vernichtung
des Ichs, das heißt gerade durch völlige Aufhebung
des Individuums, von einer unzerstörbaren Ausstrah-
lung des allumfassenden, befreiten, reinen Menschen-
geistes und Erden9inns. Das ist Fichtes „Gott" oder
das „absolute Ich"; Gott verdrängt das Ich des In-
dividuums und gibt ihm die höchste Sicherheit und
Seligkeit einer im Schauen der reinen letzten Idee
zum tätigen Leben ermutigenden, verpflichtenden
und begeisternden „Liebe" zum Menschengeschlecht
in seiner tiefsten Umfassung. Fichte beschreibt in
solchen visionären Abstraktionen das tatsächliche Be-
wußtsein jener Menschen, die in der Zukunft leben
und deshalb für sie leben können. Daher es auch eine
platte, mißverständliche Auffassung theologisch be-
fangener Kritiker ist, daß ein Widerspruch sei zwischen
der Vernichtung des Ichs und dem Ich als Schöpfer
aller Tat. Freilich meint Fichte nicht etwa bloß die
Vernichtung des Schlechten im Ich, worin jene Vorbei -
redner und Vorbeischreiber eine Lösung des nur in
ihren Köpfen vorhandenen Widerspruchs sehen wür-
den, es ist in der Tat die radikale Austilgung des
Ichs in seinen zufälligen materiellen Beziehungen und
zeitlichen Hemmungen, die Auflösung des Ichs im
Allgcfühl der Menschheit, in der Freiheit, in „Gott".
So versteht man, wenn anders man selbst einen Hauch
der Begeisterung für das Zukünftige, für die Erlösung
des Menschengeschlechts auf Erden zu empfinden ver-
mag, daß in dieser Vernichtung des Ichs gerade der
tieftse Urquell allen tätigen Lebens strömt: das Le-
bensprinzip des einzelnen Revolutionärs wie revolu-
tionärer Klassen.
215
In Wahrheit: Diese Religion des seligen Schauens
ins Göttliche ist so wenig tatenlose Schwärmerei, daß
sie vielmehr alles Handeln ermöglicht, treibt, leitet.
Wenn er gleichwohl scheinbar in die Abgründe reli-
giöser Mystik sich verliert und in Geistersprache redet,
so eben deshalb, weil hier das Licht war, das im
Dunkeln seines Lebens schien, das ihm den Mut gab,
trotz der Verzweiflung an jeder unmittelbaren Wir-
kung, seine Gedanken auszusprechen, „damit sie nicht
untergehen in der Welt". So heißt es in dem Entwurf
einer Schrift aus dem Frühjahr 1813, in dem er den
Aufruf Friedrich Wilhelms III. „An mein Volk" so-
zialistisch beantworten wollte.
216
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Über Schillers Idealismus.
I.
Das tiefste und reichste, was Schiller der Welt ge-
spendet, ist zugleich der Urgrund seines Falls in der
bürgerlichen Gesellschaft, der Ursprung jenes Jahr-
hunderts der Verderbnis, Entfärbung und Fälschung,
das den revolutionären Himmelsturm für die elend
klappernde Mühle einer seichten und leeren Sonntags-
geschwätzigkeit einspannte; das aus dem innerlichsten
Lebensbedürfnis einen Festspruchzierat, aus der heiß
atmenden Weisheit die Gemeinplätze eines Stamm-
buchs schneiderte; das die tief in das Erdreich mensch-
licher Entwickelung pflügende Gedankenarbeit in eine
trockene Schulbubenqual zusammenschrumpfen ließ;
das endlich den kühnen Schöpfergesang der Freiheit
in einen frömmelnden Gassenhauer wider die Freiheit
log. Heute, ein Jahrhundert nach dem Tode des
Dichters, preist den Rebellen und Republikaner die
ekle Gemeinschaft der Byzantiner. Der reine Heide,
der niemals etwas gemein hatte mit Pfaffentum,
Kirche und konfessionellem Dogmatismus, wird von
dem Weihrauch der Dunkelmänner umqualmt; der
Künder eines Weltbürgertums, der es ein „armseliges,
kleinliches Ideal" nannte, „für eine Nation zu schrei-
ben", dessen philosophischem Geist „diese Grenze
durchaus unerträglich" war, wird nun gerühmt als
einer, der dennoch „bei einer so wandelbaren, zu-
fälligen und willkürlichen Form der Menschheit, bei
einem Fragmente (und was ist die wichtigste Nation
anders)" stille gestanden hätte, — gerühmt nämlich
von denen, die in dieser Grenze national begeistert
die göttliche Erfindung grenzenloser Zollmöglichkeiten
217
anbeten. Der Seher und zuversichtliche Bekenner
einer menschlichen Zukunftsgesellschaft der Freiheit
wird bekränzt von den trägen, zynischen Hirnen der
mittleren Linie, die in dem Streben nach einem idealen
Staat eine Narretei begrinsen, wenn sie es aus Rück-
sichten des Geschäfts nicht vorziehen, es als Ver-
brechen anzuklagen. Der Priester der Humanität
muß sich den Kultus einer bluttriefenden Soldateska
gefallen lassen, deren einzige Politik die gewaltsame
Unterdrückung ist, und der trotzige Bekenner des
Tyrannenmords als des notwendigen Mittels der Be-
freiung vom unerträglichen Joch, wird feiernd zum
Schwurzeugen derer herangeschleppt, die das Ver-
brechen der Herrschenden als unumstößliches Recht
und das Recht der Unterdrückten als todeswürdiges
Verbrechen vertauschen. Dieses Jahrhundert klassi-
scher Erziehung hat die Gegensätze in wundersame
Harmonie aufgelöst: Franz, die Kanaille, sinkt vor
Karl Moor-Schiller auf die Knie. Der Hofmarschall
von Kalb wird der kluge und hochherzige Trauzeuge
von Ferdinands und Luisens ehelichem Glück. Mar-
quis Posa empfängt in jubelndem Dank von Philipp II.
den eigens für ihn gestifteten Orden der heiligen In-
quisition, und Wilhelm Teil drängt sich, noch bevor
er zerknirscht ins Zuchthaus geht, dem Geßlerhute
die ersehnte Reverenz zu erweisen.
Was gab die Möglichkeit zu solchem tollen Gaukel-
spiel ? Das, was man den Idealismus, die idea-
listische Weltanschauung heißt. Schillers größte
Tat ward sein Fluch, ward die Ursache, daß er selbst
in seinem geschichtlichen Wirken in der Klasse, für
die er wirkte, seine Mission zerstörte.
Gewiß ward Schiller das Opfer einer tückischen Ver-
leumdung: dennoch nicht ohne eigene Schuld. In
dem Idealismus, wie er ihn prägte, oder vielmehr, wie
er ihn betätigte, lag schon das Element der Zerstörung,
der Selbstauflüsung.
218
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Und nicht aus innerlichem Irren entstand dieser
feine, kaum merkbare Bruch seiner Weltanschauung.
Es war der Tribut, den er dem deutschen kleinstaat-
lichen Despotismus unbewußt zahlen mußte, der
sozialen Misere eines mühselig um sein Brot arbeiten-
den armen Literaten, der von der Gnade gerade jener
Elemente zu leben verurteilt war, die man in Frank-
reich guillotinierte. Es ist eine ekle Legende, daß
unsere klassische Kunst den freien Höfen aufgeklärter,
verständnisvoller Despötchen ihre Blüte verdankte.
Sie verdankt ihnen vielmehr die verhängnisvolle Akkli-
matisation, die den Anfang bildete jener schlimmeren
Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft, der unsere
Größten nach ihrem Tode dann wehrlos ausgeliefert
wurden, mit Episoden der Wiedergeburt und Erneue-
rung, bis auf diese Tage. Mag immer Sachsen- Weimar
nicht die schlimmste Heimstätte deutscher Kunst und
deutschen Denkens gewesen sein, es blieb doch Fron-
dienst, hier zu wirken. So kam es, daß Friedrich
Schiller in dem gewaltigsten Augenblick der mensch-
lichen Geschichte, da das von ihm nicht nur geträumte,
sondern als notwendig erkannte und geforderte Ver
nunftreich der Freiheit den Riesenschritt zur Wirk
lichkeit tat, blind vorüberging, ja ängstlich vor ihm
flüchtete, indem er die heranstürmende Zukunft, die
Zukunft seines Ideals, scheu beschwor, wieder in die
Ferne zu verdämmern. Diese Flucht vor der Ta t
war das Verhängnis seiner Wirkung im deutschen Volk,
im deutschen Bürgertum, daß er, zwar mißverstanden,
doch das Mißverständnis durch eigene Zweideutigkeit
nährend, vielleicht mehr gegen seine Ideale erzog,
als daß er es ihnen näherte. Schillers revolutionärer
Idealismus erlitt in seinem Blutumlauf unter dem
höfischen Druck der deutschen Kleinstaaterei eine
Stockung, die seine Gewalt lähmte und am Ende wie
eine Geisteskrankheit erscheinen ließ.
219
IL
In der Militärzwangsanstalt seines Landesvaters ein-
geschnürt, befreite sich Schillers Jugend an Rousseau,
zu dem sich — im Stil der Gefühlsäußerung — Klop-
stock gesellte. Wider die Tyrannei war seine Losung.
Er flüchtete zu der Utopie des erhabenen Verbrechens,
das alle bürgerlichen Fesseln erlösend löst. Sein erster
stürmender Idealismus war die Religion des aufbäu-
menden Frevels. Frei sein vom zerreibenden Druck
schien ihm Freiheit. Die große Natur des heißen
Menschenherzens, die Republik der einfachen, un-
gebrochenen, gütigen Kraft ward ihm seine ideale
Welt, bevor er die Welt kannte. So entstanden seine
Räuber, Fiesko, Kabale und Liebe, die Trilogie revo-
lutionärer Leidenschaft. Ehrenvoller als der hundert-
jährige Ruhm, der Schillers Geltung in der Kultur-
cntwickelung entnervte, war der dumme und brutale
Philisterhaß, der damals den Jubel der jungen Genera-
tion zu überschreien suchte. In dieser stumpfen Ver-
leumdung barg sich eine stärkere Anerkennung seines
Elementarwesens als alle geschminkte Schwärmerei der
Nachwelt. Durch diesen Jugendidealismus, der im
gigantischen Verbrechen den Ausweg aus schlaffer
Schande suchte, in ihm das zyklopisch sich türmende
Tor zur Freiheit gesprengt wähnte, fühlte sich die
gezähmte Barbarei despotisch-kleinbürgerlicher Kultur
bedroht. Ein Räuberrezensent — ein Mitglied übri-
gens der Gesellschaft Jesu — scheute sich schaudernd,
„an die Plattheiten, an die Hefe des Pöbelhaften, und
an das äußerst Abscheuliche, alles gute Gefühl Em-
pörende, die Sitten und die Menschheit Schändende
zu gedenken, das aus dem Munde der Banditen, dieses
räuberischen Lumpengesindels kömmt". Der an-
gesehene Schriftsteller Moritz denunzierte in der Ber-
liner „Vossischen Zeitung" Kabale und Liebe als ein
„Produkt von unsere Zeiten Schande":
„Mit welcher Stirn kann doch ein Mensch solchen
220
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Unsinn schreiben und drucken lassen, und wie muß
es in dessen Kopf und Herz aussehen, der solche Ge-
burten seines Geistes mit Wohlgefallen betrachten
kann! . . . Wer 167 Seiten voll ekelhafter Wiederholun-
gen gotteslästerlicher Ausdrücke, wo ein Geck um ein
dummes affektiertes Mädchen mit der Vorsicht (Vor-
sehung) rechtet, und voll krassen, pöbelhaften Witzes
oder unverständlichen Gallimathias, durchlesen kann
und mag — der prüfe selbst. Aus einigen Szenen hätte
was werden können, aber alles, was dieser Verfasser
angreift, wird unter seinen Händen zu Schaum und
Blase."
Derselbe wusch sich später die Hände von dem
„Schillerschen Schmutz". Man beobachtete auch üble
Wirkungen an diesen gotteslästerlichen Werken; und
man begnügte sich nicht etwa nur mit Anklagen und
Befürchtungen wie den folgenden:
„Daß der eingebildete Held aber die Bewunderung
und das Interesse des Pöbels und höherer Stände wird,
wo die Schwäche der landesherrlichen Macht oder
Polizei in dem elendesten Kontraste erscheint; —
welche Wirkungen werden solche Situationen hervor-
bringen? welche Lehren der Moral, der Politik, des
Gehorsams gegen die Gesetze und ihre Handhaber
sind stark, einleuchtend oder anziehend genug, um
die vorigen Eindrücke auszulöschen ?"
Man bewies die Anklage auch:
„In Leipzig wurden vor zwei Jahren während der
ersten Vorstellung dieses Trauerspiels im Theater und
in der Stadt ansehnliche Summen gestohlen, welches
natürlich viel Gerede verursachte, und den dortigen
Magistrat bewog, nach der zweiten Vorstellung die
fernere Aufführung des Stückes in der Stille zu ver-
bieten. So wenig sonst ein Verbot in Sachen des Ge-
schmacks zu loben ist, so scheint doch dieses sehr
guten Grund zu haben, . . . weil ich glaube, daß die
Absicht des Schauspiels ist zu vergnügen, pöbelhafte
221
Reden, welche in dem Stück vorkommen, durch die
Vorstellung desselben, zu sehr unter junge Leute in
Schwung kommen, und daß gräßliche Schauspiele ein
Volk ungesittet und das Herz junger Leute hart und
zu Grausamkeit geneigt machen.4'
Nicht genug damit, daß die „Räuber" zum Dieb-
stahl anleiteten. Andere Anwälte der Zivilisation er-
zählten :
„Ein Junge von 12 bis 14 Jahren wurde von dem
romanhaften Charakter Karl Moors so hingerissen, daß
er den andern Tag mit seinen Mitschülern eine Ver-
schwörung machte, als Räuber zu Fuß durch die Welt
zu streichen."
Und im „Leipziger Magazin der Philosophie und
schönen Literatur" las man gar 1785:
„In der Gegend von Bayern und Schwaben rotteten
sich vor nicht langer Zeit gefährlich schwärmende
Jünglinge zusammen und wollten nichts geringeres
ausführen, als sich durch Mord und Mordbrennerei
auszuzeichnen und einen Namen zu machen, oder dem
großen Drange nachzugeben, Räuber und Mordbren-
ner zu werden. Und welcher Anlaß konnte solche
Unglückliche, in der Imagination versengte Menschen
verleiten und sie auf den Grad von Ausschweifung
bringen, wenn wir es aufs gelindeste benennen ? Sie
wollten Schillers Räuber realisieren."
Das waren Mißverständnisse, die doch mehr Ver-
ständnis für das wirkliche Wesen des Dichters ver-
rieten als die Totalbewunderung unserer bürgerlichen
Schillcrfeier von heute. Im Sinne der herrschenden
Klassen seiner und noch mehr fast unserer Zeit ist
Schiller die Unsittlichkcit und der Umsturz — zumal
der junge Schiller.
Das 18. Jahrhundert, das so urteilte, war dabei
nicht einmal fromm.
222
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III.
Schillers Verhältnis zur Religion begann mit jenem
weichen Deismus, der das Jahrhundert der Aufklärung
beherrschte. In der Kirche sah er stets nur die Organi-
sation geistiger Tyrannei. Mit dem dogmatischen
Aberwitz war er früh fertig, wenn er überhaupt jemals
mit ihm belastet war. Sein Gottesglaube bestand zu-
nächst in dem Glauben an ein gütiges Geschick. Er
haßt die Zyniker, die an gar nichts glauben, was außer-
halb ihrer Sinnlichkeit liegt:
Brüder, überm Sternenzelt
Muß ein lieber Vater wohnen.
Wie Hellas in seinem Geist aufgeht, verfinstert sich
ihm auch das vom Kirchentum losgelöste Christentum.
In heidnischer Sehnsucht läßt er die Götter Griechen-
lands auferstehen :
Damals trat kein gräßliches Gerippe
Vor das Bett des Sterbenden. Ein Kuß
Nahm das letzte Leben von der Lippe,
Still und traurig senkt ein Genius
Seine Fackel.
Denselben christentumsfeindlichen Gedanken, der
sich anlehnt an Leasings schöne Abhandlung, wie die
Alten den Tod gebildet, wiederholt er später (1789):
Die Urne und das Skelett.
In das Grab hinein pflanzte der menschliche Grieche
noch Leben,
Und du töricht Geschlecht stellst in das Leben den Tod.
Der Gott des christlichen Zeitalters ist ihm der
Zerstörer schöner Menschlichkeit :
Nach der Geister schrecklichen Gesetzen
Richtete kein heiliger Barbar,
Dessen Augen Tränen nie benetzen.
223
Das Blütenalter der Natur ist „von des Nordens
winterlichem Wehn" vertrieben:
Von jenem lebenswarmen Bilde
Blieb nur das Gerippe mir zurück.
Einen zu bereichern, unter allen
Mußte diese Götterwelt vergehn.
In immer neuen Bildern wird der finstere Gott der
Christenheit gezeichnet:
Freundlos, ohne Bruder, ohne Gleichen,
Keiner Göttin, keiner Ird'schen Sohn,
Herrscht ein andrer in des Äthers Reichen,
Auf Saturnus' umgestürztem Thron.
Da die Götter menschlicher noch waren,
Waren Menschen göttlicher.
Als der christlich verzückte und verstiegene Graf
Stolberg sich wegen der Verherrlichung des griechi-
schen Götterkults als der Verbindung „gröbster Ab-
götterei mit dem traurigsten Atheismus" bekreuzigte,
schnellte Schiller den Spottpfeil gegen ihn ab :
Als du die griechischen Götter geschmäht, da warf
dich Apollo
Von dem Parnasse; dafür gehst du ins Himmelreich ein.
Schillers Religion verdichtet sich schließlich zur
reinen Gottesidee, die letzten Endes nichts anderes
ist wie der Idealismus der reinen Menschheit :
Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron.
Des Gesetzes strenge Fessel bindet
Nur den Sklavensinn, der es verschmäht,
Mit des Menschen Widerstand verschwindet
Auch des Gottes Majestät.
In den Worten des Glaubens wird 1797 der Ge-
danke also geformt:
324
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Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt,
Wie auch der menschliche wanke,
Hoch über der Zeit und dem Räume webt
Lebendig, der höchste Gedanke,
Und ob alles in ewigem Wechsel kreist.
Es beharrt im Wechsel ein ruhiger Geist.
Allen denen aber, die dennoch den Versuch machen
würden, ihn zu einem Kirchengläubigen zu erniedrigen,
weil er seine Weltanschauung in der Gottesidee als der
Menschheitsidee vollendete, wehrte er unzweideutig ab :
Mein Glaube.
Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,
Die du mir nennst! „Und warum keine ?" Aus Religion.
IV.
Schiller hat die beiden einzigen großen Revolutions-
dramen unserer Literatur geschrieben, die Revolutions-
tragödie des Zusammenbruchs in „Kabale und Liebe"
und das Revolutionsdrama der Erfüllung in „Wilhelm
Teil". Das eine kam in die Welt vor der großen fran-
zösischen Revolution, das andere, als sie bereits im
Bonapartismus gestrandet.
Während aber sein revolutionäres Ideal zur Wirk-
lichkeit sich durchrang, war Schiller verständnislos,
fast feindselig. Als seine Dichtung ins Leben zu treten
schien, flüchtete sich Schiller, der Ehrenbürger der
französischen Republik in die Welt des — Ideals.
Zeuge des gewaltigsten Ereignisses der Weltgeschichte,
verstummt und erblindet er. Keine seiner Schriften,
nicht einmal seine Briefe, ahnen einen Hauch der un-
ermeßlichen Zeit. Wenn Schiller auch nicht wie
Goethe die Revolution mit platten Possen und stump-
fen Stachel versen höhnte, so hatte er doch nichts für
sie übrig wie schulmeisternde Worte des Grauens.
In seinen kleinen Bemerkungen über den Wert der
Ordnung, über die Weiber, die zu Hyänen werden,
15 t i»o er, Gt*«unwdte Schriften. II.
225
über die Tigerin, die das eiserne Gitter durchbrochen,
entwurzelte er die Wurzeln seiner eigenen revolutio-
nären Kraft und warf sich dem Philistertum zur
Beute hin. Seltsam, fast unbegreiflich: Wenn Schiller
schon über den „Greueln" der Revolution nicht ihr
Wesen erkannte, wie konnte der Schöpfer des Karl
Moor so völlig auch die Einsicht in die Würde des
„Verbrechens" verlernen, das die Fesseln der Tyrannei
zerbricht !
Hier wird die Anschmiegung an die Bedingungen
der Gesellschaft, in der er zu leben gezwungen war,
sichtbar. Freilich, indem Schiller zur Welt, in der
und von der er existierte, hinabglitt, brachte er das
Fallen selbst in ein gewaltiges System, ohne doch
den Sturz verheimlichen zu können. Es ist kein Zu-
fall, daß sich die Weimaraner so unendlich verständnis-
loser gegenüber der Revolution zeigten als etwa die
Königsberger.
Die höfische Akklimatisation hatte ihre Opfer ge-
wonnen.
Die verhängnisvolle Entwickelung läßt sich in zwei,
an sich unbedeutenden Begebnissen seines Lebens
veranschaulichen und in ihren realen Ursachen er-
kennen. Im Jahre 1783 sollte Schiller in Mannheim
eine „poetische Rede" zum Namenstage der Kurfürstin
verfertigen. Wie er sich aus der Affäre zog, schreibt
er mit vielem Vergnügen an Frau v. Wolzogen: „Kein
Mensch kann sie brauchen, denn sie ist mehr Pasquill
als Lobrede auf die beide Kurfürstliche Personen.
Weil es jetzt zu spät ist, und man das Herz nicht hat,
mir eine andere zuzumuten, wird die ganze Lumpen-
fSte eingestellt." Sechs Jahre später entsetzt sich der-
selbe Schiller in einem Brief an seinen Freund Körner
über ein „Knabenstreich" Herders, in dessen Adern
gärendes Jakobinerblut floß:
„Bei der Tafel der Herzogin sprach er vom Hof
und von Hofleuten und nannte den Hof einen Grind-
226
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köpf und die Hofleute die Läuse, die sich darauf
herumtummeln. Dies geschah an Tafel und so, daß
es mehrere hörten. Man muß sich dabei erinnern,
daß er und seine Frau den Hof suchen, und auch
vorzüglich durch den Hof souteniert werden."
Schiller hatte inzwischen gelernt, was man schuldig
sei, wenn man höfisch souteniert wird. Nicht als ob
diese Beeinflussung dem Dichter zum Bewußtsein ge-
kommen wäre, es entwickelte sich alles ganz von selbst.
V.
Zur gleichen Zeit etwa, als er dem Bann der Höfe
verfiel, fand er Kant, dessen Ästhetik ihm die syste-
matische Vertiefung und gedankliche Veredelung auch
seines Abwegs lieh. Er ward Kants Schüler und Pro-
phet. So innig verschmolz er seinem Wesen die Welt-
anschauung des Philosophen — den niemand besser
verstanden hat als Schiller — daß er mit dem Er-
worbenen wie mit eigenem freien Eigentum fruchtbar
zu schaffen und zu gestalten vermochte. Kants Philo-
sophie empfing gewaltigen Rhythmus und künstleri-
sche Bildkraft in Schillers philosophischen Gedichten,
die in dem All erheiligsten der Weltliteratur ihre
Stätte haben, und die, wie kein anderes Werk, das
Problem einer Weltanschauungskunst vollendet zeigen.
Kant errichtete, Grenzen setzend und Wege wei-
send, in wissenschaftlichem Ausmaß die drei Reiche
des menschlichen Kulturbewußtseins: Die reine Ver-
nunft als die Schöpferin der Gesetze der Notwendig-
keit in der Erfahrung der Natur; die praktische Ver-
nunft als die Gesetzgeberin der Freiheit in der mensch-
lichen Gesellschaft; die Vereinigung beider Reiche ist
die Kunst, welche aus dem Gefühl empfangen, aufs
Gefühl wirkend, die Welt der sittlichen Freiheit
gleichsam als Naturerscheinung bildet.
Schillers wie Kants sittlich-politischer Idealismus,
der die Loslösung des auf sich selbst gestellten mensch -
15« 227
liehen Handelns von aller offenbarten Religion, als
niedriger Polizeianstalt zur Züchtung moralischer Skla-
verei, voraussetzt, empfängt Licht und Richtung von
dem Endziel eines Zukunftsstaates, der die freie Ge-
meinschaft gleicher, zur Persönlichkeit entwickelten
Weltbürger vollendet. Aus dieser Aufstellung eines
revolutionären Ziels ergibt sich die grundsätzliche
Verneinung des historisch gewordenen Staates der
Willkür und Gewalt, dieses — im Sinne der ziel-
weisenden Vernunft — „Notstaates", den Schiller im
Gegensatz zu seinem idealen Vernunftstaat den Na-
turstaat nennt, dessen Überwindung ihm die eigent-
liche Aufgabe der Kulturarbeit der Menschheit ist.
Die Kunst nun schafft im freien Spiel der Phantasie
dieses Reich der sittlichen Freiheit als eine Art natur-
gesetzlicher Notwendigkeit, als Naturerscheinung.
Schillers ästhetische Anschauungen waren von Anfang
an vorbereitet für die Ästhetik Kants. Ihm war die
Kunst niemals eine leere Belustigung, sie war ihm
Anklägerin der Gesellschaft, Rächerin der beleidigten
Menschheit, Verkünderin der Freiheit. In den vor
dem Studium Kants verfaßten „Künstlern" (1789),
dem Erhabensten, was je über Kunst gesagt, wird
ihm die Kunst zur träumerisch schaffenden Mutter
aller Menschlichkeit; im Spiel ahnt sie die Wissen-
schaft voraus, im Schlag richtet sie die Frevler an der
Humanität, im Bild schaut und rüstet sie schöpferisch
die Zukunft:
Erhebet euch mit kühnem Flügel
Hoch über euren Zeitenlauf;
Fern dämm're schon in eurem Spiegel
Das kommende Jahrhundert auf.
Und hier vollzieht sich die verhängnisvolle Wendung.
Die Kunst wurde ihm aus der Helferin und Schöpferin
des Lebens Ersatz des Lebens. Die Revolution des
Handelns r -signierte in der Welt des Schönen:
228
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Endlos liegt die Welt vor deinen Blicken,
Und die Schiffahrt selbst ermißt sie kaum.
Doch auf ihrem unermeßnen Rücken
Ist für zehen Glückliche nicht Raum.
In des Herzens heilig stille Räume
Mußt du fliehen aus des Lebens Drang,
Freiheit ist nur in dem Reich der Träume,
Und das Schöne blüht nur im Gesang.
Das war der müde Rechnungsabschluß Schillers an
der Grenzscheide des revolutionärsten Jahrhunderts.
Aus der Not wurde ihm ein System. Aus der Un-
möglichkeit, im Kerker despotischer Kleinstaaterei,
die ihn doch „soutenierte", den revolutionären Idealis-
mus zu leben, flüchtete er in den revolutionären
Idealismus seiner Kunst als — Erziehung zu diesem
Leben !
Im März 1794 kündigte Schiller seine Monatsschrift
„Die Hören" an, die sich über alles verbreiten sollte,
„was mit Geschmack und philosophischem Geist be-
handelt werden kann". Aber hob Schiller nachdrück-
lich hervor, sie werde sich „alles verbieten, was sich
auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht".
In einer anderen Ankündigung hieß es, daß das Jour-
nal sich alle „Beziehung auf den jetzigen Weltlauf
und die nächsten Erwartungen der Menschheit"
verbieten werde. Körner erkannte sofort, was hinter
diesem feierlichen Verzicht steckte: Man entgehe
dadurch, schrieb er, „vielen Unannehmlichkeiten: teils
in Ansehung der Zensur, teils in dem Verhältnis des
Ausschusses zu den Mitarbeitern". Er, Körner, würde
gegen alles sein, was Staat und Religion zerstöre. Das
könnte als Beschränkung der Freimütigkeit erscheinen.
Aber das schade nichts; denn man bedürfe gar nicht
der Freimütigkeit, „wenn der Mensch auf dem Wege
der Schönheit weitergekommen ist".
22Q
Schiller hatte trotzdem ein lebendiges Gefühl, daß
er mit der Beschränkung auf die ästhetische Welt eine
anstößige Flucht aus einer großen Zeit vollzog. In
seinen Briefen „über die ästhetische Erziehung
des Menschen" rang er deutlich damit, diesen in-
neren Zwiespalt zu überbrücken. Er bog Kants
Ästhetik ganz unkantisch um. Kant hat niemals die
ästhetische Bildung als eine Vorschule des politisch -
sittlichen Handelns aufgefaßt. Gegen alle Bedenken,
ob die Menschheit schon reif sei für den Vernunftstaat,
richtete er die schlichte tapfere Erkenntnis: Der
Mensch müsse zuvörderst in Freiheit gesetzt werden,
wenn er die Freiheit gebrauchen lernen solle. Schiller
aber fand in dem Mißtrauen gegen die Freiheitsreife
der handelnden Menschen — sie durften nicht reif
sein in einem Lande des despotisch-patriarchalischen,
bureaukratisch-polizeilichen Regiments — das Mittel,
um die Notwendigkeit seiner gesellschaftlichen Exi-
stenz mit seinem revolutionären Idealismus zu ver-
söhnen: Wenn denn die Kunst ahnende Schöpferin
des Lebens sein sollte, mußte Erziehung durch sie
nicht die Voraussetzung revolutionärer Wirklichkeit
sein? So wurde der revolutionäre Idealismus der
Tat vertagt, und die Menschheit zunächst in die
Schule der Kunst geschickt. Statt der gemeinsamen,
in Wechselwirkung sich ergänzenden sittlich-politischen
und künstlerischen Arbeit, verdrängte die Ästhetik
die in der Praxis unerlaubte revolutionäre Hand-
lung, auch grundsätzlich. Die Kunst wurde die
Betätigung des revolutionären Idealismus.
Wohl fühlt Schiller, daß eigentlich „der philosophi-
sche Untersuchungsgeist durch die Zeit so nachdrück-
lich aufgefordert wird, sich mit dem vollkommen-
sten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer
wahren politischen Freiheit zu beschäftigen":
„Erwartungsvoll sind die Blicke des Philosophen wie
des Weltmannes auf den politischen Schauplatz ge-
230
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heftet, wo jetzt, wie man glaubt, das große Schicksal
der Menschheit verhandelt wird. Verrät es nicht
eine tadelnswerte Gleichgültigkeit gegen das Wohl
der Gesellschaft, dieses allgemeine Gespräch nicht zu
teilen ? . . . Eine Frage, welche sonst nur durch das
blinde Recht des Stärkeren beantwortet wurde, ist
nun, wie es scheint, vor dem Richterstuhle reiner Ver-
nunft anhängig gemacht."
Radikal gesteht Schiller in den ästhetischen Briefen
in einer fast an heutige sozialistische Kritik anklingen-
den Weise zu, daß es die unveräußerliche Aufgabe
sei, den „Naturstaat" der Gegenwart zu revolutio-
nieren, diesen Staat, dessen sinnlose, feindselige, ver-
derbliche Widersprüche er schildert :
„Der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom
Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschie-
den. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück de?
Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur
als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch
des Rades, das er antreibt, im Ohre, entwickelt er
nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die
Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er
bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wis-
senschaft."
Aber dieser Weg zur Freiheit kann, so biegt Schiller
die große Idee um, nicht sofort gegangen werden:
„In den niederen und zahlreicheren Klassen stellen
sich uns rohe gesetzlose Triebe dar, die sich nach
aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung ent-
fesseln, und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen
Befriedigung eilen . . . Die losgebundene Gesellschaft,
anstatt aufwärts in das organische Leben zu eilen,
fällt in das Eleraentarreich zurück."
Also muß die Menschheit erst erzogen werden, also
muß man, „um jenes politische Problem in der Er-
fahrung zu lösen, durch das Ästhetische den Weg
nehmen", „weil es die Schönheit ist, durch welche
231
man zu der Freiheit wandert". Dermaßen stieg die
Kunst zu ihrer höchsten Würde, und indem sie sich
vermaß, das Leben für den Zukunftsstaat zu erziehen,
stieß sie den Anspruch und die Kraft des Lebens selbst
in das erhabene Nichts eines stolzen Traums.
Zugleich zog sich die Kunst selbst aus der Unmittel-
barkeit des Lebens zurück. Durch Schleier und Hüllen
sprach sie in den Bildern einer phantastischen Ver-
gangenheit zur Zukunft.
Nicht als ob Schiller kein Auge für das lebendige
Dasein seiner Zeit gehabt hätte. Zu den philosophi-
schen Gedichten gestaltet er die Zustände seiner Zeit
zu klarster Anschaulichkeit. Er plant sogar ein Epos
unmittelbarer Gegenwart, eine Friedericiade; an der
Idee zog ihn an, daß ->,unsere Sitten, der feinste Duft
unserer Philosophie, unsere Verfassungen, Häuslichkeit,
Künste" auf Grund eines „tiefen Studiums unserer
Zeit" dargestellt werden könnten.
„Wie interessant müßte es sein (schreibt Schiller
an Körner), die europäischen Hauptnationen, ihr
Nationalgepräge, ihre Verfassungen, und in sechs bis
acht Versen ihre Geschichte anschauend darzustellen!
Welches Interesse für die jetzige Zeit! Statistik, Han-
del, Landeskultur, Religion, Gesetzgebung: Alles dies
könnte oft mit drei Worten lebendig dargestellt wer-
den. Der deutsche Reichstag, das Parlament in Eng-
land, das Konklave in Rom usw. Ein schönes Denkmal
würde auch Voltaire darin erhalten. Was es mir auch
kosten möchte, ich würde den freien Denker vorzüg-
lich darin in Glorie stellen, und das ganze Gedicht
müßte dies Gepräge tragen.44
Er gibt den Gedanken auf aus dem Grunde, weil
er den Charakter Friedrichs II. nicht lieb gewinnen
könne; „er begeistert mich nicht genug, die Riesen-
arbeit der Idealisierung an ihm vorzunehmen."
Der Zwang der Umstände, unter denen Schiller
232
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leben mußte, lenkt schließlich selbst unbewußt die
Forderungen seines künstlerischen Stils.
So ward die Bahn frei für die Schillerschändung der
bürgerlichen Epigonen. Auf ihn beriefen sich die
blutarmen Schwächlinge, welche aus der Rohheit der
Politik in die Stille der Kunst naserümpfend reti-
rierten. Der revolutionäre Idealismus, der die Zu-
kunftsgesellschaft gebieterisch fordert, wurde zur gau-
kelnden, unverbindlichen Phrase. Seine welthäm-
mcrnde Ethik wurde zu platter moralisierender Heu-
chelei. Vergebens hatte Schiller versucht, die Miß-
verständnisse abzuwehren, die ewigen Tugendschwät-
zer gehöhnt, die flachen Moralisten gegeißelt und
denen, die den Hunger mit moralischer Salbaderei zu
betrügen suchten, das umstürzende Wort zugerufen:
Würde des Menschen :
„Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen, gebt
ihnen zu wohnen.
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von
selbst.44
Der jämmerliche deutsche Liberalismus verkrüp-
pelte den großen Stürmer nach seinem kleinen Bilde.
VI.
In Schiller vereinigt sich alles, was das deutsche
Bürgertum an revolutionärer Kulturkraft aufgebracht
hat. Die deutsche bürgerliche Kultur erschöpft sich
in der deutschen Kunst, die zwar gerade deshalb sich
so mächtig entfaltete, weil sie eben der Ersatz einer
Kultur der Wirklichkeit war; die aber andererseits,
in sich genügsam und isoliert, schließlich nicht, wie
gedacht, Erziehung zur Wirklichkeit, sondern Ab-
lenkung von ihr ward.
In dem Geschick der bürgerlichen Revolution in
Deutschland wiederholt sich der Bruch, der Schillers
Kraft und Wirkung spaltete. Die Höhe erreicht Schil-
233
lers Mission in den Frühlingsstürmen von 1848, und
noch einmal in der tiefen Reaktionszeit ward die
Jahrhundertfeier seiner Geburt — 1859 ~ zu <*er
packenden Demonstration aller Deutschen, die in
seiner Kunst die Freiheit und Einheit Deutschlands
verwirklicht sahen.
Schillers Ruhm wäre sicherer gewahrt, wenn man
ihn unter den Märzgefallenen verachtet beseitigt
hätte. Die Märzfeier ist die Huldigung, die er ver-
diente. Wenn an diesem Mai aber die offizielle deut-
sche Welt den Namen des Großen vor ihre Blöße
zerrt, so hat diesen Verehrern Schiller selbst das
Brandmal aufgedrückt:
O wieviel neue Feinde der Wahrheit! Mir blutet
die Seele,
Seh ich das Eulengeschlecht, das zu dem Lichte sich
drängt.
[Mai 1905].
234
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Das klassische Elend.
Ein Nachwort zur Schillerfeier 1909.
I.
Die klassische Kunst Deutschlands, allumspannende
Ewigkeit und einsamste Verlorenheit zugleich spricht
ihr letztes Wort in der Formel der Entsagung. Da^
Reich der Geister, das geschaffen wurde, war eine
Utopie innerster Verzweiflung. Die Religion der
Kunst, zu der sich Goethe und Schiller bekannten,
war eine Flucht vor der Wirklichkeit, die sie nicht
meistern konnten, die sie kaum berühren durften. Sie
lebten in der größten Zeit der Menschheitsgeschichte
und gingen an ihr schaudernd erst und dann fast
gleichgültig vorüber. Sie lebten in Deutschland —
das war ihr Schicksal, das ihnen verwehrte, jemals
die Bedeutung für die Unmittelbarkeit des nationalen
Lebens zu gewinnen, wie mindere Dichter und stärkere
Kampfer, ein Voltaire oder Rousseau.
Auch Schillers Wesen hat im deutschen Gemein
bewußtsein keine Wurzel geschlagen. Er wie Goethe
hatten, nach den Sturmerfolgen der Jugendwerke,
kein Volk als Boden ihrer Saat, nicht einmal ein Publi-
kum, nur eine kleine Gemeinde von Gelehrten und
Höflingen. Schiller konnte seine Zeitschriften nicht
gegen die Journale des flachen Tagesgeschmacks be-
haupten, und wenn Goethes Iphigenie im Theater
gespielt wurde, das die Jahrmarktware füllte, war der
Zuschauerraum verödet. In der damaligen Bühnen
Statistik verschwinden die Namen der Klassiker unter
dem Wust der Modeware.
Schiller erkannte als seinen wahren Beruf die Er
235
ziehung des deutschen Bürgertums zur Humanität.
Wenn man die Festreden und Festartikel verfolgt,
die in diesen Tagen die Öffentlichkeit erfüllten, so
gewahrt man, daß Schiller für die bürgerliche Welt
heute entweder nur ein gelehrtes Interesse oder ein
dunkclmännischer Versuch ist, mit blassem idealisti-
schem Wortschwall die Schillersche Erziehung des
Menschengeschlechts zu hemmen. Kraftvoll und
lebendig ersteht heute Schiller dagegen im Proletariat,
dessen Presse dem Tag auch äußerlich mehr Aufmerk-
samkeit geschenkt hat, als die bürgerliche Welt, die ja
auch heute weiter denn je von der Berührung mit dem
Geist des klassischen Deutschtums entfernt ist. Das
Bürgertum redet von ästhetischer Bildung, aber be-
sitzt sie nicht, und ein Jahrhundert des Eigentums
von „Schillers sämtlichen Werken" hat es noch nicht
zu dem politischen Staatsbürgertum gereift, für das
die Kunst, nach der Anschauung Schillers, nur die
Vorschule sein sollte. Dagegen ist das Proletariat,
das die politisch-soziale Entwicklung der Menschheit
nicht abhängig macht von der Voraussetzung einer
vorher vollendeten Seelenerziehung, das nicht an den
Erzieher- und Beglückerberuf edler Genies und hoch-
herziger Staatsmänner glaubt, das vielmehr in der
freien Selbstbetätigung der Massen, in dem unmittel-
baren Kampf um die politische Freiheit und Macht
die Voraussetzung zu ihrer höheren Bildung entdeckt
hat, gerade durch die selbständige politische Arbeit
auch zur echten und innerlichen ästhetischen Selbst-
erziehung gelangt.
Das Proletariat erlebt heute Schiller, der von dem
Bürgertum hundert Jahre lang immer nur falsch
deklamiert worden ist. Es erlebt Schiller, indem es
in der Praxis seines Wirkens die Grundanschauung
des Dichters widerlegt!
Aber war diese Anschauung wirklich die innerste
Überzeugung, war sie vielleicht nicht doch nur An-
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passung an die äußeren Umstände, unter denen
Schiller zu leben gezwungen war? Eine Not, die zur
Weltanschauung sich empordrängte, um sich nicht
selbst gar so elend zu erscheinen? Bejahte Schiller
nicht etwa nur eine Verneinung, die ihm die politische
Wirklichkeit gebot? Mußte er nicht etwa deshalb
ein Bürger im Reiche des Schönen sein, weil es Hoch-
verrat gewesen wäre, ein Bürger im Reiche des poli-
tischen Handelns zu sein ?
Unsere deutschen Klassiker waren Stipendiaten der
Herren und Mächtigen, der Fürsten und Adligen; von
deren Gnade lebten sie. Ohne sie war ihre geistige
und materielle Existenz unmöglich. Sie waren ge-
fangen in dieser Welt und sie zahlten diese Gefangen-
schaft mit ihrer nicht immer bewußtlosen Anpassung.
Sie waren Schriftsteller in einem unfreien Lande bru-
taler Zensur, die zwar in den erleuchtetsten Zeiten
und Gegenden geneigt war, die gelehrtesten und tief-
sinnigsten Diskussionen über die letzten Fragen und
ewigen Rätsel zu tolerieren und die Behandlung der
Ewigkeitsprobleme zuzulassen, die aber die Ein-
mischung der Literaten in das Leben der Zeit streng
verpönte. Die freiesten deutschen Geister, die es den-
noch wagten, mußten sich einen dunklen Stil wählen,
um an den Paragraphen des Landrechts und an dem
Späherblick des Zensors vorüberzukommen. Sic durf-
ten eine Theorie in abstrakter Vorsicht aufstellen,
aber sie durften sie durch kein einziges Beispiel er-
hellen. Wir wissen, daß der alte Kant seinen jungen
Schüler Fichte beriet, wie er bei der Herausgabe
seiner ersten revolutionären Schriften durch die Form
der Darstellung dem Zensor eine Nase zu drehen
vermöchte.
Bei Schiller lassen sich solche inneren und äußeren
Einwirkungen des Zwangs, unter dem er lebte, nicht
so klar darstellen wie bei anderen. Aber das entschei-
dende Verhältnis zu der großen Weltwendc der fran-
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zösischen Revolution ist durch diesen Zwang beein-
flußt worden. Das Verhältnis zur französischen Re-
volution mußte bei Schiller anders sein wie bei Goethe.
Der Frankfurter Patriziersohn und Weimarer Geheim-
rat empfand für die ungehemmte Betätigung seines
freien Geistes, für das völlige Ausleben seines Fausti-
schen Drangs jede Veränderung der äußeren Beziehun-
gen als eine Störung. Dieser Prometheus mußte und
wollte an dem Felsen des deutschen Elends angeschmie-
det sein wie an einer sicheren geordneten Heimat, die
höchstens einmal durch einen kleinen Hausbrand er-
schreckt wurde; er brauchte dieses bürgerliche Be-
hagen eines kleinstaatlichen und kleinstädtischen Frie-
dens, dieses Ghetto des Hoflebens, um seine Kräfte
rundum entfalten zu können. Aber Schiller, der Sohn
der Not, der trotzige Rebell der „Räuber", hatte die
Seele eines politisch tätigen Menschen. Der Ehren-
bürger der französischen Revolution wäre in Frank-
reich aus dem Traumreich des Schönen in den Kon-
vent gestiegen. In Deutschland verzärtelte ihn die
Welt, in der er wirkte, und so mußte er der Erzieher
für eine ferne Zukunft, ein enthusiastischer Fürsten-
berater sein, statt ein handelnder Kämpfer für das
Dasein seiner Zeit zu werden. Auch die schlimmsten
Grausamkeiten der französischen Revolution behalten
einen Hauch des Erhabenen, leuchten groß auf in
dem Widerschein der ungeheuren Götterdämmerung.
Aber die stummen Greuel des deutschen Jammers
haben nichts Großes, nichts Versöhnendes und Er-
hebendes, und sie sind grausamer in ihrer verächt-
lichen Kleinheit, wie die Blutbrände jenseits des
Rheins.
Als die Revolution ausbrach, traf sie Schiller in
einem Zustand kläglichsten Elends. Der weltberühmte
Dichter der Räuber war ein kleiner thüringischer Pro-
fessor, der zweihundert Taler Jahresgehalt bezog,
unter seinen Schulden erstickte und unter körperlichen
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Leiden zusammenbrach. Alles was er geschrieben
hatte und noch schreiben mußte, tat er in harter
Fron, um des Brotes willen. Nicht er kommandierte
die Poesie, sondern die Misere kommandierte den
Genius. Die Anfänge der französischen Revolution
interessieren ihn, aber sie bewegen ihn doch nicht
allzu stark. Er verhält sich sympathisch und abwar-
tend. Die Sorge seines Herdes bewegt ihn tiefer.
Ein paar hundert Taler sicheren Einkommens sind für
ihn eine bedeutsamere Schicksalsfrage, als drüben die
Weltumwälzung. Er ist am Ende seiner Kraft. Er
wird von körperlichen Schmerzen gequält. So sieht
er in den vulkanischen Erschütterungen der Revolu-
tion, angewidert, bald nur die Ausbrüche elementarer
Roheit, schreckliche Abirrungen von dem großen Ver-
nunftreich menschlicher Freiheit, an das er glaubt.
Die Hinrichtung des französischen Königs ist für den
alten Republikaner ein Greuel.
Und gerade in dieser Zeit erlebt nun auch Schiller
seine persönliche Revolution. Sie hat mit der franzö-
sischen nur das eine gemeinsam, daß auch seine Be-
freiung aus dem Ausland kam. Sonst ist es nur die
erbärmliche Revolution von ein paar tausend Talern,
die ihm ein dänischer Prinz gewährte. Schiller war
damals so leidend, daß bereits sein Tod in der Weit
verkündet wurde, und diese Erschütterung, die in
Kopenhagen die Todesnachricht hervorrief, wurde
der Anlaß, daß ihm der Prinz von Augustenburg ein
Jahresgehalt von tausend Talern aussetzte, das ihm
nun einige Freiheit des Schaffens ermöglichte. So kam
für Schiller die Freiheit als das fremde Gnaden-
geschenk eines Fürsten, und so sah er auch die Mensch-
heitsrevolution schließlich im Bilde eines fürstlichen
Geschenks.
Was Schiller an revolutionären Ideen und politischer
Sehnsucht in sich barg, versuchte er während der fran-
zösischen Revolution in Briefen an seinen fürstlichen
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Freund auszuströmen. Aus diesen Schreiben formte
er dann die „Briefe über die ästhetische Erziehung
des Menschen", die er für sein hervorragendstes und
allein der Unsterblichkeit würdiges Werk hielt. Ge-
rade das Schicksal dieser Briefe aber zeigt, wieviel
auch Schiller verbergen und abschwächen mußte.
Die Briefe an den Augusten burger setzen mit einem
vollen Widerhall der großen Revolution ein, verstum-
men dann über die lebendigen Fragen der Menschheit
und diskutieren schließlich die ästhetische Erziehung
als Mittlerin und Bildnerin des tätigen Willens zum
Reich der Vernunft. Indem Schiller die Gedanken
der Kantischen Ethik ausspinnt, weist er der Kunst
die Aufgabe zu, durch ihre Einwirkung auf Gefühl
und Phantasie den menschlichen Willen erst geschmei-
dig zu machen für die Betätigung der Gesetze freier
Vernunft, in Staat und Gesellschaft. Als Schiller
schließlich die Privatbriefe für die Öffentlichkeit um-
arbeitete, dämpfte er die revolutionären Akkorde jener
ersten Briefe, so daß sie heute nur noch wie aus weiter
Ferne dumpf hallen.
Das Schicksal dieser Briefe ist ein grelles Zeugnis
des klassischen Elends.
II.
Im Sommer 1790 besuchte der dänische Dichter
Baggesen den 31jährigen Schiller. In seinem Tage-
buch zeichnet er den Zustand des Dichters: Hoch
und bleich mit seinem gelben unfrisierten Haar und
mit durchbohrendem Blick in dem fast starrenden
Auge. „All die angenommene Munterkeit konnte
einen tiefen Kummer nicht verdecken." Und Bag-
gesen fügt hinzu: „Schiller ist ein feuerspeiender Berg,
dessen Haupt mit Schnee bedeckt ist. Er scheint kalt;
in seinem ganzen Benehmen, sogar gegen seine ver-
trautesten Freunde, und allermeist gegen seine Gat-
tin, ist Kälte. In Gesellschaft ist er durchaus Nichts,
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durchaus nicht unterhaltend, durchaus nicht witzig
und zumeist stumm ... Er sagt niemals seiner Frau
oder einem seiner Freunde ein liebevolles Wort, son-
dern ist trocken, kalt und verdrießlich; in seinen
Schriften dagegen ist er ein ganz anderer Mensch, und
in allen seinen Briefen ist Geist und Herzlichkeit.
Wenn nicht die Not ihn gezwungen hätte, würde er
es sicher ganz aufgegeben haben, nicht zu schreiben,
aber etwas herauszugeben. Paupertas impulit audax!
(Die Armut hat ihn getrieben.) Sonst würden wir
nicht ein einziges von seinen letzten herrlichen Wer-
ken bekommen haben, nicht einmal Don Carlos . . .
Unzufrieden mit allem was er hervorbringt, würde
er es im Pulte liegen lassen, wenn nicht der Magen
andere Launen hätte als der Kopf."
Aus solchem Jammer rettete ihn das Jahresgehalt
des Prinzen von Augustenburg, das Baggesen erwirkte.
Dieser Prinz scheint ein Politiker des Stils gewesen
zu sein, wie sein Nachkomme, der heutige Ernst
Günther von Schleswig-Holstein, als Sozialpolitiker
dilettiert. Er soll nebst seiner Frau auf die Nachricht
der Pariser Revolution, der Erklärung der Menschen-
rechte Freudentränen vergossen haben. Der Marquis
Posa war sein Mann und überschwänglich schreibt sein
Freund Baggesen von ihm: „Wenn uns dieser Prinz
nicht gewiß ist, so können alle jetzigen und im nächsten
Jahrhunderte künftigen Posas sich mit allen ihren
Plänen nach dem Tollhause begeben; denn eine Seele
wie die seinige wiederholt die Natur selten unter Mil-
lionen und vielleicht nie unter Hunderten." Aber
Baggesen schließt an diese Schwärmerei eine Ent-
schuldigung, die im voraus erklärt, warum aus den
revolutionären Freudentränen möglicherweise auch
nicht die bescheidenste Tat befruchtet werden könnte :
„Wann war aber der Weltbürger, der Freiheit und
Gleichheit, Aufklärung und allgemeines Menschenglück
tätig liebt, an einem Hofe in einer bequemen Lage ?"
16 Eisoer, Gesammelte Schriften. II.
241
Im November 1791 schrieb der Prinz und der däni-
sche Minister Ernst Schimmelmann gemeinsam einen
vornehm und ehrfurchtsvoll gehaltenen Brief nach
Jena: „Zwei Freunde, durch den Weltbürgersinn mit-
einander verbunden, erlassen dieses Schreiben an Sie,"
edler Mann!" so begann das Schreiben. Dann heißt
es: „Ihre durch allzuhäufige Anstrengung und Arbeit
zerrüttete Gesundheit bedarf, so sagt man, für einige
Zeit einer großen Ruhe . . . Allein Ihre Verhältnisse,
Ihre Glücksumstände verhindern dies, sich dieser Ruhe
zu überlassen. Wollten Sie uns wohl die Freude gönnen,
Ihnen den Genuß derselben zu erleichtern ? Wir
bieten Ihnen zu dem Ende auf drei Jahre ein jähr-
liches Geschenk von tausend Talern . . . Wir kennen
keinen Stolz als nur den, Menschen zu sein, Bürger
in der großen Republik, deren Grenzen mehr als das
Leben einzelner Generationen, mehr als die Grenzen
eines Erdballs umfassen." Zugleich bot man ihm
eine Anstellung im dänischen Dienst an. Das war der
Stil aufgeklärter Prinzen und Minister am Anfang der
französischen Revolution. Aber es war nur Stil!
Schiller fühlte sich erlöst. „Ich bin auf lange, viel-
leicht auf immer aller Sorgen los, ich habe die längst
gewünschte Unabhängigkeit des Geistes, ich habe die
nahe Aussicht, mich ganz zu arrangieren, meine Schul-
den zu tilgen und unabhängig von Nahrungssorgen
ganz den Entwürfen meines Geistes zu leben." So
schreibt er an seinen Freund Körner, der in einer An-
wandlung revolutionären Trotzes antwortet: „Eine
traurige Empfindung mischt sich bei mir in die Freude
über Dein Glück — daß wir in einem Zeitalter und
unter Menschen leben, wo eine solche Handlung an-
gestaunt wird, die doch eigentlich so natürlich ist."
„Überrascht und betäubt" von dem Brief nennt
Schiller sich in seinem Dank an Baggesen. Die un-
geheure Bedeutung der tausend Taler für sein Schick-
sal zeichnet Schiller in dem trüben Satz: „Von der
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Wiege meines Geistes an bis jetzt, da ich dieses schreibe,
habe ich mit dem Schicksal gekämpft und seitdem ich
die Freiheit des Geistes zu schätzen weiß, war ich
dazu verurteilt, sie zu entbehren."
Die Gabe des Prinzen beeinflußt wohl auch die
Stimmung Schillers über die große Revolution. Wie
anders ließ sich doch der Fortschritt der Menschheit
erzeugen, wieviel leichter und edler, wenn die Mäch-
tigen der Welt selbst das Glück der Menschheit her-
vorbringen! Die Baumeister der Zukunft sind da; der
Augustenburger beweist es. Nun handelt es sich nur
darum, die Völker zu erziehen, daß sie reif würden für
die revolutionäre Gesinnung solcher Aufklärungsprin-
zen. Es scheint, als ob in Schiller die Hoffnung keimte,
er könne als Prinzenerzieher vielleicht Beirat werden
in der großen Umwandlung des Menschengeschlechts,
das nicht durch Blut und Gewalt, sondern durch sitt-
liche und künstlerische Bildung zum Reiche der Frei-
heit gelange. Ist für den Poeten, der den Marquis
Posa erdachte, nun etwa der herrliche Augenblick ge-
kommen, von der Bühne ins Leben hinabzusteigen
und ein Posa der Tat zu werden?
Solche Ziele mögen Schiller vorgeschwebt haben,
als er daran ging, seinem prinzlichen Gönner jene
Briefe zu schreiben, in denen er sein Programm für
die Erneuerung der Menschen darlegte. Es sind
Briefe über Ästhetik — scheinbar. Er entwickelt
dem Augustenburger seine Gedanken, wie es die Auf-
gabe der Kunst wäre, die Menschen reif zu machen
für das Zukunftsreich der Freiheit und Gleichheit
Die Ethik allein leistet diesen Dienst nicht, sie wirkt
nur auf die Vernunft. Es bedarf der Vermittlung des
künstlerisch erregten Gefühls, um das Gute tätig zu
wollen.
Ein Teil der Originale der Briefe ist erhalten und
man kann sie heute vergleichen mit jenen Briefen über
die ästhetische Erziehung der Menschen, wie sie 1795
243
dann in den „Hören** veröffentlicht wurden. Schiller
beginnt den Briefwechsel mit starkem revolutionären
Pathos, hat doch der Adressat Freudentränen wegen
der Verkündigung der Menschenrechte vergossen! Er
entschuldigt sich, daß er seine Ideen von Schönheit
und schöner Kunst in den Briefen vorzulegen beab-
sichtige. Gibt es nicht wichtigere Dinge, über die
passender zu verhandeln sei ? Die Kunst sei eine Toch-
ter der Freiheit. „Jetzt aber herrscht das Bedürfnis
und der Drang der physischen Lage, die Abhängigkeit
des Menschen von tausend Verhältnissen, die ihm
Fesseln anlegen.** Besonders sei es das politische
Schöpfungswerk, was beinahe alle Geister beschäftigt.
„Die Ereignisse in diesem letzten Dezennium des
18. Jahrhunderts sind für den Philosophen nicht we-
niger auffordernd und wichtig, als sie es sonst nur
für den mithandelnden Weltmann sind, und Ew.
Durchlaucht könnten also mit doppeltem Recht er-
warten, daß ich diesen merkwürdigen Stoff zum Ge-
genstand der Schriften und der Unterhaltung machte . . .
Ein Gesetz des weisen Salomon verdammt den Bürger,
der bei einem Aufstand keine Partei nimmt. Wenn
es je einen Fall gegeben hat, auf den dieses Gesetz
könnte angewandt werden, so scheint es der gegen-
wärtige zu sein, wo das große Schicksal der Menschheit
zur Frage gebracht ist. . . . Eine geistreiche, mutvolle,
lange Zeit als Muster betrachtete Nation hat ange-
fangen, ihren positiven Gesellschaftszustand zu ver-
lassen und sich in den Naturstand zurückzuversetzen,
für den die Vernunft die alleinige und absolute Gesetz-
geberin ist. . . . Eine Angelegenheit, über welche sonst
nur das Recht des Stärkeren und die Konvenienz zu
entscheiden hatte, ist vor dem Rieht arstuhl reiner
Vernunft anhängig gemacht.** Jeder selbstdenkende
Mensch müsse sich als Beisitzer jenes Vernunfts-
gerichts ansehen. „Es ist nicht nur seine eigene Sache,
welche bei diesem großen Rechtshandel zu entschei-
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den hat, sondern es wird auch nach den Gesetzen
gesprochen, die er als mitbestellter Repräsentant der
Vernunft zu diktieren berechtigt und aufrecht zu
erhalten verpflichtet ist." So schrieb Schiller
dem Prinzen am 13. Juli 1793. Bei der Veröffent-
lichung aber ließ er die letzten Worte, die Verpflich-
tung, diese Mitbestimmung der Gesetzgebung auf-
recht zu erhalten, weil allzu politisch-aktiv, ab-
blassend fort.
Schiller erklärt dann im weiteren Verlauf dieses
Briefes: Wäre in d^r französischen Revolution wirklich
die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen
und die wahre Freiheit zur Grundlage des Staats-
gebäudes gemacht worden, „so würde ich auf ewig
von den Musen Abschied nehmen und dem herrlich-
sten aller Kunstwerke, der Monarchie der Vernunft,
alle meine Tätigkeit widmen". Aber er glaubt nicht
an diese Regeneration im Politischen, die Ereignisse
der Zeit hätten ihm vielmehr alle Hoffnung dazu auf
Jahrhunderte genommen. „Der Versuch des französi-
schen Volkes, sich in seine heiligen Menschenrechte
einzusetzen und eine politische Freiheit zu erringen,
hat bloß das Unvermögen und die Unwürdigkeit des-
selben an den Tag gebracht, und nicht nur dieses
unglückliche Volk, sondern mit ihm auch einen be-
trächtlichen Teil Europas und ein ganzes Jahrhundert
in Barbarei und Knechtschaft zurückgeschleudert.
Der Moment war der günstigste, aber er fand eine
verderbte Generation, die ihn nicht wert war und
weder zu würdigen, noch zu benützen wußte."
Die Welt ist zu verderbt, um die Freiheit schaffen
zu können. „In den niederen Klassen sehen wir nichts
als rohe gesetzlose Triebe, die sich nach aufgehobenem
Bund der Ordnung entfesseln, und mit unlenksamer
Wut ihrer tierischen Befriedigung zueilen." Noch
greller ist aber die Zeichnung der herrschenden
Klassen, der „zivilisierten" Klassen. Deren Verderbnis
245
ist schlimmer. „Der sinnliche Mensch (das heißt der
ungebildete Mensch der ,niederen Klassen*) kann
nicht tiefer als zum Tier herabstürzen; fällt aber der
aufgeklärte, so fällt er bis zum Teuflischen herab, und
treibt ein ruchloses Spiel mit dem Heiligsten der
Menschheit." Diese Sätze sind im Druck gemildert,
der folgende ganz gestrichen worden: „Daher die
Beschränktheit im Denken, die Kraftlosigkeit im Han-
deln, die klägliche Mittelmäßigkeit im Hervorbringen,
die unser Zeitalter zu seiner Schande charakterisiert."
Auch das Schlußergebnis dieser Betrachtung fehlt im
Druck: „Politische und bürgerliche Freiheit bleibt
immer und ewig das heiligste aller Güter, das wür-
digste Ziel aller Anstrengungen, und das große Zen-
trum aller Kultur — aber man wird diesen herrlichen
Bau nur auf dem festen Grund eines veredelten Cha-
rakters aufführen, man wird damit anfangen müssen,
für die Verfassung Bürger zu erschaffen, ehe man den
Bürgern eine Verfassung geben kann."
So leitet der Brief zu der Frage der ästhetischen
Erziehung über. Aber Schiller verweilt so leiden-
schaftlich bei den politischen Zeit begebe nheiten, daß
man diese Darlegungen doch wohl für einen Versuch
halten muß, zu tasten, ob sich der prinzliche Adressat
nicht schließlich lieber über die Probleme der Revo-
lution unterhalten möchte. Aber der Prinz der men-
schenrechtlichen Tränen antwortet wenig ermutigend.
Er stimmt mit merkwürdiger Eile Schiller, von dessen
kantischen Auffassungen er sonst nichts wissen will,
gerade in diesem Punkte zu: „Willig trete ich Ihrer
Mei nung bei, daß das Reich der politischen Freiheit
nocli zu frühzeitig ist. Es fehlt an Priestern, dieser
Gottheit würdig. Nur Freigeborene können ihren
Dienst versehen, und die Menschen unseres Zeit-
alters sind nicht einmal Freigelassene. Ich bin völlig
überzeugt, daß jeder Versuch, ohne politische Ketten
umherzuwandeln, uns mißlingen wird. Die edleren
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Menschen, die besseren Köpfe müssen daher, nach
wie vor, mit großmütiger Entsagung des selbsteigenen
Genusses, sich begnügen, Samen auszustreuen, vorzu-
bereiten, einzelne in das lichtvolle Reich der Vernunft
und Freiheit einzuführen, dessen Bürger sie sind, und
dem keine Verfolgungen, kein Despotismus sie ent-
reißen kann."
Das war nun freilich ein edelmütiger Verzicht des
Prinzen auf die Freiheit — der anderen. Welche
Hochherzigkeit für einen Vertreter der herrschenden
Klasse, blutenden Herzens dem Traum entsagen zu
müssen, daß sie mit dem Volke ihre Rechte teilen
dürfen ! Es beweist, wie stark noch der ewig deutsche
Untertanengeist in unserer heutigen bürgerlichen Ge-
lehrtenzunft herrscht, daß man solchen bequemen,
für ihn selbst sehr vorteilhaften Prinzen- Idealismus
allgemein höchlichst bewundert!
Schiller versteht den abweisenden Wink des Augusten-
burgers sehr wohl, und er kommt auf die Politik nicht
mehr zurück. Immerhin zeigt der nächste Doppel-
brief noch revolutionäre Züge und färbt mit dem
Blut des Lebens. Aber eine Antwort des Prinzen auf
diesen Brief kennen wir nicht; nach einem Schreiben
des Prinzen an seine Schwester zu schließen, das wir
besitzen, war Seine Hoheit von den Schillerschen
Spekulationen nicht gerade sehr entzückt. Und die
weiteren Briefe Schillers verlieren sich dann völlig
in lebensferne Abstraktionen.
Eben der Brief vom n. November 1793, in dem
Schiller zum letzten Male seine radikale Gesinnung
äußert, ist dann gerade in seinen entscheidenden
Stellen bei der Veröffentlichung verstümmelt worden.
Schroff weist Schiller die Vormundschaft der Kirche
ab, dieser von den Menschen mit hungrigem Glauben
ergriffenen Formeln, „welche der Staat und das
Priestertum für diesen Fall (des Erwachens zu höheren
Bedürfnissen des Kopfes und Herzens) in Bereitschaft
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halten, und womit es ihnen von jeher gelungen ist, das
erwachte Freiheitsgefühl ihrer Mündel abzufinden".
Die Befriedigung der sozialen Notdurft ist die erste
Vorbedingung der Kultur, dann die schrankenlose Auf-
klärung des Geistes:
„Man wird immer finden, daß die gedrücktesten
Völker auch die borniertesten sind; daher muß man
das Aufklärungswerk bei einer Nation mit Verbesse-
rung ihres physischen Zustandes beginnen. Erst muß
der Geist vom Joch der Notwendigkeit losgespannt
werden, ehe man ihn zur Vernunftfreiheit führen
kann. Und auch nur in diesem Sinn hat man recht,
die Sorge für das physische Wohl der Bürger als die
erste Pflicht des Staates zu betrachten. Wäre das
physische Wohl nicht die Bedingung, unter welcher
allein der Mensch zur Mündigkeit seines Geistes er-
wachen kann; um seiner selbst willen würde es bei
weitem nicht so viel Aufmerksamkeit und Achtung ver-
dienen. Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er
warm wohnt und sich satt gegessen hat,
aber er muß warm wohnen und satt zu essen
haben, wenn sich die bessere Natur in ihm
regen soll."
Verdient diese Menschenklasse, die ihre Kräfte im
Kampf mit der physischen Not verzehrt, mehr Mit-
leid als Verachtung, so gibt es für die Menschen, die
keine Not leiden, keine Entschuldigung, wenn sie zu feig
und zu weichlich sind, um der Vernunft zu dienen.
Die geistig-moralische Zersetzung dieser herrschenden
Gesellschaft zeigt sich in ihrem Haß gegen die Auf-
klärung, in ihrer Flucht vor dem Tageslicht deutlicher
Erkenntnis :
„Das Unbestimmte ist ihnen gerade recht, weil sie
dadurch überhoben werden, sich nach den Dingen
zu richten, und sich einbilden können, der Natur das
Gesetz vorzuschreiben. Sie fliehen die Aufklärung nicht
bloß um der Mühe willen, womit sie erworben werden
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muß; sie fürchten sie ebensosehr um der Resultate
willen, zu denen sie führt. Sie sind bange, die Lieb-
lingsideen aufgeben zu müssen, denen nur die Dunkel-
heit günstig ist, und mit ihren Wahnbegriffen zugleich
die Grundsäulen einstürzen zu sehen, die das morsche
Gebäude ihrer Glückseligkeit tragen. Wie viele Men-
schen gibt es, deren ganzes Lebensglück auf einem
Vorurteil ruhet, das bei dem ersten ernsthaften An-
griff des Verstandes zusammenfallen muß! Wie viele
gibt es, die ihren ganzen Wert in der Ge-
sellschaft auf ihren Reichtum, auf ihre
Ahnen, auf körperliche Vorzüge gründen! Wie viele
andre, die mit zusammengerafften Gedächtnis-
schätzen, mit einem unschmackhaften Witze, mit
einer Scheingröße des Talents prunken, und im Wahn
einer Wichtigkeit glücklich sind, die keine Probe auf-
halten würde."
All diese kraftvollen Sätze der ursprünglichen Briefe
fehlen in der Horen-Ausgabe, die später in die Samm-
lung seiner Werke überging, wie auch jede Anspielung
auf aktuelle geschichtliche Zustände und Ereignisse
ängstlich vermieden wurde. So fiel die Bemerkung:
„Ich darf Eure Durchlaucht nicht erst an das Beispiel
Frankreichs erinnern, das die Epoche seiner Verfeine-
rung von der Epoche seiner völligen Unterjochung
datiert, und in der Person seines vierzehnten Ludwigs
zugleich den Wiederhersteller des Geschmacb verehrt
und den furchtbarsten Unterdrücker seiner Freiheit
verabscheut."
Die vorsichtige Redaktion der Briefe an den Au-
gustenburger für die „Hören" geschah nicht aus in-
neren Gründen. Wir wissen, daß Schiller alles Poli-
tische aus seiner Zeitschrift nur ausschied, um keine
Scherereien mit der Zensur zu haben. Darum die
Milderungen und Striche. Der lebendige Tag wurde
verdunkelt, damit die den Machthabern ungefährliche
Ewigkeit um so heller zu erstrahlen vermöchte.
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Gerade diese, unter eisernem Zwang, zugestandene
Entfärbung der Weltanschauung Schillers wurde für
sein Nachwirken verhängnisvoll. Das Bürgertum nahm
nur noch die blaß schimmernden Formeln und ver-
schüttete den starken, wenn auch in seinem tiefsten
Wesen übersponnenen Inhalt ganz und gar. Der
Fluch des deutschen Elends, der auf Schillers Dasein
lastete, die seufzenden Konzessionen an die Bedin-
gungen seiner Zeit — gerade dieser verstümmelte
Schiller ward dem deutschen Bürgertum zum blut-
losen Worterzieher. Der revolutionäre Idealismus
Schillers wurde zu jenem Festreden-Bombast, der die
Ideale feiert, die zu verwirklichen niemand wagen darf,
dieweil das sträflicher — Materialismus wära. Das
Elend der Klassiker wurde für die Epigonen zum klas-
sischen Elend, und erst die revolutionäre Bewegung
hat Schiller aus dieser Verschüttung befreit, die einst
Lassalle mit den unvergänglichen Worten malte:
„So ist es denn gekommen, daß die Großen und Guten
unserer Nation, unsere Denker und Dichter, wie Kra-
niche über den Häuptern dieses Bürgertums dahin-
geflogen sind und nichts von ihnen auf diese Masse
gekommen ist, als der leere Schall eines Namens!
Der Bürger feiert unserer Denker Feste — weil er nie-
mals ihre Werke gelesen! Er würde sie verbrennen,
wenn er sie gelesen hätte. Denn diese Schriften sind
von der herbsten Verachtung gegen dieses Bürgertum
gefüllt ! Er schwärmt für unsere Dichter, weil er einige
Verse von ihnen zitieren kann oder dies und jenes
Stück von ihnen gesehen und gelesen, aber sich nie-
mals in ihre Weltanschauung hineingedacht hat !"
[November 1909.]
250
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Der punktierte Goethe.
Vom Privateigentum an Kulturwerten.
In den Seminaren deutscher Universitäten, deren
Professoren Beziehungen zum Weimarer Goethearchiv
haben, pflegt man den aufhorchenden Studenten mit-
unter Proben von Goetheschen Versen zu geben, die
nur den Intimen des verschlossenen Schatzes zugäng-
lich sind. Selbst die unendliche Bändezahl der nur
für Millionäre berechneten Weimarer Goetheausgabe
bringt diese Äußerungen Goetheschen Urwesens nicht ;
nur in dem gelehrten Beiwerk dieser Ausgabe sind
Proben und Andeutungen — lediglich für die Kenner
der germanistischen Tabulaturen auffindbar — ver-
streut, aber keineswegs vollständig.
Diese willkürliche Konfiskation Goethescher Schöp-
fungen ist nicht der Sorge entsprossen, daß nur Wert-
voiles unters Volk kommen solle. Ganz im Gegenteil.
Man hat jeden Papierfetzen veröffentlicht, auch wenn
auf ihm der gleichgültigste, leerste Tand verzeichnet
war. Jene unterdrückten Werke aber gehören zu dem
Gewaltigsten, was Goethe hervorgebracht, und gerade
ihre die Grenzen allen eingepferchten Menschentums
sprengende Freiheit hat die Vormünder des Genius
und seiner Gemeinde gereizt, die Eingebungen der
kühnsten Schrankenlosigkeit zu versperren. Die in-
nersten Auffassungen des Dichters vom christlichen
Kirchentum und vom menschlichen Geschlechtswesen
offenbaren sich in diesen der Öffentlichkeit entzogenen
Zeugnissen, und die feige und niedrige Angst vor der
unbefangenen Regung des Großen hat die Verstüm-
melung des Goethewerks unternommen.
*5*
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Es gibt nur zwei Möglichkeiten, Goethe gerecht zu
werden. Entweder begnügt man sich, Goethes Werke
immer wieder so zu veröffentlichen, wie er sie selbst
in seiner Ausgabe letzter Hand unter die Leute gehen
lassen wollte; oder — hält man sich einmal für be-
fugt, den ganzen Goethe, wie ihn sein Nachlaß
gestaltet, zum Gemeingut zu machen, dann haben wir
ein Recht, wirklich den ganzen Goethe zu verlangen,
in seiner ganzen Unbefangenheit, und nicht einen
von Zwergenhand ausgewählten, zensurierten Goethe.
Nur der künstlerische Wert darf für die Veröffent-
lichung entscheidend sein, niemals die sittliche Ge-
sinnung, die Prüderie und Frömmelei nach ihren
Maßen zurecht zu schnitzen sich vermißt.
Diese freche Willkürherrschaft einzelnerzu-
fälliger Personen über die höchsten geistigen
Güter ist ein deutscher Skandal, der endlich
einmal die Gesetzgeber bewegen sollte. Die
Entziehung kulturellen Gemeinbesitzes durch angemaß-
tes Privateigentum ist die unerträglichste Erscheinung
der besitzmonopolistischen Wirtschalt überhaupt.
Es sind besonders drei Werke, an denen die Konfiska-
toren und Zensoren sich vergangen haben, die Werke,
in denen Goethe sein Letztes auszusprechen begehrte
und in denen er zugleich beweist, wie die künstlerische
Form jeden Inhalt adelt, wie nichts Menschliches der
Kunst an sich fremd zu sein braucht: Die römischen
Elegien heidnischer Sinnlichkeit sind immer noch
nicht vollständig veröffentlicht, und wer da etwa das
Gebet an die Götter, den Dichter vor der Syphilis zu
schützen, kennt, der ahnt, welche Herrlichkeiten
reinster Kunst hier die unkeusche Einfältigkeit ge-
raubt hat. Man hat weiter von den Faustfragmen-
ten vieles unterschlagen, Verse und Szenen, in denen
Goethe den mephistophelischen Unflat zu unerhört
kühnen Weltphantasien in dämonischer Bildkraft ge-
staltet. Und endlich hat man in den Venetianischen
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Epigrammen, den holdesten Verwegenheiten eines
freien Geistes, barbarisch gehaust.
Das Verfahren der Goethe-Hüter läßt sich jetzt
anschaulich erkennen, seitdem kürzlich der Leipziger
Verlag von Zeitler die Venetianischen Epi-
gramme in einer besonderen Ausgabe herausgegeben
hat. Diese Ausgabe will alles zusammenstellen, was
von den Venetianischen Epigrammen zu ermitteln ist.
Es sind 54 Stücke mehr veröffentlicht, als Goethe
selbst in Druck gegeben hat. Aus den gelehrten Noten
der Weimarer Ausgabe, aus Inhaltsverzeichnissen und
Registern, selbst aus einem Belegbeispiel des Grimm-
schen Wörterbuchs der deutschen Sprache sind Bruch-
stücke mühsam zusammengetragen worden. Und doch
sind alle Epigramme vollständig im Goethearchiv vor-
handen. Aber, so klagt der Herausgeber dieser Samm-
lung, „das deutsche Volk ist nicht reif, den Dichter
der Venetianischen Epigramme ganz zu besitzen".
Das ist wenigstens die Meinung der leider maßgeben-
den Stelle in der Verwaltung des Goethe- Archivs zu
Weimar, die einen beträchtlichen Teil der hand- .
schriftlich vorhandenen Venetianischen Epigramme
von dem Abdruck in der Weimarer Goethe- Ausgabe
ausschloß. Man erzählt, daß diese „nicht mitteilbaren"
Epigramme von der verstorbenen Großherzogin von
Sachsen, der ersten Eigentümerin des Archivs, eigen-
händig unter Verschluß und Siegel genommen und
seitdem von keines anderen Menschen Auge wieder
erblickt seien".
Ein paar Stücke hat ein Zufall durchschlüpfen lassen,
eines der „unanständigsten" (im Sinne der erlauchten
Dame) offenbar, weil sie nicht lateinisch verstand.
Sonst deuten nur ein paar Anfangsworte auf den ver-
siegelten Reichtum hin und dann folgen — Punkte.
Die geistige Leistung der Weimarer Goethediener be-
steht offenbar darin, das Leben durch Zensurpunkte
zu ersetzen.
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Goethe hat die Venetianischen Epigramme so ge-
liebt, daß er das Büchlein sich ins Heidengrab ge-
wünscht hat:
„So umgebe denn spät den Sarkophagen des Dichters
Diese Rolle, von ihm reichlich mit Leben geschmückt."
Aber die fromme Zucht hat dann die Grabschändung
verübt und die Rolle zertrümmert. Und so finden wir
in der Sammlung unter Nr. 6 ein Epigramm, das die-
ses Aussehen hat:
In dem engsten der Gäßchen . . .
In dem engsten der Gäßchen schlüpften augen-
scheinlich die hurtigen Lazerten, die Goethe mehr
achtete als alle Herzoginnen der Erde.
Das von Goethe selbst veröffentliche n. Epigramm
— Frau Sophie hätte es sicher sonst auch versiegelt! —
gewinnt erst Farbe, wenn man die folgenden des
Nachlasses kennt. Aus den gewöhnlichen Ausgaben
kennen wir die Verse:
Wie sie klingeln die Pfaffen ! Wie angelegen sie's machen
Daß man komme, nur ja plappre, wie gestern so heut !
Scheltet mir nicht die Pfaffen; sie kennen der Menschen
Bedürfnis!
Denn wie ist er beglückt, plappert er morgen wie heut !
Darauf folgen eine ganze Anzahl „nicht mitteilbarer"
Epigramme:
Höllengespenster seid ihr und keine Christen, ihr
Schreier,
Die ihr den lieblichen Schlaf mir von den Augen ver-
scheucht !
•
«54
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Heraus mit dem Teile des Herrn, heraus mit dem Teile
des Gottes
Als die heiligen Reste Gründonnerstag Abends zu zeigen,
In Sankt Markus ein Schelm über der Bühne sich wies.
„Offen steht das Grab! Welch herrlich Wunder! Der
Herr ist
Auferstanden !" Wer glaubt's ? Schelmen, ihr trugt ihn
ja weg.
Töricht war es, ein Brot zu vergotten, wir beten ja alle
Um das tägliche Brot: „geb es der Himmel uns heut."
•
Warum macht der Pfaffe so viele tausend Gebärden,
Und verscheucht euch nicht wieder zur Hölle zurück ?
Furchtbares laßt der Anfang ahnen:
Sauber hast du dein Volk erlöst . . .
In den Lesarten der Weimarer Ausgabe war man so
vorsichtig, nur die ersten fünf Worte abzudrucken, die
gar keinen Fingerzeig auf den Inhalt geben. Das auf-
klärende sechste Wort „erlöst" wurde aus einem Re-
gister ermittelt.
Und was mögen die Punkte im folgenden Epigramm
verbergen :
Krebse mit nackten Hintern
255
Christ und Mensch ist eins, sagt Lavater richtig! Die
Christen
Decken die nackende Scham weislich mit Menschen-
vernunft.
Freien Menschen gezieme es nicht, Christ zu sein,
heißt es in einem anderen Epigramm.
Von Pfaffen und Dirnen berichten die Venetianischen
Verse, von Goetheschera Haß und Goethescher Liebe.
Er höhnt die Pfaffen und streichelt die Dirnen. Nicht
nur die Gottlosigkeit, auch die Liebesfreudigkeit ward
versiegelt :
Auszuspannen befiehlt der Vater die Schenkel. . . .
Punkte entziehen uns die weitere Ausführung des
väterlichen Rats.
Die köstliche Anmut des Zötchens ist vor dem So-
phienwahn wie durch ein Wunder gerettet worden :
Köstliche Ringe besitz ich! Gegrabne fürtreffliche
Steine
Hoher Gedanken und Stils fasset ein lauteres Gold.
Teuer bezahlt man die Ringe, geschmückt mit feurigen
Steinen
Blinken hast du sie oft über dem Spieltisch geseh'n.
Aber ein Ringelchen kenn ich, das hat sich anders ge-
waschen,
Das Hans Carvel einmal traurig im Alter besaß.
Unklug schob er den kleinsten der zehen Finger ins
Ringchen ;
Nur der größte gehört würdig, der eilfte, hinein.
Und auch das folgende Heidenbekenntnis, das aus
der griechischen Anthologie stammen könnte, hat ein
gütiges Schicksal bewahrt:
Knaben liebt* ich wohl auch, doch lieber sind mir die
Mädchen :
Hab' ich als Mädchen sie satt, dient sie als Knabe
mir noch.
256
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Aber was das Dirnchen zum Dichter spricht, darf
wieder nur eine Großherzogin wissen:
Seid ihr ein Fremder, mein Herr . . .
Dann folgen 13 punktierte Zeilen. Die gute Gesell-
schaft hat sich an dem Dichter für das Epigramm
gründlich gerächt:
„Hast du nicht gute Gesellschaft geseh'n? Es zeigt
uns dein Büchlein
Fast nur Gaukler und Volk, ja was noch niedriger ist."
Gute Gesellschaft hab* ich geseh'n; man nennt sie die
gute,
Wenn sie zum kleinsten Gedicht keine Gelegenheit gibt.
Selbst aus politischen Gründen hat man Goethe
gemaßregelt, der doch wahrlich nicht zu den Revolu-
tionären gehörte:
Dich betriegt der Regente, der Pfaffe, der Lehrer der
Sitten
Leider läßt sich kaum das rechte Denken noch sagen,
Und verletzte den Staat, Götter und Sitten zugleich.
Im zwanzigsten Jahrhundert noch empfängt die
Menschheit ihren Goethe aus den Händen irgendeiner
Fürstin — nach deren Gutdünken. Die gesetzlich
aufgehobene Zensur wird durch das Privateigentum
praktisch verewigt. Dieser heillose Zustand verdient
endlich einmal ernste Aufmerksamkeit. Es handelt
sich nicht um Goethe allein. Es sind noch andere
Geister für die Öffentlichkeit verriegelt. Lassalles
Nachlaß ist z. B. „erbrechtlich" von einer Junker-
familie gesperrt, vielleicht vernichtet, vielleicht an das
preußische Staatsarchiv ausgeliefert worden. Aus
Fichtes Nachlaß, der sehr bedeutsam zu sein scheint,
hat vor vielen Jahrzehnten sein Sohn Proben gegeben ;
alles andere ruht unbenutzt in der Königlichen Biblio-
thek zu Berlin — zur Verfügung höchstens für ganz
17 Ei»n er, Gesammelte Schrift«. II. 257
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„zuverlässige" Staatsbeamte. Heinrich Heines Me-
moiren sind zum größten Teil von den lieben Anver-
wandten sekretiert.
Das Recht des Volkes auf seinen geistigen Kultur-
besitz muß endlich gesetzlich gesichert werden. Die
Schöpfungen der Phantasie und die Gedankengebilde
sind Gemeingut. Wir bedürfen keiner Hüter des
Horts!
[April 1910.]
Nachtrag 191 8. Inzwischen — 1914 oder 1915 —
ist ein letzter Ergänzungsband der Weimarer Ausgabe er-
schienen, der die Punkte ausfüllt. Hat man sich schließlich
dazu verstanden, nachdem der öffentliche Protest das ganze
Geschlecht der Goethe-Professoren dem Gelächter ausgelie-
fert, oder weil die fürstliche Zensorin tot ist — ich weiß es
nicht. Aber der Band ist nicht einzeln käuflich und auch ein
Nachdruck ohne Einwilligung der „berechtigten" Heraus-
geber, nach einer merkwürdigen Bestimmung des Urheber-
rechts, nicht zulässig. Der unpunktierte Goethe ist jetzt
eine Gelegenheit für Kriegsgewinnler, die mit der einen
Weimarer Ausgabe ein ganzes Bildungszimmer austapezieren
können und doch wohl — im Gegensatz zu der fürstlichen
Schutzgöttin der Ausgabe — so viel Latein noch lernen
werden, um de avibus die Not der schweren Zeit erheitert
zu vergessen.
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Das Preußentum Heinrich Kleists.
Zum Gedächtnistage seines Untergangs.
I.
Am 21. November 1811 erschoß Heinrich v. Kleist,
der ins Unsterbliche entgleiste Sproß märkischer
Junker, am kleinen Wannsee bei Berlin die ältliche
krebskranke Frau eines preußischen Beamten. Er traf
sie sicher. Dann lud er nochmals die Pistole, steckte
den Lauf tief in den Mund und drückte ab. Die Kugel
drang ins Gehirn, das eben noch Welten fieberte. Er
hatte die Frau mit in den Tod genommen, weil er
für die Wollust der freien Selbstvernichtung eine Ge-
fährtin haben wollte. Dort in der November-Einsam-
keit des stillen Sees errichtete er das letzte Brautbett
seiner Phantasie, das schwelgende Beilager des Todes.
Er war 34 Jahre alt geworden.
Auf dem bebuschten Hügel, der vom See ansteigt,
wurde Heinrich Kleist begraben. Noch vor einem
Jahrzehnt war das verwilderte Grab tiefste Einsam-
keit, obzwar die Vorortbahn der Millionenstadt ein
paar hundert Schritte weit vorüberrollte, die begehrte
Zufluchtsstätte trauriger, unsteter und begehrlicher
Herzen. Heute sind die reichen Landhäuser Berlins
bis hierher vorgedrungen und umklammern mit frem-
den Armen das entseelte Grab. Zu gleicher Zeit
führen die Bühnen gerade das Werk Kleistens auf, das
er selbst für unauf führbar gehalten: die Penthesilea,
die Tragödie der Amazonenkönigin, die gemeinsam
mit der Meute der wilden Hunde zur Erde witternd,
den geliebten Achilleus mit den Zähnen zer reist. Die
fletschende Grausamkeit Richard Strauß* hat auch
259
die Ohren künstelnder Müßiggänger nach einem Jahr-
hundert der geißelnden Musik jenes Seelendramas
hingewöhnt . . .
Es war ein deutscher, ein preußischer Poet, der also
unterging. Er hinterließ Schulden, wohl ein Dutzend
Werke, in denen die Unsterblichkeit von einigen Jahr-
hunderten wirkte, die aber zu seinen Lebzeiten nicht
einmal sämtlich einen Drucker und Verleger gefunden
hatten. Bis zu seinem Tode hatten nur zwei seiner
Schöpfungen insgesamt fünf Aufführungen auf der
Bühne erlebt. Der zerbrochene Krug, die saftstrot-
zende Komödie der deutschen Literatur, war einmal
in einer unglücklichen Dehnung Goethens zu Weimar
mit einem Theaterskandal gesteinigt, das Käthchen
von Heilbronn, das magische Holundermärchen, war
dreimal in Wien, einmal in Bamberg in übler Theatrali-
sierung versucht worden. Er selbst hat niemals seine
Werke auf der Bühne gesehen, wie Franz Schubert
niemals seine Symphonien gehört hat. Sein Selbst-
mord hat mehr für seinen Namen geleistet, als alle
seine Werke zusammen.
Wieland, der einzige von den Alten, der Heinrich
Kleists Bedeutung erkannte und anerkannte — der
auch die Formel für seine dramatische Künstlerschaft
fand: die Erfüllung der hellenischen Form mit dem
Atem Shakespeares — Wieland schrieb seinem lieder-
lichen Sohn, als er sich vermaß, die Schriftstellerei als
Nahrungszweig zu treiben, ob er wisse, was das in
Deutschland sei. ,,Das lautet ungefähr so, als wenn ein
hübsches junges Mädchen ohne Vermögen sagen wollte :
Der einzige Nahrungszweig, der mir, wie jeder offen
steht, ist die Hurerei . . . Das elendeste, ungewisseste
und verächtlichste Handwerk, das ein Mensch treiben
kann — der sicherste Weg, im Hospital zu sterben."
Heinrich Kleist hatte das Hospital hinter sich, als
er am kleinen Wannsee sich rettete.
260
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Von der Künstlerschaft Kleistens soll in diesen
Zeilen nicht gesprochen werden. Seine Dramen ver-
brennen die beruhigte Klassik der Weimaraner; sie
bändigen die ungeheuerste Unrast in stählerner Form;
es sind Schicksalstragödien der anarchischen Persön-
lichkeit ; Helden, die mit der Pest in den Adern die Welt
erobern wollen, wie in dem ungeheueren Fragment,
das aus der Vernichtung des „Robert Guiskard" ent-
ronnen. Seine Erzählungen sind in ihrer gedrängten
Anschaulichkeit, ihrem strengen gehärteten Muskel-
stil, ihrer rauhen Anmut und ihrer erbarmungslos logi-
schen Phantastik unerreichte Muster echter Novellen.
Auch das Leben des unseligsten aller Poeten, die
Tragik des unstillbar blutenden Daseins eines Men-
schen, der mit geöffneten Adern zu leben versucht,
soll nur insoweit angedeutet werden, als es für unsere
Absicht notwendig ist, Kleists Verhältnis zu seiner
Zeit zu bestimmen, besonders das Problem seines
Preußentums, seiner märkischen Junkerschaft zu ent-
wirren. Als ein Vorkämpfer preußischer Befreiung von
Fremdherrschaft, in dem die gutsherrliche Märkerart
dennoch pulst, wird heute Kleist gern dargestellt.
Was war dieser Poet in seiner Zeit, in seiner Klasse,
was schuldet er seiner Umwelt, was die Umwelt ihm ?
Der junge Kleist übernimmt die ruhige, gute Erb-
schaft der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Der
scheue, schamhafte, vornehme, grillige und seelisch
fahrende Gesell findet in dieser klaren Luft Beruhi-
gung. Er sehnt sich nach einem tugendhaften, zärt-
lichen, geliebten Dasein — in freier Vernunft, gelöst
von dem Zwang der Mode. Ahasverus träumt Robin-
son-Idyllen. Das Recht und den Stolz der Selbst-
bestimmung entnimmt er aus den revolutionären Ele-
menten der Aufklärung, die auch im Sande der Mark
nicht völlig versickern. Diese junge Auffassung ist
Arznei für den wild umgetriebenen Fremdling auf
Erden, der von Geburt an eine schwere Last tragt:
♦
261
Nur in Ruhepausen ist er gesund. Jugend verirrungen
erfüllen ihn früh mit entsetzlich ängstigenden Wahn-
vorstellungen, die durch gewisse physische Anormali-
täten gesteigert werden. Auf die Rauschzustände
künstlerisch zeugender Besessenheit folgen Katastro-
phen der Erschöpfung. Es gibt in seinem kurzen Leben
lange Perioden, wo er im Dunkel verschwindet,
irgendwo in gehetzten Dämmerzuständen umherirrend,
in ein Krankenlager, vielleicht ein Irrenspital sich ver-
kriechend. Die finsteren Dämone künstlerisch zu er-
lösen, in Daseinsverzückungen hingebend überwindend
zu genießen, mit der trotzigen Energie vergeistigten
Willens zu bändigen — das ist der zerstückte Inhalt
seines Daseins.
Ein Knabe noch, 14 jährig, wird er wie alle Söhne
seines Standes, dem zukünftigen Gewerbe verkauft.
Die Armee ist die Versorgung des preußischen Junker-
tums. Der Knabe wird Offizier; einen wehrlos sich
wehrenden, wie über die wilde Welt verlegen-keck
verwunderten Knabenkopf zeigt auch noch das einzige
Bild, das wir von Kleist besitzen — aus seinem 24. Jahre.
Aber schon der knabenhafte Offizier bestimmt sein
Verhältnis zum Preußentum: er widersetzt sich erst,
dann entläuft er der feudalen, rohen Gamaschendiszi-
plin. In einem Briefe bekennt er: „Die größten
Wunder militärischer Disziplin, die der Gegenstand
des Erstaunens aller Kenner waren, wurden der Gegen-
stand meiner herzlichsten Verachtung; die Offiziere
hielt ich für so viele Exerziermeister, die Soldaten für
so viele Sklaven, und wenn das ganze Regiment seine
Künste machte, schien es mir als ein lebendiges Monu-
ment der Tyrannei. Dazu kam noch, daß ich den
üblen Eindruck, den meine Lage auf meinen Cha-
rakter machte, lebhaft zu fühlen anfing. Ich war oft
gezwungen zu strafen, wo ich gern verziehen hätte,
oder verzieh, wo ich hätte strafen sollen, und in beiden
Fällen hielt ich mich selbst für strafbar. In solchen
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Augenblicken mußte natürlich der Wunsch in mir
entstehen, einen Stand zu verlassen, in welchem ich
von zwei durchaus entgegengesetzen Prinzipien un-
aufhörlich gemartert wurde, immer zweifelhaft war,
ob ich als Mensch oder als Offizier handeln mußte;
denn die Pflichten beider zu vereinigen, halte ich bei
dem jetzigen Zustand der Armeen für unmöglich."
Kein Preuße, kein Junker, der ernste, anständige,
vernünftige Kosmopolit des 1 8. Jahrhunderts schreibt so.
Nach sieben Jahren nimmt Kleist seinen Abschied.
Er hat niemals wieder — von kurzen Episoden ab-
gesehen — den Weg zu geordnetem Wesen gefunden.
Er bleibt gesellschaftlich schiffbrüchig. Sein kleines
Vermögen ist schnell verzehrt, nur selten hat er ein
bestimmtes Einkommen; ohne seine Schwester Ulrike,
das verständige, tüchtige, männliche Mädchen, das
dem Bruder bis zur letzten Stunde Treue hält, seine
Gefährtin bleibt und ihm ihre Habe opfert, wäre er
sofort zugrunde gegangen. Preußen, Deutschland, die
Welt hat kein Heim für den Genius. Fast alle seine
Briefe bitten, betteln später um Geld.
Kleist wühlt sich jetzt in die Wissenschaft ein. Er
studiert in Frankfurt an der Oder, vor der Sippe rüstet
er sich für den zivilen Staatsdienst, er selbst ist von
Anbeginn entschlossen, nur sich selbst zu leben, nie
ein Amt anzunehmen, nie in eine Abhängigkeit unter-
zukriechen: der wahre Konträrpreuße. Er verlobt sich
mit einer Generalstochter, einer nüchternen Tochter
aus guter Familie, und während er von einem stillen
Herd umfriedeter Liebe schwärmt, peinigt ihn die
Angst vor der Ehe und das Gefühl seiner allzu matten
Neigung. Statt Erotik gewährt er seiner Braut sehr
feierliche, sehr ernsthafte moralische und geistige Auf-
klärung, die ihm eine rechte Gefährtin erziehen soll.
Eine geheimnisvolle Reise nach Würzburg dient medi-
zinischen Vorbereitungen zur Ehe. Zwei Geister be-
herrschen ihn jetzt: Rousseau und Kant. Rousseau
263
macht ihn zum Feind der Gesellschaft, des Staats, der
Kultur. Das Ideal der Bauerndemokratie packt ihn.
Kants Sprache hört man in Kleists Aussprüchen gegen
den herrschenden Staat: „Zu seinen unbekannten
Zwecken soll ich ein bloßes Werkzeug sein — ich
kann es nicht. Ich verachte den ganzen Bettel von
Adel und Stand, zu dem es (ein Amt) verhelfen kann,"
so schreibt er. Er bedarf auch nicht Friedrich Wil-
helms III. und seines Hofes: „Mir möchte es nicht
schwer fallen, einen anderen König zu finden, ihm
aber, sich andere Untertanen aufzusuchen." Oder:
„Am Hofe teilt man die Menschen ein wie ehemals
die Chemiker die Metalle, nämlich in solche, die sich
dehnen und strecken lassen, und in solche, die dies
nicht tun."
Als er tiefer in Kant eindringt, wird er von ihm
überwältigt. Alles wankt in ihm. Mit seiner naiv
dogmatischen, aufgeklärten Vernünftigkeit war Kleist
zu dem Studium Kantischer Erkenntniskritik gekom-
men. In der Bestimmung der Bedingungen und der
Begrenzung menschlicher Erkenntnis sieht er nicht
die um so fester gegründete Sicherheit menschlicher
Wissenschaft, sondern, Kant mißverstehend, entgleitet
er ins Bodenlose. Er wird durch Kant förmlich ver-
nichtet, wie in unseren Tagen leicht gefügte Hirne
durch Nietzsche. In der Wirrnis aller Gedanken und
Gefühle flieht er plötzlich — von der Schwester be-
gleitet — nach Paris, das er mit den Augen Rousseaus
lästert. Kant hat seine intellektuelle und moralische
Sicherheit zerstört. Er glaubt weder mehr an geistige
noch an sittliche Wahrheit, schon leugnet er in der
Pariser Zeit jenseits von Gut und Böse alle menschliche
Verantwortung. Das drängende, gärende Gefühl wird
fatalistisch sein Gott. Der Künstler erwacht in ihm,
betäubt ihn. Sein finsterer Erstling, das Trauerspiel
Familie Schroffenstein, entsteht. Der Guiskard- Stoff,
das Drama des pestkranken Übermenschen, packt ihn
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und weicht nicht mehr von ihm. Das Rousseau- Idyll
zärtlicher Einsamkeit lockt ihn. Auf einer kleinen Insel
des Thuner Sees strömt er seinen Guiskard aus. Nur
eine Fischerfamilie haust noch auf der Insel, und mit
deren Tochter, dem Mädeli, phantasiert er mehr als
erlebt die Rückkehr zur Natur: Ein Werk, ein Kind,
eine Tat — das ist die Dreieinigkeit, zu der er betet.
Von der Braut in Frankfurt a. O. hat er sich schroff
getrennt, nachdem sie es abgelehnt, seine Inseleinsam-
keit zu teilen; das brave Mädchen heuerte nachher
einen soliden Professor.
Im Juni 1802 verläßt er die Aarinsel und bricht in
tödlicher Krankheit zusammen.
Dann beginnt die Tragödie seines Dichtens.
II.
Die großen Weltbegebenheiten am Anfang des
19. Jahrhunderts sind für Kleist nur der schattenhafte
Hintergrund seines gehetzten Daseins. 1803 führt die
von Ort zu Ort gehetzte Verzweiflung am Leben und
am Wirken zur Katastrophe. Er sucht den Tod, will
sich der Expedition Napoleons nach England anschlie-
ßen, um so im Erdbeben der Geschichte seinen eigenen
Untergang zu finden. Die Expedition ward nicht aus-
geführt. Ziellos irrt Kleist durch Frankreich. In
Paris hatte er vorher alle seine Manuskripte verbrannt,
auch den Guiskard, das teure Werk von fünfhundert
erhobenen und erschöpften Tagen und Nächten. Am
26. Oktober 1803 schreibt er wie im letzten Todes-
kampf an seine Schwester: „Ich habe in Paris mein
Werk, soweit es fertig war, durchlesen, verworfen und
verbrannt: und nun ist es aus. Der Himmel versagt
mir den Ruhm, das größte der Güter der Erde; ich
werfe ihm, wie ein eigensinniges Kind, all übriges hin.
Ich kann mich deiner Freundschaft nicht würdig
zeigen, ich kann ohne diese Freundschaft doch nicht
leben: ich stürze mich in den Tod. Sei ruhig, du Er-
265
habene, ich werde den schönen Tod der Schlachten
sterben." Unter Napoleons Fahnen!
In dieser Zeit entschwindet uns Kleists Leben. Ein-
mal will er untertauchen in das Dasein des Handarbei-
ters; er denkt daran, als Tischlergeselle sein Brot zu
verdienen. Als alles zusammenbricht, in diesem
Augenblick höchster Not, verfällt er darauf, was ihm
vorher das Abscheulichste schien; er will ein Amt in
Preußen, das seinen Mann nährt. Der äußerste und
äußerlichste Zwang führt den gescheiterten Dichter
und zerfallenen Menschen ins Preußentum zurück.
Kleist ist müde und mürbe. Ganz demütig, fast
unterwürfig bittet er den preußischen König um Ver-
zeihung für seine Flucht aus Preußen und um irgend-
eine Anstellung. Und das wi rkliche Preußentum tritt
ihm alsbald entgegen. Er hat eine Unterredung mit
dem stupiden Generaladjutanten Friedrich Wil-
helms III., Köckeritz. Der fährt den Poeten an
(Kleist berichtet's seiner Schwester): „Sind Sie wirk-
lich jetzt hergestellt ? Ganz, verstehen Sie mich, her-
gestellt ? — Ich meine, ob Sie von allen Ideen und
Schwindeln, die vor kurzem im Schwange waren, völlig
hergestellt sind?" Im weiteren Verlaufe der Audienz
schmettert ihn Köckeritz mit dem echt preußischen
Geständnis nieder: „er könne mir nicht verhehlen,
daß er sehr ungünstig von mir denke. Ich hätte das
Militär verlassen, dem Zivil den Rücken gekehrt, das
Ausland durchstreift, mich in der Schweiz ankaufen
wollen, Versehe gemacht (o meine teure Ulrike!), die
Landung mitmachen wollen usw. usw. Überdies sei
des Königs Grundsatz, Männer, die aus dem Militär
ins Zivil übergingen, nicht besonders zu protegieren."
Immerhin, Kleist gehört zu einem einflußreichen
Junkergeschlecht, und er kriegt schließlich eine Diätar-
stelle in Königsberg. Ein geborener Empörer sucht
hier Ruhe und materielle Existenz, die übrigens recht
günstig ist. In dieser beruhigten Zeit, die im Mai
266
1805 beginnt und mit dem preußischen Zusammen-
bruch endigt, strömt er seine Empörungen in sein
poetisches Schaffen, das fruchtbar gedeiht. Alles dich-
terische Proteste gegen den preußischen Zwang und
die starre Enge, einmal humoristisch gemildert (im
Zerbrochenen Krug). Der Einfluß des Luisenkreises
macht sich geltend. Man erkennt das in Briefstellen
aus dem Jahre 1805, wo er — wie alle näheren und
engeren Mitglieder des Königin-Zirkels — den Krieg
gegen Napoleon fordert. Aber der später so zügellos
ausschweifende Haß gegen Napoleon hat sich noch
nicht entwickelt. Nirgends eine Spur, daß der ehe-
malige Offizier etwa selbst; daran gedacht hätte, in den
Krieg zu ziehen!
Kleist hatte eben die erste Rate einer kleinen
ihm von der Königin Luise ausgesetzten Pension be-
zogen, als die Katastrophe von Jena auch ihn ent-
wurzelte. Der königliche Hof, der selbst in der Zeit
der schlimmsten Bedrängnis sich keinen Taler von den
ungeheuren Kosten für den königlichen Weinkeller
und die königliche Kaffeeküche streichen ließ, stellte
natürlich die Zahlungen für arme Poeten sofort ein.
Kleist stand wieder vor dem Nichts. Zu Beginn des
Jahres 1807 gerät er in den Verdacht, preußischer
Spion zu sein, wird auf einige Zeit in ein französisches
Gefängnis gesteckt, bald aber, durch Vermittlung
seiner Schwester, freigelassen. Darauf faßt Kleist
einen Entschluß, der mit allem in Widerspruch steht,
was er in seinen späteren Dichtungen und sonstigen
literarischen Erzeugnissen ausspricht : der wilde Hasser
Napoleons und des Rheinbundes siedelt nach Dresden,
einem Zentrum der Rheinbündelei, über, und gibt ein
lediglich künstlerischen Interessen gewidmetes Jour-
nal heraus.
Die Literarhistoriker, die Kleist als Vorkämpfer des
Preußentums reklamieren, fühlen diesen Widerspruch,
wenn sie ihn auch nicht hervorheben. Darum herrscht
267
neuerdings die Neigung, die Tätigkeit dieser Jahre
als eine geheime Mission im Dienste der preußischen
Kriegspartei darzustellen. Kleist wäre also nach Dres-
den gegangen, er hätte anscheinend nur künstlerischen
Aufgaben gelebt, um sein wirkliches politisches Trei-
ben im Dienste Preußens zu verbergen. Man meint,
daß seine Verhaftung wegen Spionage doch nicht ganz
ohne Grund erfolgt sei. Ein geheimnisvoller Brief
Kleistens an eine unbekannte Adresse, einige Andeu-
tungen in anderen Briefen und auch in seinen Dich-
tungen scheinen allerdings zu beweisen, daß Kleist
gelegentlich einmal mit irgendeiner geheimen politi-
schen Vermittelung betraut gewesen sein mag; wie viele
andere auch. Aber eine zentrale politische Tätigkeit
läßt sich nicht nur nicht erweisen, sondern ist auch
ganz und gar unwahrscheinlich. In Wirklichkeit be-
schäftigte sich Kleist mit allerlei ökonomischen, recht
leichtsinnigen Gründungen, um sich eine Existenz zu
schaffen. Wenn er seine Schwester zur Hergabe großer
Summen für eine Verlagsbuchhandlung zu gewinnen
sucht, indem er sie mit der Möglichkeit lockt, den —
Code Napoleon als Verlagsartikel zu gewinnen, so ist
das zum mindesten kein Ausbruch preußischen Fana-
tismus.
In Dresden geriet Kleist unter den verhängnisvollen
Einfluß eines der verächtlichsten Söldner der Reak-
tion, jenes Adam Müller, der später einmal der preußi-
schen Regierung sich anbot, zugleich ein scheinbar
demokratisches Oppositionsblatt und ein offizielles Re-
gierungsorgan herauszugeben. Die Spuren dieses Ein-
flusses entstellen fortab das Bild des Dichters.
Will man die Bedeutung der patriotischen Arbeiten
Kleistens in dieser Zeit richtig einschätzen, so darf
zunächst nicht übersehen werden: Keine Zeile dieser
Literatur ward zu seinen Lebzeiten gedruckt, weder
seine nationalen Dichtungen (Hermannschlacht, Prinz
von Homburg), noch seine Beiträge für das nie er-
?68
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schienene Journal Germania. Der Napoleonhaß trat
also niemals nach außen. Dann aber erschöpft sich
Kleists, seit dem Aufstand 1809, wahnsinnig gesteigerte
Feindschaft gegen Napoleon eben nur in einem to-
benden, besinnngslosen, persönlichen Haß gegen Na-
poleon, der um so abstoßender wirkt, als Kleist gleich-
zeitig einem Friedrich Wilhelm III. in byzantinischer
Unwahrhaftigkeit überschwänglich huldigt. Daß Kleist
die geschichtliche Bedeutung Napoleons nicht begriff,
gereicht dem gänzlich unpolitischen Kopf nicht zum
schlimmsten Vorwurf ; daß aber sein Patriotismus nichts
will als die brutale bestialische Vernichtung des Höllen-
sohnes, daß kein Zug von innerer Befreiung seine Seele
berührt, das stellt ihn tief unter einen Fichte, den
Kleist in dieser Periode seines Daseins, wie alle Re-
former, mit stumpfem Witz verhöhnt. Der Haß wird
zur Besessenheit eines Irren, wenn Kleist zum Kampf
gegen die Fremden mit den alle Menschlichkeit schän-
denden Versen aufreizt:
Alle Triften, alle Stätten
Färbt mit ihren Knochen weiß;
Welchen Rab* und Fuchs verschmähten,
Gebet ihn den Fischen preis;
Dämmt den Rhein mit ihren Leichen;
Laßt gestäuft (gestaut) von ihrem Bein,
Schäumend um die Pfalz ihn weichen,
Und ihn dann die Grenze sein!
So ist auch die Hermannschlacht nicht sowohl ein
deutsch-nationales, am allerwenigsten ein preußisch-
patriotisches Drama, als die schäumende Tragödie des
Hasses, der die Berserkerwut bis zur völligen Aufhe-
bung aller menschlichen und völkerrechtlichen Sitten
und Hemmungen treibt. Es ist das Kleistsche Problem
der zügellosen Selbstdurchsetzung gegen jeglichen
Zwang, das auch diesem Werke zugrunde liegt. Im
Kampf gegen die Fremden ist schlechthin alles er-
269
laubt und geboten, sofern es nur zur Ausrottung
taugen mag. Thusnelda, das holde Thuschen Hermann
des Cheruskers, lockt den nach ihrer Umarmung
brünstigen Römer, der ihr das Leben gerettet, nächt-
lich in den Bärenzwinger. Hermann selbst läßt Ger-
manen als Römer verkleiden und sie alle Ruchlosig-
keiten verüben, nur um die Germanen aufzupeitschen
— eine Verherrlichung des Lockspitzels, die man denn
allenfalls als preußisch ansprechen mag!
Unpreußisch, antipreußisch ist auch das letzte Werk
Kleistens, stofflich sein einziges Preußendrama: Der
Prinz von Homburg, der nachtwandelnde Held, wird
zum Tode verurteilt, weil er durch einen Disziplin-
bruch die Schlacht gewann. Dieser Held, der zwischen
der Qual und der Wollust des Todes träumerisch wan-
delt, ist der Protest gegen alles Preußentum, das vor-
ahnende Bekenntnis des Dichters, daß er daran zu-
grunde gehen würde.
An Preußen ist Kleist dann zerbrochen. Nach dem
Sieg Napoleons von 1809 kehrt Kleist nach Berlin
zurück. Er gründet eine Tageszeitung, die Abend-
blätter, die Adam Müller benutzt, um im Dienste der
steuerscheuen Junkerfronde selbst die kleinen feigen
Reformen Hardenbergs zu bekämpfen. Kleist hat
jetzt allen Halt verloren. Es ist die Zeit seiner tiefsten
und schrecklichsten Erniedrigung. Er gerät in end-
losen Konflikt mit der Zensur und der Regierung.
Um sich die Gunst Hardenbergs zu gewinnen, denun-
ziert er ihm den eigenen Freund Adam Müller als
Verfasser frondierender Artikel. Er will sich der Re-
gierung verkaufen. Würdelos bestürmt er sie, die
angeblichen Versprechungen finanzieller Unterstüt-
zung einzulösen. Man treibt den lästigen Bittsteller
von der Schwelle. Am 11. September 181 1 erhält er
zwar — infolge Fürsprache seiner Gönner — eine
Kabinettsorder, die ihm Hoffnung auf Wiederanstel-
lung in der Armee macht. Als er aber daraufhin einen
270
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Vorschuß von 20 Louisdor erbittet, bleibt das Gesuch
liegen.
Da rettet Kleist seine Seele und er kehrt von dieser
preußischen Erde in die philosophische Erhebung seiner
jungen Jahre zurück: In fast heiterer Gelassenheit geht
er ins Nichts, das er schon im Prinzen von Homburg
wundersam tief raunen hörte. An den Rand jenes
letzten Bettelbriefes aber schrieb der Staatskanzler
am 22. November eigenhändig den Vermerk: „Zu
den Akten, da der p. p. Kleist nicht mehr
lebt."
Das war das Preußentum!
[November 191 1.]
271
Karl Marx* Kunstauffassung.
Vor etlicher Zeit erregte die kuriose Äußerung eines
vorübergehenden Mitarbeiters des Vorwärts eine kleine
parteipolitische Kunstdebatte. Jener interessante Kopf
hatte die Meinung ausgesprochen, daß ein Proletarier-
roman von rechtem Humor eben doch nur von
einem rechten Proletarier erzeugt werden könnte.
Diese Prägung der „materialistischen" Kunstformel
war verdienstvoll. Denn sie widersprach so offen-
sichtlich allen Kunsttatsachen, daß allgemein sofort
die Empfindung erweckt wurde: So könne unmöglich
die Anwendung der Marxschen Geschichtslehre auf
die Kunst aussehen. Der Erfinder des Programms:
Klassenkunst durch Klassengenossen, vermochte an-
zuregen, aber nicht zu entwirren. Er hat sonst kein
Unheil angerichtet, eher zur Klärung beigetragen.
Weiter verbreitet, beliebter, unauffälliger, platter
und deshalb gefährlich ist eine andre Art von Kunst-
betrachtung, die im Namen des Geschichtsmaterialis-
mus auftritt und der wir nicht ganz selten begegnen.
Diese ästhetische Artikelpraxis beruht auf der Schluß-
folgerung: Die Bourgeoisie ist eine niedergehende
Gesellschaftsklasse. Folglich muß auch die Kunst der
Bourgeoisie Niedergangskunst sein. Mit solcher philo-
sophischen Suppenwürze läßt sich dann sehr bequem
ohne größeren geistigen und wissenschaftlichen Auf-
wand jede fade Notizensammlung aus dem kleinen
(bürgerlichen !) Meyer entnehmen und in eine gediegene
Kost gesinnungstüchtiger Erkenntnis verwandeln.
Treibt man die Methode durch die Weltgeschichte
der Kunst hindurch, so wird man nach und nach
lauter Verfallskunst aneinanderreihen dürfen. Aller-
272
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dings gibt es einige Schwierigkeiten. Warum ist zum
Beispiel in der großen französischen Revolution der
reaktionäre Andre" Chenier ein unsterblicher Dichter
und sein jakobinischer Bruder Marie- Joseph ein völlig
leerer Phrasenschmied ?
In Wahrheit sieht diese ganze Betrachtungsweise
das besondere ästhetische Problem überhaupt gar nicht,
weit entfernt, es zu lösen. Damit soll nicht gesagt
sein, daß es ein unnützes Unternehmen wäre, auch die
Zusammenhänge zwischen Kunst und Gesellschaft zu
untersuchen. Das soll geschehen, besonders ist auch
die Erforschung der jeweiligen wirtschaftlichen und
rechtlichen Zustände notwendig, unter denen die
Künstler produzieren müssen; ebenso bedingt die
geistige und soziale Verfassung des den künstlerischen
Konsum fristenden Publikums Abhängigkeiten des
Künstlers, die leicht für die Kunst selbst richtungs-
weisend werden.
Die Untersuchung über die Klassenherkunft der
Künstler führt zu interessanten Ergebnissen, wenn
auch schwerlich zu einer einheitlichen Gesetzmäßig-
keit. Die Literaturgeschichte zeigt, daß der frucht-
barste Nährboden künstlerischen Dranges die Existenz-
erschütterung ist, die Angehörige einer „höheren"
Schicht hinabstößt. So ist zum Beispiel auch der
echteste und stärkste deutsche Proletarierdichter unsrer
Zeit, Alfons Petzold, der Wiener, zwar ein Arbeiter
des niedersten Daseins, ein Handlanger und Tage-
löhner gewesen, er stammt aber aus einer behaglich
lebenden Privatbeamtenfamilie, die die Kinderjahre
des Dichters sorglos gestaltete, bis ihn der frühe Tod
des Vaters ins soziale Nichts schleuderte. Umgekehrt
sehen wir, wie ein wirklicher Abkömmling tiefster
Proletarierschichten, Friedrich Hebbel, reiner Kunst-
aristokrat, trotz allem Philisterhaß bürgerlich ist.
Endlich ist auch die Frage einer „Parteikunst" ein
ernsthaftes Problem, deren Möglichkeit, ja deren grund-
18 Etsner, Gesammelte Schriften. II.
273
sätzliche Forderung ich seit jeher verteidigt habe.
So schrieb ich etwa nach den Kunstdebatten auf dem
Gothaer Parteitag 1896: „In Wahrheit ist es Aber-
glaube, daß Parteikunst das Ende der Kunst sei. Die-
ser Aberglaube, allezeit gehätschelt von den Müßig-
gängern der Kultur, der entwicklungsflüchtigen Ro-
mantiker, den Armen im Geiste und den Schwachen
am Fleisch, ist das stärkste Hemmnis der Entwicklung
echter Volkskunst. Gewiß, eine königlich sächsische
konservative Hofratsparteikunst ist ein Unding. Auch
die Programme von PJötz, Liebermann, Paasche und
Eugen Richter lassen sich . . . poetisch nicht ausmün-
zen. Wo aber eine große Kulturbewegung sich in
einer Partei kristallisiert, und die moderne Form jeder
Kulturbewegung ist die Partei, da muß auch die Kunst
Parteikunst sein. Hier ist die Partei nicht ein ablös-
bares Etikett, sondern die Essenz jedes fortschreitenden
Geistes. Der Dichter, der in der Kulturbewegung
steht, kann nichts andres sein als Parteimann, er ist als
solcher nicht schon Künstler, aber ist noch weniger
ein Künstler universalen Stils, wenn das Parteiblut
nicht in ihm pulsiert!" Solche Auffassung ist gut
marxistisch, das bestätigt Karl Marx selbst, der in
einem an Freiligrath gerichteten Briefe den gleichen
Gedanken ausspricht. Als sich Freiligrath 1860 wäh-
rend der Karl-Vogt-Händel gegen die Behauptung
seiner kommunistischen Parteizugehörigkeit sträubte,
erinnerte Marx den Dichter, wie in dem vor einem
Jahre von Franz Mehring veröffentlichten Briefwechsel
zu lesen ist, zuerst ärgerlich daran, daß er wenigstens
zweihundert Briefe von Freiligrath besitze, „worin hin-
längliches Material, um nötigenfalls dein Verhältnis
zu mir und zur Partei zu konstatieren". Freiligrath
antwortete, er sei dem Banner der Arbeiterklasse stets
treu geblieben. Aber sein Verhältnis sei lose und bald
gelöst gewesen: „Meiner und der Natur jedes Poeten
tut die Freiheit not! Auch die Partei ist ein Käfig,
274
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und es singt sich, selbst für die Partei, besser draus
als drin. Ich bin Dichter des Proletariats und der
Revolution gewesen, lange bevor ich Mitglied des
Bundes und Mitglied der Redaktion der Neuen Rhei-
nischen Zeitung war!" Marx antwortete nun ver-
söhnlich, und mit einem Wort das Mißverständnis
beseitigend. Er habe unter Partei nicht einen seit
acht Jahren verstorbenen Bund oder eine seit zwölf
Jahren aufgelöste Zeitungsredaktion verstanden.
„Unter Partei verstand ich die Partei im
großen historischen Sinn." In diesem Sinne muß
allerdings auch „Parteikunst" sein.
Indessen weder durch den Nachweis sozialer Ab-
hängigkeiten und Zusammenhänge noch durch die
Rechtfertigung und Forderung einer Parteikunst ist
die Kunst und der Künstler erklärt; Kunst und
Künstler sind damit so wenig begriffen, daß sie nicht
einmal gesehen sind. Es ist immer nützlich, sobald
es sich um Streitfragen geschichtsmaterialistischer An-
wendungen handelt, zum Schöpfer selbst zu gehen.
Karl Marx hat seine Geschichtstheorie in seinen
Werken und seinem Wirken angewandt, aber er hat
die Methode selbst niemals systematisch dargestellt.
Zwar hat er, als er die Kritik der politischen Ökono-
mie begann, ursprünglich beabsichtigt, ihr eine syste-
matische Darstellung seiner Geschichtslehre voraus-
zuschicken. Aber die Arbeit blieb als Fragment und
Skizze liegen; denn es widerstrebte ihm eine Ge-
schichtsauffassung, die ja erst sich aus der Summe
der weltgeschichtlichen Erfahrungen ergeben sollte,
der geschichtlichen Darstellung selbst vorauszuneh-
men, das hätte den Verdacht erwecken müssen, daß
seine Geschichtsauffassung zwar die Ideologie Hegels
umgestülpt habe, aber nichtsdestoweniger Ideologie
geblieben sei. So sollte das System seiner Geschichts-
auffassung der Epilog seines Werkes werden, die letzte
Zusammenfassung seines ganzen Schaffens. Es kam
xs* 275
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nicht dazu, die Umstände seines Daseins und der
allzufrühe Tod hinderten die Vollendung. So wird
von Marx seine Geschichtsmethode immer nur in zer-
streuten Bemerkungen gestreift, niemals wissenschaft-
lich erschöpft. Um den beiläufigen und knappen Be-
merkungen gleichwohl anschaulich überzeugende Kraft
zu geben, wählt er gern sinnlich kräftige Bilder und
Vergleiche, die seinen Gedanken erhellen. Damit aber
entstanden auch seine schillernden Unklarheiten und
jene Mißverständnisse, die die zumeist armseligen
Einwürfe der Gegner und die oft unglücklichen An-
wendungsversuche der Freunde hervorriefen.
Gerade über die. Anwendung seiner Geschichtsauf-
fassung auf die Kunst hat sich glücklicherweise Marx
mit so zwingender Klarheit und so durchsichtiger
Einfachheit ausgesprochen, daß man hier wenigstens
vor allen mißbräuchlichen Auslegungen und Ausfüh-
rungen sicher sein sollte. Marx war viel zu sehr
selbst Künstler und zugleich philosophisch zu tief
durchgebildet, als daß er jemals jener Methode der
Kunstauffassung hätte verfallen können, die nicht
selten heute in seinem Namen versucht wird. Wenn
der junge Student Marx seiner „teuren ewig geliebten
Jenny v. Westphalen" ein ganzes „Buch der Liebe"
widmet, so sind die jungen Verse freilich weniger
lyrische Kunstwerke als beträchtliche Zeugnisse einer
starken leidenschaftlichen und unbeirrbaren Gesin-
nung. Aber Marx blieb der Vertraute der großen
Künstler aller Zeiten und Völker, wie er den bedeu-
tendsten Dichtern seiner Epoche ein verständnisvoller
Freund war. Seine Kunstfähigkeit und seine reiche
Kunsterfahrung hinderte ihn vor allen theoretischen
Verkümmerungen der ästhetischen Welt.
Karl Marx teilt das Schicksal mit allen großen
Denkern, daß ihre mißverständlichen, allzu leicht ge-
fügten Formeln die größte Wirkung gehabt haben,
daß sie aber unbekannt und unwirksam bleiben, wo
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die Quellen ihrer Erkenntnis am reinsten und tiefsten
fließen. Der Geschichtsmaterialismus von Karl Marx
entfaltet sich in seiner Bedeutung am klarsten in
jener fragmentarischen „Einleitung" zur Kritik der
politischen Ökonomie aus dem Jahre 1857, die man
ebensowenig zitiert, wie man das „Vorwort" zu der-
selben Schrift bis zum Überdruß häufig anführt, um
die Geschichtslehre von Karl Marx zu kennzeichnen.
In jener Einleitung aber äußert sich Marx völlig un-
zweideutig über das eigentümliche Problem der Kunst.
Von der Kunst sei es bekannt, daß bestimmte Blüte-
zeiten keineswegs im Verhältnis zur allgemeinen Ent-
wicklung der Gesellschaft, also auch der materiellen
Grundlage, gleichsam des Knochenbaues ihrer Or-
ganisation, stehen. Marx skizziert dann gewisse Be-
ziehungen zwischen der Kunst und der materiellen
Grundlage der Gesellschaft. In der griechischen
Kunst hätten Eisenbahnen, Lokomotiven, elektrische
Telegraphen nicht bestehen können. Wo bliebe Ju-
piter gegen den Blitzableiter, Hermes gegen den Credit
mobilier und was werde aus der Fama neben der
Druckerei der „Times". „Die griechische Kunst setzt
die griechische Mythologie voraus, d. h. die Natur
und die gesellschaftliche Form selbst schon in einer
unbewußt künstlerischen Weise verarbeitet durch die
Volksphantasie. Dies ist ihr Material." Marx wirft
die Frage auf, ob Achilles möglich sei mit Pulver und
Blei, die Iliade überhaupt mit der Druckerpresse und
der Druckmaschine, ob das Singen und Sagen und
damit die notwendigen Bedingungen der epischen
Poesie nicht verschwinden müßten mit dem Preß-
bengel. „Aber die Schwierigkeit", fügt Marx
hinzu, „liegt nicht darin, zu verstehen, daß
griechische Kunst und Epos an gewisse ge-
sellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft
sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns
noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser
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Beziehung als Norm und unerreichbare Mu-
ster gelten."
Damit ist in einem klassischen Satz das Eigenrecht
der ästhetischen Probleme und die in sich ruhende
Selbständigkeit der Kunst erkannt und gegen alle
platten Anfechtungen gesichert.
[März 191 3.]
«
278
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Arno Holz: Ignorabimus.
Ein Weckruf.
Seitdem die Mode aufgekommen ist, auch die
50. Geburtstage von Zeitgenossen zu feiern, ist die
Mechanisierung des geistigen Betriebes wieder ein gut
Stück vorwärts gekommen. Zur bestimmten Stunde
denken wir an irgendwas. Es kommt gar nicht darauf
an, was und wie über irgendwen gedacht wird, wenn
nur pünktlich irgendwas über irgendwen im Blatte
steht; Pünktlichkeit ist der Tiefsinn dieser Termin-
geistigkeit. Ist der Tag vorüber, sind wir erlöst. Wir
brauchen dann gottlob — bis zum nächsten Termin —
an gar niemanden und an gar nichts mehr zu denken.
Es ist ja nun sicher besser, überhaupt einmal an be-
deutende Erscheinungen erinnert zu werden, als ihrer
niemals zu gedenken. Aber die Fünfzig-Geburtstag-
Feier scheint mir gerade nicht zweckmäßig, die Leben-
den zu fördern. Bücher kaufen und lesen, sobald sie
erscheinen, Dramen aufführen, wenn sie geschaffen
sind, und dreifach gepanzertes Schweigen über alle
Marktware, namentlich dann, wenn sie im Lärm des
Theatergeschäfts erscheint — das heißt, das Leben-
dige fördern. Wir sollten das Wertvolle würdigen,
wenn es kommt und nicht erst auf runde Zahlen
warten.
Bisweilen hindert die Jubiliererei der runden Zahl
das Werk des Gefeierten. Das hat Arno Holz, dem
das Leben unter allen Umständen übel mitspielt, er-
fahren müssen. Man feierte seinen Fünfzigsten. Dann
war er erledigt. Nun wollte es ein tückischer Zufall,
daß gerade am Geburtstage sein letztes Drama noch
nicht herausgekommen war; man wußte wohl von
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ihm, aber man kannte es noch nicht. Dann kam das
Buch, und da der fällige Tag einmal vorbei war,
kümmerte sich niemand darum: kein Kritiker, kein
Theaterdirektor, nicht einmal ein Bibliophile; denn
unsere Verleger, die jedem alten Tand ein köstliches
Kleid anmessen, haben für Arno Holz kein Interesse,
und er muß sich mit einem ziemlich elenden Buch-
gewächs begnügen. Hier und da wurde freilich das
Drama angezeigt, aber das war fast noch schlimmer
als nichts; denn es ließ jedes Verständnis dafür ver-
missen, daß hier die deutsche Literatur endlich
wieder zur Weltkunst wird, ebenbürtig den
großen Erscheinungen des Auslands.
Zunächst ist alles getan, um den Zugang zu diesem
Werk zu erschweren*). Verdrießlich hört man auf
der blutroten Buchbinde den Reklameschrei: „Seit
Dostojewskis Raskolnikow das erschütternd wuchtigste
Werk der Weltliteratur. Nur in seiner Kunst noch so
hoch über ihm, als die komplizierte Form der Tra-
gödie über den primitiveren des Romans steht". Man
beginnt dennoch zu lesen. Man stolpert über jede
Zeile zweimal — und es gibt 14528 Zeilen in den
fünf Akten des Dramas — dank dem unerhörten
Eigensinn dieser phonographischen Technik, die der
Dichter mit dem ehrenwerten und rücksichtslosen
Stolz des Erfinders und dem redlichen Bewußtsein
intensivster Arbeit festhält. Es erregt Mißbehagen
und Verdacht, daß das Problem der Wissenschaft gerade
auf dem Gebiet spiritistisch-mediumistischer Erschei-
nungen, dem Tummelplatz aller Gaukelei — die
Geister vermögen gemeinhin unendlich weniger als
der ganz gewöhnliche wunderlose Menschenverstand
— gespensterhaft sich erlebt. Man lächelt über das
Kauderwelsch der zahllosen Regiebemerkungen, die
*) Arno Holz, Berlin. Die Wende einer Zeit in Dramen.
Ignorabimus. Tragödie. Verlegt bei Carl Reissner, Dres-
den, 1913.
280
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fast jedem Worte folgen, kein Geräusch vergessen,
und dem Schauspieler jede innere und äußere Bewe-
gung so peinlich genau vorschreiben, wie der Taylor-
Ingenieur den Kohlenschaufler abrichtet. Man er-
trinkt in der überquellenden Beredsamkeit, die sich
so sonderbar drollig verheddert. Dennoch — bald
weichen die Widerstände, und wir erleben dichterisch-
dramatische Offenbarungen, an deren Eigenart und
Kraft nichts heranreicht, was das deutsche Drama
der Gegenwart hervorgebracht hat. Arno Holz*
Ignorabimus ist die geistig reichste und
dramatisch glühendste Dichtung der deut-
schen Literatur unserer Zeit. Es ist die ein-
zige Tragödie der Wissenschaft, die bisher
geschaffen ist.
In der grimmigen Vorrede, in der Arno Holz sich
mit seiner verkennenden Mitwelt und auch mit seinen
erfolgreicheren Schülern hart auseinandersetzt, stellt
er die alleinige Vaterschaft jener Technik seiner Vorort-
kunst fest, die er 1890 entdeckt hat: „Jede Wort-
kunst, von trübster Urzeit bis auf unsere Tage, war,
als auf ihrem letzten, tiefstunterstem Formprinzip,
auf Metrik gegründet. Diese Metrik zerbrach ich und
setzte dafür ihr genau diametrales Gegenteil. Näm-
lich Rhythmik. Das heißt: permanente, sich immer
wieder aus den Dingen neu gebärende, komplizier-
teste Notwendigkeit, statt, wie bisher, primitiver, mit
den Dingen nie, oder nur höchstens ab und zu, nach-
träglich und wie durch Zufall, koinzidierender Will-
kür!" Er höhnt über die Schüler, die unter dem —
von Holz einsichtig abgelehnten Schlagwort „Kon-
sequenter Naturalismus" — ihm seinen Stil nachzu-
ahmen versuchten. Von Gerhart Hauptmanns Mi-
chael Kramer sagt er (mit der begründeten Bos-
heit des Größeren, Eigenwüchsigen, Erfolglosen gegen
den weltbeliebten schwächlichen Epigonen!): „Diese
stupide, verblödende Monotonie, gegen die das be-
281
kannte liebliche Duo der beiden Knaben mit dem
Klappenhorn noch wie himmlische Sphärenmusik
klingt, zog sich durch das ganze „Drama !" Im ersten
Akt ungefähr fünfhundert Sätze und rund dreihundert-
mal derselbe, gehirnerweichende Tonfall! In den
übrigen Akten genau so. Und in allen sich sogar
noch unbehilflichst verstolpernd bis in die dazwischen
gefügten Regiebemerkungen! . . . Ein derartig plum-
pes Geholpere — ganz Deutschland schien an ver-
stopften Ohren zu leiden, und in den darauffolgenden
Stücken Hauptmanns wurde diese klägliche Ohnmacht
schließlich noch schlimmer — gab sich für „modernen
Dialog" aus! Und mit aufreckendem Hohn fügt er
hinzu, daß er wenigstens nicht zu befürchten brauche,
auch die Höhe, auf der sein „Ignorabimus" —
Problem „Erkenntnis" — geschrieben sei, werde so-
bald von einem auf Krücken Nachkletternden wieder
versudelt werden.
Arno Holz will das Leben unmittelbar in seiner
ganzen Fülle gestalten, indem er den sprachlichen
Rhythmus seiner Menschen belauscht und ihn aus
sich selbst bewegen läßt. Die Personen seines Dramas
werden, indem sie reden. Sie dichten sich selbst. Sie
improvisieren sich, indem sie aus den tiefen Quellen
ihrer bestimmten Naturbedingungen strömen. Jede
Person redet die ihm nur allein eigene Sprache in
ihrer stofflichen Wortwahl sowohl wie in dem Rhyth-
mus ihres Gefüges und entfaltet so ihre innere Lebens-
melodie. Diese Technik, die der grobe Verstand für
(nicht entschieden genug abzulehnenden, weil dem
Wesen aller Kunst entfremdenden) Stil naturalisti-
scher Nachahmung hält, ist in Wahrheit musikalisch.
In der Tat wirkt der Dialog in seinen höchsten und
glücklichsten Steigerungen wie alte polyphone Musik,
in der die nebeneinander sich entfaltenden Melodien
der verschiedenen Stimmen selbständig ihren Weg
gehen und doch zugleich Einheit werden.
282
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Indessen, dieser reich verästelte, unendlich fein
organisierte Stil, so wenig er seinem Willen und
Wesen nach naturalistisch ist, bedient sich, in dem
Bestreben, das Leben in all seinen Regungen einzu-
fangen, ja mehr noch, dieses Leben, wie unabhängig
vom Dichter, frei sich entfalten zu lassen, naturalisti-
scher Mittel. Das wird dem Dichter zum Verhängnis
und allen trägen, unfähigen und geschäftsfeigen Büh-
nenleitern zum Vorwand, diesem Drama das Theater
zu versperren. Das seinem Wesen nach intensiv ge-
drängte, in zerrissener Leidenschaft stürmisch be-
wegte Drama scheint durch die Irrungen dieses Stils
extensiv, breit auseinanderfließend, episch, zuständ-
lich schildernd, also antidramatisch. Arno Holz in-
strumentiert z. B. die im Zimmer sich abspielende
Handlung durch all die tausend Geräusche und Töne,
die von der Tiergartenstraße hereindringen. Ein paar
hundert Mal wohl werden Hupensignale verzeichnet,
immer anders, getreu der wirklichen Mannigfaltigkeit
dieser industriellen Lärmerzeugnisse. Jeder Vogel-
schrei, Vogelpfiff, Vogeltriller wird mit der zärtlichen
Andacht subtiler Beschreibung vermerkt. Auch kein
Radfahrgeklingel wird vergessen. Ich habe keine
sichere Vorstellung, wie das Werk auf der Bühne
wirkt (gerade deshalb möchte ich es auf der Bühne
erleben), aber das weiß ich, daß schon nach dem fünf-
ten Huppensignal das Publikum lacht und nach dem
dritten Vogelpfiff selbst mitpfeift. Aber diese „In-
strumentierung" läßt sich leicht, wenn nicht ganz
beseitigen, so doch einschränken. Schwierig und fast
unlösbar scheinen die sprachlichen Schwierigkeiten
für den Schauspieler. Hier gibt es wahre Schling-
gewächse von Sätzen, Sturzbäche zerrissener, scharti-
ger Wortungeheuer, wissenschaftlicher Fachausdrücke
prestissimo zu bewältigen. Aber das gerade müßte
den genialen Schauspieler reizen. Es wäre eine wür-
dige Aufgabe, Unerhörtes zu meistern.
283
Die Einwände gegen den Stil sind ebenso gewichtig
wie die Bedenken gegen den Stoff haltlos. Gewiß
führt die Wissenschaft heute vor tiefere Abgründe
des Denkens als die spiritistischen, hypnotischen, ok-
kultistischen Erscheinungen darbieten. Aber es ist
schwer auszudenken, wie etwa ein Dichter die Rela-
tivitätstheorie, die den festesten Boden der Gewißheit
unterwühlt, dramatisch zu verkörpern vermöchte.
Arno Holz hätte kein Drama, sondern eine dialogische
Doktordissertation geschrieben, wenn er über letzte
Erkenntnisprobleme seine Personen verhandeln ließe.
Die Wissenschaft ist die Triebkraft dieses Dramas,
das Erkenntnisringen ist Lebensinhalt und tragische
Bewegung dieser Menschen. Das Zusammenfließen
von ideellen Vorstellungen und seelisch-körperlichen
Betätigungen, die Anpassung des Gedanklichen in
Handlungen von Personen, denen die Probleme der
Forschung zum treibenden und bestimmenden Ver-
hängnis werden, vollzieht sich gerade in der Sphäre
dieser geheimnisvollen nächtigen Phänomene am in-
nigsten. Die Menschen werden „Medium" ihrer Ge-
danken, die sich in beherrschende Naturgewalten ver-
wandeln. Darum gestaltete der Dichter den Gegen-
satz von mechanistischer und transzendender Welt-
anschauung in den Dämmergefilden des Spiritismus.
Er schrieb kein Drama gegen und für den Spiritismus,
er wollte auch nicht die Tragik des zerstörenden Ab-
irrens vom Normalen „zeigen". Er schuf die Schick-
salstragödie der Wissenschaft schlechthin in der
Schicksalstragödie einer Familie von Ge-
lehrten, Forschern, Grüblern. Alle großen
Dramen seit den griechischen Tragöden sind Schick-
salsdramcn, und die sind es gerade nicht, die sich
Schicksalsdramen nennen, in Wahrheit aber Zufalls-
dramen irgendeines blöden Ungefähr sind. Das Ver-
hängnis der Geschlechter, die soziale und politische
Gebundenheit, der unentrinnbare Zwang des Cha-
284
fakters — kurz das Schicksal erhebt bunte Begeben-
heiten erst zu jener Notwendigkeit, die der Inbegriff
des Dramas ist. In „Ignorabimus" ist die Wissen-
schaft das Schicksal, das Ringen um die Erkenntnis
die Tragik.
Der Titel klingt an das berühmte Wort Dubois-
Reymonds, des großen Physiologen. Das Haupt der
Familie, deren Zusammenbruch sich an einem März-
tage vollzieht — das Drama Holzens wetteifert in
der strengen klassischen Einheit der Zeit mit ödipus
und den Gespenstern — heißt denn auch „Prof.
Dufroy-Regnier, Wirklicher Geheimer Oberregierungs-
rat, Exzellenz, Rektor der Friedrich-Wilhelms-Uni-
versität". Zwischen ihm, seiner Tochter Marianne,
seinem Stiefbruder Ludwig, seinem Schüler und
Schwiegersohn Prof. Dorninger und einem abenteuer-
lichen Baron Üxküll (dem „Eindringling" des Dra-
mas) spielt sich die düstere Handlung ab, die durch
das Fratzenhafte in den komischen Gewohnheiten
der Personen nur noch finsterer, verzweifelter wird.
Vor drei Jahren hat sich in einer Märznacht Mariette,
die Gattin Dorningers, die Schwester Mariannes —
ihr körperlich zum Verwechseln ähnlich, seelisch welt-
fern verschieden — mit ihren beiden Kindern durch
Leuchtgas getötet. Es war ein unglückliches Paar.
Dorninger fühlt sich von Anfang an der Schwester
wahlverwandt. Mariette war in allem maßlos, leiden-
schaftlich, ungehemmt, furchtbar in ihrem Begehren
wie in ihrem eifersüchtigen Haß. Die Ursachen und
Umstände der Schreckenstat sind dem Gatten un-
bekannt. Das entsetzliche Erlebnis aber wirft ihn aus
der ruhigen Bahn wissenschaftlicher Gelehrsamkeit
und nüchtern entsagender, sich begrenzender For-
schung, die sein Schwiegervater in seiner natur-
wissenschaftlich-mechanischen Weltanschauung ein
ehrenüberhäuftes Leben lang charakterfest und selbst-
bewußt gepflegt hat. In der Erschütterung dieses
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sinnlosen Todes seiner Frau und Kinder erwacht in
ihm die uralte Sehnsucht der Menschen, jenseits des
Todes das Leben der unzerstörbaren Seele zu suchen.
So verfällt er dem Spiritismus. Er will den Geist der
Toten beschwören, um das Geheimnis ihres Unter-
gangs zu erfragen; eher kann er nicht die Ruhe seines
verstörten Gemüts wiedergewinnen. Dorninger findet
in Marianne eine verständnisvolle Gefährtin seiner
Forschungen. Sie ist — beide Schwestern sind aus
ungünstigen Umständen ihrer Abstammung psychisch
belastet — zugleich ein außerordentlich sensibles Me-
dium. Die Ergebnisse dieser spiritistischen Sitzungen
wühlen die bisherigen Anschauungen des Gelehrten
bis zum Grunde auf. Er gerät in heftigen Konflikt
mit der wissenschaftlichen Selbstsicherheit seines
Schwiegervaters. Die immer wilder andrängende
Liebe zu Marianne vollendet seine Verstörung. Er
will aus allem heraus, alle Brücken abbrechen, Haus
und Amt verlassen. Nur noch eine letzte Sitzung
will er halten. In ihr will er das Geheimnis der Toten
abzwingen. Mit einem von Ibsens Kunst erlernten
Spannung dramatischer Entschleierung enthüllt sich
allmählich das Dunkel jener Todesnacht. Im dritten
Akt ist die Sitzung. Sie führt zur Aufklärung und zur
Katastrophe. Mariannes zartes Nervensystem ist durch
die mediumistischen Versuche überwältigt. Sie er-
lischt unter der Zwangsvorstellung einer Vision, in
der ihr die verstorbene. Schwester den Tod verkün-
dete. Vergebens leugnet der Geliebte in letzter
Stunde alle Ergebnisse seiner spiritistischen Ver-
suche, er vermag Marianne nicht mehr aus dem Bann
zu befreien. Sie suggeriert sich aus dem Leben, sie
stirbt an der Überzeugung, daß sie zum Tode be-
stimmt sei. Ignorabimus, wir werden niemals wissen.
Ich kenne kein Drama, in dem die Rätsel dieser Men-
schenwelt mit schweren Geisterhänden so wesenhaft,
so rationalistisch erwiesen und doch so dämonisch
286
auflösend an die leicht beweglichen Pforten gewohnten
Denkens und Fühlens -klopfen. Und es rinnt zugleich
heißestes Theaterblut durch dieses Drama der Er-
kenntnis. Die spiritistische Sitzung, das magische,
flackernde unendlich zarte Liebesgespräch vor dem
Tode und viele andere Szenen und Bilder würden
auch äußerliche Bühnenwirkung nicht versagen.
In einer Zeit, da die blendende Theaterei eines
Max Reinhardt von den höheren Aufgaben der dra-
matischen Kunst täuschend ablenkt und in dekora-
tivem Regieplunder und oberflächlicher Beweglichkeit
die Bühne dem Wort des Dichters und der Kraft des
Schauspielers entfremdet wird, könnte ein Theater-
leiter einmal zeigen, wie wirkliche Schwierigkeiten
einer Bühnendichtung künstlerisch gemeistert werden
können. Wenn auch jeder dieser fünf Akte fast schon
allein einen gewöhnlichen Bühnenabend ausfüllt und
keiner durch Kürzungen verstümmelt werden darf,
lockt nicht gerade die Größe des Wagnis? Hat man
nur für die mythischen Perückenhelden der Götter-
dämmerung fünf Stunden Geduld und vermag man
nicht dem gedankenvollen Schicksalsringen von Men-
schen unserer Zeit, der grüblerischen Seelenmu&ik
eires Dichters unserer Qualen und unserer Sehnsüchte
sich hinzugeben?
[1913.]
287
Jonathan Swift.
Jonathan Swift starb am 19. Oktober 1745, im
Alter von 78 Jahren, es scheint : an progressiver Para-
lyse. Es ergab sich, daß er sein in einem Leben wohl-
tätiger Sparsamkeit, zuletzt wahnwitzigen Geizes er-
sparte Vermögen von 200000 Mark zum Bau einer
Anstalt für Idioten und Mondsüchtige gestiftet hatte.
Das war ernst gemeint. Er selbst fühlte, wie die Zer-
setzung seines Geistes über ihn hereinbrach. Früh-
zeitig kränkelnd, schwerhörig, verlor er das Gedächtnis
und war die letzten 5 Jahre, die in völligem Stumpf-
sinn dahinkrochen, nur noch ein verwesender Fleisch-
klumpen. Er wollte ein Asyl für seinesgleichen schaffen ;
es gab in Irland kein Hospital dieser Art.
Aber die testamentarische Verfügung war doch auch
ein grimmiges Urteil über den Erfolg seiner geistigen
Arbeit. Wenn Literatur zu wirken vermöchte, wenn
sie Hirne umbildete und den Rhythmus des Herz-
schlags bestimmte, so hätte es nach den Werken dieses
klarsten Logikers und rauhesten Moralisten, der Ver-
nunft und Willen zugleich in den unermeßlichen Ge-
bilden einer kosmischen Phantasie künstlerisch zu ge-
stalten vermochte, weder mehr Menschen geben kön-
nen, die unterhalb des geistigen Lebens hausen, noch
solche, die in nächtiger Verstiegenheit vor ferner
eisiger Unfruchtbarkeit Andacht treiben : weder Idioten
noch Mondsüchtige. Dann wären Swifts Werke tot,
aber sein Werk lebte. So aber sind seine Schöpfungen
lebendig geblieben, weil sie sich nicht ausgewirkt
haben, und wir lesen in ihnen noch heute nach zwei
Jahrhunderten unsere Ängste und Qualen, unsern
Zorn und Haß, unsere Hoffnung und Sehnsucht.
288
Den witzigsten Mann, der jemals gelebt, fand Grill-
parzer in der Vorrede zu Swifts Tonnenmärchen.
Auch unter die Humoristen mag er zählen, sofern
man unter Humor nicht die Schlaf rockart des be-
schaulichen, gemütvollen Lächelns unter Tränen ver-
steht. Thackeray, sein blasser Nachfahr, sagt von
ihm: „Im Humor, in der Ironie und in dem Talent
herunterzumachen und zu beschmutzen, was er haßte,
wissen wir uns mit der ganzen Welt eines, wenn wir
sagen, daß der Dechant von Saint Patrick keinen
Rivalen hat."
Als den „einzigen ironischen Großmeister unter
Alten und Neueren" feiert ihn Jean Paul. Übel be-
handeln ihn die deutschen Unternehmer von Literatur-
geschichten. Bei irgendeinem las ich, er sei Dichter
„im wahren Sinn des Wortes" nicht gewesen — weil
ihn nämlich das Schicksal seines Volkes und der Mensch-
heit mehr packte als der Jammer eines verliebten
Idioten, und die irische Wirtschafts- und Finanz-
politik ihm ein würdigerer Stoff der Dichtung schien
als die Mondnacht eines träumerischen Jünglings — ,
auch sei er eine zerstörende Natur gewesen. Hettner
schreibt :
„Jonathan Swift war wesentlich Pamphletist, frei-
lich einer der größten und gewaltigsten, die jemals
gelebt haben. Alle Eigenschaften, die zu dieser Art
der Schrifts teilerei gehören, standen ihm im reichsten
Maß zu Gebot: Klarheit des Geistes, Kälte des Her-
zens, Rachsucht, gewissenlose Verleumdung, ein im-
mer schlagfertiger Witz, eine genaue Kenntnis alles
Gemeinen und Verwerflichen in der Menschennatur
und eine wahrhaft bewundernswürdige Beherrschung
der Sprache, besonders in ihren mehr niedrigen und
provinziellen Ausdrücken. Die Dinge erscheinen nie-
mals wie sie sind, sondern immer nur wie sie sich in
dem verzerrten Hohlspiegel eines genialen, mit Gott
und der Welt zerfallenen Sonderlings darstellen."
19 Eisner, (immnwlte Schriften. II. 289
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Ich hätte das Bedürfnis anzunehmen, daß diese arm-
seligen Plattheiten erst in die spätere Auflage von dem
Herausgeber Hettners hineingepfuscht sind. Indessen,
auch Hettner, wie alle anderen deutschen Literatur-
professoren, erklären ja alle Wandlungen Swifts aus
Rachsucht, Enttäuschung, Ehrgeiz; die Tragödie seines
Lebens ist nach ihnen, daß er es nicht zum Bischof
brachte. Von dem hohen Lied der Menschhcitserlo-
sung, dem Weltbrand und der Götterdämmerung des
letzten Teiles des Gulliver urteilt Hettner gar:
„Empörende, herzlose Verbitterung, der Grund-
mangel von Swifts gesamtem Wesen, tritt offen zu-
tage. Wer gut scherzen will, der muß ein warmes
Gemüt haben, er muß zeigen, daß er denjenigen, den
er verspottet, dennoch von Grund der Seele liebt.
Dies warme Gemüt aber fehlt Swift. Sein Lächeln ist
nicht, wie bei allen großen Humoristen, das milde und
darum wohltuende Lächeln durch Tränen, sondern
nur das unheimliche Gelächter schadenfroher Mcn-
schenverachtung."
Daß aber Swift auch nicht das warme Gemüt besaß,
liebevoll unter Tränen über Krieg und Pest, Hunger
und Unterdrückung, Roheit und Niedertracht, Wahn-
sinn und Syphilis zu lächeln! Und daß er so gar keinen
Begriff von der Erhabenheit des Unterschieds zwischen
Tories und Whigs, zwischen Papisten, Lutheranern
und Calvinisten hatte, sondern über diese Überzeu-
gungen schadenfroh lachte, während er kalten Ge-
müts den höchst peinlichen Gorgonenschild wider alle
Bedränger der gemarterten Kreatur schwang! Swifts
kühnste Dichung, das erhabene Utopien seines Pferde-
staates, wird daher von Hettner schlechthin ab-
gelehnt :
„Einzig in der Schilderung der Houyhnhnms ist die
innere Wahrscheinlichkeit verletzt. Dies ist wieder
ein wichtiger Beweis für die alte bewährte Lehre, daß
was unsittlich und unvernünftig, auch immer un-
290
künstlerisch ist. Schon Boileau sagt: ,Nur in der
Wahrheit ist Schönheit4."
Herr Wülcker, der Hofrat der Anglizistik, durfte
1907 drucken lassen:
„Da ihm jedoch seine Freunde den ersehnten
Bischofssitz nicht verschaffen konnten, ging er 1710 . . .
zu den Tories über . . . All seine Lieblosigkeit, sein
Menschenhaß, seine Verbitterung treten hier (Gul-
liver) deutlich hervor: des Humors bar, ist er nur ein
herzloser Satiriker."
Von der Rasse packt den Charakter der neueste Ur-
heber einer Weltgeschichte der Literatur, Otto Hauser:
„Jonathan Swift war Irländer von Geburt . . . Doch
ist schon hier zu bemerken, daß diese Irländer nur
selten Iren oder doch nachweislich mit Iren ver-
mischte Engländer sind, vielmehr gewöhnlich aus rein
englischen Familien stammen (wie auch Swift), und
daß sich hier nur wieder die durch neuerliche Auslese
bedingte Tüchtigkeit der Kolonien zeigt."
In der Tat, allein mit der Rassenbiologie läßt sich
noch eine Weltliteraturgeschichte verfassen; denn nur
diese Methode ersetzt das tausend Menschenleben
erfordernde Studium der einzupökelnden Werke durch
die schnell zu erledigende Erkundigung nach dem
Geburtsort des Schriftstellers, seines Vaters und seiner
Großtante. Nichts ist sicherer, als daß sich Gullivers
Reisen aus dem Umstand erklären, daß Swift in Du-
blin geboren wurde, aber aus England stammte. Leider
scheint die koloniale Auslese doch nicht recht gelungen
zu sein; denn auch Hauser urteilt:
„Ein glänzender Geist, dem es nicht vergönnt war,
nach seiner ganzen Anlage zu wirken, der sich in Un-
rast in sich selbst verzehrte."
Äußerst zutreffend scheint ihm der Gulliver „durch-
tränkt von Bitterkeit".
All das Gerede hat Swift selbst schon vorweggenom-
men. In seinen Versen auf den Tod des Dr. Swift
201
(veranlaßt durch die Maxime des La Rochefoucault
„Im Unglück unserer besten Freunde finden wir im-
mer etwas, das uns nicht mißfällt") läßt er seine
Gönner nach seinem Tode reden. Die Liberalen
schelten auf den verfluchten Tory, den Abtrünnigen
der Freiheit:
„Auch ward er ja zur Strafe drum
Vor seinem Tod erstaunlich dumm."
Er ist der Menschenhasser ohne warmes Gemüt:
„Satiren schrieb er immerzu
Und ließ die Welt niemals in Ruh!
Ohn* Rücksicht flog da Streich um Streich,
Hof, Stadt und Land, das galt ihm gleich . . ."i
„Stets mußte er das Schlimmste weisen:
Pamphlet, Satire, Lügenreisen.
Sein geistlich Kleid, nicht schont er das,
Als Motte saß er drin und fraß.1'
Wie unbehaglich der Schlußteil des Gulliver:
„Nimmst du den Gulliver zur Hand,
So siehst du in dem letzten Band
Nur Lüg um Lüg in jedem Wort;
Dort ist ihm schier das Herz verdorrt.
Nicht eine Predigt wirst du schau n,
Um fromme Seelen zu erbaun."
Aber das Gelärm übertönt das stolze Schweigen des
Toten :
„Mein Wert der Prosa und Gedichte?
Begehrt nicht, daß ich selbst mich richte.
Noch sag, wie die Kritik mich raufte,
Ich weiß nur, daß sie jeder kaufte.
Begabt moralisch tief zu schauen,
Die Welt zu läutern, zu erbauen . . .
Und was ihm immer mochte glücken,
Muß doch die Welt in allen Stücken
Sein Lob und ihre Schmach erblicken.
292
Sein klein Vermögen warf er aus
Zum Bau von einem Narrenhaus
Und lehrt damit, daß solcherlei
Für die Nation höchst nötig sei;
Ihr braucht nicht mehr vor ihm zu bangen;
Wird seine Asche Ruh' erlangen ?"
Was Swift in Wahrheit der Welt sein wollte, steht in
der Inschrift seines Grabsteins, die er selbst bestimmt
hat:
„Hier liegt der Leib Jonathan Swifts,
Des Dechanten dieser Kathedrale,
Wo wilder Zorn sein Herz nicht mehr zerreißen kann.
Geh, Wanderer, und wenn du es vermagst,
Ahme den mutigen Mann nach,
Der im Kampf für die Freiheit seinen Mann stand. 44
Er nannte einmal die Menschen, die er liebte: So-
krates, den Gotteslästerer und Hochverräter, der den
Giftbecher trinken mußte; Brutus, der den Tyrannen
mordete; Thomas Morus, den englischen Kanzler,
den Kommunisten, der das Schaffot bestieg. Aus die-
sem Geschlecht stammt Swift.
Swift ist der Kritiker des Zeitalters, das der Revolu-
tion von 1688 folgte, ihr Geschöpf, Ankläger und
Überwinder. Er erlebt vier Herrscher, den Oranier,
seine Tochter Anna und die ersten beiden George.
Die parlamentarische Herrschaft entfaltet ihre Kraft.
Die konstitutionelle Aristokratie ringt mit dem Bür-
gertum um die Macht. Die Preßfreiheit ist seit der
endgültigen Aufhebung der Zensur im Jahr 1693 die
Lebensluft des geistigen, die Triebkraft des politischen
England. Noch gibt es Rückfälle. Unter der Königin
Anna wird politische und religiöse Reaktion versucht;
aber sie bringt es niemals zu mehr als zu kleinen ärger-
lichen Hemmungen und Belästigungen. Man läßt in
England drucken, was ein Jahrhundert später in
Deutschland noch mit Galgen und Rad bestraft wor-
293
den wäre. Die Presse blüht auf. Am Anfang de*
18. Jahrhunderts gibt es in London schon 18 poli-
tische Zeitungen; 1709 wird die erste täglich erschei-
nende Zeitung Europas begründet: der Daily Courant.
Die moralischen Wochenblätter beherrschen die öf-
fentliche Meinung. Der Journalist wird eine politische
Macht.
Die puritanische Enge der Cromwelischen Rebellion
ist gesprengt. Man will leben. Schon rechnet man
in England wirtschaftlich mit großen Ziffern; der
Aufstieg zur Weltmacht vollendet sich ungestüm. Die
Wissenschaft ringt um die Erkenntnis von Natur und
Gesellschaft. Am Anfang der Epoche mißt Newton
den Weltraum aus und gibt ihm Gesetze. Die Philo-
sophie entdeckt die Sinne und den gesunden Men-
schenverstand, die reinliche Tugend, das behagliche
Glück und jenen kühlen undogmatischen Deismus, der
den lieben Gott als einen unsichtbaren konstitutionellen
englischen König für das Reich der Ewigkeit einsetzt,
ihn aber nicht mehr durch kirchlich-dogmatische Ver-
fügungen in die weltlichen Gesetze eingreifen läßt.
Die Nationalökonomen beobachten sorgfältig und
scharfsinnig die wirtschaftlich-sozialen Bedingungen
der Gesellschaft; sie bereiten Adam Smiths Werk vor.
Das Zeitalter der Aufklärung beginnt, das in der
französischen Revolution die Hohe erreicht und in
Deutschland zum klassischen Kunstwerk sich im-
materialisiert.
Der Typus des öffentlichen Charakters bildet sich
aus. Jeder Politiker, jeder Staatsmann ist auf irgend-
eine Weise auch Schriftsteller, Journalist, Gelehrter.
Und jeder Literat ist auch irgendwie Politiker. Walter
Scott sagt von Swift, er sei mehr Staatsmann als Dich-
ter gewesen. Der Unterschied ist im Grund aufgehoben .
Das Dichten ist keine zünf tierische Spezialität. Swift
war Staatsmann, weil er Dichter, und Dichter, weil er
Staatsmann war. In ihm veranschaulicht sich die neue
294
gesellschaftliche Geltung der Schriftsteller. Noch
kann er von seinem Beruf nicht leben. Die Honorare
ernähren ihn nicht, wenn sie überhaupt gezahlt wer-
den. Er braucht ein Amt, deshalb Verbindungen,
Gönner. Die Parteikämpfe sind in persönlichem Be-
tracht wesentlich Kämpfe um einträgliche Stellen.
Aber der persönliche Wert gilt, nicht die hündische
Demut. Swift fühlt sich in seiner Londoner Zeit, so
arm er ist, all den Aristokraten überlegen, mit denen
er auf gleichem Fuß verkehrt. Er benutzt sie für seine
Zwecke, aber er dient ihnen nicht, sie sind sein Werk-
zeug. In seinen Tagebuchbriefen für Stella schreibt
er einmal:
„Sie müssen wissen, daß es mein Verhängnis ist, am
gleichen Tag ein Fürst und ein Lump zu sein. Denn
da ich ihn (den Schatzkanzler Harlcy) um 4 Uhr be-
suchen sollte, so konnte ich bei keinem Freund eine
Einladung zum Essen annehmen. So war ich denn
gezwungen, in eine Winkelgarküche zu gehen und für
10 Pence mit Kräuterbier, schlechter Brühe und drei
Hammelkoteletten vorlieb zu nehmen; und von dort
mußte ich dunstend zum ersten Staatsminister."
In Swifts gesellschaftlicher Stellung ist nichts von
Supplikantenelend. Swift steht aufrecht vor den Kö-
nigen und Adligen. So ist auch der Bezirk seiner
Kunst nicht die beschauliche Artistenklause. Sein
Sturm und Drang wider die bürgerliche Gesellschaft
rast sich nicht in erlebten oder erdichteten Aufleh-
nungen des privaten Lebens auf; sein Hirn glüht der
Welt, seine Kunst wälzt die ganze Fülle des politisch-
sozialen Daseins. Er ist nicht bloß Wortführer, er ist
Tatführer.
Während die Revolution sich in der Macht, im
Erwerb und Genuß der herrschenden Klasse sättigt,
führt Swift die Revolution über sich selbst hinaus.
In ihm sind schon die Dämonen der französischen Re-
volution und selbst der Chartistenbewegung. Die
295
nüchterne und heuchlerische Verständigkeit der Auf-
klärung ist ihm fremd. Die Vernunft, deren Herr-
schaft er proklamiert, ist nicht der Buchhalter eines
Kramladens, sie ist prometheischen Ursprungs. Er
ist von jenem verzweifelten Menschheitsgrausen be-
sessen, das die großen Befreier vorwärts hetzt, ins
Land der Zukunft. Das ist es, was die Beckmesser als
Menschenhaß und Bitterkeit merken, die der recht-
schaffene Humorist nicht haben dürfe. Das sind die
Schwerhörigen für das Glück der Gegenwart, weil sie
den Stimmen der Zukunft lauschen; die harten und
unbarmherzigen Richter des Bestehenden, weil sie
dem Werdenden überfließende Milde hingeben.
Swift war von dem triumphierenden Bewußtsein
des freien Englands wohl erfüllt; das Grundgesetz der
Freiheit ist die tödliche Waffe in seinen publizistischen
Kämpfen. Aber die neue Freiheit befreit seine Augen
ganz, daß sie die Abgründe des wirtschaftlichen, gei-
stigen und sozialen Massenelends zu sehen vermögen.
Die englische Weltpolitik plündert in Freiheit die
Menschheit aus. Swift hat eine hohe geistliche Pfründe
erlangt, er hat keine Not mehr zu leiden, aber er lebt
in Irland, das zu den vertriebenen Stuarts gehalten
hatte, und das nun von England als Kolonie behandelt
und durch ein ebenso raffiniertes wie brutales Aus-
saugesystem erschöpft wird. In der irischen Politik
Englands erkennt er die ganze Unmenschlichkeit des
aufsteigenden kapitalistischen Zeitalters. Indem er
sich zum leidenschaftlichen unerschrockenen Anwalt
Irlands erhebt, wird er zum revolutionären Verteidiger
des ganzen Menschengeschlechts.
Gedemütigt und arm ist die Kindheit und Jugend
Swifts. Im Haus eines reichen Aristokraten findet er
seinen Unterhalt. Er zerwirft sich mit ihm und muß
doch wieder seine Zuflucht zu ihm nehmen. Hier
nährt er all den Haß des Unterdrückten. Dann geht
er nach London und wirft sich in das politische Ge-
296
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triebe, im Lager der Liberalen. Bald ist er ein ge-
fürchteter und bewunderter Schriftsteller. Seine Feder
tötet, sein Witz richtet hin. Mit seinem Märchen von
der Tonne, hat er die verwegenste Satire gegen alles
Kirchentum erdacht, die jemals veröffentlicht worden
ist. Aber man fühlt, daß dieser in spielender Anmut
mähende Hohn mehr trifft als nur den Hader der
Papisten, Lutheraner und Calvinisten, er lehnt sich
gegen jeden Wahn auf. Swift ist eine Gefahr für alle,
die er befehdet ; man darf ihn nicht zum Feind haben.
Swift weiß, daß ihm niemand traut, weil er bereits
jenseits von allen steht; daß ihn aber alle fürchten.
Diese Macht nutzt er aus. Für sein persönliches
Fortkommen, für seinen Ehrgeiz? Vielleicht auch
dafür: Er bedarf der Stellung, um Unabhängig-
keit zu erwerben, um Einfluß zu gewinnen. Aber
in Wahrheit will er seinem Dämon dienen, der ihn
zum Sachwalter des Menschengeschlechts empor-
treibt. Er hat mit der Feder wechselnden Parteien
gedient: Als die WTiigs stürzten, ward er der ge-
haßteste und erfolgreichste Vorkämpfer der Konser-
vativen. Aber er hat bloß die Parteien gewechselt,
nicht seine Überzeugung, die von Anbeginn Whigs
wie Tories hinter sich ließ. Für seine Gedanken gab
es noch keine Partei, darum waren ihm Liberale wie
Konservative niemals etwas anderes als Mittel zum
Zweck. Er war nun einmal kein deutscher nationaler
Professor, der für seine Sache bereit ist in den Tod
(an Altersschwäche) zu gehen. In seinen Tagebüchern
an Stella und Briefen versichert er gern, daß er sich
an irgendwelchen Halunken durch ein Pamphlet
rächen wolle. Das nimmt der Literaturforscher für
bare Münze, und es ist doch nur eine burschikose
Wendung, gleichwie er tausendfach sein liebstes Mäd-
chen, M D (My Dear), auf ganz ähnliche Weise mit
polternd zärtlichen Schimpfworten bedenkt. Gewiß,
Ehrfurcht hat er für keine der beiden Parteien, weil
297
er von der Ehrfurcht für die eigene Partei seiner
großen, einsamen Sache erfüllt ist. Die Konfessionen
sind ihm nichts anderes als Parteien, die darüber
Kriege führen, ob man Eier am dicken oder dünnen
Ende aufbrechen müsse; die politischen Parteien ver-
spottet er unter dem Bild der Leute mit hohen und
niederen Stiefelabsätzen. Aber die Aufgaben, die er
sich mit seiner journalistischen Tätigkeit stellt, sind
aus der Uberzeugung erwachsen, daß sie dem ge-
meinen Wohl dienen. Daher die Unerbittlichkeit des
Kampfes; seine Pamphlete sind Feldzüge, die erst mit
dem Sieg endigen. Niemals gibt Swift Pardon: Das
wäre Verrat an seiner Sache. Die innere Reinheit
des Mannes leuchtet schon in den Parteiwirren der
Londoner Zeit hindurch. Dann, als er, fast wie ein
Verbannter, auf irischem Boden, der angebetete
Dechant von Saint Patrick, in den Tuchhändlerbriefen
für Irland ficht, wächst er zum Heldentum und zu-
gleich zur Weltkünstlerschaft.
So klar der öffentliche Charakter, so versponnen ist
sein persönliches Dasein. Er hat das Geheimnis seines
Lebens ins Grab genommen. Die unwissende Neugier
hat über das Rätsel dann Romane fabuliert. Man
weiß nur, daß durch viele Jahre seines Lebens die
gärende Doppelliebe zu zwei Frauen ihn bedrückt hat.
Swift ist der erste jener seelischen Bigamisten, die wir
dann in der weitern Folge des 18. Jahrhunderts so
vielfach antreffen, bis zu Bürger, Goethe und Schiller.
Wir kennen auch die bürgerlichen Namen der beiden
Frauen, die Swift als Stella und Vanessa unsterblich
gemacht hat. In den Tagebuchbriefen, die Swift
während seiner Londoner Zeit für Stella Tag um
Tag, Stunde um Stunde geschrieben hat, gewinnen
wir einen Einblick in diese Beziehungen. Stella ist
ihm Kind, Freundin, Kameradin, Geliebte zugleich.
Er schwätzt mit ihr wie mit einem Kind und macht
sie doch zur ernsten Vertrauten all seines Tuns und
298
Wollens. Er kümmert sich um ihre nichtigen An-
gelegenheiten, vergißt im Trubel seiner öffentlichen
Geschäfte nicht allerlei Aufträge und Besorgungen
für sie zu erledigen; und er wird nicht müde in zärt-
lichster Besorgnis der kleinen, kranken Augen von
M D zu gedenken. Sie blieb ihm Freundin und Ge-
nossin auch nach den Beziehungen zu Vanessa. Was
über die tragischen Konflikte zwischen den beiden
Frauen berichtet wird, ist Legende. Auch die selt-
same Geschichte, daß er schließlich auf Drängen
Stellas mit ihr die Ehe eingegangen, aber nur unter
dem strengen Gelöbnis, daß niemals darüber etwas
bekannt würde, und daß sie auch nicht wie Mann und
Weib miteinander lebten, ist neuerdings als Märchen
erwiesen worden. Swift hat weder Stella noch Vanessa
geheiratet. Warum es nicht geschah, weiß man nicht.
Ebenso kann man über die Natur dieser Beziehungen
nur Vermutungen haben. Und daß Vanessa an ge-
brochenem Herzen gestorben, als das Geheimnis der
Ehe ihr bekannt geworden, auch diese Uberlieferung
ist nichts als ein Roman.
Früher erklärte man das Stellageheimnis damit, daß
sie entdeckt hätten, sie wären Geschwister. Heute,
da man die medizinischen Deutungen bevorzugt, be-
hauptet man das männliche Unvermögen Swifts.
Auch dafür gibt es keinen Beweis. Im Gegenteil,
Swift erscheint von kräftiger, gesund natürlicher Sinn-
lichkeit. Eher könnte man, wenn Swift wirklich an
Paralyse gestorben sein sollte, an eine frühere Erkran-
kung denken, die eine Ehe als gewissenlos erscheinen
lassen mußte.
Eine psychologische Deutung seines Verhaltens zu
den Frauen aber läßt sich in der Weltauffassung des
Mannes finden, wie sie sich schließlich entwickelt hat.
Wie ihm vor der Menschheit graut, weil er in den
reinen Lüften seines Utopien atmet, weil er der Mit-
bürger einer ihm bereits wirklich gewordenen zukünf-
299
tigen Erde ist, so tritt vielfach in seinen Werken auch
ein Ekel vor der Frau hervor; er sieht die Unrein-
heiten ihrer Haut wie durch ein Vergrößerungsglas,
ihn peinigt der leibliche Verfall ihrer Formen, ihn
widert ihr Geruch an, für den ihm eine gesteigerte
Reizbarkeit eignet. Nicht die Schwachheit des Männ-
chens, sondern die Überkraft des Menschen erklärt
die tragische Einsamkeit und die quälende Wirrnis
seines Daseins.
Es gibt viele Dichtungen der Berufskunst, die über
die Jahrhunderte hinaus sprechen, zu allen Völkern
und Zeiten, aber es läßt sich kaum ein halbes Dutzend
Werke nennen, die auf alle Lebensalter innerhalb des
menschlichen Einzeldaseins gleichermaßen wirken, die
von der Wiege bis zum Grab Jugend wie Reife zu er-
freuen vermögen. Nur wenige Dichter haben Gestalten
geschaffen, die zum unverlierbaren Inhalt des Kultur- -
bewußtseins geworden sind, die dem Reich der Geister
eine unsterbliche Bevölkerung gezeugt haben. Robin-
son und Don Quixote sind von solcher Unsterblichkeit
und Allgcgenvvärtigkeit.
Swift hat in Gullivers Reisen das gleiche Wunder
künstlerischer Schaffenskraft vollbracht. Die Kinder
erfreuen sich heute und immer der Dichtung in un-
gezählten Bearbeitungen. Der Manu fühlt die zer-
malmende Macht der Weltsatire. Der Greis, der vor
dem Tod zittert, mag sich von seinem Wahn in den
Blättern erlösen, in denen die Struldbrugs geschildert
werden, die Menschen, die ewig leben und ewig altern.
Die Länder, die Gulliver entdeckt hat, sind aus der
Geographie unseres Geistes nicht mehr zu tilgen, und
die Völker, die er ersann, scheinen uns wirklicher als
die Deutschen, Franzosen und Engländer, unter denen
wir leben. Die anschaulich visionäre Traumkraft dieser
Gebilde ist wie Urzeugung neuen Lebens. Die sinn-
liche Lebendigkeit der Phantasie ist so groß, daß fast
jeder Satz mit Stift und Farbe gezeichnet werden
300
könnte. Selbst in den Namen, die er ersann, rauscht
es wie elementare Natur. Hinter der Fratze birgt
sich tiefsinnige Symbolik, und der ausgelassene Schalk
hat ein klagendes Herz in der wunden Brust, die doch
gegen jede weichliche Rührung hart gepanzert ist.
So zwingend ist die J/Ogik dieser Narrheiten, daß sie
uns selbst mit ihren wechselnden Erscheinungen wan-
delt. Wir wachsen über alles Maß hinaus, wenn wir
die Abenteuer von Liliput erleben, wir schrumpfen
zu einem furchtsamen Nichts in den Händen der
Riesen. Es kreist uns im schwindelnden Kopf, wenn
wir auf der magnetisch lenkbaren Fluginsel der La-
putianer unter das Gewimmel der Schiefgehirnten,
der Pläneschmiede geraten, und wir fühlen uns selbst
wie Gespenster, wenn die Helden der Weltgeschichte
schattenhaft vorübergleiten. Im letzten Teil erreicht
Swift das Höchste dichterischer Vision. Der mör-
derische Witz des Einfalls schreitet im leuchtenden
Gewand farbig körperhafter Anschauung. Das Land
Utopien tut sich auf, die Platonische Republik der
edlen — Pferde, die das scheußliche Gesindel der
schmutzigen Affen unterworfen und in die Verachtung
gescheucht haben: die Yahoos, in denen Gulliver
schaudernd die Menschen erkennt. Diese Pferde aber
sind die Vollendung der Natur, friedlich leben sie bei
sammen, gütig, rein; in ihren Seelen ist kein schmut-
ziger Winkel, und in ihrem Herrentum ist kein Hauch
von Grausamkeit. So hell und lauter ist ihre Welt,
daß sie nicht einmal Worte für die schimpflichen Be-
griffe haben, die ihrem Wesen fremd sind. Der
Houyhnhnm kennt das Wort Lüge nicht, die alles
Tun der Yahoos erfüllt, und als Gulliver, der arme
Yahoo, der doch, weil er ein wenig mehr Vernunft
hat, eine Zeitlang als Gast der Houyhnhnms geduldet
wird, das erhabene Reich schlichter Natürlichkeit ver-
lassen muß und nach England zurückkehrt, verzehrt
* ihn Sehnsucht nach jenem Land der Pferde. Er kann
301
den Anblick der Yahoos nicht mehr ertragen, ihn ekelt
vor dem eigenen Weib und den Kindern:
„Als ich mir zu überlegen begann, daß ich durch
die Paarung mit einer von der Gattung der Yahoos
zum Vater von mehreren Kindern geworden war, be-
fiel mich Scham, Verwirrung und Grauen."
Gleichwohl hat Swift diesen Yahoos sein Leben
hingegeben :
„Mich ärgert es nicht im geringsten, wenn ich einen
Anwalt, einen Taschendieb, einen Obersten, einen
Narren, einen Grafen, einen Spieler, einen Politiker,
einen Bordellwirt, einen Arzt, einen Zeugen, einen
Bestecher, einen Verräter oder dergleichen sehe: das
alles liegt nur in der Natur der Dinge. Doch wenn
ich einen Haufen Scheußlichkeit erblicke, verzehrt
von Krankheiten an Seele und Leib, und wenn der
mit Hochmut behaftet ist, so reißt mir sofort die Ge-
duld . . . Ich wünsche, die Gesellschaft eines eng-
lischen Yahoos auf jede Weise zu etwas nicht ganz
Unerträglichem zu machen, und deshalb flehe ich hier
alle an, die auch nur eine Spur dieses widersinnigen
Lasters besitzen, daß sie sich nicht anmaßen mögen,
mir vor die Augen zu kommen."
Um den Geist der Yahoos zu befreien, hat der junge
Swift sie in den Witzwirbeln seines Märchens von der
Tonne gebadet; das ist die Walfischtonne, die man
hinwirft, um die Tiere von den Angriffen gegen die
Schiffe abzulenken; das Kirchentum, das man den
Yahoos hinwirft, um sie von dem Angriff gegen den
herrschenden Staat abzuhalten. Für die armen iri-
schen Yahoos hat der alternde Swift jene Tuchhändler-
briefe in die Welt gesandt, die für immer das uner-
reichbare Vorbild politischer Kriegsführung bleiben
werden. In diesen irischen Pamphleten kündigt sich
zuerst das soziale Gewissen an. Swift ist der Erfinder
des Warenboykotts als eines Kampfmittels einer unter-
drückten Nation. Für Irland schrieb er jene furcht -
302
barste soziale Satirc, die jemals eines Menschen Phan-
tasie ersonnen, jenen Bescheidenen Vorschlag, wie man
die Kinder der Armen hindern kann, ihren Eltern
oder dem Land zur Last zu fallen. In der nüchternen
Sprache eines Kochbuchs gibt er das Rezept. Die
armen Mütter sollen ihre Kinder ein Jahr lang säugen
und mästen und sie dann für die Tafel des gnädigen
Herrn verkaufen:
„Ich gebe zu, daß diese Kinder als Nahrungsmittel
etwas teuer kommen werden, aber schon deshalb wer-
den sie sich sehr für den Großgrundbesitzer eignen;
da die Gutsherren bereits die meisten Eltern gefressen
haben, so haben sie offenbar auch den nächsten An-
spruch auf die Kinder."
In der Tat, Swift ist kein echter Humorist und kein
Dichter im wahren Sinn des Wortes. Ihm fehlt nun
einmal das warme Gemüt. Es ist seine Bosheit, daß
er überall Yahoos sieht, und es ist sein Menschenhaß,
daß er sie gar befreien will.
[Juli 191 1.]
303
Marie -Joseph Chenier.
Zum 100. Todestag des Dichters der Revolution.
Das Theater der Revolution war keine Revolution
des Theaters, aber Revolution auf dem Theater. Die
Parlamentsdebatte der ungeheuersten politischen Um-
wälzung der Weltgeschichte setzte sich fort im Theater,
auf der Bühne sowohl wie im Publikum. Die Einheit
des Schriftstellers und des politisch tätigen Men-
schen, die der Stolz der französischen Literatur von
Voltaire und Rousseau bis zu den Zola und Anatole
France ist, schafft auch die innere Zusammengehörig-
keit zwischen dem Drama und der Zeitgeschichte.
Die Form verharrt in den strengen Überlieferungen
der Klassiker, und die Stoffe werden aus der ge-
schichtlichen Vergangenheit entliehen, aber in der
hallenden Rhetorik der Helden brausen die unmittel-
baren Kämpfe der Zeit. Hat man des Tags über in
der leidenschaftlichen Prosa der Parlamentsrede unter
vulkanischen Kundgebungen des Massenwillcns Ge-
schichte gemacht, so überläßt man die Fortsetzung
des Abends dem gehobenen Spiel des Schauspielers,
man stilisiert die Ewigkeit des eigenen Handelns in
feierlich stolzierenden Alexandrinern und der Sans-
culotte sieht sich auf den Brettern der Bühne in der
Toga des römischen Republikaners. Der französische
Dichter flüchtet nicht ins Reich des Schönen, um
sich von dem Elend der Wirklichkeit zu retten. Er
erhebt vielmehr die Wirklichkeit ins Reich des Schö-
nen. Der Rhythmus seines Handelns ist auch der
Rhvthmus seiner Kunst.
So werden die Ereignisse der großen französischen
Revolution begleitet von der Sensation des Theaters:
304
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und beide werden mit gleicher Leidenschaft erfaßt.
In diesen eisig wehenden, scheinbar seelen- und farb-
losen Dramen der hohen Gattung fühlt der Franzose
unmittelbar den heißen Atem seines wirklichen Da-
seins, während in der alle Gluten des Daseins aus-
strahlenden deutschen Kunst jener Periode eine ab-
gesperrte Welt in sich und für sich auf dem engen
Schauplatz vom Parterre zu den Kulissen sich wesen-
los ins Innerste des Gemüts auswirkt. Aus Paris
schrieb am 7. Dezember 1797 Wilhelm v. Humboldt
an Schiller: „Fast alle Stücke, die man gibt, Farcen
ausgenommen, sind fortwährende Moralen in Alexan-
drinern; diese finden bei dem Publikum unbegreif-
lichen Beifall und werden von den Schauspielern am
besten gespielt. Wie diese trockene Art zu morali-
sieren, bei der kein Gedanke neu, selten nur der Aus-
druck kraftvoll ... so großen Beifall erlangen kann,
ist mir immer ein Rätsel."
Also diese trockene Art hat die Feuerbrände der
Revolution entfachen helfen, und diese platten Ge-
danken und kraftlosen Wendungen waren mittätig,
der Welt ein neues Antlitz zu geben.
Man erstürmt die Bastille und schließt dann das
geschichtliche Ereignis, indem man alle Tage auf der
Bühne sich den ,,Karl IX." von Marie- Joseph Chenier
vorspielen läßt. Ja, erst durch den Fall der Zwing-
feste der Monarchie wird die Bühne dem Drama
Ch£nicrs erschlossen. Man erstürmt im Theater die
Bastille des Zensors. Während auf der Bühne des
„Th£atre fran9ais" die „Schauspieler des Königs"
irgendein gleichgültiges Stück agieren, fliegen auf die
Köpfe des Publikums weiße Zettel herab: Warum
spielt man solche Jammerwerke, wo doch das große
Nationaldrama des befreiten Volkes schon geschrieben
ist, der Karl IX. des Herrn von Chenier? Und die
gedruckte Demonstration wird mündlich vom Publi-
kum fortgesetzt. Den Schauspielern wird hinauf -
ao Eisner, Gesammelt? Schriften. II.
305
zösische Publikum nach dem FaU der Bastille ist selbst
die Erlaubnis, daß man auf dem Hoftheater ein re-
volutionäres Stück spielen kann, nein spielen muß.
Dann wird das Drama der Bartholomäusnacht gespielt.
Ein Rausch kommt über das Publikum, man bricht in
Verwünschungen aus, wenn der Kardinal die Schwerter
zum Bürgermord segnet und die Verse, die die Revo-
lution prophezeien, müssen wiederholt werden:
Des Lebens Grüfte, schaurige Bastillen
Einst öffnen sie sich unter edlen Händen . . .
Die Revolution schreitet fort. Die hochverräterische
Monarchie hat verspielt. Im Theater gibt man — IJ92
- Cheniers Cajus Grachus, das Drama der Plebejer-
rebellion gegen die Aristokratie. Er erklärt den Ge-
mäßigten den Krieg. Aber schon treibt die Revolution
auch über den Radikalismus hinaus. Bei dem \ers*.
„Gesetz, nicht Blut ! Befleckt nicht Eure Hände,"
ruft der Deputierte Albille, ein Advokat aus Rouen:
„Gesetz, nicht Blut! Das ist der Vers eines Feindes
der Freiheit. Nieder mit den Grundsätzen der Konter-
revolution! Blut, nicht Gesetze!" Eine Panik ent-
stand, das Stück konnte nicht zu Ende gespielt werden.
Das Leben nimmt das Spiel auf: Blut traft de«
Gesetzes! Als Mitglied des Konvents stimmt Che-
nier, von Royalisten seit dem „Karl IX." unter die
„Ungeheuer, die das Land verderben" gezählt, für den
Tod des Monarchen. Er begleitete sein Votum mit
den würdigen Worten: „Ich hätte lebhaft gewünscht,
das bekenne ich, niemals für den Tod eines Wesens
meinesgleichen stimmen zu müssen; und wenn ic
mich einen Augenblick von dem peinlichen Amt er-
lösen könnte, das mir auferlegt ist, so würde ich für
das mildeste Ge?etz stimmen. Aber die Gerechtigkeit,
306
die der Staatsgrund ist, das Interesse des Volkes,
schreiben mir vor, meinen äußerst starken Widerwillen
zu überwinden. Ich erkläre mich für die Strafe, die
vor mir das Strafgesetzbuch bestimmt hat. Ich stimme
für den Tod." Eine stolze, tapfere, menschliche und
gerechte Begründung, die allein schon die reaktionäre
Legende zerstört, daß das Urteil über Ludwig XVI.
in einem wüsten Rausch niederster Triebe von einer
Verbrecherhorde dem vergewaltigten Parlament auf-
gezwungen worden sei . . .
Gegen die Übermacht der äußeren und inneren
Feinde der Republik wird der Schrecken proklamiert.
Der Jakobiner Chenier ist doch ein Gegner Ro-
bespier res. Er schreibt den Timoleon, indem er den
Tyrannenmord verherrlicht, den Fluch über die Mon-
archie spricht, aber auch der Schreckensherrschaft
Fehde kündet. Das Stück wird verboten. Der Dichter
muß sein Manuskript verbrennen und erst nach dem
Sturze Robespierres darf man die Verse hören :
Der Schrecken würgt den ehrenhaften Mann,
Läßt Menschlichkeit verdorren, Tugend schweigen,
Die Tyrannei, hochmütig, mordbegierig,
Der Ehrfurcht Maske auf der faulen Stirn,
Rafft sich der Freiheit Namen ohne Scham . . .
Zeit ist's, schuldschwerer Lehre zu entsagen.
Gesetze braucht's, der Sitte, nicht der Opfer.
Gewährt den Schurken heilendes Entsetzen.
Dem Recht verfalle Missetat erbleichend,
Damit die L'nschuld ruhig schlummern darf . . .
Der Schrecken macht nur Sklaven, Menschlichkeit
Allein bringt uns Gerechtigkeit und Freiheit.
Solche Verse eiferten in dem selben Drama, in dem
der Königsmord verherrlicht wurde:
Zu treffen den Verräter,
Hab ich das Recht verletzt, das Mord verbietet.
Doch Könige, sie schützt nicht das Gesetz . . .
307
Wollt Ihr mein Haupt, wohlan, Euch sei's verfallen.
Ich lebte und ich sterbe als ein Bürger.
Lebt nur die Republik, was gilt mein Dasein ! . . .
Die Revolution verbrandet. Die über die Welt
zerstreute Freiheit sammelt Napoleon in seinen Hän-
den. Und abermals begehrt Ch^nier die kämpfende
Bühne, die ihm die Macht verschärft: In der Gestalt
des „Tiberius" klagt Ch£nier am Ausgang seines Le-
bens den Imperator an, daß er den Franzosen das
Erbteil seiner Freiheit geraubt.
•
Marie- Joseph Chenier, der eigentliche Dichter der
Revolution, ist heute vergessen. Seine Werke waren
Planeten, die nur von fremden Sternen Licht, Wärme
und Glanz empfingen und erstarrten, als die Sonne
der Revolution verglüht war. Wenn man den Namen
Ch6nier hört, denkt man heute nur an den Bruder
Andrö, den Monarchisten, der zarte und heitere grie-
chische Elegien ersann; der mitten im Zusammen-
bruch des Königtums nach Versailles flüchtete und in
den weichen Armen einer holden Fanny von Marmor-
göttern träumte; der Charlotte Corday, die Mörderin
Marats, feierte, und von seinem jungen Leben, das die
Guillotine heischte, mit den Versen Abschied nahm,
aus denen die schimmernde Träne ins Ewige, unstillbar,
unaufgesogen rinnt:
So wie ein letzter Hauch, ein letzter Strahl des Gottes,
Den Tag verklärt an seinem Schluß,
Rühr' ich die Leier noch am Fuße des Schafottes;
Wer weiß, wenn ich's besteigen muß!
Wer weiß: vielleicht, bevor der Zeiger sich im Kreise
Auf dem geblümten Zifferblatt
Den sechzigfachen Schritt der vorgeschriebenen Reise
Helltön'gen Schlags vollendet hat,
Liegt schon der Schlaf der Gruft auf meinen bleichen
[Zügen ;
308
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Vielleicht, bevor es mir gelang,
Im angefangnen Vers den Reim zum Reim zu fügen,
Wird zu entsetzensheiserm Klang
Der Todverkündiger, der zum Gerüst des Schreckens
Uns schleppt mit seiner Söldner brut,
Das Echo dieses Saals mit meinem Namen wecken.
Keinen Vers von dem jakobinischen Bruder, der der
Herold der Revolution war, hat das Gedächtnis der
Nachwelt aufbewahrt. Aber die Revolution hat ihn
verewigt. Seine Verse mögen jetzt leer und hohl
klingen, aber sie begeisterten doch einmal ein ganzes
Volk, seine Lieder begleiteten die Soldaten der Frei-
heit in den heiligen Krieg gegen das monarchische
und feudale Europa, und seine Hymnen wurden auf
den Festen der Revolution gesungen, die Marie- Joseph
nach hellenischem Ideal schuf.
Als er vor einem Jahrhundert starb, in einer ver-
änderten Zeit, da den Schüler Voltaires die monar-
chische und religiöse Reaktion der Romantik bei Leb-
zeiten verschüttet hatte, hielt ihm ein Wortführer
dieser rückwärts gewandten Mächte, Chateaubriand,
die Gedächtnisrede im Institut; aber auch er beugte
sich vor dem Besiegten ehrfürchtig, indem er ihm
das Wort in die Ewigkeit nachsandte: „Marie- Joseph
Chenier hat die Freiheit angebetet."
309
Zolas Werk.
„Es wäre zu wü nschcn, daß ein b a r b a r i s c h e s
Genie käme, das ohne Lektüre, ohne Kritik,
ohne Grübeleien und Abschattierungen das
Jahrhundert von morgen mit Axthieben, unter
einem herrlichen Aufflammen der Wahrheit
und Wirklichkeit, erschlösse ..."
RmileZola, „Pari*", Zweit. Buch, IV. Kap.
I.
im zweiten Stockwerk jenes vornehmen Hauses,
hinter dessen ehrsamer Fassade vom Keller bis zu
den Dachsparren menschlicher Unflat, wie in einem
ungeheuren Pot-Bouille unsäglichen Ekels angehäuft
ist, wohnt ein geheimnisvolles Ehepaar. Wir erfahren
aus Emile Zolas lichtlosestem Roman nichts weiter
über diese Leute, als daß sich der gemeinsame Haß
aller der braven Bürger, die das Haus mit ihrem sitten-
streng geschmückten Unsauberkeiten bevölkern, gegen
sie richtet. Sie sind unnahbar und verkehren mit nie-
mandem. Wir sehen sie nur, wenn sie in peinlich ge
schlossenem Wagen durch das Haustor fahren, Vater
und Mutter, ihren beiden Kindern glücklich zulächelnd,
holden Blondköpfen, die Rosen in den Händchen
tragen. Der ganze Hausklatsch schäumt jedesmal auf,
wenn sich der Wagen zeigt. O, das sind unanständige
Menschen, dazu von einem ekelhaften Stolz besessen.
Selbst an Begräbnissen nehmen sie nicht teil, nur um
nicht so höflich zu scheinen wie ihre Mitbewohner.
Aber man weiß wohl, was das für eine Gesellschaft ist.
Der Mann hat schmutzige Romane geschrieben. Die
Polizei ist schon wegen des Skandals im Hause ge-
wesen. Man wird ihn einsperren — und der wagt
3*o
noch anständige Leute zu bewerfen ... So geifert
die Pot-Bouille- Kritik in dem großen ehrsamen Bür-
gerhause, in dem jeder neue Morgen in keuscher Sitt-
lichkeit die Skandale der Nacht verzehrt.
In diesem ironischen Symbol hat Zola frühzeitig sei-
nen literarischen Weg in der Bourgeoisie gezeichnet.
In einem geschlossenen Wagen ist er — ein reiner,
tapferer Mensch — unbekümmert und unberührt
durch das Haustor gefahren, das aus dem lasterhaften
Heim der anständigen Gesellschaft hinausführte.
Der schmähende, verleumdende Haß verfolgte ihn,
der all die heimlichen Sünden in die Öffentlichkeit
hinausgeschrien, ein Volksfeind, der Schriftsteller des
Kotes, dessen verdorbene Phantasie durchaus nicht
die Fülle der edelsten Tugenden sehen wollte, den
diese bürgerliche Welt beseelen. Dann freilich, als
der Name Emile Zolas zu stolzem Klange gedieh,
der die Welt zur Ehrfurcht zwang, empfanden es die
ehrlichen Leute von Pot-Bouille als eine große Ehre,
den berühmten Mann als Mitbewohner zu haben.
Sie reckten sich die Hälse aus, wenn er durch den
Torweg fuhr und erwiesen ihm die Ehre, ihn als einen
der Ihrigen zu betrachten. Sie wären selbst bereit
gewesen, ihm eine Gedenktafel über dem Torweg
von Pot-Bouille zu errichten: „In diesem Hause
wohnte unser . . ." Es war Emile Zolas größerer
Ruhm, daß er auch in diesen gefährlichen Zeiten das
Fenster nicht herunterließ und den Wagenschlag nicht
öffnete. Er fuhr seines Weges im geschlossenen Lan-
dauer. Dennoch blieb er, wie durch eine magische
Gewalt gezwungen, im zweiten Stockwerk des Hauses
des bürgerlichen Pot-Bouille wohnen, in das er nicht
gehörte, gegen das er sich absperrte und das er so oft
als möglich im verschlossenen Wagen verließ. Das
ist die leise Tragik seines Schicksals, dessen reiches
Glück seine Tapferkeit und seine Kraft gehämmert.
3"
II.
Nichts ist bewunderungswürdiger an Emile Zolas
Persönlichkeit als seine selbstbewußte, eigensinnige,
trotzige Tapferkeit. Der Hausklatsch von Pot-Bouille
hat äußerlichen Ehrgeiz — der Ehrgeiz ist immer
niedrig und meist lächerlich — zur Triebfeder seines
Mutes gemacht. Weil ein Kammerdiener noch nie-
mals einen großen Menschen kennen gelernt hat, so
ist damit nicht jede Menschengröße ausgerottet. Ohne
das heilige Feuer des Missionars ist ein Werk wie das
Emile Zolas undenkbar. Ein Charakter, dessen stahl-
harte Konsequenz niemals in einem Kompromiß ge-
strauchelt, der frei geblieben ist von moralischen
Ohnmachtsanfällen und Augenblicken anpassender
Schwäche, den weder tolle Wut noch blindes Lob zu
verwirren vermochte, quillt nicht aus den kleinen
Eitelkeiten des homo phänomenon, des Kammerdiener-
menschen, er empfängt vielmehr seine Würde und
Stärke vom homo noumenon, dem Menschen des
Geistes, dessen Entwicklung den Fortschritt der Kultur
bedeutet.
Als Zola im Jahre 1877 als siebenten Band seines
Rougon-Macquart-Zyklus den Totschläger (L'Assom-
moir) veröffentlichte, der zu seinen schwächeren Wer-
ken gehört, wiederholte sich in verstärktem Maße die
öffentliche Entrüstung, wie schon seine Therese Ra-
quin — ein Zola vor Zola — entfesselt hatte. In
der Vorrede der Buchausgabe erwiderte er auf diese
Angriffe: „Ich habe dieses Buch geschrieben, wie ich
die anderen schreiben werde, ohne auch nur einen
Augenblick von dem vorgezeichneten Wege abzu-
weichen. Hierin beruht meine Kraft. Ich habe ein
Ziel, das ich verfolge.*' Dann spricht Zola von seinen
schriftstellerischen Absichten: „Ich habe den ver-
hängnisvollen Verfall einer Arbeiterfamilie in dem
verpesteten Innern der Vorstädte schildern wollen.
Trunksucht und Müßiggang löst schließlich die Fa-
312
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milie auf, sie sinkt in den Schmutz, jedes sittliche
Gefühl stirbt ab und das lösende Ende ist Schmach
und Tod. Das ist ganz einfach Handlung gewordene
Moral. L'Assommoir ist zweifellos das keuscheste mei-
ner Bücher . . . Die Form allein wirkt verwirrend.
Man hat an der Ausdrucksweise Anstoß genommen.
Mein Verbrechen ist, daß ich den literarischen Ehr-
geiz hatte, die Sprache des Volkes aufzufangen und
künstlerisch zu meistern . . . Niemand scheint ge-
ahnt zu haben, daß meine Absicht die Arbeit eines
Philologen war, die, wie ich meinte, ein lebhaftes
historisches und soziales Interesse finden müßte. Im
übrigen verteidige ich mich nicht. Mein Werk wird
mich verteidigen. Es ist ein Werk der Wahrheit:
Der erste Roman über das Volk, der nicht
lügt, aus dem das Volk selber spricht. Man darf aus
meinem Buche nicht schließen, daß das ganze Volk
schlecht sei; denn meine Personen sind nicht schlecht,
sie sind nur unwissend und verderbt durch ihr Lebens-
schicksal, das zwischen harter Arbeit und bejammerns-
wertem Elend wechselt. Lesen, verstehen, im Zu-
sammenhang erfassen müßte man meine Romane, ehe
man schon fertige, ungeheuerliche, abscheuliche Ur-
teile über meine Person und meine Werke in die Welt
setzt . . . Wenn man wüßte, was dieser Blutmensch,
dieser wilde Romanschreiber für ein würdiger Bürger
ist, ein Mann der Wissenschaft und Kunst, der allein
dahin strebt, ein Werk zu hinterlassen, so groß und
lebendig, wie seine Kraft ihm nur gestattet. Ich will
keine Märchen widerlegen. Ich arbeite und verlasse
mich auf die Vernunft des Publikums, das mich schließ-
lich doch hervorziehen wird aus dem Schutt von
Narrheit und Torheit, unter dem man mich begraben
hat."
In diesen Zeilen lebt das ganze Wesen Zolas: Man
empört sich über ihn, er beruft sich auf die Wahrheit
und die Wissenschaft. Interessiert sich nicht auch der
313
Sprachforscher für die Gebilde der Sprache, die auf
der Gasse geboren wird ? Sollte das ein Dichter nicht
dürfen ? Er ist unmoralisch, weil er das Laster schil-
dert? Welch ein Irrtum! Die Moral selbst gewinnt
in diesen keuschen Büchern Gestalt. Man verleumdet
ihn ? Nun gut, er wird arbeiten und seinen Weg gehen,
den er sich vorgezeichnet, und kein Zweifel, er wird
siegreich sein Ziel erreichen.
Er siegte denn auch in der Tat. Aber selbst der
Sieg brachte ihn nicht vom Wege ab. Auf dem Höhe-
punkt seines Schaffens barst der Katholizismus und
warf ein Geschling neuer literarischer Werke aus:
der Markt wurde erfüllt von Narrengauklern und
Satanstollen; ätherische verzückte Seelchen führten
geile Bauchtänze auf, Farbenräusche des Unsinns,
fromme Absynthschwärmereien drangen in die Litera-
tur, Spiritisten, Okkultisten, Symbolisten haschten die
feurigen Ratten ihrer müßigen, aufgepeitschten Ein-
bildung, die Erschöpften schnitten mit feinen Messer-
chen in ihre siechen Gefühlchen, und die Kunstgigerl
scheuchten, mit parfümierten Taschentüchern schla-
gend, die brutale Kraft des Lebens von sich und
schwammen in dem violetten, müden Urduft unsäg-
licher Gefühlsverfeinerung. Zola aber blieb auf der
Erde, fest und stämmig, er lachte des ärmlichen
Narrentreibens, verkündete gegenüber den klerikalen
Gehirnfinten des Nichtwissens und Nicht wissenkön-
nens die Wissenschaft und die Arbeit, ein Mann, ge-
fügt aus dem Kernholz der großen Aufklärer, die in
der Kulturtradition der Menschheit lebten und schu-
fen das barbarische Genie, das mit Axthieben das
neue Jahrhundert bahnt.
Zola ist kein Vertreter der Kunst um der Kunst
willen. Zwar kämpft er in L'Oeuvre, dem erschüttern-
den Roman des Künstlcrmartyriums, für die neue
revolutionäre Generation, die vom Hohn des Publi-
kums gestäupt wird, weil sie gegen die stumpfe Ge-
*
3M
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wohnheit Neues sieht und gestaltet. Aber das war
auch lediglich die Proklamation von Natur und Wahr-
heit gegen eine matte Afterkunst, die sich in ihr Atelier
sperrte. „Das Volk bedarf der Schönheit, um körper-
lich vollkommen und guten Herzens zu werden. Nur
ein Volk, dessen Geist frei, dessen Seele harmonisch
ist, kann ein zufriedenes Volk sein. Alles in der Um-
gebung der Menschen, alles in ihren Heimstätten muß
ihnen die Schönheit vor Augen führen, und besonders
die Gegenstände täglichen Gebrauchs, die Gerät-
schaften, die Möbel, die ganze Einrichtung des Hauses.
Der Glaube an die Exklusivität, an den Aristokratis-
mus der Kunst ist töricht, die umfassendste, die all-
gemeinste, die menschlichste Kunst kann allein das
Leben erweitern und verschönern. Wenn das Kunst-
werk allen zugänglich ist, im Hinblick auf alle ge-
schaffen wird, dann wird erst die Kunst eine gewaltige
Höhe und Weite erreichen, die ganze Unendlichkeit
der Wesen und Dinge umfassen. Denn sie entstammt
der Allgemeinheit, sie kommt aus dem Innersten der
Menschheit hervor, und das unsterbliche Kunstwerk,
das Jahrhunderte überdauert, ist das Produkt eines
ganzen Volkes, das Ergebnis einer Epoche und einer
Zivilisation. Aus dem Volke heraus blüht die Kunst,
um sein Dasein zu verschönern, um ihm Duft und
Farbe zu verleihen, die zum Leben so nötig sind wie
das tägliche Brot."
So kündet der Evangelist der „Arbeit4*!
III.
Zolas Lebenswerk ist die Schilderung eines unge-
heuren gesellschaftlichen Zusammenbruchs. Er ist der
Kulturhistoriker, Geograph, Geologe und Prophet einer
Teufelsinsel, die in einem vulkanischen Wirbel ver-
schlungen wird. Er ist der Jesaias einer kosmischen
Katastrophe, in der ein Reich strahlender Fäulnis
untergeht.
315
Als der Dichter 1869 den Riesenplan seines zwanzig-
bändigen Rougon-Macquart-Epos entwarf, spürte er
bereits die Zuckungen des Erdbebens. Dann kam
Sedan und der Kommuneaufstand, und damit be-
stätigte die Geschichte selbst seinen voraneilenden
Plan: Das zweite Kaiserreich, das mit dem Staats-
streich des kleinen Napoleon begann und in dem
brennenden Paris seine Feuerbestattung fand, erwuchs
in dem Kyklopenbau der zwanzig Romane. Ein neuerer,
verheißender Epilog — Doktor Pascal — , der den
Triumph der Wissenschaft verkündet, klingt der
Höllenfahrt durchs zweite Kaiserreich nach — ein
Holüberruf zu sonnigem Gestade erlösten Lebens.
An der unerreichten Kühnheit des Entwurfes klirrt
hemmend die Kette einer falschen Doktrin. Das
Schicksal der Zeit verkörpert sich in einer verschlun-
genen Familiengeschichte. Aus einer Buhlschaft zwi-
schen Wahnsinn und Verbrechen ist eine Horde ent-
setzlicher Menschen entstanden, Erzväter der Hölle,
eine Schreckensgalerie der Entartung. Sie sind die
geheimen Elemente, die den Boden unterwühlen, in
dem das Kaiserreich zugrunde geht — nichts hinter-
lassend als den Pestgeruch faulenden Menschen flei-
sches. So verwandelt sich die strenge Kausalität einer
politisch, ökonomisch, psychologisch zu erfassenden
Zeitentwicklung in ein dunkles Blutfatum. Die un-
heimliche Ahnfrau geht um und die Sünden der Väter
werden heimgesucht an Kindern und Kindeskindern.
Statt des werdenden Verbrechers tritt der geborene
Verbrecher auf den Schauplatz. Alles ist bestimmt
in des Teufels Rat, der in einer Stunde besonderen
Teufeltums de/i Wahnsinn mit dem Verbrechen kup-
pelte. Es gibt kein Entrinnen. Das Armesünderglöck-
lein läutet heimlich schon bei der Geburt.
Zola selbst aber zerrt unablässig an dem Strange
seiner Doktrin, die seinem ganzen Wollen widerstrebt.
Er sucht ihr zu entschlüpfen, in die Freiheit zu flüch-
316
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1
ten. Die Miene des kalten Wissenschaftlers, der ein-
fach ausspricht, was ist und sein muß, ist nicht echt.
Seine nüchterne Sachlichkeit ist nur eine Notlüge.
Der wachsende Kampf gegen das Phantom, an das er
sich selbst geschmiedet hatte, ist die Geschichte seiner
Entwicklung.
Freilich gewinnt durch diese Unentrinnbarkeit die
Schicksalstragödie der Rougon-Macquart jenen dämo-
nischen Zug einer gigantischen Gestalt, der alles
Menschliche unterliegen muß. Zwischen dem Anfang
und dem Ende glimmt die Zündschnur, die unab-
lässig und unvermeidlich die Explosion nähert. Wir
sehen das Unheil nahen, aber, wie durch eine Traum -
angst gebannt, vermag niemand den Funken zu zer-
treten.
In den Bänden der Rougon-Macquart rast die wilde
Jagd des Kaiserreichs, von blutigen Feuer branden
flackernd beleuchtet, atemlos vorüber. Zola hat dieser
Zeit kein unsagbares Wort und keine greuelvolle Un-
tat erspart. Sein gellendes j'accuse — ich klage an —
stößt die Türen der kerzenstrahlenden Schlösser ein,
es durchstürmt die Höhlen des Lasters, es erweckt
die Sittenerschlaffung des Parlaments und der Presse,
es reißt die Lustkranken aus Nanas Lotterbett, es
lüftet die verschwiegenen Vorhänge des bürgerlichen
Doppellebens, es übertönt den Orgelklang der Kirche,
überschreit den Lärm des orgiastisch feilschen Börsen-
piraten, es stäubt den Puder von den Kulissen,
die Bordelle decken, es klirrt hinter dem Pflug, der
alle Menschlichkeit mit der Scholle zerwühlt, es reizt
den Hunger, der mitten in prassender Fülle leidet,
es trauert zornig bei dem schuldlosen Verbrecher,
es läutet den unter Tage Fronenden die Stunde der
Vergeltung und der Hoffnung, und es stöhnt aus dem
Blutvergießen, in dem die Völker einander morden.
Ich klage an — ich klage an — ich klage an!
Jeder Roman hat sein besonderes Stoffgebiet, einen
3i7
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besonderen Duft, es sind Symptome des Verderbens,
jedes in einer anderen Tonart. L'Assommoir ist über-
strömt von Fuselduft und dem Dunste der Wasch-
küche. Nana ist eine unendliche Nacht käuflicher
Brunst, das Himmelbett der Dirne steht im Mittel-
punkt der Erde, und wenn die Sonne sinkt, strömen
die Völker zu diesem Götzenkult der unfruchtbaren
Astarte. Germinal ist das Reich des im Kohlenstaub
erstickten Lichtes, in dem lebende Automaten der
Arbeit erbarmungslos verwittern. In L'Argent de-
liriert das Goldfieber, die Wollust der Spekulation.
Der Wahnsinn, der mordet, wenn er liebt, brütet in
La Bete humaine. Ein furchtbarer Blutstrom ergießt
sich über den Roman des deutsch-französischen Krie-
ges (D6bacle), ein Meer von Blut, das dann gleichsam
in die Flammen sich wandelt, die über Paris zusam-
menschlagen. Dazwischen taucht die wunderbare
Welt des Eßbaren auf, die in den Markthallen, dem
„Bauch von Paris", sich türmt. Das Warenhaus
breitet seinen unerschöpflichen Weibertand — au
bonheur des Dames — , das die Hirnchen der Bourgeois-
damen trunken macht und nebenbei die bescheidene
Biederkeit des kleinen Krämers verwüstet . . .
Ist der Rougon-Macquart-Zyklus die Hölle des
großen Menschheits Werkes Zolas, so darf man die
Trilogie der drei Städte — Lourdes, Rom, Paris
— als das Fegefeuer bezeichnen, in dem sich die finstere
Verzweiflung des „Materialisten** an dieser fatalisti-
schen Welt von Zucker und Vitriol, das heißt von
Tugend und Laster, zur neuen Weltanschauung der
geistigen und sozialen Befreiung läutert. Der Uni-
versalpakt des Klerikalismus wird in den drei Städten
geschildert. Der zweifelnde Priester Pierre pilgert
nach Lourdes, wo in den Wunderwässern die Haut-
fetzen des Krüppel und Bresthaften schwimmen.
Kann die Menschheit durch Rückkehr zu dem naiven
Kindcrglauben genesen, der von Quellen, Steinen,
318
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Puppen Erlösung von ihrem Jammer hofft ? Lourdes
antwortet: Nein. In Rom ringt Pierre mit dem
Traume eines verjüngten Reformkatholizismus, der
sich mit der Wissenschaft und der Demokratie aus-
söhnt. Zola hat hier jene neueren Anpassungsversuche
der Kirche dargestellt, die selbst mit dem Atheismus
paktieren würde, wenn sie nur so die Macht zu be-
haupten vermöchte. Pierre kehrt nach Paris zurück:
Welch lächerliche Einbildung, daß ein neuer Katholi-
zismus die Religion der Demokratie, das geläuterte,
menschliche und lebende Evangelium predigen werde.
Ein letzter Trostgedanke bleibt ihm; eines ist wahr
und ewig in der katholischen Religion, die Nächsten-
liebe, die Caritas. In Paris bricht auch dieser Wahn
zusammen. „Genügt nicht/4 ruft Pierre verzweifelnd
aus, „ein vor Kälte und Hunger gestorbener Greis,
um das Gerüst einer auf Almosen erbauten Gesell-
schaft zusammenbrechen zu lassen ? Ein einziges Op-
fer, und diese Gesellschaft war verurteilt." Diese
beleidigende und listige Barmherzigkeit der wohl-
tätigen Bourgeoisie ist in Wahrheit der Bankrott der
Nächstenliebe: „Die Nächstenliebe wird zusammen-
brechen ; die Armen glauben nicht mehr an sie, erbosen
sich über dies lügnerische Paradies, dessen Verheißung
ihre Geduld so lange aufrecht hielt, fordern, daß
man sie wegen der Regelung ihres Glücksanteils nicht
auf den Morgen nach dem Begrabenwerden vertröste.
Ein Schrei nach Gerechtigkeit steigt von allen Lippen
auf — Gerechtigkeit auf dieser Erde, Gerechtigkeit
für die, die hungern und dürsten, denen zu helfen die
Barmherzigkeit seit den achtzehn Jahrhunderten des
Evangeliums überdrüssig ist, die noch immer kein
Brot zu essen haben!" Und der abtrünnige Priester
schreibt dem Katholizismus die Grabschrift: „Wie
wird man in tausend Jahren, wenn der Katholizismus
nur mehr ein uralter, toter Aberglaube sein wird, wie
wird man staunen, daß die Ahnen diese Religion der
319
Qual und des Nichts ertragen konnten: Gott ist ein
Henker, der Mensch wird entmannt, bedroht, gefol-
tert, die Natur für eine Feindin erklärt, das Leben
verflucht, der Tod allein gilt als süß und befreiend!
Zweitausend Jahre lang wurde das Vorwärtsschreiten
der Menschheit von der abscheulichen Idee ge-
hemmt, daß man dem Menschen alles entreißen müsse,
was er Menschliches besitzt: Wünsche, Leidenschaf-
ten, den freien Geist, den Willen, die Tat, seine ganze
Kraft. Welch ein freudiges Erwachen wird es sein,
wenn die Jungfräulichkeit verachtet, die Fruchtbar-
keit wieder eine Tugend werden wird, wenn im
Hosianna der befreiten Naturkräfte die Wünsche
geehrt, die Leidenschaft nutzbar gemacht, die Arbeit
emporgehoben, das Leben geliebt werden und die
ewige Schöpfung der Liebe zeugen wird."
Die neue Religion des gottlosen Priesters Pierre
wird in dem letzten Romanzyklus Zolas, den vier
Evangelien, gestaltet. Wir steigen aus dem Fegefeuer
zum Paradies empor: die Befreiung der Liebe zur
Fruchtbarkeit, die Befreiung der Arbeit in der
sozialen Gesellschaft, die Befreiung der Wahrheit
im Staate der Gerechtigkeit.
Das vierte Evangelium, die Gerechtigkeit, hat
Zola in den Tod mitgenommen.
IV.
Schon im Laufe der Rougon-Macquart- Romane
nahm das lehrhafte Element zu. Die älteren Werke
begnügen sich mit den grausamen Tatsachen, den
furchtbaren Kontrasten, aus denen der Funke einer
unausgesprochenen Moral sich entzündet. Später
gipfeln die Dichtungen in Apotheosen der Sehnsucht,
in leuchtenden Weissagungen, in phantastischen Fie-
bergesichten. Durch all den Kot schreitet ein Be-
freier, der den Chorus darstellt. In den drei anti-
klerikalen Romanen tritt die Tendenz schon herr-
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sehend hervor, in den vier Evangelien überwuchert
sie die realistische Handlung und verdichtet sich zur
Utopie, zum Zukunftsbild.
Aber wenn auch Zola nicht dichtete, um zu fabu-
lieren, sondern um zu kämpfen und zu bilden, so
bedeutet das keineswegs eine Minderung seiner Kunst -
lerkraft. Es ist eine verzärtelte, unwahre Artisten -
ästhetik, die Wissenschaft und Ethik aus der Kunst
aussperren will. Kunst ist in ihrem innersten Wesen
nichts anderes als die Vereinigung wissenschaftlicher
Erkenntnis und idealen Wollens in der freien, gestal-
tenden, sinnlich -anschaulichen, phantasiemächtigen
Lösung des Gefühls.
Die Wahrheit ist, daß Zoias Kunst durch seine
Tendenz erhöht und geadelt worden ist und ihr über
manche Ebbe der ursprünglichen schöpferischen Ge-
walt, dieindenletzten Werken nachließ, tragendhinweg-
half. Seine Werke sind Dichtungen größten Stiles, obzwar
sie zugleich Traktate, Weltpredigten sind und sein sollen .
Zwar ein Menschenbildner und Seelenkünder ist
Zola nicht. Nur die grell beleuchteten Episoden-
figuren werden lebendig. Sonst wachsen ihm durch
Vereinfachung des Mannigfaltigen und Herausarbei-
tung typischer Züge die Gestalten ins starr Symbo-
lische. Er gibt nur den Kehrreim statt des ganzen
Gedichtes, das besondere Kennzeichen statt des Por-
träts. Und seine Philosophie ist geradlinig, allzu ty-
pisch, allzu elementar.
Aber das Massendasein dieser bunten Zeit, die Le-
bensäußerungen der Kultur, das Stimmungsbild der
Landschaft, die Abgründe der menschlichen Gesell-
schaft, die Verruchtheit der Institutionen, der ganze
wahnsinnige, verbrecherische Cancan um Gold und
Fleisch, die großen Leidenschaften und die bestiali-
schen Begierden, die stolzen Schöpfungen der mensch-
lichen Vernunft und die Kontraste der Barbarei —
all das verdichtet sich zu tiefen und starken Gebilden
ai Kitner, Gewnmeltc Schriften. II.
von unerreichter Kraft der Anschauung. Zola hat
das Seelenleben der Stadt Paris bis in die feinsten
Zuckungen und Regungen belauscht und dargestellt,
dieses Paris, das in Abendnebeln fröstelt, in Regen-
schlamm ertrinkt, in der Mittagssonne des knospenden
Mai jubelt, das in den Wollustschauern der Mitter-
nacht fiebert, Paris, das hungert und praßt, friert und
schwelgt, spielt und tanzt, das in Schmerzen sicli
krümmt und im Rausche torkelt, dies Paris der Spe-
lunken und Paläste, der Dirnen und Abenteurer, der
Spitäler und Asyle, der frommen Messen und scham-
losen Obszönitäten, des stillen glücklichen Friedens
und der lärmenden Sensationen, dies Paris der Kunst
und der Reklame, der Wissenschaft und der korrupten
Lüge, der ernsten Arbeit und des müßigen Schwin-
dels, dies Paris, das seine Sünden und Frevel in der
brennenden Sturmflut der Kommune büßt.
Alle Werke Zolas sind erfüllt- von solchen gran-
diosen Stimmungsgemälden, die das Sprödeste selbst
zu bändigen wissen. Hätte Zola nur Germinal und D6-
b&cle geschrieben, er gehörte unter die Ewigen der
Kunst. Namentlich in den Kriegsschilderungcn ent-
faltet er eine unerreichte visionäre Wucht des Grauen-
haften, das von Entsetzen zu Entsetzen steigernd jagt :
die Erstürmung von Bazeille, der Marsch durch den
granatenbesäeten Wald, die Szene im Lazarett, die
Schrecken im „Lager des Elends", der Brand von
Paris — niemals haben bloße Worte so Ungeheures
gestaltet. Freilich, das sind nicht die Kriegsbilder,
wie sie in den Nationalgalerien hängen. Der Krieg
ist keine Komposition von Heldenmut, Patriotismus
tiefsinniger strategischer Mathematik, welthistorischer
Mission, blanken Uniformknöpfen, leuchtenden Fah-
nen, so ein heroisches Schaustück, auf dem die paar
Blutstropfen nur den Zweck dekorativer Farben Wirkung
erfüllen sollen. Hier lebt das entfesselte Kannibalen-
tum, der Raubtierwahnsinn, der sich im Blute besäuft.
322
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Das gehört zu der Tapferkeit und zu der aufrichti-
gen Künstlerschaft Zolas, daß er dem Schrecken nie-
mals einen Hauch seiner Fruchtbarkeit genommen
hat. Die Laster, die Zola darstellt, locken nicht, die
Verbrechen reizen nicht. Die Armut hat keine An-
mut. Der ganze Ingrimm der verratenen und ge
schändeten Humanität beruht in den erbarmungslosen
Bildern des Grausens und Ekels. Könnten Bücher
mit der ganzen Kraft ihres Wesens die Welt umbil-
den, es gäbe nach L'Assommoir keinen Trunkenbold
mehr, nach Nana keine Prostitution, nach Germinal
keine Ausbeutung, nach Deb&cle keinen Krieg, nach
Lourdes keinen Klerikalismus, nach Fecondite* keinen
Liebesverrat mehr. Zola hat die Welt der kapitalisti-
schen Barbarei entblößt und zertrümmert, aber diese
Welt lebt noch immer — ein Denkmal der Ohnmacht
alles Kunstwollens, schüfe es selbst mit Gigantenfaust .
V.
Nicht die Tendenz an sich hat Zolas Kunst ge-
schwächt, sondern die schwankende Unklarheit seiner
Tendenz. Der Irrtum seiner ursprünglichen Doktrin,
die in einem trüben Blutaberglauben der Vererbung
wurzelt, bildet die Schranke zwischen dem Dichter
und der lebendigen Entwicklung, in die er nur einmal
— in der Dreyfusaffäre — unmittelbar handelnd ein-
griff. Die Geschichte der nie völlig überwindenden
Loslösung von dem Irrtum seines Anfanges ist zu-
gleich die Geschichte seines Sozialismus, zu dem er
nie in ein klares, sicheres Verhältnis kam.
In L'Assommoir ist Zola noch völlig in physiolo-
gischem Determinismus befangen. Es ist eigentlich
nur ein dummer Zufall, daß dieser Coupeau Alkoho-
liker wurde und im Delirium umkam. Hätte er nicht
einen Unfall erlitten, so wäre er vermutlich ein ordent-
licher Mensch geblieben, dem selbst die lauernde Erb-
sünde nichts anhaben konnte, und seine Tochter
323
Nana wäre, ordentlich erzogen, nicht die furchtbare
Dirne geworden, die ganz Frankreich vergiftete und
die verdorbene Nation nach Sedan führte. Ein Bau-
unfall wird so zum Motor der ganzen erblichen Ent-
artung eines dem Untergang verfallenen Geschlechtes.
In Germinal ist schon nichts mehr von dieser ober-
flächlichen Strategie des Zufalls, der das Schicksal
regiert. Aus den Tiefen der Gesellschaft und ihrer
widersinnigen Struktur selbst wächst das Elend. Und
in den hymnischen Schlußworten, die das Herz des
internationalen Proletariats zuerst dem Dichter ge
wannen, klingt es fast wie das Bekenntnis zum mo-
dernen Sozialismus: nichts mehr von unüberlegten,
wilden Putschen, man wird sich still und stet organi
sieren, die Arbeiterklasse zu einem gewaltig anschwel-
lenden Heere formieren, das die politische Macht er
obert und dann an die Arbeit gehen kann, um die
Welt umzugestalten.
Einen merkwürdigen Rückschritt bedeutet wieder
L'Argent. Die einzige anständige Figur in diesem
Hexensabbat des Gründungsschwindels ist ein armer
schwindsüchtiger Jude, der in einer Dachstube haust
und Marx studiert. Er arbeitet an einem Werke, in
dem er die Baupläne für den sozialistischen Zukunfts-
Staat ziffernmäßig genau entwirft. In dem Zusam-
menbruch der Börsenpanik stirbt er, in den Fieber -
gluten seiner letzten Stunden phantasiert er Marx,
freilich einen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten
Marx. Dennoch kündet er die sozialistische Gesell-
schaft und in solchen Visionen verklingt der Roman.
Es ist zweifellos keine Verhöhnung des Sozialismus,
wie man wohl gemeint hat. Nicht die Umnachtung
des nahen Todes, sondern das ahnungsvolle Hellsehen
am Rande des Grabes kündet — nach der nicht miß-
zuverstehenden Absicht Zolas — die Zukunft. Den-
noch wird der Sozialismus in die Zweideutigkeit einer
fiebernden Träumerei gebracht, und vor allem, was
3*4
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schlimmer ist, er erscheint durchaus unklar, mystisch,
verschwommen.
Die politische Aktion des Proletariats erscheint am
Schlüsse von De'b&cle. Für die Kommune wird kein
Wort der Sympathie geäußert. Im Gegenteil: der
Aufstand wird als eine Folgekrankheit des Krieges
erklärt, als eine pathologische Erscheinung geschwäch-
ter Hirne. Um kein Mißverständnis zu erwecken:
die Kommune wird von Zola nicht etwa verurteilt,
und die Schreckensherrschaft der Versailler wird keines-
wegs geschont. Aber die Revolution wird nicht als
historische Notwendigkeit aufgefaßt, sondern als phy-
siologischer Ausbruch überreizter Nerven.
Endlich in den drei Städten und den Evangelien
bekennt sich Zola unbedingt zu den positiven Idealen
des Sozialismus, aber nicht zu den reifen Formen der
modernen Arbeiterbewegung. Aus der Hölle des Ka-
pitalismus rettet der Dichter sich in das Paradies
Fouriers. In Paris wird die lebendige Sozialdemokratie
nicht gerade sehr sympathisch behandelt. Unter leicht
erkennbarer Maske wird der Führer der Marxisten
bespöttelt. Aber in den utopischen Schilderungen
von Travail erkennt Zola doch das Endziel des So-
zialismus an. Die Phalanxen sind nur ein Übergang,
ein Kompromiß, ein Zwischenspiel bis zur endgültigen
Vergesellschaftung der Produktionsmittel, der Be-
seitigung der Lohnarbeit und der Errichtung der
sozialistischen Gesellschaft. Und auch die Teilnahme
an den politischen Kämpfen des Tages wird nicht
mehr als unnütz und verächtlich verworfen.
Zur sozialistischen Utopie drängte Zola nicht nur
sein Mangel eines durchgebildeten Sozialismus, nicht
nur die künstlerische Notwendigkeit, die erlöste Zu-
kunft in unmittelbaren, lebendigen Kontrast zur
Gegenwart zu bringen, sondern auch sein Hang zur
Idylle. Im Grunde hat Zola seit jeher einem idylli-
schen Sozialismus gehuldigt. Er erholte sich von
335
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seinen Wanderungen durch menschliches Elend in
lichten, himmelblauen, zarten Idyllen. Neben die
unheimlichen Kolosse menschlicher Tierheit zeichnete
er gern anmutige, reine Geschöpfe, schlicht, hingebend,
tapfer, opfermutig, träumerisch, denen feines Gold-
haar wie ein Heiligenschein die kindliche Stirn um-
leuchtete. Paul und Virginie, das unvergängliche
Liebespaar, feierte des öfteren seine Auferstehung,
und Rousseaus ewige Sehnsucht nach der einfältigen
Größe der Natur ruhte tief und schwärmend auf dem
Grunde seiner anklagenden Modernität. So wird sein
utopischer Sozialismus eine erweiterte und vergrößerte
Idylle. Paul und Virginie umfangen sich jetzt in freier
Liebe und verherrlichen keuschen Sinnes die Frucht
barkeit. Travail strömt über von derlei holden Idyllen.
Die schlichte Naturstimmung umströmt nicht mehr
bloß Hain und Bach, Blume und Feld, sie quillt über
die Riesenbauten der Industrie, die weiten Magazine
der Genossenschaften, die Stätten kommunistischer
Erziehung. Es sind Idyllen mit elektrischem Betrieb,
die an feuriger Leidenschaft die Schwärmerei des
achtzehnten Jahrhunderts übertreffen, wie das Holz-
feuer von ehemals überwunden wird durch die Glu-
ten, in denen man Platin schmilzt.
Aber dieses idealistische Erwecken der Sehnsucht
ergänzt notwendig die Größe des unbarmherzigen
Kritikers und Anklägers. In der Doppelgestalt nur
wird er würdig, in die große Befreierfamilie aufgenom-
men zu werden, die Frankreich der Welt geboren hat.
Auch Zola ist ein Enzyklopädist. Er gehört zur Rasse
der Voltaire und Rousseau, wenn er auch literarisch
die Kleidung der Balzac, Flaubert und Hugo trägt
und behauptet, auf die Lehre Taines zu schwören. So
ward Zola wie der Held seiner antiklerikalen Trilogie ein
gottloser Priester, wie alle großen Künstler ein Prophet,
der den neuen Himmel und die neue Erde kündet.
[1902.]
326
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Strindberg nach der Höllenfahrt,
I.
Scheiterhaufen.
Das Schicksal klopft an die Pforten. Strindberg
spricht! Am Ende seines Schaffens sind die vier
Kammerspiele entstanden, deren eines Der Pelikan
ist (in Scherings deutscher Übertragung Der Scheiter-
haufen genannt). Dramatische Greisenmusik, aus der
Tiefe und Stille eines langen schweren Lebens ge-
beichtet, zugleich eine geheimnisvoll beklommene
Zwiesprache mit den unbekannten Mächten der Ferne.
Das ist die Welt von Beethovens letzten Quartetten.
Wie im Gesicht des Todes, ganz für sich selber und
darum ganz für die Ewigkeit gesagt, erklungen; ja
wie von jenseits des Grabes her letzte Einsicht kün-
dend.
Wer ist *in Dichter ? Der seiner Zeit den Mythos
zu ersinnen und zu gestalten weiß, in der Zusammen-
drängung all ihrer Empfindungen und Gedanken, in
ihrer Sprache, ihren Formen, ihrem Stoff. Was einem
poctisierenden Dilettanten wie Richard Wagner (als
Textler seiner Musik) mit all dem grell verwirrenden,
geliehenen Aufgebot von Göttern und Helden, von
Perücken und Stopfwaden nicht gelingt, Strindberg
läßt es erstehen im Zusammenklang von ein paar
menschlichen Instrumenten, in den Urworten höchster,
neusrrungener Einfachheit, in den Urgebilden ganz
gewöhnlicher Vorgänge unserer Tage: Götterdäm-
merung!
In diesem Scheiterhaufen-Drama wird sehr eindring-
lich gehandelt von Essen und Heizen, von ordentlicher
327
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und lügenhafter Wirtschaftsführung, von schlechtem
Brei, Schulden, Unterernährung. Man kann sich
sogar belehren, wie Schneehühner gebraten werden
müssen, und wie man sie liederlich verdirbt. Zwei-
mal erscheint ein Buch auf der Bühne: das eine Mal
ein juristisches Lehrbuch, aus dem ein Student für
das Examen büffelt, das andere Mal ein Kochbuch,
aus dem eine junge Frau sich unterrichten will, wie
man wohlschmeckende und nahrhafte Speisen auf den
Tisch bringt. Dennoch empfindet man keinen Augen-
blick, daß sich da ein Stück enger häuslicher Misere
vor uns abspielt, irgendein Familiendrama.
Der Mythus einer Welt ersteht vor uns —
Götterdämmerung. „Ich kann nie mein Examen
machen (stammelt der Student, der sein Elend und
seinen Hunger im Trunk betäubt); ich glaube nicht
ans Gerichtswesen; die Gesetze scheinen von Dieben
und Mördern geschrieben zu sein, um die Schuldigen
freizusprechen! Ein Wahrhaftiger ist nicht beweis-
fähig, aber zwei falsche Zeugen sind voller Beweis!
Um halb zwölf ist meine Sache gerecht, aber nach
zwölf habe ich das Recht verloren. Ein Schreibfehler,
eine fehlende Randbemerkung kann mich unschuldig
ins Gefängnis bringen! Bin ich barmherzig gegen
einen Schurken, so läßt er mich wegen Beleidigung
bestrafen. Meine Verachtung Leben, Menschheit,
Gesellschaft und mir selber gegenüber ist so grenzen-
los, daß ich mich nicht mehr anstrengen kann, zu
leben."
Ein Toter ist eben aus dem Hause getragen. Es
riecht nach Karbol und Kränzen. In den durch-
fröstelten Salon, wo breit das Ruhebett mit der roten
Plüschdecke steht, das Sterbelager, wehen an den ge-
öffneten Fenstern die Gardinen und blähen sich, als
ob sie gespenstisch lebten, von Geisterhauch bewegt.
In dem Schaukelstuhl, der sich immer von selbst
bewegt, hat der Alte gesessen, dem seine Frau das
328
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Dasein zerfraß. Die Witwe döst unruhig, ein schwarzer
Unhold, in dem vom Tode gezeichneten, unberührten
Zimmer. Als Schlafwandlerin ist sie durchs Leben
gegangen. Die Frau hat nach einem furchtbaren
Wort des Mannes, das jetzt der Sohn ihr ins Gesicht
schleudert, früher lügen als sprechen gelernt. Sie
hat in unersättlicher Lebensbegierde, nie aus dem
Wahn ihrer blind tastenden Natur erwachend, das
Heim zerstört, den Mann betrogen, die Kinder hun-
gern und frieren lassen, zuletzt die Tochter dem
eigenen Galan verkuppelt. Aus dem frischen Grabe,
in das er schweigend gegangen, steigt nun der Tote
hervor — Ankläger und Richter, immer unsichtbar,
doch von Beginn bis zum Ende die Szene und die
Handlung beherrschend. Und niemand vermag nach
dieser Enthüllung mehr zu leben. Der Sohn legt Feuer
in der Küche an. Es gibt kein Entrinnen mehr. In
panischem Entsetzen, als Ausbruch letzten Lebens-
willens, immer noch umhüllt von dem Dunst ihres
Lügendaseins, stürzt sich die Frau vom Balkon auf die
Straße. Die Geschwistet aber enden, eng umschlun-
gen, vom Rauch betäubt in Visionen eines reineren,
helleren Daseins. Jetzt ist es warm um sie, zum
ersten Male brauchen sie nicht zu frieren. Erinne-
rungen wachen ekstatisch auf: Weihnachtsabende, an
denen man sich satt essen konnte. Die Totenkränzc
des Vaters verbrennen, und das Gesicht seiner ver-
grämten, menschenhassenden Güte wird lebendig.
Der Wäscheschrank brennt, es riecht nach Lavendel
und Rosen. Das Küchenspind brennt, es duftet nach
Tee und Kaffee, nach Zimt und Nelken. Ist es nicht
Sommer? Die Freiheit der Sommerferien ? Ein
frisch gestrichener weißer Dampfer liegt im Hafen
und wartet auf die Kinder. Jetzt beginnen die Som-
merferien. . . . (Man vergleiche mit den aufwühlend
betäubenden Gesichten dieser Sterbenden die breit
und flach zerrinnenden Visionen des armen Hannele
329
— und man wird Dichterwerte zu unterscheiden ler-
nen!)
Es ist eine zermalmende Tragödie, die den Atem
des Lebens stocken läßt und die doch voll ist von
strömender Sehnsucht und Freiheit. Leise klingt aus
irgendeinem Zimmer in jeden Akt Musik. Strindberg
hat vorgeschrieben, was man hören soll : Ein posthumes
Impromptu von Chopin, ein Wiegenlied von Godard,
ein Walzer von Wolf-Ferrari. Was man so auf dem
Klavier spielt, ohne zu wissen, daß es irgendwo in
der Nachbarschaft zu phantastisch schreckender Ironie
wird.
[Februar 191 5.]
II.
Rausch.
4
Strindbergs Rausch- Komödie aus dem Jahre 1899
ist zerrissen und zerglüht von den Inferno-Erinnerungen
der damals überwundenen Zeit geistiger Umnachtung.
Eine Komödie — dies bannende Spiel nächtigen
Grauens? Bei der Aufführung hatte wohl kaum
einer das Gefühl, im Reich der Komödie sich zu be-
finden, und der sarkastisch-tiefsinnige, jäh sich er-
hellende Schluß-Dialog — Herkules am Scheide
wege, der plötzlich die Lösung findet, daß die beiden
Wege ganz gut zusammenlaufen können! — schien
fast wie eine unverständige Heiterkeit, die der Dichter
mutwillig in sein Stück hineingedichtet, als ob er
die Rolle eines unverständigen Publikums, das bei
den letzten Tiefen einer von ihm selbst nie erlebten
Tragik fassungslos zu lachen pflegt, seinem Werke
einverleiben wollte.
Dennoch führen die acht Bilder des Rausch-Dramas
mit Recht die Bezeichnung, die es bei der Erstauffüh
rung vor 15 Jahren trug: Komödie! Es ist die Ein-
gebung letzten phantastischen Humors, die mit den
330
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Mitteln des Wortes und der Szene erreicht, was bis-
her nur der reinen Instrumentalmusik gelang.
Ein Schriftsteller gewinnt nach einem ganzen Leben
voll Not, Mißachtung und Verfolgung einen lärmen-
den Bühnenerfolg. Ganz Paris lebt einen Augenblick
in seinem Namen. Der Sieger aber stürzt sich, be-
rauscht, in die Arme der Verführerin, vergißt darüber
den Freund, dessen Geliebte sie war, die eigene Ge-
fährtin seiner Not und sein Kind. Dies Kind stirbt
plötzlich, und der Dichter gerät in den Verdacht,
der Mörder zu sein. Aus der Haft wegen mangelnder
Beweise frei gelassen, fällt er mit seiner Rausch-Ge-
fährtin in noch tiefere Erniedrigung: sie finden sich
in dem üppigsten Restaurant von Paris, ohne einen
Pfennig Geld, er wie ein ertappter Hochstapler, sie
von einem Sittenschutzmann roh bedroht, unter
Kontrolle gestellt zu werden. Schließlich wendet sich
alles zum Guten. Die wirren Beziehungen lösen sich.
Der Dichter steigt empor!
Das — plump-inhaltlich wiedergegeben — scheint
stofflich ein derbes, krasses, gemeines Kriminaldrama.
Aber der äußere Hergang ist gleichgültig und nichtig.
Die ganze Welt der Erlebnisse, Gefühle, Stimmungen,
Gedanken unserer Zeit braust in ihm, gebunden an
wirkliche Pariser Schauplätze (mit Dichteraugen ge-
sehen und wiedergezaubert!) und an wirkliche Men-
schen (in ihrer ganzen Wirklichkeit geschaut und ge-
staltet!). Die Nacht spricht, bloß und losgebunden,
in furchtbarer Nacktheit ihre tiefsten Geheimnisse
aus. Frevelnd spielende Gedanken werden Wirklich-
keit, das bewußtlos verwegene Wort wird Tat. Die
Menschen ringen miteinander hüllenlos, enthäutet,
wie im blutig verschlungenen Krampf bloßliegender
Nerven. Übermütige Hirne brüsten sich in ihrem
Wahn. Arme Seelen verzittern in Pein. Die Sinne
brennen purpurn in die Nacht, orgiastisch schäumt
das Leben auf, dann — ein kleiner Ruck des sozialen
33i
Räderwerks — und die Brünstigen werden von der
Schande geschleift und alles wird leer, schmutzig,
häßlich.
Hat man schon das Organ dafür, mit welcher Kraft
und Natürlichkeit hier in ein paar huschenden Augen -
blicksbildern das ganze teuflische Zufalls- und Schick-
salsspiel sozialer Deklassierung geformt worden ist?
In drei Worten werden in einer Seitenbemerkung
ganze Daseinssphären unserer Gegenwart soziologisch
enthüllt. Die Astarte der Rauschnacht ist aus guter
Familie, sie entwurzelte sich und wurde Künstlerin.
„Brich deine Künstlerlaufbahn ab, die durch keinen
anderen Beruf bedingt war als den, hinauszukommen,
wie es heißt, zur Freiheit und frohem Leben — du
siehst, wie froh es war. Reise heim zu deiner Mutter...**
Die ewigen Probleme des Menschentums wandeln
leibhaft durch das Drama: Freiheit, Gott, Religion,
Kunst, Glück, Liebe, Ehe, Schuld, Buße. Nichts
wird lehrhaft diskutiert, jedes Wort wird bildhaft,
jeder Gedanke unmittelbar dramatische Triebkraft.
Und die lastende Schwere des Stoffes, der Stimmungen
und Ideen ist bezwungen und aufgelöst durch den
stählern federnden Geist des Dichters, durch die An-
mut der Kraft. Zarathustra, der Prophet und Tän-
zer! Strindberg und Nietzsche verstanden sich!
Über dem Spiel der Gespenster und Dämonen erhebt
sich die reife Heiterkeit des zu einsamem Frieden
Wandernden. Die letzte Szene dieses Dramas, die
unverstanden den äußerlichen theatralischen Erfolg
schwächte, ist aus der frommen Gottlosigkeit des
„schönen Alters*' geboren, wie es Strindberg in Shake-
speares Sturm empfand, da er das junge Paar der
Liebenden in Prosperos Zelle, in keuscher Freiheit
und Beherrschung Schach spielen läßt. „Zu diesem
Ergebnis'* (schreibt einmal Strindberg) „kam der
freie Renaissancemann Shakespeare, als das Alter ihm
die Weisheit gab, die er selber nicht zu benutzen ver-
332
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mochte. Alles Schöne aus den Träumen der Jugend
stieg auf, als er seine eigenen Kinder sich dem Braut-
stand nähern sah . . . Ist das nicht schöner: ein Alter
mit wiedergewonnener Vernunft und unschuldigem
Kinderglauben zu sehen, als zu hören, wie der zynische
Greis am Rand des Grabes in einem Rinnstein von
seines Vaters Bett und seiner Mutter Torheit singt ?"
Wie soll man diesen alten Strindberg spielen ? Die
Schwierigkeit, für den Rausch den rechten Strindberg-
Stil zu finden, ist nicht geringer als die Darstellung
seiner historischen Dramen, in denen die Weltge-
schichte in Erscheinungen und Gestalten wie in einen
Traumzustand gerückt wird, der zugleich gespenstische
Unwirklichkeit und tiefste Wesenhaftigkeit ist (so,
wie man gerade in unserer unmittelbaren Gegenwart
erlebte Weltgeschichte zu empfinden vermag!). Die-
sen helldunklen Strindberg-Stil, der weder ironische
Zersetzung, noch handfeste Eindeutigkeit wirken darf,
hat man bisher nicht gewonnen. Die Aufführung war
ganz auf gespenstische Stimmung, auf Nachtgraus
und Sinnenwahn gestellt. Das Geisterhafte wurde
noch gesteigert durch die in ihrer einfachen, starken
Farben- und Formenerfindung eindrucksvollen Büh-
nenbilder. So wurde die Szene im Luxembourggarten
zu einer unheimlichen Gespenstervision. Um dieser
Wirkung willen rückte man die Szene ins Mitter-
nächtige, statt in die Abenddämmerung; Strindberg
selbst gibt die Bühnenanweisung: „Bei der Statue von
Adam und Eva. Es rauscht in den Bäumen und auf
dem Boden bewegen sich Laub, Stroh und Papier-
fetzen." Durch diese tragische Verfinsterung erschien
dann die Schlußwendung völlig unvermittelt. So
waren auch die handelnden Personen allzu lastend
ins Düstere und Schwere stilisiert. Durch jeden Strind-
bergschen Menschen schimmert wie das eigene Leben
so auch das Weltsymbolische durch. Aber es sind in
erster Linie doch lebendige Originalmenschen, nicht
333
nur sprechende Stimmungsmasken. Maurice vor
allem sollte wie ein ungebärdig sprudelnder Mann von
geistiger Größe und — bei aller verzweifelten Zer-
rissenheit — innerer Energie gegeben werden.
[April 1915.]
III.
Gespenstersonatc.
Uraufführung in den Münchener Kammer-
spielen.
Die Reihe der Dramen Strindbergs, die den Kam-
merspielen nicht nur einen künstlerischen, sondern
auch einen materiellen Erfolg verschafft haben, ge-
wann in der — „ausverkauften" — deutschen Urauf-
führung der Gespenstersonate ihre bedeutendste Steige-
rung. Man staunt immer wieder, mit wieviel Weisheit
auch die Theaterwelt regiert wird. Alle die Direk-
toren, die Dramaturgen haben die Jahre hindurch
zusammen nicht so viel Einsicht aufgebracht, um zu
erkennen, daß die Gespenstersonate auch rein theatra-
lisch ein unvergleichlich starkes Werk ist. Jetzt erst
haben wir die erste Aufführung in Deutschland erlebt,
und die Gespenstersonate wird nun nicht wieder ver-
schwinden.
Eine Sonate Beethovens, Böcklins Toteninsel und
die Offenbarung Johannis, jenes dunkel glühende
Buch, das immer wieder in den Katastrophen des
Daseins große Geister — einen Fichte z. B. — mit
seiner mystischen Sehnsuchtsgewalt über die Ver-
zweiflung emporzuretten die Kraft hat — das sind
die künstlerisch-religiösen Überlieferungen, in die
Strindberg seine eigene Welt hineinbaut. Von Beetho-
ven übernimmt er mehr als nur die allgemeine musi-
kalische Stimmung. Dies Drama ist wie eine Sonate
durchkomponiert; und wie mit dem ersten Takt eines
Beethovenschen Werkes der gemeine Tag versinkt und
334
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eine neue, in sich geborgene Welt aufwächst, so ist
bei Strindberg mit dem ersten Wort und der ersten
Szene der Zauberkreis gezogen, in dem wir bis zum
letzten Hall gebannt bleiben. Hat man wohl schon
ganz die Unermeßlichkeit der dichterischen Bildkraft
erfaßt, die in dem Anfang der Gespenstersonate sofort
uns von allem Gewohnten absperrt und in das Reich
neuen Erlebens entrückt ? Das Ungewohnteste, das
doch ganz natürlich aus dem Alltäglichsten, aus dem
Tausenderlei des häuslichen Daseins unserer Tage
hervorwächst.
Ein vornehmes Eckhaus, mit vielerlei Leben und
Sterben unter einem Dach. Durch ein Fenster sieht
man die Marmorbüste eines schönen jungen Weibes.
An einem anderen Fenster stehen blaue, weiße, rosa
Hyazinthen. Über ein Balkongeländer hängt eine
blauseidene Bettdecke. Vor dem Hause ein kleiner
Platz mit einem Springbrunnen und einer Anschlag-
säule. Strindberg zeichnet die Szene: „Wenn der
Vorhang aufgeht, läuten in der Ferne mehrere Kir-
chen. Die beiden Flügel der Haustüre stehen offen;
ein dunkel gekleidetes Weib steht unbeweglich auf
der Treppe. Die Pförtnerin fegt den Flur; dann reibt
sie das Messing der Haustür; darauf begießt sie die
Lorbeerbäume vor der Haustür. In einem Rollstuhl,
der neben der Anschlagsäule steht, sitzt ein alter Herr
und liest die Zeitung. Das Milchmädchen kommt von
der Ecke, trägt Flaschen im Stahldrahtkorb; sie ist
sommerlich gekleidet, mit braunen Schuhen, schwar-
zen Strümpfen und weißem Barett. Das Milch-
mädchen nimmt das Barett ab und hängt es am
Springbrunnen auf; wischt sich den Schweiß aus der
Stirn; trinkt einen Schluck aus der Schöpfkelle; wäscht
sich die Hände; ordnet ihr Haar, sich im Wasser
spiegelnd." Ein Student, übernächtig, unrasiert, ge-
sellt sich zu dem Mädchen und bittet um die Schöpf-
kelle, er will auch trinken. Sie glaube wohl, daß er die
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Nacht durchbummelt habe. Nein, er hat die ganze
Nacht Verwundete verbunden, Kranke bewacht; er
war bei einem Hauseinsturz. Und er bittet das schwei-
gende Mädchen um einen Dienst : „Meine Augen sind
entzündet, wie du siehst, aber meine Hände haben
Verwundete und Leichen berührt; ich kann deshalb
nicht ohne Gefahr an die Augen kommen. Willst du
nun mein reines Taschentuch nehmen, es mit dem
frischen Wasser befeuchten und meine armen Augen
baden? Willst du das? Willst du die barmherzige
Samariterin sein ?" Das Mädchen tut es — stumm
und geht. ... So hebt die Gespenstersonate an.
Dann beginnt der Alte im Rollstuhl lästernd die
Geheimnisse des vornehmen Hauses zu entschleiern.
Alles ist Lüge und Verbrechen, Irrsinn und Siechtum,
Alter und Verfall. Das schöne Weib, das dort in
Marmor abgebildet ist, ist jetzt eine lebende Mumie.
Hinter dem Balkon, wo die blaue Decke hängt, liegt
ein Toter, ein Konsul, ein wohltätiger Lump, der an
Orden und Würden seine Eitelkeit blähte, den Armen
ein paar öre gab und den Staat um Zehntausende
von Kronen betrog; jetzt erscheint der tote Konsul
vor dem Hause, er will die Kränze zählen und die
Visitenkarten mustern, ob auch alle ihre Pflicht getan,
ihm eine schöne Leiche zu rüsten. Für den armen
Studenten aber ist das Haus wie ein verschlossenes
Paradies, das Ziel aller jungen Sehnsucht. Denn hinter
dem Hyazinthenfenster wohnt das schönste Wesen,
die Tochter des aristokratischen Oberst.
Beim „Gespenstersouper" — der zweite Akt — ver-
sammeln sich die Insassen des Hauses und zwei Gäste :
der Alte und der Student. Täglich essen jene mitein-
ander, seit zwanzig, dreißig Jahren, reden immer das-
selbe. Weil jeder weiß, was der andere in Wahrheit
ist, lohnt es sich für sie nicht einmal mehr, sich ein-
ander mit Worten zu täuschen. Der Oberst ist weder
Aristokrat noch Oberst. Seine Tochter ist vielmehr
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die Tochter des Alten, im Ehebruch mit der Frau ge-
zeugt, die jetzt schwachsinnig wie ein Papagei plappert
und wie eine Mumie aussieht. Die Blumenschönheit
des Mädchens ist siech im Quell des Lebens. Heute
aber bricht das Verhängnis über die Tafelrunde herein.
Der Alte entlarvt sie. Aber über dem Ankläger erhebt
sich die Mumie: er ist der ärgste Verbrecher, ein
Wucherer, Mörder, Menschendieb. Ihm fehlte, was
all die anderen armen Sünder haben, verzeihendes
Erbarmen. Da erhängt sich der Alte.
Im dritten Akt, im Hyazinthenzimmer, wirbt in
tiefsinnigen Blumengesprächen der Student um das
junge Mädchen. In der Gestalt einer unförmlichen
herrischen Köchin erscheint das soziale Gespenst. Die
zarte Werbung des Studenten geht in wild aufschreien-
des Bekennen schonungsloser Wahrheit über: „Es gibt
Gifte, die das Gesicht schwächen, und Gifte, welche
die Augen öffnan — ich bin gewiß mit dem letzten
geboren, denn ich kann das Häßliche nicht als etwas
Schönes sehen, oder das Böse gut nennen — ich kann
nicht! Jesus Christus stieg zur Hölle nieder, das war
seine Wanderung auf Erden, zum Irrenhaus, Zucht-
haus, Leichenhaus, — und die Toren haben ihn ge-
tötet, als er sie befreien wollte; aber der Räuber
wurde freigelassen, der Räuber hat immer die Sym-
pathien! Wehe! Wehe! über uns alle! Erlöser der
Welt, erlöse uns, wir vergehen!" An diesen Worten
stirbt das schöne Fräulein. Ihre Harfe beginnt zu
tönen, und der Student singt das Lied des schuldlosen
Lebens der Güte. Das Zimmer verschwindet, Böck-
lins Toteninsel taucht auf, und während von ihr
„angenehm traurige" Musik herüberweht, verkündet
der Student, ein neuer Johannes, die Offenbarung eines
neuen Himmels und einer neuen Erde: „Und Gott wird
abwischen alle Tränen von ihren Augen ; und der Tod
wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch
Schmerzen wird mehr sein ; denn das Erste ist vergangen ."
X2 F. isner , (Rammelte Schrift». II.
337
In der Offenbarung Johannis stehen nach dieser
Verkündung die Worte: „Und der auf dem Stuhl
saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu. Und er
spricht zu mir: Schreibe; denn diese Worte sind wahr-
haftig und gewiß." Also schrieb Strindberg, dem
Rufe folgend!
Traumgesichte zugleich und letzte, höchste Wirk-
lichkeiten; die winzigen, schmutzigen Dinge des All-
tags und die fernen Glockenklänge kommender junger
Schönheit; aller Gram, alles Grauen verwesenden
Menschentums und reinigende Erlösung; Fratzen und
Verklärungen; Hohn und Höhe: da wächst im Gegen-
sätzlichen das Drama zur tiefsten tragischen Einheit,
zum Lebensgleichnis zusammen. Hinter den gespen-
stischen Gestalten aber bergen sich bedeutsam Men-
schen unserer Zeit. Rechnet der Dichter nicht selbst
mit seiner „naturalistischen" Vergangenheit ab, wenn
er über den Alten, den „Menschendieb", richtet ?
Die Darstellung der Kammerspiele, unter Falcken-
bergs feinfühlig mitdichtender Leitung, vereinfachte
und erleichterte sich die Aufgabe insofern, als sie
ganz und gar das Werk ins Traum- und Spukhafte
rückte. Die puppenspielhaften Bühnenbilder verstärk-
ten solche Stimmung noch. Ich empfinde diesen Stil
als Verkleinerung der Dichtung, deren Gespenstigkeit
doch im Grunde gesteigerte Realität ist. Strind-
bergs Weltgleichnisse sind keine Hannele-Phantasicn.
Zwar ist sicher, daß durch diese Erleichterung breitere
Wirkungen erzielt wurden, aber ich zweifle, ob man
der geistigen Bedeutung des Werkes völlig gerecht
wurde.
Indem ich bekenne, daß ich den rechten Strind-
bergstil schauspielerisch noch nicht erreicht glaube,
will ich nicht im mindesten das große Verdienst gerade
dieser Aufführung verringern, die ehrlich, mit rein
künstlerischen Mitteln erarbeitet war, und die neben
guten auch eine schlechthin geniale Einzclleistung
338
brachte: die Mumie der Emilia Unda, die in ihrer
phantastischen, tollen, melancholischen Unheimlich-
keit unmittelbar wie eine Strindbergsche Vision wirkte.
[Mai 191 5.]
IV.
Totentanz. Erster Teil.
Im zweiten Teil des Totentanz erringt Edgar, der
Kapitän bei der Festungsartillerie, nach seiner Ge-
nesung den rasch zerrinnenden Traum einer das
ganze Leben lang zuvor vergeblich ersehnten Macht
und Geltung. Da fällt ihn Judith, seine Tochter, die
ihm als seine Seelenverwandte die Rächerin seines zer-
brochenen Daseins werden sollte, indem sie, ganz ohne
Berechnung, besinnungslos dem jungen Geliebten in
die Freiheit folgt, anstatt den ihr vom Vater zuge-
dachten alten einflußreichen Oberst zu ehelichen.
Nun ist der letzte Lebenstrotz des „Vampyrs" er-
loschen. Eben noch hatte über ihn, als er am Ziele
seiner Wünsche angelangt schien, Kurt, der Freund
seiner Jugend, verstehend beurteilt: „Es ist der ge-
wöhnlichste Mensch, den die Erde trägt. Vielleicht
sind wir auch ein wenig so? Benutzen Menschen und
günstige Gelegenheiten!" Wie der „Kapitän4' dann
elend, ein hilflos lallender Unhold und Unrat, zu-
sammengebrochen ist, empfindet sein Weib, das ein
Menschenalter hindurch jeden Tag die Erlösung von
dem verhaßten Gatten ersehnt hatte, in rasendem
Jubel das Schicksal des Mannes als die Gerechtigkeit
auf Erden, an die sie nicht mehr geglaubt. Und sie
läßt grausam dem Verscheidenden durch Kurt diese
letzte Botschaft übermitteln. Der Alte aber stammelt,
erlöschend: „Verzeih ihnen, denn sie wissen nicht,
was sie tun.'4 Da kommt auch über die Frau und
den Freund das große Erkennen und Verzeihen. Der
Tote hatte die Härte des Übergangenen, er war im
339
Grunde ein tapferer, edler Kämpfer wider das Leben,
und in der Frau leuchtet es auf: „Ich muß diesen
Mann geliebt haben." „Und gehaßt!" fügt Kurt
hinzu. „Und gehaßt! . . . Friede sei mit ihm!",
schließt die Frau.
Menschen, die übereinander Schicksal spielen und
ihr Dasein zerstören, sind in den dunklen, irren Toten-
tanz um das Leben gerissen. Sie alle sind im tiefsten
Grunde doch Opfer und Narren eines Verhängnisses,
dessen sie nicht Herr werden können, gequälte, ver-
dorbene Geschöpfe der feindseligen Unnatur der Be
Ziehungen, die heute die menschliche Gesellschaft
vergiften. Der eine will Schicksal über die anderen
spielen und wird so zum Vampyr, der den Menschen
seiner Umgebung das Leben aussaugt und doch nur
sich selbst zerstört. Der andere nimmt geduldig hin,
was ihm die Umstände auferlegen und wird ein stiller
Unglücklicher, der, gütig und gelassen, dennoch nicht
aufhört, sich vom Leben verführen zu lassen. Der
Dritte will sich am verpfuschten, beraubten Leben
rächen, um schließlich im großen Begreifen und Ver-
zeihen Frieden zu finden. Übergangene sind sie alle,
ihr Lebensreigen ist Totentanz. Einst aber wird das
neue Leben kommen, ein junges und freies Leben, in
dem die Menschen einander zu lieben wagen.
Vier Akte der Qual -- das ist der erste Teil des
Totentanzes. In den zwei Gatten, die 25 Jahre lang
in dem grausteinernen Turmzimmer der Inselfestung
eingesperrt sind, erlebt die heutige Menschheit ihr
Verhängnis. Die einzelne Ehetragödie wird zum
Gleichnis allgemein menschlicher Beziehungen über-
haupt. Der „Kapitän" aber, der über die Menschen
Vorsehung sein will, wird so etwas wie der grausame
Fratzengott der Urzeiten, der alles zerstört, auch
sich selbst.
Strindberg bewunderte am 16. Jahrhundert die
harte, erbarmungslose, schmähende Kraft, mit der
34o
damals die kämpfenden Menschen ihre Angelegen-
heiten austrugen. Im Totentanz gewinnen die letzte
Schleier abwerfenden, abreißenden, psychologischen
Offenbarungen jene strenge und grelle, in Hartholz
geschnittene Form. Diese Mischung von feinster,
nervösester Kunst, die Schwingungen modernen Seelen-
lebens aufzuspüren mit der rauhen, brutalen Bild-
kraft, die auch das Entsetzlichste und Abstoßendste
unmittelbar ohne Abschwächung und Umschweife
sinnlich ausspricht, ist der eigentümliche, schwierige
Stil der Totentanztragödie.
Steinrücks Kapitän hat die ganz individuelle Auf-
gabe der Darstellung erfaßt und zu großem Teile be-
wältigt. Er ist so etwas wie ein kranker Götze Vam-
pyr, ein Ungeheuer, das die Menschen verschlingt,
sich trunken aufpeitscht und die Kraft eines Kolosses
vortäuscht, während er doch ein armseliger, wanken-
der, gleitender Mensch ist, der im zuckenden Toten-
tanz gehetzt wird.
[August 19 15.]
V.
Wetterleuchten.
Von den vier Kammerspielen Strindbergs ist Wet-
terleuchten dasstillste, beruhigtste. Wie er in den
Lebensstimmungen seines „Einsam"-Buches sein Alter
dargestellt, wie er von sich als dem verlorenen Wan-
derer erzählte, der in die Fenster der Häuser und in
die Mienen der unbekannt vorübergehenden Menschen
blickte — alle Schicksale ringsum miterlebend, je
weniger er persönlich lebte — so tönt hier klagend,
verhalten, verhallend das Lied von Vergangenheit,
Alter, Entsagung, Ruhe. In der weißen Sommer-
schwüle des Großstadtabends wetterleuchtet es. Er-
innerungen, in denen die Einsamkeit ein sehnsüchtig
verzehrendes Scheinleben fand, gewinnen für einen
34*
Augenblick wiederkehrende Wirklichkeit, in ihrer
Häßlichkeit zerrinnt der geträumte Glanz, nun ist die
Vergangenheit tot; in dem strömend entlastenden
Regen reinigt sich der bange, schwere Sommer zum
Herbst.
In diesen Alterswerken Strindbergs quillt nicht ein
isoliertes Stück Dasein aus der Tiefe des Unend-
lichen, das Leben selbst in all seinen Geheimnissen
und Beziehungen offenbart sich. Dieser Stockholmer
Sommerabend ist erfüllt von den Spuren und Keimen
ungezählter Schicksale. Das große Haus, das von der
Straße gesehen wird, mit seiner sorgenvollen Kon-
ditorei, den geöffneten Fenstern der Einsamkeit zu
ebener Erde und den rot verhängten Lockungen der
abenteuernden Verkommenheit im ersten Stock, ent-
sendet geheimnisvolle Kraftwellen ins All der mensch-
lichen Gesellschaft. In den paar Stimmen, die die
klagenden Weisen ihres persönlichen Daseins verweben,
tönt das ganze brausende Orchester des Lebens mit.
Die Kammermusik der letzten Quartette Beethovens!
Das Münchener Residenztheater, das am Dienstag
in neuer Einstudierung Wetterleuchten wieder auf-
nahm, fand ein Publikum, dessen versunkene Andacht
sich scheute, durch grobe Beifallsgeräusche die tief
aufgewühlten Gefühle zu zerreißen. Die Aufführung
war ineinander fein abgestimmte leise Kammermusik :
Einsame Stimmen, die wie aus der Ferne vom Leben
sprechen. Das Rätselhafte des Daseins umfließt
ahnungsschwer die Gestalten, die Worte. Nur in
Augenblicken brechen Leidenschaften rauher und
lauter hervor. Steinrück gestaltete ein melancho-
lisches Larghetto, ein überwundenes, gebändigtes, ge-
dämpftes Leben, im Leisesten die ganze Fülle des Er-
lebens andeutend.
In München wird in dieser Woche Strindberg an
drei Theatern gespielt. Dennoch kennen wir immer
erst einen Teil seines Schaffens. Ist diese Zeit nicht
342
endlich auch reif für die Vollendung des Werkes
Strindbergs, für sein Weltdrama, das Traumspiel?
Lockt nicht unser Residenztheater der edle Ehrgeiz,
diese unermeßliche Dichtung zuerst in Deutschland
zu wagen ?
[August 1915.]
VI.
Advent.
(Uraufführung in den Münchener Kammerspielen.)
Das Weihnachtsspiel Advent hat der Dichter als
Fünfzigjähriger geschrieben — 1898; nach fast zwei
Jahrzehnten erscheint das Mysterium zum erstenmal
auf der Bühne, in Deutschland, nicht in der Heimat
des Schöpfers. Den Münchner Kammerspielen ge-
bührt der Ruhm, die Bühnenkraft eines Werkes er-
wiesen zu haben, die niemand, der über Theater-
aufführungen zu entscheiden hatte, bisher erkannt
hat. Und nicht nur die Bühnenkraft dieser Weih-
nachtstragödie, die bei den sehr unzulänglichen tech-
nischen Hilfsmitteln der kleinen Münchner Bühne bei
weitem nicht in all ihren Möglichkeiten herausgeholt
werden konnte; vielfach mußte man sich mit An-
deutungen begnügen, die szenischen Schwierigkeiten
verlangsamten die Folge der Bilder und Vorgänge,
und trotz der Länge der Vorstellung, die erst gegen
Mitternacht endete, war Wesentliches gestrichen,
darunter gerade die unheimlichste und zugleich be-
deutendste Szene des Werkes, vielleicht das Furcht-
barste, das seit den Bildern der Apokalypse von einem
menschlichen Geist ersonnen, das Gespräch des Rich-
ters und der Richterin nach ihrem Tode — im „Warte-
saal" der Unterwelt. Nicht nur ein Werk von un-
erhörter Bühnenkraft haben wir gewonnen, sondern
unser Kulturbcwußtsein wurde um den Inhalt einer
neuen sozial-künstlerischen Lebenskraft bereichert:
343
Wenn je einem Werke der Kunst die Würde eines
Bühnenweihspiels gebührt, wenn irgendein Drama
die Stille, Abgeschlossenheit, Sammlung und Feier-
lichkeit eines Festspielhauses fordern darf, so ist es
Strindbergs Advent.
Die Peinlichkeit läßt sich nicht verkennen, daß
Strindberg heute so etwas wie Mode und Spekulation
zu werden beginnt. Auf das lange Totschweigen der
Verständnislosen folgt das Marktlärmen der Ver-
zückten. Dennoch ist es kaum ein Zufall, daß gerade
in diesen Weltkriegsjahren das Gestirn Strindbergs
endlich aufgeht. Ks ist ein seelischer Zusammenhang.
Wir sind Zeugen des schaurigen Totentanzes einer
zerfallenden Zeit. Strindberg aber war der prophe-
tische Dichter, der diese Kultur, die heute in wilden
Zuckungen vergeht, durchaus als eine Welt der
Fratzen und Unholde empfand und Menschen wie
Dinge in dem tief brennenden und gespenstisch
huschenden Licht katastrophalen Schicksals sah und
gestaltete. Und Strindbergs ewige Mission war es,
die Begebenheiten und Menschen unserer Kultur-
periode aus der schwächlichen Anpassung des Gleich-
gültigen und Gewohnten herauszuhetzen, und sie
durch diese Entblößung einer im innersten grauen-
haften Wirklichkeit den Weg zur Genesung zu führen.
Daß er selbst ein kranker Mensch war, vom Verfol-
gungswahn gejagt, von Spukvisionen gepeinigt, dieses
individuelle Leiden ließ ihn seine Zeit in all ihren
Schrecken wie ein persönliches Erlebnis empfinden^
lieh ihm die phantastisch-wirkliche Fülle seiner dich-
terischen Bilder und Gesichte und machte die Sehn-
sucht nach Gesundung, Überwindung, Erlösung zum
Inbegriff seiner Kunst. Sein eigenes Leben, über das
er in seinen sechs Bekenntnisschriften Rechnung ab-
legte, ward so zur Autobiographie einer ganzen
Menschheitsperiode. Strindberg hat den Mythus un-
serer Zeit geformt.
344
Das Spukhafte, das in den Dichtungen des Fünf-
zigers und Sechzigers scheinbar beherrschend hervor-
tritt, darf ebensowenig — das hieße am Äußerlichen
haften — als das Wesentliche betrachtet werden, wie
man etwa die „religiöse Bekehrung" des einstigen
Freigeistes und Rationalisten als den unterwürfigen
Abfall eines Zerknirschten und Entkräfteten erklären
dürfte. Das Spukhafte, aus den Erfahrungen seiner
Krankheit gewonnen, ist in seiner Dichtung nur Bild,
Gleichnis, Symbol, ein künstlerisches Mittel, seelische
Vorgänge sichtbar zu machen. (Wäre Strindberg ver-
boten, womit uns Shakespeare erschüttert ?) Seine
religiöse Wendung aber läßt sich weltgeschichtlich
am ehesten begreifen, wenn man sie in Beziehung zu
jener großen geistig-revolutionären Bewegung bringt
die von dem Deismus Rousseaus ausgeht, des gott-
gläubigen Ketzers, der in der Verneinung der Gesell-
schaftsordnung seiner Zeit die soziale Zukunftszuver-
sicht der Inbrunst eines religiös Gläubigen bekennt
und betätigt. Auch Strindbergs Religion ist sozialer,
mehr: sozialistischer Zukunftsglauben, sittlich auf-
gefaßt, urchristlich gestimmt und doch keineswegs
romantisch-reaktionär. Die Triebkräfte der neuen
Zeit verneinend; er bekennt sich durchaus zu all den
wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen, or-
ganisatorischen Fortschritten der modernen Welt und
will sie fruchtbar machen für ein neues, innerlich
gewandeltes und geläutertes Menschengeschlecht.
Strindberg hat in drei Jahrfestspielen den gewal-
tigen Sinn der drei großen Feste der Christenheit mit
dem Inhalt unserer Zeit erfüllt und dramatisch an-
gedeutet. Er ist der einzige, dem dies gelungen, der
einzige, der diese Aufgabe auch nur begriffen hat.
Die drei Dramen, 1898 und 1900 entstanden, müssen
im Zusammenhang erfaßt werden, wenn man Strind-
bergs letzte Periode verstehen will. Aus den ent-
setzenden Finsternissen des Advent, mit seinem Hexen-
345
sabbat von Schatten und Larven, erhebt sich das
Osternspiel schon ganz ins Bereich des Natürlich -
Menschlichen; die lähmende Angst vor dem gespen-
stischen Dämon erweist sich als Wahn. Das dritte
Werk aber, das sich an das nordische volksmäßige Mitt-
sommerfest anlehnt, ist völlig irdisch-weltlich, ein
„ernsthaftes Lustspiel", voll Sommerheiterkeit und
Fliederduft, voll guter Menschen und fröhlicher Kin-
der, in dem als Repräsentant der alten kranken Zeit
nur noch ein lächerlich hochmütiger Student er-
scheint, während die neue Zeit der geadelten Arbeit,
der menschlichen Güte und des lauteren Charakters
schon lustig sich tummelt und am Schluß sozialdemo-
kratische Proletarier, die letzten Freunde des ver-
söhnten einsamen Dichters, das Lied der Arbeit singen.
Das Weihnachtsfest ist in seinem geistig geschicht-
lichen Gehalt eine Weltwende ungeheuerster Kraft.
Es ist der Beginn einer neuen Zeitordnung. Der Hei-
land wächst empor aus Niedrigkeit, Not, Verfolgung.
Seine arme Wiege steht mitten im Blutmeer des
bethlehemitischcn Kindermordes. Die sentimentale
und idyllische Verzwergung des Weihnachtsfestes, in
der unsere Kalenderdaten-Poeten sich sonst christ-
festlich behagten, — eine kleine Not, eine kleine
Trauer, die unter dem Weihnachtsbaum endigt - -
ist Strindben* unfaßbar fremd. Die Geburt des Er-
lösers, die Stunde der Erlösung ist ihm in Wahrheit
Welterschütterung, Weltzcrtrümmerung, Weltwendc.
Die Gespenster der alten Zeit jagen in rasendem
Taumel vorüber, die verfallene Generation wird mit
Skorpionen gezüchtigt, und alle Schrecken und Schauer
eines hereingebrochenen seelischen Chaos werden auf-
gepeitscht. Aus letzten Verborgenheiten kreischen
äußerste Worte schamlos hervor, alle Nachtvisionen
hemmungslos tobenden Fiebers werden leibhaftig.
Stofflich wächst das Mysterium aus einer Familien-
geschichte heraus. Es ist die Tragödie eines alten
346
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Richters und seiner Richterin, des gerechten Richters,
der immer nach dem Buchstaben des Gesetzes gerich-
tet, der nach Recht und Gesetz zum reichen Mann
geworden, und doch sind die beiden alten Menschen
Verbrecher. In den 5 Akten, 11 Bildern des VVeih-
nachtsspiels wird ihr Zusammenbruch dargestellt.
Auch in diesem Werk sind persönliche Erlebnisse des
Dichters (aus dem Martyrium seiner zweiten Ehe)
verwoben, aber die Gestalten des Richters und der
Richterin verallgemeinern sich zu Symbolen unserer
finsteren Menschheitsepoche — vor der Geburt des
Erlösers.
Der Richter und sein Weib sind reich, habsüchtig,
grausam. Sie beide leiden an einem Gebrechen, das
sie vor sich selbst verbergen : sie vermögen die Sonne
nicht zu ertragen. So verfolgt sie in spukhaftem Spiel
überall ein Lichtschein, eine ,, Sonnenkatze", und ver-
brennt sie. Mit der Verjagung des Schwiegersohnes
und Pächters auf dem Eigentum des Richters setzt die
Handlung ein. Der Eidam ist mit der Pacht rück-
ständig. Darum muß er fort. Die eigene Tochter
wird zu niedrigsten Magddiensten gezwungen, die
Enkelkinder von den harten Großeltern mißhandelt.
So heftet sich „der Andere" an die Fersen des schuld-
beladenen Paares. Die Gestalt des Satans, der bald
als Franziskaner, bald als Bettler, in der Dämmerszene
des Ballfestes im „Wartesaal" der Unterwelt als
greiser, stutzerhafter Zeremonienmeister erscheint,
leidet selbst all das Böse, das er ausüben muß, um
Schuldige zu bestrafen. Es gehört zu den erschüt-
terndsten Eingebungen in diesem Werk der Qualen,
wie die Richterin den unreinen Geist durch Harfen-
spiel zu verscheuchen sucht und „der Andere" an der
Schwelle des Zimmers der süßen Musik lauscht, in
Rührung verströmend, für einen Augenblick erlöst.
Kein Frieden ist mehr zwischen den alten Leuten.
Sic haben sich erkannt, sie sehen sich in ihrer nackten
347
Häßlichkeit. Sie belauern sich, schmähen sich und
finden sich nur einmal im Trunk zusammen. So bricht
das Schicksal über sie herein. „Der Andere*4 zieht sie
hinab. Die eitle häßliche Frau, die nicht alt sein will,
versinkt in einen Sumpf, in dem sie erfroren auf-
gefunden wird. Das wird in jener „Wartesaal"- Szene
gestaltet, die bei der Darstellung das Publikum er-
starren machte: Ein finsterer Talkessel, ein Thron
für die Ballkönigin, tote Krüppel und Bettler als Ball-
gäste, Musikanten, die aufspielen, ohne daß ein Ton
gehört wird, sieben Frauen — die Todsünden — um-
geben den Thron, ein buckliger Prinz, Satan als Zere-
monienmeister. In diesem stummen Höllenbachanal
erscheint die Richterin, aufgeschminkt, mit bloßer
Brust, im Rokoko-Gewand, sie girrt mit dem Prinzen.
Sie tanzen miteinander ein geiles Menuett. Sie lispeln
Schmeicheleien. Dann aber sagen sie sich die Wahr-
heit, und der Prinz und die Richterin fallen in wüst
balgender Wut über sich her.
Über das Habe des Richters und ihn selbst wird
Auktion gehalten. „Der Andere" versteigert alles
ungerecht erworbene Gut, jeder erhält das Seinige
wieder und der Rest wird unter die Armen verteilt.
Schließlich versteigert „der Andere" den Richter
selbst. Aber niemand bietet auf ihn. Die Opfer des
Richters rotten sich wider ihn zusammen. „Gibt es
keine Sühne?" stöhnt der Richter. Erbarmungslos
erwidert „der Andere": „Doch, Strafe ist Sühne!
Hinaus mit ihm in den Wald und steinigt ihn! Nach
dem Gesetz Mose! Ein anderes Gesetz kennt der
Richter nicht! Hinaus mit ihm!" Und das Volk stei-
nigt den Richter.
In noch tieferes Grauen steigt das Drama hinab.
Im „Wartesaal" finden sich der tote Richter und sein
Weib wieder. Und dieses höllische Zwiegespräch
wagte man in seiner verwegensten Steigerung bei
der Aufführung nicht wiederzugeben. Ihr ganzes
348
Leben erscheint den beiden wie Verwesung, alle Er-
innerungen sind gefault. Niemals hat Verzweiflung
am menschlichen Leben so furchtbar sich entblößt,
wie in diesem Dialog. Sie sprechen von der Liebe
ihre. Jugend, Wein, Gesang, Blumen, Kinder, Freunde
— die Worte haben sie behalten, aber es sind bloß
Klänge ohne Bedeutung.
Der Richter. Liebe! Was war das?
Die Richterin. Was das war? Zwei Katzen auf
einem Abtrittsdach.
Der Richter (albern). Ja, so war es. So war es.
Und drei Hunde auf einem Trottoirrand. Es ist
lieblich, sich zu erinnern !
Die Richterin (drückt seine Hand). Lieblich ist es!
Und alle Begierden erwachen in den beiden, hetzen
sie, aber nicht eine dürfen sie befriedigen — Unselige.
Die Bilder des Grauens sind von Anfang an durch-
wirkt von wunderholden Kinderszenen. In ihnen er-
tönt fein und lieblich zuerst ein schüchterner Weih-
nachtsklang. Zu den von der bösen Großmutter miß-
handelten Kindern gesellt sich tröstend und schützend
ein blonder Spielkamerad, das Christkind. Nach und
nach schwillt der Friedenston mächtig an, selbst in
dem Wartesaal der Büßenden und durch Buße und
Bekenntnis sich Entsühnenden dringt zwar nicht
Sonne und Mond, aber einmal steigt doch ein Stern
so hoch in die Welt, daß er selbst in diese Tiefe hinab-
leuchtet, der Stern Bethlehems. Diesen Stern in der
Weihnachtsnacht schauen zu dürfen, ist das Weih-
nachtsfest dort unten. Das Bild schließt den vierten
Akt. Der fünfte Akt verklingt im Christfest der be-
freiten Kinder. An der Schwelle des Hauses erschei-
nen, entsühnt, der Richter und die Richterin, tote
Pilger; friedlich dürfen sie das neue Menschenglück
schauen. Das Christkind kommt als Betteljunge und
wird barmherzig aufgenommen. Das Weihnachts-
zimmer weitet sich, die Wände sinken, in schneeigem
349
Glänze wächst ein Fichtenwald auf, belebt von dem
unendlichen Gewimmel froher Menschen, für die alle
das Christkind gleichermaßen den Gabentisch ge-
deckt hat.
[Dezember 1915]
VII.
Die Damaskus -Trilogic.
Zur Münchner Uraufführung.
Vor Pfingsten führten die Münchner Kammer-
spiele zum ersten Male August Strindbergs Welt-
trilogie vom heilig-unheiligen Geist auf: Nach Da-
maskus. Der erste Teil ist seit 1900 in Schweden, seit
1914 auch in Deutschland über die Bühne gegangen.
Der zweite und dritte Teil, der auch im Vaterlande
des Dichters bisher Buchdichtung geblieben, erlebte
jetzt in München die szenische Urschöpfung. Fried-
rich Kaytiler und Helene Fehdmer, die in
Leben und Kunst innig Gesellten, gestalteten die
Wandlungen des Unbekannten und der Dame auf dem
irdischen Passionsweg. Otto Falckenberg gab als Re-
gisseur den Visionen der Wirklichkeit, der Erinnerung,
des Traums und des Wahns das feierliche Grauen, den
prophetischen Ernst, die gehetzte Qual und die sinn-
liche Leuchtkraft der einsam mächtigen Dichtung.
Die sehr bescheidenen technischen Mittel der kleinen
Bühne nötigten zu mancherlei Vereinfachungen, Ein-
schränkungen und Notbehelfen. Noch wagte man
nicht, das Publikum für drei Abende nacheinander
ins Theater zu laden. So zog man den zweiten und
dritten Teil zu einem Abend zusammen. Darüber
wurden Kürzungen notwendig, denen besonders ge-
waltigste Szenen des dritten Teils zum Opfer fielen.
Dabei blieb die Überfülle der Gesichte des 2. und
3. Teils zu reich für die gewöhnliche Aufnahmefähig-
keit der Zuschauer. Dennoch war dieser Abend ein
350
Fest tragischer Erhebung, die im Zermalmen läutert
und löst. Es strömten alle Tiefen aufwühlender Ge-
fühle von der Bühne, und man erlebte jene höchste
Entrückung ins Innerste des Menschenwesens, die der
eigentliche Wert und Sinn, das Geheimnis des großen
Dramas ist. So mochten die Griechen ihr Schicksal
in den Trilogien ihrer Tragöden, in niederbeugender
Erhebung empfinden; wenn freilich auch das Schick-
salsdrama des heutigen Dichters noch erst bloß zu
einem zufälligen Publikum, nicht zu einem notwen-
digen Volke spricht, und die Wiedergeburt des Dramas
als eines Pfingstfestes der Gemeinschaft ferne scheint.
Aber den Mut wird man ja wohl bald finden, die
Trilogie, in ihren drei Teilen gesondert, vollständig
zu spielen. Es ist rechtzeitig vor einer Gefahr zu
warnen. Nichts verlockt so zu einer szenisch-musikali-
schen Überwucherung wie das Damaskus-Werk. Bei
Strindberg ist das Szenische keineswegs gleichgültig.
Es gibt keinen Dramatiker, bei dem die Szene viel-
mehr selber so unmittelbar dramatisches Agens ist;
der Raum, in den die Menschen Strindbergs gestellt
sind, ist ein unlöslicher Teil der dramatischen Bewe-
gung. Das entspringt der revolutionierenden Natur-
auffassung des Dichters, die nichts Totes kennt, son-
dern in allem Seienden Wandlungen des einen Le-
bendigen schaut, für die das ganze Universum eine
ungeheuere Einheit schaffender Phantasie ist. Nicht
nur die Menschen, auch die Steine seufzen und klagen,
die Metalle empfinden wie die Tiere, und zwischen
den Eisblumen an der gefrorenen Fensterscheibe und
den feinnervig lebenden Pflanzen bestehen tiefe Be-
ziehungen der Verwandtschaft. Das spukhaft Mit-
tätige der ,, äußeren" Umgebung der Strindbergschen
Gestalten ist also weder Aberglauben noch Krankheit,
wie immer durch krankhafte T)berreizbarkeit des Ge-
nialen vermittelt, sondern in seinem Sinne Wahrheit
und Wirklichkeit. So ist das Bühnenbild für Strind-
35i
bcrg am allerwenigsten nur äußerliche Zutat des Dra-
matischen. Aber es muß bescheiden dienendes Mittel
des Verständnisses bleiben und darf nicht die Herr-
schaft der darstellenden Menschen und des gestalten-
den Wortes verdrängen.
Das gerade war das vorbildliche Verdienst dieser
Münchner Uraufführung. Friedrich Kayßler hat
dem Unbekannten, in schlicht formendem, tiefsten
Verständnis Strindbergs für immer die als notwendig
wirkende Gestalt gegeben. Es ist ein ganz besonderer
Vorzug seiner schauspielerischen Schöpfung, daß er
das modische Mißverständnis des Dichters ganz und
gar vermied, als ob es um die Tragödie eines Zer-
fallenen, Zerknirschten, reuig und müde Bekehrten,
um ein Drama der Dekadenz ginge. Sein Unbekannter
blieb ein aufrecht Trotzender, ein faustisch ringender
Held männlicher Kraft bis zum letzten Augenblick,
da er sich mit dem schwarzen Bahrtuch, als dem ab-
scheidenden Schleier der Vergangenheit, entschlossen
und gesammelt bedecken läßt. Frau Fehdmer ist die
innig verbundene zweite Stimme in dieser Weltklage
des Unbekannten, Unbehausten, in dreifacher Wand-
lung: Die schillernd, zerrinnend Unbewußte, Un-
bestimmte im ersten Teil, das von allen Tücken und
Bosheiten zerfressene und gehetzte Weib, das im
zweiten Teil von giftiger Erkenntnis genossen, die
mater dolorosa im Schlußstück.
In einer Zeit, da die Vernunft und Sehnsucht des
einzelnen hoffnungslos — wie es scheint — mit dem
unheilbaren Wahnsinn der ganzen Welt ringt, gewinnt
das persönliche Schicksal Strindbergs in seiner dra-
matischen Verewigung und künstlerischen Vollendung
eine ungeahnte Bedeutung. Wir verstehen jetzt alle
wie unser eigenes Erlebnis die ungeheuerste Tragik
des Erdendaseins: das Suchen des aus jeder mensch-
lichen Sicherheit in undurchdringliche Wirrnis Ge-
schleuderten nach neuem, festem Lebenssinn. Der
352
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grauenschweie Pilgervveg, zwischen Tod und Teufel,
nach Damaskus ist keine Flucht, keine bußfertige,
gebrochen-gläubige Bekehrung, er ist Wiedergeburt.
•
Als Mann von 45 Jahren erlebte Strindberg in Paris
sein Inferno. Es sind die Jahre seines dichterischen
Schweigens, in denen er in seinem gärenden Hirn um-
stürzende naturwissenschaftliche Entdeckungen wälzt,
und als neuer Alchymist die Umwandlung der Ele-
mente — Schwefel in Gold — experimentell sucht,
bis er die Hände am glühenden Schwefel verbrannt,
im Spital verschwindet. Was er damals in mystischen
Pariser Journalen und in den voll tiefsinnigen wissen-
schaftlichen Ahnungen — deren Sieg in der wissen-
schaftlichen Welt der „Verrückte" noch erleben sollte
— erfüllten Buche Sylva Sylvarum (1896) mit unver-
minderter Kraft der Darstellung schrieb, war das
einzige, was er in jener qualvollsten Periode seines
Daseins veröffentlichte. In der Damaskus-Trilogie
gestaltete er jene Erlebnisse, in weltsymbolischer Um-
fassung, nach dem Wiederaufbruch seines dichterischen
Schaffens, als Genesener, indem er zugleich eine neue
dramatische Form von unerhörter Ausdrucksfähigkeit
für das Geheimste und Unfaßbarste fand. Der erste
und zweite Teil wurde 1898, der dritte 1901 ge-
schrieben.
Strindberg kam nach Paris als ein Gescheiterter,
der völlig außerhalb der Gesellschaft stand. Er war aus
dem Vaterland vertrieben. Sein Ruhm war in Ver-
achtung und Verleumdung verwest. Seine persönlich-
familiären Verhältnisse waren bis ins Kriminelle ver-
wirrt. Er war von Prozessen, übler Nachrede, drän-
genden Gläubigern verfolgt. Er war körperlich er-
schöpft. Über seiner Seele zog sich der Verfolgungs-
wahn immer enger zusammen, dessen unheimliche und
marternde Erscheinung er mit seiner immer wachen,
2j E i in er , Gesammelte Schriften. II.
353
kritisch hellen Intelligenz — zu seinem Heil —
zu kontrollieren vermochte. Er stand, fast mittel-
los, menschenscheu in der fremden Stadt und erlebte
so die Nichtigkeit und Wehrlosigkeit des einzelnen
in der wüsten Anarchie der heutigen Gesellschaft,
während er zuvor, in der Übermenschenzeit jener
Jahre, deren größtes Zeugnis der Roman „An offener
See" war, die weltschöpferische Selbstherrlichkeit der
genialen Persönlichkeit gedichtet hatte. Alle politi-
schen Überzeugungen hatten sich ihm als vergänglich
erwiesen. Was gestern als sicherste wissenschaftliche
Wahrheit sich spreizte, wurde morgen auf den Kehricht-
haufen alberner Irrtümer geworfen. Alles war Mode,
ward Moder. Es war kein Sinn in dem wirren, quälen-
den Getriebe zu erkennen. Ein Zufall, ein Nichts das
Leben des einzelnen wie der Gesamtheit, und eine
Hölle obendrein.
In solchen, von Halluzinationen verstörten Stim-
mungen, die zwischen Verzweiflung und aufbäumen-
dem Trotz kreisten, geriet ihm Balzacs mystische Er-
zählung Seraphita — halb ein dämonischer Märchen-
spuk, halb eine literarische Einführung in Swedenborg
— in die Hände. Und dann vertiefte er sich in den
unendlichen Irrgarten der bändereichen Himmels-
und Höllengeheimnisse seines schwedischen Lands-
manns. Swedenborg, der zwischen der englischen und
französischen Revolution lebte, war als Mann an
geistiger Universalität einem Leibniz ebenbürtig.
Der Greis wurde jener „Geisterseher", gegen dessen
unheimliche Offenbarungen einst Kant von der auf-
gestörten Welt behaglich selbstsicherer Aufklärung
zu Hilfe gerufen wurde. Wer heute diese Greisen-
Schriften Swedenborgs liest, wird gleich Strindberg
von der unerschöpflichen Höllengreuelphantasie dieser
verkleideten moralischen Lehrbücher verblüfft wer-
den, aber man wird schwerlich den überwältigenden
Eindruck empfinden, den der kranke Strindberg er-
354
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litt; denn im Grunde sind diese Gesichte ungezählter
Erdenhöllen trotz aller Unerschöpflichkeit der Er-
findung doch mehr ein dürrer Katalog von tausend
Sorten scheußlicher Qualen, als eine dichterisch emp-
fundene Schilderung. Aber Strindberg sah damals
in Swedenborgs Bekenntnissen eigene rätselhafte Er-
fahrungen wieder, und so gewann er aus dem alten
Geisterseher die Richtung seiner eigenen geistigen
Wandlung. Unter Swedenborgs Einfluß bildet sich
ihm die sittliche Weltansicht, daß Sünde und Ver-
brechen nicht sowohl Erscheinungen seien, die durch
Strafe gebüßt werden sollen, sondern daß sie selber
schon von einer geheimnisvollen Vorsehung auferlegte
Strafen seien, die durch Leiden läutern; Schuld
heischt nicht Strafe, Schuld ist Strafe.
Das ist die religiös-sittlich-soziale Grundidee der
Damaskus-Trilogie. Wenn sich die „Bekehrung*' des
Ketzers an die Organisationen der katholischen Kirche
ästhetisch anzulehnen scheint, so wäre es doch die
schlimmste Verkennung, die Wandlung in irgendeiner
noch so allgemeinen Art als den Prozeß eines gewöhn-
lichen Konvertitentums — etwa nach dem Vorgang
der deutschen Romantiker am Anfang des 19. Jahr-
hunderts — zu deuten. Die Freiheit der menschlichen
Vernunft, die Schrankenlosigkeit der wissenschaft-
lichen Forschung wird auf allen Stationen des Pas-
sionsweges nach Damaskus nicht sowohl verleugnet
als vielmehr in höchster Steigerung gefordert. Es ist
keine Rückkehr zum kirchlichen Glauben, wenn in
dem Goldmacherbankett des zweiten Teils — der
gewaltigsten Szene, die jemals ein Dramatiker erson-
nen — die Anmaßung des forschenden Wahns ver-
höhnt, die tragische Unstäte und Unsicherheit aller
geistigen Werte visionär gestaltet wird, ebensowenig
wie es das Kloster eines wirklichen Kirchenordens ist,
in dem der Unbekannte schließlich seinen Frieden —
seinen Frieden für neuen Kampf! — findet, sondern
355
die Heimstätte höchster Weisheit und geistigster
Freiheit.
Strindberg spricht es am Schlüsse der Damaskus-
Trilogie deutlich aus, was sein Unbekannter sucht:
nicht die Bekehrung, die Abschvvörung, sondern die
Zusammenfassung, die Einheit, die Synthese. Hu-
manität und Resignation — diese Formel, in der auch
die deutsche Klassik einst sich vollendete — das ist
die Mission des Menschen. Der einzelne resigniert,
er findet in der Entsagung der allzu ungebärdigen
Ichbegierden die geläuterte Kraft zur Humanität; er*
taucht in die Menschheit, in die Menschlichkeit unter.
Das Bahrtuch, mit dem der Unbekannte in dem
Kloster der Urweisen in den Sarg gelegt wurde, bringt
den Übermenschen zur Ruhe und läßt auferstehen:
den Menschen. Als Strindberg den Weg nach Da-
maskus gefunden, war er, in religiös verinnerlichter
Wandlung, zum Sozialismus seiner Jugend zurück-
gekehrt.
Dichterisch aber hatte Strindberg durch diesen
Passionsweg vom Ich-Künstler zur Menschheit die
Gabe gefunden, das Ohr dieser Menschheit zu sein,
das alle Stimmen, alle ihre Klagen, Leiden, Sehn-
süchte vernahm, und was es hörte, in künstlerischen
Gebilden ursprünglich schöpferisch wiederzugeben
verstand.
In dem Pariser Buch Sylva Sylvarum erzählt Strind-
berg, wie er einmal im Marmorhof von Versailles an
einer Mauer ein geheimnisvolles Brausen vernimmt:
„Ich höre ein donnerndes Meer, Volkshaufen, die
stöhnen, verlassene Herzen, deren Schläge ein mattes
Blut aufpumpen, Nerven, die mit einem kurzen,
klanglosen Knall platzen, Schluchzen, Gelächter,
Seufzer! . . ." Das ist das Ohr des Dionys, durch das
er ganz Paris hörte. So hörte er dann die Seelen der
Menschheit reden, und so weiten sich die ganz ein-
fachen Erlebnisse und die natürlich selbstverständ-
356
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liehen Dinge des Alltags, die den Grundstoff seiner
späten Dramen bilden, zum geheimnisvoll erschüt-
ternden Gleichnis des Unermeßlichen und Ewigen.
[Pfingsten 1916.]
VIII.
Traumspiel.
Keines seiner Werke hat Strindberg so geliebt wie
das Traumspiel. Aus tiefster Qual erwachsen, ist dies
Weltgleichnis doch zugleich verklärt von dem sehn-
süchtigen Schimmer einer letzten Liebe (die ihm
wie aus Indras Himmeln herabgestiegen schien) und
der milderen Weisheit des Greisen. Die urgewaltige
Tragödie ward Strindbergs Vermächtnis an die
Menschheit und zugleich sein Martyrium für die
Menschheit. Wenn am Schluß des Traumspiels der
Dichter der Tochter Indras, bevor sie im Flammen-
tod von der irdischen Schwere sich befreit und von
dem menschlichen Schmutz sich reinigt, die Klagen
der Menschheit in einer Bittschrift für den göttlichen
Vater mitgibt, damit er erkennte, wie schlimm das
Schicksal der Irdischen, so ist das mehr wie ein sym-
bolisches Finale. Es zittert in dieser Apotheose, vor
der Erhabenheit der eigenen Eingebung in zagender
Ehrfurcht erschauernd, die tiefste Mystik dichterischen
Berufs; dem Dichter ist wahrhaft die Kraft verliehen,
Fürsprech der leidenden Kreatur bei der geheimnisvoll
waltenden, ewigen Vorsehung zu sein : der Dichter erst
lehrt den Schöpfer der Himmel und Erden, den Un-
wissenden in seiner Allwissenheit seinen grenzenlosen
Geist erfüllen mit dem Wissen von seinen Geschöpfen . . .
Die Tochter Indras steigt auf die Erde, um zu er-
fahren, wie die Menschen leben, um der Menschheit
ganzen Jammer zu sehen und selbst zu leiden. Ein
Heilands-Drama in den Visionen eines Traumes! Der
Bühnentraum ist in der Weltliteratur ein häufiger
357
Behelf der Poeten. Aber was man sonst dramatisch
träumte, war nicht sowohl Traum als Märchen, phan-
tastisches Spiel mit den Wirklichkeiten. Erst Strind-
berg hat, mit jener beschwörenden Kraft sinnlicher
Verdichtung und der unmittelbar zu Wort, Bild,
Handlung werdenden Veranschaulichung seelischer
Erregungen, jener Kraft, die selbst Shakespeare gleich
vollkommen nicht besessen hat, einen wirklichen
Traum dramatisch gestaltet. Was wir auf der Bühne
schauen, ist ein Traum, der sich seiner selbst bewußt
wird und losgelöst von seinem Träumen sich selber
sichtbar träumt. Nicht ohne tiefe Bedeutung ist
das Drama schlechthin Traumspiel benannt. Denn
nicht sowohl die einzelnen Inhalte, Vorgänge des
Traumes bilden die symbolischen Beziehungen. Das
Traumwesen selbst ist das umfassende Gleichnis des
Lebensgefühls und des Wesens alles Menschlichen.
Dieses Hetzen zugleich und Lähmen — dieses von
allen Fesseln, über alles mögliche hinaus Sichbefreien
und Sicherfüllen, und doch wieder das grauenschwere
Einschnüren, Bannen, Verengen, Entleeren — das
Aufglühen und Veröden — das stürmische Empor-
bäumen und das klägliche Zerschellen — das rastlos
sich Erneuende, unendlich Blühende, Urzauber zeu-
gende und dennoch sich eintönig Wiederholende, das
immer wieder noch einmal Hindurchmüssen — das
glühend Leuchtende und schattenhaft Verwehende,
Verwesende — die Verwandlung kleinster Alltäglich-
keiten in Mysterien des Weltschicksals und die Ver-
zerrung der letzten und höchsten Gedanken in grin-
sende Albernheiten — das Aufflirren von Erinnerungen
und das Vergessen des Gegenwärtigen — die über-
selige Qual der Lust und die Erlösermacht des Schmer-
zes — die Wunderkraft des Alles verwirklichen und der
Vernichtungsspuk des ewig Hoffnungslosen — : so
träumen wir, und diese Natur des Traumes an sich ist
das innerste Gesetz des Menschenschicksals. Das ist
358
die Symbolik der Dichtung, während die Einzelvor-
gänge so wenig symbolisch sind, daß sie vielmehr
durchaus naturalistisch gemeint und geformt sind, sich
aus eigenem dramatischen Recht entfalten, wenn
auch durch das Medium der Nacht und des Fiebers
gesehen und zu unerhörter stofflicher Eigenart und Ur-
sprünglichkeit gesteigert.
Alle diese Bilder von leuchtender Eindringlichkeit
und dramatischer Gewalt inszenieren nur den einen
großen Dialog zwischen der Tochter Indras und dem
Manne, dessen Hüllen wechseln und der doch immer
derselbe Strindberg ist, ob er nun als Offizier ewig
gläubig auf die unsichtbare Geliebte wartet, ob er
als Advokat alle Bosheiten und Verbrechen seiner
Kundschaft in sich aufnimmt, ob er als Quarantäne-
meister mit geschwärztem Gesicht ein Sanatorium
von Gespenstern leitet oder als Dichter, im Schlamme
badend, mit der Unendlichkeit Zwiesprache hält. Zwi-
schen dem Weib, das vom Himmel stieg, und dem
Manne, der durch die Höllen der Erde gewandert,
wird die Sache der Menschheit verhandelt, der Dialog
über das weltwehe Wort: Es ist schade um die Men-
schen! Es ist schwer, Mensch zu sein!
Die Aufführung des Traumspiels durch das Mün-
chener Schauspielhaus, die so lange ersehnte und so oft
befürwortete, brachte mich in die Lage des Zettel-
anklebers im Drama, der sich all die Jahre einen Senk-
hamen gewünscht, und wie er ihm endlich beschert
worden, sich zwar freut, aber auch schmerzhaft spürt,
daß er ihn sich eigentlich anders gedacht. Man ehrte
sich durch die Treue am Text, den man zum Glück
weder bearbeitete, noch zusammenstrich. Freilich
wagte sich auch an dieses erhaben-heilige Werk eine
unberufene Hand. In der Strandszene am Mittel-
ländischen Meere wurde die soziale Anklage der beiden
Kohlenträger verstümmelt; man tilgte neben anderem
das bitterste Epigramm, das jemals auf den Gegen-
359
satz zwischen reich und arm ersonnen. Im Münchener
Schauspielhause durfte der Müßiggänger nicht er-
scheinen und zu seiner Frau sagen, daß er noch ein
wenig gehen müsse, um essen zu können. Und die
Kohlenträger durften an dieses Gespräch nicht ihre
Betrachtungen fügen:
Erster Kohlen träger: UmMittag essenzu können.
Zweiter Kohlenträger: Um zu können . . .
So bin ich bereit, jedes Lob dem Unternehmen zu
spenden. Aber das Traumspiel ward es nicht. Man
hat, wie auch in Frankfurt, statt Strindbergs eigenen
Anregungen zu folgen, sich die Berliner Inszenierung
geholt. Und die wählte von allen denkbaren Mitteln
der szenischen Bewältigung das falscheste: die Ver-
operung, die Veroperung durch das Übermaß von
Musik und durch robust aufdringliche Dekorationen.
In Strindbergs Bühnenwerken ist Musik ein wich-
tiges musikalisches Agens. Aber sie ist fast immer ein
Teil der Handlung. Wie unheimlich aufregend ist
etwa die Verwendung des sonst so harmlos klingenden
Mendelssohnschen Trauermarsches in Damaskus ! Auch
für das Traumspiel hat Strindberg die musikalischen
Zutaten vorgeschrieben; so soll die häßliche Edith ihre
Leidenschaft in Bachs Toccata con Fuga Nr. 10 aus-
strömen. Oder nach dem Vorspiel wünscht er den Ge-
wittersatz aus der Pastorale. Für die Berliner Auf-
führung aber hat Reznicek eine eigene Musik geschrie-
ben, die man auch in München hörte. Es gibt auch
musikalische Traumspiele, das größte die phantastische
Symphonie von Berlioz (mit dem Dies-irae-Cancan).
Rezniceks Musik ist gewiß von illustrativem Reiz, die
Schatten und Fratzen des Traumes sind nicht ohne
Feinheit und Erfindung, das Holdselige und Sehn-
süchtige einprägsam zum Klingen gebracht. Aber in
ihrem vordrängenden Übermaß wirkt diese Musik
nicht die Traumillusion steigernd, den Tiefsinn des
Wortes, die phantastische Tragik nicht verstärkend,
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sondern im Gegenteil schwächend, verflachend, ab-
lenkend, vergröbernd. Und wenn die musikalischen
Zwischenspiele über die Verwandlungspausen hinweg-
helfen mögen, so dehnen sie dafür als melodramatische
Stimmungshelfer Wort und Vorgang — bis zu sinn-
losen Tempoverschleppungen, die ein Lied wie die
herrliche Klage der Winde zugrunde richteten.
Dasselbe ist gegen die ganze Inszenierung einzu-
wenden. Auch sie wirkt durchwegs illusionszerstörend.
Leistet die Technik einerseits nicht, was sie könnte:
das zerrinnende Ineinanderübergehen der Szenen,
stört vielmehr der knarrende Apparat unaufhörlich aus
der Andacht, so sündigt die Inszenierung auf der an-
deren Seite durch ein Zuviel. Die Berliner Bühnen-
bilder sind — zum kleineren Teil — von traumhafter
Phantastik, im ganzen aber sind sie grob-körperliche
Ausstattung, Kulissensensation, die die traumversenk-
ten nächtigen Gespinste grell verdeutlichen und da-
mit verscheuchen.
[November 1916.]
IX.
Brandstätte.
Deutsche Uraufführung in den Münchner
Kammerspielen.
D-»r Fremde Friedrich Kayßler.
Ein altes Wohnhaus ist niedergebrannt. Nur die
Mauern stehen noch. Möbel, Gerät, Bücher, Bilder
liegen wüst auf einem Haufen. Die Menschen, die
dort gewohnt, kommen, schwatzen, verleumden. Der
Brand hat das Dach von den Geheimnissen der Be-
wohner gehoben. Die Geschichte von Generationen
wird enthüllt. Die Ruinen reden, beichten, klagen an.
Es war ein Haus in einem öden Viertel, das Morast
genannt wird. Alles ist Lüge, Täuschung. All diese
Menschen sind einig darin, daß sie selbst Rollen der
Ehrbarkeit spielen und den anderen jedes Verbrechen
361
zutrauen. Niemand zweifelt daran, daß das Feuer
angelegt worden. Aber wer war es ? Der Färber, der
Hausbesitzer, der Student, der Steinmetz? An der
Brandstätte erscheint, von Sehnsucht nach dem
Elternhaus getrieben, der Fremde, der Bruder des
Färbers, ein unsteter Weltwanderer. Der ist über das
Leben hinausgewachsen. Er sieht in die Herzen,
durchschaut die Geheimnisse und Winkelzüge der
verdorbenen Seelen. Ihn schreckt nichts mehr, ihn
ängstigt nichts mehr. Er verfolgt die wunderlichen
Launen des Schicksals, das die Menschen sich weben,
in dem sie sich zugleich verfangen. Er versteht, ohne
zu verzeihen, aber auch ohne zu richten und zu rächen.
Sein eigenes Leben wächst auf der Brandstätte, in
trüben Erinnerungen empor. Er fand den Weg zum
Leiden, zur Wahrheit, zur Hoffnung. Die anderen
aber ersticken in ihren Masken. Nichts ist echt, nicht
einmal der Ebenholztisch, der Stolz der Familie; das
Feuer brachte es an den Tag, daß es nur angstrichener
Ahorn gewesen. Aber die niedergelegten Mauern
geben den prangenden Garten mit den blühenden
Apfelbäumen frei — ein Paradies der Schönheit über
den widrigen Gebresten dieser Menschen im Morast.
Gibt es für die Menschen kein Blühen ? Der Student
ist, unschuldig, als Brandstifter verhaftet; in seinem
Zimmer fand man die Haarnadeln, die der jungen
Frau des Färbers gehören. Die Frau empfängt in
ihrer Verzweiflung über das Unglück des geliebten
jungen Menschen vom Fremden, ihrem Schwager,
die tröstende Weisheit: Betrübnis gibt Geduld, Ge-
duld gibt Erfahrung, Erfahrung gibt Hoffnung, und
die Hoffnung läßt nicht zuschanden werden. Dann
rechnet der Fremde mit dem Bruder ab und verläßt
die Brandstätte seiner Heimat: „Wieder hinaus in die
weite Welt, Wanderer!"
Unmittelbar aus dem Szenenbilde wächst das Drama
hervor. In dem sichtbaren Inventar einer Brandstätte
362
baut sich die Tragödie einer verfallenden Welt auf.
Dies Drama ist die tiefste, innerlichste Verbindung
von Schauen und Klingen. Das sinnliche Bild beginnt
zu tönen. Jeder der kommenden und gehenden Men-
schen ist wie ein symphonisches Thema. Die Motive
steigen und fallen, verschlingen und lösen sich, wan-
deln und verändern sich, und dienen alle der herr-
schenden Cello -Melodie des Fremden. Strindbergs
Kammerspiel ist gesprochene Musik. Das ist das Ge-
heimnis der bannenden dramatischen Wirkung dieser
Szenen, die doch nichts als ins Unendliche gleitende
Gespräche scheinen.
Den Fremden sprach Friedrich Kayßler. Er
ist auf der Bühne, was der sinnlos früh gestorbene
Emil Milan im Vortragssaal war. Er erlebt in sich
die dichterischen Gestaltungen, als hätte er sie selbst
geschaffen oder vielmehr als schaffe er sie eben.
Kayßler spielt keine Rolle, kaum, daß er die Maske
andeutet. In Strindbergs Seele erschließt er sein
eigenes Wesen. Er schlüpft nicht in fremde Körper
und Geister, die Gestalten suchen ihn und wachsen
aus ihm, als ihrem Urgrund. So schwingt jedes Wort
in rauschendem Gefühl. Gereifte Erfahrung bekennt
sich in gefaßter Wehmut, in männlich verhaltener
Empfindsamkeit und einer unbeirrbaren Wahrhaftig-
keit, die doch niemals verzichtet, Märchen zu träumen
von neuen Kindheiten. Bisweilen aber läutet diese
milde, sinnende Stimme Sturm und dann ist's wie die
Ankündigung von zerschmetterndem Erdbeben.
Falckenberg, der auch dies späte Werk Strindbergs
inszeniert hat, strebt stilistisch etwas wie einen reli-
giösen Ritus an, um das Eigentümliche dieser drama-
tischen Wirklichkeitslegenden zu versinnlichen. In
dem Anhauch des Metaphysischen verbinden sich
die beiden Elemente der letzten Dramen Strindbergs:
realistische Mysterien.
[Mai 1917.]
363
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Beschluß.
Eropsyche singt von neuem Leben.
. . . Freies, krafterfülltes, glückgefühltes Schreiten
Der beseelten Menschen zwischen zwei Gestaden
Unbekannten, unbewegten, unentrinnbar
Allumträumten Dunkels,
Hoch im Strahle ihres reinen Willens —
Lichtbewußt . . .
364
Di
Inhalt
Dritter Teil: Befreiung.
Schi'
1. Das ewige Fricdensmanifest 5
2. Ein Friedhof der Lebenden lö
3. Kommunismus des Geistes 15
4. Religion des Sozialismus 27
g. Sieben Briefe. An eine Freundin 39
Natur und Kultur. — Die große Unruhe. — Der
verlorene Ein/eine. — Solidarität. — Fine Welt-
fahrt in 50 Kilometern. — Wagenklassen. —
Fremde Seelen.
6. Die ewigen Arbeiter. Eine soziale Wanderung . 70
7. Unter der Sonne . 86
8. Festlicher Kampf 92
q. Die Kindesmörderin 07
10. Vom unheüigen Weltgeist. Eine Pf ings tiegende . 105
11. Der Zuhälter. Eine Erinnerung 110
12. Die neue Lehre von Bethlehem 116
13. Kopenhagen .141
Nachschrift 1918 (Jaures) 148
Vierter Teil: Geister.
1. Revolutionäre Humanität. Zum Gedächtnis Herders 153
2. Kant i6>
3. Der Philosoph des sozialen Enthusiasmus (Fichte) 187
Anhang: Zu Fichtes Charakterbild.
Fichtes Nationalismus. — Firhte und
Tolstoi.
4. Uber Schillers Idealismus 217
5. Das klassische Elend 231;
6. Der punktierte Goethe 251
365
7« Das Preußentum Heinrich Kleists 259
8. Karl Marx* Kunstauffassung 27g
9. Arno Holz: Ignorabimus. Ein Weckruf . . . .279
10. Jonathan Swift 288
11. Marie-Joseph Chenier 304
12. Zolas Werk 3 10
13. Strindbcrg nach der Höllenfahrt 327
Scheiterhaufen. — Rausch. — Gespenstersonate.
— Totentanz. — Wetterleuchten. — Advent.
— Die Damaskus-Trilogie. — Traumspiel -
Brandstätte.
Beschluß:
F.ropsyche singt von neuem Leben 364
366
■
In Kürze erscheint im
VERLAG PAUL CASSIRER / BERLIN W 10
DIE GÖTTERPRÜFUNG
Eine weltgeschichtliche Posse in fünf Akten
und einer Zwischenpantomime von
KURT EISNER
B egonnen:Frühjahr 1898 im Strafgefängnis
am Plötzensee.
Vollendet: Februar/März 1918 im Unter-
suchungsgefängnis am Neudeck zu München.
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