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Full text of "Spätgotik und Renaissance"

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Spätgotik und Renaissance 



Erich Haene 



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ätgotik und Renaissance/ 

Ein Beitrag 

zur 

Geschichte der deutschen Architektur 

vomelimlicli im 15. Jabrlituidert 

von 

Erich Haenel 




Uit 60 Abbildungen im Text 



STUTTGART. 

PAUL XEFF VERLAG. 



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JtnOt TON Curl Bannt«!' Ja Blallgwt. 



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Meiner Mutter. 



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Die ente Anreguug zu dieser Arbeit gab eine im Jahre 1897 von der 
philosophischen EakuUftt der Universität Leipzig gestellte Preisanfg^be. Je 

nriher ich mich mit dem Thema vertraut machte, je scliärfer ich die Be- 
deutung des ausgeheTiflen 15. Jalii litmilcrts für die Eiitwickhni'-r der deutschen 
Architektur erkannte, desto iiielir machte .sich, ühcr den nahiiu n einer stil- 
gescliicUtlicheii Uiitersuclmng luiiaus, ein Eingehen auf ilie allgeuieiuun küust- 
lerisdimi Gesetze des architektonischen Schaffens notwendig. Es musate der 
Versuch gemacht vrerden, im Wesentlichen von dem sul^ektiven Empfinden 
:ui>i:ehen«l in das Verständnis jener Zeit, wie Sie sich in den Werken der 
Baukunst darstellt, einzudrinfien, die moilei-no Persönlichkeit mü^'lichst frei 
von historischen N'onuteilen jenen SchöpfunK'^n ueLt iiüherzustellen. Wenn 
man diesen Standpunkt überhaupt in der kunstlüstorischeu Forschung für 
berechtigt hält, wird man auch den Weg der Betrachtung verstehen, dra 
ich zu jsehen versuche, und die Resultate, zu denen ich gehuige, als ehrlich 
gefundene gelten In.ssen. 

Die Illu-stration im Text, die heute seihst das „wissenschaftlichste" 
Werk nicht mehr zu schenen hrniicht. Iirinirt von dem allerirrfissfen Teil 
der besprochenen Baudenkmaler \veüij.i.>tenj> den Grundriss, dann, wenn 
möglich, einen Schnitt und eine Innenansicht. Dass letztere nicht stets und 
oft nicht in der erwünsditen Vollkommenheit zu beschaffen war, liegt im 
Weswitlichen an der bisher^jen Art dear kunsthistorischen Untersuchung, die 
der Sdiöpfung des Baund>ilde8 nur zu oft neben der Erscheinung des 
Äusseren, Gliederung des Baus u. s. w. er»t den zweiten Phttz einzuräumen 
pflegt. 

Für vielfache Anlegung und Luterstützuiig sage ich llerni Trof. Dr. 
August Schmarso« in Leipzig ergebensten Dank. Ebenso bhi ich der 
Veriagshandlung für ihr freundliches Entgegenkommen bei der Ausstattung 
dieses Bftchleins zu l)estem Danke verpflichtet. 

Dresden, Juni le!»9. 

B. Haenel. 



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Inhalt. 



Si-itft 

Einleitung 1—9 

Süddeutsclilaiid li> - Ii 

KorddeutschlitiHi ^ ir,— 5H 

Sa«-hs<>n 57—103 

Spfttgotik und Renaissance 10t— 114 

Litteratur 115-llti 

>^^* 



Einleitung. 



^/V^pnn CS 'jilt. <-iiit' lit-stiiiiiiift- Perinilc ilor Kuiis>t?eflrbichtf' •■iiifr Botraclitun?» 
zu unterwerfeu, ao luuss es die erste Aufgabe seio, deu Namen oder überhaupt die 
traditioneUe BMnichmiig, unter der dtendisse Periode in der Koiistgescliichte gebt, 
nfther zu nntersnchen. Unter den Ansdmck nSpfttgotik" pfleijt man gemeinhiii die« 
jeiÜKe Peri^iiU' iler Ar< liitcktnr rtisimTnenzufussen, welche die zeitlich letzte IMi iso 
gotischer Anhi'pktiir nlif i liaupt. uinl speziell tliejenige Zeit iu sich bej^reift, in der 
eiiie Veräaderuug lics gotischen Stils nach bestimmten Richtungen bin zu bemerken 
in. IHe Litteratnr, soweit sie sieh fll>erhwipt deraii gemaclit bat, das Wesen dieser 
Periode zu analysieren oder Kriti^f h ilarzoBteUeo, hat sich mit dieser Aufgabe mit 
sehr verschiedenem ürfuli,'«' abgefunden. 

Schnaase'ü Darstellung amfasst, dem Titel seines Ii. liucbes nach, die Spät' 
zeit des Mittelalters, vom Anfange des 14. Jahrhunderts Iris zur Blate der £yck*scben 
Schale; die Kapitel 4 — (> dieses Buches, S. 7:^ — 'M'A sind der Architektor gevidmet. 
Das Schwergewicht seiner Übersicht liegt, um dies trlt ii Ii fcstzusiellen. im 11. Jahr- 
hundert, in einem Zeitabschnitt also, in dem der Stil, nach der vergangenen wie 
nach der folgenden Periode hin, durch einen grösseren zeitlichen Zwischenraum von 
der BerOhranK mit einer andersartigen SiDeinhdt getrennt var. 

(Kr selbst spricht zwar, bei (lein Rockblick auf seine Darstellung der deutschen 

Architektur, mir vom 14. .Tahrluindcrt, greift aber oft iu das 15. Jühilminleit über; 

vcrgl. ä. 259 Amberg, S. 267 Landsbut, S. 313 Königsberg, S. 314 hieudal u. a.). 

Nachdem «r die Höhe der künstlerischen Technik, die FQUe der nenen, an- 
regenden Aufgaben besprochen hat, üDhrt er die Modifikation des Überlirferien nach 

zwei verschiedenen Dichtungen aus. Einerseits gab die Grnmrtrir p\np Xf-igtmg zu 
komplizierten und gelehrt erscheinenden Verbinilungen, und verleitete, hier wie in 
der Wissenschalt, zu „trockener Pedanterie nnd geschmackloser Überladung". 
Anf der andern Seite steigorte die Geftthlsricbtang jener Zeit die ihr in dem 
Vertikalismus verwandten ZQge: die schlanke Kleganz der feinen Glieder, ihr 
flber8clnvruii:1iche.«( Aufstreben und besonders ►'iidüch ihr weiches Neitrfn und Hiegen 
(8. 7n). Im Anschluss au die erste lUchtung spricht er S. 7U von der „abstrakten 
RegdralBsigheit*, die allein jene Generation kannte, S. 82 von dem Behagen an 
geometrischer Künstelei, in dem man die architektonischen Gedanken des Vertikalis- 
mus oft mehr nh h]]]\s vergass. Der Krfolir aller Xeuennigen erschien den Zeit- 
genossen ak ein glünzender, als ein Totalbild von reichster l^ebensfUlle und ent* 
zQdKender Anmat (S. 87). Bei dieser Gdegenheit kommt Sdumase anf dasselbe 
Problem zorOck, das er schon im Beginn dieser, die Architektargeschichte einlei- 
tenden Hetradittiti.; charakterisiert: die Anwcndvng der Gotik als des kirchlichen 

HkAuel, Spiltgotik. ' I 



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— 2 — 



Stils auf den ProfftiibAiL SciuMi dort (S. 73) «rkennt er die Notwendigkeit einer 

neuen, erfindenden oder flbersetzondon Tbätigkeit an: im Verlauf der folixcnden 
Untersuchung komint er indes» zur Erkenntnis der Gotik als eines Vertikulstiles — 
eine Erkenntnis, deren iuuner stärkere Verbreitung in jener Zeit er besonders her- 
vorhebt — betont ftho gemde diejenige Eigeneekaft der Gotik, die sie für den 
Stockwerkbau besonders ungeeignet macht, und kommt damit von der Lösung des 
Proldeiiis mehr und mehr ab. (S. 7 «et 't er selbst die ^hoehschwehenden Gewölbe" 
und das Strebes) steu), also die Iluuptlaktoren des Yertikalsystems, in Gegensatz 
ta den Zwecken des Profanbnns). Wenn SchnuMe S. 74 bekanptet, dass man „da- 
mit ein Mittel habe — nSmlicli mit der Erkenntnis, dass der neue Stil auf dem 
Vertikalscbema beruhe — den kirchlichen Stil auf Auf;:ahen aller Art zu verwenden*, 
so ist das also weder hier logisch noch Überhaupt wahr. S. Ö7 dann gesteht er 
selbst, „dass die Anwendung der grossartigen Fonien des kSrekHditti Stils auf dte 
gehäuften, niedrigen Stockwerke weltlicher Gebkude doch einen gewissen Zwang avf- 
legte** und t^'eht auf die AusartuiiLr der Architektur in eine Scheinkanst weiter ein: 
„man war aut eine abschli.ssii^e und iietiiliriiche Hahn «j^raten", nachdem er sehnn 
oben gesagt hat: ^die Autlüsuug der Massen, die zunehmende Weichliclikeit der 
Linien, die KOnsteleien, in denen die Meister sidi flberbielmi: alles droht, den 
arcliitektonischen Emst» die Harmonie des Gan/en /.u xerstöroi''. Die ganze Dar- 
stellung gelangt kaum zu einer rräzisierung des Aiisdrucki< „ Spütsjotik", geschweige 
denn zu einer Definition ihres Wesens; Oberall bleibt es bei Ansätzen, abgesehen 
davon, dass Schnaase das Material nor im AUergrOssten verwendet. Auf daa 
psychologisch Eigenaitige der neaen Banmbildnng wird nirgends eingegangen-, die 
fthlirhe, nach zwei Seiten ausgeibhrte Charakterisierung ist im einzelnen nicht ein- 
mal immer vollkommen belegt. 

Kugler (Handbuch der Kunstgeschichte) teilt die gesamte Gotik in vier Perioden 
ein; im 15. vnd 16. Jahrhundert erkennt er eine „merkwardige Entwickhug** (S. 182). 
Sk 8: „Zumeist nur das Dekorative h&lt noch spielend an den kunstreichen Kom- 
binationen der früheren Zeit fest". S. t<2: ,.Tene flüssisrpre Form musste bald zu 
WillkOr, zum Übermut und dieser zur Eutartmig fuhren". Jene oben erwähnte in 
zwei Richtungen besonders bemerkbare Entartung diarahterisiert er S. 183 deutlich: 
«aaf der einen Seite omamentale t'berhidung, auf der andern Nüchternheit und 
Monotonie", und dann weiter „ein Haschen nach iienen. pikanten Effekten, ein Vl^cr- 
treibeu des einfach Malerischen, andererseits eine handwerksmäSBige Nüchternheit, 
ehie frostige, mechaDische Handlwbuig der Techmk*, welche die AnflAsang der 
Gotik heriwifllhrten. Die deatseha Spätgotik spesiell zeigt abetwi^jend einen nftdi- 
temen Charakter: ihre Werke nehmen meistenteils da.s Hallen«rliema auf und zeich- 
nen sich in der llepel nnr durch weiträumige Einlage u. s. w. uns (S. 1?*3). Interessant 
ist Kugler » Ijemerkung, dass die Gotik vorher oft mancherlei antikisierende Ele- 
mente in üuea Fwmenkanon anfidmmt. — In seiner „Geschichte der Baukunst 
ist Kugler's Darstellung eingehender, seine Charakterisierung schärfer. Wenn er 
auch wip<!er S. "2 in der vierten Periode di r (lofik. im 15. Jahrhundert nnd dem 
«ächsttolgendcn Zeitraum, eine Verniichteiiing und Entartung des Systems konstatiert, 
so sehliesst er doch daran die Behauptung, dass „in dw Erledigung der strengeren 
Gesetze derselben wiederum neue Kombinationen von eigeotOmlich charairteristiscber 
Bedeutung zur Erscheinung kommen^ nachdem er schon vorher S. 28 aosgefahrt 



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hat, d»a» in dw Gestmtantirickiuug scblieBslicli «das Ventflndige und Min« Be- 
w&linmf im Betriebe de» Beadwerkes" nun kemelMideD ElemeiBt geworden sei. 

Die Erforderrissc ilos Profanliaus siml S. 'AC (hirppsfellt und d\c l'mwandlung der 
gotisclien Fonneureihi- im Dienst des praktischen llaufs aiiLieikutf-t , IVpjlirlt ohne 
dass Kuglei- die umgeünderte üeist^sart der KatunauBcliuuuug irgendwie vertulgt. 
Das* der Kireheobao in der SchluMzeit dee Stiles roanebes tod diesen besonderen, 
omgestaltetSB Formen für seine Zwecke aufnehme, ist eine Beobachtung, die 
wir hier zum erstontnalo antreffen. Weiter wird die Periodo von der Mitte de» 
14. Jahrhunderts an doch wieder als eine Zeit der Nachblute bezeichnet, S. äOH: 
«neben der Emflehtemng, der oft kalten Strenge der baulichen Havptteüe entfaltet 
sich an selbstfindigen Scbniiickwerken vielfach der üppigste Formenreichtum'^. — 
N'arh allen diesen Ansätzen wird in der f'.eiiaiidluiii; der Denkmäler im ein/einen 
ihrer Bedeutung doch selten volle Rechnung getragen, besonders was die Baum- 
bilduug anlangt, vergl. z. B. S. 347 die Enrfibuuug der Kreuzkirche in GmOnd. 
Von der gewöhnlich angewandten Terminologie kBit sieb Kngler mit wenigen Ans* 
nahmen fem. Seine Charakteristik des I'rofanbaus bleibt meist am .Kusserlichen 
haften, mit Ausnalnne etwa bei d^n i reussiachen Bauten. Eine Detinition des Be- 
griffs „Spätgotik" lindet sich nirgends. 

üngefUr Im Sinne der Kngier'schen Anffassnng, aber weniger dngehrad und 
weniger scharf-kritisch verfuhrt 

Lübke (Geschichte dt r Architektur. II. B.) bei der BebamllmiLr der gotischen 
Periode. Nach ilua (S. 4) ^wührt die edelste itlOte kaum bis gegen die ]klitte des 
14. JahriHmderti; von da dringt «n Geist der AaflOsimg die gotische Architd[tiir, 
ein Spiden mit den Formen beginnt, die Dekcvation besi^ die Konstmktion nnd 
unter rHejji^ni Finflnss entarten die Formen bald"*. Wie bei den andern Lftndeni 
unterscheidet er auch bei Deutschland ^drei Hauptepochen-, entsprechend den drei 
Jahrhunderten. S. UU: der strenge Stil im 13., der freie Stil im 14., der dekora- 
tive Stil hn 15. und bis ins 16. Jahrhondert. Charakteristisch fftr diese let^e 
Epoche i.sf iTiiii. ..dass in demselben Masse, wie das Dekorative in einseitigem Streben 
gepflegt wird, liic Gfsamtanlage, Verteilung der Uüume, der Kern des Baues nüch- 
terner wird"*. Auf diese Gesamtanlage u. 8. w., den Kern des Baues gebt er nun 
freSich nicht weiter ein, sondern verfolgt «Ue Entwicklung der Dekoration, die sich 
immer mehr von der konstruktiven Grundlage emanzipiert und zuletzt mit völliger 
Krsrhöiifuns: endigt. Also aiuh Iiir-r kein Vcrsuili. ilfui Wesen der Spatgotik 
kritisch nftherzutreten. Die Profanarchitektur bedeutet für L. unter audei-ew (S. äü) 
»eine Glaiizepoche der Arcllitektur^ soweit sie auf dar itldtischai Entwickluug be- 
ruht; die DarMellung des gotischen Wohnhaus <$. 39) ist ein charakteristisches 
Beispiel für die Art seiner wissenschaftlichen Untersuchung, die das Ratnverk von 
Aussen nach Innen konstruiert. I.Ubke fiSncrt in seiner DarstellunK bei der Fassade an 
und dringt erst alüuählich iu die innere Anur<luung der iiuume ein. Uber die not- 
wendig verlnderten Raumerfordentsse und den Widerspruch swischm dem Prinzip 
der Gotik und den praktischen Anforderungen, wie wir ihn schon bei Schnaase ge- 
sehen haben, ist hier kein Wort vorhanden. Seim- ("liarakf ei istik des L'ntisrhen 
Profanhau« iu Deutschland beschräukt sich S. 172 im Wesentlichen darauf, dass die 
Bauten den Eindruck grOsuter Mannigfaltigkeit geben. Dem folgt eine Aufzlblnng 
der wichtigsten Konnmente. 



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4 — 



Bei Dobme (GMchichte der dcutBcbeD Baukunst) idrd die B«d«atinig der 
aftehsiadi«ii Spltgotik« der Aufichwoiig, den das System in dieaen Bauten noch ein« 

mal tTPrifiminrn hat, zum erstenmalp ins rfchtf Licht L'cstfllt. Eine irmanc Kintpiliuig 
der (iesaiiiteDtwiikluiiK in cirei oder vier Perioden kommt bei ihm nicht vor, ebeuso- 
weoig die übliche Terminologie in liezug auf die Baukunst des 15. und 10. Jabr- 
hnnderta. Zwar aprkdit er bei Gdegenbeit der Fonnenbebandlmg von „Emflcbtemng 
des kUnntleriscben Empfindens, Totlaufen der ganzen bisherigen Kntwicklung" (S. 80), 
dann S. von finer suii End« des 15. Jahrhniiderts „iliirrh den damaln herrpi-hen- 
deu Naturalismus erzeugten wilden Lust, alle möglichen Bauteile zu biegen und zu 
adnvingen", daa ist aber aaeb das Einzige, irorana wir naeb »dner Daratellnng auf 
eine Entartung des Stiles schliessen. So wertvoll nna aeitic l.ruiihnung der Arcbl» 
tfktnr in SacJint-u ist, so sehr vermissen wir ^enancrp AiilmIkii über Entstehung 
und Entwicklung dieser charakteiistischeD und selbstäudigeu i'eriode. — Nicht nur 
vier, «ondem aogar fflnf Perioden der Gotik nnteracbeidet 

Lötz („KnnattopograpUe Dentaddanda"). Den Zaitranm, der hier beaondera 
ins Auge gefasst ist, nehmen bei ihm die lp(/tpn drei soiner Tpri(»tlpn ein: \m 13.50 
bis circa l l'Jo ein , Herabsinken **, von 142»» — LuH) reicht die ' i^cmli« iic „spilt- 
gütische Teriode": „die Bauwerke zeigen eine oft übertriebene Hohe, in Mass- und 
Laubwerk finden aich vielfach geanchte, unadidne und troekene Formen*. In der 
fünften Periode, die tief in das 1«!. Jahrhundert hineinreicht, versinkt der Stil teils 
in .. Xui litt rnheit mit romaniscliPin Ansehen, teils in monströses Wesen". Von der 
gotischen l'rofaiibaukoust wird nur erwähnt, dass sie sich ^„iu den Details eng au 
die kirchlidie anacbliesat". 

Auch Ott e (..Hiuidhuch der Knnstardiaeologie'^) hat Ober die Spätgotik wenig 
Gü!i?!tiL'c? 711 sii'jfii. X;i< Ii dem -frttlu'ii. strengen und doni ..ntis?carbeitctcn. f-dlcri" 
fol«t bei ihm der späte, entartende Stil im 15. und 1<>. Jiihrbundert. Wie durch 
die beiden ersten I'eriodeu, zieht sich auch durch diese eine Zweiteilung der üau- 
wdsen: erstens eine reichere, nnd zweitena eine einfadiere Art: entere verlbllt leicht 
in eine sjjielende Dekointion, letztere in Trockenheit der Behandlung. In der letzten 
Ppriode, der spiltgotischen, machen sich allerlei willkürliche NeueniiitreTi bcitterklich, 
die in den Prinzipien des Stils nicht begründet, zuweilen jedoch nicht ohne Heiz 
aind: entweder ehie flbertriebene Sdilankheit, oder ein schwerer Charakter dea 
trockenen oder überladenen Ganzen tritt ein. und neben einer Vertlachung der 
Formen eine immer stitrker werdende Disharmnnip (lf»r Teile. (S. 27«)— 277). Das 
Neue, das in der liauiuidee des spätgotischen Systems liegt, ist also auch hier voll- 
atftndig aberaehen. 

Im Gegensatx zu dieser rabk hiatoi^ken Auflaasung, wie aie Lötz nnd Ott« 

vertreten, dir in der S|iattr''tik ntir nno Entnrtnntr <}fr (Wtfik sohcn. rrkt'unt 

(toller «.,Die Entstehung der architektonischen StiHoriin'n"f in lii^r heti ftleiiden 
Periode „eine schöne Nachblüte des gotischen Stils, deren Werke heilerer, phuntasie- 
reicher und in d«i Einzelheiten intereaeantw aind ala die vorangegangenen nnd 
schon die Xühe des fröhlichen dekorativen Geistes der Renaissance verkündigen". 
(S. 2711.) An den Gewölben. Helmen, MauerboRon, Fenstern nnd Thüren, W^imperuien 
und Giebeln konstatiert er „glückliche Neuerungen", während in anderer Ik'ziehuug 
der Stil (S. 284) ;,d«n Herabafnken und endlich der Barockperiode nnd Eratarmng 
entgegengdit*. Den Verfall zieht er beaondera in zwei Momenten: dem „An* 




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schiesspii ilcr Last an die stütze und der ^ Verscbiieiduiig zweier sich kreuzender 
Gebiiuszüge'', beide resultiereud aus dem Fortschreiten in der Verdrängung 
rOmiaciier Fomigedftiik«n. Die Spfttgotik ^dringt« som aelb«ii alMtrakten Cbanütter, 
wie ihn die arabische Architektur von Haus aus schon i>esa8s^', (S. 287) ^die letzten 
Neuerungen der Gotik mv\ fiirschifden barocker Natur": dazu kommt (S. 289) ^in 
allen Furmeu eine aUmähli«-h tortschreitende Abualiuie der Masse, eine Verscbärfujig 
der E<mtraete dee Vor* «tid Zaracktreteadeii, ein stirkerea Awaeken osd Ein» 
sduieiden der Unriese*. Ab GeMnttresnltat ergiebt sich schHeMlieii: „ee war hohe 
Zeit, dass der neue Form^nstrom hereinbrach''. — Also auch hier, nach einer 
günstigen und treffenden Charakterisierung, das alte Hüngenbldbcn in dem ^barockeu-- 
Fonnenkram und kein Vemiek einer idlkeren Erklärung der durch den ganz richtig 
dargestellten Formrawaadel herbeigefUlirten BaumunigeRtaltanff. 

Versucht man. allein anf Grund der vorhandenon Utterattir, deren Haupt- 
vertretor in ihrer Stellung zu unserer Periode hicnnit ciiarakterisiert seien, sich 
ein Bild von dieser Teriode zu schaffen, so ist zuerst Eines ersichtlich: als ter- 
ninos ad quem whrd aUgemein der Zeitpunkt des ersten Auftretens von Renaia- 
sanceformen in Deutschland angesehen und zwar des Einbmcbs von Elementen der 
italienischen lu iiaissance. I>is IfiHO etwa treten an den verschiedensten Punkten 
Deutschlands Kunstwerke uut, die in irgend einer Weise die aus Italien über- 
nommenen formalen Elemente sa verarbeiten snckttii; von diesem Zeitimnkte an 
«eicht die noch nnklai-e, verständnislose Kacbbtldung von allerhand Vortagen oft 
der eigentümlichften Art einem intensiveren htuI stetiiren Eindriii'/en in die neue 
"Welt der künstlerischen Anschauung, ujid wir bemerken ansehnliche Spuren einer 
selbständigen Umbildung des fremden Stoffes. Am Ende des zweiten Viertels des 
16. Jahrhunderts erscheint der alte Stil im Orossen von den neuen Formen ver- 
drängt. Bis in diese Zeit also wird die Geschichte des der Renaissance voran- 
gehenden Stiles reichen, den wir „Spätgotik'' nennen. Schwiericrer ist es. den Zeit- 
punkt festzustellen, mit dem die Herrschaft dieses Stils — nach der herküuunlicheu 
Meinung — einsetst. Bei der Qblichen Teihrag der Gotik als einer in sich ebheitlichen 
Stilperiode in drei Phasen. Frühgotik, IIochKotik oder Blütezeit «1er Gotik und 
Spätgotik i)lle.rt man flic erste bis in die zweite Hälfte oder den Schliis>. des 
13. Jahrhunderts zu führen, der Hochgotik das 14. Jahrhundert zuzuweisen, und 
die dritte Phase, wenn man sie tiberhaupt mit den beiden ersten auf dne Stufe 
stellt, mit mehr oder minder genauer Abgrenzung nach jener zweiten hin <las 15. 
Jahrhundert einnehmen /n lassen, bis die nenaissance mit ihrem frischen Leben 
das Land von dem entarteten und Uberlebten Stil befreit. Mag man auch Ober die 
zeitliche Umgrenzung dieser letzten Periode verschiedene Ansichteu haben, mögen 
auch die tinen ihren Beginn ein paar Jahre vor, andere ein Jahn^t nach dem 
Eintritt <les 15. JahlhuidttTts bestimmen, zweierlei ist doch mit Sicherheit in dem 
Namen „Splitiiotik" ausgesprochen: zum einen, dass man diese I>eriode künstlerischen 
Schaffens nur als eine Unterabteilung oder Abzweigung des grossen gotischen Stils 
ansieht, und zum andern, dass ihr zeiüiehes Verhältnis zu diesem das hervor- 
stechendste Merkmal ihres Wesens ausmacht. Fasst man die Urteile zusammen, 
die im allgemeinen die Litteratur über -Ii» s (Jebiet fällt, so gelangt man etwa zu 
folgender Charakteristik; es ist diejenige Zeit, in der der gotische Stil sich von 
seinem wahren Wesen und seinen idealen Zielen abkehrt, seine Kr&fte in üppigen 



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dekorativen Leietungen uihI ülitriiicbeneii KonstniktionfivciFuclTen von verstainJos- 
mAseiger Niichternbeit verzettelt, und endlich, unfähig, den neuen geistigen und 
kllii8t]«riieken Strtaanngen zu genügen, elend ta Grunde geht, wormf du» iBe Bentit» 
MUice zam voUcn und tob^digen Audinek der nenen Ideale irird. 

Kiiie T'^iitfrsuchunp, die im Kähmen dieser Stilppriodo hanpf^?i< hlioh eine be- 
st iiiuntü iokale Gruppe zum Gegenstand hat, rausB vor allem versuchen, den Werde- 
gang des Stiles iu seiner Gesamtheit so zu erkennen, dass die Erseheinuugen eben 
dieeer Grappe als ein natorlicbes Ergebnis der voransfegangeiieii Entwiddong und 
damit aa«h wieder ab die luvemickbare Basis aller spSteren Bestrebimgen dastehen. 



Seit /tiri st litis der Isle de France und der Xonuandie die gotischen Baa- 
formen sich Icii Wclt ihk h Dcut^rhlünd L'eliahiif bfitten. war die Entwicklung dieses 
Systems auf dem neu eroberten Gebiet völlig konsequent vor sich gegangen. Das 
Grondprinzip seinor verinderten Ranmgestaltniig, das Aufstreben nach der Höhe, 
organisch bewirkt nnd begrOndet dorcb das Übenriegen der tragenden Bauglieder 
über die bloss füllenden, hatte sidi freilich tiicbt sofort in bewusste Form um- 
gesetzt. Der romanische Stil hatte, nach Grundriss und Aufbau, dem schaffenden 
Geist des Künstlers den weitesten Spielraum gelassen. Bei der .Vullockcrmig be- 
sonders der ornamentalen Formen wurde der Spitzbogen aniangs noch ohne Ver^ 
stüniliiis filr seine struktive Bedeutung willig aufKPnomraPu. Als mit der Erkenntnis, 
das» bei der alten Bauweise die Grenzen der GrundrissiiKMlitikaf innen erreicht seien, 
sich das Streben nach Befreiung aus diesem Zwang verband und damit die Not- 
wendigkeit eines Töllig nenen WOlbungsprinzipes heransstellte, bot das französische 
System die beste Gelegenheit, den Umschwung auch praktisch dorchzofthren. Xach- 
dem dann auch die deutschen BiuiniciRtpr sich die Details des neuen Stib f- nnd vor 
allem die Gesetze des umgestalteten Grundrisses zu eigen gemacht hatten, ragten 
bald allerorten die gotischen Pfeiler und Streben empor. 

Indem der Stil, bei d^ höchsten Ausnutzung der mechanischen Krflfte des 
Materials, die Konstruktion zum .Ausgangspunkt nahm, und dies Prinzip bis zum 
iiussersten ausbildete, Eredipb pr zwar in dieser einen Beziehung, dem Entwickeln 
der gesamten Gliederung nn Einzelnen aus den Konstruktionsteileu, zu „klassischer" 
Grosse, liess aber anf der andern Seite die istbetische Wirkung und Bewertung 
des fertigen Gebildes in ganz bestimmter Weise beeinflusst, ja beschränkt er^ 
scheiiit n. Denn weder mit derjenigen Tendenz der Kanmbildung, die in doi Ati?!- 
bildung der Höhe den Horizontalismos aus dem System 2a verbannen suchte, noch 
mit derjenigen, die eine eigentliche Charakterlsiemng des Raranes durch Abschlnss 
wfinde zu Gunsten einer nur andeatongsmftssigen Symbolisiemng dureh EinzelgUeder 
aufhob, konnte das crsuiidc Empfinden auf die Dauer in Fjnklang blpibeu. S(» «ehr 
auch in der Bemessung der Höhendimension das Unbezeichnete, Irrationale als 
Faktor ästhetischer Wirkung berechtigt ist, so dringend verlaugt doch auch das 
Auge nach der klaren, optisch messbaren und psydiologisch verstftndBcben Ab- 
grenzung des Baumes geradf> in der Dimension, bei der das praktische .Abmessen^ 
•Ins knrperlirhe Nachleben gleichsam im fühlbaren Verfolg der materiellen Bestim- 
nmngstorm durch die Natur versagt winl. l nd ebenso musste die Konsequenz- 




— 7 — 



prscheimuiK des aut^trebeuilpii DianL'fs, die ^'pnlichtnnij der Flüche zur Hinzel- 
vertikaleu mit möglicbater Beschraiikuug der kurperlichen Masse, die Ausscheidung 
der Wand und ihr En«l>«i durch eine immateriell iririretide Fliehe, du Fenster, 
auf <lie Diser mit dem HedUrfnis nach organischer Einheitlichkeit der tragenden 
und iretrnpenen, der sicherrifien und der nur fnlleiiden Teile nnvi rli ilu'lich sein. 
Schliesslich, und nicht zuin mindesten, machte sich der Uegeusutz zwischen der 
ümoiea und der flnteerni Encheinong des gotischen ^nwerkes kOiMtleiriich stOrend 
fahRwr. Denn erfasste auch der wägende Verstand leicht, dass der konstraktive 
Ai>panit dt s Äiis^prpn nur die notwendige VorheflinRiiiic odpr mich FoI^tp ilcr 
raiumliclien innenkontposition war, so niusste doch der ungetieure. sich stetn noch 
steigernde Umfang dieses Apparates als etwas, im VerbiUtnis zu der zwar gleich- 
falls gewaltigen, aber doch eiuheitlieheD nnd erhabenen Erseheinnng des Innern 
durchaus Unangemessenes empfvnden werden. Die Dekoration, die diesen Gegen- 
vf*rdeckeu »oüto. ^Ing von einem einheitlichen lUldungsprozess, dein iler geo- 
metrischen Konstruktion, aus, and erhob die Maiuti^fultigkeit der Fonneii zum 
kflnstlerischen Gesetz; aber da die formalen Einzelt^e nicht organisch waren, i) 
d. b. nicht als LebensSllSSeningen auftraten, denjenigen gleichartig, welche die 
lebeudi'jen orijnnischcn Geschöpfe bri ihn r inikroBk(»smi8chen Tli;itii;l\eit und im 
Kontlikte mit der .Vusseuwdt auszeichnet, — trutz der vielfach auttretcudeu realis- 
tischen DnrdifOhrung nach V<whUdeni der natttrilehai Lebewelt, trog sie den Kehn 
der Konventionellen, Phrasenhaften von Anfang an in sich. Sie vennochte den 
natürlichen kunstlrrisi.'hen Anforderungen im Gmnde ebensowenig m geniigen, wie 
der Gf'sjnDtknrper der stniktiven Masse. 

Ks kann nach allen diesen Momenten nicht mehr verwunderlich scheinen, dass 
ein System, das mit so jngendllcher Kraft sich den nenen Boden onterwarf, nnd 
so rasch unter dem Eiuüuss des nationalen Geistes eine neue künstlerische l'by- 
fsio.'iiniine aniiiihm. nach kurzer Zeil schon auf dem Höbepunkt »einer Kntwieklung 
anlangte. Die Ostteilo des Kölner Domes, die Kathai*iaeukii'che hi Uppenbeim, das 
Langhans des Strassbnrger und das SchiiF des Freiburger Mflosters sind die wesmt- 
licbsten Momunente dieses Hdhepnnktes, alle in den Bheinlanden und nicht nn- 
ben'lbrt von ronintiiKrb-frnnznsiPchem Geiste. Kin y^raktisclier Hückschlau gegen 
das ursi»rUngliche System erscheint zuerst auf dem Gebiete der Proportionenbeband- 
lung. In der Kunst der KOrperbilduug, der Plastik, (ritt dies ganz besonders 
ebarakteristisch anf. Findet sich schon an den Sicnlptnren in der Voihalle des 
Freibur«er Münsters ein Zug zu breiterer, realistischer Gestaltung, 2) so bezeichnet 
die Plastik, die sich unter Karl IV. in Böhmen und im Anschlu!*f5 nn den Prager 
Douibau entwickelte, (vcrgl. auch die Statue Karls IV. im Museum zu HerliuS) einen 
noch sinscbneidendNvn Gegensats zn der langgestreckten nnd leichtgeschwnngenen, 
wie knochenlosen Art der streng gotischen Körperbildung. Möglich, daSB P>*> 
ziehuneen zu Frankreich -.wich liit-r fnr dii- stiliBti-sche Kntvvickhm? tnasgirebeud 
wurden. Tritt doch in diesem Lande, dessen kultureller und künstlerischer Werde- 
gang damals den deotschen Verhilltnissm nm mindestens ein halbes Jahrhondert 
vornns war, schon nm die Wende des 13. Jahrhunderts eine ahnliehe Tendenz anf, 

') Semper I. 

^ Vergl. Kode, Gesrbicbte der (leutschen Plastik & 76 u. 79. 
») VergL üode S. 5*5. 



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_ 8 — 



die dann mit iiiptifrlündischcn KintlüBsen verschniolzeti in Am jttn^iereri Sktiliittiirn 
ttu den Ghurschrauken vou Noti-e Dauic zu l'&ris weiter »usgetütirt wird and 
Klili««8ÜGh in den Werken des grossen INj4Mi«r Mdslers Clanx Sinter, der nnn 
schon ganz Niederlfin<ltr ist, ilm klassiscli» Attsprignng erfiUiit Hier sind die 
Figuren in ^iemlidi kleiiit'iii Massstab atispreffllirt, von gedrungener, wuchtiger Bil- 
duiig mit iudindueU-kraftvoUem Aasdruck und realiBtischer ikhaudluiig der Einzel- 
heiteii: onverkouilMkre Produkte einer nenen, sellwUbidigen Kvnst, die nor noch «in 
SehritI Ton dem kflnstierischen Ideal der niederlindisdieD Altmeister des 15. Jalir- 
hnnderts trennt. 

Dies wur<len die Resultute der Kntwickluug im Westeri. Auf dpntscbem 
Duden lässt sicli ein L'uiscklag des Systems bei Werken der Arcliitektur zugleich 
an mei verschiedenen Punkten konstatieren. Im Jahre 1S61 t^irte der Meister 
Heinrich „parlerias de Culoniii'* den Grundstein der Kreuzkirche zu Gmünd in 
Schwaben: es ist das Geburtsjahr des- neuen t^tilcs. Dio Krcu/kinlip vertritt den 
Typus der llalleukircbe, ohne (^uerscbiff, uüt Churunigang und Kupellenkranz um 
d^ ganzen Baun; dne eigenartige und irirkvngSToUe Yerscbmelrang des dentsdieii 
Ilidiensysteius mit der französischen Choridee. Die ganze Komposition und die 
neluimiloug der Dimensionen Ifisst dif Vermutung berechtigt ei'scheinpn, dass hier 
ein Kinfluss von der niederrheinisch-tninzösischen Schule vorliegt, deu ja auch die 
Beueuuuug des Meisters in gewissem Siuue garantiert. 

Gieichzmtlg mit dem Bau der Kreoskirche in Gmtatd erfolgte die Orftndnng 
einer Kirche, die deu zweiten Typus der entwickelten Raumkomi>osition zum ersten- 
mal in voller Reinheit vertritt. 1S.55 — Ol erbaute Karl IV. an Stelle der alten 
Synagoge am Markt zu Nürtü>erg die Kirche uusrer lieben Frau: ein quadratischer 
Hanptranm mit drei Schüfen und einem sehmalen, polygonal geschlossenen Chor. 
Dohmes Remerkuug (S. 234), das Schiff dieser Kirche sei nach Art der Rurg- 
kapellen gebildet, führt un;? voti dem eiuentliihen Ruugedanken ah: das Schema, 
das sich in deu Borgkapellcu jener Zeil laud, liesse da eher eine zweigeschossige 
Anlage vermuten. Wir k<nnmen der Frage nacb der Entstehung des Motivs irohl 
nfther, wenn vir es in Verbindang hringen mit der Miarienkapene in dem Syst«« 
der französischtii (lotik. Die fltertragung wUre dann in der Weise m drnken, 
dass der weiUmtuladende ('hur der irnnzOsiRplien Anlage in Deutschland tür das 
breite, in den Dimensionen nuiglicht>t gleichmtissig entwickelte Schiff vorbildlich 
wurde^ und die schmsle, daspringsnde, die Langenaxe betonende Blarienkapelle sich 
dann als Chor diesem Hauptsaal aiis^i lilos.s. Kin Blick auf den Grundriss der Chor- 
partie von St. R6my in Rheims i) wird dit sr \ orstellung erleichtem: schneidet man 
den Chor, vom (^uerscbiff an. von der Gesamtanluge ab, und erg&uzt mau die vier 
im Halhntnd angeordneten Kapellen, den beiden westlichen HSben des Chors ent- 
Sprediend, zum Rechteck, so ergiebt sich ein Grundriss, in dem der breite Westbau 
zu dem Rchmnien Ost teil in siemlicb demselben Verb&ltois steht, wie bei der 
Marienkirche zu Nürnberg, 

IMese Ranmidee, die Centralisieroug des Schiffes, führt in der Kirdm des 
Augustinentiftes Karishof in Prag (1351 g^pnindet, 1377 der Clior geweiht) daxu, 
den Gesamtraum als Achteck unter einem riesigen Kuppelgewölbe, dem grössten. 



') Lubke, Gesch. der ArcU. II. 4«, 



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— i) — 



das die Gotik hervorgebracht hat. zu vereinigen, t) Wenn wir diesen Itau mit Xea- 
wirth u. a. dem Ituumeister Karls, dem grossen Peter Tarier zuschreiben, so ge- 
langen wir auch 2U einer ^'erbiuduug der Nürnberger llauidee zniu ntiude&teu mit 
der Idlnstlerisehen Bichtnng dieses ManneB, der in Isitraer Zdt der anerkannte 
FQlmr der gesamten arehiteictoniBcheu Entwicklung seiner Zeit genannt werden 
konnte. Dil" Verl»reitung, welche das in Nürnberg gegebene Schenin in (t-T Folge- 
zeit in 8Ud(leul8chland fand (vergL die Marieuliirche zu llVir^bur«/, die Kirchen zu 
KÜzingen, Aachaffenburg u. a.), eridSrt sich noch leichter, weuu ein berühmter Name, 
wie zn jener Zeit der dee Flrager Meietera, ndt dem Urbild in Yertnndung gelnvelit 
werden konnte. Dass Veter bei den grossen Kathednil- iiiiil Stndtkirchen auf das fran- 
zösische Scheuui mit der reichen t'horgruppe znrflckirrifl. schliesst eine Verwendun.ii 
des uuderu Motiv« für bescheidenere Zwecke und intimere ^ erhältuisse ja nicht au«. 

In der Hitte des 14. Jahrlrnnderti also, wenig mehr als ein Jahrhundert nach 
dem ersten Auftreten der Gotik in Deutschland, ist das System in zwei T)*'iikiiKi!ern 
schon in einer Weise umgestaltet, dir mit den Stiliresef/en der .klassischen- 
reriudo bricht oud demnach als der Hegiuu einer neuen i'ehude bezeichnet werden 
kamit olnrohl die Fonnoispraclie noch dieselbe bleibt, ja in nuinehen Pimkten noch 
weiter anagebildet wird. 

\irht so entscheidend wie in SUddeutschland, aber doch deutlich fühlbar 
zeigt sich auch im Norden die neue Auffassung des Stiliirinzips. In We.stfülen 
treffen wir iu der Folge eine Reihe von Bauten, die eine ganz ähnliche Modihzierung 
der atüistiaehen Orandnormen aufweisen, wie dann in Saddentscfaland. Die Bau- 
thntigkeit. die am die Mitte des 14. Jahriianderts in Dortmund rege ist, fahrt tu 
Produkten von zwar Tioeh niclit in allen Teilen ausgeglichener, aber in ihren mass- 
gebenden Momenten klar ausgeprägter Eigenart. Die Petrikirche, 1319 — 1353 er- 
baut, adgt fast geatm dieselbe Anlage, wie die Harienkirehe in KSrnberg, und in 
der ebenfalla 1353 vollendeten Dominikanerkirehe ist der (irnndgedanke. «Ii« Gleich- 
stelinn? de^ nndi einsdiiffiLren Chores mit dem Langhaus, schon ebenso dentUch 
ausgesprochen, wie in der reiferen Kreuzkirche zu Gmünd. 

Das gieidneitige Auftreten der gleichen künstlerischen Anschauungen in den 
weit von «nander entfernten Geboten Uast zur Begrandni« dieser Thattache zwei 
verschiedene Hypothesen zu. Entweder sind beide Erscheinungen auf ein dritte.s 
Vorbild zurückzuführen, nnabh^ngi^' von einander: in diesem Fall kiinn als der Sitz 
dieses Vorbildes nur Frankreich in Frage kommen. Diese \ ertiiutuiig, im \ origen 
schon durch verschiedene Einzelheiten historisch glaubhaft gemalt, bedarf zur 
wissenschaftlichen Sanktion noch weiterer liestittigung. Das Zweite ist: dass im 
Einzelnen ebenfüll« nniildiiintrig und selb.ständig, im (irossen aber eiidieitliih an- 
denselben Motiven heraus das System, wie es aus Frankreich ursprünglich ulier- 
nommen und des weiteren in Deutschland ausgebildet war, sich als Ssthetiseh un* 
hahbar und organisch unfruchtbar erwiesen hatte, dass eine Reform nötig war. die. 
einfach den Gesetzen der natürlichen I'jinsicklung zuf<dge, an verschiedenen stellen 
zum Dorcbbruch kam. Im Folgenden ist nachzuweisen, zu welchen Resultaten der 
Anstoss, einmal gegeben, in den verschiedenen Gebieten führte. 

') Neuwirtk, Gesch. d. bildenden Kunst in Böbmea. b. -iM—iäd; Kugler, Gesch. d. 
Baukonst m, S. 31S. 



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SUddeutschland 



Bei einer Betrachtimg der tpItgotiaelwM jüreldtektiir piegt man gemeinhin 

als ehips ihr rharnkteristisdiPii Merkmale dieser Periode mit aiiznfillircn. dass dor 
Hanptscliaujilatz bauküiistlerischer Tliütigkeit in eben jener Zeit uiclit mehr in 
Norddeutschlaud und den Klieiulauden, sondern in SUddeatscbland /.u .suchen sci.i) 
IjiMen wir die AUgemeingOltigkeit dieser Bdumptnng einstwdlen dehingeiteDt, so 
kann es doch als Thatsai lie gelten, dais die Architektur, nachdem der entscheidende 
Schritt auf dem Gebiete neuer Kanmgestaltung gethan war. in der zweiten Hälfte des 
14. und der ersten des 15. Jahrhunderts in ihrer Entwicklung gerade in Saddeutsch- 
land ungemein flchnene Forteehritte gemacht hat Dm Weeentliehite fOr die architek- 
tonische Tliütipkeit dieser Zeit hier ist wohl, dass sie auB eimr Entiricklun^' liervnr- 
ifinjr. die seil drin i'rsfeii Auftreten der Gotik vorwilrfsiiesi liritten war und alle Teile 
des grossen Gebietes iuenilich gleicbuiässig ttberspomieu hatte. Au der Spitze der ge- 
samten Periode steht, tßat llberragend and dnrdi die iehnelle VoUendang des Tom- 
bans von der gewaltigsten und volkstlUnlichsten Wiritnng, dM Freiborger MOoster. Die 

Peter- und Paulskin lic /n Wimjifen im Thal, in den reinsten 
Formen fran/i».sisiher Stiliiehaiidluiiß noch vor dem Kiide 
des 13. Jahrhunderts errichtet, kuimte im Nordwesten un- 
seres Gebietes vorbildlich wirken, and die Errichtung der 
Lorenzkirche in NOrnber« wie die NeogrOndung des Kegens- 
burper Domes im Jahre 127:i beweisen, «lass in Franken 
und liayern der rechte liuden fiii' ein gesundes Wachstum 
der neuen Raaweise voihanden war. Die ganze Eigenart 
des Volkes kam dem entgegen. Lebhaft, heiter und liebens- 
wilrdi«;. mit nffnem Sinn für alles Reiche. Zierliche und 
Wirkungsvolle, dabei thatkräftig und sicher im Deukeu und 
Handeln, mochte es in der neuen Kunst leicht eine innere 
Verwandtschaft empfinden, die woU tön eifiriges Erfassen 
und Verarbeiten des frischen Stoffes befrtlnstigen konnte. 
Die Kunst der Hede und des Sanpes latr ihnen im Rlute und 
fand uul diesem Boden N'ertreter, die das Höchste leisteten, 
was in den Kriften der Zeit lag. So kam denn die Gotik 
dem Streben nach plastischer Gestaltung wund> rlmi ent- 
AM. 1. KrcaikiNb« iD OmAbS. gegen: erst eine i^ussere ErrungenschaO . wnrdf' sie bald 

zmu iunereu Eigentum der Nation. Dass gerade der ortho- 
doxe, wmn man so sagen darf, katholische Zng der Gotik, den sie in ihren er- 
habensten SchApfungen in sich trAgt, hier auf verwandte Elemente stiess, mag hier 



') z. B. vergl. Kugler, Geschichte der Baukunst, II. 308. 



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— 11 — 



nur erwähnt sein. Iiier 
im Süden hatte die Macht 
des ('lerus «lie ^rösste 
AasbreitanK und nll- 
seitigste Verehrung ge- 
funden : Biiyem und 
Schwaben sind die Ge- 
biete, wo sich die Klöster 
zur höchsten lilate em- 
porhoben, wo die Bi- 
schöfe neben der geist- 
lichen auch auf dem 
Gebiet der politischen 
Herrschaft die grössten 
Krfolge errangen. Als 
die Städte innerhalb der 
territorialen und geist- 
lichen ^lachtsphSren zu 
positiverer Stellung ge- 
langten und immer mehr 
die eigentlichen Central- 
stellen der Kulturent- 
wicklung wurden, 
brauchten sie die Go- 
tik als ein festes 13e- 
sitzteil in dem Ka|)ital 
geistiger Krrungcnschaf- 
ten aus der früheren 
Periode nur als Ganzes 
in ihr Reich herUber- 
zunehmen. 

Die bürgerliche 
Grösse fan<l ihren schön- 
sten Ausdruck in den 
neuen Kirchenbanten. 

Die SteinnietzhUtten, aus denen diese Werke hervorgingen, entwickelten in ihrer 
Vereinigung die sch()i)feri8chen Indivitinalitaten im Gegensatze zu den im Kleinen 
arbeitenden, mehr reprotluzierenden Handwerkergruppen, deren Orgain'sation sich 
an die der übrigen gewerblichen Zünfte anschluss. 

Das« gerade die Individualität in dem Haumeister jetzt mehr beachtet wurde, 
beweist die Reihe von Künstlernamen, die uns au» jener Zeit erhalten sind. Die 
Persönlichkeiten der Kleister von (imUnd, der Ensinger, Höblinger und Roritzer 
treten in festen Umrissen aus der Menge der Raunieister heraus, und sind zum 
Teil in dem Verlauf ihres Schafifens schrittweise zu verfolgen. Fast möchte man 
sagen: die individuelle Kraft der Itaukünstler jener Tage war stark genug, um nicht 
nur einen Menschen, sondern eine ganze Generation mit schöpferischem Leben zu 




Abb. Kreuzkircbe in (.imand. (Weatfaasad<>.> 



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— 12 — 



erfülli'ii. Diis sol! hf-is8eu: nicht die Kinzolpersünlidikeit. .soiuli-rn die Fainilie, fine 
gauze Kette von tbätigen Männern vom Vater bis zum Enkel und Urenkel ver- 
körperte am ktnflfiirisehei Prinzip, das natUrliek nxsprflnglich dem Qeivte ein«» 
ESnnlneii, des StamoiTaterBf «ntepnnigeD wmr, aber dann mit fast onvermindwtor 
Stftrke auf den Sohn üliei>'iii'/, vom Eiikf»! •vielleicht erweitert oder umgestaltet 
wurde, und erst in der Tlaiid des Urenkels seine Lebenskraft \erlnr. In der Lehn* 
des \ uter» uiuchte »ich der Soliu leicht die technischen Geheimnisse zu eigen, die 
sich andre mflhMun in langjaliriger Arbeit erwerben musten; die Gewohnlieit der 
freien künstlerischen Anschauung und die frühe Übung aller handwerklichen Er- 
fordeniisse liesR ihn so nach hu\<\ zn einer ludiLren Auffassunp: der künstlerischen 
Aufgaben durchdringen. Diese Architektenlamilien entsprachen gleichsam dem 
arehit^toniseben Schaffen jener Zeit in seinem periodiseben Fortsebreltai, das 
inumi- noch zur ^■olIendung eines Hanwerkes eines Zeitabschnittes bedurfte, der 
die Lel)eii.sdauer eines einzelnen Mannes überstieg. Es war, als ob die Natur 
sich bewusst sei, da^s die künstlerische liegabung Eines Mannes im Strome des 
geistig-schaffenden Lebens nodi zu keiner dnrcbgndfendeu Wirkung kommen konnte; 
sie verteflte die schOpferiBche Idee auf eine Generation, and verlieh ihr ^bunit die 
Oewissheit lobendigen Erfolges. 

Aus der £tro«sen Zahl von Baudenkinnlern. welche die genannte Periode in 
Süddeutschland hervorbrachte, seien liier nur einige, für die Entwicklung der spe- 
zifischen liOnstletiaehen Idee besonders charakteiistiBCbe herrorgehobeu. 

An der Spitse steht, wie schon «rwlbnt, die XV-emriHirdltf von Gmünd in 
Schteaben.i) Heinrich „parlerius de Colonia, magister de Gemunden in Sueria'^ 
leijto 1:^51 den Grundstein: er leitet-- d'-n Ünti bis zu seinem Tode 1377. aber 1410 
erst erfolgte die Weibung der Kirche, ileinrich ist der Stammvater des berühmten 
Gesdiledites der Hdater Yon Gmünd, seki grosser Sobi Peter Axlsr (Pailnr) wmrde 
als der ßanmeister Karls IV. maasgebend filr die Entwieklmg der Gotik in Böhmen. 
Heinrichs Lebenswerk, die Kreuzkirche in Gmünd, wurde vorbildlich für die Aus- 
breituntr der llallenkirehe in Süddeutschland, und die Dnuhütte, die mit ihr ver- 
bunden war, gewann als Schule der jüngeren Architekten in weitem Unilung die 
grOsste Bedeutung. Der Raun, den er hi«r schafft, IrBgt das Gepitge der kon- 
sequenten und sicheren Durchbfldong eines Prinzipes, mit möglichster Beschränkung 
des t('k(onis( hen Apparates und der ornamentalen Zuthaten im Innern, während 
das Äussere, dem jetzt die Xüi'me fehlen, eine Fülle zierlichen und phantastischen 
Schmnckes in gediegener Pracht entfaltet Es ist ebe xiemlich belle nichtige 
Hulle: die etwas kühle, feine graue FariM des natürliche» Stdne.s erhält durch den 
Schein der roichen bunten Fenster hie und da einen wärmeren Ton. I»er Chor, 
an I^'inge dem Schiff wenig nachstehend, an Höbe ihm noch Überlegen, zeigt einen 
eigenartigen Äbscblass. Um das Mittelschiff, das breit md imponierend Ton drei 
Seit»! des Achtecks abgeschlossMi wird, und zwar so, dass der PfeUerabstand des 
Normaljocbes gewahrt bleibt, schliesst sich der Umgang der Seitenschiffe in sieben 
Seiton des Zwölfecks zusammen. Es entsteht dsidnreh ein Gegensatz der Linien- 
führung und eine perspektivische Wirkung, die (ien iieiz des ganzen Chorbildcs nur 



') l'aulus, Atlas, 25, Lieferung (.Jagstkrcis^ Kcppler S. 12tl. 



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Abb. 4. Kmiikirch« in OmUnd. 



erhöht. Selten siml die beiden Momente, der ernste, heruhifirende Mittelraum und 
der flicssende. heitre Umpantr in ihrer ilsthetischen Ersrheinung so strcnR Rcschieden 
worden, selten nach ist die innere Einheit des numcii Raumes in seinem schwie- 
rigsten Teil SU glücklich gewahrt geblieben. Um das Ganze schlingt sich ein Kranz 
niedriger Kapellen, achtzehn an der Zahl: ein l'berrest französischer Reminiscenzen, 
die Heinrich aus Köln mit herübergebracht hatte. Sie sind hier, im (ieiste der ganzen 




— 16 — 



Anlage, dem Hau]<tr.uun «leutlich untergpordnet. mit scblichteui, geradem Abschluss 
und breitni. prc-li.stt^iliL't-u Fenstern, als sidierc üasis für das IcMiafte Aufstreben 
der oberen TeUe und das verwirrend reiche, leichte NetJtgewölbe. Die festen Kond- 
Iifeiler mit sdiinftleD LanbkapiteUeii, die den Baum gldehniftssig durchzieb«D, halten 
gleteliMnii die innere Krmft der Mme znamnen, mä scimtieii vor aDiakOhiMBi 
HinauKWiiclispii in die Höhe. Es ist der vollste Ociicnsatz zn dem gleich.'sain körpt.T- 
losen Autstiflipu aller Teile in den Kir^ih it tler lüiitezfit, wn eine Qbermenschlicbe 
Vorstellung tilles beherrschte, als ob Iliuiiuci uiul Krde sicli iiier die Hände reichten. 
Hier giebt es keine geheimnisvollen XebenrSwne, keine beiebfttteten Ecken und 
Winkel: alles ist licht, frei und offen, nicht zu mystischem Sichversenken oder 
Ptarrem Weitorverfolgen riiier Vorschrift, sondern zn freier iiersötilicher Hethätignng 
des Glaubens und ungehindertem Eingehen auf die ThaUuclieu der göttUcbeu Lehre. 
Dem inneren Zusammenhange, die Fredigt im Langhaus (der Gemeinde) — die 
Kanzel befindet sirli am :;. südlichen Pfeflor, von Westen aus gerechnet — mit dem 
( hordienst im Altarhatis (der Geistlichkeit) verbindft. Kontito eine arrhitektnnisrhe 
Komposition, die sich von der überlieferten liaumzusammcn fugung zu den Höben 
der freien originalen Ranmschopfuug durchzuringen strebte, nicht schöner gerecht 
«erden, als es hier geschehen. 

Den deutlichsten Anschluss an den neuen I'lan, der in Gmund den Hallenbau 
mit der reicheren Gcptalfnnir des <"hores zu vereiniucn wusste, zeigt die Michaels- 
kirche in Schuäbisch-Hull. i) freilich nicht in einem Zuge wie diese, sondern in zwei 
Abschnitten im Verianf fast eines Jahrhunderts errichtet, das Schiff U27 — 1492, 
der Chor 1495 — 1525, also schon zu einer Zeit, w<i die italienische lienaissaooe 
an die Pforten iHnlite. Die Höhe der drei Schiffe im Laiijihans int nicht genau 
die gleiche, dafür « ntwickchi sie sich alle in gleicher Breite, und der Eindruck der 
Halle Uelbt dennoch gwalurt. Auch hier schtaake, aber ausdruckslos« Ffefler als 
TrägCT des NetcgewOlbes; im Chor ziehen sieb die Seitensduffe als Umgang bis 
anf etwa ^-wei Drittel ihrer früheren Breite zusammen: die S'tri>brn sind nach innen 
Gezogen, und <lic zwischen ihnen gelegenen niedrigen Kapellen ragen mit ihrer 
fiachcu Aussenwand nicht Ober die des Hauptschiffes heraas. Nicht nur an Lange 
und Hobe, sondeni besonders infolge der Erhöhung seiner Basis fibaragt der 
Chor dag Langhaas bedeutend, die Selbständigkeit seiner Wirkung wird durch eine 
Deklination seiner .Art nach Süden verstärkt. I'^lier den weit von einander ab- 
stehenden Pfeilern des Schiffes, die als Kapitell nur einen Wulst tragen, erheben 
sieh die Spitsbogen des Gewölbes noch ziemlich hoch, wie gestebt; die Pfeiler am 
Choreingang haben rechteckigen Grundriss und tragen eine Art einfiehsn Triumph» 
bogen, peiroi) den ilas Gewölbe des Mittelscliiffs, leicht ansteigend, unvermif ttdt an- 
etosst. Die kleineu Fenster sitzen im Chor hoch über den Kapellen und bind bis 
auf das eine fn der dsüichen Querwand farblos; der ganze Raum ist grau ge- 
strichen, nur die Gewölbfelder sind gelblich getOat. Kurz vor dem Ende sdner 
Laufbahn, in einer Zeit, deren ijeistiires Leben sich schon tief in refonnatfiriscben 
Hahnen bewegte, bat hier das urgotisch-französistrbe Prinzip der Hervorkehrung 
and künstlerischen lietouung des Chorteiles nocli euimal Leben bekommen. Oder 
soll man sagen: die nivellierende, auf einheitliche Raumwirkung ansgdie&de Be- 

') Kepplcr S. 143. 





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— IJ» — 



handlungsweise der Si)atgotik hat »ich in reifster Ausbildung erst des Chores be- 
mächtigt, und bei dem Eifer, diesen Teil möglichst vollständig in ilen neuen Formen 
zu gestillten, ist das (schon vorhandene) Lunghaus zu sekundärer Bedeutung herab- 
gedrUckt worden? Die spätere Zeit ist (Iber das Werk der Vergangenheit stolz 
hinweggeschritten, der Schwer|>unkt, das künstlerische wie <las mathematische Centnini, 
verlegt sich in ihren Bau. Die traditionellen Grenzen zwischen Chor und Langhaus 
scheinen verschoben, und 
zwar so, dass der Hau 
der späteren Zeit, seiner 
Bestimmung nach nur 
ein räumlich Untergeord- 
netes . «loniiniert. Das 
Grundlegende der spä- 
teren Hauidee war wohl, 
den alten Teil eben im 
Sinne des sogenannten 
Chorbaucs umzugestalten, 
aber die Selbstilndigkeit 
der Durchführung wuchs 
über den leitenden Ge- 
danken hinaus und das 
Resultat konnte demnach 
als etwas durchaus Eigen- 
artiges und Schöpferisch- 
Freies gelten. 

Das Prinzip, den 
Chor mit dem Langhaus 
möglichst zu verschmelzen 
und durch weite, klare 
Verhältnisse die innere 
Einheit aufrecht zu er- 
halten, tritt an devGeonjs- 
kirche in Nördlingen,H27 
begonnen, wieder ganz be- 
sonders hervor, i) Hier 

hat seine Durchbildung ihre höchste Stufe erreicht, und damit ist die künstlerische 
Wirkung vielleicht schon um einen Schritt zurückgeiiangen. Eine gewisse Leere, ein 
unbefriedigendes, weil ülicrtriebenes Ausweiten des IJaunies, stellt sich ein: man 
wird ernüchtert, nicht erhoben. Die I'feiler der zehn Joch langen Halle sind rund, 
mit je zwei schlankeren, fast vollen Diensten, im Chor herrscht der reine Kund- 
(tfeiler. Die ungleichniässig langen Fenster sind farblos, nur das breite, sechsteilige 
Hauptfenster in der ös-tlichen (Querwand schliesst den etwas nüchtern, in grauen 
und gelben Tönen gehaltenen Huum mit einem vollen Farbenetfekt ab. Die poly- 
gonale Gestaltung des Ostteiles ist auf die einfachste Norm zurückgeführt: das 




.M>li. o. (ii'urKal'ircb« in Nnriilingan. 



«) Siphart II. S. 403. 



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— 20 — 



Mittelschiff ]»ehalt die perade Ostwand, nnr das letzte Joch der Seitenschiffe ist 
durch eine Diaisronale abgeschrägt. Im Langhaus, mit gleich breiten Schiffen und 
starker I^ngeuausdehuung, waltet ein sicherer, freier Geist-, und die ganze Kuum- 
scMpfiing irftre in flirer Art gdongen, wenn nicbt der dtombsehliiM aUxoselir tiner 
feineren Dnpfindong für den Wert der Dinu nslunen entbehrte. Der Kern des 

Raugedankens sterkt in dein Genieiinlelunis, 
der Chor ist als etwas Itlr die künstlerische 
iu4 Meale Asfgiibe quasi Inrelevtntet be- 
handelt. 

I)er Meister, der an dieser .\nlage einen 
wesentlichen Anteil hatte, zeigt sich uns in 
seinem selbständigen Hauptwerk von einer 
gans andern Seite. Nicolaaa Easler (Eseler 
oder Elser) war als Steinmetz (seit 1 JiM»?) 
in Xördlingen thütig: im .lahre 1 Ki t wurde 
er als buumeister nach Dinkelsbühl berufen, 
vn die 1444 begonnene Oeorgskirche nun 
Abscblnss zu bringen, i) Dass er schon den 
Gnimiri-szu diesen! I!au l'i-si ImtTen hat. i>-t 
bei der weitverbreiteten Gewohnheit jener 
Zeit, Bauleute zngleich in verschiedenen 
StAdten an beschiftigen, wenigatena nicbt 
unwahrscheinlich. Er würde nicht, in einer 
Inschrift des 11 vollendeten Chore.-, allein 
Gott seineu Dunk ausge.s|>rücheu haben, wenn 
er nidit als der eigentlicbe SchOpfer des 
Baues hätte auftreten »Ulrfen. Die Kirche 
trägt vnllstrmilig den Charakter einer ein- 
heitlich durchgeführten Anlage, da:»8 die Ur- 
beberacbaft eines Hannes aoaser Zweifel 
steht, und Nieolaas Esalera Käme ist seit 
alter Zeit mit ihr verknftiift. Ks ist eine 
Hallenkirche von zehn .lochen, das .Mittel- 
Schiff von drei Seiten des Sechsecks, der 
Umgang von sechs Seiten des ZwOlfedts 
begrenzt, mit auffälliger Vsii^jnng ^am 
l'feilers in die Mittelaxe, genau so wie es 
der ( hör de;« Freiborger Münsters zeigt. 
Ein gleiches Spielen mit dem malerischen Effekt, der wirkungsvolle, durch die Be- 
leucbtung gesteiLierte (Jegensatz von rfeilermasse und Wandöffnung, ist ein Charakter^ 
istisches Mrrkiiial in dem architektonischen Schatfeii iIcs lierdlimten Präger Meisters 
Peter von Gmünd. Hier ist en-eicht, was in Nürdlingen vergeblich angestrebt wird: 
der Punkt, anf den das Ange des Eintretenden anorst fUlt, die Stelle, auf die der 
ganie Zug der herrschenden Dimension hinfobrt, ist kitnatlerisch wardig behsndelt, 




Abb. 7. GMigakiieh« in DiakaltMUiI. 
(Hack OL Tb. reUl») 



') Sigbart S. 471. 



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Abb. 8. G«org«kircbp in DiDkrUbOhl. 



ohne aus <ler Kinlieitlii-hkeit des Ganzen herau->/utreten, aber auch oliiie sich dein 
herrschenden Willen sklavisch unterzuordnen, t'ber den ganzen Kaum spannt »ich 
in flachem Bogen ein leichtes, mit Strahlenmii>teni und ikonischen Schlusssteinen 
reich ausgestattetes Netzgewidbe, das uhne Kaiiitelle aus den schlanken l'feilern 
herauswachst. Die Hi]i|)cn sind dunkler als die nuittgrauen, steinfarbenen Wände 
und Trüger, das (lewolbe ist weiss. Die Trepponanlage an der Südseite, mit den 
Fensterchen und der zierlichen Balustrade oben, bringt einen heitern, fast profan 
anmutenden Ktfekt in den Ernst des riesigen Baumes. Die grossen, farblosen 
Fenster reichen tief herab; ihr Licht liisst jede Einzelheit in der Gliederung klar 
hervortreten. 




— 22 — 

Dies etwa das letzte Auskliugen des in Gmilnd angeschlagenen Gnindtones. 
Von ganz andern Instmnienten vorgetragen, aber in verwandter Harmonie wird er 
vernehmlich auch in dem Hau, der die arcliitektonische Thiltigkeit des ganzen 15. 
Jahrhunderts in Schwaben beherrscht: dem Ulmer Münster^) 

Die Grtindung füllt in das .lahr 1377, der Chor wurde 1449, das Mittelschiff 
1471 eingeweiht; die Seitenschiffe, 1478 vollendet, erhielten durch einen Umbau in 

den Jahren 1502 — ITiO" ihre jetzige Gestalt. 

Der Grundriss ist im wesentlichen das 
Werk eines Mannes, und trotz des langen 
Baubetriebes und der verschiedenen Meister, 
in deren IlUntleit die Oberleitung nach ein- 
ander ruhte, geschah die Durchführung des 
Ganzen hauptsächlich nach diesem einen 
T*lan. Ulrich von Ensingen stand dem Hau 
von 1H92 bis 14H> vor: an den Chor, mit 
dem, wie nblich, der Hau begonnen und der 
von seinen Vorgilngern in der Gestalt einer 
einschiffigen, vier Schmaljoche enthaltenden, 
in fflnf Seiten des Zehnecks ge^icblosseneu 
Halle vollendet worden war. fügte er sein 
Langhaus an. Die Kreite des Chores nahm 
er als Nomialmass auf, führte aber nicht 
nur das Mittelschiff in ihr fort, mit beträcht- 
lich gesteigerter Höhe, sondern wandte sie 
auch auf die Seitenschiffe an, so dass ein 
Haum entstand, dessen Totalbreite alles 
bisher Dagewesene übertraf. Eine derartige 
Breitenausdehnung bedurfte, mn nicht zu 
gedrungen, zu schwerfällig zu wirken, einer 
entsprechenden ausserordentlichen Steige- 
nmg nach der Tiefe zu: zehn Joche, nicht 
viel länger als die Joche des (.'hore.s. wurden 
errichtet, und den Abschluss erhielt das 
(lanze durch die Tunnvorhalle, die aber 
schon ein eigenes Raumgebilde darstellt. 
Dies scheint mir sozusagen die General- 
idee des Baues gewesen zu sein: im Ge- 
gensatz zu dem schlanken Chor ein weiter, 
einheitlicher Kaum, unverkennbar aus drei gleichwertigen Hallen bestehend, ohne 
aaffillliges Betonen der I^ngsaxe. Die Notwendigkeit, diesen I'lan konstruktiv zq 
verwirklichen, legte freilich der Durchführung Beschräknkungen auf, die das Bild 
des Ganzen wesentlich veränderten. Zuerst konnten die Seitenschiffe wegen des 
Druckes des Mittelgewölbes nicht in der gleichen Höhe wie das Mittelschiff auf- 
geführt werden. Einmal dazu genötigt, wühlte der Meister auch den künstlerisch 




Abb. V. XniiXrr tu Ulm. 



>) Paulus, Atlas, Lieferung 30. Keppler S. 353 ff. Carstanjen S. 16 ff, 31 ff; 81 ff. 



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— 23 — 



vornehmsten und folgerichtigsten Ausweg: er gab ihnen die halbe Höhe, ordnete sie 
also hierin fühlbar dem Mittelbau unter, ohne freilich die nun entstandenen ge- 
waltigen Obemiauem des Mittelschiffs organisch zu verwerten. Das Zweite ist, dass. 
gleichfalls aus technischen Gründen, die Ffeilerabstände möglichst eingeschränkt 
werden niussten, um die Last des Seitenschubs der Gewölbe auf möglichst viele 
Träger zu verteilen. Auch hierbei bewilhrte der Meister seinen Blick für die Har- 
nionie der Verhaltnisse, indem er sein Grundmass einfach halbierte und damit Ge- 
wölbfelder schuf, die gerade noch einmal so lang wie breit waren. Es ist gleichsam 




Abb. 10. Munster za Um. UUck au( dem Cbor. 



im gotischen Geiste eine llackkehr zu dem alten gebundenen System: die Kom- 
position des Raumes ist durchaus mit dem Verhältnis 1 : 2 bestritten. Aber noch 
beherrschte man die Materie nicht so weit, um einer so grossartig durchdachten 
Haunivorstellung auf die Dauer köri)erliche8 Leber zu gewähren: schon wenige 
Dezennien nach der Vollendung tler Seitenschiffe sah man sich genötigt, die Ge- 
wölbe durch Vennehrung der Stützen vor dem Einsturz zu sichern. Burckbard 
Engelsberger, der schon einmal, am Westturra, seine technische Fertigkeit bewährt 
hatte, löste die Aufgabe auf die einfachste Weise, indem er in der Mitte der Seiten- 
schiffe je eine neue Reihe Stützen einzog, schlichte Rundpfeiler mit polygonaler Basis 
untl Laubkapitell. An Stelle des spitzbogigen Tonnengewölbes mit einschneidenden, 
den Mittelgrat nicht erreichenden Stichkappen, wie es analog dem Mittelschiff hier 
bestanden haben wird, trat in den nun quadratischen Jochen ein Netzgewölbe. So 
entstanden die fünf Schiffe, noch immer von gewaltiger Wirkunn und ftlhlbarem 
harmonischem Zusammenhang, aber beklagenswert als .Vnderuug der grossartigsien 
Raumkomposition, die das Idealschema der Gotik auf süddeutschem Boden hervor- 



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— 24 — 



gebracht hat. Hei fast völligem Verzicht auf ornamentale Ausstattung sollte hier, 
allein durch die Heherrschung der Masse und die konsequente Durchbildung einer 
Kaumeinheit — deim auch in der Hohe htllt sich der Meister an ein selbstgeschaffeues 
Nornialmass — ein architektonisches (ianze erzeugt werden. Die wuchtigen, ein- 
fach gegliederten Pfeiler, das wenig hoch ansteigende Gewölbe mit den schweren 
Rippen, die Protilierung der Scheidbrtgen und das starre Aufsteigen der Dienste 

an der kahlen Oherwand: 
alles veiTüt ein Ringen 
mit dem Stoff, einen her- 
ben, nicht nüchternen, 
aber strengen Zug. Von 
der leichten, schwung- 
vollen Rehnndlung , wie 
sie die (iotik <ler Blüte- 
zeit bei den kolossal.sten 
Massen innezuhalten ver- 
mochte , ist hier nicht.«* 
mehr zu spüren. Der Ver- 
tikalismus ist noch vt)r- 
handen. aber die ganze 
Last einer nach fest he- 
stinunten Zielen streben- 
den, konseipieiit schaffen- 
den künstlerischen Kraft 
lehnt sich gleichsam auf 
ilin. und die ruhige Re- 
daclitsamkeit eines gleich- 
iiiässigen bürgerlichen Em- 
pfindens weitet ihn aus. 
Kines aber dringt durch 
alles liindunh. was die 
Schatfensbedingungen und 
ilie Stürme der Zeit ent- 
Abi». 11. Mimitvr cu Ulm. BUck nach d«in Chor. stellend gewirkt haben: 

das HewuBstseiii einer von 

einem (irundniass nach allen drei Dimensionen hin gleiclimiissig beheiTSchtcn 
Raumgestaltung. 

Am Ulnier Münster steht der Chor selbständig dem Langhaus gegenüber, ob- 
wohl die Kirche ja keine Kathedralkircho war. Aber er tritt vollständig hinter dein 
Schiffljau zurück und wirkt nur als eine Verlilngerung des Mittelschiffes, und seine 
Formen sind ebenso schlicht wie die des Hauptraunies. Die gleiche Anlage findet 
sich an der Fraueukirclie tu EssUtujen, dem zweiten Hauptwerk Ulrichs von 
Ensingen, i) Die Haugeschichte, soweit sie hier in Iletracht kommt, zeigt .\hnlichkeit 
mit der des Ulmer Münsters: nur war der Hau, als ihn Ulrich im Jahre 14(M» über- 



') Paulus, Neckarkreis (Text) S. 182 ff. Keppler ü. Üi>. Carstanjen 71. 



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— 27 — 



nahm — der Chor war 1324—1332 erriditet worden — schon bis zmn drittmi 08t> 

joch gediehen, und ihm blieb nur noch die Aufgabe, das Schiff weiterzuführen and 
dem Ganzen durch einen Turm den würdigen Abschluss zu prcbcn. Wie in Ilm. 
nahm er den Unterbau des Tuimes iu dm .Mittelschiff hinein, und /war hier nicht 
als t&am qoadzmtiseha Bann, son- 
dem analog tei flbif Jfitte^ehen als 
eine rerhteckipe TTalle. die auf reicli- 
gegliederten, wuchtigen rfcilem ruht. 
Auf ihr erhebt sich der berflluute 
Tonn mit dem dnrehbroehenen Helm, 
das markanteste lieispiel für ririohs 
Virtuosität in der lii-horrsclninsr dt-r 
Verh&ltnisse. Das Innere der Kirche, 
deren Plan also noch in der zweiten 
Hlilfte de» I I. Jahrhunderts entworfen 
Wirde, ist i'iiH' ilreiscliiffiu''' <lie 
Seitenschiffe von etwa zwei Drittel 
der Breite des Mittelschiffs, so dass 
hier der Pfeüerabstaad die Breite 
übertrifi't. Kin zartfxerjlieilerter, schlan- 
ker Kaum, der s<'iiir iSestiininut]'.: als 
l'redigtkirche deutlich zur.Schau tragt: 
schlanke Pfeiler, brdte Fenster nnd 
die Kanzel am mittelsten nönllichen 
Pfeiler. 1) Die breitiMi Kipiien schies- 
sen ohne Kapitell direkt un die l'feiler 
an; die Decke, im normalen Spitz- 
bogen gewOlbt, ist blan, die Rippen 
sind braun, wflhrcnd sonst die aatOr- 
licbe lichte Steinfarbe erhalten ist 
Die zieiliche Freiheit, die so wunder- 
bar in den verhiltnismftssig kleinen 
Dimensionen waltet, herrscht anch in 
dem reich, al)er in fein.-sinnijysfer .\us- 
wahl verteilten uniamentuieu Beiwerk. 
Die Baaherrin, eine nicht gerade nm- 
fangreiche, aber wohlhabende Stadt, 
verzichtelo wohl gern auf ilen Auf- 
wand gewaltiger Massen, da ihr das, 
was sie sich wOnschte, in so Hebens- 

wOrdiger Form geboten wurde. 3(Bt dtae Toiendong des Banes, vor allem des 

Turmes, ist der Name einer Künstlerfamilie, der Bölilinvrer. eng verbunden: die 
reifste Bliite gotischer Detailkonst, frei von jeder Übertreibung, wird von ihnen 
vertreten. 




Abb. IS. FnB«iklf«b« in BwUi^ni. 



0 Neoerdings ist die Kanxel an den Pfeiler redits am Eingang mm Chor angebracht. 



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— 2d — 



Als basilikale Anlage, freilicii, wie wir gesehen haben, mehr der Ihirchfilhnng 

als der scliopferisrhen Intention nach, stellt 'his riiticr MrniHt<T in (li'>Rpii rTCirPiulen 
fast einzig io seiner Art da. Das Münster eu l'berlmjen zeigt eine ganz cigeu- 
oitige Form des' dort verwandten Prinzips. i) Das basUiliale Schema, die Verklöne- 




Mk. 14. lUm»m m U«VtrilBC«i am 8m. (Kuh Ktbml) 

ximg dei Raumea nach Höhe und Breite in den Seitenschiffen, iat hier konsequent 
nuf einen fünfschiffigen Grondriss angewandt, indem hier die äussen n Schiffe iiiclit 
nur un Höhe, sondern auch an Breite bedeutend hinter den inneren Schiffen 
zurückstehen, die wieder in beiden Beziehungen von dem Mittelschiff übertroffen 
werden. Dan der Banmeister sieh dieses Terhlltnis voOstlndig bewasst konstraiert 
hat, beweisen die Masse: nimmt man nänüich die Breite des äusseren Seitenschiffe» 
als Grundzahl , so ist diese in der Breite des inneren Seitenschiffs ungefähr zwei- 

>) Knas L & smfll 



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— •_>!) — 




Abb. Ii. Kranriikirchr in N'UrnWrK. 

mal, in der des MittelsrIiiiTs ebonso aiiniiheriid «Ireiiiial enthalten, während der 
rfeilerabstand wieder das Doppelte von ihr betraft. Nicht zufrieden mit dieser 
Breitcnentfaltunfi hat man zwischen den einbezogenen Strebepfeileni auch noch Kapellen 
angeordnet, ziendich in der Itreite und Höhe der äusse ren Seitenschiffe. Das (iaiize 
-Stellt sich so dar als ein pyramidaler .\urbau, äusserlich dreiteilig, rein im (ie- 
wande eines Hasilikalbaus, da die beitlen Seitenschiff paare von je einem Dach be- 
ileckt sind, rroilich ist es mehr das Krzeugnis einer theoretisierenden, nüchternen 
Konstruktionskunst als inipuLsiv lebendigen Schaffens, interessant aber als Aus- 
wuchs der ver8tandesinii.sHi<ren Krweiterung eines Schemas, an die man bis dahin 
kaum geilacht hatte und deren Grenzen in dieser W'ei.se kaum abzusehen waren. 
Es ist jedenfalls charakteristisch für die Stellung, die man im Anfang des ir>. .lahr- 
hunderts der (iotik gegenftber einTialim. dass iler ältere Hau nicht nur in der 



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— ao — 



LftngenauHdi'hnuug, sondorii auch in der Breite erweitert wurde. Die Wirkung war 
freilidi mehr noch ein Hervortreten des Mittelschiffes, also eine lictouuug der 
laiigüuxe, und You einem einheitlichen Kaumgehilde kunute um so weniger mehr 

die Rede «ein, als die SeitenkapeUen 
nodi aUs selhstiindiue Trabanten des be- 
herrsclicmicn Mittelteiles liinzu kamen. 
Als Beis|)iel einer gruppierenden 
Raumkoaipoiitioik nimmt das MOoster 
ron ÜberliDgen in der Gescbiclite der 
Gotik jedMlKDs eine besondere Siel* 
lung ein. 

Die GeburtseUtte des andern Typus 
einer Raomkomposition, vdche dielathe- 

tische Wirlcnng des malerischen Oe- 
ge ii .s a t z e s für ihro Zwecke verwendet . 
ist 2iürnbery. An der Marienkirche am 
Harirt (135:^-61 von Karl lY. erbaut), 
besteht der quadratische Haui)tbau au.s 
neun fa.st quadratischen Gewöllijocheii. 
der drei Joche zählende Chor ist in drei 
Seiten des Achteclcs geacMossen. Die 
Wiederlcebr der Grundzahl drei giebt 
selimi rein iiiiitheiiiatisch einen Begriff 
von lier Harmonie der VerhältnisKc. die 
den in den Dimensionen besclieidenen 
Bau beherrscht, und den schmalen Chor- 
raiini al.s künstlerisch notwendigen Aus- 
klang des TIan|)traume8 erscheinen liissr. Kintixiie Kreuziicwnilie. von schlanken 
Ilundpfeileru getragen, lassen die quadratisclie 1^ lacheneiuheit auch in der Deckung 
deutfich neunmal wiederkehren. Auf die Ausschmflckung des Äusseren, der Fronten 
ist besonderer Wert gelegt: das Innere wirkt allein als Hnum durch die schOne 
Gegensiltzlichkeit zwi.srhen ilem weiten West- und dem sdnmilen Ostteil. .. Tiiserer 
liehen Frauen Saal'' nannten die NOrnberger ihr neues Gottesbaus, und charak- 
terisierten mit diesem Aosdndc tnuderhobsch die mriefociie Bedenln^ der Kirdm: 
der Raam gehört nicht nur der Mutter Gottes zu eigen, sondern er ist zugleich 
der Saal, also der Versanimlungs- oder Festrauin, wo sich alle, die ihr TerehmngS* 
voll und hilfeflehend nahen, zur Andacht vereinigen k«)unen. 

Anm. Auf Seite 87 wurde an die Marienkapellen an den fransfisiiehen EathedraU 
Idrchen der früheren Periode erinnert. Beispiele dieser Art finden sich in Frankreich an 
St. Römy in Rheims (1164 — f<l), den Kathedralen von Aniicns il22')— 8H\ Le Mans (Chor 
seit 1217) und bt. Ouen zu Reuen (131ti). ^'och deuthcher wurde der Gegensatz der 
seUaakeren Ifartenkapelle so dem breiteren Chor fai England ausgebildet: die La^-Chapel 

erhielt hier dann auch, ebenso wie der dior, inri>t einen rechtwinkligen Abschluss: so in 
balesbui; (12S0— Ö8), £ly imd—m); in Wells und Lichfield (beide im 14. Jahrhundert; 
siegte die fransOsisdie Form der Polygonaalage. Der .deeoiatife style* beulebtigte sieh 
ihrer besonders und feierte sebiea höchsten Triumph in der Kqidle Heinrichs TII. sa 
Westmiaster. 




Abb. iti. FraoanUrcbe in Mmtarg- 



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Abb. IT. Chor von ii. Lnrcni in NUrnbirrg. ( Baldinger.) 



I.enien wir hier zum ersteninal jene churuktei-iBtiscIic Art der Raumontfaltuni; 
kennen, die weiterhin in ganz Suddeutsi-hland Verbreitung fand, so tritt uns in dem 
14;{y — 77 narh den l'länen Conrad Koritzers erbauten Chor der Lorenzkirche^) 
das erste licispiel einer organisch durchgeführten Knipoi-enanlage auf süddeutschem 

*) Sighart II. S. 4<*7. 




Abb. 18. St. Lorenz in NurnbiTtf. 



Iloilon entiioRoii. Das im Anfang des 14. Jahrhunderts fast iKK-h in frOhgotischen 
Können entstandene Langhaus hatte noch liasilikaforiu: der neue Chor idmmt die 
FJreite des Mittelschiffs auf, erweitert die der Seitenschiffe und führt alle drei zu 
gleicher stolzer IlOhe empor. Drei Seiten bihlen <len Schiuss «les Mittelschiffes; der 
rniiranR der Seitenschiffe weist, in kon8e«|uenter Weiterbilduns. sieben Seiten de.s 
Zwrdfccks auf. Die Strebe]»feiler sind vollstündiff ins Innere gezogen, und in halber 
Höhe legt sich eine Galerie zwischen ihnen an die Wand, die sich um die vor- 
tretenden I'feiler stets zierlich in einem polygonalen lialknn herumwindet. So ent- 
stehen unter der Empore schmale, rechteckige Kapellen: im nördlichen Seitenschiff 
verbindet eine freie, achteckige W'endeltrepiie die untere Halle mit der Oalerie. 
Eine zierliche Masswerkbrüstung hebt den Eindruck des Lastenden in iler ?]mpore 
auf, und vermittelt den hier notwendigen horizontalen Abschluss mit dem vertikalen 
Zug der überschneidenden Pfeiler. .\u8 ihnen, die unregelmässig sechs- und sieben- 
eckig gebildet sind, entwickeln sich frei die Iteihungen des üi>|»igen Xetzgewölbes. 
So ist der Kaum durch die Stellung der Pfeiler klar gegliedert, und wieder eng in 
Eins geschlossen durch das leichte Hand, das seine Wiintle umzieht: die HrUstung 
der Empore, die zwischen Höhe und Tiefe hinschwebt und so zierlich alle störenden 
(Jegensiitze zu überwinden weiss. Die Kai)ellen, die man in jener Zeit noch schwer 
ganz entbehren mochte, sind hier in glücklichsten Einklang gebracht mit der freien 
liaumentfaltung, die uiit grossen Massen und einfachen Flüchen operiert. Sic bilden 




— 33 — 



die Dasis für das Aufstreben nach oben, und das tritt deutlich zu Tage durch 
die VerweiidunR, die ihr oberer Abechluss erfährt. Deun man emiifindet sie 
köri>erlich als liasis, indem man seinen Fuss auf iliren RQcken 8et2t, und sie eo 
im Vonvürtssclireiten zum Äquivalent des Erdbodens macht. Welch eine Ent- 
wicklung bat die Kom))08ition des Chorabscblusses durchlaufen mQsscn, ehe 
aus demKapcIlenkranz 
französischer Erfind- 
ung, wie ihn z. B. die 
Kathedrale vou Le 
Mans aufweist, diese 
ruhige schlanke Keihe 
wurde, <lie nach aussen 
Uberhau]>t uicht sicht- 
bar ist und sich im 
Innern so streng dem 
Gang der Wände an- 
schliesst. Denn das 
Äussere des l.orenz- 
chores steht vollstän- 
dig schmucklos da, der 
ganze tektunische A))- 
parat, soweit er über- 
haupt bei dieserSchöpf- 
ung noch eine Rolle 
spielt, ist im Innern 
ästhetisch und prak- 
tisch mit den raum- 
gestaltenden Teilen 
verschmolzen. 

Die liauthatigkeit 
in Ntlmberg bewegt 
sich in selbstündigon 
Kalmen: sie wird in 
mehr als einer Hin- 
sicht vorbildlich für 
das übrige Franken 
und über die (Jn-nzen 
dieser ihrer engeren Ai.b. in. lUrtinnkirth« in i.aii.i-.hui. 

Heimat hinaus. Fm so 

eigentümlicher ist es. dass die Itauknnst im eigentlichen Bayern von den hier 
gegebenen Anregungen fast unberührt blieb. 

Die Hauptperiode der (lotik setzt in Rayem auffallend spät ein; erst im 
15. Jahrhundert bat sich der Stil, den man damals schon all;;emein als den deutschen 
bezeichnen konnte, auch in diesem echtdeutschen Lande alle künstlerische Thätig- 
keit unterworfen. Er stiess hier auf ein Problem, das in den nördlichen (iegenden 
zum Teil schon eine befriedigende Lösung gefunden hatte: den Mangel eines natür- 

Hi>«n«l, Spillgotik. 3 




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— 34 — 



liehen Bausteines, iiinl die daraus sich ergebeixle Notwemiiirkeit des Backsteinbaus. 
Die Wirkiins tlieser Ihatsaclie konnte eine doppelte sein: das Auftürmen ge- 
»chlussener, ungegliederter Massen bei Verzicht auf ornamentale Aufigeslaltuug, 
od«r die höchste teehnisdie VoUendang im Dienste enfbUender WOlbwigs- und 
Stutzungsprobleme, und Ausbildung einer schematischen, mit notwendiger Einseitig- 
keit des Motivs verbundenen Dekorationsweise. Mochte nun die individuelle Anlage 
der Meister sich mehr der einen oder der anderen Bebandlungsform zuwenden, fttr 
beide masste die Hallenkirche der gOnstlgste Boden aller «ettaran BestrehwigeD 
werden. Der Wunsch aadi Uassenwirkangen ging aber gldcherwelse trie die 
büchsfe konstruktive T.eistunir von c\ucr liestininiten IvaumvorsfelluiiL' ans, liit» 
wieder ebenso durch die praktischen liedürluisso wie durch die künstlerische In- 
dividualität modifiziert wurde. 

An der Spitze dieser Feifode steht die MartkuJbinhe m LmtdOM;!) sie 
kann als das vollendetste Beispiel Jener dnen Baoart gelten, bd der die Tlöhe der 

Technik das treibende Moment de« 
Entwicklungsprozesses war. Der 
Baubeginn am Chor reicht wahr» 
Bcheinlich bis ins 14. Jahrhundert 
zurfick (eine lascJirift am Chor 
giebt die Jahreszahl 1392); durch 
das gaase 15. Jahriiondert sieht 
sich der Weiterbau liin, denn erst 
1477 und 1478 hören wir von der 
Einwölbung des Schififes, und der 
Turm ist sogar 1495 noch nicht 
tßm fertiggestellt Der Plan ist 
das Werk eines Mannes: des be- 
rühmten ITansSteinnietz von Lands- 
hut (eigentlich Stettenheimer aus 
Borghaasen); ihm folgte nach 
Aki».m. KHtiHkindw Im iiHiUmt. Seinem Tode 1432 sein gleich- 

namiger Sohn. Kr ist <las Haupt 
der Landshuter Schule, die zu ihrer Zeit io Bayern einen ähnlichen Ituf genoss wie 
die Ton Omttnd hi Sehwahai, mid ans der uns eine Menge Meister^ mA StefamMtsnamen 
erhalten sind. In dem Namen ihrer Gründer ist der Ursprung der architektonischen 
Th&tigkeit, wie sie sich damals noeb allueniein entwickelte, deutlich mit enthalten. 

Der Gruudriss der Landshuter Kirche lehnt sich an das uuterfrfinkische 
Schema an: dne dreiacUffige Halle. OstUdi dorch einen einschiffigen in drei Seiten 
des Achtecks geschlossenen Chor, westlich dnrch eine Toihalle enraitmrt, Ober der 
sich der Tnrni emporhebt. Die Seitenschiffe sind ball» so breit wie das Mittelschiff 
und jedes ihrer Gewölbjoche ist quadratiscb: im Lran/en zahlt <las Schiff neun, der 
Chor vier Joche: eine ausserordentlich langgestreckte l lachc, mit der Turmvorballe 
nngefhhr 100 m, der trotzdem noch eine Breite von etwa 33 m gegenftberstehL 
Zwischen die gewaltig ansladenden Strebepfeiler sind niedrige Kapellen gebaut, 




*) äighart II. b. 432. 



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* 



— 3Ö — 

gefiHir halb so breit wie die Seitenschiffe: es entsteht also zwischen den drei Längs- 
teilen des Raumes das Ureitenverhältnis 2:1: Vs- I^'e farblosen Fenster sitzen 
hoch Uber den Kapellt'n, wahrend sie im Chor bunt sind und tief herabreicben. Das 
siebente Joch (von \N'. aus gerechnet), hat keine Seitenkai)ellen, und wirkt gleichsam 
als Querschiff infolge der einheitlichen Raumerscheinung, die an eine Enveiteruiig 
nach den Seiten zu denken lässt. Das rechte 
Seitenschiff schliesst nach dem neunten Joche 
gerade ab, das linke zeigt an derselben Stelle noch 
eine Kapelle, die aus zwei Schmaljoeben und einem 
in drei Seiten des Achtecks geschlossenen Polygon 
gebildet wird. Massgebend für ilie rilumliche 
Wirkung des Inneren ist die Höhe, zu der sich 
der Raum erhebt: sie ist genau so gross wie die 
Breite, and wäre schon eindrucksvoll genug, wenn 
wir dies Verhilltnis ungehindert vor Augen haben 
könnten. In den schmalen Seitenschiffen aber 
besonders ist die Höhe geradezu schwindelerregend, 
und wird noch gesteigert durch die Schlankheit 
der Pfeiler, die auf einen Durchmesser von 1 m 
eine IKihe von über HO m aufweisen. In ununter- 
brochenem Zuge, von keiner reicheren Einzelheit 
abgelenkt, gleitet der Rlick an ihren gerailen 
Flilchen empor, und erst dicht unterm Gewölbe 
bildet ein niedriges Kapitell den Abschluss. aus 
dem das einfache Rippennetz herauswiichst. Die 
schmalen Wandttilchen, die langgestreckten P'en- 
ster, alles zieht nach oben; und wie die Stengel 
der Hlumen oder Halme im Feld, die ihre eigne 
Last nicht mehr aufrecht erhalten können, und 
sich in ihrer höchsten Spitze wieder der Knie 
zuneigen, so biegen sich all die schlanken Glieder, 
die so kühn den Erdboden verliessen un<l in die 
Lüfte hinansstrebten, endlich doch abwiirts. und 
finden erst im Zusammenscbluss wieder Festigkeit 
und Ruhe. Die innere Hewegung, die all die.se 
Massen durchzittert, gleicht sich schliessUch in 
sich selbst aus, die Reharrung macht ihr Recht Abb. 21. Martiuikirch« in Landiimi. 
geltend und die innere Kiidieit stellt sich von 

selbst wieder ein. Aber doch bleibt noch ein Rest «les Unbefriedigtseius: 
die letzte zarte Reseelung der Massen, die in einer leisen Schwellung, einem 
Einziehen des Profils hier und da. in einer Retunung der gegensiltzlichen 
Horizontalen vielleicht ihren .\usdrurk findet, hat un> der Meister nicht geben 
kömien. Der Raum wirkt übenviiltigend , aber mehr für die Reflexion aN für 
die Intuition, nicht weil unser körperliches Leben in der starken Reseelung 
der unorganischen Materie eine unmittelbare Ergänzung erführt, simtlern weil 
sich uns die Macht des Menschen Uber die tote Masse in so wunderbaren Ge- 




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— 36 ~ 

baden darstellt. Nicht die höchste KwMt, Bondern die hOdiste Kmutfertigkdt 

het sich verkörpert. 

Mehr auf schwäbische EiudUsse weist die Liebfrauenkirche in Ingolstadt 
Un, 1425 gegrflndet, 1439 in Chor, eher ent 1625 voDetlndig beendet i) Die 
SeiteDSdiife sfaid wieder mtgeSXhf halb w» breit wie das MittelachifF; debei heb 

sclbstaiKÜKer Chor, sondern nur das 
Mittelschiff anregelmässig dreiseitig 
gegehloBsen (die mittlere Seite die 
grtSMve), die Seitenschiffe als Um- 
gang ausgebildet, der von fünf Seiten 
des Zehnecks geschlossen wird. Im 
Westen sind iwei TOrme über Eck 
Angeordnet, so, daee von den letiten 
Seitenjochen in der Diagonale die 
Htilfte abgeschnitten wird. Dieser 
Abschluss ist derselbe, wie iin Chur 
TOD St. Georg in NOrdlingen; der 
Raum erhalt dadurch gcwisserma.sseu 
zwei Chöre, von detieii der östliche 
dui'ch die reichere Gliederung und die 
inteniive Belenditnng den Yomng 
behalt. In dem Abaehloii dei Banmee 
nach (ibeu zeigt sich eine Komproniiss- 
anlage. Das Mittelschiff steigt nicht 
unbeträchtlich Uber die Seitenschiffe 
empor, die Oberwftnde haben aber der 
gemeinsamen Bedachung w< ;i. keine 
eignen Fenster, so dass das Dunkel 
unter dem Gewölbe wie eine Last auf 
den hellen nnteren Fartieen ruht. Die 
Seitenschiffmanem sind wie in Lands- 
hut in ilirer unteren Ilillfte ihireh- 
brochcn und mit Kapellen ausgestattet, 
die sich zwischen die äasseren Strebe- 
pfeiler dnfogm (rie sind zum Tea 
apAter eingebaut). Die HaUe zählt acht 
vollständige .loche, die ganze Lange 
beträgt last genau das Dreifache der Höbe, die wieder nur wenig hinter der 
Breite anrOckbleibt Der straffe, wenn auch etwas harte Zng, der die Kirche 
von Landshnt anszeiclinet , ist hier einer weicheren, mehr ins Breite gehenden, 
fast unsicheren I5ehaiidhinir gewichen. IHe trlatten lüunlpfeiler mit den unver- 
mittelt vorgelegten beiden runden Diensten haben keine, die Dienste selbst nur 
ganz Ueine Kapitelle, die Schddbögmi sind breit und eno-gielos profiliert, nnd 
die Winde steigen wdss nnd ^t in die Höhe. In dem NetsgewOlbe ist die 

>) T. Bezold und Riehl I. S. 24. Sigbart II. S. 419. 




Abb. It. FiUMiUMba im lagvlitait. 
(Hack T. BwoM aad niahl) 



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Abb. iS. Frauenkircli« iu logoUtadt. (Kach t. Bezold und iiioblj 



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— m — 



Längsrichtung durch eine Art Rhombenmuster betont; die Wölbung des Mittelschiffs 
nähert Hieb schon stark dem Tonnengewölbe. Der zwiefache polygonale Abschluss 
bat schon etwas Freies, modern Anmutendes in sich, und giebt dem Innern fast 
den Charakter eines elliptischen Saales. Wer vom Altar seine Schritte wieder der 
HauptthUr zuwendet, sieht sich vor einer Komposition, die ihn cinigermassen an die 
Partie erinnern muss, die er eben verlassen hat; denn das auffallend kleine Portal 
nmsste unter dem breiten Fenster gänzlich verschwinden (jetzt ist das ganze west- 
liche Joch von einer barocken Orgelempore eingenommen, über der nur noch ein 




Abb. 34. KrjkUi'nkirche in Ingolitadt: Quertchuitt. (Nach r. Tfgzold und Riehl.) 



kleines buntes Fenster sichtbar wird). Man empfindet wohl, was der Schöpfer 
dieses Baus anstrebte: einen einheitlichen Raum zu .schaflfen, dem er durch Schräg- 
stellnng der Tftrme auch nach Westen einen zweckentsprechenden Abschlu-ss zu 
geben hoffte. Was ihm fehlte, war die sichere Konsequenz der Durchführung: 
wohl türmen sich die Pfeiler empor, und wölbt sich die Decke, aber weder der 
Abschluss nach oben noch der in der Lftngsaxe, also das, was dem Bau Charakter 
und Form geben sollte, ist klar komponiert. In beiden ist der unfruchtbare Streit 
zweier Flächen verkörpert, eine innere Einheit ist nicht erreicht. Die Umbildung 
des traditionellen Schemas ging in denselben Hahnen vorwürts, wie wir sie schon 
des weiteren im südlichen Deutschland verfolgt haben, aber sie erreichte ihr Ziel 
nicht, sondern blieb in unreifem Formalismus stecken. Nicht durch die Totalität 
ihrer künstlerischen Erscheinung ist die Liebfrauenkirche in Ingolstadt berühmt ge- 



— 40 — 



worden, sondern durch einige virtuose Spielereien, mit denen ein begabter Stein- 
metz des 16. .lalirhunderts eine Anzahl der Seitenkapellen auegestattet hat. 

Einen letzten Aufschwung nahm die liaukunst Uayerns in der Hauptstadt 
selbst. In München wurde in dem kurzen Zeitraum von 20 Jahren, 1468 — 88, 
durch den gemeinsamen Opfermut von Bürgerschaft und Staatsgewalt die Frauen- 
kirche en-ichtet. ») Es ist eine langgestreckte, dreiscliiftige Halle — das Mittelschiff 




Abb. 25. FraueaUrcb« in MOnchen. (Nach t. Ilciold und BiehL) 

ist kaum wahi'uehmbar höher als die Seitenschiffe — von elf Jochen: das östliche 
Joch des Mittelschiffs hat durch ein geringes Zusammenrücken der Schlusspfeiler 
eine leicht trai)ezförmige Gestalt erhalten, die Seitenschiffe bilden einen fünfseitigen 
Umgang. Durch das Einziehen der Strebepfeiler in ihrer vollen Ausdehnuüg wird 
die ganze Halle von einem Kranz schmaler, rechteckiger Kai)ellen umschlossen, 
zwanzig an der Zahl. Im Westen legt sich der Turmunterbau in Gestalt einer 
mächtigen dreischiffigen Halle vor, getragen von enormen, fast ungegliederteu 

•) T. Bezold und Riehl XIII. S. »70. Sighart II. S. 422. 



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Atlb. 2d. Frauenkirche in Mnnrhrn. (Nach \. DooM und Kiphl.) 



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43 — 



Pfeilen. AnlGülmd ist die HOIw der Feneter, dfe schon didrt Aber dem Boden 

einsetzen und erst kurz unter dem Gewidbe endigen. Da ilirf 7:»hl infolm' der 
kurzen Joche an eich ausserordentlich |t;ross ist, so waltet eine wunderbare Hellig- 
keit im Innern der Kirche. Und diese Lichtfülle lässt das ganze Gel'ttge des riesigen 
Bau in jeder Einzelheit klar hanrortreteut de iet «b Hanptfaktor in der arehitek- 

tonischen Wirkung des Raumes. Gesteigert wird diese Wirkung noch dadurch, 
dass die Glieder selbst fast völlig auf ihre struktivc Funktion beschränkt bleiben, 
und in ihrem strengen Zusammenhalt einer reicheren ornamentalen Atisgestaltung 




AM. 27. PramniiMli« la Vsmebmi: QncnehnKt. (KB«h r. BmoI4 <nd nteU.) 



keinen Kaum trewilbren. Es kommt so etwas WnthtigeH, ein uebaltener Ernst in 
das Gun/c, der schurl absticht von der aufstrebenden Leichtigkeit, die in Landahut 
herrschte. Die Pfeiler sind stark and durch die geraden« von keiner Einziehnng 
belebten Seiten etwas stumpf in der perspektivischen Ansicht; das Gewölbe ent- 
wickelt sich nicht frei ans ihnen, sondern die Kippen setzen auf kleinen, aber 
deutlich ckarakterisierteu Konsolen energisch an und schwingen sich in elegantem 
Spltebogen einander zn, als wollten sie irfeder gnt machen, waa die Pfeiler in 
ihrem sAwerfimigen IVotz gesOndigt haben. Der Geist einer gefestigten Selbst- 
sicberbeit liat auch die IMldnng des Cliorabsf lilussfs lieeinflusst: das Mittelschiff Iflsst 
sich von seinem energischen Vorwärtsgehen nicht abbringen, es bricht schroff ab, wie 
es begonnen; nur das leise Zusammenrücken der letzten Pfeiler macht dem weicheren 
Zuf, der sich in dem Znsammenschlnss der Seitenschiffe anssprieht, ^ge Kon- 
sessionen, oad kommt der persiiektivisi heu 'Vnrknng entgegen. Die L^n^'.saxe ist 
von bestimmendem Einfloss auf die tieätait des Bans, nnd die enge Stellung and 



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— 44 — 



gedrungene Form der Pfeiler lässt die Zusammensetzung ans drei Schiffen rteuflirli 
hervortreten. So ist wohl nach hestinuiitem G^tz ein architektonischer Kaum 
geschaffen, aber die Wirkung der Masse beluuiptet sich siegreich daneben. Wir 
sah«! schon sn der Kreuskirdie ni GmOnd die Bedevtang der Hasse im Gegensetz 
zum Stilprin/ip der reinen Gotik kräftig ausgeprägt; sie bewalirt hinr, im Kerne 
unberührt von der bildenden Hand des Meisters, ihr selbständiges Leben, und das 
klare Licht wird ihr Bundesgenosse zur starken Uervorbebuug ihres Wesens. 

So ist die Franenlcirebe das vollendetste Master jsner sweiten Weise, zu der 
die Renntzung des Backsteins als Baumaterial fObren kann. Als Beispiel licr tnsteii 
Art konnte die Martinskirrhc zu T.anrlshut aufgestell* H»'v*!i'n der Fr.iueukirclie in 
Ltgolstadt kann man eine Mittelstellung zwischen beiden icuvseisen, allerdings, wie 
wii* gesehen babra, andi wieder mit selbstindigni Mmnmtan. Es ist also ein- 
heitliches Bild, das die drei hervorragendsten Bauteil Bayerns von dem archi- 
tcktfinischen Schaffen des Landes ^eheii: alier ein innerer Zusammenhang fichi int 
mir doch vorhanden xu sein. Lia Kaniiit mit di r I'iaditidn geht durch diese Werke, 
dort mit grösserem, hier imt geriugercui ErUdg: und uu Idingen mit dem Stoff ent- 
widielt sidi die neue kOnstleiische Idee. Wir sehen wie die Meister sich mOhen, 
dem Baum ein charakteristisches Gcpr^lge zu verleihen, und in diesem Zusammen- 
hang stidit die Franenkiirhe in München mit üirer srewfiltigen Maferialhiltifuns» 
auf derselben Stule wie die Kirche zu Landshut mit ihrer scheinbar spielenden Be- 
wältigung der Masse. Die Formen im Einzebien, Pfeilerbildung, FroSUenmg u. s. w. 
treten aUrnfthlich als etwas Sekundäres zui'ück, und die sine Gmndidee, das Streben 
nach einheitlicher und abgeschlossener Gestaltung des Raumes, klingt immer reiner 
bindarch. 




Norddeutschland. 

Anrh nach dem knrzcü fiitüL,', der uns (liirrli die Haukanst Sftridpntsrblandfi 
im 14. and 15. Jahrhundert getülu't hat. wird Eines klar geworden sein: eine sulchp 
Fülle originaler and frischer Züge findet sich allerorten an den Denkjuaiem, das« 
von einem Niedei^Mg des Still nicht die Bede sein kann. Btoe beiUUigt sieh aneh 
in Xorddeutschland. Wenn wir hier einzelne Beispiele derselben Periode noch zar 
Iletracbtung heraiuielien, so wird sich bald erweisen, ila^s wir damit auf ein Ge- 
biet gekomiueii sind, wu die Eiuwirknug des Materials auf die liaafunncn eine ganz 
hervomgwide Rolle spielt Der grOsste Teil der norddeotsehen ArehiCeittiir ist 
bekanntlich Ziegelbau. 

Die Veränilcninueu des Grundrisses in der herrschenden Hanart. die sich hei 
der Verwendung des Ziegels einstellen, sind geringfügiger als die des Aufbaas. 
Hier trag das KonstmktiTe Ober das Omamentale den Seg davon; die Gotik, sonst 
ein Pfeilersystem mit FUlniigen, wnrde Uer «mi Sbssensystem ndt Öftmngen- 
Was dem Wesen der romanischen Kunst entgegengekommen war, brachte in der 
Gotik eine fundamentale rmwälzuni^ des Stilprinzips zu Stande. Daneben rüitwickelte 
lieh durch das neue Material, bexonders iu den Bauwerken von Brandenburg, eine 
ornamentale Ansdmdisweise, die nur noch lose mit dem ddcorativen Detail der 
Hansteinarchitektur zusammenhing und durch die Verwendung von farbigen Flächen» 
musfeni dem gewohnten Srluma '^nm ei'ienartiife Seiten abgewann. Die nationale 
Anschauung aber driingte, wie in Hachen Gegenden stets, aof die Eutwiddung 
kolossaler Dimensionen, riesiger HassMi kin. IMes modi&cierte auch die Gliederang 
im Ekadnen: der gerade Chorabscblass und der einfache, vorgelegte oder ein- 
gebaute "Wcstfnrm sind Troflnktc dieses Strebens. In ilem Cliarakter dieser Archi- 
tektur liegt, ein Zug, der »ich dem Weltlichen, Nuchteru-l'rakiisclien, aber Strengen 
ond Gewaltigen nähert. So hat sich die Profanarchitektur in den Landen zwischen 
Elbe, Oder und 'Weichsel die gotische Technik, die hier so innig mit dem Material 
verschmolzen war, mit Leichtigkeit angeeignet, und für Kommunal- und fortilika- 
torische Bauten. h'athfSnper und ThnrtUrme Fonnen gefunden, die an selbstver- 
ständlicher, ausdrucksvoller Grosse und schlichtem Beiz in jeuer ganzen Periode 
mmrtickt dastdien. Am grossarUgsten ist diese nationale Bauwdse fllr profiane 
Zwecke verwendet worden in der Residenz des dentschen Ordens, der Marienborg 
in Westprenssen. Sie ist die h<»<"hste LHstnnp i?t>tisrher l'rofanknnst itn 14. Jahr- 
hundert und in ihrer Beschränkung des oruamentah ii Aufwandes fraglos ein Meister- 
weric Die Gotik des Ziegelbans als Kunst der gegliederten llCassen hat sieh hier 
im Anfban anfs gUbuendstc bestfttigt, wahrend sie in den Pmnksälen des Innern, 
vor allem in dem nnvertrlriiMit h zierlichen griii^sfn Orilonsreniter ihre .\ufgabe 
als Raumgestaiteriu mit einer Virtuosität löst, welche die Schwierigkeiten der Tecimik 



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geradezu aufznsaclieu scheint und gegen die das Künnen eiaes Meisters wie Arnold 
TOD Westfalen kaum noch einen Fortechritt bedeutet. 

Was uns hier ab letstaa Ziel ardiltektoitiBcliw Thfttigkeit in reibtor Geetalt 
entgegeDtritt, die Itannoidache Durchfiilinni^' des Innenraumes mit Benützung male« 

rischer Lichteftekte, berührt sich mit dem bau- 
kttostleriscben ^:)chaffeu eines i^aiides, dem fast 
alleiii in dam ganien groaeen Gebiet dei Nord» 
und Oitaeebeckeiw ein gewacbaeiier Stein aar Var- 
fOgang etcht. 

Westfalen ist in dem Umkreis der Maasen* 
bauten iba Land der liocbeotwiekeltan Tachnifc, 
der kOhnaD Wölfanngea, der koDstraktiven Wag> 
nissc. Das ^pbjindene, romanische System, 
das auf ein Gewölbe des Mittplschiffs 
zwei in den Seitenscliiüeu iurdert, ist 
hier tnarat dvrehbrochan worden: in dem 
in HQnstw Riad die Zwiachanpfeiler 




1:400 



3III^^3IEhIb1Ehb1Ih 



9 I 



irldMha im Dovtmiiii^ (NMih I«mia<&,) 



beaeitigt, neben dem quadratiacben GrenzgewOlbe daa IGtteladuffa liegt ein gerade 

ao langes, aber nur halb su breites Seitenjoch. Hier auch, in Westfalen, sind, in 
demsellK'ii Stieljini nach rfiutnlicher Froihfil, znersf die SL-itcnscliifiV' zu der gleichen 
Hübe wie dasj Mittelscbilf emporgclUhrt worden, nuch ehe man von der Leistungs- 
iftliigkeit dar Spitxbogentecbnik eine Vorstellung hatte. 



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— 47 — 



Die Basilika des alten 
Stils wird zum einheit- 
lichen Uaunigebilde , zur 
Halle. Sie herrscht in der 
Periode, der wir uns zu- 
wenden, Kunz allgemein. 
Für die Hildung des Chores 
vermag sich nicht ein 
Schema Geltung zu ver- 
schaffen: neben dem mit 
dem Langhaus zusanmien- 
gezogenen Chor, mit Um- 
gang der Seitenschiffe, fin- 
det sich der einschiffige, 
schmale, der nur das 
Mittelschiff fortsetzt; 
schliesslich kommt auch 
die gruppierende Kom- 
position vor. die den 
Seitenschiffon je einen 
eigenen polygonalen Ab- 
schluss giebt und <liese 
dem llauptpolygon unter- 
ordnet. 

Auf Dortmund als auf 
das Hauptcentium des 
Stilumschwungs wurde 
schon hingewiesen; hier 
herrschte in der zweiten 
Hälfte des 14. Jahrhun- 
derts eine ungemein rege Hauthiltigkeit. Die jetzige katholische Kirche (ehemals 
Dominikanerkirche)!) l'M'A vollendet, mit auffälliger Verkammerung des nördlichen 
Seitenschiffs, Ifisst den Chor merklich dominieren; er ist einschiffig, aber fast von 
der Likngc des Hauptschiffes, und erscheint nach dem nur sehr mangelhaft er- 
leuchteten Langhaus, ubwobl selbst nur massig hell, doch feierlich und erhaben. 
In der J'etrikirche,^) IHlf» — 1353 erbaut, ist die Wirkung die entgegengesetzte: 
der Chor ist dunkler als das breite, einfach gewölbte Schiff. Das niumlicbe Ver- 
hältnis ist dasselbe, das wir schon in Franken kennen gelernt haben: die Halle 
fast (luadratisch, mit drei dreischiffigen Jochen, der Chor schlanker und einfach. 
Dazu kommt hier noch im Westen die schwere, dunkle Vorhalle, über «lie sich 
der wuchtige Turm erhebt. 

Den vollen Triumph iler entwickelten «piltgotischen Raumkunst Ober den Älassen- 
bao der romanischen Zeit bedeutet der Chor der Hcinoldikirche,^) 14JI — 1450 

>) Lubkc, Tafel XXXI. Ludorff, Tafel XXXI S. 41, Kreis Dortmundt-Stadt 

*) Ludorff, Tafel XXXII 8. 25. 

•) Lübke, Tafel XI. Ludorff, Tafel I S. 2. 




'Si. Dumluikanerkirche in llortmund. 



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— 48 — 



erbaut. Kr ist nur ein^^^i hittiif und ganz schematiscli in ir^'i Seiten des Acht- 
ttcks geschlossen, aber so stolz in seiuein echlanken Kmporwaclisen, so edel in 
stinen Boi^OfiiMii, data tSm tditeeM Steigerung des alten, in den Übergangs- 
fonn«n vn 1248 criMUten I^ghanaes nidit gadaisht werden kann. IHe Fenstw 

des Polygons sind nicht 
ein-, sondern zweimal durch 
Haaiweritstreifen quer ge- 
teilt — ein« beneikene- 
werte Wiederholung der 
Horizontalen — und doch 
wird der Raum ein wahres 
Fandies too Licht und 
Glanz, und die Steigerung 
dadurch. <lass in den recht- 
eckigen Jochen nur oben 
«n der Wand Fenater an- 
geliradit aind, malerisch bis 
aufs Letzte (lurchgefülnt. 
Das Ganze erinnert au die 
Anlage des MUnstercbores 
zn Aachen; es ist dw ge<> 
waltigste Aufschwung einer 
künstlerischen Idee, der mit 
der geistigen Eigenart des 
Volkes verehibar war. 

Im Mittelpunkt dieser 
l'*riu(le steht die Lam- 
bertikirclu mu Müngter,^) 
vm 1375 hegomwD, aber 
ent im Laufe dei 15. Jahr- 
htinderts vollendet. Sie 
macht den Versuch, das 
Chorgauze als eine Raum- 
gmppe darmeteUen, indem 
sie den Seitenschiffen einen 
selbstflndifren pnlyeonalen 
AbschluBs giebt: und zwar 

Abb. ». P«trlUr«fa« in Dortmimd. (Vmck WorfT.) ItCllt eie die Basifl dei tOU 

fünf Seiten des Achtecks 

gebildeten N'elienrlinres in die Diagonale de« Infzton SfitcnjoiIieH. mncht iil.so ilie 
Axe zum Ra«iiu8 eines Kreises, durch dessen Ccntnun auch die Axe des mitt- 
leren Chor])olygun8 länft. Es ist also ela dmUieher Haag zor Geatralkompoaition, 
dMn sieb die Gotik gana im BegiDn ibrw Lanfbahn sdtim «amal, wie ihres 
'Wesens nnbewosst, hingegeben hatte. Aber was in der lielrfranenklrche in 

') Lubke, Tafel XXUI. 



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— 49 — 



Trier nur für den Grundriss, fQr die Entwicklung des mathematischen Systems 
von Bedeutung war — denn die radialen Kapellen blieben niedrig — , äusserte 
sich hier bei der Ilallenforni aU Unigestaltung des Raumbildes. Das Prinzip 
ist leider nur am südlichen Seitenschiff durchgeführt, das nördliche schneidet 
bei dem vierten Joch gerade ab. Doch auch als Fragment bleibt uns diese (Jhor- 
bildung wertvoll, und da sie in jeuer Zeit in Westfalen einzig in ihrer Art iat, 
so muss man wohl irgend ein fremdes Chorbild oder wenigstens eine Anregung 
ans fremdem Schaffen an- 
nehmen. Dass diese An- 
regung aus den Kbein- 
landen kam, kann man 
umsomehr behaupten, als 
ja überhaupt iler ganze 
Stil von Westen in das 
Reich der roten Erde ge- 
drungen ist. Unweit von 
Bonn, in Ahrweiler, findet 
sich <lie Anlage durch- 
geführt, noch dazu bei 
einer Hallenkirche, einer 
für die Frtlhzeit <ler Gotik 
— sie wurde um 12.')4 er- 
baut — auffallenden Er- 
scheinung. Wenn wirklich 
der Chor, bei dem das 
Mittelpolygon einfacher 
ist als das der Seiten- 
schiffe, erst in der ersten 
Hälfte des 11. .lahrhun- 
derts entstanden ist (wie 
Lotjj von dem Hauptchor 
annimmt, den von den 
Nebenchören zu trennen 
dann kein Grund vorliegt) 
so stünde auch derZurück- 
führung des Entwurfes auf 

den Meister von St. Lambert chronologisch nichts im W^ege (der 1350 geweihte 
(.'bor der Stiftskirche in Kleve bildete dann zeitlich die Vermittlung). — Indess 
nicht nur durch die seltene Form des Chores, sondeni vor allem durch die un- 
erschöpfliche Tracht der inneren nn<l äusseren Ausstattung zeichnet sich die 
Lambertikirche vor allen gleichzeitigen Bauten Westfalens aus. Ob <lie architek- 
tonische Finesse, die Pfeilerabstände nach dem Chor hin zu verringern, und damit 
einer bedeutenden jicrspektivischen Wirkung in die Ililndc zu arbeiten, wirklich 
als eine solche aufzufassen ist. muss hier unentschieden bleiben. Der Wechsel der 
l'feilerbildung weist eher auf eine andere Individualitflt in der Bauleitung hin, ebenso 
leicht könnte aber auch eine Schwierigkeit der Bodentiäche oder sogar eine blosse 

UacDci, SpfttKotik. 4 




Abb. 31. I'alrikircho in Üortmmid. 



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— 50 — 



XachläsHii^keit in dem Grundrissentworf die Änderung verursacht haben. Die 
Seitenschiffe sind ja auch nicht f^leich gross, sondern das nördliche ist ungefähr 
1 nt breiter als das südliche. Die Dimensionen des liaus sind nicht bedeutend, 
der Pfeilerabstand ist sogar recht klein: das Ganze aber ist klar und harmonisch, 
im steten Zusammenströmen von Phantasie und Geist von innerem I^ben durch- 
drungen und doch feier- 
lich und würdig. 

In Gegensatz hierzu 
überwiegt bei der Kirche 
zu Unna^ (im 14. Jahr- 
hundert begonnen , aber 
erst 1467 vollendet — 
der Chor 1398— 1:^*>«; — ) 
das Wuchtige, Ernste in 
dem architektonischen Ge- 
samtbilde. Der Clior ist 
im Mittelschiff und im 
Umgang mit drei Seiten 
des Achtecks geschlossen: 
der reichere t'harakter, 
der durch Überschneid- 
ungen der Linien and 
kunstvolle Verteilung des 
Lichtes einen lebhaften. 
l)rilchtigen Zug in den .\uf- 
l)uu zu bringen sucht, ist 
hier völlig vermieden. Die 
ConcinnitUt der inneren 
und äusseren Stutzen, 
durch die auf jede Öffnung 
des Mittelschiffs der volle 
Schein des in <lem gleichen 
Abb. 82. «cinoidifcirthc in Dortmnna. Kadius liegenden Fensters 

fällt, lässt die zwar immer 

noch massvoUo, aber durch vorgelegte Dienste doch etwas lebendigere Form der 
Pfeiler stärker hervortreten. Im Langhaus nimmt der Unterbau des Turmes mit 
seinen ungemein schwerfälligen Rundpfeilem das ganze mittlere Westjoch ein: 
diese Bildung setzt sich dann in der Reihe der Pfeiler weiter fort, die quad- 
ratische, in den Seitenschiffen nur um ein Geringes schmälere (iewölbe tragen. 
Im fünfzehnten Mitteljoch (von Westen, einschliessUch der Turmhalle) rücken die 
Pfeiler etwas auseinander, so dass sich hier das Gewölbe der Trapezform nähert; 
so ist der i)erspektivischen Wirkung entgegengearbeitet und gleichsam ein inneres 
Wachstum des Uaniiieft angedeutet. Werden die hässlichen Emporen, die jetzt in 
den Seitenschiffen stehen und die Fenster in unerträglicher Weise zerschneiden, 



n Lobke, Tafel XIX. 



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4 



— 51 — 



«rA beBcitigt vnd die Wand gefftlltti Min, die ent neuerdings als Trennmig der 

ilreischiffii""! Turmvorhalle von dem llaHptranm errirhtet worden ist, dann wird 
auch die zu Grunde liegende Raomidee des Baus klarer und «irkuogSToUer zum 
Aasdruck konunen. 

Der Chor der MarktMn^ tu (hmibrtk^i) im Ansddiis« an ein sdion 

vollendet es Langbaus 
1 10« — 1424 erbaut, if-t eine 
direkte NacbbUdung der 
Choranlage von Unna, und 
auch die Ähnliclilceit des gan- 
zen Innenraunies mit jenem 
ist unverkennbar. Nur ist 
hier in der Bildung der 
Pfeiler das nrngelcelirte Ter- 
hAltnis einsietrftten: die des 
>fittelsrliirt"s sind reich, aber 
im (leiüte dar Frühgotik 
darehau edel gegliedert, und 
im Cbor tragen glatte Rund- 
siitilen dnscentralentwickelte 
Gewölbe. 

Der letzte grosse Re- 
prüsentant dieser Kdiiii»«- 
sitionsforni in Westfalen, der 
1478 errichtete Chor der 

ist zu(^ei<& ftudi die vol« 

l<»n(lefslft Schöpfung des Sy- 
^teIlls^ Dem romanischen 
i.aiighuus gegenüber erhebt 
er sieb zu ernster, feierlicher 
GrOsse, um nach dem ersten, 
eewalti{(eu Sdiiitt der Wöl- 
bung, die sich eigenwillig 
von der Mauermasse des 
/wischcnbaus losmacht, in 
drei Seiten, innen und an^scn. 
ruhig auszuklingen. iüe l'feiler siud wieder ruud, mit Kapitelleu der schlichteateu 
Form; die Beleuchtung ist dadurch in besondre Bahnen gelenkt, dass die breiten 
Aussenwinde des Chors von je swd grossen Fenalern belebt worden. Der Tag 
scheint in hellen t^trablen herein und umfängt die schweren Säulen, deren trotziges 
Sflhstbewusstseiii unter seiner heitern IterfibrunR schwindet. Zwar trennt eine 
Ürustungsmauer den Wandelnden im Unigung vuu der MittelbaUe, aber du» Auge 




Abb. S3. M uleBkireb« {n OaubvHcb. (Xuh Ubk«.) 



•) T.al.ko. T. XX. 
*) Lübke, T. X. 



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•- 52 — 



schweift frei in die Weite 
nnd Tiefe des Baus, und 
die Kinheitlicbkeit der 
Ilaumkompositioii geht 
unmittelbar in das Be- 
wnsstsein über. 

Westfalen nimmt mit 
seinen Ilausteiubauten in 
dem Bilde, das die Archi- 
tektur der norddeutschen 
Tiefebene gewährt, eine 
durchaus selbständige 
Stellung ein. Dort, wo 
ein gewachsener Stein nur 
in beschränktem Masse 
vorhanden war. in den 
Gebieten am Niederrhein, 
im Üleve-Gelder'schen 
Lande, musste die Archi- 
tektur notwendig in Ab- 
hängigkeit kommen von 
der Richtung, die sieb 
in dem Mutterlande des 
Itacksteinbaus . in den 
Niederlanden, entwickelt 
hatte. So finden sich auch 
wirklich die charakteris- 
tischen Eigenschaften der 
niederländischen Gotik an 
den Bauten des Nieder- 

Abb. 34. wniibrordikirche in Wcei. (x«ch cleinen.) rheius Vertreten, Und die 

Bezeichnung ,. niederlän- 
disch-westfälischer Provinzialismus" ist speziell den Bauten des 14. und 15. Jahr- 
hunderts auf diesem Boden zu teil geworden. Dass daneben auch französische 
Einflüsse rege waren, beweist das W^erk, das als die bedeutendste gotische An- 
lage des Niederrheins nächst dem Dom zu Xanten and im Besondem als die 
glänzendste Leistung der ostklevischcn Bauschule gilt: die Willibrordikirche tu 
Wesel. \) 

* ^ * 
* 

Allerdings findet sich die Eigentümlichkeit, die ein französisches Vorbild 
rechtfertigen würde, der (hier nur in den Fundamenten nachgewiesene) Kapellen- 
kranz um den Chor auch an niederländischen Kirchen, in Utrecht, Nymwegen und 
Ilerzoßcnbusch, wie vor allem an der Groote Kerk in Aniheim, in der man das 
unmittelbare Vorbild der Weseler Kirche zu finden gemeint hat. Letzteres könnte 

') Clemen, H. B. Kreis Rees S. 125 ff. 




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— 53 - 




sich jedoch nur auf den 
östlichen Teil, vom Qaer- 
schiff an, erstrecken, denn 
das Langschiff selbst ist 
anders komponiert , ab- 
gesehen davon, dass man 
bei einem Hau, der voll- 
ständig aus Haustein er- 
richtet ist, wie die Willi- 
brordikirche, sich schwer- 
lich an ein Muster ge- 
halten hat. das, wie die 
Kirche zu Arnheim. nur 
in den Details Haustein 
zeigt, wahrend der Kern 
lies Haus, die konstruktiv 
massgebenden Glieder, aus 
Ziegelstein hergestellt 
sind. Dagegen ist die 
Jolianneskirche in Her- 
zogenbusch, nach einem 
IJrande seit 141!» neuer- 
baut, aus Haustein, und 
zeigt im Grundriss eine 
ausgesprochene Ähnlich- 
keit mit der Weseler Kirche, die, nach einem Erweiterungsbau der alten roma- 
nischen Anlage von 1425 in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts neu erstand 
(aber erst in jüngster Zeit in allen Teilen vollendet worden ist). Es ist eine 
fünfschifüge Basilika von energischer Kreuzform. Um den in fünf Seiten des 
Achtecks geschlossenen Chor des Mittelschiffes, der ziemlich genau die Länge des 
Hauptschiffes hat, setzen sich die inneren Seitenschiffe als Umgang in sieben Seiten 
des unregelmüssigen Vierzehnecks fort, während die äusseren Seitenschiffe, das süd- 
liche um ein Joch später als das nördliche, gerade abschliessen. Der Turm öffnet 
sich in einer gewaltigen, auf vier wuchtigen, reichgegliederten Pfeilern ruhenden 
Vorhalle gegen das Mittelschiff, die inneren Seitenschiffe begleiten ihn mit je zwei 
schmalen Jochen bis an die Westwand. Die Pfeiler sind rund mit Vorlagen, nur 
die der Vierung zwölfseitig; nur die drei Mitteljoche des Hauptschiffs und die 
beiden westlichen Joche des südlichen äusseren Seitenschiffs sind mit Kreuzgewölben 
gedeckt, alle anderen mit prächtigen Netz- und Stenigewölben, zum Teil mit frei 
gearbeiteten Rosetten und Dlumen, die sich in einzelnen Seitenräumen, bei der be- 
kannten Lust an technischen Spielereien, in ein völlig frei schwebendes Rippennetz 
mit zierlichen Krabben, Blüten und Blättern verlieren. Die Joche der Seitenschiffe 
sind etwas mehr als halb so breit wie die des Mittelschiffs, und sie selbst nur 
halb so hoch wie jenes; die Pfeilerabstände sind gering, die Unterbrechung ihres 
kurzatmigen Zuges durch die sich mächtig ausweitende Vierung geschieht Uber- 
raschend und wirkungsvoll. Der ganze Bau ist von einer gewissen wuchtigen 



Abb. 35. WilUbrordikirche in Wesel. 



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— 54 — 



Schwerfälligkeit, die Breite 36 m, vermag der Länge, 64,50 m, einen nachdrück- 
lichen Qegenhalt za bieten. Die Grundform ist schon beinahe das griechische 
Kreuz; optiidi halten sich iß» vier in «traUander Hdligkeit hervortretenden FlOgel 
ToUkonunen die Wage, 1io<;ont!er8 jetzt, wo das Chorpolygon durch einen hohen 
Ziriaehenban von einem Langhaoa abgetrennt ist. Die Fülle von Licht, die den 

ganzen liau beherrscht, und jedes der 
inaaerst aorgfUtig gearbeiteten Ziertefle 
klar sor Geltnng kommen Ifisst, bekundet 
ein freiprps, klares KmiifiiKien der Meister 
un<l des Volksstammes, aus dem sie her- 
vorgegangen sind: ein scharfer, seiner 
Sache aidierer Geäat waltet in dem Bmob. 

Diesen Geist, der sich mit der deut- 
lichen AiispräunnK <le8 Kreuzschiffes der 
beiTscbendeu lüchtuug entgegensetzt, und 
damit avf ehi im IlbrigMi Dentachlaad 
kaum mehr gebrauchtes Schema zurück- 
greift , hat auch der Salvatorkirche in 
Duishtrg^) ihre Gestalt gegeben, die be- 
glaubigterweise in Einzelheiten der Kirche 
zn Weael am Urbild gedient hat, md 
deren Grundstefn 1415 gelegt wurde. Hier 
ist die LiliiRsaxr Schürfer ausgepriict. das 
Langhaus ist auf drei .schiti'e beschränkt 
nnd der Chor achUeaat erat nach zwei 
breiten, der Vierung ähnlichen Jochen in 
tliiil' Seiten des Aditfiks. Daneben legt 
sich, als l' ortsetzuug des sUdlicbeu beiteu- 
Bchiffaf nodi ein flacher ko&atndartea 
Chörchen, das dem Baa erst sp&ter hinzu- 
pefücrt zu sein scheint. Die IJasilikenforra 
ist deutlich iiuicKeha itt'ii : ilic lieideii rie- 
sigen Fenster der l^uerarme geben dem 
Räume atine Phyaiognonde : daa IJeht, daa 
sich unter der Vierung sammelt, sfrcimt 
in das Langhaus mit seinen niedripen 
Oberfenstem ein, das Laugbaus des Chors tritt dagegen als eine dunklere Partie 
zsrAck, wihread in dem diorpolygon die ktapeilidMn Ifauiaen dea Bana zwiachen 
den gewaltigen fichtapendenden (Mhongoi faat vOllIg veraehwinden. Koch in der 
jüngsten, der niederrheinisclien Kirchen dieser Periode, des 1483 begonnenen 
Äldegundiskirche tu Emmerich,-) findet die Nei^'untr zur gruppierenden Chor- 
gestaltung Ausdi'uck. In XanUn, Viersen, Kranenbury und Geldern, in Honsbeck, 
XttUtar and ßuiäburg herradit diea Syatem, and hier ia E^nmeridi aeheint es in 
gewiasem Sinne sogar die BUdnng dea WeatabodilnBaes beeinflnaat za haben. Daa 




Ahb. 36. AldrgvndisMTch« in Knnnerich. (Xkoh ridinen.) 



') Clemen II. Duisburg S. 18. Giemen II. Kees ä. 85. 



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letzte Joch der Seitenschiffe nämlich, die neben der gewaltijjen Vorhalle des West- 
tarms fortlaufen , wird durch eine Querwand abgeschriigt , die in dem südlichen 
Schiff sogar von einem eignen Fenster durchbrochen ist. In andern Kirchen, z. IJ. 
in Lüdinghausen, ist dies der i)olygonale Abschluss der Seitenschiffe im Osten, und 
auch in Emmerich ist die äussere Krscheinung der Seitenchörchen dieselbe, die im 
Innern durch einon keilförmigen ^lauerkörper zu einem Polygon ergänzt werden, 
das sich etwa aus drei 
Seiten des Sechsecks er- 
klären lässt. In der Pfarr- 
kirche zu Ingolstadt ist 
ilie Westpartie ähnlicii ge- 
staltet, undnoch ein andrer 
ünistand fordert zu einem 
Vergleich mit dieser 
Kirche auf. Das Mittel- 
schiff erhebt sich /war um 
ein Drittel seiner Höhe 
über die Seitenschiffe, hat 
aber ein gemeinsames 
Dach mit diesen, aber 
keine Oberfenster, so dass 
die Halle, als welche jetzt 
der gesamte Innenraum 
erscheint, mit dem dunkeln 
Mittelteil einen schweren, 
dllstem Charakter an- 
nimmt. Die merkwürdige 
(iestalt der Pfeiler, zwei 
durcheinandergeschobene 
Kechtecke mit ausgerun- 
deten Kanten, die ein- 
fachen Arkaden und un- 
belebten Scheidemaueni, 

Alles kündet den Kintlnss eines fremden Klementes an, das uns hier zum ersten- 
mal begegnet: es ist der Ziegel mit seiner strengen, schweren Formengebung. 
Dies ist wohl das einzige Heispiel dieses Materials in der ostklevischen Gruppe, 
und wenn die Anordnung des Langhanses violleicht auf westfälische Vorbilder 
zurückzuführen ist — in Jiocholt, Rheine und Liesborn, alles Hauten des 15. .Jahr- 
hunderts, ist sie durchgeführt — so erkennen wir in dem Material die Einwirkung 
der nahen Niederlande. 

Ks führt uns hinüber zur westkle vischen Schule, und seine Eigenart macht 
sich am klarsten geltend in dem bedeutendsten kirchlichen Hauwerk dieses Kreises, 
der Pfarrkirche zu Kalkar. ^ Dies ist die ausgedehnteste Hallenkirche der nieder- 
rheinischen Lande, und zugleich diejenige, in der die Vereinheitlichung des Raumes 




Abb, 37. Al<lriiandi«kirclie in Kmmerfcli. 



n Cleinen. V. Kleve S. 52. 



— 56 — 



im Sinne einer (iemcinilc- und rreiliprtkiiThe am weitesten trcdiohen ist. An die 
dreischiffige Halle von sieben Joeben legt sieb im Mittelschiff ein Hauptchor, der aas 
fUnf Seiten des Achtecks gebildet ist, während die Seitenschiffe daneben in einen 
«Dtapreebeiid kleinerai Polygontefl uriaiifeii. Allerdlnga itt hier nur da« sodliche 
Seitenschiff mit *'iuvr ireringen Unregelmässigkeit in dieser Weise durchgeführt, da« 
Ostjoch des nördlichen Schiffes, noch ans einem ftlteron V>m stammenfl. hat seinen 
geradeD Abscbluss behalten (vergl. auch die Üalvatorkirche in Duisburg). Das (ranze 
ist ein ents^iedMier Protest gegen die pronkvoUe, auf ihuuEOsiiche ywbilder alch 
stützende Art der gotischen BanmbompositionT wie aie noch in dem nahen Wnet 
herrscht, ein stronjxerfs Zusammenhalten der blassen, das trotz der ausserordent- 
lichen Dimensionen dui-ch die Mäasigong in den omameDtalen Teilen harmonisch 
in die Erscheinung tritt. 

Als Charakteriatünun der «eatUeviscben Bauchnle Iftaat sieh dies Moment 
auch in den grossen Basilikalbauten der Gi i i vi rfolL'en. In der Pfarrkirche zu 
Kranenburff,^) die am Anfan?; ries ir>. Jahiliundcrts lir>;omien und 1430 vollendet 
wurde, gebt der Grundriss wieder mehr in die Breite. Der Chor — dessen liil- 
dmig durch die Gestalt des ans dem 14. Jahrbnndert stammenden SfidschÜTs be- 
eininsst wurde — verfolgt das Gruppenprinzip und lässt seinen lÜttelteil, um dessen 
Übergewicht über die flacheren Seiteiiscliiffe liielir /.u betonen, um ein, den Jochen 
des Mittelschiffs entsprechendes Joch nach Usten heraustreten. Das Gewölbe ist 
wieder einfach, wird aber von ziemlich stArken, nach niederlilndischem Muster 
scharf and r^h gegfiederten Pfeüem getragen; die drei Schilfe sind gleich breit, 
das vierteilige Fenster in dem eingebauten (unvollendeten) Westturm, ein echt 
niederländisches Motiv, entspricht in seiner liroitcii Öffnung und reichen Ausstattung 
dem Charakter des Baus, in dem der Backstein die Sprüdigkeit und Strenge seiner 
Formen überwanden sn haben scheint und an lebendigw Pracht mit den Gebilden 
des Hansteins wetteifert. 

Die Eiitwiikluii^' der spilt^'otischen Architektur in Stlddeutschland, in "West- 
falen und am Niederrbein hat uns bis tief in das 15. Jahrhundert hineingeführt. 
Der GruadtüQ der bankOnstlerischen Thätigkeit in diesen Ländern, das Streben 
nach Tereinheltliehnng des Raumes darch Verteilung der Massen nach 
selbst geschaffenen und durchgebildeten Gesetzen, hat die Verschieden- 
heiten der nationalen (leistofsait durchdrungen und zum Teil flherw'unden. Das 
neue Stilprinzip wird immer Schürfer durchgebildet, immer kühner ausgeweitet: 
Bauten wie die .FVmrsMJhVdks in MBnt^, der Chor der Marienkirthe in Lipp- 
stadt und die Willibrordikirche zu Wesel bezeichnen, jeder in seiner Art, Höhe- 
punkte, die den Glaulien nicht aufkonunen lassen, dass die Entwicklung der Gotilc 
in dieser Zeit schuu in absteigender Linie vor sich gehe. 

Die Überzeugung, dass wir es hier mit etwas Neuem zu thno haben, das 
sich von der Torangegangenen Periode scharf abhebt, wird sieh noch mehr fettigen, 
wenn wir die Werke der Baukunst in dem Lande einer Betrachtung unterwerfen, 
das bis dahin in der Geschichte der Gotik noch keine Kolle gespielt hatte, in 
Sachsen. 

>) CleatSD. V. Kleve S. 9S. 



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Sachsen. 



Da die politischen and religiösen VerhältDiSäe, anter denen in der Glitte and 
gegen das F.iule des 1'. .Talirlitnitler(s f-iiie küii.sth'iiscli«' Kiitwirkluiitr in Srirlisen. 
speziell in Ubersactuen und dem Erzgebirge vor sich geben konnte, von den Zu- 
•ttiden, die um dime Z«it im Beiehe bemditai, eich deatUch abheben, so sei hier 
mit «nigen Worten daraaf eingegangen. Der tTmschwung, der die Entwicklmig auf 
sozialem Gebiete ganz besonders betraf, gründet sich zum gr<"*8steu Teil aaf die 
Thntsarho, dnss in dor zweiten Hülfte des 15. Jabrhanderts durch iiicliroro elftiK- 
liche Funde der liergbau eiueu ungeahnten Aufschwung nahm. Zwar ncbon seit dem 
12. Jahrirandeirt war die Oewinnong von Metallen, namoitlieh von Silber, im Erz- 
gebirge aystenaatiscb betrieben worden, aber erst in dieser Zeit gewann dir I!(?rg- 
bau grössere Ausdehnung, liesonders seitdem an die Stelle des anfang.^ alk'^mcin 
üblichen Raubbauea ein durch die laude«herrliche Uesetzgebuug geregelter iietrieb 
getreten war. Bis in die ratlegenaten Thiler, aber die nnwohnlidisten Berge er- 
goM lieh der Strom der Erwerbradienden, vod bald mvestoi neue Ansiedlnngen 
entstellen, am die iranze Schar der Arbeiter aufzniielnnf'ii. kmiptitutionelle Satzungen, 
um die wilde Menge in Zucht und Ordnuntr /u iialten. In di-n siehzifrer Jahren ent- 
stand 80, au» den kleinsten Aulängen heraus, die Stadt ^chneeberg, und noch vor 
Beginn des neuen Jahrhondorts wurde dw Grundstein gel^ zu der Stadt, die dann 
der Mittelpunkt des ganzen neuen Erwerbsgebietes und der Hauptsits auch der 
staatlichen und kirchlichen l^ehorden werden sollte. Annaberg. 

in einer Zeit, wo orthodoxer Fanatismus, oppositiouelles Asketeutom oud 
prakttoAe ioitelrefonnalariidie Agitation die GemOter adt ilin«i Gebte orCIlIlten, 
wo die B«äetiungen sn den «netgischeo, Toricetzerten BOlinieokteig Georg Podie- 
brad das Land politisch in die schwerste TJedrüngnis brachten, koiuifen die Kiudei- 
jahre der neuen (iiündunu'en keine leichten sein. Den .\hschlu.^s dieser Wirren 
brachte der endliche Sieg der landesherrlichen Macht: die religiöse Not wurde, 
freflich erst im neuen Jahrbvndert, durch die Beformation gehohen. Wenn auch 
gkieh im Iteginn der neuen Bewegung das Auftreten der farlstadt und Münzer den 
jungen rJlanlu'n in schwere Bedrängnis brachte, so ist doch später, besonders seit 
Luthers persouUchem Erscheinen, die Keformatiou in aüeu Teilen gesichert worden, 
bis sdüiessHeh dnich die Aoeritennnnf des Proteatantismos von Seiten der ataat- 
Udiea Gewalt des KathoUsimua fut v<Hlig ans dem Lande versehwand. 

"Wenn auf diesem I?odcn. dem Schauplatz der mannigfaclusten politischen tind 
relitH'"t'5'^n Kämpfe um! der <;»>'iiirtsstiitte einer neuen sozialen Khi.ssc. (ibcrlianjit 
die Kunst Wurzel schlagen uua zu nennenswerten Erzeugnissen Kruft und Anregung 
finden konnte, so nmssten diese ihre Leistungen wohl ein ganx anderes Geprige 
tragen als die der Yergangenheit und der Nachbargebiete. Und da war es wieder 



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— 58 — 




Abb. 88. M. AniiBkircbe in AnimberR. (Nach SIrirbr.) 



die Architektur, in der sich der Geist jener Zeit, jener Menschen am reinston wieder- 
spieKolte. Für die Malerei fehlte ebenso wie für die Skulptur die freie Si haffcns- 
freode: noch waren weder die materiellen Krilftc noch die kUnstleriBchon Anschau- 
ungen stark und lebendig L'enu^, um hier mit dem Zwange der Tradition zu brecli^n 
und selbstikndiKC Fonnen zu tinden. Das religiiise Empfinden verlangte zwar stetig 
noch nach Abbildern der göttlichen Personen, aber es begnügte sich auch mit 
jenen rohen Produkten, wie sie, in Stein und Holz, in grossen vielteiligen Altar- 



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— 59 — 



Stucke» noch heute \ielfach in den sftchsiaehen Kirchen zu finden Bind. Anden 

sitanil es mit tleiii Wunsthc. wilrditje Stätten fdr die reli^^iösen (Miuii'j;pii /u ue- 
winneu. Da geiidgten nicht luehi- dio oft nui- ganz einfach aas Holz errichteten 
Bauten der froheren Zeit; das starke Selbstbewuestseiu der Bürger, der Stok der 
n«n«i stSdtiMlifln Korporationen muBste sich in selbstemonneiien, selhslenchalTenen 
Räameo «osleben. Sobald nur die ersten Schwierigkeiten de» ungewohntMi Daseins 
überwunden waren, stieg ein Gotteshaus neben dem Sitz der (»briL^kcit empor. Kleist 
war es zuerst nur aus Holz gefügt, bloss geeignet, den Altar uuil die heiligen Ge- 
flne n. s. w. zu bergen. Aber in kurzer Zeit machte es dann einem festen Stefai- 
ban Phitz und die Anlage des Fundaments reriiiess oft eine Ausdehnung des Ganzen, 




f -* i I I j » I I I I f 1 1 1 

AUi. W. St. Anoakircbo in Atauhttgi UiigiKbuitl. (Nach ätocbe.) 

die das Vermögen der Hflrgersdialt weit übersteigen innsste. Es erschien als eine 
EhrenpHicht jeder Stadt, einen Teil ihre** iiiaten»'Ilt'!i WniilstiiiHb's s.» .Ipiii Höchsten 
zum Opfer zu bringen, und es wai* der Gegenstand eifrigen Wettbewerbes zwischen 
den einzdnen StAdten, den nmfangrddisten Kirchenranra, den hOchstn Tum im 
Lande zn besitzen. Wo fudt schon ein Bau ans firflherer Zeit vorfand, gestaltete 
man ihn weniL'stens den Bedflrfnissen der Zeit entsprechend um, nach Grösse und 
Schönheit: Türme \furden erri(-}itft und das Langschiff entweder eingewölbt oder 
mit Seitenschiä'eii und Kapelienanbauten versehen. 

Im Mittelpunkte der Geschichte der Architektur im sAehsisdien Erzgebirge 
steht die Stadtkirche St. Anm eu Annnbcrf/.i) (1499 begonnen. 15:20 gewölbt, um 
1525 vollendet.) Ks i.sf eine drciscliirtiL-c Halle, iretragen von sechszehn achteckigen 
I'feilern, deren Seiten (wie die Kauelureu der dorischen Säule) am der optischen 
Wirkung willen etwas eingezogen sind. Das Ifittdsdiiff scMletst in etaien Polygon* 



*) Steche 17. S. 6 IT. 



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— 60 — 



das aus fünf Seiten des Achtecks gebildet wird, während die Seitenschiffe in flacherem 
Schluss nur drei Seiten davon aufweisen. Die Strebepfeiler sind in das Innere gezogen 
und zwischen ihnen sind in nicht ganz halber Höhe Emporen angelegt: vor den gleich- 
falls in drei eingezogenen Seiten des Achtecks endigenden Pfeilern ragen die Em- 
poren in demselben Verhältnis vor. Das ganze unregelmüssige erste Westjoch der 
Schiffe, durch den Turmeinbau im Süden und die schräge Westwand entstellt, wird 
von einer breiten Empore eingenommen, welche die Orgel trügt und in direktem 
Anschluss an die nördliche und südliche Empore errichtet ist. Die En»i»oren öffnen 
sich unten in stark gedrückten Spitzbügen; die so entstandenen schmalen, kajiellen- 




Abb. 40. OewOlbr der St. Aiinakirrh« in Annaberg vor der Restaurierung. (Nach Steche.) 



artigen Uftume sind mit zierlichen Netzgewölben bedeckt (jetzt durch Holztribünen 
mit Kirchenstühlen zum Teil verbaut). Einige von ihnen empfangen ihr Licht durch 
niedrige, vorhangbogige Fenster; der eine, im fünften Joch rechts, ist vöHig zugebaut. 
An das sechste Joch legt sich rechts und links je ein Querschiffarm an, in der Em- 
porenhöhe horizontal geteilt; die Räume unten dienen als Sakristei und Kapelle, die 
oberen erhalten ihren Abschluss in der Art des Chores nach Massgabc des Systems, 
das auch die Gestalt der Pfeiler und Strebepfeiler bestimmt hat, im Achteck. Sie 
erheben sich als offene Hallen bis zur Höhe des Schiffes und sind mit feinen Stern- 
gewölbeu gedeckt. Der ganze Bau ist nicht hoch gewölbt, da die scharfen Kippen an 
den Pfeilern auf kleinen Konsolen (dicht unter der Decke) ziemlich hoch oben an- 
setzen. Die Decke zeichnet sich durch ein reiches Xetzgewölbe mit auffallend grossen 
Schlusssteinrosetten aus. Die Fenster über den Emporen sind oben rund und reichen 
fast bis zur Decke, über der Orgel strahlt, in Gelb und Rot, eine Rose, die einzige 
Lichtquelle an der Westwand, die so stark in Dunkel gehüllt bleibt. Die Stelle, 
wo das Licht am stärksten zusammenflutet, ist der Teil vor dem Hauptaltar: aus den 
sechs Fenstern der Querarme dringt hier die Helligkeit herein, und weil auch dieser 



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— til — 




Abb. 41. Bt. AuDokirchc iu Aunab«rg niuh ilrr UritBuriernnit. 



Platz von KirrhenstUhlcn günzlicb frei gehalten ist — nur das Taufbecken erhebt 
sich in der Mitte — erscheint er fast als ein wirkliches Querschiff mit Vierung, 
obwohl er natürlich nicht breiter ist als die übrigen Joche. Da man vom Eingang 
aus die wichtigste Lichtquelle nicht sieht oder wenigstens ihre wirkliche Anlage 
nicht erkennen kann, so ist die Wirkung dieses strahlend hellen Teiles, hinter dem 
sogar wieder der Chor etwas ins Dunkel zurücktaucht, doppelt überraschend und 
eindringlich. Der Baumeister bat es verstanden, ohne von seinem Grundplan, der 
geschlossenen Halle, abzuweichen, dui'ch die so gegliederten Anbauten jenen Licht- 
effekt zu erzielen, der bei den Hauten der Hochgotik allgemein bekannt war und 
der Idee jener Anlagen auch ganz entsprechend verwendet wurde. Trotz seiner Höhe 
wirkt der ganze Raum nicht schlank, da die Breite des Mittelschiffes über y m be- 
trügt. Einen erhöhten Keiz erhält er infolge der feinsinnigen und wirkungsvollen 
farbigen Ausstattung. Durch sie in Verbindung mit den verschiedenartigsten Heleuch- 
tnngsgraden, den reichen Profilierungen und dem zierlichen Spiel der Rippenüber- 
setzungen kommt ein intimer, gemütvoller Zug in das Ganze, wie ihn kaum eine 
andere Kirche jener Zeit aufzuweisen hat. Die Haupttlächen sind in einem warm- 



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— 62 — 



bräunlichen, sammetnrtiEren Ton ffehalfen, die Decke ist hellblau, die Kippen sind 
wieder braun, an den liberschneidungen rot. Alle aut fallenden Nuancen sind ver- 
mieden; das tiefe Rrann der gescbuitzten Stahle imter dem Empom der OBeraniie 
fOgt iicli dem Gesamtcbarakter eboMO gnt ein irie die Bemahing der himdeit Re- 
liefs , mit denen die Emporenbrdstun^en cresdimOckt sind und das Steinfrrau des 
Renaissanceulturs im Hauptchor. Steht diese hlrscheinun? wohl riucli im Wider- 
spruch mit dem sonstigen Streben der Gotik uacli weiten, gewaltig sich empor- 
wOIbendea und oft gerade dnrcli den Mangel an Ornamentik ernst and Charakter^ 
voll wirkenden Räumen, io entspricht sie doch ganz dem Geiste der den Baumeister 
dieses Werke-^ beseelte und der wiedenun Dor der Wiederschein war eines nationalen 
und zugleich persönlichen Enipiiuiiens. 

Ein weiter Ravm, gross genug, um die Schar der Andftchtigen sich firei 
ausbreiten n lan«!, eine Cboraolage, in der sich die Bedeutung der einzdnen 
Schiffe klar ansprach, mit sicherer Betonung der Mittelaxe, ohne die beiden Seiten 
zu vernachliissigen; die Emporen dem Räume organisch eingtfiist und die von 
ihnen gebildeten Kapellen geschickt zu zweckmässiger Verwertung gel>racht; die 
Arme des Qoeraehiffs im Sinne der gesamten KosoposiUon prshtisdi als Sakristeien 
und Sammdpnnkte in der höheren Region, künstlerisch als IJditspender ausgenutzt 
und koitsefiiient der ("horanlage folgend im Polypon {resrhlossen, um auch hier jede 
Hiirte zn vermeiden und dem harmonischen Geist des Raumes gerecht zu werden: — 
SO steht dw Ban vor vns, als das Hnsterbild eines borgerllchen Gotteshauses, im 
CrMste einer zwar praktisch^realeo, £ast nOehtemen reUgiösmi Stimmung, aber dafOr 
frei von orthodoxer Gebundenheit oder mystisclier Träumerei. Dem Vertikal- 
charakter der Gotik, dem Hochslrebeii aller (Uiedcr, wie es in den Hauten der 
Blütezeit in die Erscheinung trat, widersprach die Anlage der Empureu. Sie traten 
in nihere Benehnng zu dem Boden, auf dem das menschliche Treiben, hier die 
gottesdienstlichoi Handlungen, sich abspielte, sie lies^en de i \ i ! ii 1 li^'cn engeren 
Anschlnss finden an den Prediger, der dort ;in der Kan/el. iu der Mitte der 
Gläubigen das Wort verkündete. Der Altar war nicht mehr weit abgerückt von der 
Gemeinde, fem an das Ende des vieljochigen Chores, wo die litbior^sdien Brftncbe, 
von Weihranchwolksin nmwallt, im Schein der Kersen dem Auge und Ohr des 
Frommen nnr von einem Schleier umhüllt sich darstellten, sondern klar trat er 
hervor im Tageslicht, und knapp hinter ihm schloss sich der Kaum zusammen, jede 
Seitenhaudluug verbannend. Allen sichtbar trat der Priester aus der Sakristei 
hervor, dvrdischritt den Raum, wo durch die Qneranne ^richsam inuupnlr 
die Vierung angedeutet war, und verschwand nach SeblnSB der Ceremouie dMOM 
wieder der Gemeinde. Alle jene umstilndlicheren, prozcssionsmilssigen Aufführungen, 
die in dem Umgang und Kapellenkranz eine Stätte gefunden hatten, fielen natur- 
gemisB fort. Zwei grossere und swri klehiere Nehinaltfire entsprach«! in den 
SeitendiOren dem Prinzip der Gmppenhildnog, wie es in derdreiteiligen, Idar dis- 
ponierten ('horanlage hervortrat. 

Au Stelle der lietendimeiiBiuii der riiorpurtiea der hochgotischen Periode, 
besonders der französischen Kathcdralkircheu, war die Breitendimension getreten: 
eine malerische Auffassung hatte Ober das spezifisch architektonische Schelfen die 
Oberhand gewonnen. Die Stelle, wo die Lebcnscentrale des katholischen Kultus 
liegen sollte, zieht sich aus dem dreidimensionalen Kaum zurttck, sie tritt in die 



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— Ü3 — 




I ' ' I ' ' ' ' 1 

Abb. 42. Stadtkirchc Kt. Marirn in Pirna. (Nach Stech«.) 



Flüche ein und fügt sich damit mehr als HcRrenzung dos Raumes, den sich die Gemeinde 
si'iiuf, denn als »elbstiindiKes, mit eigenein Leben und adäquater Daseinsberechtigung 
ausgestattetes Raumgebilde der architektonischen Schü])fung im Ganzen an. Altar- 
dienst, Messe and Hochamt sind nur noch ein Teil des Rahmens, der die Feier der 
Gemeinde umschliesst: so kaim auch der Raum, in dem sie sich vollziehen, sich der 
freien Halle unter- und einordnen, die der Gemeinde eine Stiitte bietet. Das Collec- 
tivum der Laien ist die Seele des Ganzen geworden, die Raumeinheit liegt also 
allein in der Halle, nicht mehr in der Vierung, wo tlie Yereinigungsstelle zwischen 
I'reRlivterium und Landhaus sonst gelegen war, wo aber Klerus dort und Gemeinde 
hier einander klar gesondert gegenüberstanden. Als Sammelwesen von lauter Indi- 
viduen, die ihren Verkehr mit dem Überirdischen persönlich unterhalten, soll die 
Gemeinde «len gesamten Raum souverän beherrschen: nur für sie ist das Messopfer, 
das der Priester als ihr Verordneter vollzieht, nur ftlr sie erst recht die Predigt, 
bei der der Verkünder des Wortes mitten unter sie tritt. So bietet sich uns in 
der künstlerischen Umgestaltung des Gotteshauses ein klares Bild des Umschwunges, 



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— 64 — 



in dem das religiöse Gefühl jener Zeit sich l)efand: der nahende ProtCBtantismus 
kfindet sich in der Kirchenanlage eines weit entlegenen Uebirgsstädtchens an; aber 
noch ehe der Üaa ganz gediehen, ist der liann gebrochen und siegreich zieht der 
neue Glaube in du« Hana ein, das seinem Geiste so trefflich entsprach. 

Fragen vir nun, vle die äussere Erscbeinnng unseres Baues sich zn dem 
Geiste verhält, der im Innern waltet, so mQssen wir die KonBeqnenz der Idee auch 
hier anerkennen. Die schräge Westwaml, durch die breite Freitreppe mit der natür- 
lichen Hasis verbunden, und die Verlegung des mächtigen Tunnes auf die eine Seite 
weisen mit Xachdnick auf eine malerische Auffassung auch dieser Teile hin. _ Das 
traditionelle Schema der Symmetrie, das far jedes Glied entweder ein Gegenstfldi 




Ahh. 43. Sindlhiteli« 8t. STwIen in Firn«. (Nkch SMeh«.) 



oder, wenn dies nicht möglich, den Charakter des Centralen fordert, ist durch- 
brochen, wenn die Lösung hier auch noch keine ganz befriedigende genannt werden 
kann. Eines aber ist erreicht: es steht nicht mehr «an Baa vor ans, dessen 
mecbanisch-Btruktive Teile den eigentlichen Kern, den geschaffenen Raom, ganz 
öberwuchem. wo mr, überwältigt von der Kühnheit und Phantasie der sichtbaren 
Mittel, nns vergeblich die wahre Gestalt der unsichtbaren Zweckerscheinung klar 
zu machen suchen. Der innere Konipromiss, zu dem der Hetrachter des Aussen-» 
baiies tarn Verständnis des Inneren stets notwendig sich entschliessea nmss. wird 
wohl nirgends so erschwert wie Tor den Erzeugnissen des hochgotiscben Kathedral- 
stiles. Die Annaberger Kirche dagegen stellt sich von aussen als das dar, was sie 
im Innern sein will; eine Halle mit zwei Seiteubauteu in der iireiteurichtuug — damit 
unwillkürlich das alte Erenzschema wahrend — und einem dem Ange wohlthnenden 
Abschlösse nach aussen an der Hauptwand: dem Chor mit seinen beiden Trabanten. 
Kein Strebepfeiler ragt auf, kein Strebebogen schwingt sich einer unsichtbaren 




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— 67 — 



Wölbung entgef^en: nur am 
Chor klingt in den wenigen 
(las Polygon markierenden 
schlichten Pfeilern noch 
ein Rest des Jahrhunderte- 
lang gebrauchten Bildes 
an. Der Turm drflngt sich 
eng an den breiten Haupt- 
bau. Noch war die Formel 
nicht gefunilen, um dem 
(iebäude. wie es vor den 
Augen der Stadt sich er- 
hob, Schmuck und feinere 
Gliederung zu verleihen, 
aber das Kleid übertrie- 
liencr gotischer Zierweise 
war abgestreift und die 
Flache frei, die Formen 
einer neuen Kunst zu 
tragen. 

Wenige Jahre nach 
dem Keginn des Anna- 
berger Kirchenbaues füllt 
die Gründung der Stadt- 
kirche tu Pirna, ^ im 
AnschlusB an einen Turm- 
bau, der noch aus dem 
15. Jahrhundert stammte. 
Die Vollendung des Schif- 
fes geschah im Jahre l.')4(i, 
also in einer Zeit, wo 
die Reformation in der 
Stadt schon festen Fuss 
gefasst hatte. Die Ähn- 
lichkeit des Grundrisses mit dem der Annaberger Kirche ist unverkennbar, und 
w^ir können wohl annehmen, dass sich die Hand eines Meisters hier kundgiebt, 
der in Annaberg der liauleitung auch praktisch nicht fem gestunden haben muss. 
Peter von Pirna war in den Jahren bis ir>l!» in Annaberg thätig und ihm dürfen 
wir auch die Ausführung der llaui)tkirche seiner Vaterstadt zuschreiben. 

,Anro. Nack den verschiedenen, vielfach unaiiKgpglichenen Vermutungen bei Steche, 
Beschreibende Darstellung; der älteren Üau- und Kunstdenkmäler des Königreiches 
Sachsen, Heft I. hl und IV. 7 erscheint mir die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass 
Peter von Pirna um 1504 den Plan zu der Pimaer Kirche entwarf, mit Kenntnis des Anna- 
berger Ii^twurfes; dann nach Vollendung der Langseiten 15()h in Annaberg praktisch den 




Abb, 45. Cburirewolb« dtr Sladtkirche in Plrn». (.N*rb .Steche.) 



') Steche I. S. 56 ff. 



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— 68 — 



Betrieb mitstudierte, und endlich, als im Jahre 1518 dnrcli cntstan«icne ScLäden im Mauer- 
irerk der Bau ins Stocken geriet, nach Pirna zurückkehrte, um sein Werk veiterzufQbren. 
Ob er die YollenduDg miterlebt, oder gar selbst durchgeführt hat, wissen wir nicht. 

Auch hier eine dreiechiffige Halle mit uitibm Jocben, und achteckigen konkav- 
seitigen Pfdient. Die AUlachimir dei Choret ist noeh eliMii Sehritt weiter gegangen. 

Der Abscbluss des Mittelschiffs wird nur noch aus drei Seiten des Sechsecks gebildet, 
and bei den Seitenschiffen ist die Ecke der gongt llblirhen geradlinigen Wand schräg 
abgeschnitten. Das so entstandene Folygun kann aus dem diagonal gestellten 
Achteck erldärt werden. Der Absehhm dee nördlichen Seitenschiffes ist nnregel- 
ntitasig gebildet, (ib^dies durch den Treppeneinhuu mit der anschliessenden Empore 
entstellt. Im Übrigen untersiheidet sich das Innere von der Ainialjerper Kirilie 
dadurch, dass nicht die Strebepfeiler in das Innere verlegt sind und so die Emporen 
eich organisch einfügen, sOBdem die Emporen mar an der nördlichen nnd westlichen 
Wand vnd zwar ^«1 qtftter, 1670 and 71 schon in den Formen der Renaissance 
mit Rundbogen und Säulen, hinzugefügt wurden. Sein charakteristisches Gepräge 
empfangt der "Rtxum durch die reiche und kunstvolle Dekoration des Gewölbes; ein 
System scharf protilierter, stark vortretender Rippen ist zwischen die Pfeiler ge- 
spannt» steUttiweis« ganz von dem Grande losgeldst und firei herabhtngead. Als 
Sttttxen dieser Last schoben sich von der Wand ans eins Reihe nataraiistisdi ge- 
bildeter, von phantastischen Fahel'-restaltf'ii gf haltencr. steinerner Stämme vor. Hier 
war der Brach mit dem strengen Vertikalismas der Gotik geschehen: die Decke 
war nicht mehr das Znsammenschliessep aller aafrtrebenden Glieder, sondern eine 
sehwerlastehda Masse, brdt sieh hinlagemd Ikber die Pfeiler von Wand za Wand. 
Die Rippen fanden keine natürlichen Ausgangs- und Stützpunkte in Pfeiler und 
Konsolen, sondern trieben halt- und zwecklns an t!er flachen Decke ihr Spiel, aus 
iler struktiven Notwendigkeit sieb freimachend und der dekorativen Willkür zum 
Opfer gefallen. In malerischem Wechsel konnten Lieht nnd Schatten in dem Ge» 
wttihe ihre Reize entfalten, aber die tektonische Sicherheit, die Einheit mit dem 
Raum als Ganzem und die Harmonie mit den Gliedern im Einzelnen war vsrloren 
gegangen. Der Meister hatte sich von seiner tedmischea Geschicklichkeit verleiten 
lassen, den GnmdgedaidEen des Baues ans den Angan n vatürnftn. Der sicher 
gegliederte, entste nnd dnrchans zwecfcmttssige Ranm erhftlt durch das tlherrsicibe 
Gewölbe den Anstrich cine^ selhsttrefälHfren, spielerischen LuxnK. Die letzten Aus- 
geburten einer in iabrelaiitrer Arbeit errungenen Fertigkeit stehen dem Erzeugnis 
klar-bcwasstcr KuuiaKum>t iremd gegenüber. 

Wir haben gesehen, wie dar Zug der Gotik, die in die Tiefe gehende LBngs* 
axe za betonen und besonders auch im Chor iHe Längsanlage durch Hereinziehen 
,|,..- ]ifrspftktivischen Wirkung den macscreh enden F.imlrnck besfinunen zu lassen, 
in der wachsenden Breite und Höhe der Seitenschiffe und Einfügung der Axe 
des ChorgewOlbes in das Mittelschiff selbst dnen Gegner fand. Kicht allzuweit 
von nnserm Gebiet, im OstGeliMi Naehbailawle, in Schlesien, fand die neos Ban- 
form einen Vertreter in der Kirche S(. Peter und Paul eu (7('r?i7r.') Sdioii 
1497 sind hier die Gewölbe des fünfschiftigen liaufs vollendet. J)er Os^tabm hluss 
ist in der Weise gefunden, dass das Mittelschiff in fünf Seiten des Achteck», die 



0 Pnttridi. S. Abteihmg. 8. Band. Lieferung 8S o. 34 



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— 71 — 



inneren Seitenschiffe in drei Seiten des Sechsecks, die äusseren gerade geschlossen 
lind: eine wirkungsvolle äteigerung des Trinzips, die bei dem Mangel eines (^uer- 
scldii den weiten Rnnm Tollstftndig zn behemdien vemag. Der perspekthriadie 
DordiUidc in den Wald von Pfeüeni kann ober die kflneUerisebe Einaeit^elt wohl 
htDwegtfiascheiL 




Abb. 47. t^oUtfuii0pkirehe in 9eIiiic«b«Tg; (Sseh Steehr.) 



Unweit von Annaberg, auch pulitisch der Ilaujitstadt des neuk'esthatlenen 
Koltorlandes, erfuhr das System der freien Ruumschöpfuug, hervorgerufen durch 
eine harmoniseli vermittelte GleicbateUnng toh Schilf nnd Cboipartie, dann einen 

hedentungsvollen Ausban. Die WolfyanfjsJcirche gu Schneeberg ^) ist gleichsam 
eines der 8])fltes(en TJeiser an dem IJaunie der Gotik. Der Heirinn des gewalfijjen 
Baues fallt in das .lalir 1515, also in eine Zeit, wo jene beiden erstbesprocbenen 

') Steche VlU. S. 2« iL 



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— 72 — 



Kirchen 8chon weit crediehen waren. Die Gewölbe wurden ir>i>ti fertig gestellt, hh 
in die vierziger Jabre zog sich die Vollendung hin. Der Meister Ems von Torgau 
war im Jalure 1519 ala SadmiMliidiger ueb Amütag bvnkn wraden, hatte ibo 
jemen Ban schon bis auf das G«w01be ToUendet geaehen, und Twiiochte wohl die 
kQnstlerischen Eindrflcke. die er da empfanKCri hatte, in seinem eitjonen Werke 
mit zu verwerten. Und wnbrlich ist die Sprache, die er hier redet, die eines 
selbständigen, freidenkenaou Künstlers, frei von zflinftlerischen Vorurteilen, geläutert 
dnreb efodrin^cbes Stadjnm und gestatzt auf die reidbateii technischen Kenntnisse. 
Er errichtet eine Halle von drei fast gleichbreiten Schiffen: zehn schlanke Pfeiler 
tragen die Decke, deren fTewfdbe von einem pinfachen, fOnfzehnmal wiederkehrenden 
Rippennetz gegliedert wird. Das Mittelschiff domiuiert nicht mehr, sondern bildet 
mit den Seitenschiffett rasamm«! einen grossen Baom, der aOe drei Dimensienen 
in gleicher Weise snr Geltiing kommen liest. Denn auch die Anlage des Chores, wenn 
man noch von einem solchen reden kann, ent.sprieht diesem Kindnick. Vier Seiten 
des ?>echzehneckB verliinden da die Nord- und Siulwand, so dass also in der Mitte 
ein Pieiler zu stehen kommt: so wird die i.'entraie im Mittelschiff, wenn auch im 
Gegensats m dem khssisehen Schema, dentüdier betont, als wenn die gerade Wand 
mit dem Fenster diese Stelle einnflhme, die man bei der Flachheit des Schlusses 
kaum noch als Teil eines Polvfinns emi)fitiilen würde. Der ideale Mittelpunkt 
des Sechzehnecks fällt damit ziemlich in die Mitte des letzten quadratischen Mittel- 
Joches, nichi w^ von dem Orte, wo jetzt das Tasrfbeekea steht Es ersdidnt m^, 
als ob es dem Meister widerstiebt hfttte, die östliehe Hauptwand gans gerade in 
lassen, als oh er das Verhältnis zu der Aussenwelt etwas harmonischer ausj^leichcn, 
vieMeirhl das Um.tielien des wertvollen AltiustOckes habe erleichtern wollen, al.s dass 
ihn noch eine Vorstellung von der originären Bedeutung des ( hores durchdrungen 
habe. Und ein Zweites kommt hinm, die unmittelbare Zugehörigkeit dieses Teiles 
zu dem Gemeinderauni auszudrtickcn. Die Strebepfeiler sind in ihrem unteren Ab- 
schnitt in das Innere der Kirche hereiiicrenommen und tra^ren sclunale Emporen. 
An der Westwand springt die Urgelempore in barocker Biegung weit in den Raum 
vor, von swei Sftulen getragen. Aber sei es nun, dass es den Baumeister ästhetisch 
nicht befinedigte, die Eroporen nut dem lotsten geraden Ostjoch ^tt abznschaeidein, 
sei es, dass aus ]iraktischen Gründen eine direkte Verbindung der vi elfreb rauchten 
Galerien in dem weiten Raum sich notwendig machter er dnrrhhraih ilie lirciten, 
inneren (Jhorstreben und ftihrte, unbekümmert um die Bedeutung des ürtes, die 
Emporen an den vier Seiten weiter, von Wand zu Wand, in gleidmiflssiger Höhe. 
Damit war der letzte Stliritt petlian, den Vertikalisnius, wie er früher gerade im 
(Tior, in den schmalen Seiten des Vielecks mit den schlanken Fenstern am reinsten 
xur Geltung kam, zu durcbbreohen und die Stätte der heiligen ilaudluugen selbst 
dem Horisontslismos zu unterwerfen. Und hier htt <» wirUidi d«r FrotmtantiBims, 
dessen Einflnss diese Anlage zur Folge hatte: die Emporen süd in den Jahren 
I53ß und 1537 errichtet: zwei Jahre vorher hatte sich die I\eforniation der Stadt 
bemSchti^t unrl driUkte nun sntort dem gewaltifr.sten Überrest katludisclien (ilaubens- 
eifers den Stempel ihres Geistes auf. Erst seit im Anfang des IH. Jahrhunderts 
an Stelle des einfachen Cranaeh'schen Altarwerkes dn miehtiger, fast Us zur Decke 
reichender Ilarockhau getreten ist, kann das Auge dem Uudauf der Empore in seiner 
vollen Aasdehnong nicht mehr folgen. Aber es muss fdr jene Zelt von eigentomlicher 



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— 78 — 



Wirkung gewesen sein, wenn nicht nur in der Halle gesanunelt, sondtrn sogar rings 
auf der Galerie verttMlt die Glaubigen sich um den Prediger scharten, wenn die Cere- 
monien des Guttesdienstcs gewissermassen im Herzen der Gemeinde vor sich gingen. 

Haben wir gesehen, welche bedeutenden Fortechritte vom künstlerischen und 
geiatesgasehiditUdi«» Standirankte aus der Bau anfirdst, lo kOmien ancli die lOngel 
nicht verschwiegen ii! II. iir ine 
reine Freude an dem Werk un- 
möglich machen. Da emptinden wir 
vor allem «ine gawisae Nüchtern- 
heit der Erscheianng, herrorge- 
rufen durch die ornamentale Armut 
und die farbige Eintönigkeit. Die 
Wölbungen sind im Verhältnis zu 
den ecUanken PfeUam md den 
enormen PfeilerabsUnden zu nied- 
rig; dadurch und infolge der ge- 
raden Linien der Erapureubalu- 
atrade, die nicht etunal wie in 
Anm^§rg durch rhythmiadi aich 
wirderholende Vörie niiriitifjen bdeht 
wird, kommt etwas Lastendes, 
Trübes in den Kaum. Die riesigen 
Dimensionen nach Hohe und Breite 
wirken mehr erkilltend als er- 
hellend. Wohl müs.sen wir die tech- 
nische Meisterschaft bewundern, 
die diese OewMhe auf aolch dOnne 
Pfeiler an stellen wagte; aber daa 
Höchste, was uns allein volle 
Hefriedigung gewähren kann, die 
künstlerische Harmonie der Ver- 
hiltniaae ist nicht erreicht. Das 
war es gerade, was dem Anna- 
berger Hau den Stempel der Vol- 
lendung aufdrückte. Der warme 
Hauch vorwlrtsstreb|niden indivi- 
duellen Geistes, der uns dort um- 
wehte, ist liier verflo','en und imponierend in 
herb und kalt tritt die neue Zeit vor uns hin. 

Auch der 13aa, der gleichsam ein Kompendiom der obersftchsischen Dau- 
geiehiehte durch annihemd swei Jahrhunderte darsteOtt rausste die Einwirkung der 
neuen naupriniipton an sich erfahren: die Marienkirche eu Zwickau An oma* 
mentalem Reichtum, an Freiheit und Pracht der künstlerischen Durchführung im 
Einzelnen steht sie an erster Stelle, freilich trügt sie, fast ein Jahrhundert lang 




jrTTTTrrrn 

Abb. 4t*, Murienktrclic In Zwickau 



(Nach f^teche.) 

ihrer geschlossenen Grösse, aber 



*) Steche XH. 8. 80 ff. 



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— 74 — 



das Opfer von Terflndenuigen und Krgäii/uni^reQ, nicht den Charakter der Ein- 
heitlichkeit, wie etwa die Aimalierijcr Anlau'o. l'm so interessanter ist es zn 
heobachteu, wie durch die Mauuigialtigkeit der Gliederung doch eiü grosser Zug 
geht^ und die Wirkung, die der Bta, beemidne aitek in Minem Ansieren nodi heute 
■af den Beseliener muAbt, iteDl eieli dem HOduriMi m Um Seile, wae «nf dieeem 
Gebiet erzielt werden kann. — Nach mancherlei Versuchen — die Gründunc; geht 
bis ins 12. Jahrhundert zurück, im M. Jahrhundert fällt die schon weit fort- 
geschrittene Aulage einem Brande zum Opfer — entstand der Chor, wie er in der 
Hanpteaiclie noch jetzt dasteht, in den Jahren 1463—76; 1473 — 1806 wurde der 




Abb. 4». MntaUnbt la SwMwat <)win«baitt. (Naoh Btwbft) 



Turm, 1Ö05 — 17 der nördliche Choranbau errichtet, darauf das tiewölbe des Alittel- 
•chiffli erneuert, die endliche Yerhreiterung dee Sddffee durchgefllhrt u. s. f., bie 
im Jahre 1538 alle Teile des Baues vollendet waren. (Der Turm erhielt seine jetzige 
Gestalt mit dem Kenaissancelielm \iMl — 72). Als selbständiges Baumtrehilde legt 
sich der Halle noch eine fünfteilige Vorhalle vor, Oberragt von dem Turm: eine 
KolUsion dee Hauptraumes mit dem Turm, wie wir sie in Anndberg und Pirna ge- 
fanden haben, ist slso Tennieden, das alte romanische, besonders in Westlden 
heimische Prinzip, Turm und Terhalle zn vereinigen, herfibergenommen. Dadurch 
schuf sich der Haumeister einen gleichmftssigen Raum fttr das Langschiff und zwar 
mnsste er ihn dem schon vorhandenen Chor anpassen: eine Aufgabe, deren Lösung 
ihm ^UeamaA gelnngen ist Er setste die Bdhe &m Pfeiler mit nur gans geringer 
Abweichung gerade fort, schob die Seitenwinde so weit nach aussen, dass drei fast 
ploichbrcitc Schiffe entstanden, und errichtete in dem Winkel, der von der Haupt- 
Beitenwand und der geraden Ostwand gebildet wurde, den Treppenturm. Die Ver- 
mittlung zwischen der Haupthalle, dem wuchtigen nördlichen Emporenbau und dem 
Chor ist damit hergestellt, frdlich dadnrdi, dass einem sonst nnr praktisch wert- 
vollen Teil in dem Bild des Oaasea ein Rang eingertnmt wurde, der ihm wenig m- 



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— 75 — 



kam. Der Charakter des 
Chores als selbständiger, 
ja wichtigster Teil der 
ganzen Anlage tritt deut- 
licher hervor als bei allen 
anderen bis jetzt betrach- 
teten Beispielen. Ob die 
schrftge Kichtung der süd- 
lichen Chorwand im Sinne 
einer bestimmten kflnst- 
lerischen Wirkung beab- 
sichtigt war, ißt schwer zu 
sagen, jedenfalls kommt 
sie der perspektivischen 
Erscheinung entgegen und 
bereitet auf den polygo- 
nalen Iluuptabschluss vor. 
Dieser ist, da das Mittel- 
schiff unbedingt dominiert, 
in der Weise angeordnet, 
dass dies in drei Seiten 
geschlossen ist, die Seiten- 
wand der Nebenschiffe 
aber nur durch eine 
Schrilgwand mit den Sei- 
tcnstrebeu des Mittelteils 
verbunden sind. Das Ganze 

erscheint etwa als der dritte Teil eines Fünfzehnecks, jedenfalls als fünf Seiten 
eines Polygons, dessen Mittelpunkt beinahe mit dem den ganzen Chores zu- 
sammcnfüllt: die Idee einer centralen Komposition dieser Partie liegt also nicht 
fem. Die Anlage eines Querschiffs ist natürlich bei einer derartigen Kaumkom- 
position uimiüglich: und trotzdem sind es zwei Momente, die wenigstens für einen 
.\ngenblick einmal die Vorstellung erwecken können, als sei ein solches vorhanden 
oder doch mit dieser Schöpfung nicht ganz unvereiidiar. Heim Heraustreten aus 
dem Schiff in das erste Joch des Chores hat man unwillkürlich den Eindruck, als 
ob dieses, das ja auch faktisch beträchtlich breiter ist als das letzte Joch des 
Mittelschiffs, die Vierung sei, besonders da die Seitenschiffe ja hier nur halb so 
breit sind, das Mittelschiff also bei den veränderten Massen unbedingt an Breiten- 
wirkung gewinnt. Und hat man sich erst einmal dieser Täuschung hingegeben, er- 
scheint die obere Partie des nördlichen Choranbaues wie ein neues, fünftes Schiff, 
da man natürlich im Geiste auf der andern Seite dasselbe Gebilde suppliert; und 
die Vorstellung liegt nicht fern, getragen von der Betrachtung des sich ausweitenden 
Mittelraumes, zwei vorspringende Flügel Itildeten hier die Trennung zwischen Schiff 
und Chor. Wie in Annaberg ist der untere Teil des (vermeintlichen) Seitenraumeg 
durch die Sakristei eingenommen und die Erinnerung an die Annaberger Anlage lässt 
natürlich auch die ganze Illusion leichter ins Leben treten. 




Abb. 50. Alarieakircbe in Xwickan. 



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— 76 — 



Der Reiz der Räumt isdieinung im Grossen liegt in der Weise, wie die Gegen- 
sätze der architektonischen Teile im malerischen Sinne behandelt sind. Am wirkungs- 
vollsten ist hier die nordöstliche Turtie, wo die doppeltgeschlongene Wendeltreppe die 
beiden uogleieh hohen Emporen verbindet^ and frei an der Wand bis zor Deelen empor* 
steigt. Die Idee dieser Doppeltreppe ist aus der Profaoarchitelttar genommen, wo ne 
»Is e!f,'eiK'r Hau diuiuils ;ius der Gesamtaulage herauszutreten begann: am ^rhlo^s zu 
Meissen bat sie ihre idealste Gestalt erhalten, die Renaiasauce hat ihr später auch eine 
«nagedehntn Venreiidung gebradit So verleiht aie andi hier dem Bau den Charalcter 
dea Wdtlich«!, Feetiaalhaften, lAst dabei aber praktisch ihre Aufgabe vortrainich 
ond erweckte jedenfalls als ein Meisterwerk sinnreicher Konstruktion in jener Zeit 
die grösste liewunderung. Die wuchtigen Formen der Ineiten Empore am Chor 
stehen in wirkuugsvoUew Gegensatz zu den schlanken Tfcilem, die reichgeschnitzte 
Balnatrade acblieaat die masaive, mgegliederte Wand charaltteristiaeh ab. Die 
Bildung malerischer Gra[ip*^"> unterstQzt durch eine Fülle von Altären, HUdem 
und Sknlptnren ;in Wand und Pfeilern, und reizvoller Dureliblir! " in verschieden- 
artiger Heleuchtung ist dem KQnstler als die letzte Aufgabe seines Schaffens er- 
schienen. Die gaiue Banmblldaug gebt ina Breite; besondere der Chor in seiner 
etwaa nnalchem Weite mit dem machtigen Fenster in der Oatwand, wo daa Lieht 
in Strömen hereinflutet, verkörpert diese Idee, dazu die niedrig, fast als Tonnen- 
gewölbe gespannte Decke mit dem Hippennetz, das sich frei über die ganze Fläche 
ausdehnt, ohne durch Retonung der Gurt- oder Scheidbögen eine bestimmte Rich- 
tvng fan Zug des Ganzen anflcorainen zv lassen. WoU empfinden wir llberall den 
I'ulsschlag eines starken eigenen Lebens, aber es ^clnringt sich idcht empor zu den 
Hoben des Lichts, sondern beharrt fest auf dem Hoden, der es ernährt und dehnt 
sich behaglich breit darauf aus, unbekümmert um das, was ausser ihm vorgebt. Die 
Rehce eines stillen, hitinmi Dai^na finden gastliche Stttte, aber alles Idamnert sidi 
feat an dm wirklichen Kern an, nichts wagt sich aua dem fest unschloaBenen Banm 
herau.s. Dem steht nulit ont?egen, dass die .äussere Erscheinung des Hiuies an 
lielievolirm Kcichtuni und Zierlichkeit alles übertrifft, was das I,and sonst iihnliclies 
hervorgebracht bat. Die liurger der begüterten Stadt schufeu aus ihrem Gottes- 
haus ein Schmnckktstchen lel»endiger and pztchtiger Dekoration. Der Ban sollte 
ein Kleid tragen, das dem wohlhabenden Charakter seiner Schöpfer entspracli : innen 
wolinten Gntfesfun'bt und Glaubenatreue, aussen der bewusste Stolz auf ver<liente8 
Glück und die Freude an der sinnlich schönen Erscheinung. Tektonisch erhielten 
die Verblndnng zwiachen den beiden Sph&ren und den Zusammenhalt der Form 
die Strebepfdler: innen tragen sie die Emporen, ansaoi atatzten aie die Wölbung 
des Daches, i'iakti.^ch und iiHtbetisch ging von ihrem Werte auch niebt der 
kleinste Teil verloren. Und doch vermögen auch sie des Zuiyes zum Horizontalen, 
der durch die ganze äussere Gliederung gebt, nicht Uerr zu werden. So bildet 
sieh der Bau im Geiste einer klaren, in sich selbst beharrenden Ideenwelt; die 
Körperlichkeit der Masse ordnet sich willig dem anfassbaren G^er, dem 
Baume, unter. 

Wie sich die Ligeuart der künstlerischen Theorie zur verständnislosen Ab- 
snrditflt auswachs, sobald der erste stürmische Anprall des praktischen Lebens, des 
Kavqtfos um die p4««önliche Existenz in die gleidnuflssigen Balmen einer gesieherten 
Kaltnrentwieklang gelenkt war, verfolgen wir adiliesslieh an der Ibnptkirdie einer 



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— 77 — 



letzten jener Neuijründungen, der Marienkirche zu Marienberg.^) Schon im Zeit- 
alter der reiferen Renaissance 1558 gegründet, entstand sie, nach der Erzählung des 
Chronisten, nachdem man vorher an der Pirnaer Stadtkirchc die Anlage studiert 
hatte, als dreischiffige Hallenkirche mit Pfeilern und Decke von Holz, die erst im 
17. Jahrhundert durch steinerne Säulen und ein steinernes Gewölbe ersetzt wurden. 
Was uns hier beschäftigt, ist vor allem die Bildung des Chores. Im Gegensatz zu 
der Zwickauer Anlage, die 
auf die Gliederung des 
mittleren Teiles das Ge- 
wicht legt, ist hier die 
gerade Ostwand im Mit- 
telschilf beibehalten, und 
nur die Seitenschiffe en- 
digen in zwei Seiten des 
Achtecks. Die Vereinheit- 
lichung des Raumes durcli 
möglichst einfache (ilie- 
derung und gradlinige Re- 
grenzung ist damit auf 
die Snitze getrieben, die 
Erinnerung an die poly- 
gonale Gestalt der Chor- 
partie regt sich nur noch 
in der Behandlung der 
Seitenschiffe. Die Ostwand 
ist der Westwand jetzt 
fast adäquat geworden, 
der Altar projiziert sich 
in seiner ganzen Breite 
auf die einfache Fläche. 
Eine Empore zieht sich um 
den ganzen Bau, aber sie 

ruht nicht auf den Nebenpfeilem. soiideni auf schmalen, mit Halbsäulen versehenen 
Pfeilern, die mehr als ein Drittel der Seitenschiffe einnehmen, und kaum anjie- 
deuteten Wandkonsolen. Den Winkel, den der Polygonschluss der Seitenschiffe bildet, 
durchquert sie, so dass hier die Nordost- und Sü<lostecke einfach abgeschrägt er- 
scheinen. Im Chor wird sie zu einem massiven Einbau, ohne Öffnung nach dem 
Innern, der an der Ostseite, direkt hinter dem Altar, die Sakristei einschliesst- 
eine neue, praktisch htichst beachten-swerte Verwendung des Raumes. Indem das 
ganze erste Westjoch durch die Orgelempore eingenommen wird, erhält die Halle, 
an sich schon ausserordentlich schwer in den Formen, etwa.s ausnehmend Wuchtiges, 
Gedrungenes. Die dicken toskanischen Säulen, die niedrig gewölbte, rippenlose 
Decke, alles trägt zu dieser Wirkung mit bei. Von der Betonung einer bestimmten 
Axe, der Steigerung nach den massgebenden Teilen hin oder der Präzisierung ge- 




Abb. 51. Marienkircbe iu Marieubertf. 



«) Steche V. S. 15 ff. 



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— 78 — 



wiBBCr Effekte ilurch piscnartiue neleiulitungsweisen kann nicht mehr die Rede sein. 
Eine niit htenie. unharinlierzii;*' Helle dnrphdniifjt alle Teile; matte Farben, hellblau 
und gelb, bedecken Pleiier, Wand und Gewölbe. Wohl kann man sich vorstellen, 
das« der Gläubig« hier Im logisch-itrengeii ErfasMO dei gOttUdieii Wortes Be- 
friedigung findet, aber zu verzelirender, alles Irdische vergessender Andacht ist kein 
Plätzchen inrhr In Der Keni ist verloren gegangen, nm den sich die Gotik 
scbliessen konnte, und so ist von der Form nichts mehr Übrig gehlieben als eia 
ZenrhUd, das kaum noch dea Namen , Gotik" verdient. 

Bei all«! Kirchen, die wir his jetst keimen gelernt haben, konnten vir den 
bürgerlichen Cliarnkter ihrer Erbauer auch in der architektonischen Komposition 
deutlich wiederhnden. Däi«s auch die Klöster sieh der herrschenden Strömung nicht 
entziehen konnten, beweist die Schlosskirche in Chemnitei). UrsprQDglicb eine 
romamsebe Anlage mit Qnersehiff, (Aorapsia und swei begleitenden Apddiolen an 
den Qnerschiffai-men, wurde sie in jener Zeit völlig umgebaut; der ("hör erhielt 1499 
seinen jetzitren polygonalen Al^schluss, und an das Querschiff wurde seit 1514 eine 
dreischitlige üalle angefügt. Ikuherren waren die Mönche des Ueuediktinerklosters, 
das auf der Anhöhe Uber dem See lag; der Hauptleiter and Förderer des Baues 
war der Abt Hilarius CartMatarina. Der Umsdiwnng in den politis^en Veihftlt- 
nissen t\bcrho!te die Vollendung der Kirche: schon 1511 wurde das Kloster vom 
Tlerzou Heinrii li dem Frommen auferehol>en. und sein Haupt, der Abt Hilarius, ver- 
sagte sieb dem neuen Glauben nicht; er starb als Protestant 1557. Der üao, mit 
dem sein Name verbunden ist, seUiesat sieh in der Gestaltong des Baumes der 
grossen erzgebirgisdien Gruppe an; die Empore war ursprünglich nur an der Nord- 
seite und breit ausladend als Trftger der Orgel an der Wcstwaud errichtet. Dort 
ruht sie auf schmalen Stützen, die fast bis zur halben Höhe des SchiAes hinauf- 
fuhren und Bit den taasen» Strebepfeilern korrespondieren; ihre Breite beträgt 
riemlich die HMfte der Seitenschiffe. Daa Mittdacbiff hat die Breite des Chores; 
di-^ < »uerschiffarme. jet?t ebenfalls durch Emporen eingenommen, springen in Seiten- 
Bchirt breite aussen vor. Der Chor ist in fflnf Seiten des Achtecks geschlossen: 
»Ue Decke überzieht ein verwirrend reiches Kippensystem. Die IJnien der kon- 
struktiven Gliederung sind glnzKch vemachlissigt, hi runden Schleifen und ver- 
wickelten Durchschneidungen winden sich die Rippen durcheinander. Ea kommt 
nicht mehr darauf an, den Schwung der Wölbung im pj'nzelnen festzuhalten, sondern 
als dekoratives PruuiistUck tritt die Decke auf, und bis zur blossen Bemalung der 
FJAcbe mit allwJd Banke&werk ist nur noch ein Schritt. Gerade auf diesem Ge- 
biete schafft die deutsche Renaiasattee mit ilirem Bandwerfc, ihrer ausgebildeten 
Flachennrnamentik dann nichts eisenilirli Neues, sondern löst nur in ihrem Geiste ab, 
was liir schon aut lialliein Wege entgegen gekommen war. Die Sehlosiskirche ?u 
Chemniie vereinigt die scldanke ChoronUge und das (^erschiff romanischen ür- 
spmngs mit der Halle einer Zdt, die sich schon mit dw Rmaissanee berohrte. 
Der seltsame Kompromiss hat zu nicht unerfrenhchen Hesultaten geführt: die Klar- 
heit der Gliederung spricht sich auch in dem Aiissenbau aus, der schmale Chor löst 
die breite Halle wolüthuend ab, der Zug in der Tiefe, dem Hauptaltar entgegen, 
dringt in die Weit« des Schiffes ob. Was die letzten Vertreter mönchischer Wohl- 



0 Steebe m S. 10 iL 



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m i l t l f i i t I i c; L- 

Abb. 52. Jobaimitkircfao in PlkoeD. (Nach Stecht.) 



babenheit schufen, hat sich der Protestantisnms ohne Muhe zu eigen gemacht, und 
mit derselben Freiheit lebt er sich in dieser Uehausung aus wie einst PfaiTendevotiou 
und Ueiligenkult. 

Gleichfalls auf den Resten einer romanischen Anlage erhebt sich die Stadt- 
kirche St. Jakob in Chemnite,^) doch ist hier kein wesentlicher Teil aus jener 
Bauperiode in dem heutigen Hilde mehr erhalten. Der Chor erhielt in den Jahren 
138!» und 1395 seine jetzige Gestalt: dreischiffig, die Seitenjoche quadratisch, das 
Mitteljoch zweimal so breit, zeigt er den üblichen Abschluss in drei Seiten des 
Achtecks; der Umgang der Seitenschiffe setzt sich aus sieben Seiten des Sechszehnecks 
zusammen. Die Entstehung des Ilauptbaues fällt in das Ende des 15. Jahrhunderts, 
die dreischiffige Halle ist schon ganz im Sinne der späteren grossen Kirchenbauten 
des Erzgebirges als l'redigtraum nnt schlanken Pfeilern, denen hier auch die kon- 
kave Einziehung fehlt, und scbwerruhenden Gewölben durchgeführt. In eigentüm- 

•) Steche VIT. S. 26 ff. 




— 80 — 



Ueher Reminiszenz an ein romanisches Motiv werden die Nebenschiffe nach Osten 
in einem PolvRon abgeschlossen. Die ivuchtifje Mauermasse, die so am Eingang 
des Chores entsteht, lässt die Verbindung dieses ieUes mit der Ilulie zu einem 
einheitliclieo Raum schwer «afkonimeii. Freflieh bot der Gior Renm geong, um 
oOtigMifiKlls allein za PrediKtzwecken verwendet zu werden. Stillose hölzerne Em- 
poren entstellen jetzt das Schiff und nehmen soviel Licht weg, dass (Iber die Wirkung 
des Raumes als solchen sich nur schwer ein Urteil fäUeu läut. Jedoch ist ein band- 
werkanAsaiger, nachtemer Zug anTerkennbar, der ridi s. B. Ja den kflDStleriich 




unertrUglichen gradseitigcn i'feilern, in dem dUrttigen Masswerk der Fenster, in den 
aiMMrordeiitlidi InreiteD, melur lastenden eis tragenden OewOlhrippen aosspricht. 
Das Motiv der Hallenkirehe, bei konstleriaelier Bebandlung ao froditbar an leben- 
digen Schthiheiton, ist hier in der Hand eines praktischen ISaumeisters nur in seinen 
unliebcnswuriliueii Seiten in die Erscheinung getreten: als iiaumgebilde immernoch 
imponierend, als Ciutleshaus nichtssagend, fast verfehlt. 

Wie die Enteren sich sogar einer Anlage bemichligen konnten, in der das 
Sddff deutlich vom Chor irt trennt war, stigt die Jakobskirche in ölsnÜtJ) Höchst 
^ interessant ist hier auch die Komposition des Raumes selbst, die im Anschloss 
an die beiden schon vorhandenen TQzme im Jahre 14öä vor sich ging. Man 
legte damals den Chor nundttdhar Ostlieh vor die TOmie, md fligte ait leiser 
fiiegang der Axe im Westen eine nnregebnässig sweisehiffige Hanpthalle an. So 
entstand, da man die nördliche und südliche I!e£n*eiizungsmauer der Türme nur 
eine kleine Strecke weiterführte, westlich au den Tünnen ein QuerschitT. Der 
Raum zwischen den Türmen konnte als schmälere i'ortsetzung des Hauptschiäes 
ersdiefaien. Im Jahre 1619 worden simtlidie inneren ümfassangm mit Ansnshme 



>) Steche X. & IS ff. 



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Abb. H. Jubttuniitklrcbe ia Plauen, 



des Querschiffs mit Kmporeu versehen. Die Pfeiler, auf denen sie ruhen, sind zum 
Teil bis zur Hanptwölbunf? fortRefülirt und vertreten hier die Stelle der Gewölbe- 
pfeiler, während sie zugleich im Chor und im südlichen Seitenschiff ihre Widerlager 
an den Innenseiten der Umfassungsmauern rinden und also auch als nach innen ge- 
zogene, durchbrochene Strebepfeiler erscheinen können. Diese merkwürdige Ver- 
wendung eines Haugliedes im zwiefachen Sinne hat formal keinen weiteren Ausgleich 
erfahren; die Pfeiler sind einfach achtseitig, die Verbindung mit der Wand geschieht 
höchst ungezwungen durch Umbiegen der drei inneren Seiten des Achtecks im liund- 
bogen nach der Mauer zu. Die Unregelmässigkeit der ganzen Anlage begünstigt 
das Auftreten der mannigfachsten perspektivischen Wirkungen, Überschneidungen 
und Durchblicke. An Stelle der grosswirkenden Erscheinung eines einheitlichen 
Raumes ist eine mehr gruppierende Hehandlungsweise der architektonischen Gebilde 
getreten. Die klassische Kreuzform mit Querschiff und selbstündigem Chor tritt in 
einer Ver/.emmu' auf, die nur in auffiUligen Schwierigkeiten des Haugrundes eine 
entschuldigende Erklärung tinden kann, und auch die neue Verwertung der Em]>oren- 
pfeiler ist mehr praktisch betleutsam als künstlerisch richtig. 

Der Kleister, dem um die Milte des 15. Jahrhunderts der Wiederanfliau der 
von den Ilussiten li:»0 zerstörten Johanniskirche su Plauen^) übertragen wurde, 
fand eine ganz übnliche Aufgabe vor wie sein Ülsnitzer Geuosse. Von dem älteren, 



') Steche XI. S. 52 ff. 

Haenel, S|>tttgotik. 



— 82 — 



romanischen Bau standen noch zwei Türme: an diese haute er östlich eine drei- 
schifi'ige Halle von drei Jochen an, einen last quadratischen Itauni, dem sich ganz im 
Geiste der m grossen, einlacbDu VerliiiltoisBeu eotwoirreueu Komposition in der Breite 
des IfittdBcIliffs ein reditwinUig gesdiloMflner Ckor aafOgte. Du Becbteek diesM 
GlMrei entspricht in seinen Verhältnissen von Länge and lireite fast genau dtt 
jH'ossen Halle. ]\Ieiues Wissens tritt die Idee, den Chor in seinen Verhältnissen 
als eine verkleinerte Wiederholoog der Halle, des Haoptschiffes zu gestalten, hier 
fui «ntemiil nf. Die Of^bdkt 'Wirkang dieser Sehdpfung ist jetst jMA mclir 
feitraeteUeo, da das Sekiff der Kirche dofeh zwei neuerdings angeseMe Qneraekiff- 
flflRel erweitert ist: sicher ist aber das Bestrehen des Meisters, dnrch perade Linien 
und hamionisch (inrrhpebildete Verhältnisse eine künstlerische Wirkung zu erzielen 
und wir können iliu m dieser Beziehung dem Meiater des i|^später zu besprechenden) 
Frefberger Doms m dk» Seite stellen. Konnten wir nit Siekerkeit ennnkwten, daas 
anck die Ausfnhrun<^ der Emporen schon sein Werk ist, so mUsstea wir seinen 
Namen unter den obersüchsischen Architekten ndt an erster Stelle nennen. Es ist 
jedoch nicht unmöglich, dass die Emporen bei einer grossen Kmeaerung des ganzen 
Bnea, nadi eineia aweiten Braide im Jakre 1648 «ingefogt werden sind. Sie 
sckBesesa afadi in itnr Konstralttlon denen an» i&a wir aa den KirelMin Ten Jjmm- 
berg, Zwickau u. a. kennen gelernt haben, ntir geschieht die Verbindung der einzelnen 
Eniporenjoche durch OlfnuncrPTi in den PtVileni wie im Chor der Kirche zu Sehnte- 
berg, und nicht durch \'<}rbeiluiinuig dan Luiguuges au der Vorderseite der Pfeiler. 
Wenn aick andi in diesem Bau Schiff und Chor noch vOlüg als iwei sdbstladige 
Faktoren ge$?enflber8tehen, erhebt ihn doch die Klarheit des Orundrisaea, die Seiita- 
lieit der Verhältnisse und die Sicherheit in der Gestaltung der Emporen zu einem 
beachtenswerten einheitlichen Kunstwerk, und damit steht er in entschiedenem Gegen- 
aats SB der (Ksaitser Kireke. Wae ein fteies Verwerten einee ehrwürdigen Sehemaa, 
eki TenUtndniavollea Hineiaaiehett neuer Formen, doiri eki kuntea Aafkftnlen dar ver- 
schiedenartigsten Glieder, ein hastiges Stichen nach Zusammenhalt und haltloses 
ÜT>ertreiben ohne wirklich schupt'erische Kraft, (ieraiie diese beiden Bauwerke können 
am lehren, wie aul dem Bodeu dei-selbea stilistische Vorkenntnisse, vielleicht des- 
adhen kflnstleriseken Strekens, das Ziel, das Emiektei so Tersekieden weit von dem 
Ansgangspunkte. dem Gewollten, entfernt liegen kann. 

Die letzten Konsequenzen ans der fortschreitenden Entwicklung der Hallen- 
kirche mit organisch eingefOgter Kmporeoanlage zog der Meister des Baues, der 
in der Residens des Fürsten gelegen, wokl am leicktesten von fremden Etnttdssen 
Dil hfttte berArt werden können: des Demes jm .FVeitery.i) Als Roleber kUte 
er wohl an entscheidender Stelle in dieser Betrachtung mit erwilhnt werden mflssen; 
da mir aber die Stellung det^ Chorcs in der Entwicklung der spätgotischen Archi- 
tektur als einer Kaumkuust hier wichtiger zu sein bcheiiit als die Entstehung 
der Emporen, die siek dock wesentlich anf praktiseke GrOnde zoraekfttkren lässt, 
so SCkliSMe idi ihn erst hier den grossen Denkmälern jener Zeit an. Ton der 
grossen Vergangenheit dieser Kirche gieht uns das erhabenste fteivpiel romanischer 
Plastik, die goldene Pforte, Kunde; der Bau, wie er uns hier beschäftigt und wie er 
kente sich daistdlt, entstand naek einem grossen Brande vom Jakre 1484 and worde 



*) Steche III. 8. 14 V. 



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~ 84 — 



1501 vollendet. Der Chor ist als (Oigtnw Raum von dem Schiff abgetrennt und «Ii 
Grabkapelle der sikliHisohi'n Fürsten au8gestatt('t : der Triiimiililffisen ist von den 
Emporen zum Teil verdeckt, die leere Öffnong wird durch ein grosses Gitter abge- 
•düoaa«!!. Die dni Sdiiffe der Ealle sind fast gldeli breit, die Pfefler zeigen den 
ttblichen Dvrclisclimtt dea Aditedta mit kenkaTen Seften. Sie lind aoBBerordentUch 
schlank gebiWot und tragen die zierlichen Netzcewülbc. T)io Kippen sitzen an der 
den Seitenschiffen zticrckehrtpn Seite der Pfeiler liefer an als im Mittelschiff, ob- 
wohl die Hübe aller drei Schiffe dieselbe ist. Die Strebepfeiler sind fast ihrer 
gauen Hohe nach ins Innere gezogen und tragen Emporen, die sich in drei Seilen 
des Achtecks Ji ilesmal um die fOrspringenden Tunkte herumwinden; sie öffnen sich 
unten in halbrunden Arkaden gegen die Seitenschiffe. So zieht sich diese Gallerte 
um den ganzen Raum herum, au der Westseite nimmt sie einen mehr barocken 
Charakter an vod schwingt sich in drei konkaveii Bögen gegen das Jameete vor, 
während sie sonst hi gleicher Linie mit der Endigung dw Strehepfeiler bleibt. Zum 
erstonmale und damit schon in der vollendetston Weise ist die konstruktive Be- 
rfcliti,<;imL' ilor Fmporfn tiiul ihr innerer /usaTini'Pi'liani; mit dem Baiikörper 
glaubwürdig in die ErscheinunK getreten. Freilich küimnt der Wegfall des Chores 
hier dm ganzen Anbge entgegen, und doch ist dieses Motiv vorbildlieh geworden 
üBr einen ganzen Kreis grösserer Hauten des lindes. Nirgends auch findet sich 
die Bedeutung des Iiatimrs als Preditrtkirchf' dnrch die Stellung der Kanzel so Idar 
ausgedruckt wie hier: die südliche Seite ist, wie gewöhnlich, beibehalten und der 
ndt^ste PfeDer gewlhlt. Damit ist die Omndidee der centralSsierenden Bam- 
geataltang mit den Erfordernissen des ^akUsehea Gebranebs in Emklang gebracht 
Ein Saal, von vier ffi iailen Wanden umschlossen und mit Hilfe konstruktiv not- 
wendiger Glieder in . drei gleichbreite Hallen zerlegt; eine Galerie, die das ganze 
Innere umläuft und damit eine ideale Uorizontaltiilchc schafft, die wiederum sich 
fut genau in der Mitte zwischen dem Boden nnd der Hfthe des GewOllies ans* 
spannt, das notwendigste Moment der l ealen Zweck«lienlichkeit dem mathematischen 
Ontnnn soweit als möglich riiihe u'elinielit ; konnte dafs Ideu! 'ies Centralbaus in 
den Formen ererbter gotischer Kunst deutlicher lebendig gemacht, konnte das, was 
die Arddtektnr der italienischen Renaissaace als ihr höchstes XkA, ihre wertvollite 
Emingenschaft ansah, in greifbarerer Gestalt dem kanstterischmi En^finden deutscher 
Meister abeernncrpti werden? Die reine Harmonie der Yerhnlfni<sp ist zahlenmässig 
schwerer nac bzuweisen, als sie im unmittelbaren personlichen Erlassen vom Be- 
schauer empfunden wird. Die lichte Länge des Raumes beträgt fast genau das 
Dopiielte der lichten Höhe, 40,00 m : 20,17 m; zidhen wir von der Breite 22,64 m 
noch das ab, was echon optisch dnrch das Vortreten der Pfeiler nnd Emporen an 
lichtem Raum verloren geht, so kommen wir auf das Verhältnis: Länge: Breite: 
Höbe = 2 : 1 : 1. Die Kanzel am dritten südlichen Pfeiler scheidet zwei fast quadratische 
R&nme, deren jeder wieder dnreh die nenn Kompartimente die Einheit in der Tidhett 
in sieh trSgl. Ob der unbekannte Mdster seine Bekemehnng der tekt(nnsehen 
Masse und ihre Verwertung zn einheitlieher Ranrntrestalttniu' an den Meisterwerken 
ifalicnifcher Arrliitt'kfen studiert hat, muss n.iturlirli dabiti;ieRtellt bleiben. Die 
Sicherheit der Komposition in der Beschränkung und Erweiterung der drei Dituen- 
sionoi des Ranmes iat am ao mehr an bewnndem, als £e Reste der alten romanisdien 
Anlage die Brdte des neuen Baues vorschrieben. Es wOre interessant gewesen, zu 



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Alili. 56. Ituin XU Krvibvrg. 



sehen wie ein Künstler, der so selbstümlig in «las architektonische Schaffen jener 
Zeit eingiiff- siel» mit dem l*robIcn» der L'horgestaltung auseinander gesetzt hätte. 
Denn auch hier war eine Aufgahe gestellt, deren Litsung mit den Mitteln einer be- 
wussten Verhilltiiiskunst die gesamte Entwicklung noch einmal in reinere Hahnen 
hätte leiten kimnen. Was im 13. .lahrhundert im (.'hör des Kölner Domes, im 
14. Jahrhundert in der Wiesenkirche zu Soest zur wunderbarsten Verkörperung kam: 
die Gliederung der Massen im Dienste einer hannonischen Raumsi hi^pfung, hat sich 
im 15. .lahrhundert an der Freiherger Donikirche noch einmal zu lebendiger Gestalt 
verwirklicht. Allein auf die Gesetze dieser fundamentalen Auffassung gestützt, 
konnte die Architektur von dem lioden eines nationalen Geisteslebens aus durch 
das Medium einer künstlerischen Individualität noch mit ihren SchwesterkQnsten 
Malerei und Plastik als Ausdruck eines universalen Kmptindungskreises in die 
Schranken treten. Die Zeit sollte es erweisen, ob das. was in Italien emporgekeimt 
war und Früchte trug, auch in Deutschland Wurzel schlagen und zu kraftvoller 
Entwicklung gedeihen konnte. 



Immer mehr hatte sich die Tendenz entwickelt, die allgemeine Hedeutung der 
Predigt zu betonen und so den Kirchenraum auch dadurch zu einem einheitlichen zu 
machen, dass man die Pfeiler möglichst beschränkte, .sie jedenfalls da. wo sie nicht 



« 




— 86 — 



zu vermeiden waren, so dünn als möglich Iiil«le!e niifl ihnen jeden Charakter selb- 
ständiger Stellang nahm. Die Kunst der Wölbung war verbreitet penug und die 
Virtuoüität der Technik oft so hoch gesteigert, dass die natürliche Aufgabe des 
SpitcbogeiiffewAlbes bald ganz bi Terg«m«didt Iniit. Die Spaimiingen wurdm immer 
weitor und flacher, die schlanken Stfltzen. die dQnnen Wände schienen den Dnek 
kaum aushalten zu können. So lag e? naho, endlich die inneren Pfeiler ganz weg- 
fallen zu lassen, und besonders bei kleinereu iiaaten die Wülbnog direkt von Wand 
m Wand m apenoen; gelang daa, konnte man auch wieder ni dem beliebtea du- 
sefaifilgen Chor snrackkehren, der sich nun in jeder Breite nnmittelbar an den Hanpt- 
räum ansrhliessen durfte. Dir Stclluni; «Irr Kinporcti war damit nach eine völlig 
andere geworden. Fungierten sie biä dahin wesentlich nur als Adnexe oder Kom- 
]}ai-timente der Seitenschiffe, so war jetzt ihre Dedeutong fOr den Kaum als Ganzes 
klargeatellt. Der Vertikaliamni, wie ihn die aeblanlcen Pfeiler noch auapraeheii« 
war endgtlltig tiberwunden. Die steten Überschneidungen der Pfeiler mit der in 
gleichmässiger Ebene sich hinziehenden Emporenbrfistung waren vermieden, die 
Horizontale, die in der Trufilicrung dei* einzelnen Olieder, in der onuunentalen Be- 
Idnug der FIKehen schon lange rieh geregt hatte» bdiielt den Sieg. Frei «ebweilbe 
der Bück von Wand in Wand und offen, nur eben durch den einen froieii Raum 
getrennt, lag vor df-ni Eintrctniden der Chor. Was von iUmu 1ia.<3ilikalen Scbenia 
in den mehrschittigen Kirchen sich noch regte, also vor allem die Disposition der 
Rftwne und die Rfkcksicht auf die reichere Erscheinung des Änaseren, war damit 
endgoUig ni Nichte gemacht. Die Eniteilang dee Liaeren Iconnte einÜMh im 
Äusseren keine andere Gestalt annehmen als es hier geschah. Das tektonische 
Gerüst des Itaues itlentitizierte sich mit seiner körperlichen Form. Ein Weiter- 
gehen der Eoti^tickiung auf diesem Gebiete war nicht mehr möglich. Nach eudloseu 
Ycrimmgen Ja das Bereich der plaatiachen Ansehaming war hier die Architektur 
wieder xn ihrem eigenen Schnffenaideal zurückgekehrt. Und waa diesen Schöpfungen 
erst ihren vollen Werf verlieh und ihnen 'ii^ ".irkliches Leben gab: sie erwuchsen 
iu festem Zusammenhalt mit den Fordei-uitgen volkstümlicher Kunstanschaunng. 
Xmr 9» k^en eie auch heute noch ganz verstanden, nur so können sie iu der 
Kette der grossen historischen Entwicklung als Frucht und Wurzel voll gewürdigt 
werden. 

Ali? zeitlich erstes Beispiel einer eiuschiffi?en Kirche kann die Kirche zu 
Oederan^) angesehen werden; ihre Entstehung fällt nach dem Brande der älteren vom 
Jahre 1467 wohl noch in das 15. Jahrhundert. Die HaUe besteht aus vier Jodien, 
deren Durchführung im Gewiilbe aber nie vollendet worden ist. Der Meister hatte 
seine Krriffe inbe/uü; auf die riterwölliuiii^ des breiten Raumes doch flbersehittzt; 
bis auf dea heutigen Tag wird der obere Abschluss von einer hökerucu Decke ge- 
bildet. Da der Chor hi die Ostwand einspringt, muasten die Emporen anf die Lii^- 
wlnde beschrtnkt blmben. Sie ruhen auf dem eiiH^ogenen kleineren Teil der Strebe- 
pfciler: die Wand über ihnen ist völlig urgeelieilert, da sou'ar der schmale Fortsatz 
der Pfeiler, wie er sunst die Verbindung init '"in An.satz der Hippen herstellt, hier 
fehlt. Iu den Ecken der Westwaud liegen me runden Emporentreppen; an den ent- 
sprechenden Stellen der Ostseite ist eine Sakristei und eine Seitöihalle angebaut. 

*) Steche VI. S. 7». 



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— 67 — 



Bei einer derartigen Vereinfachaiig des Grundrisses, Avie ^ie hier vor sich gegangen 
ist, blieb selbst fflr die Kanzel schwer ein passender Platz: sie steht jetzt an der 
uördlicbeu Ecke des ChoreiugaBges. Trotz der grossen Schlichtheit des ganzea 
Ranmw, dM Mangels fast jeder Zierform, kann man ihm dne miate, ja kilnsU 
lerisdie Wirkung nicht absporecben. Wohl mochten die Mittel, die dem Heiiter ftr 
diesen Hau znr Verfnpunpr ptandeii, die allergeriiipBten sein: er schaf, was man von 
ihm verlaugte, einen Itaum Idr Predigt und Gebet, und fand damit onbewusst für 
seine Aufgabe die nach den Geselsen der Stilentwickhug einzig mögliche LöRong. 

Nodi weiter geht der Meister, der im Jahre 1518 die PfanrUiehe ra 
Ruppertsgrün^) zu bauen bekam: er errichtete einen grossen Saal, aus dem sich 
der Chor in der Art, wie wir sie Ähnlich in Schneeberg nnd Marienbertj gefunden 
haben, im Polygou entwickelt, and zwar in drei Seiten des Achtecks. Ein Gewölbe 
ttberspannt SddiF und Choor, nnd aar ans teehnisehen OrOnden sind dicht an den 
Seitenwänden ziemlich in der Mitte von Ost und Wo.st /.wei freie achtseitige Pfeiler 
eingestellt. Nur durch sie hi-'I vvenj^fe Stufen wirtl iler Beginn des Chores markiert. 
Ibim Krapore, von Säulen luid Stichbögen getragen, unuieht den ganzen Raum, dicht 
unter ihr an dw Ostaeite erhebt sidh der Altar, die Kansel legt sich an den sud- 
Kehen Hanptpfciler an; nnr vier Fenster, nnregelmSssig verteilt, erheilen das Ganse. 
So weniir von einer einheitlichnn Beleuchtung die Rede sein kann, so weit ist die 
\ erschnit'lzung von Schiff und Chor gediehen: alle Heminiszenzen an erotischen 
Grundhss, gotisches Detail sind abgestreift, nur Gewölbe und die Strebepfeiler 
aussen lassen noch eilrennen, dass die gotische Technik selbst in diesem entlegenen 
Städtchen noch lebendig war. Und selbst diese sdieinbar nnentbehrlichsten tech- 
nischen Faktoren werden im Laufe der Zeit noch ahtreworfen. In der Kirche zu 
NiederplaniU^) — als l^rweiteraug eines Ibld entstandenen iiaues in den Jahren 
1565 bis 1687 anrichtet — erweist ^h nns der Hanptxaim ab «b volhtändig recht- 
eckiger Saal. Der Chor ist gtazildi verschwunden, die Kanzel befindet sich in der Mitte 
der Xordwnnd. eine in regelmässige Felder zerleste Decke schliesst nach oben ab. 
Die Urform architektonischer Sch^ipfunp, die cinladien vier Wan<!e mit leiser Be- 
tonung der Bewegungsoxe, steht vur uuh, und damit in der historischen Entwicklang 
gleiehaam ein indilliBrentes Glied, von vergangenen nnd kommenden Erschdnnngen 
gleich UlberUhrt. Denn auch vom Geist der Renaissance spricht in diesem Bau 
höchstens die Art (h r Plafondsestaltunsr. — Ist hier der Chor zu Gunsten einer 
gradlinig abgeschlossenen iiaupthallc schon völlig verschwunden, so dominiert er 
ebenso vQUig in einem Werke ans dem Beginn des 16. Jahrhnnderts, der 1518 in 
den GewftlbeB voUend^en Xirehe an Ztegelhämt) im Glandianer Xnlse. Das bei- 
nahe quadratische IlauptschitT besteht hier nur aus zwi .Tochen. wiVhrend der Chor 
deren drei autweist uml ausserdem uodi den Absrhluhs in drei Seiten des AchtecKs, 
Das Schiti hat seine iiuuptaxe direkt in die Richtung von Mord und SUii gestellt, 
allein der Chw hllt den Zng nach Osten noch lebendig. In einer Zeit entstanden, 
wo in der fast centralisierenden Yereinhcitliehung des Raumes und der Vermeidung 
jedes nachdrücklich eine bestimmte Uichtang in der £beue verfolgenden Teiles diM 



<) Steche XIL S. 5S. 
') Stscbe XIL S. 46 IT. 
•) Stedts XIIL 8. 49. 



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— 88 — 



Idenl des Gotteshauses angestrebt wurde, kann uns diese Anlncre wohl befremden: 
eif ziiqr. wie viel selbstJludif^e künstlerische Kräfte aucli unter den kleineren Bau- 
meistern jener Zeit lehten, und vie man es verstand, selbst iu bcecbeidenem Maes- 
Bteb dnreli weise Behemchimg der VerhUtniBse, hier durch die Eontrastwirkimv 
eines sclilaiikm Chores und kurzen Schiffes, dem alten Stamm gotischer Bau- 
kunst iKtch schmuckhafte Früchte ahznjrewinnen. Mit Avelcher Freiheit man anderer- 
seits das Grundschema einer symmetriscbeu Anlage zu verlassen wagte, sehen 
wir an der Kirche ni WaMaiAwrg: den einschiffigen, in drei Setten des Aehteeks 
geschlossenen Raom erweiterte man in der zweiten Hälfte des 16. Jahrimoderts 
durch ein südliches Seitenschiff, setzte an Stellt- der ehemaligen Südfront drf'i 
rfeiler nm\ trhielt dadurch eine zweischiffige Halle mit dui-chaus unregelmässiL'ti 
Grundtiuche, der nur der Parallelismus der Süd- und Xordwand noch einen festen 
Halt gab. 

In der Kirche zu Afitttceida^) verbindet sich eine ähnliche, wenn auch 
lautre nicht nnffallende UnivtrelniSssifirkeit des Grundrisses mit nnsHernrdcnt- 
lich weiter und selbständiger liehandinug des Chores. Die Art der architek- 
toidschen Durchfithning and der plastischen DehoratioD, vor allem aber die 
Steimnelzseichen weisen daraaf bin, dass der oder die hier thfttigen Meister anch 
noch an anderer Stelle BesehsfUgong gefinidea haben: an der Kuni^undenkirche 
«tt BochlUe.^) 

Der Chor, nach urkundlichen Zeugnissen 14^17 gegründet, steht architcktonibcii 
im ttigaten Zasammenhang mit dem 1476 Tollendeten Schiff. Dies erechdnt als ^e 
dreischiffige Halle, mehr breit wie lang, da der Pfetterabstand zwar grösser ist als 
die Hälfte der Breite des Mitfelscliifls. die Breite der Seitenschiffe aber die des 
Mitteischitls noch nicht einmal zur Ilülfte erreicht. Der Chor setzt das Mittelschiff 
fort nnd sehttesat, nach xwei Schmaljochen, in fnnf Seiten des Zdmecfcs (richtiger 
sieben Seiten eines aus der £lli])se entstandenen ZwOlfecks, da die letzten Abschnitte 
der Seitenwiinde den Seiten des eigentlichen Polygons entsjtrechen un<l aurli in das 
Stemgewölbe mit hincingenommen sind). Das Schiff' als solches vertritt den ceu- 
tralisicrenden Trieb, der das konsequent in einer Richtung, nilmlicb von West nach 
Ost entwiekdte gotiaehe Grundrisascfaema sa einem nach allen Seiten gldcfamissig 
von einem Mittelpunkte aus beherrschten Organismus mnbildete. Djp Seitensdiiffe, 
ihrer vermiTKk'rten I?reite nach als Adnexe des Mittelschiffs aus der basiiikalcii Idee 
entstanden, sind durch die gleiche Einwölbung in ihrer Selbständigkeit gewahrt ge- 
blieben. In der Umgrauang durch die Hanptaianem ist dnreh die SteDong der 
vier Pfeiler ein zweitw, innerster Raom geschaffen worden, der in seinen idealen 
%y;inik'n den grossen Linien der i-f-uleii Anspnnvftndp fnlirt. Die Massen strelirn 
nicht in lebendiger Bewegung einem lestgesetzten Ziele zu, sondern schliessen sich 
harmonisch zu einem räumlichen Ganzen zusammen. Kein Glied drängt sich vor, 
kein Xerv leitet eine innere ErsdiUttening sdbatthltig wdter; nur hiw und da ver- 
rät ein leises Ausladen des Bogeos, eine Schwellung des Gewölbes, daaa in dem 



>) StP.hc XIV. S. 22. 

•) Steche XIV. 8. 61 ff. Die hier von Steche vertretenen Ansichten werden durch 
den Anfsats von Pfi»: »Aniold von Westfalen «ad die Roehlitzer Kumi/undenkircht* im 
»Meaen Archiv flkr sicbsbcbe OescMcbte* 1896, 16. Band vollständig widerlegt. 



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Abb. 57. KuulguiMleiikirche tu Boclilil/. (Nacli Aitdrea«.) 



Bau noch Kraft und Lehen schlummert. Zu anilitchtiRcr, geduldig harrender Ruhe 
lad die weite Halle ein, zu frisclier, müheloser Itewegung leitet die Dffuung des 
licht durchfluteten Chores vorwärts. Durch diese (iegensiltze, die kurze, schwere 
Halle und den langen, leichten Chor, zu wirkungsvollem Ausdruck einer künst- 
lerischen Vorstellung zu gelangen, mag die Tendenz in dem Schaffen des Meisters 
gewesen sein. Die den religiösen Keformideen entsprechende Aufgahe, einen für die 
Predigt und ihrer Gemeinde geeigneten Raum zu konstruieren, verhindet sich mit 
der streng konservativen Anschauung von <lcr Bedeutung des Chores als der 
Stätte dos Altars und damit des Schauplatzes der hochheiligen gottesdienstlichen 
Handlungen. Aus diesem Kompromiss heraus bildet sich der Meister seinen Raum 
nach scUisterfundenen Gesetzen und die edelste Harmonie dringt wie unbowusst 
in die Materie ein. Was <Ien Raum zu einem selbstsicheren Ganzen macht, was 
die Hreitenausdehirnng des Schiffes ohne Hiirten mit der Tiefenerweiterung des 
Chores verbindet, ist die Eurvthmic der Massen, die Klarheil der inneren Gliederung, 
die malerische Verteilung von Licht und Schatten. Auch in der Art des Chor- 
abschlusses drücken sich diese Kigenschaften aus. Das Zchneck hält die wolil- 
thucnde Mitte zwischen dem Vierzehn- oder Sechszehneck, dessen viele Seiten den 



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AM. 58. KimiKundenkircbe in Bochliti. (Nach Sti-ehe.) 



rijcrliliik oi'Kchweren und in ihrer schmalen Höhe kleinlich wirken künuten. uml 
uiuem l'olygon von weuiger Seiten, wie dem Achteck, wo bei der weiten Spannung 
die einzelnen Fliehen leicht zu grosi aasfallen könnten, and danit eine evidente 
Stnnipflieit und Schwere in das Chorliild käme. Auch in den ornamentalen Gliedem 
lies Üaues, in der rmtiliorung der Kiiipen. der lüldunn des Masswerks u. a. 
waltet der Sinn für massvolle Grösse; nirgends sind die Grenzen plastischer Schön- 
heit fibencbritten, nirgends ist das strnktiv Glanbwttrdige zom virtuos Staunens- 
irarten vericebrt. 

Auch die ornamentale Verzierung dos Ganzen versilumte man nicht; der volle 
Apparat trotischer Dekorationsknnst in der liehenswtlrdifjen Verwildening der da- 
maligen Zeit musste herhalten, um dem Äusseren die Gestalt zu geben, die der 
Bedeutung des Innern entspraeb. 

Sollte es ein Zufall sein, dass der Grondriss der PefHUrcsl«,!) die in der> 

•) XIV. S. ö8. 



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i L 1 1 .1 1 L — \: n 

Mb, m. VtMklTClM hl XosMIIa. (Maab SImIm.) 

selben Stadt H7G vollendet wurde — der Gesaiutbau sogar erst 1499 — genau 
dieselbe Gestalt anfweist wie der der Kwtigumknkirchef Denn die TendUedenartige 
Behandltmg des Chorpolygons ist hier von untergeordneter Bedentnng. Es ist der- 
selbe Geist, der hier zu nns aprldit and der bis in die oniamentalen Einzelheiten 
hinein hier ein GetienstUck jenes ersten liaues gesihuffcii hat. Das Schiff iiiüiert 
sich denk Quudrat noch mehr als bei der Konigoudeukirche und im (Jhur kuuiieu 
«ir daa Festhalten dnes NormalroaBses sogtr genan nnchwdseo: die Seite des Acht- 
ecke im AbschluBS ist in den Seitenwinden gerade dreimal enthalten. Und noch 
einen dritten I!:iu piebt es, der ilersrlhf n unhitckfonischen Grun<lidee entsprnnjsen 
ist; die Kirclie in dem nahen ikdüMi) weist dasselbe Verhältnis zwischen Schiff 
ond Chor «if, wie die beiden RoefaUtanur ffirdien. Hier ist die ganze Anlage noeh 
xm einen Gnd mehr nach der BreitendimeoBion konatraiert; die Wftllrang des SchUfeat 

') XIV. S. 80. 



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dem dann wohl auch die vier inneren Pfeiler nii lit liiitleii tehlen künnen, ist nicht 
ausgeführt wurden. Weuu wii* uns eriuueni, tlas» die Kirclie zu ZUgelheim dieselben 
KompmlttonBireietx« aiifwtes und die« Schema utch weiter In den KirdieD von 
Niedergräfenhaini) und Frohhurrf,^) dem Schiff der Kirche zu Geäftai«*) und 
dem Chor <lcr Kirclie zu Wirhrrshain*) narhn-eiseii können, so müssen wir an- 
Dehmen, dass der Huhm der Kuclilit^^er Schale weit im liUnde verbreitet wurden ist. 

Und damit haben wir die grundlegenden Merkmale genonnen, die eine Scheidung 
der Werlte dieiee Ereieee von den erzgehiifiechen Bauten dnrchfilhreD leseen. In 
letzteren herrschte ein starker Zug nach orpanisclier Vcn inlieitlirlHuiLT des Itaumes, 
der Chor musste vor dem übermüchtitren Ausweifen der Halle weichen, er Machte 
sich immer mehr ab und war endlich nur nuch iu einem weitgespannten polygonalen 
Oitabechlnss des Schiffes sn erkennen. Die Empwen entwickelten eich mit deotUcher 
Aneprftgong dee' horizontalen Charakters und dranL'en sdbet bis in die Chorpartien 
vor. als nnniiftfdliarer Ausdruck eines relitriüsen rnischwnn??. der in der Klarlegang 
und Popolarisieruug aller kirchlichen Handlungen sein Ziel hat. Demzufolge konzen- 
triert eidi die kttnetlerieche Verkörperung dieser Ideeen im WesentUdien im Konen- 
ranm, die änsiere Anebildmig dee Gotteehansee wvd ni Gnnsten der inneren Dorch- 
bildung vernachlässigt. Gerade iu den neugeschaffenen Städten verkündete sieh der 
Stolz der mit dem junpen Reichtum prunkenden lüinrcr in märhtisen sakralen An- 
lagen, in riesigen Hallen und wuchtig gebauten TUrmen. In dem Gebiet, das die 
BochUtzer Scheie beherrschte, waren die Beste romanischer Anlagen nodi all^it- 
helben zu finden; die Grundmaueni eines die Tiefenaxe betonenden Gebäude» mussten 
fiusserlich wohl maiu iniial die Anhaltslinien zu dem neuen Kirchenhau bilden. T)as 
Verlangen nach Reformen auf religiösem, vorläufig wenigstens kultischem Gebiet 
erklang nicht so schroff nnd intensiT wie bei den Bewohnern des Gebirges. Dort 
drangen mit Hn» Sehaar von Ansiedkon, dw enf ^e Kunde von dem neuentdediten 
Keirhtuni hin von allen Seiton hnrbeieilten, die Ideeen der Zeit wohl nicht immer 
in ihrer rcin.sl^n l'orni, aber um .so lebensvoller und lireimender in das Land ein. 
Die bussiUschen Bewegungen wai-en noch nicht ganz erstickt. Der schwere Sinn 
der Söhne des rauhen Gebirges mochte wohl lange genng fest und zSh das Alt- 
hergebrachte bewahren, um dann, wenn die Kluft einmal Qberschritten war, mit 
derselben Ausdauer und denisellieu Trotz das Nene zuvertreten. T)ie rSewoIiiier des 
flacheren Landes, der santteren I haler blieben von den Strömungen des grossen trei- 
benden Lebens länger nnberdhrt. IVoM hatten auch rie erkannt, dasa die Pre^gt der 
wertToilste Bestaadtml des Gottesdienstes sein mOsse, aber noch lebte die Erinnerang 
an die Grösse klerikaler Macht und die geheimnisvoll unnahbare Stellung des .Mtar.'^. 
So könnt f als würilic.sle.s Gotteshatis ein Gelifmde ei-pcheinen . dass die schmalere, 
den .Vltar i^ulierende Gestalt des ( hores mit der weiten, als \ ersanunluugsraum 
der Gemmnde und Ort der Predigt gleich geeigneten Halle verband. Dae vaasn 
Bild des Eirchenranmes wirkte durch die Harmonie der Verhältnisse, durch die 
Oetrensatzp der Licht- nnd Schattein crtcilun«:. 'innli die vollendete Führung der 
Linieu im .^bschluss des Chores und die maäbvuUe Verwertung des ornamentalen 
Beirates. Dieamr gleicbmässig angenehm«!, zarteren Bebandlnngsweise bitte ebe 
Yemachllssigung des Äusseren widersprochen. Die Falk eigoiartigen plastischen 



») XV. 8. 80. ») XV. S. 25. ») XV. S. 3». *) XV. S. 114. 



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ScTinuirkes. c^pii die reife Gotik !.'e?piti|?t hat. verteilte sich nbrr flio Fläche and 
triil) dem Htiii siiion von weilerii das (ipprflirp heiterer Pracht. JJer gemeinsame Zng, 
den die liuateu des Erzgebirges wie die Werke der llocblitzer Schale aufweiaeu, 
Iftnt rieh Iran so zmammeiifameii: der reädie Uasabeh, d. l. hier fraazOsiseh« 
gotische Grundriss wird vereinfacht: die Ilöhenausdehnung zu Gunsten einer enei^ 
gischeren. in (Üp Breite gebenden Kaumgestaltung beschränkt: diirtli Yerhrt-itTinff 
der SeiteDsclüffe werden die tragenden Pf^er isoliert, durch \ ergrüsseruug des 
K«9enb»taiiii«t au der prozeniaDnrtigen Aythndacfaen Folge losgeliM; und m snr 
stmktiv wertvoUen Tzttgeni umgeformt. Sie monoinentale Dnrchbttdmig dei koulmk» 
tivcn Appnrates weicht riner ntisirleichendpn liehaiidhnig der trafrenden iind ge- 
tragenen, der aktiv notwei)dii.'en und der nur Killenden Glieder. Die Ausgestaltung 
des Äusseren ti'itt hinter dem Inneren zurück bis zur völligen Schmucklosigkeit. 
Die Manen werden nicht mehr entmaterialisiert, Mmdem ihre materielle Wesenheit 
wird voll gewürdigt. Sie treten in den Dienst einer rslundichen Ynrsfellung tmd 
ihr starres lieruhti erhftlt nnter dem Drucke der Gesetze räumlicher Gestaltan^ 
Trieb und Leben. 

BAnn tber die Letpilger Braten. 

Was nm die Wende des 15. Jahrboaderts an Eircheobaaten in Leipzig entstand 
trägt in keiner Weise den Charakter einer leibatkndigen IcOnstlerischen Auffassung. Die 
XicolaH-irche,^} 1513 — 1525 im Aiischlus^s an einen aus dem Beginn des lö. Jalirhunderts 
stammendea sclunalen Chor errichtet, mochte in ihrer Ausdehnung von fttnf breiten Jochen 
taiIHmieceBd gevitlct haben, bn das Lmera klasrixistiMsh nmfeataltek mrde. Das Innere 
der ThomaskircfH-) fiillt diircli seine ans?e?prorhene Länpenansdehnuiig auf, die noch 
verstArkt würd durch den langen schmalen Chor. Aach in ihr ist das Banmbild infolge 
der Emporen und Ausbauten ein vOUig anderes, als es der arsprongliehen Tontellang des 
Baumeisters entsprochen haben mag. Die Wirkung des liellen Chorpolygcne nadi dem 
dunkeln Liin^steil wird durch die Krümmung der Mittelaxc beeinträchtigt. 

Die Faulintrkirche,*) deren Schiff 1485—1488 entstand, verlor 1546 den polygonalen 
Teil des 1519—1881 errieliteten Omptdieires «ad enebdnt jebt at« ein aaeMraideBtHdi 
lang gestreckter, snahrtiper Raum, getragen von 19 Pfeilern nnd bemerkenswert durch 
die verschiedene Verwendung von Haustein nnd Ziegelstein. In der Matthiiikirche*) 
(nnprUnglidi BarfflaMrUrebe) bietet rieb ans das ^geaartife Mld ober swebddfflgen 
Anlage, entstanden durch den Anbau eines nördlichen Seitensi liiffes an einen Mittelbau 
nnd den Durchbruch der Zvisclienwand zu Pfeilern. Durch das Aufstellen der Kanzel in der 
Mitte der Sadwand wurde der Ban als Predigtkirche, dnrcb die Erricbtong efaies sQdlichen 
SeitenschitTs, lediglich als Träger einer Empore, als Gemeindekirche charakterisiert. Als 
Koh he steht sie den rentralisiercnden Anlagen der erzgebirgischen Gruppe nicht fem. Die 
Thätigkeit der Leipziger Baumeister dieser Periode zeigt eine deutliche Vorliebe für die 
Verwenlirag der Hallenktrelie mit Herroricdirang der Llngaaxe. Aaf die ioesere Aua- 
statfung dieser Werke ist nur an der Thomaskirche Wert geleert worden. Die yi\-o}ai- 
kirche, die gross le von allen, zeigt im Schiff fast genau die Masse der zwei Jahre später 
begonaeoen Wttffang^liirdte zu SchM^erg, 

* ^ * 
* 

Gnrlitt XYIL S. 3 ff. *) XVII. S. 40. >j XVII. S. 88. *) XVIL 8. 140. 



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Das FiedUrfnis der Zeit, aich mit dem Kreis der göttlichen Dinge nea aas- 
einamlerznsetzen und den Ausdruck persönlichen religifisen Empfindens in neue Form 
ztt kleiden, hatte auch den Werken der Kunst, die aufs engste mit dem Glaubens- 
]eb«n soMamtnliiii«, neu« G«8tall gtgf^nt. Die Gotik hatte von faineii lien«i neue 
Anregungen empfangen; das Resultat wur zwar noch kein in allen Teilen kflnstleriacli 
abgelilürtes, a1)er auch kHiit^s. '!:<s man mit don Produkten eines Btilistischen Ver- 
falls hätte direkt auf eiue Stulo stdlen können. Auders dort, wo profane Zwecke 
die Gotik in ihre Dienste nahmen. Der btürgerliche PrivatUau vermochte sie nicht 
SB schOpferiBchen Leben m erwecken, die BedOrfadate dea praktisehen Leben« konnten 
sich nicht mit den Furdemngen Sathetischer Gestaltung in diesen Stilformen vereinigen. 
Was auf diesem Gebiete in jener Zeit entstand, trug entweder den Charakter nüch- 
ternster Zweckmässigkeit and verwendete die Gotik nur als Bekleidungsftma, oder 
blieb wenigatena nridg in den Bakneii, die adbum im Anfong der gamev Entwicklung 
eingeiehlagen worden waren. Abw nria^en den erhabenen Stätten göttlicher Ver- 
ehrtm? und den schlichten Behansiinfien der erdgeborenen Mcnsclien hatte von jeher 
ein Gebiet gelegen, wo Heiliges und Profanes, Hohes und Niedriges gleichsam iu- 
einanderfloss, wo Einfaidibcdt and ausprucfaelose Zweckdioilicbkeit mit ehrfnrchter« 
Weekend«* Erachdmmg und aelbitaiclMarer Witrde innen »nd aiueen aidi fencbmeken 
musste. Der FQrst, der Herr des Landes, musste auch in iler Gestalt des Hauses, 
das ihn barg und von dem aus er seine Hand schOtzend und strafend flher sein Volk 
hielte seiner hohen Aufgabe Ausdruck verleihen. Sobald vollends seine Persönlichkeit 
■ieli TOD den Hintergrand ererbter Maditbefognisae dnrch bewuttes Betonen seiner 
ftnaaeren Stellung frei machte, sobald auch sein Volk in ihm nicht nur den ange- 
stammten Trftger der Krone sali, dem Gehörsinn "i InistHn Sitte und Gesetz und 
die Bed&rfnisse einer sicheren Existenz geboten, »onderu den Vertreter einer höheren 
Macht und snigleich den Trftger bewundemngs- und liebenswerter menschlicher Eigen- 
schaften, war der Boden gesebaffen, mn dne selbetlndige kttastlerische Produktion 
als Ausdruck dieses Anschaiinnf»skreises ins T,el)en treten zu lassen. 

Das ausgehende Mittelalter hat ims ein Werk hinterlassen, in dem forstliches 
MachtgcfUhl und Selbstbewusstsein sich wunderbar verkörpert und das zugleich als 
das Eneagnis individneller kOnstlerischer GrOsse In Jener Zdt einsig In seiner Art 
war: Albrechtsburg gu Meissen.^) Arnold von Westfalen erhielt im Jahre 1471 
von den beiden Herrschern der sächsischen Lmyl' . l'u.st und Albrcoht die Ober- 
leitung aller herzoglichen Bauten abertragen. Die eiäie und grösste Autgabe, die 
ihm Usr wurd, war der Ben des Schlosses zu Ueissen; und, noch ehe er sie, 
der er das lotste nnd reichste Deseonlmn seines Lebmis gewidmM hatte, sa Ende 
fuhren konnte, starb er, um Pfinjrsten 1481. 

Die wesentlichste Schwioricikeit , die sich dem Meister beim Begiiin des 
Werkes bot, war die Formation des liaugmndes. Die ganze Art der Bodenlittche, 
dn nach der Elbe so steU abfallmides Platean, wies darauf hin, erstens den ge- 
gei»enen Ranm nach Kräften auszunutzen, ohne Rücksicht auf asymmetrische IJm- 
grenzunsslinien, und zweitens, Au- frontale Kl.icbe des riebäude,« ilirer verschieden- 
artigen iiestimmung nach in verschiedene Formen zu kleiden. Nach Norden und 
Osten, gegen dss Thal Un, nmsste es als wehrhafte Warte, ab Barg auftreten, die 



*) Fottrieb 1. Abteihug, 9. Band. Lieferung 10^12. 



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■ • >.i. ; ..ii; ; F u 

Abb. 60. Albrecbtsborg lu Meiuen. (Nach Uurlitt.) 



Sicherheit der monarchisclieii Institution gewährleisten und zugleich als Hort von 
Gesetz und Hecht das Gepräge gleicbmässiger eiulieitlichcr Vollendung tragen. Nach 
innen zu, gegen Südwesten, sollte es mehr die persönlichen Heziehungen des Lnndes- 
vaters zu seinem Volke und im besonderen zu den IJewohnern seiner Uesidenzstadl 
vertreten, den Erfordernissen prunkvoller Repräsentation Rechnung tragen und dem 
alltüglichen wirtschaftlichen Verkehr Mittel und Wege bieten. Trat es nach aussen 
in seiner architektonischen Erscheinung nur iu Konkurrenz mit den beherrschenden 



^ ' Google 



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Teilen des Domes, dem Chor und darüber den Tttrmen, so masste es nach der 
inneren Flache zu der ganzen wuchtigen Masse des Schiffes als körperliches Ge- 
bilde das Gegengewicht halten, und dem lauggestreckten freieu Platz, der vor Ueni 
den Thortiinii Dorchsebnitaid«!! lag, dnen der weitem Ebene entsprecliende& Ab- 
schlnss geben. In dieser ßeziehimg konnte die vorli^jaidc architektoniiche Aaf- 
palie als etwas Neues gelten. Nicht eine Umschliessung , wie sie die meisten der 
isolierten liurgbauten des Mittelalters bildeten, den fortitikatorischen Ansprüchen 
folgend, and wie sie die Baumeister der Renaissance in Italien aas freierer kttust- 
lerisclier Bitention 211111 bOchstea Ideal anageatalteteii, sondern eben nnr einen Ab- 
acblnss, um nicht zu sagen, Pros])ekt für die buhnenartig sich öffnende Fläche des 
Platenus ^chuf der Meister hier. Als Conlisse konnte auf der rechten Seite die 
].angswand des Domes gelten, auf der anderen erstand dann, als Gegengewicht 
g^en jene «ncbtige Maeae, ein toft^, lanbenartigw Gebilde, fortgesetzt nadi 
Sudwesten von den niedrigen und einfadieren Wirtschaftsgebäuden ; zwischen diese 
beiden, aufs schärfste ausgeprägten Go^ensiitze Hi-hnh s'uh als selbständiges Ganze 
der neue Prachtbau. Der beste Teil des Plateaus war durch den Dom in Anspruch 
genommen; wollte man ihn nicht völlig mit in den Grundriss hereinnehmen, blieb 
ibr das Schloes nur ein verhflltnismissig aehmaler Streifen an der Nordseite des 
Hügels übrig. Die Aufgabe, die dem Baumeister blieb, war somit eine anner- 
ordentlich schwierige und vielseitige, znm Teil ein^eenfft dnroli die natdrlichen Be- 
dingungen, zum Teil au die Phantasie und das technische Können die höchsten 
Anfordoniftgen stellend. 

Arnold löste sie, indem er die Elemente des bürgerlichen Profanbaues und 
des aillin;eii Schlosses miteinander verschmolz, die giebelgekrönte Front jener An- 
lagen dem wuchtigen, schwerfundierten, streng nach aussen sich verschliessenden 
ßaokörper der mittelalterlichen Burg vermählte, und beide Elemente durch fein- 
rinnige Beobachtung dw ProporüonaliUttagesetce and ein frei erfbndenea, ägen- 
artiges, omameatelea Motiv neu belebte. Kr vereinigte die durch die maimigfaltige 
Zweckbestimmung verschieden umfangreichen, durch die asymmetrische Grundflüche 
verschieden geformten Räume zu einer Gruppe, und liess die Fronten, in denen er 
die Gliederung des Inneren doch nicht ansdradcen konnte, allein dordi den Aufbau 
der Massen sprechen. Unterstützt wurde er dabei durch seine angewöhnlichen 
technischen Kenntnisse, sein feines Gefühl für ilie Vtrhriltnissf nnd seine Be- 
herrschung der ornamentalen Verkleidungsfornieii, die ihn von jeder Überlastung 
mit plastischen Schmuckteilen zurückhielt. Das erste Stockwerk, über dem haupt- 
sSchUeh fiBr den GeschUtsrerkelir eingerichteten Erdgesdioss, enthidt die Pracbt- 
nnd Kepräsentationasflle; das zweite eine mittlere Halle, von einem Pfeiler getragen, 
die Appcllationsstube, zum gemeinsamen Geluauch der beiden Fürsten, deren W'din- 
räume sich dauu iu dem südlichen kurzen i- liigel uud in dem ö&tlicheu, nach dem 
I>om zu gerichteten Teil anreiben. Das Charakteristische fttr die Geataltong der 
ein/elnrii Räume, der Säle sowohl wie der znm privaten Gebrauch bestimmten Zinuuer, 
licet darin, «l;is«! der Meister im alltrenit-inen einen rechtecl^iLrt■n Gnimiriss venvcndete 
und die Decken in spitzbogigen Uii)pengew6lben konstruierte (im zweiten und dritten 
Stockwerk meist iu gratigen Backsteingewölbeu). Dazu mochte ihn einersdts die 
gewohnheitsinflaaige Erinnerang an die Ablieben Eireheoanlagen bewegen, andrerseits 
die virtuose Behenrsehnng der Wölbungskvost, die sich bei den aablreichea Einsel- 



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räumen in den freiesten und reichsten P'<irinen äussern konnte. Nur zweimal 
tritt die Langetiaxe liiiitcr der Höhe znrürk. in drr mittleren Appcllationsstube 
des zweiten Stockwerks, und in dem qaudratiseben Vurbau, der nach Norden zu 
ronpringt und den grossen Wappensnal enthUt Die bdden riesifen Bepvftten- 
tationssile des ersten Stockwerks sind je durch drei Mittelpfeiler in zwei ScUffe 
geteilt; in ihnen fficrt dif freie Entfaltung des Knumes tind flic konstniktivo 
MeiRterschatt ihres Schöpfers die schönsten Triumphe. Wir können als den einen 
(irundzug des ISuues bezeichnen: das Streben nach Entwicklung der Itäume in einer 
bestimmten Richtoiig, das Hervortreten der Llngenaxe. Damit ist die Bdeiiclitnng 
auf eine durchgehende Norm gebracht. Mit Ausnahme der beiden grossen Säle 
sind jif'nntlichp n^rhfprkigen Räume in rechtem Winkel zu der Ausscnmauer gestellt, 
und so ergibt sich tUr jeden dieser liitume nur ein Fenster au der Schmalseite. 
Dies mnsste, nm das Innere genügend m erketlen, nOgtichst brdt anfliegt sein, 
und da die Manem zu dick wan i). um »ie in ihrer ganzen Tiefe senkrecht auf ^e 
Klficho zn. dnrch die < MTiiuiil' xu (lun hiirtThen. ontstandfii jene Alisilirflfrunsjcn drr 
Mauer, die dem tieist tier gewölbten Hallen so trcttlich entsprachen. Die scharten 
Kanten imd hai'ten, rechtwinkUgeu Durchschneidiingen vermied man, die Vermittlung 
sirischen dmr breitnn, inneren, and der sehoiftleren, ttoiseren ölimiag geschah ein- 
fach und zweckmässig. Wenn vollends diese Schräge nicht direkt durchging, son- 
dern in der Mitte noch ein*" Krümmung aufwies, können wir wnid mit Hecht ver- 
muten, das« aus hier eine profane Nachbildung des bekannten pohgoniirtigen Ihor- 
scMosses vor Aogea steht» die einen bewnssten Anschlus an jenes vielgebranchte 
M(^v verrät. Und anch in dem grossen westlichen Saal des Haui ti:« s( hosses 
wirken dit' Fciis^tcrnfTiiuugen mit den Wandnischen »am? anircsucht wie ikapelien- 
reiben, wie sie ein huiggestrecktes Kircbeuschiff zu begleiten pflegen. 

Wohl konnte sich in den writen Halten des ersten Geschosses Leben und Bewe- 
gnng frei entfalten, nnd die klare Gruppierung der reich gegliederten Pftiler verbrei« 
tete das (Jefübl wohlbegründeter Sicherheit und ernster Hube. Noch mehr vermochte 
tiie Wappenstnbe mit ihrer eiidicitltrhen Heicuchtung, dem wnchti-jon Hervortreten 
der Mauei-massG in den vier Ecken und dem frei, ohne StQtze gespannten Gewölbe, als 
die reifste Yerkörpemng eines dnrdidaehten Banmideah erscheinen. Aber in der 
Hauptmasse der Gemächer, den kleineren Uännien, wo die Persönlichkeit in ihrem 
Allt;iL'sI> !»t ii i iiic Stiittc f.iiul, wo die Familie sii li zti onuv-rf^m Verbände zusammen- 
schloss, wehte eine andre 1-utt. Hier weitet sich nicht der Kaum aus, hier er- 
scheint die Wölbung nicht als der notwoidige Zusanmienachlnss der Ober das Ver- 
mögen Ibrw vertikalen Standfestigkeit Unaas der Hoiizontale sich snneigendes 
Wamiflächen. sondern die Mauern ilrün.rrn sich wif unter dem Druck einer äusseren 
Umschnfirung zusammen, und das liew.dlM' luili mit seinen l'ipjien die aufstrebenden 
ßcgrenzungstlächen wie ängstlich umklammert. -Vlies strebt nach Luft, Licht und 
Fkvibeit, aber nur eine Öffnung stellt die Verbindung mit der Aussenwelt her und 
jede Hegung aufkeimenden inneren Lebens wird unter iler Wucht der sich drängen- 
den Massen erstickt. Ks bietet sii li uns das m<>rk\vfir Iii:' lim-].)» i . «lass dort, 
wo der liauro die tägliche Wohnstälte ist und als solche dem (ietühl innerer He- 
ruhigung in sich selbst genügendem liftuslichen Schaffen entgegenkommeu sollte, 
gerade die entgegengesetste Wirkung erzielt wird: vergeblich versuchen wir in das 
Gewirr drr iur lu inniiderschiessenden Rippen und Grate des Gewölbes Klarheit 




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7u brincpn: der Zug dpr panlleton WandflSclteD treibt uns f^eieliaam vorwirti, 
aofi Finster, dem Lichte zu! 

AI» das Bild eines leidenschaitiicben Strebeiis, eiues hastigen Vorwärts» 
drftngeiia in dra Bahnen Yttnmlicher Geitaltnof , enthttUt sksb uns du Innere dea 
Meissner Sc h1iM t $. £s iit voH von Gef^nsätzen, von Freiheiten und Uuaus- 
getrlichenhciten. !<ald phmben wir uns in der wcitep ! lalle in das Innere einer 
Kirche versetzt, bald leitet uns ein schmaler Xorridur weiter and höhleuartig ötinet 
lieh vor int dai Gwiaaeh. Wm itrOmt du I^t von drei Seken in Tageshelle 
auf TOS eUf dort nnftngt ane tiefes Dunkel, vnd erat allmSUlcb idlrt nna ein 
matter Schein, der au-- schinalrr FensterrifTnuii? ffillt, rlnrübcr auf. «las.« wir noch 
nioht sranz von <\e.r lirhfeti Welt geschieden sind. Die sich stets enieutTiKio Form 
der Gewölbe weist aui eine ergiebige Phantasie des ikumeisters hin, und merk- 
wOrdig iat der Oegeneals der nttdbtemen, gedanlcenarmeii ProfiUenmgen, ftberfaanpt 
der starke Mangel an dekorativem Detail. Dies ganze wirre Konglomerat von 
Einzelheiten wird von zwei Fassaden eingeschlossen, die an Ruhe und schlichter 
SelbfitversULudlichkeit der Gliederung nichts zu wünschen übrig lassen. Die nord- 
datUche Front erhUt nur durch die aefaweren Stoeknerkgesimae nnd die breiten 
yorhangfenater eiaigee Leben. Die Hofüuiade wird behwraeht dordi den Treppen- 
turm, den ehizigen Trüger ornamentalen Details in den Brüstungen der Galerien 
und den weit vnn^prinfreurlen Wasserspeiern. Die Fassade selh.^f wirkt auch hier 
nur durch die eigenartige Form der Fenster, in der \ ertikalismus und ilori/outulis- 
nnu sieb ta atreiten echten, nnd die hohen Giebel der Daehfeaaler mit den 
Kreuzblumen an der Spitze. Von einer organischen Vermittlung zwischen Innen- 
und Anssenban ist nicht die Kede. Änsperlich tritt das Schlus.s stolz auf, als 
Träger eiues Willens, eines Zweckes; die innere Einheit ist ihm trotz des in- 
dividneHea Chartictera im EinsebMa gün^h verloren gegangen. 

Waa nna von der Hand Arnold^a aonat im aldiaiacken Lande erhalten ist, 
vermag uns flher seine T.eistungsfUhjtrkpit nur trerincren Anfschluss zu gehen. Seit 
1470 leitete er den üau zweier Schlosser. Kriehsiein und Rochsburg.i) Die 
Schlosskapelle in letzterem ist ein «ijitaiher, rechteckiger ÜHUiti, mit einem >etz- 
gewfllbe gedecict Die Schlosakapelle in So^HUUf*) Ataem Errichtong wie die dea 
wuchtigen Thorhauses wohl mit Recht auf Arnold zurückgeführt werden kann, 
zeichnet sicli thirch einen eleiranten. in drei Seiten des Achtecks geschlossenen 
Chor aus. Ilmhst eigenartig ist hier «las Musswerk der Fenster gebildet; es ist 
eine Vereinigung von Spitzbogen und vierteiligen Vorhangbogen, ein charakteristisches 
Beispiel Ittr die Frettieit, mit der Arnold den ornamentalen Teil seiner Werke be- 
handplte. wie er sich nicht sehetite. zwei in der Idee so heternsene Formen, wie 
den ^pitzlioten und den V()rlianu'l)o;;r'ii miteinander zu versrhmeizen. i)m» gerade 
dieser letztere, ursprünglich nur das geistige Pügentum Arnolds, dem üsthetischeu 
Empfinden seiner Zeit durehans entsprach, beweist die weitverbrritete Verwendung 
desselben, die vir bis in die w e.stlichen Auslüufer des Er^tflldrges verfolgen können. 
So finden wir ihn an dem Unterbau des Rathnnses von Plauen,^) an dem 14>*m von 
Uans Keyubart erbauten Schlosse Saclisenbury^) und vor allem an dem Schloss 



*} Steehe. XIT. S. 7a ■) XIT. S. 77. *) Steche. XL S. 60. 
«) XL & 84. 



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— 99 — 



Neteschhau^) in der Nähe von noichcnbacli im Voij^tland, dessen Neubau sogar 
noch in der Zeit vor der (iriiudang des Meissner Schlosses be^nneu wiinlp. Im 
ganzen begnügte »ich der sächsische Adel jener Zeit, sogar der reichbegutene, mit 
gewaltigen, aber in den Fennen schlichten Wohnsitzen; der Sinn für eine reichere 
ornamentale Ausstattung der Schlösser war wenig entwickelt. Wir erinnen» uns. 
dass der Adfl im austrohenden 15. Jahrhundert immer mein- seiiio sell.Ktriinlis'e Ik- 
deutOJig verlur und schon in die Bahnen jeuer Eutwicklang einlenkte, die ihn aus 
einer freien, korporatlreii MdirlieH n ebMB iDntUclien Beamtenstand umbildete. 
Den Ruhm dnea Trttgera der aniTenal-weltlieben nnd damit andi kOnatlerisdien 
IHMiiiif.'. den er im Mittelalter besesf^en hatte, knmife or laiiLrst nicht mehr be- 
ans[iriii hcn. So prklfSrt es sich auch, dass dif» ai rliitpktnnischt'ii i'robleme der Zeit 
durch sein Zutbun keine weitere Förderung erliielten. Die Albrechtsburg wird das 
erhabene Symbol der immer mehr In sidi gefeatigten territorialen FOrstenmacht: 
als solche, als Sitz dm Landeaberrn, steht sie an dw Schwelle einer neuen Zeit. 
Was sie uns kCinstlerisch wertvoll macht und ihr einen nnverrfh kl)ari^n Platz in tier 
Entwicklirngsgescbichte der Architektur zuweist, ist ja auch nicht eigentlich ilire 
formale Schönheit und das Auftreten neuer dekorativer Gedanken, sondern die 
durchdachte Verteiinng der Massen nnd die von «mw penAnliehen Anachaamig 
durchdniiif?tno Ünherrschuntr dov üamnes. In die»-nn T5f7iphungen reiht sie sich den 
sakralen Hauten ilirer Zeit, wie wir sie in Obt r.sai iist n und besonders im Erzgebirge 
kennen gelernt haht^n, würdig an : sie ist die tür ilu-e Zeit vullkummenste Ausprägung 
dnea kOnstlerischen Problems, das gaas zu lösen auch der reiferen Kraft der Nadi- 
irelt nur selten gelungen ist. 

i^hcr-^rhauen wir nitdi einmal den Weg. dr-r nns rlnrch die Gesc liichte der 
spätgotischen Baukunst in Sachsen gefuhrt bat. In Anmbtry ui das Gruppens^ätem 
des Chorea mit gleichmis^g durchgebildeten Halle verbünd«!, die vcdlendetate 
Lfisnog der kOntleviachen Aufgabe im malerischen Sinne. In Pirna kehrt daaaelbe 
wieder, mit eigenartiger Ausbildung des (lewidhes. in Görlitz linden wir e-> sogar 
aut (ine fünfschiftiRo Anlage verwendet. Schnetberg ztist den Ge<atiitr;Miin norh 
nitdir vereinheitlicht, den Chor noch stärker abgeflacht: in Zwickau ist der Chor 
bei (hnlicher Grunddisposition des Baumes wieder mehr selbstlndig und der ganze 
Hau trügt die reichste dekorative Ausstattung. Marienberg endlich zeigt die vrillige 
Ausartung des freirüumigen Hansch«'ni:i~. mit cjanz flachem Chor, und im einzelnen 
schon von der lienaissance bertihrter Gliederung. Die Schlosskirche in Ckemnitä 
Iftsst eine neue Abart des Systems ericennen, nicht die EinkeltUchkidt» sondern den 
Gegensatz von Chor und Schiff. Mit der Kirche in ölmUg trelüBn vrir auf eine 
Gruppe von Bauten, dncn AnInge noch im Zusmnmenhnntr mit einem romanischen 
Grundplan steht: in Plauen erscheint der ("bor gleichsam als eine verkleinerte 
Wiederholung der Halle. In Freiberg ist bei völligem Ausschluss des Chores in 
der klaren Einteilong des Raumes nadi bestimmten Proportionen und der organischen 
Verbindung des Baukörpers mit den Kmporen die höchste Stufe der Vollendung 
erreicht. Von den yr-hn l?auten. an denen so die pivirr-liirLrische I)aiikini>t zu 
charakterisieren versucht wurde, können der erste, Annaberg, der fünfte, Zwickau, 
und der zehnte« Fre^erg als die bedeutendsten, und jeder als ein kflnstlerisch 



') XL 8. 41. 



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— 100 — 



selbstündiger \>rtreter einer bestimmten An^vriifnjnt? (!cr arclutelvtonisi hcn Gnjnfi- 
idee angesehen werden. Die Reduktion des liauptbaues aut eine einscliitrige An- 
lage im Sinne gi'ö^serer Konzentration de» liaumes bietet eine Gruppe von Uaaten, 
die vir mit der lürcbe von Oederon erOlTneteii; in der Kircbe von NiederptaMitt 
vird die hier angebahnte Entwicl<lung völlig konsequent mit der Ausscheidung des 
Chores selbst :\lii;f»sclilosseii. Die xwcix liiffiL't^ Kiiibo zu Müficeida führt uns zu 
der liochlitser Schule hinOber, und in ihrem liaui>twerke der KunigundenkircJie ist 
die GegenabersteUnog Tim tareitem Sd^ff und Langchcr dorcb die Harmonie der 
Veirldltniaee nnd die Fdnlieit der piastischen Dekoration aufä vollendetste zu 
einer f-inbeitlicbeii 15 anmwirkung abgeklilrf, die PefrUcirche derselben Stadt. A'w 
KirdiP /u Seclitj: u. a. vertreten die weiteren Verzweigungen des hier aufgestellten 
Systems, lu der Aibrechtshurg endlich versucht der Meister Arnold von West- 
falen aeine Ideen einem neuen Zwecke, n&mlicli dem Anadmek persOnlic]i>fllmtliclier 
Uacht ^nalbar zu ma< h -n. Er schafft zwar Grosüses, aber wir können doch die 
Überzeugnng nicht von lit r Haml weisen, die >k!i uns aufdrängt, wenn wir mit der 
Albrecht^mrg die Übersicht absclilits^uti , dass zwar das religiöse Empfindeu der 
neuen Zeit dch in die Formen des spütgotiBchra Stils , wie er sich nttdi den ge- 
nannten Beispielen jetzt da^tellt, ohne Hflhe einlebte, dass aber die aofkommenden 
Machte des politischen Umschwunges nicht mehr mit ihnen aaskommen konnten, i) 



Die Entwicklung, welche die liaukuust der Spätgotik in Sachsen nahm, setzt 
nngefilhr im iweiten Viertel des 15. Jahihunderts ein, und Wai bis tief in das 
16. Jahrhundert hinein. Wem wir den Bauwerken, die wir hier kennen gelernt 

haben, diejenigen gegenübcrstolkn. die in jener Zeit auf süddeutschem Boden er- 
wachsen pind, so mtis«;eii wir uits bcwnsst sein, dass die Bedingungen der liut- 
wicklung in beiden Gebieten v«"dlig veriicliieden waren. 

Die sächsische Architektnr erstand im 15. Jahrhundert zum arstenmale als 
eine selbständige Krscheinung innerliaH» der politischen Grenzen des Landes. Sie 
errang s^ich ilirc F!rfii]i.'t' fni ;iiis sich selbst heraus. Vorbilder aus .ler lllüfczeit 
gotischer Kuuät, an denen sie die Gesetze des reinen Stils, die Anforderungen der 
Teclnik und den Schatx der omamentalen Formen hfttte erieraen kOnnen, waren in 
ihrer Heimat so gut wie gar nicht TOrhauden. Der Dom zu JfStjtosn, das einxige 
kirchliche Hauwerk dieses Stils, dessen Entstehung bis in fl;is in. .lahrhunrlert 
zurückreicht, war seinem Standorte nm-b m wpiiig geeignet, um untci' rlcr lirciten 
Menge von iiuudenkmillern, die in Haciiäisclien Landen erstehen suUten, ab Vorbild 
eine Rolle zu spielen. In der Periode romanischer Kunst warai zum erstenmal 
Werke entstanden, die als der freie Ausdruck einer nationalen Eigenart in dem 



'i r*> r Deiletitiif)£r. di> Konrad Pflii?cr für die Entwickluriir 'b^t Spätgotik in Sachsen 
geiiutit hui, kuuute in die&eui Zutjaiuiiieuhaug nicht eingehender iic-chniing getragen werden; 
sein Name ad aber als der eines der ersten Baumeiatsr jener Zeit hier aasdraddich 
genannt 



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grosaeo Kreis ihrer Genossen im nardlichen nnd mittleren Dentschlaiid eine be- 
achtenswerte Stelle einnehmen konnten. Es war ganz natürlich, dass sich die Bau- 
werke dort, wo sie io direktem Anschluss un die Reste romanischer Anlagen er- 
richtet werden sollten, eher im Geiste dieser Koost entwickelten als derjeuigen, die, 
dnrdi das Mediom fremder Nalionslilät and Inditidnnlitftt in gm» spezifische 
Formen gebannt, nur brnchstückweise ins Land hatte (hinijeii können. Die Ver- 
hältnisse des sozialen und kirchlichen Lebens waren wenig dazu angethan. Kirchen- 
buuten grösseren Uml'angs erstehen zu lüsseo. McUcicbt auch mochte der ideale, 
bewegliche nnd dabei doch wieder in konsequentestem Vorwftrtsgeben snf eine sinn- 
venvirrende, die Momente fast übernatürlichen SchaffiDs an sicli tragende architek- 
tonische Wirkung gerifhtPte Zul' tler reifen Gotik dt-r M hliLlitereu KiL'L'nart <l»jr 
Sachsen wenig zusagen; mochte dem Grundriss besonders der Iraazösischea Vor- 
bilder, so geeignet, so geradezu daraof angevriesen, der Trftger einttf Phftnomau 
von Pracht nnd zierlicher Sehteheit sn sein, dw sächsische Boden m ntnh, tu sehr 
von der mühseligen Arbeit harter Hilnde durchwühlt sein. So musste eine Zeit, 
die innere und Süssere Kräfte zu künstlerischer Thätigkeit in sich barg, in diesem 
Laude ganz besonders charakteristische Werke bervorbnngen, Werke, die mehr 
als in den Undem einer gkdchmflssigen Knltnrentwicklmig den Stempel volkstflnir 
liehen Empfindens, traditionsloser Ungebundenheit and persönlicher Eigenart tragen. 
Dabei konnten nntürüeh Kttrenmächtiirkeiteii der Formbehaiiciliuiir. ja Verstösse u'e'^en 
die wichtigsten inneren Gesetze der lestbegründeten slilistiacheu Ausdrucksweise 
uicht aasbleiben. Was die sächsischen Meister der Spätgotik aas der Blütezeit des 
Stils in ihre Werfte horabeinahmen, war im wesentlichen nor der tektooische 
Apparat. Und selbst diesen gestalteten sie nach den Bedlngoflg«! ihrer persön- 
lichen künstlerischen Ansdrticksweise um. 

So selbständig und eigenartig aber auch diese Kunst auftritt, so wird mau 
doch die Behauptung nicht aafrechtwhalten k(innen, dass sie ohne jeden Zusammen- 
hant' mit ih r vorangegangenen Periode, mit der Kunst der Nachbarvölker erwachsen 
pei. \ iclinehr wird sich hei ih r vorstn'-'e^nncrencn TJptrnchtnn? schon des Mehreren 
der Gedanke aufgedrängt haben, dass ganz bestimmte Hezichuugeu zu den gleich- 
zeitigen und früheren Gebieten vorhanden sdn müssen. 

Wenn wir zuerst die süddeutschen Länder mit dem Erzgebirge in Zusammen- 
hanü hringen. so steht fe.st, dass der .Vustausch von Knlturelnnenten gerade hier von 
Altd'.s lier nnfjserordentlirh rege gewesen ist. Ks kaiui kein /\seifel sein, dnss in der 
Zeit, als die llergwerke im Erzgebirge neu aulgethau wurtieii, unter den Hchareu, die 
ton aUen Seiten zn dem neuen Segen herbdstrSmten, gerade aas Fkvnken ein be- 
sonders starker Einlnrndi erfolgt«. Denn hier, wo der Itergbau schon lange betrieben 
worden war. fanden sich irewiss am ehesten Aihelter. dit* ans den doit erworbenen 
technischen b'ertigkeiteu auf dem juugen Goldbodcu Kapital sclilagen konnten, und 
es musste der Verwaltung in Sachsen auch gwade sehr darau gelegen sein, aus 
jenem Gebiete Zuzug zu erhalten. An eine derartige Einwanderung knüpften sich 
dann ber|uem die Handelsverbindungen an, und damit war dann nueli dem Ein- 
dringen von KuHurelementen aus dem Süden freie T5ahn ?e!»rndifMi. Der Wej? in 
das süchsische Land konnte ja auch den Erauken und den liayern kein unbekannter 
mehr sein. Die Yerbhidung Bayerns mit dem Norden, mit Brandenburg, welche 
durch den Wittelsbacher Ludwig geschlagen war, schuf ebenso wie die spesidk 



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NUrnbertrs mit Hrandenburj,' durch die fielehnuiiff des Nürnberger Barggrafen 
Friedrich \ou Iluheii/nllcni mit lU r bruiulpnbnrpischeu Kur aus Sachsen ein Durch- 
gangggebiet, in dem sicher jSlunches von dem hüngen blieb, was so im ausgehenden 
14. and beginnenden 15. Jahrhundert seinen Weg nach dem Norden nahm. £« 
sei hier darauf verzichtet, weiter anzuführen, in welcher Weise die Entffieklnng 
des sächsischen Landes mit Süddentschlaiid verknüpft war. Der Aiistausdi kiinst- 
lerischer Errungenschaften wird hinter dem gewerblicher Elemente nicht zurück- 
geblieben sein, uud mit den bautecbniscbcn Lebren, den Gehcimuieseu , die durch 
die wandernden Baalente propagiert Ymrdea» drangen anch die neuen Lehren der 
ktlQStlerischeu Anschauung in das Land ein. Wenn sich aach die norddeutschen 
Meister auf dem Hüttentair von Torgau 14fi2 enger zusammenschlosfieii und zu der 
saddeutsch-rbeioi&chen Gruppe, die in Regensburg 1159 ihren Hüttentag gebalteu 
hatte, hl einen gewissen Gegeosats traten, m bildete sich doch, jemehr man den 
Eintritt in die Hotten erschwerte, eine immer grössere Menge derer aus. die ausser« 
ball) (lieser stundt n.') Da sich indes in den folgenden Jahren iiu8 VrrbiUtnis dpr 
beiden Gebiete zu einander mehr ausglich, und aus Thüringen und Hessen. Sachsen 
und Meissen eine Menge Einzeichnungcn in die Kegensburger Ordnung erfolgten, 
80 wird der freie Vwkehr zwischen den Hutten auch grosseren Umfang angenommen 
haben. Die äusseren Heziehungen Sachsens zu Süddeutschland erscheinen also in 
mehr als einem Punkte gesichert: (lie Verwandtschaft der künstlerischen An» 
schauung und der praktischen Gestaltung lehren die Hauwerke selbst 

Es ist schon an verschiedenen Stellen daranf hingewiesen worden, daas die 
architektonische Grundidee, die zuerst in Omünd aufgetreten ist, das Thema bildet 
auch für ilit^ Entwicklung der Baukunst itn Erzgebirge. Die Yerschmclznn'-' des 
Chores mit dem Schiff, die Ereirüumigkeit der Verhilltnisse findet sich hier wie in 
Annaberg, Freiberg und Zwickau, ha einzelnen macht sich eine Verwandtschaft 
der Kirche in Seknm^g mit der Geo^slcirche in /HüftelsMAI gdtend; hierbti ist 
nicht nur die analoge Stellung des Pfeilers in der Mitte der Ostwand massgebend, 
sondern mehr noch die Gleichfi^rraigkeit der künstlerisilien Ausarbeitung. Die 
Georgskirche in Ifördlingen nimmt in der liaugeschichte des Landes ungefähr die- 
selbe SteUe ein, wie die Marienkirche au MurieiAerg in Sachsen; das Prinzip ist 
hier soweit gesteigert, dass, «ie erwAhnt, der nsthetische Gesamteindruck schon 
kein trnn/ roiner mehr 'genannt werden kann. Dnluno-) behauptet aerailf/u, tln-^s 
St. Lorenz in I^ürnbtrg den Ausgangspunkt bilde für den säch8isch-mei$.snischeu 
Provinzialismus aus der Zeit von 1450 — 1Ö30 etwa. Dass gerade der Meister der 
Zwickauer Kirche in Nitrtiberg studiert haben möase, scheint mir nicht notwendig, 
denn ebenda zeigt der seit 1453 neu errichtete Chor nicht die Gestalt des Nüm- 
bertrers; am Schiff Rind die Streben auch aussen beibehalte», nnd der Treppeuturm 
(den liohme als wichtiges Vergleichsgiied mit anführt) entstan«! erst 151U und ist 
ein Weile derselben Periode wie der nördliche Choranban, zn dem er hinanffflhrt, 
also kamn von derselben Hand, wie das Schilf selbst. Allerdings tritt in Nürnberg 
zum pr!?tennialp die frei um den Clmr füliionde Galerie auf, und der Emporenbau 
in Verbindung mit der Ualleuform, der in Annaberg, Freiberg und Schneeberg vor- 



*) Gorlitt, Kunst nnd Eanstler am Vorabend der Beformation 8. 60. 
*) Dehme, Gsschichte der devtschen Baafcnnat S. 885. 




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kuinmt, hat uiikfflicherweise in jeuer Anlage sein Vorbild gefunden. Die volle He- 
deatung <ler Kmpurenanlage fUr den rcfurmatoriBchen Kirchenbau erschliesst sich 
erst, weuu wir diu erzgebirgiBcheu Bauten würdigen lernen; die Art und WeiBe, 
wie die Empore hier mit dem RamDbild als Ganzem vencbmolzen wurde, hätte 
aiK h fnr die weitere Entwiddnng des Hallenschemas in anderen Lilndem vorbildlich 
sein können. f> h]c\ht sjiilterer ForJ-cliuncr voiiidiulti'u, ileiii /n- ;int'iienhang der 
«pätgutiecbeu llaukunst in Sachsen mit den süddeutschen JJenkmulei n im Eiiueloen 
genaaer naehxageiian. 

Schwieriger noch ist der Nachweia direirter Beziehnngen dar alchaiachein Bauten 
zu denen in Westfalen. Freilich nennt sich <ler massgebende Künstler der Zeit 
in Sachsen Arnold .von Westfalen" und wen« wir auch mir eben diesen Namen 
kennen (die Urkuudeu haben die Form „iiestveling") und irgend eine Notiz, die den 
ünpmng dieaer ßeieiciimmg nlher erklftrt, nicht zn finden war, so hann doch der 
auf die Eigenart der Baudenkmäler gestützten Vermutung Raum gegeben \verdL'ii, 
das« Arnold der faktische TrSirer luiu s KiiiHnsses westfälischer Kun.st weise auf die 
8äch8i:$che Architektur gewesen ist. Das Eine wohl lässt sich mit einiger Bestimmt- 
hät bdianpten: die Vollendnng der Technikt die hei Arnold in so anffaUeader 
die kttnsüerische Prodnktion boeinUnHte, kann als ema «pezüache Eigenschaft der 
westfilliscben Baukunst angesehen werden. Wenn auch der Verstu b. in DetailfiTmun. 
ornamentalen Zflcren ii. a. eine positive Verwandtschaft der einzelnen Monumente 
Qachzuweicuen, kaum zu nennenswerten Resultaten fahren würde, so erscheint es doch 
nach allem, was die westfUIischea Bauwerke im Sinne einer originalen Raombildong 
auszeichnet, gewiss: der Faden, der in Woatfiftlen in der letzten rcriode des Mittel- 
alters abretsst. vänl in Sachsen weitergcsponnen; was hier den S'chluss einer Ent- 
wicklung kennzeichnet, deren Wui*2elii sich bis in die Zeiten de» romanischen Über- 
gangs verzweigen, kflndigt dort einen jungen, lebenskrftfligen Trieb an. 

Von Süden nnd Xorden, ans Schwaben und Franken einerseits und Westialen 
andererseits, lassen sich die Strome in die s;"ir]i*.i'-rbpn Lande verfoleen; wie diese 
vcbon «ffni,'ra]»biscb die Mitte zwischen jenen beiden debietcn einnehmen, so erreicht 
auch ciii- künstlerische Entwicklung in ihnen ihren leutral- und Uobcpuukt. 



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Spätgotik und Renaissance. 



Es könnte erwünscht ( rsdieineii. auf Grund der durchgehenden Merkmale, die 
den spätgotischen Hauwerken der IjcspidihfinMi fn'liicte fi!?>'ti. ein System des Stils, 
wie es sich als einheitliche Summe turmaler <ict»ct/e darstciit, zu ent^vickclu. Mait 
bat l»etont, dm die YeriLndwangen, weldie das gotische BamcliaBA in dw zwdtm 
Hälfte des Mittdalten erfthren hat, eine sniniUelbaTe Fdge des Ümschmuigs seien, 
den der christliche Kultus in dieser Zeit aufweist. Und da sie in der That in einem 
ganz bestimmten Zusammenhang mit dieser Erscheinmig steheo, so sei hier mit ein 
paar Worten darauf eiugegaugen. 

Dieser Umsctiwnng Usst sicli anf die Teorganisatorisdie Tbiltigkeit der Prediger- 
Wden svltcltfilhu'n. Der Name besagt schon, worin die Bedeutung dieser Kor- 
porationen zu suchen ist. An die Stelle dfs Klerikers tnit der dem Laien nAher« 
stehende Möoch; er Übernahm die notwendigen kirchlichen heistungen, er setzte 
statt des ermQdendrai liturgischen Apparates in den Uittelpwdct des Gottesdienst es 
die Predigt. E^e persfinliche YeHjindini« «wde so gesehtageo xvischen der Ge- 
meinde lind dem Diener Gottes: an jeden Kiir/rlneii wandte sich der Spnrher im 
Laute seiner Rede, die meist, ganz impulsiv, der augenblicklichen Eingeliuii? ihre 
Wirkung verdankte, und jeder Einzelne sah sich genötigt, seine Andacht und Auf- 
merlcsanlceit dem einen Gegenstand untenmerdnen. Und selten Itam es vor, dass nicht 
der glanbenseifrige Mönch in die ganz gewöhnlichen Vorginge des tiiglichm Lehens 
hinehiiTTiff, und ausgehend von tlen Silnrlen des nusBoren Da.'seins, den Zuhörer zu 
ehrlicher und nachdrücklicher Betrachtung seines moralischen Wandels geradezu 
zwang. So wurde «Be FnsOidichlEeit geweckt «id der 'Wnnseh nach penrihilichein 
Erfassen des Ühersinnlidien hervorgerufen. Die immer stSrker sidi regende in- 
dividtialistische Auffassuntr des crnttliclion T'rinzips wird durch die rrediuf in eine 
ganz bestimmte Beziehung gebracbt mit der Beivecnncr. die in ihren Betormatinns- 
plänen von einem Umsturz des kirchlichen Kuitu» ausging. I>ie Erturdenüsse iiir 
die Umgestaltung der Kirche infolge dieses neuen Motivs: Einheitlichkeit des Raumes, 
Sichtharkeit und Hörbarkeit des Predigers in möglichst grossem Umfang, Wegfall 
der voluminnspren Teile im Innern, AuftreLen der knnipliziertcn Clior- und Kapellen- 
anlage, die für ciie der Predigt zugewandten Gemeinde keinen Wert mehr hatte, 
bewirkten allmählich eine durchgreifende Andemng des architektonischen Systems. 
So wurde aus der gotischen Kathedrale mit ihrem Yertikalismos, der daneben die 
Lilngsaxe zu massgebender Bedeutun? erhoben hatte, mit ihrer reichgegliedcrten 
Choranlage, die dem unistiindlichen got lesdienstlichen Ritus wie dem übertriebenen 
Hciiigenkult Genüge leistete, die Predigtkirche in Ualleuform. Das basilikalc Schema 
erfuhr dadurch eine völlige Umgestaltung. Die niedrigen SeStenachiife erhoben sieh 
nun sn der gleichen Höhe wie das Mitidschiff* den Anforderungen einer einheit- 




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liehen Akustik entspreclienrf. Ilii*' Itifite ri( htetp sich nach der des dominierenden 
Hauptschiffes. Sie sollten nicht mehr dazu dienen, den Verkehr der Ans- and Ein- 
gehenden zu vermitteln, besonders auch zu den seitwärts sich anlegenden Kapellen- 
reihen Zugang zu vnsdiafffin, Modern ihre OleiehbereehUgitng als Raum flir die 
tings um die Kanzel sich scharende Gemeinde Hess sie nach Höhe und Itreite sich neu 
ausweiten. Die starken Pfeiler verschwanden und machten leichteren OrbiMpn l'latz, 
die den Blick in die gesamte räumliche Ausdehnung des Schiffes frei machten. Aus 
der fDlirendeii Stellang des gesivochenen Wortes ergab sich femer die Notwen^g- 
keit, das ^' erhallen des Tones in den WOlbangea zu vermeide. So flachte sich die 
I'ogenlinie der Deckengewölbe immer mehr ab, xm\ die Decke ^rT^rtle ra einer gleich- 
mlissigen, von keinen markanten Eitischnitten mehr gegliederten l'hkche. In Über- 
einstimmung mit dem su gewonneneu erweiterten Ilaum erhielt auch der Chor eine 
andere Gestalt Er verlor seinen sehwerfUligen MuAti von Umgang «nd Kapellen 
und schloss sich ohne ausgeprägte Trennungslinie dem Hauptschiff an. Denn 
die Predigt im Langhaus trat in enge Verbindung mit dem Hochamt im Altar- 
haus, Gemeinde und Geistlichkeit sollton auch üusserlich als eine feste Einheit 
avftreten. 

yf&m der Innenranm infolge der massgebenden Stellung der Predigt so ver- 
fniilert war, so konnte auch der Ausgenbnii nicht seine alte nes(;ilt lif-lialten. Da- 
durch, dass die Erhöhung des MittelschiftV* fortfiel, dass die Stützen der Wölbung 
in das Innere hinein verlegt wurden, worde das komplizierte Strehesystem über- 
flüssig, nur die ftnsseren Strebepfeiler als Widerlager des Gewdlbedmckes blieben 
bestehen. Besonders fühlbar wurde diese IJmgestaltiuip am Chor; sonst infolge seiner 
tiberreichen !';uniii,'iui'i»ieninir der Sitz eines Labvrinthes von '^tfUzen, Gefirenstützen. 
Strebebögen und Widerlagern, dem das Auge keine klare Disposition mehr abge- 
trinnen konnte, jetst einfach nnd mbig in sdner sichern Rundung, klar sich 
«hebmd als Al sdiluss einer architektonischen Schöpfung, deren äussere Ansicht 
den Gesetze» tU v inneren UililuiiLr immer melir zu entsprechen begann. Ein Hau- 
werk, das in dieser Weise den Forderungen des Kultbrauches Keclumng trug, musstti 
immer mehr dem Ideal nachkommen, das man als eine der glücklichsten Verwirk- 
liehnngen des Renaissancegeistes beseicbnet hat. ^dessen wenn auch nicht zu 
leugnen ist, dass die einzelnen Momente einer derartigen Schöpfung im allgemeinen 
denen entsjirechen. die bei den besprochenen Hauwerken der Spütsrotik nh hervor- 
stechende Merkmale des neuen Stilchai*akters bezeichnet werden konnten, so steht 
doch auf der andern Seite fest, dass die GrOnde des stilistischeii Umschwungs zum 
weitaus grösseren Teil im System nnd der Entwieklong des Suterns selbst zu 
suchen »inl. 

Vergegenwärtigen wir uns, in welcher Weise das persönliche Emptindeu des 
Reschauers von dem gotischen Dom aas der Rlotezeit des Stiles herflhrt «arde. 
Schon das Portal mit seiner nach innen sich abstafttuden Wölbung mit der Dar- 
stellung der Heilsgeschichten und den liildeni von Heiligen und Märtyrern bereitetf' 
den (Jlnnbiuen auf die Mysterien des Innern vor. Und wenn er die Pfurr»- Jnrrb- 
schritten hatte, thal sich die ganze umfassende Macht des verkörperten Gotte»- 
reiches vor ihm auf, und schon beim ersten Aufblick strahlte ihm von fem aus dem 
Chor in dem ^geheimnisvollen Sehinmicr der bunten Fenster, dem Halbdunkel der 
von Kerzen dnrchglQhten, von Weibraucbwolken omholiten Wölbung der wunderbare 



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Ausdruck einer erhabenen MacbtfUllc entgegen. Die Reibe der Ffeilcr bot in ihrem 
gemessenen Wechsel dem suchenden Auge keinen l'unkt, wo es mit Hpfriedigung 
hätte verweilen köunea, aber sie wies deu Weg zu der Stätte des Allerheiligsten 
selbfit Noch einmal weitete iich der Samn; rechts und linke in den Annen des 
Kreuzschiffes scharte Hi< h die Gemeinde, in strahleiuler LitiiifüHe üffnete das Gottes- 
haus gleichpam sfiiie Leiden Arme, nm alle seine Kimler au sein Herz zu ziehen. 
Aber erst wenn sich die Tiefe de» i hures wt dem AudAchtigen aufthat, erst wenn 
er in der Betnehtnng der nauuigfaltigcu Licbterscbeiniiugeu, die ans dem Kranz 
der Eapdlen zosasamenstrOmten, das Geflüil Ihr die mechanische Gebmideaheit der 
ihn umgebenden Materie verlor, wenn sein Hlick das Gewirr der allenthalben sich 
vprschlingendon Kippen und Grate vergebens zu enträtseln suchte, knnnte er in in- 
brünstiger Andacht sich ganz der erhabenen OÖ'eaboruug göttlicher Grusse, der um- 
lassenden Vo-sinnlidiang eines strengen gesetzmflssigen Znsammenhalts im Ganzen 
hingeben. Der aufstrebende Drang der Pfeiler hob ihn empor und in dem Zusammen- 
.<;ili!ies3en aller Glieder, der erossen und kleinen im Siheitol dei- Deel^e wanl ihm 
der Glaube neu, dass eine ewige Harmouie, ein fester Wille alle Erscheinungen, 
alle Wege und Wftnsehe des Daseins in seiner Hand habe. Aber nicht k starrer 
OescUossenheit, die keine Vervollstftndignng mehr snlftsst, erstsnd dies gewaltige 
Bild, sundern allen Teilen quoll in den buntesten Formen ein stetes Wachsen 
UTi'l Werden, ein kraftvolles Streben nach Grr>sse und Einheit empor, und eab dem 
ganzen ungeheuren Organistuus das unverkennbare Gepräge starken inneren Lebens. 
So gingen in dem Gotteshans gotischen Stils Erregung nnd Benihignng, kcmstruktive 
Notwendigkeit und ])hantasti8chcs Ausweiten der form wundersam Hand in Hand. 
I.än!?pnausdehuung und Urdiendinien-sion vei-])andeti sieb /ii einer Gesamt wirknnir. die 
Verstand und Fhautafiie in gleicher Weise gefangen nahm. Wenn die kiUile \ie- 
reetaning der nnerschfltterlieben GnefannisalgkeH dieses Gebildes flire Bewunderung 
nicht versagen honnte, so verlor sich die gltabige Naivitilt mit ehrforchtsvoUem 
Entzücken in den Tiefen des nrermesslichen Raumes. 

Den gläubigen ( luisten malmte die freiltlMitre fiilerunimincr Mfi' konstruktiven 
Glieder unter die Hen'&chait der hucliätrebeuden \V«ilbung an das .System des Gottes- 
reiches selbst mit seiner aUamfassenden, jedes Einzelwesen in dem Einen Geiste sich 
unterwerfenden und wieder emporhebenden Wundcrmacht, (iem mochte der geiilige 
Arbeiter rief? Mittelalters, der an die sdinrfsinniue und analytisch-konsequente 
Thätigkeit der scholastischen Deduktion gewohnt war, mit kundigem Auge verfolgen, 
wie sich die gotische Kathedrale anf kompliziertem, aber für den Wissenden doch 
leicht Übersehbarem (irnndriSS, dem scharf gegliederten Hau der scholastischen Doktrin 
gleich, rrhob. Und dem von mystischen Lehren T^eeintliiHstt-n wieder, der mit einer 
Art Pantheismus, einem stillen Unendlichkeitssehnen in der Systemlosigkeit das 
Prinzip seiner Ideenrichtung suchen musste, bot die im Dunkel verscbwimmende 
Tiefe des Bsumes, der dnrch die mannigfaltigste Verschiehong vnd Verfcorznng der 
überschneidenden IJnien und Flächen hervorgerufene jjerspektivische Eindruck des 
Unermessbnrcn. Alhimfnssentien und -^ii Unfassbaren ein weites Fehl zu selbstver- 
gessener, verzehrender Andacht. So wuchs der mittehüterliche Mensch mit dem 
Konstweric zusammen, das die Sprache seines Inneren so wanderbar vmtand, so 
wuchs der Hau seiner Hände selbst unmittelbar aus den) heraus, was die oreigene 
Entwicklung einer Religion, einer Epoche zum Ansdmck brachte. 



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— 107 — 



So lange die Entwicklung der gektigeii Zustände iu den Buhnen fortschtitt, 
die in den gekennzeichneten Beweiriuttren eingeschltiiren waren, kt iuite uuch das; kfitist- 
lerische System eich konsequeut iu gleichmässigem, jener luitwicklang parallelem 
FortwhritI ireHerliildeD. Es trat khn ein Zeitpunkt ein, vo die Keime, die in dem 
gotiaeken System vurlumden waren, emporsdiosien, und der alte Stamm so ganz von 
ihnen umschlossen wurde, bis er selbst, verjüngt, wiprlcr neues Leben bekam. 

Das wichtigste Moment in dem Wesen der Gotik, in ihrer strengsten Durch- 
bildung liegt darin, das» sie iu der Ausbildung der Uöbe bis zu eiuem Punkte, wu 
diese Dimension als optisch nnermessbar ftsthetisch za dnem irrationalen Falctor 
wird — obwohl sie natllrlich in der That fest begrenzt ist — durch die Anweisung 
auf die Unendliclikeit, die Iterflhrung mit dem Unalis. hbaren '.'k-iilisain ihren Werken 
den Charakter des ErbabeueOf Überwältigenden giebt, wie ihn kein anderer Stil in 
dMn Masse emiclit hat. Das Operieren mit der HOhendimension heborsdit ja 
überhaupt das ganse formale und tektonische System der Gotik. Der Spitibogen 
selbst, ihr l.ebenselement, ist nui- der Versuch, zwei Senkrechte xti vereinicren, die 
von ihrem Vertikalcharakter nur chen soviel aufgeben, iih es ihrer AutValie nach 
als Unischliessuug einer Fläche nacli den Seiten und nach der Hoho hm erforder- 
lich ist Im Randbogen entstand eine Einheit der so susanunengefllgten Glieder, 
wenn kein trennendes Horizotttaleleraent den Zusammenstoss der Vertikallinien mit 
der Krpisliiilftft markierte. Zwar selbst kein wahrtr Vertreter der Horizontalen, 
konnte er doch im Zusammeuhaug der ganzen Figur als ein solcher gelten, indem 
er ohne Absatz die beiden Terükalen mit einander verband. Der Spity-bogen dagegen 
enthlllt imm» eine Zweiheit, eine Kompromissbildong mit dentUehan VertUnlehaiakter. 
So erweist er sich auch, wenn er in dreidimensionaler Verwendung. »Is Siiitzltoiren- 
gewölbe, auftritt. Hier wachsen die Wilnde in die H«<hp. aber sie dioneii mir h\r 
IJestimmungsformeu der Hori/.ontaldimensionen, die Vertikaluxe bleibt ischeinbur mi- 
begrenzt. Noch einen Schritt weiter in dieser Anffsssung, und wir gelangen zu der 
Theorie: die Gotik hat eine Dimension gleichssm aus ihrem Kom])ositions8chcma 
hernns'.'eworfen. indem sie ihr das Mass der menschlichen Beherrschung entzog und 
es den üestimmougbrnomeuten der lireite und Tiefe allein ttberliess, im Verlauf 
ihres eigenen Wachstums der Schwestcrdimenslon dieses Kass zucuwteilen. hk 
diesem Zusanunenhang werden die Profilierungen der Pfeiler immer straffer und 
schärfer, die Kajdtelle verscliwinden, und die l!i|ii>cn erscheinen nnr noch als die 
iJestandteile, in die bei dem natürlichen Auflösungsijrozess der l'teiler seine Vertikai- 
kraft verstreut. Schild- uud Gurtbögeu als zwei entgegengesetzte Koustraktionsteile 
verschwinden; die Wand, die zwischen den Begrenzungspfetlem des Raumes aus* 
gespannt ist, gleichwie die Gewölbkappen aus sekundären, nicht in dem Stilprinzip 
mit enthaltenen, praktischen RUcksichtrn. fallt fnf^t ganz der Fcnstcrrtflfnung zum 
Ojiter. In dieser herrscht im Kleinen dieselbe Teudeuz wie bei dem tiau-Ganzeu, 
nur auf die FlSche projiziert Schon die Laibnngen lOsen sich, in ihrem Drang 
nach oben, in scharfe, selbständig auftretende Grate und Kippen auf. Das Stabwerk 
tV.L't ticni Zuw' dr-s uiHsclilie-sfinlen Gewihide.s. scMiuLft sich vi*'lleiilit auf halbem 
Wege noch einnuii zus^ammen. um mit erneuter Kralt emporzuschiessen, und verliert 
sich endlich, unfikhig, sein Ziel zu erreichen, iu pbautastischen Windungen und Figuren, 
die, frei von Anlehnungen an die Formen der lebendigen Natur* nnr der Raumwissen- 
Schaft ihre Gestalt verdanken. Wollen die Ästhetiker der Architektur ein Bauwerk 



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— 108 — 



nur dann als solches pelteii lassen, wenn es durch feste Dachkonstruktion die klare 
GegenUbetstelluug von Kratt und Last, trageudeu und getrageoeu Teilen autweist, 
BO können aie Uer znent die ^tbariceit dtewr These erproben. Denn mtn kaitn 
hier, will man in dieser Betraditnngsweise konsequent bleiben, nidit raebr eagen: 
die rfeilfi- tnipen das GpwöHip. — womit dann obiixe' Forilmincr erfüllt wäre — 
sondern die (iewolbkappeu schliesseii nur die Öffnungen, die notweudigerweiü«.' /wischen 
den Pfeilern und den anderen Repräsentanten des aufstrebenden Dranges, deu ]vii>pen, 
entstehen, zwisehen natOrlicher Yertikalfliche und abgeleiteter Horizontalebene Ter* 
mittelnd, gerade Bf< wie dif W.uule die Zwischenräume der den Raum nach dpti 
Seiten abjfrenzeiub'ii (rlieder in absoluter Vertikaleinheit ausfüllen. Der konstnik- 
tiveu Zusammensetzung uach sind uatilrlich die Pfeiler die Träger des Gewölbes, 
(die Kappen können ja nicht frei in der Lnft achweben), der Geist des Stils aber 
weist diese aus dem System heraus, und sie können als eine praktisch begründete, 
also sekundäre Folgeerecheiiinns des architektonischen Prinzips niclit in ein soli h 
ebenbürtiges Verhilltnis zu den Uepriisentanten dieses Prinzips, deu Pfeilern, treten, 
wie es der Ausdruck Kraft und Last" bezeichnet. 

Vfem yolleods die Bippen dorck charakteristisehe Bemalnng von dem Grand 
des Gewölbes abgesetzt wurden, wie das vielfach geschah, und «war demselben Tcm 
genähert wie die Pfeiler, so betonte man damit deutlich die organische Zusammen- 
gehörigkeit dieser Teile, und das einfarbige Gewölbe blieb etwas Fremdes, Hinzu- 
gefügtes. Erhielt es aber gar einen hellblaaen Ton, im Gegenmti m den dunkeln, 
brfinnlichen Pfeilern, dann war das Prinzip endgültig festgelegt: der Himmel selbst 
schaute in das Haus herein, »las Diicli war enfmaterinlisicrt. die Wflnde, »He Pfeiler 
allein blieben bestehen. So ging die farbige Ausstattung mit dem architektonischen 
Aufbau Hand in Hand; das fertige Bauwerk vermochte sie ebenso wenig zu missen 
wie den 8diein der seitlich einströmenden Lichtstrahlen. "Wenn die Sonne um die 
Pfeiler spielte, dann verflQchtigte sich immer mehr das körperliilu' npnihpii der 
Gliedpf m wesenloser Bewegung, die im Drang nach oben von dt i Materie kaum 
noch beschwert zu sein scbieu. Dieser Charakter der Gotik spricht sich um so 
klarer ans, je wdter diese Entmateiialialemng gediehen ist, je mehr der anmere 
Ausdruck als \ ertreter einer inneren Emgang Aber das Körperiich-Greifbare, Feste, 
das Plastisclu- dif OLcrliaml uewonnfn hat. 

lu diesem System, das der einen Dimension des Baumes ihre Bestimmung 
gleidisam selbst flberlässt, ruht auch sdion der notwendige Keim einer inneren Um- 
gestaltung. Der payehologiaebe Yorgang, der diesem ganzen Entwicklungaprosess 
zu Oninile liegt, lässt sich wohl am besten bezeichnen als das Bedürfnis einer UQck- 
kehr zum Mcnschlich-Xatürlifhrn im Gegensatz zu der transcendentalen Verstiegen- 
heit; es war die Beaktion deis gesunden Empfindens auf die abnorm gesteigerte 
Sensibilitftt. Der Wunsch nach noimider Orientierung in der wabmebmbaren Welt 
beherrschte die gesamte gmstige Thätigkeit. er kam auch in dem .ndiifektonischon 
Schaffen immer mehr zur (Jeltnncr. Tnii; .I. r Flucr einer freien allfs I lierirdisrhe 
erstrebenden Phantasie über die leichten l llichen der Decke hinweg, so verlangle 
ein klares, uflditem erwägendes fiewusstsein die Festlegung dieser Baumgieuze um 
so eottgssehtt. Es konnte den auf dem Boden ruhiger Logik sich bewegenden Geist 
nicht befriclirron, wenn der Baum, in dem sein geheimstes Fühlen Ausdruck finden 
sollte, nicht sich von der Aussenwelt mit scharten Grenzen absonderte. Das Gegen- 



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— 101) — 



einanderneigen der Wandflächen im Spitzbogengewölbe mnsste besonders dann, wenn 
die religiöse '^fiinyntni'j nicht vvhr Aas objektive Erfassen der umgebenden Welt 
trabte, beunrulügeiid wirken. Die Kmptiudung der durch die fortwährende Kraft- 
anstrengiuig und Spanmuig henrorgenifenen tektonlsdieii ünaicliMrlieit all der leicht 
geschwungenen und gebogenen Glieder trat Iii dem Frofauban, wo sich die Höhe 
natnrireniäss in ubscliLarcn (iieiizc» hielt, um so stilrker auf, je dichter sich das 
Gewölbe Uber dem Haupte des iiewobners zosammeaechloss. Gleichwie jede Strömung 
der horizontalMt Gnudflidie auf du menMftliehe EArpergefohl beomahigeiid wirkt, 
so fohlt sich auch das emi>findeiide Salyekt in einer Behansuig nicht wohl, die einen 
ruhigen Abschluss nach oben vermissen lasst. Als solcher ist das TonneiiLrewölbe, 
die Ausdehnung des Kundbogens in die Fläche, wohl erfriielioh. deiiii ts ist von 
einem Masse beherrscht, sein Mittelpunkt ist leicht i^u tiudeu, und es gewahrt in 
seinem gleichmfissigen Flosse dem Blick keinen Pnnkt, wo er ztu* Trennung der 
Seitenteile einsetzen könnte. Es ist die vollkommenste, klarste Verbindung zweier 
Vertikaltlächen. In demselben Sinn ist auch die Kalotfi'. die Kupju l o'mc vollendete 
Qud wobltbuende Form des Haumabschlasses, letztere noch durch Analogie mit dem 
mmmdsgewölbe psychologisch, nnd in der Folge andi ethisch dem Menschen nahe- 
stdiend. Das Spitzbogengewölbe ist viel p«>s6nllchwv gleichsam von einer immer» 
withrenden, inneren Bewegung beunruhigt. Das Auge gleitet an den Wünden ornpor 
und haftet in seinem Scheitel, wo die Stein gewordene Gebftrde ihre hrulisti Kon- 
zentration üodet; es kehrt aber nicht beruhigt und befriedigt wieder zum i'>dboden 
zarOck, sondern relsst sich stets nur mit einer geirissen Anstrengung los, enttäuscht 
Ober den ]dötzlichen Abbruch des so kühn uiitr i nommenen Fluges nach oben. Wenn 
gar die Decke vmi l inem Netz durrh<^in:iit(]( i s( hiessender und dicht v* rschlnnt'ener 
Kippen überzogen ist, wird die Verwirrung voUstündig, eiu harmonisches Ausleben 
im Räume fast andenkbar. 

Das Bewasstseitt, dass in diese Formen die neue Weltanscbanang sich nicht 
einlelif'n K-ötmfe. trieb die Künstler dn/n, das alti- Systfin /m drhum nnd zu Ktrcrkfn. 
um auf irgend eine Weise auch dem veränderten Kaun«}.'elülil Lull zu machen. Dem 
kam die gediegene Keiuitnis aller technischen Dinge zu Hilfe. Mau setzte aber nicht 
da ein, wo allein der Bann hfttte ganz gesprengt werden können, bei dem Prinsip 
der Wölbung selbst, sondern vermochte nur sehrittwei$:e 1 i irm Art die neuen 
F'>rt!i*'n abzugewinnen. Die WiHnlc rücken weit auseinanil'T, ilt r Wo'jen (Inr WciHnnig 
wird ilacher und energieloser, Uiihert sich immer mehr der horizontalen Flüche, In 
der Empore wagt man schon, eine reine Horizontalebene als gleichsam provisorischen 
oberen Abschloss der Wände einzufahren, aber sie bleibt an ihrem Ursiirungsort 
haften. Tirnl mir unsere I'hantasi*' ertffinzt sie zur vollen Flüche. Sie In di-Titet einen 
wichtigen 1' nrif^chritt in dem Streben nach scharfer, selbständiger Uaunibedeckung. 
In der I ntenlrückung des ziellosen Vertikaltriebes verßUlt mau stellenweise in das 
andere Extrem, der Decke einen Drang nach unten anzuweisen: die Bippen lösen 
sich von der Flitche los und hfingen in phantastischen Verschlingungen herali. M lito 
mnri tiiliiii rlien (irüiidfü üenötitrt sein, das Hucb»- Gewölbe in niöglicböl viel 
kleine Kappen zu zerlegen, oder mochte gar die Kippe nur uoch als eiu oruameu- 
tales Glied angesehen werden, das man der Decke anlegte: in beiden Föllen wurde 
das Stern- oder Xetzgewölbe das Resultat Seine GmndÄäcIii .srtzte sich zwar noch 
nicht als eigener Bestandteil von den Wanden ab, brachte aber ihren gegensätzlichen 



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— 110 — 



Cliarakti-r iniiiier reiner mm .\ut<ilruck. Mit den Formen, ffir die iiO( h kein Ersatr 
gefunden war, giiig man dem veründerteu liaumideal so weit nach als es nur irgend 
möglich mtr. Die Bewriiaamc» fimd ftr die kflnstleiiiche Idee mäk die organisehe 
F«nn. Auf dear «inen Saite nelmi eie das Temiengeiwftlbe und die Kaivpel auf — 
Motive, die der rnmanische Stil enthalten hatte und über die- d<is gntische Systini 
liitvmsLrevvaih.sen war — , durchdrang sie alier ro intensiv mit ihrer junicen Leben.s- 
kratt, däS8 nie als etwas völlig Neues dem ahtsn Schema gegenübertraien. Aut der 
andern Seite aber, und das scheint mir Ider fUr die Entwiddnng der Rawnidee noch 
wichtiger, führte sie die gerade Decke wieder in die monumentale Architektur ein. 
Sie konnte da.s leii'ht, denn die antiken Uaudifdor. die sie sich aneiirnete, vor allem 
der Pilaster, waren ftlr eine derartige räumliche Ans drucks weise geschatten. Und 
hier liegt die Wnnel dw Bedentang, die aie für die Profankonit hatte: sie kon- 
ponierte WohnrSiune, deren UmMhUenvngaflfleheo nach Tiefe, Breite nnd Böhe sieh 
nicht nur al.s ehenhflrtTire Teile /nsammenfflirtcn. fondern auch durch ein bestimmtes 
harnionieches Verhältnis, das allerdings mehr dem natürlichen künstlerischen Fein- 
sinn als logischer Berechnung entsprang, dus ästhetische Empfinden des Bewohners 
befriedigten. Wir haben gesehen, daas sich in der SpKtgotik zmn Teil gleichfalls 
schon das Bestreben regte, durch konsequente Anwendung eines Grundmasses eine 
künstlerisi he Einheit in den Hr»n zw brinoren; und die Erfoge dieser Bemühungen 
waren durchaus nicht gering. Ein so wunderbar selhstversUudliches und wirkungs- 
TOlle« Gesets wie es die Renaissaace in der steUi^ Frc^Kwtion besaas, war aller- 
^gs nur ebm in dem System der Renaissance mftgUch; es ist in dem Erbe A& 
Antike. dn.<? sie antrat, der crOsste Schatz. i) 

Ks sei bei dieser (ieli tienheit darauf aufmerksam gemadit, das^; es nach der 
im Vorhergehenden durchgeführten Umbildung des gotischen Kuunischenias wohl 
anch an der Zeit ist, die Verwendnng des Begrilfs «Halle" im Sinne der gewomienen 
Differenzierung der Monumente etwas einzuschränken. Nachdem Dehio und v. Bezold. 
nnsc'chend von den frühesten Anfflncren der christlicben .Architektur, den Ausdmck 
„ Halle ' für eine aus deut Basilikaschema hervorgegangene dreischiffige Anlage, deren 
drei Schiffe dieselbe Hohe beaitsm», festgelegt haben, scheint es nicht ratsam, an diese 
Tenninolo^ mit irgendwdchen Änderangsvorschlägen heranzagehen. Jedoch wird 
man zugestehen müssen , dass ein Raumpehilde, wie es für die Zeit der SpiStgotik 
charakteristisch wurde, mit einem, das zwei Jahrhunderte früher erstand, schlechter- 
dings nichts mehr gemein hat und also auch kaum mehr denselben kunstgeschicht- 
lichen TermimiB tragen kann, selbst dann nicht, wenn die allgemein charakterisierenden 
Merkmale dieselben sind. Die Entwicklung, welche die Haumidee seit der (iründong 
der Klisaliethkirche in Marbur<r bis rnr Erbauung z. B. der Stadtkirche in Ännaberg 
durchgemacht hat, ist entscheidend genug, am den güuzlich neuen Baumtypus, der 
hier vor nna steht, anch mit ein«n nenen Terminus ansatatten an dfirfttn. Ea sei 
denonaeh gestattet, di^enigen RanmachOpfongen, in denen, bei mehreren Schiffen 



') Ich leupne nicht, dass seihst das Wenige, was icli nber die Anwendiinir eines 
festgesetzten Grundmasses in den spätgotischen Bauwerken bemerkt habe, noch auf sehr 
sdiwaehen Filmen steht, und dam das «Hsnaoniscbe*, das für die Wiikang msadier Riome 
■ta charakteristisch mit angeführt wurde, mehr auf dem aulü>l^<^ Empfinden als auf 
stnnger Beredunng beraht. 




— 111 — 



gipirlit r IT<>lit'. die Diiuensiunpii gleich wertig durchgeführt sind, im Geg'^nsat/ m ilcrn 
Lniigitudinalbaa der früheren Perioden, als ^Saulkircheii" zu bezeichnen. Das itaum- 
Bchema, das in Gmünd zum erateimnie in reifer Dorehbildung auftritt, ist das Erbe, 
du die ^RMMiaauce** von der nSpAtgotik" Ubenumnit. Da* 16. Jabrbnndert ent- 
iridtelt 68 weiter und das Barock fosst in seinen grosaartigsten Raomwirknngen auf 
derselben künstlerischt n Vorstf llung. nämlich dem Gedanken von der Einheit und 
Gleickuiiisfiigkeit des liaunies, die iu den letzten Jahrhunderten der Gotik das 
ardiitektoniach« Schaffen in neue Bahnen lenkte. Die SetilosakapeUe In 7«naiBu, 
das Werk filausarts, ateht als Rnurokomposition mar aaf dem Hfthepankt dieser 
Entwicklung, dit' mfhr als vier Jahrhunilrrtfi ninfasst. 

Wenn wir versuchen, die Ausprägung des neuen Geistes in künstlerischer 
Form, vie sie iu Italien zum Durchbrach kau, der Entwicklung auf deutschem Boden 
gegenttbennsteUen, so dOrfen wir Eines vor allem nk;bt vergessen: in ItaU<m war 
die Einheit des nationalen Geistes, des Lebens und der Begeisterung da, trotz dler 
politischen S]ialtnii.?en und portikularen Sonderbildungen. Der Sturmwind der neuen 
Zeit brauste über <iu8 ganze Land; Uber den Wappen von Venedig und Mailand, 
Flonmz «nd Rom wehte das Banner d«r Nation. Und dieser nationale Zng fehlte 
in den deutschen Landen. Dtt* Norden and der Süden und die fielen kleinen 
Tirritr»rien und Stßrltc trafrn sich niclit nnr imlitisch als Eiuzelgebilde gegenüber, 
sondern auch ihr Fuhlen und Denken ging in verschiedene Hahnen. Ihr künstler- 
isches Schaffen lag in den Banden des grossen gotischen Stils. In Italien hatte die 
Gotik nie in dem Volksempflnden Wnrxel schlagen können: »es ist eine gthrende, 
nirgends ganz harmonische (^ergangsepoche".i) Das Neue, das kommen musste, 
hatte leichten Kampf. Rt i nns trat ihm eine in .InhrhTinrk'rten gefestigte Tradition 
entgegen, die sich rühmen konnte, einst den kUustleriscl» höchsten .\osdruck für ein 
geistiges nnd sittliches Ideal des' Volkes gefanden zu haben. Diese Ideale waren 
zwar immer mehr verblasst und was sie im Rlinmliclien versichtbarte, trag jetzt 
andern Zösn. alier die positive Geltung war docli iinrli « ine trnnz anilere als in 
Italien. Das ist das Eine: eine Renaissance aus sich selbst heraus w&re für die 
dentscbe Banknnst etwas Ungeheures gewesen. Die Wiederentdeckung der Natur, 
die fflr den Anfsdiwang der Malerei nnd Plastik massgebend wurde, konnte fBr die 
Kunst von keiner Bedeutung sein, die ihrem Wesen nach nus der Natur nur das 
Mittel nahm, dessen sip zu einem idealen Zwecke ln ihirtte; hier konnte die Archi- 
tektur nur auf Abwege geraten. Das heisst: insofern kunnte auch hier das Vorbild 
der Natnr als bestimmend gelten, als die Rflckkebr zam menschlichen Masstab, wie 
ihn Brunellesco mit der Einführung des Silnlenuru'aiiiMiins zur (ieltung brachte, ihre 
Entwicklung iHTinflus.'Jte. fr<»i!irh nichr im pLustischen als in vfiv :ir>-liitokt<iinsflifn 
Sinne. Die.s in demselb'n Zusammenhang, der iji Italien den treien .Mann nus einem 
aristokratischen Gemeinleben heraus, das körperliche Individanm zam Träger des 
Anfsehwongs machte, wfthrrad der normale Bürger des Nordens, der im demo- 
kratischen System aufwuchs, mehr als seelische Persönlichkeit mit starker inner- 
licher Durchbildung und fortwährendem Anteil des GemQtes der neuen Zeit voran» 
schrilt. 

Das Grundelement dmr Epoche, hier wie da, war der wiedermmehte Indivi« 
') Burckbardt, Qeedtichte der Renaissance in Italien. 8. Aufl., S. 9S. 



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— 112 — 



dnalisinu». Die l'erstTnlichkeit trat in das künstleriscbe Schaffeu eiit, und wie sie 
«leu Gestaltungen der Flache und des Körpers ihren Stempel aafdrückte, so gritf 
sie auch mit feBt«r Hand in die des Raumes ein. Das arcbitektoniacbe System der 
Zdt konnte sie nicht befriedigen. Kin festes Da< Ii sollte sich Uber ihrem Haapte 
ausspatiripn. wenn sie sich einrnnl mus >ler freifn Welt in ilie ftiupu Grenzen eines 
architektonischen lianmes begab. So entwickelte sich der Stil, noch immer iu den 
erarbteu Formen, aber adbatindig und, wie leia Schöpfer, persltelidi. S^e Formen 
im einzelnen haben wir ichon kennen gelernt: die Decke wird flachw , nihert sich 
der Horizontalen, die Wliinie rücken auseinander, die Pfeiler werden schlank, die 
Fenstri' hreit, das Ganze wird deutlich als Einheit charakterisiert. Vor allem aber 
strebte das ludividuuni danach, sich selbst eiu Uaus zu schaffen, wo sein Eigen- 
dasein eine Stfttte fand, wo sein ktlnstieriBcbes Fuhlen and sein praktisches Be- 
dürfen befriediipft wurde. Hier besonden waren rahige Linien, gerade Flilchen not- 
wendicr. ntn il.i> Gt ffilil der Sicherheit und df»ch der Freiheit rege zu crbaKcn. Fnd 
da versagte die Gotik: mit ihrem System von VertikalgUedem konnte sie den Kin- 
dnek der üBttsn Abgeschtossenheit nie endeleo nnd die SpitzbogenwMbmig, ihr 
Lebenskem, war psychologisch nnd praktisch nnmOglieh. Die geschlossene Kraft» 
anspatmung, mit der die Glieder des gotischen Gewdlbes emporschiessen, verbot mit 
Entschiedenheit »ine Wifrlt rholung dieses Prozesses: das GfffWil verlangte zum 
mindesten, dass die gewaltsame Bewegung im Scheitel zur i{uhe gelange. So mnss 
der Stockwerkben im Gewfllbschema als ein Unding «schien, abgnMhen daTon, 
dass auch technisch, aus Gründen der RaumOkonomie , das Aufsetzen einer FIftche 
nnf den "Rdeken (i<'s Spitzboiri no'ewölbes die grösften Srhwit riu'k' jten bietet. Daht^r 
ist es gekommen, dass das Spitzbogengewölbe im Grossen nur da augewandt worden 
ist, wo nicht das Individmun in seinem alltäglichen Dasdn, sondern dne abstrabte 
Idee oder eine anpersAnliehe Mehrheit den Inhält des Raumes bilden sollte: in 
Kirchen. Hallen und RepnSsentationssälen. Da, wo e.s in die Wohnrfiume hinein- 
ijfzogen i>t, wird der Charakter des Zimmers als Stätte des persönlichen Gebrauchs 
vernichtet. Denn in der Profunarchitektur, wo mehr als auf jedem andern Gebiete 
die Entwicklung von innen nach aussen vor sich gehen mnss. konnte noch viel 
weniger .ils im Kirchenban die äussere Erscheinung den Oi'.^tuismus des Innern 
wiederspiejieln. Und so M auch, trotz seiner ungeb'Mieren konstniktiven Vorzüge, 
das Spitzbogengewölbe völlig aus der weitlichen Itaukunst verschwunden. Arnold 
von Westfolen war der L^te, der ien Yersneh wagte, es dksen Zweeken dfensllwr 
SB machen; wer einmal die Zimmer der Albreditsbarg, besonders die des zweiten 
Stockwerks, durchschritten hat, wird die Unfruchtbarkeit und ünertrüglichkeit diese> 
Systems, das hier im einzelnen cr- nial dnrrlKji-arbejtet ist s. llist ' nipfunden haben. 

3Ian musste beim Wohtibau da/u kommen, im ivuuipte mit der tyranni- 
schen HOhendominante sich ins Breite anszndehnen, im Verzieht auf plastische 
Geschlossenheit dem Malerischen Thür und Thor zu ftffnen. Hier wurde die Ke- 
naifsünce eine wahrhafte Erbisnng: sie erst ln.iclitr ili ni In liviilnmn (im persöu- 
licheu Ausdruck im Iläujnlichen, der ihm uliein entsprach. Dass die Gotik des 
Privatbans nicht anf denselben Oesetzen der Banrabildnng beruhen konnte wie die 
des Sakral» und Monnmentalbaus, ist eber der ersten Grande für den Niedergang 
des ganzen Stils. Der Mensch der urm n Zeit brauchte vor alleni ein charakteristisches 
und zweckmässiges Wobobaus. Xiaza fand er in der Gotik keine Mittel. Sie konnte 




— 113 — 



ihm ktäue geben, wt-ii sie iliieiu iiiiifisten Wfcson nach nur tür Werke itlealeu 
Zweckes geschaffen war. Die Profanarchitektur brauchte Fl&chen, die Gotik gab 

ihr nor Lioion, nur Glieder. In der Kenaissanee lag <lie natürliche Kraft, den 
]mktif:r h< n Zwecken und dem ( infjiclien künstlerischen Knipfiudin \ 5lli<? cntsiirodu-nde 
liatiniRehilde zu bi«tteu. Daher erklikit sich auch noch heute ihr grosser KinÜaes 
auf die rrofanarchitektui', besuuders die zum persüuUchen Gehrandi bettimmten 
WohnbauteiD. 

Fassen wir die Ergebnisse der Untersuchnnf? noch einmal kurz zusauunen. 

Die SpiU>,'otik l;i>t sieh als der Kaumstil bezeichnen, der, währen«! er die 
letzten Kuusequunzcn aus dem klassischen guüscheu System zieht, beiuer lluuiuidee 
nach schon die Renaissance in sich tragt. Er sucht die Raambildnng der Gotik, 
die von dem tektonischen (ierü^t ausgehend nur die seitlichen JJecrenzungstiächea 
klar (Iniiakti risii I t. (I n nl.» rcn Abschluss aber nicht selbstandiv: ausdrückt, «»mdern 
aus dem ZuBamnienscbluss der vertikalen Glieder und Flächen bilden lässt, Uaüui'cb 
eotscbeidend cuuzugestaltun, dass er diu Decke wieder als eine dgene Flflchenein- 
heit den Seitenwiüiden gegenübersetzt. Um das m «rreichen, macht er inerst das 
Raumgebilde selbst zu einer möglichst gleichmässigen Einheit: die Xebenräume 
fallen fort oflrr wrrfb'U mit den Hauiitteilen auf eine IltHie gebracht: das (^ner- 
«chiff verschwindet, der Chur rückt eng an das Schiff heran, verscbinilzt mit ihm; 
die Pfeiler werden schlanker und nichtssagender. Der tibennftssige Vertikaltrieb 
der Glieder mnss übcnvunden werden, denn der neue Kaumabsdiliiss kann nur eine 
KbeiiP f?piii. Sil leL't sich der IIorizontnliKmus. anfanßs in den ornainentaicn Teilen, 
dami deutlich in den Emporen. Die klassische Gotik hatte lien Eongitudinalbaa 
ZOT Herrschaft gebracht; die Spätgotik setzt dem einen Drang in die Dreite ent- 
gegen, der gar nicht energisch genng sein kann, denn der Zvg in die Tiefe war 
immer noch Ubermüchtiff- Aucli da» in dem Hestreben, dem Kaum eine gleich- 
mässige (iestalt zu geben, nnd in dem Üewusstsein, dass der Siiitzbuj^en, an dessen 
liuin sie ja schliesslich arbeitete, in dem oblongen Gewölbe seinen natürlichen Ver- 
teidiger hatte. War das beseitigt, war die Breite des Baumes wieder der Lilnge 
gldchgemacht, dann war am Ii ib-m Spitzbogen seine Derechtigunu' ent/ugen. So weitet 
man die Seitenschiffe bis zu 3littel8chiß1)reitc ans. mnrlit diu l'fi ili lalisl.iinl iininer 
grosser, giebt dem (•hör die gleiche Gestalt wie dem Langhaus, mit drei gleich 
hohen Schiffen und flacht den Tulygouschlttss ab. Wo man soweit nicht zn geben 
wagt, wird wenigstens das Langhaus mdglichst central angelegt. Diese Zag« uner 
jHisitiven. selbstiindiwn Idee heben sich auch am .Vusseren henor. Die Wiinde 
treten frei der Ausscnwelt entge(»en, unverdeckt von dem stniktivrn Aii]iarat der 
früheren Zeit, in gleichmüssige Kompartimente zerlegt durch die wuchtig aufragenden 
- Pfeiler. Die Fenster folgen dem rahigeren, gemessneren Zag des Ganzen nnd runden 
sich sogar wieder nach oben ab: das Erdrückende ihrer gewaltigen Fliichc wird 
durch leichte t^uerstUhe etwa in halber Höhe gemildert. Der schroffe (iegensatz 
tragender und getragener, sicheruder und nur füllender Glieder schwächt sich ab. 
Das gotisdie Buusystcm, in den Ze^a der höchsten Ausbildung gk-icbsaro nur 
Knochen nnd Sehne, mengt sieh wieder Fleisch nnd Haut 

TTin den Stil als Ganzes ästhetisch zu rharaklerisieren, branchte es ein reiche 
Skala vmii Ausdrücke«: >v tritt Iiier zaghaft und un^iebrr. rlrrf trotzig und selbst- 
bewusst auf, bald ist er wuclitig utid grosszagig, bald zierticli und intim. Man 

Haflnol, Spujititlk. g 




— 114 — 



liat versucht, zwei Uauptcbarakteie iu ihm zu entUeckeu; aul der einen beite das 
Überladene, SchwttUtige, auf der andeni das Troekene, >'acbteme. Pie erste Be- 
zdebanng «chdnt adr nur in den wenigsten Fällen zntreffend; min hat sich liier 

wobl Jillenneist von der ornaineiitaleii Ausstattuu!: abschrecken lassen, ohne zu dem 
Kern. (In» Uaumgebilde selbst, durchzu<lrinj?fn. Der andere Ausdruck hat mehr 
Üerechtigung: allerdings konnte ein Stil, der unter so erschwerenden \'erhaltuisseu 
seine Existenz beliaaptete, auf ftnsseren Schmuck oft wenig Mittel verwenden, and 
vertifd leichter der Gefahr, trocken, kalt und abstOtsend zu wirken. Wenn man in« 
dess den O'-ist prkfiiint hat. »Ter in ilim IcLte. wenn man .'^icll ilie Ziele vergcfren- 
wärtigt, denen er cutgegeuslrebte, wird man ihn kicht mit andern Augen betrachten; 
das Xachtorne und Tro<Amie wird sdilicbt nnd eroat, das üb«triä)ene nnd SchwOl» 
stige als einem starken, ttbarschftiunenden Kraft gefOhle entaiimngen erscheinen. 

Ks liegt kein Grund vor, dein an-bitf'litrmisi.-hen Stil, wie er auf deutschem 
Roden in den Jahrhunderten des ausgehenden Mittelalters, in iler zweiten Hitlfte des 
vierzehnten und dem fünfzehnten Jahrhundert auftritt, den Namen vurzuentlialten, 
den er verdient. In seiner ganzen Entwicklung zeigt er einen Drang nach Xettem, 
^e Selbstindigkeit, einen Anfschwnng; er isi Renaissance, nnd so dOrfen wir 
ihn nennra. 



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